Gesamtausgabe (TG). Band 7 1905-1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker. Strafrechtsreform. Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht. Schriften. Rezensionen. 9783110216394, 9783110158403

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German Pages 716 [715] Year 2009

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Frontmatter
Inhalt nach Abteilungen / Inhalt nach Sachgebieten
I. Monographien
Schiller als Zeitbürger und Politiker
Strafrechtsreform
Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht
II. Schriften
Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre
III. Rezensionen
Carl Peters, England und die Engländer
Backmatter
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Gesamtausgabe (TG). Band 7 1905-1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker. Strafrechtsreform. Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht. Schriften. Rezensionen.
 9783110216394, 9783110158403

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 7

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe TG Im Auftrag der Ferdinand Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen · Alexander Deichsel Cornelius Bickel · Carsten Schlüter-Knauer Uwe Carstens

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2009

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 7 1905–1906 Schiller als Zeitbürger und Politiker Strafrechtsreform Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht Schriften Rezensionen

herausgegeben von Arno Bammé und Rolf Fechner

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2009

Die Edition des Bandes 7 der Tönnies-Gesamtausgabe wurde vom Lande Schleswig-Holstein gefördert.

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-015840-3 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urherberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenverarbeitung: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten. Buchbinderische Verarbeitung: Buchbinderei Bruno Helm, Berlin. Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhalt nach Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Vorwort Arno Bammé und Rolf Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . XIX I. Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Schiller als Zeitbürger und Politiker . . . . . . . . . . . . . 3 Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht . . . . . . . . . . 119 II. Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre . . . . . . . . Die Sozialdemokratie in Küche und Keller . . . . . . . . . . . Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier . . . . . . The Present Problems of Social Structure . . . . . . . . . . . Glückauf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiller und der Genius seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . Schiller als Zeitbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiller und das Verbrecherproblem . . . . . . . . . . . . . . Schillers politisches Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Wurmkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziologische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung . . . . . . . . . . Verkehr und Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie Schiller auf mich gewirkt hat . . . . . . . . . . . . . . .



253 254 258 269 288 294 295 299 317 322 328 342 343 351 352 353

VI

Inhalt

[On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Public Comments on the Movement] . . . . . . . . . . . . . [Anglo-German Relations] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verständnis des politischen Parteiwesens . . . . . . . . Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vagieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die nordamerikanische Nation . . . . . . . . . . . . . . . . Jena und die Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Diäten-Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wandern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Stimmungen und Richtungen in England . . . . . . Moralische Gedanken eines Weltmanns . . . . . . . . . . . . Die politischen Parteien im Deutschen Reiche . . . . . . . . . Condorcet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Bedürfen wir des Pfarrers noch?] . . . . . . . . . . . . . . . [Discussion on “Restrictions in Marriage” and on “Studies in National Eugenics”] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



360 362 363 366 375 384 385 412 420 425 426 427 436 437 462 470

472

III. Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Peters, Carl, England und die Engländer . . . . . . . . . . . Spencer, Herbert, Eine Autobiographie . . . . . . . . . . . . Thouverez, Emile, Herbert Spencer . . . . . . . . . . . . . . Eulenburg, Franz, Gesellschaft und Natur. Akademische Antrittsrede . . . . . Wells, H. G., Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stuckenberg, J. H. W., Sociology – The Science of Human Society . . . . . . . . . Spann, Othmar, Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie. 1. Bd.: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffs der modernen Soziologie . . . . . . .

477 483 489 490

493 496

497

VII

Inhalt

Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (nur darin: Note by Prof. Tönnies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgegnung [einer Besprechung der Philosophischen Terminologie] . . . . . . . . . . . . . . . Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten) . . . . . . . . . . . . Bibliographie (auch: Drucknachweise der edierten Texte) . . . Register der Publikationsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plan der Tönnies–Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . .

503 515

523 583 605 645 649 667 688

Inhalt nach Sachgebieten Der Wissenschaftler Wissenschaftliche Begriffsbildung Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht . . . . . . . . . . [On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre . . . . . . . . Franz Eulenburg, Gesellschaft und Natur. Akademische Antrittsrede . . . . . Stuckenberg, J. H. W., Sociology – The Science of Human Society . . . . . . . . . Spann, Othmar, Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie. 1. Bd.: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffs der modernen Soziologie . .

119 360 253 490 496

497

Soziologische Analysen und Berichte The Present Problems of Social Structure . . . . . . . . . . . Soziologische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Public Comments on the Movement] . . . . . . . . . . . . . Verkehr und Transport. Eine soziologische Skizze . . . . . . Das Vagieren. Soziologische Skizze . . . . . . . . . . . . . . Das Wandern. Soziologische Skizze . . . . . . . . . . . . . . Das Reisen. Soziologische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . [Discussion on “Restrictions in Marriage” and on „Studies in National Eugenics“] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wells, H. G., Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 328 352 342 362 351 384 425 426 472

493

X

Inhalt nach Sachgebieten

Kriminologie Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Schiller und das Verbrecherproblem . . . . . . . . . . . . . . 299 Politik und Geschichte Schiller als Zeitbürger und Politiker . . . . . . . . . . . . . Schillers politisches Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . Schiller und der Genius seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . Schiller als Zeitbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die politischen Parteien im Deutschen Reiche. Sozialwissenschaftliche Studie . . . . . . . . . . . . . . . Condorcet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peters, Carl, England und die Engländer . . . . . . . . . . .

3 317 294 295 437 462 477

Der Homo Politicus und Essayist Allgemeine Politik, Parteienpolitik Die politische Wurmkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . [Anglo-German Relations] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verständnis des politischen Parteiwesens . . . . . . . . Die Diäten-Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Stimmungen und Richtungen in England . . . . . .

322 363 366 420 427

Soziographie und Geschichte Jena und die Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten) . . . . . . . . . . . . . 583 Wirtschafts- und Sozialpolitik, Arbeiterbewegung Die Sozialdemokratie in Küche und Keller . . . . . . . . . . . Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier . . . . . . Glückauf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung . . . . . . . . . . Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die nordamerikanische Nation . . . . . . . . . . . . . . . .

254 258 288 343 375 385

Zu einzelnen Persönlichkeiten Schiller als Zeitbürger und Politiker . . . . . . . . . . . . .

3

Inhalt nach Sachgebieten

Schillers politisches Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . Schiller und der Genius seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . Schiller als Zeitbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiller und das Verbrecherproblem . . . . . . . . . . . . . . Wie Schiller auf mich gewirkt hat . . . . . . . . . . . . . . . Condorcet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thouverez, Emile, Herbert Spencer . . . . . . . . . . . . . . Spencer, Herbert, Eine Autobiographie . . . . . . . . . . . .

XI 317 294 295 299 353 462 489 483

Ad Vitam Wie Schiller auf mich gewirkt hat . . . . . . . . . . . . . . . 353 Moralische Gedanken eines Weltmanns . . . . . . . . . . . . 436 [Bedürfen wir des Pfarrers noch?] . . . . . . . . . . . . . . . 470

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen wurden sämtliche in Text oder Anmerkungen vorkommende Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen und gelegentlich auch Nachnamen; denn diese erscheinen in Tönnies’ Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenregister (siehe S. 648–666). Kursive Abkürzungen bezeichnen Siglen der Werke Tönnies’. Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an (fehlt ein Hinweis, so entstammt es dem Englischen). Abkürzungen zu Satzbeginn beginnen mit einer Majuskel, diese Form wird hier, wie auch flexivische Varianten, nicht aufgeführt. § →

Paragraph siehe

a. a. O. a. d. a. D. A.D. a. M. a. T. Abh. Abs. Abschn. Abt., Abtl. ADB

am angegebenen Ort aus dem außer Dienst Anno Domini am Main aufs Tausend Abhandlung(en) Absatz Abschnitt Abteilung Allgemeine Deutsche Biographie afghanisch American Federation of Labor ägyptisch akademisch

afgh. AFL ägypt. Akad. amerik., amerikan. amic. angl. Anm. ao. App. arab. Art. AT

amerikanisch amicitia [lat., Freundschaft, Bündnis] anglikanisch Anmerkung außerordentlicher Appendix arabisch Artikel Altes Testament

Aufl. Aug. Ausg. Az.

Auflage August Ausgabe Aktenzeichen

B.

Baccalaureus, Bachelor [lat., engl.] Band, Bände bearbeitet belgisch Berlin besonders Bürgerliches Gesetzbuch blühte (hist.-fachsprachlich svw. „wirkte“) Bundesrepublik Deutschland britisch beziehungsweise

Bd.(e.) bearb. belg. Berl. bes. BGB. bl. BRD brit. bzw. ca. Cb54

Cd. ceylon. ch. chin., chines. Chr.

circa Signatur des TönniesNachlasses in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Correspondence ceylonesisch Chapter, chapter chinesisch Christus

XIV Chr. Albr. Universität christl. Cic. Cie. Col.

Abkürzungen und Siglen Christian Albrechts Universität zu Kiel christlich Cicero Compagnie Colonel

d d. [4] d. Gr. d. h. d. i. d. J. d. M. D. R. d. Rh. dän. Darstellgn. das. Dec. ders. Dez. DGS

pence der, die, das; des der Große das heißt das ist des Jahres, des Jüngeren des Monats Deutsches Reich des Rheins dänisch Darstellungen daselbst December derselbe Dezember Deutsche Gesellschaft für Soziologie Dict. Nat. Biogr. Directory of National Biography Dir. Direktor DNB Directory of National Biography Dr. Doktor DRP Deutsche Reichspartei dt. deutsch E. K. eB ebd. ed., éd.

Ethische Kultur editorischer Bericht ebenda ediert, edited, edition, édition ED Erstdruck eigentl. eigentlich Enc. (Encycl.) Brit. Encyclopedia Britannica engl. englisch Engl Hist. Rev. English Historical Review erklär. erklärenden etc. et cetera [lat.; und so weiter] Ev., ev. Evangelisch, evangelisch Ew. Ehrwürdige EWpo Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung

Exz.

Exzellenz

f. Feb. ff. Fn fol.

folgend Februar [mehrere] folgende Seiten Fussnote following [engl. svw. folgende] Fragment Franken, Francs französisch Freiherr Fürst Ferdinand-TönniesGesellschaft

fr. Fr. frz. Frhr. Fs. FTG GBB geb. [2] Geg. Geh. Rat gel. ges. Gesch. gest. Gf. ggf. GO gr., griech. Großhzg. GuG

Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung, 1914 gebunden, geboren Gegenwart Geheimer Rat gelegentlich gesamt Geschichte gestorben Graf gegebenenfalls Gewerbeordnung griechisch Grossherzog Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887

H. ha Hg. hgg. hist., histor. Hist. hl. holl., holländ. Hon. Hr. Hw. HW, HWB

Heft Hektar Herausgeber herausgegeben historisch(en) History heilig(es) holländisch Honorable (Ehrenwerter) Herr Hauptwerk Handwörterbuch [der Staatswissenschaften]

i. [2] i. H. I. K. V., IKV

im, in in Holstein Internationale Kriminalistische Vereinigung

XV

Abkürzungen und Siglen i. V. ib., ibid. id. Ill. ILP

MdR, M. d. R. Mitglied des Reichstags Mitgl. Mitglied Mme Madame

ind. inkl. ital.

in Verbindung ibidem [lat.: ebenda) idem [lat.: der-, dasselbe] Illinois Independent Labour Party indisch inklusive italienisch

Jahrb. Jan. jamaik. jap. Jb Jg. Jhdt. Jhs. jüd. jun.

Jahrbuch Januar jamaikanisch japanisch Jahrbuch Jahrgang Jahrhundert Jahrhunderts jüdischer junior

K. K., Kap. K. d. B. kath. kg. Kg. kgl., königl. Kirchengesch. Königr. konserv. krit. ks.

Königlichen Kapitel Kreis der Bezogenen katholisch Kilogramm König königlich Kirchengeschichte Königreich konservativ(er) kritischen kaiserlich

£ l. c.

Lit.verz. lt. luth.

Pfund Sterling locum citato [lat.: am angeführtem Ort] Laelius lateinisch liber [lat.: Buch, Schrift]; liberal(er) Literaturverzeichnis laut lutherisch

m. m. a. W.

mit mit anderen Worten

Parl. Parl. Reg. Past. PD Pf., Pfg. Pfd. Ster. Philos. pol., poln. port. Pr., Preuß. preuß. ProblemeVS

M. P. M., Mk. M. A.

Member of Parliament Mark Master of Arts, Magister Artium [engl., lat.] Magnifizenz

Prof. Proz. Ps.

Lael. lat. lib.

Magnif.

n. Chr. N. S. n.u.Z.

nach Christus new series nach unserer Zeitrechnung neuseeld. neuseeländisch NL Nachlass nlat. neulateinisch nl., nld. niederländisch No. number, Nummer Nordd. Norddeutscher Nordd. Allgem. Norddeutsche Allgemeine [Zeitung] norweg. norwegisch Nov. November Nr. Nummer nouv. nouvelle [frz.] NT Neues Testament o. J. o. V. Oct. österr. Okt. ord. Orig. p. [2] P. p. c.

ohne Jahrgang, ohne Jahr ohne Verfasser October österreichisch Oktober ordentlicher Original page, part Pfarrer, Pastor post Christum [lat.: nach Christus] Parliamentary Pariamentary Register Pastor Privatdozent Pfennig Pfund Sterling Philosophie polnisch portugiesisch Preußen preußisch Probleme des Verbrechens und der Strafe (Tönnies 1903) Professor Prozent Pseudonym

XVI rec. Red. reg. Reichsfrhr. resp. RGE röm. rum. russ. RV s. S. S. J. s. n. s. o. s. u. s. v.

Abkürzungen und Siglen recensuit [lat.: er hat es durchgesehen] Redaktion regiert(e) Reichsfreiherr respektive Entscheidung des Reichsgerichts römisch rumänisch russisch Reichsverfassung

siehe Seite; Sankt Societas Jesu siehe nächste [Seite] siehe oben siehe unten sub verbo [lat.: bei dem Wort] sächs sächsisch schemat. schematisch schott. schottisch SchrDGS Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie schwed. schwedisch schweiz. schweizerisch sen. senior Sept. September Sess. Session SH Agr. Studie zur schleswig-holsteinischen Agrarstatistik SHLB Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek sog., sogen. sogenannte soz. sozialen sozialdemokrat. sozialdemokratisch Sp. Spalte span. spanisch spätröm. spätrömischer SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SSK Soziologische Studien und Kritiken 1925-1929 St. Sankt Stat., Statist. Statistisches StPO Strafprozessordnung stv. stellvertretend St. W. B. Deutsches Staatswörterbuch südafrik. südafrikanisch

svw.

soviel wie

t., tom. T. Tab. Tauchn. TG TG 9 TG 10 TG 14 TG 15 TG 22 TG 23 Thl. Tl., Tle. Trin. College Tübing. türk.

tome [frz.: Band] Tausend Tabelle Tauchnitz Tönnies-Gesamtausgabe Tönnies 2000 Tönnies 2008 Tönnies 2002 Tönnies 2000a Tönnies 1998 Tönnies 2005 Theil Teil, Teile Trinity College Tübingen türkisch

u. u. a.

und unter anderem, und andere und die und dergleichen (mehr) und eine unter dem Titel dem Titel Universitätsbibliothek über Übersetzer(s) umgearbeitete ungarisch University, Universität Unites States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) und so weiter

u. d. u. dgl. (m.) u. e. u. d. T. d. T. UB üb. Übers. umgearb. ungar. Univ. USA usw. v. v. a. v. Chr. v. H. v.u.Z. verb. Verf. VerhSoz Verl. Verw. vgl. viz. vmtl.

von vor allem vor Christus vom Hundert vor unserer Zeitrechnung verbesserte Verfasser Verhandlungen des deutschen Soziologentages Verlag Verwaltung vergleiche videlicet [engl. svw. nämlich] vermutlich

XVII

Abkürzungen und Siglen Völkerr. vol., Vol. Volksw. vorm. Vorw.

Völkerrecht Volume(s) Volkswirtschaft vormals Vorwort

WB

Wörterbuch [der Volkswirtschaft] wegen

wg.

Wirkl. Geh. wiss.

Wirklicher Geheimrat wissenschaftlich

z. z. B. z. T. zit. Zs. zw.

zur zum Beispiel zum Teil zitiert Zeitschrift zwischen

Vorwort In den Jahren 1905 und 1906 tritt Ferdinand Tönnies mit zahlreichen, thematisch ganz unterschiedlichen Arbeiten an die Öffentlichkeit. Nicht alle davon sind, den Editionsrichtlinien folgend, in diesem Band 7 der Tönnies-Gesamtausgabe (TG) versammelt, doch fehlt dazu nirgends ein entsprechender Hinweis. In ihrer werkgeschichtlichen Bedeutung sind zum einen natürlich die drei großen Monographien hervorzuheben, zum anderen aber sind die in verschiedenen Analy­sen und Essays behandelten Themenschwerpunkte zu benennen: Probleme der Arbeiterbewe­gung; die sich abzeichnende Verschränkung von Technik, Natur und Gesellschaft und ihre Folgen für die Sozialwissenschaften; die sich zunehmend ausdifferenzierende Begrifflichkeit der Natur‑ und Sozialwissenschaften; die konservative und reaktionäre Durchpolitisierung der wilhelminischen Gesellschaft. Mehreres ist daran für den heutigen Leser, für die heutige Leserin erstaunlich: Zum einen, wie es Tönnies immer wieder gelingt, Querverbindungen herzustellen zwischen ganz unterschiedlichen Themenbereichen, etwa zwischen der anstehenden Strafrechtsreform, Schillers ‚soziologi­schem‘ Interesse am Verbrechen und aktuellen politischen Zeitläufen, oder zwischen den sich aufgrund neuer Technologien erweiternden gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und ihren ethischen Implikationen. Überhaupt, wer Tönnies bisher im wesentlichen als Autor von ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ wahrgenommen hat, üblicherweise in Auszügen oder als zweiten und dritten Aufguss in dogmenhistorischen Zusammenfassungen, dem wird bei der Lektüre des vorliegenden Bandes sehr schnell klar, warum Tönnies seinerzeit als Philosoph, als Historiker, als Rechtsgelehrter, als Nationalökonom, als Statistiker, als Essayist und als politi­scher Schriftsteller so große Beachtung finden konnte. Er hat sich eingemischt. Zweifellos besteht ein großes Verdienst des Ferdinand Tönnies nach wie vor darin, dass er die angewandte Soziologie, die empirische Sozialforschung zum unverzichtbaren Bestandteil der Disziplin gemacht hat, zu einer Zeit, als die deutsche Universität noch stark auf die reinen Geisteswissenschaften hin ausgerichtet war. Aber das war lediglich eine, wenngleich für die Entwicklung der Soziologie sehr wichtige Seite im Schaffen des Ferdinand

XX

Vorwort

Tönnies. Tönnies indes war nicht nur Wissenschaftler. Als Essayist reiht er sich äußerst öffentlichkeits­wirksam in die großen intellektuellen und politischen Debatten seiner Zeit ein, macht seine Ansichten eindringlich geltend. Unüberhörbar ergreift er Partei für die Belange der Arbeiter. Kritisch äußert er sich zu den damals modischen, naturwissenschaftlich begründeten Theorien der Determiniertheit menschlichen Handelns, bezieht Position zu Fragen der Eugenik. Leise­treterei, halbherzige Kompromisse sind seine Sache nicht. Im Gegenteil! In allen strittigen Fragen vertritt Tönnies einen festen, unzweideutigen Standpunkt. Vieles von dem, was er zur ‚Eugenik‘, zur ‚naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre‘ äußert, ist heute, hundert Jahre später, vom Grundsatz her durchaus anschlussfähig, gerade an die aktuelle Diskussion über Molekulargenetik und Biotechnologie der Jahre nach 2000. 1905, im Schiller-Jahr, widmet er sich ausführlich dem Leben und Werk des Dichters, aber er tut es nicht abstrakt, sondern fokussiert sein Interesse unter zwei erkenntnisleitenden Fragestel­lungen, einer eher soziologischen und einer mehr politischen. Zum einen interessieren ihn die gesellschaftlichen Ursachen menschlicher Kriminalität und wie Schiller sie in seinem Werk zur Darstellung bringt. Akribisch vergleicht er unterschiedliche Entwürfe und Fassungen, nicht nur der ‚Räuber‘ (was nahe gelegen hätte), zieht Briefe heran, setzt sie in Bezug zu den einzelnen Lebensphasen des Dichters. Zum anderen versucht er, einen aktuellen Zeitbezug zu Schillers ‚politischem Vermächtnis‘ herzustellen, in polemischer Auseinandersetzung mit jenen kon­servativen Bestrebungen, die den Dichter für ihre Zwecke zu vereinnahmen suchen. Durchaus im Trend der Zeit, vertritt Tönnies in den Auseinandersetzungen um eine Strafrechtsreform offenbar eine Position, die generalpräventiven Erwägungen den Vorzug vor der Spezial­prävention gibt, also der abschreckenden Wirkung von Strafrecht und Strafjustiz auf die Allgemein­heit mehr Bedeutung beimisst als der Besserung des Täters bzw. der Täterin durch Strafe und ihren Vollzug. Deutlich wird dies insbesondere durch die Befürwortung hoher Strafen für Ersttäter. 1905 wird weiterhin bestimmt durch den großen Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet. Auch hierzu bezieht Tönnies eindeutig Position. Zum Teil in sehr polemischer Diktion setzt er sich mit den Verhandlungen sowohl im preußischen Landtag als auch im deutschen Reichstag ausein­ander. Zielscheibe seiner Kritik sind immer wieder Reichskanzler von Bülow und der Minister für Handel und Gewerbe, Theodor Adolf von Möller. Tönnies weist sich nicht nur als glänzen­der Rhetoriker aus, er zeigt sich auch überaus gut informiert.

Vorwort

XXI

1906 jährte sich zum hundertsten Male die Doppelschlacht von Jena und Auerstädt, in der die preußisch-sächsische Armee vernichtend geschlagen wurde. In martialischen Aufrufen und umfangreichen Analysen wird in der konservativen Presse gefordert, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe und, dank Preußens wieder erstarkter Macht und Herrlichkeit, nicht wie­derholen werde. Auch hier wiederum bezieht Tönnies eindeutig Position, zieht zu Felde gegen konservatives Gehabe und reaktionäres Gedankengut. Vor allem in dem Essay ‚Jena und die Humanität‘ wird er deutlich, bestreitet rundweg die Richtigkeit der rechtskonservativen Analy­sen, wie sie die Spalten der Tagespresse jener Zeit überschwemmten. Im Zentrum jener Arbeiten, die der wissenschaftlichen Begriffsbildung verpflichtet sind, steht in diesem Band die Monographie ‚Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht‘. Diese Schrift hat – wie so mancher der Texte Tönnies’ – einen gewissen unterschwelligen Einfluss, wurde jedoch über eine wissenschaftshistorische Wirkung auf den Wiener Kreis hinaus kaum wahrgenommen. Erst H. Walter Schmitz, dem auch für Vorarbeiten zu dieser Edition des Textes zu danken ist, hat sich explizit um die Bedeutung der Tönniesschen Zeichentheorie für die Semiotik verdient gemacht und damit auch das Werk und seine Axiomatik in einen neuen Diskussionszusammenhang gestellt (vgl. Schmitz 1983, 1985, 1985a). Dabei ist dieser frühe Text von Tönnies, bereits Ende 1897 geschrieben und 1899 in Englisch veröffentlicht, aber erst 1906 in deutscher Sprache als Monographie publiziert, für seine soziologische Erkenntnistheorie kaum zu überschätzen. Er stellt eine Brücke dar von seinem Hauptwerk ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ von 1887 zu seiner Theorie der sozialen Werte, die er 1931 mit der Veröffentlichung der ‚Einführung in die Soziologie‘ abschloss. Der Text zeigt aber auch, wie weit Tönnies bereits 1887 das intellektuelle Massiv seiner Wissenschaftstheorie durchdrungen hatte. Obwohl 1896, also erst kürzlich (oder: weil erst kürzlich?) seine Hobbes-Monographie erschienen war, ferner seine Nietzsche-Kritik und die Untersuchungen zum Hamburger Hafenarbeiterstreik abgeschlossen waren, unterbrach Tönnies seine aktuellen Arbeiten zur Verbrechensforschung, um sich einem philosophischen Problem – dem der Verworrenheit in der Terminologie der Philosophie und Psychologie – zu widmen, zu der die Engländerin Lady Welby einen Preis ausgelobt hatte. Dass innerhalb von sechs Wochen eine preisgekrönte Schrift erstellt und eine eigenständige Zeichentheorie erarbeitet werden konnte, zeigt, wie weit Tönnies die grundlegenden Ideen bereits zehn Jahre zuvor schon fundiert hatte und wie seine Vorstellungen von reiner Wissenschaft aus dem Philosophemen von ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ ableitbar waren.

XXII

Vorwort

Einen breiten Raum nehmen in diesem Band Artikel ein, die tagespolitischen Themen bzw. dem sogenannten Zeitgeist verpflichtet sind. Mit ihnen hatten wir besondere Schwierigkeiten. Einerseits soll die Kommentierung Tönniesscher Texte möglichst sparsam erfolgen. Anderer­seits macht der Wiederabdruck von Texten, die ihre Entstehung tagespolitischen Ereignissen verdanken, wenig Sinn, wenn der (heutige) Leser, die (heutige) Leserin die Rahmenbedingun­gen und Hintergründe nicht näher kennen. In diesen Fällen entschlossen wir uns, großzügiger zu kommentieren. Weitere Hintergrundinformationen sind dem editorischen Bericht zu entnehmen. Ferdinand Tönnies war Friese und Weltbürger. Neben der Umtriebigkeit, die für den Biogra­phen eine Herausforderung darstellt (wo hat er zum Beispiel seinen Vortrag über ‚Die nord­amerikanische Nation‘ gehalten?), ergab sich für uns ein weiteres Problem. Vieles von dem, was Tönnies schrieb, wir erwähnten es bereits, ist dem Zeitgeist verpflichtet, erhält seinen Sinn also aus der Situation heraus, in der er es zu Papier brachte. Mehr noch: Ferdinand Tönnies, Absolvent des Königlichen Gymnasiums zu Husum, der alten Husumer Gelehrtenschule, verfügte über eine umfassende Allgemeinbildung, die er in seinen Werken auch großzügig zur Geltung brachte. Sieben Fremdsprachen waren ihm geläufig: Lateinisch, für das er als interna­tionale Wissenschaftssprache plädierte, Griechisch, Hebräisch, Englisch, Französisch, Dänisch und Niederländisch. Nun ist das, was wir heute unter Allgemeinbildung verstehen, nicht identisch mit dem, was um die Wende zum 20. Jahrhundert selbstverständliches Bildungs­gut war. Vieles, auf das Tönnies, oftmals implizit, verweist, kann beim heutigen Leser bzw. der heutigen Leserin nicht mehr so ohne weiteres als bekannt voraus gesetzt werden. Es galt also, in kurzen Anmerkungen den sozialhistorischen, den religiösen, den mythologischen, den literarischen und den politischen Kontext, auf den Tönnies sich bezieht, zu verdeutlichen, keine leichte Aufgabe insofern, als Tönnies oftmals Bezeichnungen wählte, die heute selbst in einschlägigen Enzyklopädien nicht mehr gängig sind. (‚Atimie‘ wäre ein solches Beispiel dafür.) Am Verzweifeln waren wir manchmal, wenn es darum ging, Zitate zu rekonstruieren. Nicht immer hat Tönnies die Quelle genannt, geschweige denn die Seite. Oft verfuhr er dabei recht frei. So wurde bei ihm aus dem ‚Quarterly Journal of Economics‘ die ‚Economical Review‘, eine Zeitschrift, die es 1905 gar nicht gab. Oder: Welchen ‚einflußreichen deutschen Philosophen‘, der „das gesamte sittliche Bewußtsein aus dem ‚Mißfallen am Streit‘ ableiten wollte“, könnte Tönnies wohl gemeint haben? Um solche Dinge klären zu können, begaben wir uns auf eine mehrjährige Odyssee

Vorwort

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durch die europäische Wissenschaftslandschaft. Immer wieder waren wir überrascht von der Hilfsbereitschaft der oft informell angebahnten, über den gesamten alten Kontinent verstreuten Kontakte, von der kollegialen Selbstverständlichkeit, mit der diese gewährt wurde. Hafenplätze, an denen wir immer wieder Trost und Zuspruch fanden, gewährten vor allen die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, Kiel, Lotsenstation und Hafenmeisterei zugleich, Jürgen Zander (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel), der sich wie kein zweiter auf die Deutung der kryptischen Geheimnisse Tönniesscher Handschriften verstand, sowie Frank Osterkamp (Christian-Albrechts-Universität, Kiel), der über die Schlüssel zur Öffnung der einschlägigen Kieler Bibliotheken und Archive verfügte sowie mit kritische Anregungen nicht sparte. Ihnen vor allem gebührt unser Dank. Insbesondere der von Jürgen Zander in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek wissen­schaftlich hervorragend erschlossene Tönnies-Nachlass, der teilweise in TG 23 II bereits ediert vorliegt, sei als ständig zu nutzende Anlaufstelle empfohlen. Ein guter Ankerplatz allemal, mit herrlichem Blick auf die Kieler Förde. Selten ist ein Nachlass so umsichtig betreut, so zuvorkommend einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Einen ersten Überblick über die dort vorhandenen Schätze gewährt Jürgen Zander: Ferdinand Tönnies (1855-1936). Nachlass, Bibliothek, Biographie. Kiel 1980 (Berichte und Beiträge der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek). Als äußerst hilfreich erwies sich weiterhin das zweitägige Tönnies-Colloquium 1995 in Kiel, das gemeinsam von der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft und dem Institut für Soziologie der Kieler Universität ver­anstaltet wurde und die einzelnen Bandeditoren aus dem In- und Ausland zusammenführte. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Cornelius Bickel (CAU) schließlich ist zu danken für ein erstes akribisches Gegenlesen des zum Druck vorbereiteten Textes. Selbst in späteren Lebensjahren war Tönnies immer wieder in Husum, nutzte die Buchbestände des Königlichen Gymnasiums für seine Studien. So finden sich denn in der nach wie vor exzellenten Bibliothek des (heute so genannten) Hermann-Tast-Gymnasiums noch Schriften, etwa von Adam Smith, die Tönnies dort gelesen hat. Als Navigator und Steuermann vor Ort betätigte sich Werner Stiebeling (Hermann-Tast-Gymnasium, Husum). Klaus-Peter Lengsfeld (Nordfriesisches Museum, Husum) machte uns die im Nissen-Haus lagernden Materialien über Ferdinand Tönnies zugänglich. Wertvolle Hinweise und Hintergrundinformation erhielten wir von Holger Borzikowsky (Gesellschaft für Husumer Stadtgeschichte), Thomas Steensen (Nordfriisk Instituut, Bräist/Bredstedt) und Karl Ernst Laage

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(Theodor-Storm-Gesellschaft, Husum). Almut Ueck (Kreisarchiv Nordfriesland, Husum) erschloss uns die Gardinger, Tönnin­ger, Friedrichstädter und Husumer Zeitungsbestände aus dem Jahre 1906. Ihnen allen sei dafür recht herzlich gedankt. Unermüdlich im Auffinden und Besorgen der benötigten Literatur waren Gerlinde Glas, Ingeborg Vrbicky, Peter Kolle (Universitätsbibliothek Klagenfurt) sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsbibliothek Hamburg, der Commerzbibliothek bei der Handelskammer Hamburg, der Bibliothek des Instituts für die Geschichte der Naturwissenschaften, des Instituts für Literaturwissenschaft, des Instituts für Zeitgeschichte sowie des Instituts für Rechtswissen­schaft der Universität Hamburg. Mit Enthusiasmus und Ausdauer gelang es ihnen in der Mehrzahl der Fälle, selbst die entlegendsten Titel aufzuspüren. In juristischen und rechtshistorischen Belangen halfen uns weiter Johann Dvorˇák (Universität Wien), Erich Kitzmüller (IFF Graz) und Gerhard Falk (IFF Klagenfurt). Bei philosophischen und theologischen Fragen fanden wir Unterstützung bei Wilhelm Berger (IFF Klagenfurt), Peter Heintel (Universität Klagenfurt) und Maximilian Sternad (BORG, Klagenfurt). Bei der Rekonstruktion von Werken und Lebensläufen heute nahezu vergessener französischer Sozialwissenschaftler sowie bei der Ermittlung und Zuordnung französischsprachiger Zitate halfen uns Caroline Gerschlager (Centre de Recherches en Epistémologie Appliquée, Paris), Geneviève Madore (Bibliotheque historique de la ville de Paris), Sandrine Bula (Centre histori­que des archives nationales, Paris), Anne-Marie Fourquet (Archives municipales de Saint-Tropez), Esther Schmidt (IFF Klagenfurt) und Helmut Meter (Institut für Romanistik der Universität Klagenfurt). Die Übersetzungen aus dem Englischen besorgte Christopher Baker (München). Bei der Aufklärung politischer, historischer und sprachlicher Misslichkeiten, die uns einige auf England und Amerika bezogene Tönnies-Texte bereiteten, haben sich verdient gemacht Gerd Raeithel (Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München), Folke-Christine Müller-Sahling (Ohio State University, USA), Paul Kellermann (Institut für Soziologie der Universität Klagenfurt) und Franz M. Kuna (Institut für Anglistik und Amerika­nistik der Universität Klagenfurt). Ähnlich wertvolle Hilfe bei der Rekonstruktion von Schiller‑ und Goethe-Texten leisteten Eva Dambacher (Deutsche Schillergesellschaft, Marbach) und Albert Berger (Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt). Unser Dank gebührt ferner Ilse Fischer und Rainer Gries (Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn) sowie Gisela

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Hoppe vom Stadtarchiv Dresden für die Auf­klärung sozialhistorischer Hintergründe der internationalen Arbeiterbewegung. Andrea Laßnig saß lange Stunden mit Arno Bammé im Büro. Sie koordinierte souverän die vielfältigen Arbeitskontakte und verwaltete die anschwellenden Datenmengen. Schlussendlich verdanken wir Cornelius Bickel manch kritischen Hinweis und Günther Rudolph die Auflösung eines Mehring-Zitates. Und ohne die Mithilfe von Claus Heitmann (St. Peter-Ording) und Hauke Koopmann (Oldenswort) wäre es uns nie gelungen, Licht in das Dunkel der verwirrenden Genealogie Eiderstedter Staller zu werfen, in der Ferdinand Tönnies sich so gut auskannte. Dank zu sagen ist aber nicht nur einzelnen Personen. Dank zu sagen ist auch den eher an­onymen, abstrakt im Hintergrund bleibenden Institutionen und Organisationen: dem Land Schleswig-Holstein, ohne dessen Förderung die Tönnies-Gesamtausgabe nicht zu realisieren wäre, der Familie Tönnies, die der Gesellschaft gleichen Namens die Rechte anvertraute, der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft sowie dem Herausgebergremium der Tönnies-Gesamtausgabe und dem Verlagshaus Walter de Gruyter & Co für den verlegerischen Mut und die hervorragende Ausstattung der Bände. Außer diesen Institutionen gebührt Dank auch der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt, die durch die Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik‑ und Wissenschaftsforschung die redaktionelle Arbeit an der TG unterstützte. Die Bearbeitung der ‚Philosophischen Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht‘ erfolgte durch Rolf Fechner, die beiden anderen Monographien sowie die Schriften und Rezensionen fielen in den Verantwortungsbereich von Arno Bammé. Klagenfurt im Januar 2009 

Arno Bammé und Rolf Fechner

I. Monographien

Schiller als Zeitbürger und Politiker

„Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Weltbürger, Staatsbürger, Hausvater ist.“ Schiller an den Erbprinzen Friedrich Christian v. Schleswig-Holstein: „Deutsche Rundschau“ VII, S. 277. Schillers Briefe (Jonas) III, S. 329.

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Friedrich Christian v. Schleswig-Holstein: Das Zitat befindet sich im Erstdruck auf S. 1 zusammen mit der Titelei. Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg rettete 1791 dem schwer kranken, verarmten Schiller durch Gewährung eines dreijährigen Stipendiums das Leben. Er leitete seit 1788 das höhere Unterrichtswesen in Dänemark. „Deutsche Rundschau“ VII, S. 277: Tönnies zitiert die Briefe nach ihrem Erstdruck in der Deutschen Rundschau (Michelsen 1876). Aus ihnen ist durch Umarbeitung und Erweiterung die Schrift „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen“ hervorgegangen, deren Erstdruck in den „Horen“ 1795 erfolgte (vgl. Schiller 1871c). Die ursprünglichen Briefe an den Herzog – sieben von ihnen sind in Kopie erhalten, die Originale sind bei einem Schlossbrand vernichtet worden – datieren aus der Zeit zwischen dem 9. Feb. 1793 und Anfang Dez. 1793. Tönnies zitiert hier aus dem Brief vom 13. 7. 1793, S. 277. Jonas: Vgl. Fritz Jonas 1892–96: 3. Bd., 329.

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– „er lebte nur von den höchsten Ideen und den glänzendsten Bildern umgeben, welche der Mensch in sich aufzunehmen und aus sich hervorzubringen vermag.“ Wilhelm von Humboldt über Schiller: Briefwechsel, S. 84.

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Wilhelm von Humboldt lebte von 1789 bis 1797 in Thüringen (Erfurt, Weimar, Jena), wo er in ein enges Freundschaftsverhältnis zu Dalberg, Goethe und insbesondere zu Schiller trat, auf dessen Dichtung er vielfach einwirkte; er schrieb in dieser Zeit literarisch-kritische Arbeiten, unter anderem über Schillers „Spaziergang“ (1871h). Briefwechsel, S. 84: Siehe Humboldt 1830; Tönnies zitiert aus der ‚Vorerinnerung‘.

Einleitung

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Wenn wir überlegen, wie die neueren Jahrhunderte aus den früheren, die wir so unpassender – wie bequemerweise das Mittelalter nennen, sich entwickelt und erhoben haben, so lassen die Veränderungen und Gegensätze sich auf eine Reihe von Formeln bringen, die aber hier nicht auseinandergesetzt werden sollen. Wir halten uns an die augenfälligen und allgemein bekannten Tatsachen. Da ist zuerst die gerade für Deutschland so unermeßlich wichtige und folgenreiche Kirchentrennung: die gesamte klassische Literatur der Deutschen trägt ganz überwiegend ein protestantisches Gepräge, wenn auch keineswegs in einem konfessionellen Sinne. Die Vergleichung mit Frankreich lehrt, daß ein freigeistiges aufklärendes Schrifttum auch innerhalb des Rahmens der alten Kirche aufkommen und sogar zu viel schärferen und mehr explosiven Wirkungen gelangen konnte. Aber es bleibt darum doch sehr bedeutungsvoll, daß im Gebiete des heiligen römischen Reiches die protes­tantischen Territorien und Städte einen unverhältnismäßig viel größeren Anteil an dem ganzen Geistes‑ und Kunstleben, insbesondere der zwei letzten Jahrhunderte genommen haben; wenn auch Wien seinen Rang als die bedeutendste Stadt, um nicht zu sagen Hauptstadt des Reiches behauptete und eine Zeitlang durch seine Dichter wie durch seine Bühne einen nicht geringen Einfluß auszuüben vermochte. Das geistige Leben der neueren Zeit ist aber auch durch seinen bürgerlichen Charakter bezeichnet. Wir müssen dabei nicht im engen Sinne an das städtische Bürgertum denken, obwohl dessen Wesen allerdings der ganzen Bewegung zugrunde liegt, sondern an den Sinn, den es hatte, daß im Beginne der französischen Revolution der „dritte Stand“ sich für die Nation erklärte, daß er – nach dem Ausdrucke des Abbé Sièyes – „alles“ 1

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Einleitung: Das Buch „Schiller als Zeitbürger und Politiker“ erschien im Rahmen des Schiller-Jahres 1905 im Buchverlag der „Hilfe“ in Berlin-Schöneberg. 1905 jährte sich der Todestag Schillers zum hundersten Mal. Aus diesem Anlass veröffentlichte Tönnies verschiedene Arbeiten, die im Zusammenhang mit Schillers Leben und Werk stehen. Eine um zwei Sätze und einen Halbsatz gekürzte Fassung der Einleitung zu „Schiller als Zeitbürger und Politiker“ erschien ohne Autorennennung vorab unter dem Titel „Schiller und der Genius seiner Zeit“ in: Die Hilfe (Tönnies 1905g: 7–8). Sièyes: [sic!] Der franz. Revolutionär und Politiker Sieyès, von 1798 bis 1799 als Gesandter in Berlin, veröffentlichte 1789 die berühmt gewordene Schrift „Qu’est-ce que le tiers

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Schiller als Zeitbürger und Politiker

zu sein in Anspruch nahm. In diesem Sinne nahmen auch starke Schichten der alten herrschenden Stände, des Adels (mit Einschluß der Fürsten) und des Klerus (der ja auch Fürsten in seinen Reihen hatte) an den Fortschritten des Bürgertums und des bürgerlichen Bewußtseins tätigen und lebhaften Anteil. Vor allem aber sind diese Fortschritte bestimmt durch die Vermehrungen des Wissens, insonderheit der Naturerkenntnis und daher durch die Mitwirkung einer gelehrten, der Förderung des Wissens sich widmenden gesellschaftlichen Klasse. Hierin beruht der Einfluß, den, gerade in Deutschland, zumal die Universitäten geübt haben, mehr aber noch, und besonders von den anderen Ländern her, der Einfluß des freien Schriftstellers und Literaten. Das bürgerliche Bewußtsein ist ein überwiegend verständiges oder, wie es selber sich lieber nennt, „vernünftiges“ Bewußtsein. Als solches ist es in erster Linie analytisch, d. i. auflösend, unterscheidend – es will Licht und Klarheit, „Aufklärung“ der Dunkelheit oder „Finsternis“, die in Köpfen und in Institutionen angetroffen wird. Nachdem so die Vorurteile zerstreut, der Aberglaube vernichtet ist, will die Vernunft richtige Begriffe aufbauen und eine neue Ordnung begründen. Die neuen Begriffe und die neuen Ordnungen werden einfacher und klarer sein als die bunten, krausen, verworrenen Begriffe und Ordnungen, die überliefert worden sind. Es liegt in dieser Vernunft nicht nur eine Absage an die Herrschaft der Gefühle, der Phantasie, der Gewohnheit und der Sitte, des seiner Herkunft nicht bewußten Glaubens, sondern – und eben darum – auch eine Tendenz der Gegnerschaft gegen die Kunst. Die Vernunft ist auf das Nützliche gerichtet, die mechanischen „Künste“ sind ihr Bereich, wenn möglich als unmittelbare Anwendungen der Wissenschaft und Theorie. Die schönen Künste müssen sich vor ihr rechtfertigen; sie sind als loses, kindisches Spiel verdächtig. Das Schöne kann als eine Art des Nützlichen gelten, insofern als es ergötzt, erfreut und als Belustigung und Zerstreuung für heilsam und ersprießlich geachtet wird. Es kann aber ferner nützen, insofern als in ihm Lehren enthalten sind, sei es, daß die gefällige Form irgendwelchen Wahrheiten leichteren Eingang verschafft, sei es insonderheit, daß sie zur moralischen Besserung des Menschen dienen sollen. Keine Kunst braucht sich dagegen zu sperren, daß ihr so mannigfache und hohe Zwecke gesetzt werden, aber alle Kunst wird doch in eine gewisse Abhängigkeit vom wissenschaftlichen Geiste dadurch gebracht, daß sie ausdrücklich darauf angewiesen wird, zu etwas zu dienen; sie verliert etwas von ihrer glücklichen Unbefangenheit und état?“, in der er auf die Frage, was der Dritte Stand sei, die Antwort gibt: alles, nämlich die Nation selbst.

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selbstverständlichen Majestät, sie verliert an ihrer Freiheit. Der wissenschaftliche Geist – denn das ist doch jene Vernunft – hat aber auch auf das Wesen der Kunst einen gefährlichen Einfluß, zumal wenn er den Künstler selber beseelt oder doch von ihm als maßgebend anerkannt wird. Er strebt dahin, die freien Künste den mechanischen Künsten anzuähnlichen, indem er ihnen Regeln vorschreibt, nach denen sie sich richten sollen, um einer bestimmten Idee, die wenn möglich auf ihren Zweck bezogen wird, zu entsprechen. Nun ist – auch im Jahrhundert der Aufklärung – der Rationalismus, der so oft als platt, nüchtern, langweilig, geradlinig verschrieen ist, und dem doch kein moderner Mensch sich entziehen kann, niemals zu uneingeschränkter Herrschaft gelangt, so wenig als der ihm im Innersten verwandte Absolutismus der Fürsten. Einmal ist der künstlerische Geist in einem gewissen Maße immer seine eigenen Wege gegangen; er hat mit dem wissenschaftlichen Geiste gerungen und sich ihn zunutze gemacht, anstatt sich zu seinem Diener erniedrigen zu lassen. Und sodann laufen mit der reinen rationalistischen Tendenz, so überstark sie in die Erscheinung tritt, andere Entwickelungen des Denkens parallel, die sie vielfach hemmen, einschränken und modifizieren, zum Teil solche, die unmittelbar aus ihr hervorgehen und äußerlich gleichen Wesens mit ihr sind. Da ist vor allem aber der religiöse Geist des vergangenen Zeitalters, der fortlebt und neue Blüten und Früchte treibt. Auch er ist der Kunst nur in bedingter Weise günstig und teilweise in ausgesprochenster Weise feindlich, aber als Geist und Denkungsart ist er dem künstlerischen Geist im Innersten verwandt und wesensgleich. Sodann ist die gelehrte und mit wissenschaftlichen Absichten zusammenhängende Beschäftigung mit fremder und alter Kunst, für unser Zeitalter namentlich mit der griechisch-römischen Kultur, eine unmittelbare Anregung zu Nachahmung bewunderter Muster und hat fortwährend so gewirkt. Ferner aber trägt jede Art von Herrschaft, sobald sie als Tyrannei empfunden wird, die Elemente der Empörung in ihrem Schoße. Die Herrschaft der bürgerlichen Vernunft verkörpert sich gleichsam in Voltaire, die Empörung dagegen in Rousseau, durchtränkt wie er selber ist von ihrem Geiste. 31

Voltaire: Tönnies positioniert das Denken Schillers im Spannungsfeld von Voltaire (Vernunft, Verstand) und Rousseau (Gefühl, Natur). Während die Girondisten unmittelbar an Voltaire anknüpften, bezogen sich die Montagnards in der französischen Revolution auf Rousseau. Der Sachverhalt ist nicht unwichtig, weil Schiller als „Mitbürger der französischen Republik“ (vgl. Schiller 1984: 4–15, ferner High 1995: 178–194), worauf Tönnies ausdrücklich hinweist, für den Konvent wählbar war und sich mit der Absicht trug, nach Paris zu gehen.

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In Rousseau mischen sich mannigfache Motive eines leidenschaftlichen Widerstrebens gegen die Herrschaft des Verstandes und einer Kultur, die er als durch und durch künstlich – im Sinne von „unnatürlich“ – auffaßt und anklagt. Darin beruht ein großes Stück seiner unermeßlichen Wirkungen, daß drei ganz verschiedene Richtungen ungetrennt in seinem Geiste nebeneinander liegen: 1. die Vertretung des Landes, des Dorfes, der Ursprünglichkeit, gegen die Stadt mit ihrer Verfeinerung und Verderbnis, ihrer Verweichlichung und Verkünstelung – denn dies ist der eigentliche Sinn seiner Verherrlichungen des Naturzustandes, seiner Anklagen gegen Künste und Wissenschaften; 2. die Erhebung der Gesellschaft über den Staat, die radikale Geltendmachung des Prinzips, das in dem Worte „sozialer Kontrakt“ ausgedrückt liegt, die republikanische Gesinnung, die weit über das Ideal Montesquieus, der sonst das politische Denken des 18. Jahrhunderts ausfüllte, hinausweist. Der Zusammenhang mit dem ersten Gedanken liegt darin, daß die Gesellschaft sich und ihren Willen als „natürliche Ordnung“ behauptet, daß hingegen der selbständige Wille, die „Einmischung“ des Staates als unnatürlich verstanden und gedacht wird. Das freie Gewerbe und der freie Handel drängen über ihre Grenzen, ringen mit ihren Fesseln; 3. die Verkündigung der Interessen und des Rechtes der Armen gegen die Reichen, der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker, die Hinweisung auf die Ungleichheit unter den Menschen und die unermeßlichen Übel, die aus ihr entspringen. Um diese Richtungen in politischen Begriffen, die hier durchaus angebracht sind, zu bezeichnen, so kann man sagen: die erste Richtung ist konservativ, die zweite ist liberal, die dritte sozialistisch. – In allen dreien sind die stärksten Antriebe zu gefühlsmäßigen und phantastischen Ideen, zur Hingebung an große Träume und an den Rausch der Illusion. Man erinnere sich zu 1. an den Zauber des Landlebens, der Schäferpoesie, des Volksliedes, des Idylls; zu 2. an das Ideal der Freiheit, den kühnen weltbürgerlichen Zug der Gemüter; zu 3. endlich erhebt sich das sittliche Gefühl in Mitleid und Gerechtigkeitssinn, in Entrüstung über Frivolität und Luxus der Großen, in der Liebe zu den Menschen, d. h. zu den leidenden, bedrängten, ihrer Menschenwürde beraubten, in der Schwärmerei für Gleichheit und Brüderlich-

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das Ideal Montesquieus: Der franz. Philosoph formulierte 1748 mit seinem Hauptwerk „De l’esprit des lois“ eine in fast alle europäischen Sprachen übersetzte Rechtsphilosophie und eine soziologisch begründete Gesetzgebungslehre.

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keit, in der Vorstellung eines auf Gemeinschaft der Güter und des Lebens gegründeten politischen Zustandes – des „Zukunftstaats“. Alle diese Beweggründe und Gefühle drängen zum Singen und Sagen, zur Beredsamkeit, zur Darstellung. Die deutsche Literatur, von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab, ist von ihnen erfüllt; in „Sturm und Drang“ erhebt sich die Volksseele, schaffend und genießend. Weit über der Literatur in Büchern, und besonders in Zeitschriften, die sich rasch und stark vermehren, erhebt sie von der Bühne ihre Stimme. Der unklare Drang nach Umwälzung, nach Neuerung entladet sich in der Satire und in der Darstellung tragischer Schicksale, die in ungesunden, unnatürlichen Zuständen beruhen. Die politischen Machthaber werden angegriffen in der Gestalt fingierter Personen oder in anschaulichen Bildern der Greuel, die eine despotische Staatskunst über das Menschengeschlecht verhängt hat. – Die revolutionäre Stimmung der gebildeten, und besonders der bürgerlichen, so oft noch vom Adel malträtierten Klasse ist der Boden, der besonders im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Schritten der bedeutenden Männer ihren Widerhall gab, die so zahlreich und jugendfroh ein neues Zeitalter ankündigten, Köpfe und Herzen mit sich fortreißend. Die größten unter ihnen erheben sich am meisten über ihre Umgebung, und sind in ihrem Wert, ihrer Macht am wenigsten nach einem Schema zu begreifen. Sie wandeln ihre Bedingungen um, sie verwandeln sich selber, sie scheinen sich abzulösen von ihrem Zeitalter und im Lichte der Ewigkeit zu strahlen. – 

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Gleichheit und Brüderlichkeit: Im Vorabdruck der Einleitung vom 16. 4. 1905 (g) unter dem Titel „Schiller und der Genius seiner Zeit“ fehlt der folgende Halbsatz. Die größten unter ihnen ... zu strahlen. Dieser Absatz fehlt im Vorabdruck vom 16. 4. 1905 ebenfalls.

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Ein doppelter Schiller hat unseres Volkes Herz erschüttert und erobert. Der erste beendet seinen Siegeslauf um 1790, als der Dichter das 30. Lebensjahr vollendet hat; der andere beginnt ihn etwa 7 Jahre nachher, mit dem Balladenjahr, und erreicht seinen Gipfel durch den großen Erfolg des Tell, womit es dem Dichter, der nur „wider Willen“ mit der großen Masse in Berührung treten mochte, dennoch gelang „ein zu Herz und Sinnen sprechendes Volksstück“ zu schaffen. Der frühere Schiller lebt und dichtet ganz und gar im Bannkreise Rousseauschen Geistes, der in Deutschland teils (wie gesagt) wegen seiner vieldeutigen Unbestimmtheit, teils darum so bedeutend wurde, weil er mit anderen Motiven sowohl lebhaften Kunststrebens als moralisch-politischen Eifers sich begegnete. Und am meisten ist es die dritte, die revolutionäre Richtung, von der sich Schillers ungestümes Naturell ergriffen zeigt. Dieser jugendliche Schiller ist ganz und gar ein leidenschaftlich Wollender. Er erhebt seine Stirn, und erhebt seine Stimme, er sieht den Dingen ins Auge und schmettert Menschen wie Zuständen seine Anklagen und vernichtenden Urteile entgegen. B. G. Niebuhr erzählt, noch aus Erinnerungen seines Vaters und anderer älterer Zeitgenossen, es seien ganz extravagante Freiheitsideen selbst bei vortrefflichen Leuten in Deutschland aufgekommen, etwa um das Jahr 1770. Daneben sei eine Ansicht herrschend geworden (eine ganz abgeschmackte Ansicht nennt sie Niebuhr), zu der Rousseau („der Held der meisten geistreichen Leute in meinem Knabenalter“) allerdings die Veranlassung gegeben habe, obgleich sie bei ihm nicht so absurd hervortrete als bei denen, die sie ausbildeten, die Ansicht, daß die Tugend nur in den niederen Ständen, alle Verworfenheit unter den vornehmen zu suchen sei. „Hier war Schiller einer der schlimmsten unter den schlimmen ... er findet die Tugend nur

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Volksstück: Am 12. 7. 1803 schreibt Schiller an Iffland, der ‚Tell‘ solle „als ein Volksstück Herz und Sinne interessiren“ (vgl. Jonas 1892–96: 7. Bd., 57), am 18. 8. 1803 an Humboldt, der ‚Tell‘ empfehle sich „durch seine Volksmäßigkeit“ (ebd.: 65), wohingegen er am 2. 4. 1805 gegenüber Humboldt äußert, dass der dramatische Dichter „wider Willen mit der großen Masse in Berührung“ komme (ebd.: S. 227).

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noch unter Räubern und Mordbrennern.“ (Gesch. des Zeitalters der Revolution I, S. 84). Bekannt ist jene Äußerung eines Fürsten: Wenn er mit dem Gedanken umgegangen wäre, die Welt zu erschaffen, und er vorausgesehen hätte, daß Schillers Räuber darin würden geschrieben werden, so hätte er die Welt nicht erschaffen. Wozu Weltrich treffend bemerkt: „Zieht man den lieben Herrgott einmal ins Spiel, so ist noch sehr die Frage, ob ihm nicht die Aussicht, daß gewisse Fürsten der Rokokozeit unter seinen Menschenkindern wirtschaften würden, die Schöpfung der Welt weit mehr verleidet hätte, als die Vorstellung, daß einst ein Dichter das Regiment dieser Herren mit Flammenschrift brandmarken werde.“ (Friedrich Schiller. Erster Band, S. 370. Stuttgart 1899.) Es wäre überflüssig, Schillers Jugenddramen hier näher zu charakterisieren. Hervorgehoben muß nur werden, daß sie einen entschieden politischen, leidenschaftlich revolutionären Charakter miteinander gemein haben, und daß dieser unzweifelhafterweise aus der Gesinnung des Dichters hervorgegangen war; des Dichters, der unter einem harten Erziehungsdruck aufgewachsen, sodann widrig-engen Verhältnissen, fürstlicher Gnade und Ungnade, militärischem Zwang entronnen, in ein buntes und leichtfertiges Literaten- und Schauspielerleben hineingeraten, von Schulden, Sorgen, Liebesaffären bedrückt, ein unstetes und mißvergnügtes Leben führte; ein Leben, das ihn – trotz Ruhm und Bewunderung, die ihm schon zugefallen waren – beinahe zum Menschenfeinde gemacht hätte, wenn nicht Teilnahme und Liebe der Freunde ihn immer wieder aufgerichtet, der eigene Enthusiasmus – nebst der lieben Not – sein Schaffen immer wieder angespornt 1 3

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Gesch. des Zeitalters der Revolution I, S. 84: Vgl. Niebuhr 1845. Äußerung eines Fürsten: Tönnies hat die Äußerung von Weltrich (1899: 369) übernommen, der wörtlich schreibt: „Bekannt ist die von Eckermann überlieferte Äußerung eines deutschen Fürsten, welche dieser an Göthe richtete: ‚Wäre ich Gott gewesen, im Begriff die Welt zu erschaffen, und hätte in dem Augenblick vorausgesehen, daß Schillers Räuber darin würden geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.‘“. Die entsprechende Stelle, auf die Weltrich sich bezieht, findet sich in ‚Eckermanns Gespräche mit Goethe‘ unter dem Datum des 17. 1. 1827 (vgl. Eckermann 1832: 211 f.). Goethe sagt: „Eines Sommers in einem Bade, ging ich durch einen eingeschlossenen sehr schmalen Weg, der zu einer Mühle führte. Es begegnete mir der Fürst *** ...“. Bei dem Fürsten handelte es sich um den russ. Kammerherrn Putjatin. Goethes Tagebuch verzeichnet die Karlsbader Begegnung und das Gespräch über Schiller unter dem Datum des 5. 7. 1806 (vgl. Goethe 1889b: 134 f.) Weltrich treffend bemerkt: Vgl. Weltrich 1899: 370; das groß angelegte, vor allem die innere Entwicklung des Dichters darstellende Werk über Schiller blieb unvollendet und

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hätten. Und seinem Enthusiasmus, seiner Freiheits-Gesinnung galten doch vorzugsweise jene Teilnahme und Liebe, galt der begeisterte Widerhall, den seine aufrührerischen Stücke in vielen Herzen fanden. Er selber wußte dies und deutete Beifall wie Abfall in diesem Sinne. Den Fiesko habe das Publikum in Mannheim nicht verstanden, schreibt er an Reinwald (5. IV. 1784). „Republikanische Freiheit ist hierzulande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name – in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut. Aber zu Berlin wurde er 14mal innerhalb drei Wochen gefordert und gespielt [ob in den damaligen Berlinern römisches Blut floß?]. Auch in Frankfurt fand man Geschmack daran. Die Mannheimer sagen, das Stück wäre viel zu gelehrt für sie.“ Es geht auch daraus hervor, daß er mit sehr bewußter Absicht sein Stück ein republikanisches Trauerspiel genannt hat. Immerhin ist es ein historisches Drama, und zu einem historischen Drama hatte der vorsichtige Dalberg auch die „Räuber“ gestempelt und ihrem Stachel damit die Spitze abgebrochen. „Das Stück spielt in Deutschland, im Jahre als Kaiser Maximilian den ewigen Landfrieden für Deutschland stiftete“, so stand auf dem Theaterzettel „der hiesigen Nationalbühne“ zu Mannheim, Sonntag, den 13. Januar 1782. Aber dem dritten Stück ließ sich die Modernität und der bürgerliche Charakter nicht nehmen. Der Dichter, dem von Anfang an auch sehr darum zu tun war, bühnengerechte und erfolgreiche Schauspiele herzustellen, äußerte (gegen Dalberg v. 3. IV. 1783) selber Bedenken wegen „der vielleicht allzufreien Satire und Verspottung einer vornehmen Narrenund Schurkenart“ (die allzu freie Darstellung einiger mächtiger Narrenarten nennt er es gegen einen Freund) in seiner „Luise Millerin“, die Iffland „Kabale und Liebe“ taufte. „Kabale und Liebe“ urteilt Hettner richtig, „ist eine soziale Tragödie“. „Die Fäulnis und Verderbnis, die in Franz Moor

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wurde aus dem Nachlass heraus durch das Buch „Schiller auf der Flucht“ 1923 herausgegeben, ergänzt von dem Begründer der Schiller-Nationalausgabe, Julius Petersen. Reinwald: D. i. Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, verheiratet mit Schillers ältester Schwester Christophine. Der genannte Brief ist jedoch vom 5. 5. 1784; vgl. Jonas 1892– 96: 1. Bd., 185. Der Klammerausdruck im Zitat stammt von Tönnies. Dalberg: Reichsfreiherr Wolfgang Heribert von Dalberg war 1778–1803 Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, förderte Schiller vorübergehend und inszenierte die Uraufführungen der ‚Räuber‘ (1782) und des ‚Fiesko‘ (1784). An ihn (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Karl, den Statthalter von Erfurt) sind Schillers ‚Briefe an den Frhr. v. D.‘ gerichtet. gegen Dalberg: Vgl. Jonas 1892–96: 1. Bd., 110. Iffland stellte 1782 am Mannheimer Nationaltheater als Erster den Franz Moor in Schillers ‚Räuber‘ dar. Er taufte den ursprünglichen Titel „Luise Millerin“ für die Aufführung im Nationaltheater Mannheim am 17. 4. 1784 in den zugkräftigeren Titel „Kabale und

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so entsetzlich zum Ausbruch kommt, ist [so soll man dies dritte Schauspiel verstehen] der Grundzug aller unserer staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen.“ „Mit glücklichstem Scharfblick hat der Dichter dasjenige Motiv erfaßt, in welchem die Unnatur der Gesellschaft, insbesondere das unmenschlich Kastenhafte der Standesunterschiede, am schreiendsten zutage tritt. Es ist der Begriff der sogenannten Mißheirat, dem noch immer erbarmungslos unzählige Menschenopfer fallen. Das klare unveräußerliche Naturrecht des Herzens im tragischen Kampf und Gegensatz mit den finsteren und zähen Mächten der gesellschaftlichen Formen und Vorurteile“. In Hettners Worten (Literaturgesch. des 18. Jahrh. III, 3, S. 360) zittert noch die „schneidende“ Wirkung nach, die das Stück als Ausdruck des bürgerlichen Bewußtseins, als Angriff gegen Fürsten und Adel auf die Zeitgenossen geübt hatte. Von der „abgöttischen Verehrung der Jugend“ die es, wie Gervinus sagt, aufs neue provozierte, haben wir das lebendigste Zeugnis in dem Huldigungsbriefe zweier Brautpaare, der das für Schiller so folgenreiche Verhältnis zu Körner anbahnte. (Ich wenigstens glaube, daß dieser Brief – Juni 1784 datiert – unter dem unmittelbaren Eindrucke des zur Ostermesse erschienenen Buches „Kabale und Liebe, ein bürgerliches Trauerspiel“ geschrieben wurde.) „Zu einer Zeit, da die Kunst sich immer mehr zur feilen Sklavin reicher und mächtiger Wollüstlinge herabwürdigt, tut es wohl, wenn ein großer Mann auftritt und zeigt, was der Mensch auch jetzt noch vermag“, so beginnt das Schreiben, dessen Mitverfasser, Ferdinand Huber, später als eifriger Verfechter der Ideen der französischen Revolution bekannt war. Bald wurde er Schillers intimer Kamerad, durch brüderliches Du verbunden, in Leipzig (noch früher als Körner, der eben nach Dresden übergesiedelt war). „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im

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Liebe“ um. Schiller hatte zuvor Ifflands „Ruhberg“ in „Verbrechen aus Ehrsucht“ (vgl. Minor 1890: 2. Bd., 211–212) umbenannt. Literaturgesch. des 18. Jahrh.: Vgl. Hettner 1869: 3. Thl., 360; der Klammerausdruck im Zitat stammt von Tönnies, ebenso die Hervorhebung. Gervinus (1835–42) stellte in seiner ‚Geschichte der deutschen Dichtung‘ als Erster die Geschichte der deutschen Literatur im Zusammenhang mit der politischen, nationalen und kulturellen Entwicklung dar. Körner befreite Schiller durch Einladung von Mannheim nach Leipzig und Dresden aus großer materieller Not. so beginnt das Schreiben: Vgl. Brief an Schiller vom 4. oder 5. 6. 1784. Körner selbst datiert den Brief auf den „Mai 1784“ (hierzu vgl. im Einzelnen Schiller 1892: 21 f.; ders. 1989: 31.

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Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl“. So verkündete der Stolz des Poeten in der Vorlesung, die er „am 26. des Junius 1784“ in der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft hielt. Und weiterhin: „Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele“... . „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden besseren Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen, von hier durch alle Adern des Volkes; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.“ – Freilich war dies alles schon in kluger Anschmiegung an die Vorstellungen eines honetten Auditoriums gesprochen. Schon war der Dichter, der wenige Monate vorher, in der Ankündigung der „Rheinischen Thalia“ (die mit dem Abdruck dieser Vorlesung eröffnet wurde), sich gerühmt hatte: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient“, zum „Herzoglich weimarischen Rat“ avanciert und hatte den Präliminarien zu seinem persönlichen Friedensschluß mit den bestehenden Zuständen in Staat und Gesellschaft sich unterworfen. Von der dritten Rousseauschen Richtung geht er auf die zweite zurück. Hoffnung und Vertrauen auf die Weisheit der Staatslenker, Verlangen nach bürgerlicher Freiheit, dem die aufgeklärteren willig entgegenkamen, solche Motive treten in den Vordergrund seines Denkens; sie lösen den rebellischen Trotz und titanischen Unwillen ab, die in den ersten drei Stücken so wild und verführerisch getobt hatten. Der Carlos, das vierte Drama, war noch in dem alten Sinne entworfen. „Ein Familiengemälde im königlichen Hause“! „Eine Fürstin, deren Herz, 4 18

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„Die Gerichtsbarkeit der Bühne ... vor einen schrecklichen Richterstuhl“: Vgl. Schiller 1868c: 514; die folgenden Zitate ebd.: 518. bzw. 521. „Rheinische Thalia“ war eine von Schiller herausgegebene und größtenteils von ihm selbst geschriebene Zeitschrift, zuerst als „Rheinische Thalia“ (1785), dann bis 1791 als „Thalia“, schließlich 1792/93 als „Neue Thalia“ (insgesamt 7 Bände). sich gerühmt hatte: Beachte das folgende Zitat in: Schiller 1868d: 528. „Ein Familiengemälde im königlichen Hause“: Der von Tönnies zitierte Satz lautet wörtlich: „Dom Karlos ist ein Familiengemälde aus einem königlichen Hauße“; vgl. Schiller 1869: 151, Fn.; das folgende Zitat ebd.: 3.

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deren ganze weibliche Glückseligkeit einer traurigen Staatsmaxime hingeschlachtet wurden.“ Noch führt der Zorn, der Unmut ihm die Feder, noch will er anklagen und wettern, wenn auch nicht mehr gegen höfische Korruption und Standesvorurteile .... ein minder gefährliches Objekt nimmt er aufs Korn, bei dessen Verfolgung er nicht nur die Voltairianer, sondern auch alle Protestanten, wenigstens die nicht überkirchlichen, auf seiner Seite hat: die Jesuiten und die Inquisition, und damit indirekt das ganze geistliche Wesen, dessen Umtriebe freilich mit den Lastern und Missetaten der höheren Zirkel gar oft in engen Verbindungen gefunden wurden. Mit Enthusiasmus wollte sich der Dichter ganz in den „großen Charakter“ seines Carlos hineinfühlen, er sollte „den Puls“ von ihm selber haben. „Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition die prostituierte Menschheit zu rächen und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, ihn auf die Seele stoßen“ (an Reinwald den 14. IV. 1783). Die heftigen Szenen, die zwei Jahre später in der „Thalia“ veröffentlicht wurden, tragen noch viel stärkere Spuren dieser ursprünglichen Tendenzen als die Bühnenfassung des Dramas, wie wir sie kennen. „Während der Zeit nämlich, daß ich es ausarbeitete, welches mancher Unterbrechungen wegen eine ziemlich lange Zeit war, hat sich – in mir selbst vieles verändert. An den verschiedenen Epochen, die während dieser Zeit über meine Art zu denken und zu empfinden vergangen sind, mußte notwendig auch dieses Werk teilnehmen.“ So in dem ersten der „Briefe über Don Carlos“, die im Juli-Heft des „Teutschen Merkur“ 1788 zuerst erschienen und von Wieland, dem Herausgeber dieser Monatsschrift, bewundert wurden. Aber diese Veränderungen in des Dichters Seele schlossen keineswegs eine Aufgabe der Grundstimmung ein, die als ein Hymnus auf die Freiheit aus dem Stücke widerhallt. Daß hierin die Einheit des Dramas enthalten sei, die nicht durch die Liebe, von der die drei ersten Akte „handeln“, auch nicht durch die Freundschaft, wovon die zwei übrigen, gegeben sein können, will der achte dieser Briefe darlegen. „Rufen 16 24 2 5

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(an Reinwald den 14. IV. 1783): Vgl. Jonas 1892–96: 1. Bd., 115 f. so in dem ersten der „Briefe“: Vgl. Schiller 1869c: 35. „Teutschen Merkur“: Die „literarische Monatszeitschrift für das Bürgertum“ wurde von Wieland 1773–1789 in Weimar herausgegeben (fortgesetzt 1790–1810 als „Neuer Teutscher Merkur“). Der Dichter war Ende der achtziger Jahre eine der wenigen Stützen Schillers in Weimar (Goethe war in Italien, die Hofgesellschaft verhielt sich abweisend). der achte dieser Briefe: Darin das folgende Zitat, vgl. Schiller 1869c: 61; die nächsten drei Zitate ebd.: 62.

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Sie sich lieber Freund, eine gewisse Unterredung zurücke, die über einen Lieblingsgegenstand unseres Jahrzehends – Verbreitung reinerer, sanfterer Humanität, über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staats höchster Blüte, kurz über den schönen Zustand der Menschheit, wie er in ihrer Natur und ihren Kräften als erreichbar angegeben liegt – unter uns lebhaft wurde, und unsere Phantasie in einen der lieblichen Träume entzückte, in denen das Herz so angenehm schwelgt. Wir schlossen damals mit dem romanhaften Wunsche, daß es dem Zufall, der wohl größere Wunder schon getan, in dem nächsten Julianischen Zyklus, gefallen möchte, unsere Gedankenreihe, unsere Träume und Überzeugungen mit eben dieser Lebendigkeit, und mit eben so gutem Willen befruchtet, in dem erstgeborenen Sohn eines künftigen Beherrschers von – oder von – auf dieser oder der andern Hemisphäre wieder zu erwecken.“ Seine Phantasie habe für die Ausführung dieses Entwurfes keine tauglichere Person gefunden als den spanischen Prinzen. „Alles fand ich mir ... in die Hände gearbeitet; Freiheitssinn mit dem Despotismus im Kampfe, die Fesseln der Dummheit zerbrochen, tausendjährige Vorurteile erschüttert, eine Nation, die ihre Menschenrechte wieder fordert, republikanische Tugenden im Schwange, hellere Begriffe im Umlauf, alle Köpfe in Gärung, alle Gemüter von einem begeisterten Interesse gehoben.“ – Wie sollte aber die „schön organisierte Jünglingsseele“ des Thronerben Philipps „zu dieser liberalen Philosophie“ gelangt sein? „Das Schicksal schenkte ihm einen Freund.“ „Eine Geburt der Freundschaft also ist diese heitere, menschliche Philosophie, die der Prinz auf dem Throne in Ausübung bringen soll.“ „Unter beiden Freunden bildet sich also ein enthusiastischer Entwurf, den glücklichsten Zustand hervorzubringen, der der menschlichen Gesellschaft erreichbar ist, und von diesem enthusiastischen Entwurfe, wie er nämlich im Konflikt mit der Leidenschaft erscheint, handelt das gegenwärtige Drama.“ Die Rechtfertigung seiner zusammengeschweißten Dichtung aus dem ästhetischen Gesichtspunkte ist freilich dem Verfasser nicht gelungen. Denn wie ist es motiviert, daß Posa sein Programm im höchsten Glanze der Beredsamkeit entwickelt vor – König Philipp und daß dieser plötzlich, weil Posa für seine Intrigue dessen bedarf, sich von seinen schönen Worten gefangen nehmen läßt und den Ideen die wider ihn gerichtet sind, zugänglich erscheint?! Aber diese Szene machte und macht noch heute den Erfolg des Schauspiels! Nicht bes-

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„Eine Geburt ... in Ausübung bringen soll.“: Vgl. dieses und das folgende Zitat ebd.: 63.

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ser als es durch Minor geschehen, kann man sich hierüber aussprechen. „Alles was in der Zeit vor der französischen Revolution an liberalen und humanitären, an toleranten und kosmopolitischen Ideen aufgespeichert lag, ist hier von der Bühne herab laut geworden durch den Mund Posas, welcher der Sprecher seines Jahrhunderts ist. Nie haben die Schlagworte von Weltbürgertum, von der allgemeinen Menschenliebe, von der Gedankenfreiheit und der Glaubensfreiheit einen beredteren und mächtigeren Ausdruck gefunden“ (Schiller II S. 568). „Man jubelte dem Marquis von Posa und seinem Dichter zu; und man wird ihm zujubeln, wenn und wo immer er seine Stimme erhebt, wenn auch seine Nachfolger im Parlament seine Forderungen anders formulieren.“ (Ebendas. S. 570). Und doch fühlte sich der Dichter um diese Zeit bald durch Zweifel an seinem dichterischen Vermögen, bald durch den Gedanken bedrückt, daß er bisher „doch fast immer mit dem Fluche belastet sei, den die Meinung der Welt über diese Libertinage des Geistes, die Dichtkunst, verhängt“ habe. In seiner Arbeit an einem historischen Werke fand er nicht nur ungemein viel Genuß, sondern fühlte sich auch durch die Idee von etwas Solidem (d. h. etwas, das ohne Erleuchtung des Verstandes dafür gehalten werde) „sehr unterstützt“ (an Körner 19. XII. 1787). Am Ende sei er nun dem Publizisten näher als dem Dichter, „wenigstens näher dem Montesquieu als dem Sophokles“ (ebenso 12. II. 1788). Den Esprit des Loix erwarb er damals, nebst Gibbon, Pütter u. a. käuflich. Er fand Montesquieu recht dazu gemacht, um studiert zu werden, seine Gegenstände seien die wichtigsten und die eines denkenden Menschen würdigsten („denn was ist den Menschen wichtiger als die glücklichste Verfassung der Gesellschaft, in der alle unsere Kräfte zum Treiben gebracht werden sollen?“ An Lotte von Lengefeld und Caroline 1

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als es durch Minor geschehen: Minors vom einzelnen Dichter ausgehende, auf das Wesen der Gattung gerichtete Forschungsweise äußert sich schon sehr früh in dem bis zum „Dom Karlos“ reichenden zweibändigen Werk über Schiller (vgl. Minor 1890). (Schiller II S. 568): Vgl. ebd.: 2. Bd., 568. verhängt“: Abführungszeichen vom Hg. eingefügt. (an Körner 19. XII. 1787): Beachte die Briefpassage in: Jonas 1892–96: 1. Bd., 445. Sophokles: Seit dem Ende der achtziger Jahre beschäftigte Schiller sich intensiver mit den poetischen Überlieferungen des griechischen Altertums und schuf eine Elegie auf die entschwundene Herrlichkeit der ‚Götter Griechenlands‘ (Schiller 1871u: 3–7) (ebenso 12. II. 1788): Vgl. Jonas 1892–96: 2. Bd., 17. Esprit des Loix: Korrekt in der Erstausgabe: De L’esprit des Loix (Montesquieu 1748). Lotte von Lengefeld: D. i. die spätere Ehefrau Schillers; Caroline v. Beulwitz, geb. von Lengefeld, spätere von Wolzogen, war deren Schwester. Vgl. den genannten Brief in: Jonas 1892–96: 2. Bd., 170.

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v. Beulwitz 4. XII. 1788). In der Hinweisung auf Montesquieu klingt auch die Selbstkritik über Don Carlos aus: er (Schiller) sei weder Illuminat noch Maurer, sagt er im zehnten Briefe, „aber wenn beide Verbrüderungen einen moralischen Zweck miteinander gemein haben, und wenn dieser Zweck für die menschliche Gesellschaft der wichtigste ist, so muß er mit demjenigen, den Marquis Posa sich vorsetzte, sehr nahe verwandt sein.“ Obgleich der Gegenstand für eine dramatische Behandlung zu abstrakt und zu ernsthaft scheinen möge, so habe es doch ihm eines Versuches nicht ganz unwert gedünkt „Wahrheiten, die jedem, der es gut mit seiner Gattung meint, die heiligsten sein müssen, und die bis jetzt nur das Eigentum der Lehrbücher waren, in das Gebiet der schönen Künste herüber zu ziehen, mit Licht und Wärme zu beseelen und als lebendig wirkende Motive, in das Menschenherz gepflanzt, in einem kraftvollen Kampfe mit der Leidenschaft zu zeigen“.1 Und recht zuversichtlich meint er, es seien einige nicht ganz unwichtige Ideen, die darin niedergelegt wurden „für – den redlichen Finder nicht verloren, den es vielleicht nicht unangenehm überraschen wird, Bemerkungen, deren er sich aus seinem Montesquieu erinnert, in einem Trauerspiel angewandt und bestätigt zu sehen“. Dies war geschrieben am Vorabende der welterschütternden politischen Ereignisse jenseits des Rheines. Montesquieu und Rousseau sind die Staatsphilosophen, aus denen nacheinander die Männer der Konstituante, der legislativen Versammlung und des Konventes ihre Ideen schöpften; jener hat im Anfange, dieser am Ende den überwiegenden Einfluß; jener ist Autorität für die Gemäßigten, die Großbürger, die Kapitalisten, dieser für die Radikalen, die Jakobiner, das „Volk“. Wie sehr aber Schiller um diese Zeit noch politisch dachte und tief bewegt war von den Gedanken des Liberalismus und der Aufklärung, dafür zeugt besonders stark auch die im gleichen Jahre (1788) erschienene „Geschichte des Abfalles der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“. 1 Diese Worte sind von Schiller selbst in Anführungszeichen gesetzt; woher ist das Zitat? In Goedekes kritischer Ausgabe wäre eine Nachweisung angebracht gewesen, die ich vermisse. 3 6 28

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sagt er im zehnten Briefe: Vgl. Schiller 1869c: 68; dort auch die folgenden Briefpassagen. „verwandt sein“: Fehlendes Abführungszeichen vom Hg. eingefügt. (1788): Vgl. die beiden folgenden Zitate in: Schiller 1872: 7 f. woher ist das Zitat?: aus Schillers Rezension „Über Egmont. Trauerspiel von Goethe“ in: Allgemeine Literaturzeitung, Nrn 227a und b, 20.9.1788 (Friedrich Schiller, Theoretische Schriften, Deutscher Klassikerverlag, Frankfurt am Main 1992, S. 935).

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„Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten“ so hebt die Einleitung dieses bedeutenden Werkes an, „die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit. Wenn die schimmernden Taten der Ruhmsucht und einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren, und die Hilfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen. Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hilfsquellen endlich erschöpfen kann.“ Er will den Versuch machen, dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der Welt aufzustellen, in der Brust seines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken, und ein neues, unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache, und ausrichten mögen durch Vereinigung. Der glückliche Erfolg, heißt es im folgenden Absatze, der dies Wagestück eines friedfertigen Volkes krönte, „ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen“. Mit diesen Anschauungen, diesen Gedanken, mit dem Enthusiasmus, der sie erwärmte, hängen die geschichtsphilosophischen Betrachtungen nahe zusammen, denen sich Schiller im folgenden Jahre, dem ersten seiner Professur, so eifrig hingab; sie hängen damit zusammen, indem sie sie teils bedingen und inspirieren, teils sie wiederum einschränken und dämpfen. Denn am meisten merkwürdig ist an diesen Betrachtungen, wie darin eine Rousseausche Kritik der Zivilisation, insbesondere des gegebenen gesellschaftlichen Zustandes, mit der gewöhnlichen Ansicht des Siècle des lumières ringt, die vom Glauben an den Fortschritt, an die entscheidende Bedeutung des Wissens, ausgegangen und erfüllt ist. Das Grundthema gibt diese immer her; schon in frühen Jugendarbeiten beschäftigt er sich gern mit der Entwickelung des Menschengeschlechtes aus Wildheit und Barbarei zur Kultur. So in der – übrigens die Kralle des Löwen deutlich zeigenden – Dissertation (der 20 29 3 4

„ist auch uns nicht versagt ... zu ähnlichen Taten rufen“: Vgl. ebd.: 9. Siècle des lumières: [frz.] svw. Zeitalter der Aufklärung. Dissertation: Schillers erste, 1779 eingereichte Dissertation „Philosophie der Physiologie“ wurde als nicht druckreif und „zu dunkel“ abgelehnt, seine zweite, 1780 eingereichte

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zweiten: „Versuch über den Zusammenhang“): „Der Mensch mußte Tier sein, ehe er wußte, daß er ein Geist war, er mußte im Staube kriechen, ehe er den Newtonschen Flug durchs Universum wagte. Der Körper also der erste Sporn zur Tätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit.“ Auch die Antrittsrede über Universalgeschichte ist ganz durchdrungen von dieser Ansicht. Und hier tritt auch das charakteristische Komplement stark hervor, die beinahe als von selbst verständlich sich geltend machende Lehre, daß die Neuzeit zum Mittelalter wie Kultur zur Barbarei sich verhalte. „Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuen Galilei und Erasmus bescheinen.“ „Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Überreste aus den vorigen eingedrungen, Geburten des Zufalles und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht hätte verewigen sollen: Aber wieviel Gestalt hat der Verstand des Menschen auch diesem barbarischen Nachlaß der älteren und mittleren Jahrhunderte anerschaffen.“ Und mit dem Satze „Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt“ beginnt die wohltönende hochgestimmte Periode des Schlußabsatzes, die Aufforderung, „zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen“. Neben solche optimistische Ansicht der Zivilisation und Bildung tritt aber unausgeglichen eine düstere oder doch mit trüben Lichtern untermischte, um sie

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Abhandlung „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ wurde dann lobend angenommen. Vgl. das folgende Zitat daraus in: Schiller 1867: 158. Newtonschen Flug: Anspielung auf das für die Physik und Astronomie gleichermaßen grundlegende Gravitationsgesetz, das die Bewegung der Planeten nach den Kepplerschen Gesetzen bestätigte. Antrittsrede vom 26. 5. 1789 (Schiller 1870d); nicht zuletzt aufgrund seiner in Weimar verfassten „Geschichte des Abfalles der vereinigten Niederlande“ (1788) erhielt Schiller 1789 eine unbesoldete Professur für Geschichte an der Universität Jena. Galilei bekämpfte das ptolemäische Weltsystem und verhalf durch Verteidigung der kopernikanischen Lehre einer neuen Weltsicht zum Durchbruch. Erasmus von Rotterdam bekämpfte Dogmenzwang und kirchliche Missbräuche und hat die Aufklärung entscheidend beeinflusst. Siehe zum Zitat Schiller 1870d: 88; das folgende ebd.: 89. „Unser menschliches Jahrhundert ... zu befestigen“: Vgl. ebd.: 99.

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nicht pessimistisch zu nennen. Da kommt der Gedanke, daß die Blüte ihrer Kultur von den Völkern mit ihrer Freiheit erkauft werde; nur Europa habe Staaten, die zugleich erleuchtet, gesittet und ununterworfen sind; sonst überall wohne die Wildheit bei der Freiheit, und die Knechtschaft bei der Kultur. Das habe Europa dem kriegerischen Jahrtausend zu verdanken, durch das es sich hindurchgerungen. (Allgem. Sammlung historischer Memoires. 1. Abt. 4. 1790.) Aber bei dieser relativen Apologie des Mittelalters und der früheren Zeitalter bleibt Schiller nicht stehen. Während der moralisch-politische Denker sich von Rousseau entfernt, kommt der historische Denker – wie ich glaube, nicht ohne Fichtesche Einflüsse – Rousseau näher. Das Mißfallen an der eigenen Zeit und ihren Menschen nimmt sichtlich zu – eigene Erlebnisse werden dazu beigetragen haben –: „man muß gestehen,“ schreibt er zwei Jahre später, „daß wir die Überlegenheit unserer Zeiten nicht immer mit Bescheidenheit, mit Gerechtigkeit gegen die vergangenen geltend machen. Der verachtende Blick, den wir gewohnt sind, auf jene Periode des Aberglaubens, des Fanatismus, der Gedankenknechtschaft zu werfen, verrät weniger den rühmlichen Stolz der sich fühlenden Stärke, als den kleinlichen Triumph der Schwäche, die durch einen ohnmächtigen Spott die Beschämung rächt, die das höhere Verdienst ihr abnötigte. Was wir auch vor jenen finstern Jahrhunderten voraus haben mögen, so ist es doch höchstens nur ein vorteilhafter Tausch, auf den wir allenfalls ein Recht haben könnten, stolz zu sein. Der Vorzug hellerer Begriffe, besiegter Vorurteile, gemäßigterer Leidenschaften, freierer Gesinnungen – wenn wir ihn wirklich zu erweisen im Stande sind – kostet uns das wichtige Opfer praktischer Tugend, ohne die wir doch unser besseres Wissen kaum für einen Gewinn rechnen können. Dieselbe Kultur, welche in unserm Gehirn das Feuer eines fanatischen Eifers auslöschte, hat zugleich die Glut der Begeisterung in unsern Herzen erstickt, den Schwung der Gesinnungen gelähmt, die tatenreifende Energie des Charakters vernichtet. Die Heroen

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1. Abt. 4. 1790: Vgl. Schiller 1790–95; als Mitherausgeber wurde der Jenaer Historiker Woltmann, der Fortsetzer der „Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs“ (vgl. Schiller 1869d; ders. 1870f: 182–389; ders. 1904: 305–308), genannt. Schillers eigene herausgeberische Tätigkeit erstreckte sich nur auf die bis 1793 erschienenen drei Bände der ersten und fünf Bände der zweiten Abteilung. Fichtesche Einflüsse: Beachte dazu Fichtes „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas“ (1793a) und ders.: [1792], 1793b. schreibt er zwei Jahre später: Vgl. Schillers ‚Vorrede (zur Geschichte des Maltheser­ordens‘ (1870e: 394).

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des Mittelalters setzten an einen Wahn, den sie mit Weisheit verwechselten, und eben weil er ihnen Weisheit war, Blut, Leben und Eigentum; so schlecht ihre Vernunft belehrt war, so heldenmäßig gehorchten sie ihren höchsten Gesetzen – und können wir, ihre verfeinerten Enkel, uns wohl rühmen, daß wir an unsere Weisheit nur halb so viel, als sie an ihre Torheit wagen?“ Es wird dann (in der Vorrede zur Geschichte des Maltheserordens nach Vertot 1792) ausgeführt, daß nur die Herrschaft seiner Ideen über seine Gefühle dem Menschen Würde verleihe und daß die Willigkeit des Gemüts, sich von übersinnlichen Triebfedern leiten zu lassen, die notwendige Bedingung unserer sittlichen Kultur sei. – Allmählich aber und vorzüglich in den ästhetischen Schriften, die als Anwendungen Kantischer Philosophie rasch die historischen ablösen, wird nur noch mit der griechischen Kultur die moderne verglichen, oder vielmehr jene erscheint als ein der Natur noch näher liegender, reinerer und unschuldiger Zustand, diese als Entartung, Verweichlichung, Zerspaltung, Unnatur, aus der zur Natur zurückzukehren unsere sittliche Aufgabe sei: so namentlich in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung (1795) die solchen Gedanken eine scharfe Prägung gibt. „Wir waren Natur wie sie (die Blumen und Vögel, die bemoosten Steine usw.) und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.“ „Kultiviert“ und „verdorben“ werden als Synonyme verbunden.

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Kantischer Philosophie: Das von Erbprinz Friedrich Christian von Augustenburg und dem dänischen Finanzminister Graf Ernst von Schimmelmann gewährte dreijährige Stipendium von je 1000 Talern ermöglichte Schiller, sich ganz ungestört dem Studium Kants zu widmen. In den Jahren zwischen 1790 und 1794, bis hin zu den „Briefen an den Herzog von Augustenburg“ (vgl. Jonas 1892–1896: 3. u. 4. Bd.), bemüht Schiller sich in kritischer Auseinandersetzung mit Kant um die Vereinigung der eigenen naturalistisch-medizinischen Triebpsychologie mit seiner Ideenmetaphysik. Der in der Abhandlung „Ueber Anmut und Würde“ (Schiller 1871v) 1793 entwickelte Begriff der Schönen Seele löst Kants starre Gegenüberstellung von Pflicht und Neigung in der Harmonie von Sinnlichkeit und Sittlichkeit auf. Diese kantianischen Übergangsjahre, gemeinhin als der zweite Abschnitt in Schillers philosophischem Werden bezeichnet, sind entscheidend für die begriffliche Festigung seiner Philosophie, namentlich seiner philosophischen Ästhetik und Ethik. In Schillers späteren Gedichten und Dramen werden Kants ethische Maximen immer wieder illustriert und paraphrasiert. „Wir waren Natur ... in eine erhebende Rührung versetzen.“: Vgl. Schiller 1871e: 427; der Klammerausdruck stammt von Tönnies.

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Gelegentlich bezeichnet er aber auch, was ihn von Rousseau unterscheide (den er aber nicht tief verstanden hat); jener wolle die Menschheit, nur um des Streits in ihr recht bald los zu werden, lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes zurückgeführt, als in der geistreichen Harmonie einer völlig durchgeführten Bildung geendigt sehen, wolle die Kunst lieber gar nicht anfangen lassen, als ihre Vollendung erwarten ... . Auch in den Briefen über die ästhetische Erziehung der Menschheit (auf die später zurückzukommen sein wird), klagt der philosophische Dichter „unser Zeitalter“ an, daß es auf zwei Abwegen wandele, hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raube geworden sei. „Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt, und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. [Hört!] So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“ – In diesen Ansichten ist schon die bittere Entfremdung zu spüren, die sich Schillers mehr und mehr gegen seine Zeitgenossen bemächtigte, die vornehme, zurückgezogene Stellung, die er in späteren Jahren der Mitwelt und ihren Meinungen gegenüber einnahm, kündigt sich an. In der gründlichen Verachtung des deutschen literarischen Publikums verdichten sich diese Gefühle, in den Xenien finden sie ihre Entladung.

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„Die Kultur, weit entfernt ... noch Grenzen setzt.“: Vgl. Schiller 1871c: 286 f. (5. Brief); der Klammerausdruck im Zitat stammt von Tönnies. Xenien sind die im Musenalmanach für 1797 veröffentlichten epigrammatischen Spottgedichte Goethes und Schillers auf gering geschätzte, sog. „mittelmäßige“ literarische Gegner.

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Es ist ganz und gar ein anderer Schiller, der uns in den Werken seiner letzten 7 Jahre entgegentritt. Er verhält sich nicht mehr als ein Wollender zur Welt, in dem Sinne, wie wir ihn gekannt und verstanden haben – er ist ganz Dichter, ganz Künstler, und das ist es, was er sein will: wenn man es richtig auffaßt, so wird man sagen dürfen, daß er wesentlich als ein Denkender sein Verhältnis zu Welt und Menschen eingerichtet hat. In einem vertrauten Briefe, der dieser Entwickelung weit voraus liegt (an Körner 15. April 1786) meint der Dichter, eine Mischung von Spekulation und Feuer, Phantasie und Ingenium, Kälte und Wärme „zuweilen an sich zu beobachten“. Gewiß ist, daß in dieser späteren Epoche, wie es auch dem normalen Fortschritte des Menschen entspricht, die Kälte, wie in der früheren die Wärme, durchaus überwogen hat; das Merkwürdige dabei liegt aber eben darin, daß der große Mann gleichzeitig immermehr vom Philosophen (in einem allgemeineren als dem Schulsinne des Wortes) sich weg entwickelt hatte, obgleich, wie seine eigne Meinung in jenem Briefe war, dem Philosophen die Kälte des Verstandes, dem Dichter die Temperatur der Phantasie und des Gemütes zuzukommen scheint. Die Wahrheit ist, daß in seinem Genie der dichterische Antrieb immer mit unwiderstehlicher Macht gewaltet hat, daß er sein inneres Leben beherrschte, sein äußeres bestimmte. Aber dieser dichterische Antrieb ist in seinen früheren Jahren eins mit allen seinen Leidenschaften und seines eigentlichen Berufes wird er sich nicht klar bewußt. Immer war er durch die Lebensnot und die Sorge ums tägliche Brot im Innersten bewegt. Bald erkennt er die Unmöglichkeit, als bloßer Schriftsteller zu einer leidlichen Lebensstellung, zu eignem Haus und Herd zu gelangen, und die Sehnsucht danach hat ihn früh ergriffen. Sie bewegt ihn, gegen seine Neigung und ohne Glauben an seine Tauglichkeit dafür, Professor zu werden; um seine adliche Braut heimzuführen, muß er dem weimarischen Herzog für ein Gehalt von 200 Talern dankbar sein; um ihr einen, nach seinem Bedünken, angemessenen Rang zu geben, muß er um den Hofratstitel den

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an Körner: Vgl. die Passage in: Jonas 1892–96: 1. Bd., 290. weimarischen Herzog: D. i. der spätere „Großherzog“ Karl-August von Sachsen-Weimar, der, beraten von Goethe, das Hoftheater gründete und Schiller nach Weimar berief.

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meiningischen Fürsten angehen; für die Praxis des Lebens verfügte der freiheitliebende Schwabe von Jugend auf über einen nicht gemeinen Scharfsinn: er verstand es, sich einzurichten und sich anzupassen – freilich, der Zwang der Umstände war ihm immer auf den Fersen! So wurde das Feuer seines Wollens nicht nur durch die zunehmenden Jahre gedämpft, sondern noch mehr durch die Lebensverhältnisse, in die sie ihn brachten. Und während jenes zuerst in seinem Denken wie in seinem Dichten geglüht hatte, ging ein kühl überlegenes Wesen zuerst in sein Denken und von diesem aus dann auch in sein Dichten über. Seine poetischen Fähigkeiten wurden durch gereiften Kunstverstand nicht abgeschwächt, aber ihre Übung nahm einen neuen, in hohem Grade bewußten Charakter an. Er setzt sich in eine objektivierende Entfernung zu den Dingen; er operiert insbesondere mit den Menschen, wie mit Figuren, für seine künstlerischen Zwecke; es sind die Probleme mit ihren Konflikten, die ihn interessieren; er will nicht sowohl selber etwas sagen, als die dargestellten Sachen, und Personen, sprechen lassen; er verleugnet alle Tendenzen, am meisten die früher so lebendige politische Tendenz. Auch sein politisches Interesse und Denken hatte mit dem Streben nach Lebensstellung und Betätigung zusammengehangen. Es sind deutliche Spuren vorhanden, daß er sich früh mit dem Gedanken getragen hat, im Wirken eines Staatsmannes einmal seinen Geist und seine Kraft zu bewähren. Von einem seiner Jugendfreunde wird die Meinung ausgesprochen, daß, wenn Schiller nicht ein großer Dichter, er gewiß ein großer Mensch im handelnden öffentlichen Leben geworden wäre; freilich fügt dieser die (für damals) leicht begreifliche Befürchtung hinzu, er möchte alsdann als Gefangener einer Festung sein Ende gefunden haben. Ein anderer Freund, der mit ihm dem Druck des Stuttgarter Lebens entfloh und diese gemeinsame Flucht in anschaulich heiterer Weise geschildert hat 2 , der Musiker Andreas Streicher, erzählt, daß unser Dichter damals in allem Ernste mit dem Plane umging, die Rechte noch zu studieren und hoffte dieses Studium (mit dem er übrigens auf der Karlsschule schon einen Anfang gemacht hatte) rasch zu bewältigen 2 Das Büchlein ist jüngst aufs neue gedruckt worden („Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785“ von Andreas Streicher). 1

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meiningischen Fürsten: D. i. Herzog Georg I. von Sachsen-Meiningen, nicht zu verwechseln mit dem „Theater-Herzog“ Georg II., dem künstlerischen Leiter des Meininger Hoftheaters, das er zu einer mustergültigen Bühne („Meininger Stil“) entwickelte. Streicher floh 1782 mit Schiller von der Karlsschule, war mit Beethoven befreundet. das Büchlein: Tönnies bezieht sich auf Andreas Streicher (1836).

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und dann sich einen wohlhabenden, sorgenfreien Zustand zu verschaffen. In der Mitternachtstunde (25./26. März 1785) scheidend, gaben die beiden sich das Wort, einander nicht eher zu schreiben, als bis jeder etwas Rechtes geworden wäre, und zwar wollte Streicher Kapellmeis­ter, Schiller – Minister geworden sein. Und es deuten manche Zeichen darauf hin, daß diese Phantasie, in der damals allein möglichen Form, im Dienste eines aufgeklärten Fürsten, Einfluß auf die Geschicke der Menschheit, auf eine vernünftige Gestaltung des politischen Lebens zu gewinnen, ihn nicht so bald verlassen hat. Jene Stelle in den Briefen über Don Carlos, ja den Carlos selber, oder vielmehr den Posa, kann man im Lichte dieses Gedankens um so besser verstehen. Und noch einem Jugendfreund schreibt er im Dezember 1788 folgenden merkwürdigen Zettel: „Von nun an streiche mich nur aus der Liste der literarischen Vagabunden aus. Oder hast Du mir lieber den etwas ehrenvolleren Titel eines Privatgelehrten beigelegt, so ändere auch diesen. Denn ich denke nun bald in Staats- und Adreßkalendern als etwas Öffentliches zu prangen. Du lächelst, und ich wette, daß ich die Deutung dieses Lächelns errate. Du meinst, nun wird er wohl in meine Fußtapfen treten und ein ehrlicher Hausvater werden? – Ja, lieber Zumsteeg, verschiedene meiner Meinungen sind geflohen und haben sich mit mir verwandelt. Auch mein Kopf ist nicht mehr der Sonderling wie ehedem, und darum sollst du bald von mir vernehmen, daß ich es nicht mehr gut achtete, allein zu sein“ (an Rudolf Z. 10. Dezember 1788). Gewiß, es waren in erster Linie die Heiratspläne, die ihn bewegten, und im Zusammenhange damit der „heillose Katheder“, vor dem ihm freilich graute, und um dieselbe Zeit schreibt er an Körner: „Mein ganzes Absehen bei dieser Sache ist, in eine gewisse Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung einzutreten, wo mich eine bessere Versorgung finden kann.“ Jena werde ihn während eines Jahres in akademische Berufsgeschäfte hineinhetzen und ihm gewissermaßen einen gelehrten Namen geben, „der mir nötig ist, um gesucht zu werden“ (an Körner 25. Dezember 1788). Was folgt, weist freilich nur auf eine „Vokation“ oder ein Ordinariat in Jena; aber seine geheimen Gedanken verraten sich anderwärts. Großen Eindruck hatte eben um diese Zeit 18 2 2

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lieber Zumsteeg: Der Komponist Johann Rudolf Zumsteeg besuchte mit Schiller die Karlsschule. 10. Dezember 1788: Vgl. Schillers (angeblichen) Brief an Rudolf Zumsteeg in: Jonas: 1892–96: 2. Bd., 171. Nach neueren Forschungen ist dieser Brief wahrscheinlich eine Fälschung; auch die zeitliche Einordnung wäre problematisch (vgl. Schiller 1979: 640). 25. Dezember 1788: Vgl. Schillers Brief in: Jonas 1892–96: 2. Bd., 187–191, hier 189. Vokation: [lat.] svw. Berufung in ein Amt.

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es auf ihn gemacht, zu hören, daß der Carlos in Berlin mit Erfolg gegeben war. „Die Szene des Marquis mit dem König soll gut gespielt worden und Seiner Majestät ... sehr ans Herz gegangen sein“ (daß er den Nachfolger Friedrichs hier mit einem sehr despektierlichen Namen belegt, tut nichts zur Sache). „Ich warte nun alle Tage auf eine Vokation nach Berlin, um Herzbergs Stelle zu übernehmen und den preußischen Staat zu regieren“ (an Lotte v. Lengefeld 11. Dezember 1788, also am Tage nach dem Briefe an Zumsteeg). Das war ein Scherz – gewiß; aber solche Scherze kommen nicht von ungefähr, so wenig wie nächtliche Träume ähnlicher Art – es sind die zaghaften Wünsche, die dahin entfliehen. Auch Körner erzählt er, daß der junge Schubart, der über diese Aufführung berichtet hatte, „Wunder“ spreche „von der Wirkung des Stückes auf – den König.“ Charakteristisch ist auch, daß er, einige Tage später, an Huber, auf Grund der „ziemlich schwärmerisch geknüpften Freundschaft“, die sie verbinde, den guten Rat erteilt, „im politischen und publizistischen Fach als Philosoph und Denker von Geschmack zu arbeiten“; es sei fast das einzige Fach „wo schriftstellerischer Genuß und Ruhm mit bürgerlicher Schätzung und Belohnung in einem hohen Grade“ zu vereinigen sei (2. Januar 1789). Schiller führt dabei aus, wie er an Hubers Stelle es anfangen würde, ein „Virtuose“ in diesem Fache zu werden. Indessen gestaltete sich Schillers Schicksal anders. Wenn er auch, wie er vorausgesehen, in der Tätigkeit des akademischen Lehrers keine Befriedigung fand, so blieb er doch daran haften 3, und der wachsende Ruhm, die Kantische Philosophie, die Tätigkeit als Herausgeber der Horen, vor allem 3

Er hatte kaum begonnen, zu lesen, da dachte er schon an ein anderes „Etablissement“: seine meiste Hoffnung setzte er auf den Koadjutor Dalberg, will aber auch im Preußischen etwas anzuspinnen suchen, und es wäre ihm nicht leid, in einem halben Jahre es

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Nachfolger Friedrichs: D. i. Friedrich Wilhelm II., König von Preußen (1786–1797). 11. Dezember 1788: Vgl. Schillers Brief in: Jonas 1892–96: 2. Bd., 174–176, hier 175; die inkriminierte Stelle lautet: „... dem dicken Schwein ...“. der junge Schubart übte starken Einfluss auf Schiller aus. Seines Vaters Aufsatz „Zur Geschichte des menschlichen Herzens“ gehört zu den Quellen von Schillers ‚Räubern‘. „... auf – den König.“: Vgl. Schillers Brief an Körner vom 12. 12. 1788 in: Jonas 1892–96: 2. Bd., 181. an Huber: Vgl. Schillers Brief ebd.: 191–194, hier 191. „Virtuose“: Vgl. ebd.: 194. Horen: Literaturzeitschrift der deutschen Klassik, von Schiller herausgegeben 1795–1797. Koadjutor Dalberg: D. i. Karl Reichsfreiherr Theodor Anton Maria von Dalberg, Statthalter von Erfurt, Koadjutor von Mainz und Worms, später Erzbischof von Regensburg,

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aber das Familienleben, und demnächst die nähere Bekanntschaft und das Zusammenwirken mit Goethe, entschädigten ihn einigermaßen; die Übersiedelung nach Weimar und zuletzt die Nobilitierung gaben seiner Lebensstellung vollends die Würde, nach der ihn verlangte. Und diese Entwickelung ging Hand in Hand mit dem Zurücktreten des Politikers in ihm. Von seinem Verhältnis zur französischen Revolution, der Freund Huber mit aller Leidenschaft sich hingab, besitzen wir nur sehr wenige Dokumente; das wichtigste ist vor bald 30 Jahren erst entdeckt worden. Bekannt ist, daß er im Dezember 1792 „kaum der Versuchung widerstehen“ kann, sich in die Streitsache wegen des Königs einzumischen und ein Memoire dar­über zu schreiben. „Mir scheint diese Unternehmung wichtig genug, um die Feder eines Vernünftigen zu beschäftigen; und ein deutscher Schriftsteller, der sich mit Freiheit und Beredsamkeit über diese Streitfrage erklärt, dürfte wahrscheinlich auf diese richtungslosen Köpfe einigen Eindruck machen.“ (An Körner, 26. 12. 92.)4 Die Schrift sollte ins Französische übertragen werden. „Außerdem ist gerade dieser Stoff sehr geschickt dazu, eine solche Verteidigung der guten Sache zuzulassen, die keinem Mißbrauch ausgesetzt ist.“ durchzusetzen, daß er in Wien wäre (an Lotte von Lengefeld und Caroline v. Beulwitz 10. Dezember 1789). 4 Kurz vorher trug er sich sogar mit dem Gedanken, nach Paris überzusiedeln, er wußte, daß er für den Convent wählbar war.

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befreundet mit Wilhelm von Humboldt – nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Wolfgang, dem Theaterintendanten in Mannheim. Koadjutor ([lat.] Stellvertreter) ist nach kath. Kirchenrecht ein Vikar, der den durch Alter oder Krankheit behinderten Stelleninhaber mit dem Recht der Nachfolge vertritt. Zusammenwirken mit Goethe: Trotz örtlicher und gesellschaftlicher Nähe waren Schiller und Goethe bis 1794 aneinander vorbeigegangen. Zur Anknüpfung führte erst Schillers Gründung der Monatsschrift „Die Horen“. Nobilitierung: [lat.-nlat.] hier svw. Erhebung in den Adelsstand; um den bürgerlichen Schiller hoffähig zu machen, verschaffte ihm Herzog Karl August von Sachsen-Weimar im Herbst 1802 beim Kaiser den erblichen Reichsadel. Streitsache wegen des Königs: Der frz. König Ludwig XVI. wurde am 16./17. Januar 1793 vom Nationalkonvent in einem förmlichen Prozess, der am 10. Dezember 1792 eröffnet worden war, mit knapper Mehrheit wegen Verschwörung gegen den Staat und die Sicherheit der Nation zum Tode verurteilt und enthauptet. An Körner: Schillers Brief vom 21. 12. 1792 und nicht, wie von Tönnies angegeben, vom 26. 12. 1792; vgl. Jonas1890–96: 2. Bd., 232–234, hier 233 f. 10. Dezember 1789: Schillers Brief datiert jedoch vom 10. 11. 1789; vgl. ebd.: 362–365, hier 363.

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Er wollte keineswegs die Sache des Volkes gegen die Fürsten preisgeben. „Der Schriftsteller, der für die Sache des Königs öffentlich streitet, darf bei dieser Gelegenheit schon einige wichtige Wahrheiten mehr sagen als ein anderer, und hat auch schon etwas mehr Kredit.“ „Es gibt Zeiten, wo man öffentlich sprechen muß, weil Empfänglichkeit dafür da ist, und eine solche Zeit scheint mir die jetzige zu sein“. Aber sieben Wochen später: „Ich habe wirklich eine Schrift über den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da liegt sie nun noch da. Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese Schindersknechte mich an.“ Seine persönliche Gesinnung wurde den Zeitgenossen und ihren Interessen mit den Jahren noch fremder. „Glühend für die Idee der Menschheit, gütig und menschlich gegen den einzelnen Menschen und gleichgültig gegen das ganze Geschlecht wie es wirklich vorhanden ist – das ist mein Wahlspruch“ (an Benjamin Erhard) v. 5. 5. 95)5. Und in demselben Briefe, wo er dem Adressaten rät, sich ganz und gar von dem Felde des praktischen Kosmopolitismus zurückzuziehen, ruft er mit Bitterkeit aus: „Sind es denn die Menschen wert, daß ein gescheiter Mann ihretwegen sich aufsetze, seinen Verstand zu verlieren? Wahrhaftig, sie sind es nicht.“ In politischen Dingen verzichtet er nunmehr auf alle Teilnahme, alles Urteil: „denn ich bin herzlich schlecht darin bewandert, und es ist im buchstäblichsten Sinne wahr, daß ich gar nicht in meinem Jahrhundert – lebe; und ob ich gleich mir habe sagen lassen, daß in Frankreich eine Revolution vorgefallen, so ist dies ohngefähr das Wichtigste, was ich davon weiß“ (an Fritz Reichard, 3. 8. 95). Die Motive aber, die zu dieser völligen Veränderung in Schillers Denkungsart führten, die sozusagen seine Entzeitlichung bewirkten, konnte man vor 30 Jahren schon am besten aus den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, wenn auch mühsam, herauslesen; besser wäre wohl gesagt: die Gründe, mit denen Schiller vor sich selber und vor anderen 5 Derselbe Gedanke in dem Distichon „An einen Weltverbesserer“ in den Horen, 1795, neuntes Stück. 6

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„Es gibt Zeiten ... scheint mir die jetzige zu sein“: Vgl. Schillers Brief an Körner vom 21. 12. 1792 in: ebd.: 233 f.; die folgende Briefpassage an Körner vom 8. 2. 1793 ebd.: 3. Bd., 246. Erhard: D. i. der Mediziner und Philosoph Johann Benjamin Erhard, der an den „Horen“ beteiligt war. Schillers Brief an ihn in: Jonas 1892–96: 4. Bd., 169–170, hier 169. an Fritz Reichard: Vgl. Schillers Brief an den Berliner Kapellmeister und Komponisten ebd.: 217–219, hier 218.

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seine innere Umwandlung rechtfertigte. Aber einen frischen und starken Eindruck empfangen wir davon erst, seitdem diese Briefe (zum größten Teile) so wie sie wirklich als Privatbriefe geschrieben wurden, bekannt geworden sind6 . Und die Korrespondenz, von der sie ein Stück bilden, gewährt uns zugleich einen sehr merkwürdigen Einblick in die Zeitumstände, aus denen der Dichter emporgewachsen war, die sein Wirken begleiteten, wie sie in der Seele eines Fürsten sich reflektieren, der über die hohen Schranken seines Standes in ein freies Menschentum hinauszublicken wagt, und von sich selber sagt, daß man ihm zwar zuviel Ehre erweise, wenn man ihn für mehr als einen Menschen von gewöhnlichem Schlage halte, aber man möge recht haben, wenn man meine, daß er nicht ein Fürst von gewöhnlichem Schlage sei7. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Schiller es war, der den Männerstolz vor Fürstenthronen gepriesen hatte, der als Sprecher einer freiheitdurs­tigen Jugend bekannt war, dieser „Himmelsstürmer“ und „Weltverbesserer“, der auch die Seele des jungen Erbprinzen von Schleswig-Holstein (Sonderburg-Augustenburg) entzündet hatte. Wir hören und bemerken, daß dieser vorzugsweise vom Carlos-Posa und von dem Geschichtswerke über die Befreiung der Niederlande erbaut und begeistert war. „Zwei Freunde, durch Weltbürgersinn miteinander verbunden, richten dieses Schreiben an Sie, edler Mann,“ so schrieb der Prinz in seinem und in des Staatsmanns Ernst Grafen Schimmelmann (semitischer Abstammung) Namen an den Dichter (den 27. November 1791), dessen bedrängter Lage die beiden in hochherziger Weise geholfen haben. 6 Briefe von Schiller an Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg über ästhetische Erziehung. In ihrem ungedruckten Urtext herausgegeben von A. L. J. Michelsen. Deutsche Rundschau, Band 7 u. 8, S. 1. Die Briefe des Herzogs herausgegeben von F. Max Müller, Urlichs, Hans Schulz, daselbst Band 8, 29, 122. 7 „Und daher haben auch meine Empfindungen einen anderen Maßstab und meine Gesinnungen mehr Aufrichtigkeit und zumal mehr Lebhaftigkeit, als bei den häufigen Automaten meines Standes angetroffen wird“ an Schiller, 2. Dezember 1793, Deutsche Rundschau, Band 8, S. 389.

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„Weltverbesserer“: Vgl. Schiller 1871r: 74. Schimmelmann: Der dän. Staatsmann und Finanzminister war mehr Schöngeist und Kunstförderer als Politiker und versammelte auf seinem Sommersitz „Seelust“ einen Kreis von Dichtern und Schriftstellern um sich. 27. November 1791: Vgl. den Brief von Friedrich Christian von Augustenburg und Ernst Graf Schimmelmann in: Urlichs 1876: 375–390, hier 387; dort auch das folgende Zitat.

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Von vornherein hat die Verbindung, die damit angeknüpft wurde, eine Beziehung zu den erwähnten Plänen Schillers gehabt, die auf ein politisches Wirken gerichtet waren. „Und wenn Sie nach wiederhergestellter Gesundheit wünschen sollten, im Dienste unsres Staates angestellt zu werden, so würde es uns nicht schwer fallen, diesen Wunsch zu befriedigen.“ Die Worte deuten unverkennbar darauf, daß ein solcher Wunsch seinen Gönnern, durch Baggesen oder auf anderem Wege, bekannt geworden war; freilich hätte Schiller mit einer beliebigen Anstellung sich nicht zufrieden gegeben. Wenn etwas, so wollte er die Geschicke eines Staates lenken, das Programm Posas zu verwirklichen unternehmen. Damals freilich, von tödlicher Krankheit kaum genesen, empfand er nur, daß er „endlich die so lange und so heiß gewünschte Freiheit des Geistes, die vollkommen freie Wahl seiner Wirksamkeit“ erhielt. Auch fühlte er sich, ehe er eine Reise nach Kopenhagen antreten könne, noch für wenigstens ein Jahr verbunden, als ein tätiges (wenngleich unfähig, wie er meint, je als ein nützliches) Mitglied der Jenaischen Universität sich zu bezeigen. „Bin ich erst bei Ihnen, so wird der Genius, der alles Gute in Schutz nimmt, gewiß für das weitere sorgen“ (an Baggesen 16. Dezember 1791). Noch am 7. Januar 1792 sieht der Prinz „dem Augenblick mit verdoppelter Ungeduld entgegen, in welchem ich Sie als Mitbürger meines Vaterlandes werde begrüßen können“. Man denke sich: Schiller beinahe ein Däne, wie etwas später beinahe ein Franzose geworden! Aber der Kränkliche scheute nicht nur „die Beschwerden einer Reise, den Wechsel der Lebensart und des Klimas“, er wußte wohl auch, daß ihm im günstigsten Falle doch nur eine neue Professur in Aussicht stehe, eine Vorstellung, die ihn mehr mit Abscheu, als mit Befriedigung erfüllte. Ein Jahr später schrieb er den ersten jener (1876 zuerst von Michelsen herausgegebenen) Briefe über Ästhetik, die später in stark beschnittener und zugestutzter, aber auch erweiterter Form in die „Horen“ und dann in die Werke übergegangen sind. In den Briefen ist kaum ein Schimmer mehr von den Hoffnungen vorhanden, die Schiller anfangs an die Gunst der beiden Dänen geknüpft haben dürfte. Und doch 7 18 19 24

Baggesen: D. i. der dän. Dichter Jens Immanuel Baggesen, der sich zunächst an Klopstock, Wieland und Voß, später an Kant und Schiller orientierte. an Baggesen: Vgl. Jonas 1892–96: 3 Bd. 177–182, hier 180 f. sieht der Prinz: Vgl. den Brief von Friedrich Christian von Augustenburg in: Urlichs 1876: 387; die Briefpassage in der Fußnote ebd.: 389. „ die Beschwerden einer Reise ... und des Klimas“: Vgl. Schillers Brief an von Augustenburg und von Schimmelmann vom 19. 12. 1791 in: Jonas 1892–96: 3. Bd., 182–185, hier 184 f.; ebd. die folgende Briefpassage.

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glaube ich, daß er nicht ohne Absicht diese Briefe an den Prinzen gerichtet hat. Wenngleich sein eigener Trieb, sein lebhaftestes Interesse zusammen mit dem Eindruck, den das Studium der Kantischen Hauptschriften in ihm hinterlassen hatte, Schiller bestimmten, sich an die Regeneration der Ästhetik zu wagen, oder, wie er sich auch ausdrückt, die Seelen bildende Kunst zum Range einer Wissenschaft zu erheben, so glaube ich doch, daß zu dem Gedanken, seine Lehre gerade an diese Adresse zu richten und sie in den Rahmen einer pädagogischen Idee hineinzuführen, ein Überrest von „Wünschen und Träumen“ mitgewirkt hat; mit diesen dem Zeitpunkte voranzueilen, an dem ihn der lebendige Anblick und Umgang mit tausend unzerreißbaren Banden an zwei Herzen fesseln werde, die ihn noch wie die Gottheit aus unsichtbarer Ferne beglückten – das, hatte er gelobt, werde seine „liebste Beschäftigung“ sein (an den Prinzen 19. Dezember 1791) – eine etwas überschwängliche Schmeichelei; aber warum sollte er nicht Hoffnungen hegen, und warum sollte er sie so bald aufgeben? Daß das Hauptinteresse des Prinzen auf Reform des Erziehungswesens gerichtet war, dürfte ihm nicht unbekannt geblieben sein. – Sehr bedeutsam ist nun der umfangreiche 2. Brief über Ästhetik, den er am 13. Juli 1793 abschloß. Der Prinz hatte auf den ersten verbindlich, aber mit unverholener Ablehnung der Kantischen Philosophie geantwortet, die er freilich nur aus den Erzählungen seiner Freunde und aus den Zänkereien kenne, zu denen sie so oft in geselligen Unterhaltungen Gelegenheit gebe. Mit Beziehung auf den „Alleszermalmer“ erklärt er, er habe überhaupt kein sonderliches Zutrauen zu großen, alles erschütternden Revolutionen – hörte Schiller aus dieser Äußerung die Frage heraus, wie er, der Freund der philosophischen Revolution zur politischen, die fortwährend alle Augen gespannt auf die „Hauptstadt der Welt“ an der Seine blicken ließ, sich stelle? Er, von dem man wußte, daß die Republik ihn zu ihrem Citoyen ernannt hatte? Oder war ihm bewußt geworden, daß der Natur der Sache nach den geistreichen Prinzen eine politische Abhandlung viel mehr interessieren würde als eine ästhetische? Freilich hatte dieser Schillern gebeten, sich durch sein „Geständnis“ „nicht abhalten zu lassen, den Gegenstand in Angriff zu nehmen“, er verspricht, ein aufmerksamer und dankbarer „Schüler“ zu sein. Aber ermutigend war die kühle Annahme des „angebotenen Briefwechsels“ eben nicht. Schiller ließ sich freilich in seinem Vorhaben nicht irren. Er wendet sich (im zweiten Briefe) die Worte des Prinzen so gut zu seinem Vorteil, als es geht. Aber er wirft doch sogleich die 19

der Prinz hatte auf den ersten verbindlich: Vgl. die folgenden Zitate im Brief Friedrich Christians in: Urlichs 1876: 388.

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Frage auf: „Ist es nicht außer der Zeit, sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel höheres Interesse darbieten?“ Und er hält diese Frage einer langen Auseinandersetzung wert. „Der Lauf der Begebenheiten im Politischen und der Hang des menschlichen Geistes im Literarischen hat dem Genius der Zeit eine solche Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der idealisierenden Kunst entfernt.“ Es folgen dann die Auslassungen über die französische Revolution, bei weitem die ausführlichsten, die wir von Schiller kennen, und, soviel ich sehe, in ihrer Bedeutung für des Dichters geistige Entwicklung noch lange nicht gewürdigt. Das Gerippe davon ist auch in den Briefen über ästhetische Erziehung wiedergegeben, aber das Leben ist daraus entwichen. Die Vergleichung ist durchaus belehrend. Der Original-Brief spricht noch mit unverkennbarer Sympathie, oder wenigstens mit Achtung, von den vorwiegend politischen und wissenschaftlichen Bestrebungen des Zeitalters, der Horenbrief (um ihn so zu unterscheiden) mit unverkennbarer Abneigung, ja mit Widerwillen und Haß. „Jetzt aber herrscht das Bedürfnis,“ sagt jener, „und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch,“ setzt dieser hinzu, während dort folgt: „und der Drang der physischen Lage, die Abhängigkeit des Menschen von tausend Verhältnissen, die ihm Fesseln anlegen und ihn so mehr und mehr mit der unidealischen Wirklichkeit verstricken, hemmt seinen Aufflug in die Regionen des Idealischen.“ Dieser Satz ist getilgt, und dafür sind folgende Sätze nach dem tyrannischen Joch eingeschoben: „Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Wage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.“ Man sieht, das Urteil hat sich völlig zuungunsten des Zeitalters der Aufklärung und der Humanität gewandt. Romantikern wie Sozialisten, die den Stab darüber brachen, ist Schiller vorangegangen. Wie aber diese sowohl als jene zumeist in unklaren historischen Urteilen stecken geblieben sind, so auch Schiller, der die Wurzeln seines Denkens ihrem Boden nicht entreißen konnte. Dies 7 17 18 24

„Der Lauf der Begebenheiten ... von der idealisierenden Kunst entfernt.“: Vgl. den zweiten Brief in: Michelsen 1876: 277 f.. sagt jener: Vgl. ebd: 278. „und beugt ... unter sein tyrannisches Joch“: Vgl. Schiller 1871c: 277; vgl. das folgende Zitat in: Michelsen 1876: 278. Nutzen: Von Tönnies durch Sperrung und Fettdruck hervorgehoben; vgl. das Zitat in: Schiller 1871c: 277.

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zeigt sich besonders in den Urteilen über die Revolution. Der Originalbrief zeigt noch eine entschiedene Sympathie wenigstens mit den Fundamenten der Ereignisse. 8 „Besonders ist es jetzt das politische Schöpfungswerk, was beinahe alle Geister beschäftigt. Die Ereignisse in diesem letzten Dezennium des achtzehnten Jahrhunderts sind für den Philosophen nicht weniger auffordernd und wichtig, als sie es sonst nur für den mithandelnden Weltmann sind, und Ew. Durchlaucht könnten also mit doppeltem Rechte erwarten, daß ich diese merkwürdigen Stoffe zum Gegenstand der schriftlichen Unterhaltung machte, die Sie mir mit so viel Großmut und Güte zugestanden haben.“ „Ein Gesetz des weisen Solon verdammt den Bürger, der bei einem Aufstande keine Partei nimmt. Wenn es je einen Fall gegeben hat, auf den dieses Gesetz könnte angewandt werden, so scheint es der gegenwärtige zu sein, wo das große Schicksal der Menschheit zur Frage gebracht ist, und wo man also, wie es scheint, nicht neutral bleiben kann, ohne sich der strafbarsten Gleichgültigkeit gegen das, was dem Menschen das Heiligste sein muß, schuldig zu machen. Eine geistreiche, mutvolle, lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat angefangen, ihren positiven Gesellschaftszustand gewaltsam zu verlassen und sich in den Naturstand zurückzuversetzen, für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetzgeberin ist.“ Dieser ganze Passus ist im Horenbriefe gestrichen. Nachdem er mit dem Satze: „Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmannes auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird“ und mit der Frage: „Verriete es nicht eine tadelnswerte Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu teilen?“ dem Thema, anstatt der warmen Huldigung von damals, eine kühle Reverenz gemacht hat, beeilt er sich, es wieder zu verlassen, während der Originalbrief noch eingehend dabei verweilt, wie folgende Vergleichung lehrt. Im Originalbrief folgen die Sätze: „So sehr dieser große Rechtshandel, seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden der sich Mensch nennt, interessieren muß, so sehr muß er, seiner Behandlungsart wegen, jeden Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Ange 8 In den folgenden kurzen Zitaten habe ich die für meine Betrachtung merkwürdigsten Worte und Wendungen durch den Druck hervorgehoben. Ebenso nachher in den Parallelstellen des Horenbriefes.

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der Originalbrief: Vgl. die beiden folgenden Zitate daraus in: Michelsen 1876: 278. mit dem Satze: Vgl. Schiller 1871c: 277.

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legenheit, über welche sonst nur das Recht des Stärkeren *und die Konvenienz* zu entscheiden hätten, ist vor dem Richterstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht, *und maßt sich wenigstens an, als ob sie nach Prinzipien abgeurteilt sein wollte.* Jeder selbstdenkende Mensch aber darf sich (soweit er fähig ist, seine eigentümliche Vorstellungsart zu generalisieren, sein Individuum zur Gattung zu erweitern) als ein Beisitzer jenes Vernunftgerichts ansehen, so wie er, als Mensch und Weltbürger zugleich Partei ist und in den Erfolg sich verflochten sieht. Es ist nicht nur seine eigne Sache, welche bei diesem großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt, sondern es wird auch nach Gesetzen gesprochen, die er als mitbestellter Repräsentant der Vernunft zu diktieren berechtigt *und aufrechtzuerhalten verpflichtet ist*“. Dieser bemerkenswerte Passus kehrt im Horenbriefe wieder, nur daß die hier durch Sternchen umschlossenen Worte fehlen; dafür ist ein zweifelndes „wie es scheint“ schon vor den Satz vom Richterstuhl der Vernunft eingeschoben worden; die übrigen Änderungen sind unerheblich und mehr stilistischer Natur; Erwähnung verdient nur, daß aus dem mitbestellten Repräsentanten der Vernunft einfach ein „vernünftiger Geist“ geworden, und daß dieser statt bloß ,berechtigt‘ ,fähig und berechtigt‘ ist. In beiden Ausgaben folgt nun ein Erguß darüber, wie erwünscht dem Schreiber die Unterhaltung über dies politische Thema mit seinem Adressaten sein würde; hier sind später nur die speziellen Beziehungen auf die Durchlaucht ausgemerzt worden. Dann aber schieben die Horen (und folglich unsere Ausgaben) in zwei besonderen „Briefen“ eine rein theoretische Erörterung ein über den ,Notstaat‘, in den der Mensch sich hineingeboren finde, über das Heraustreten daraus und die Idee eines Naturstandes und den darauf beruhenden „Versuch eines mündig gewordenen Volkes, seinen Naturstaat in einen sittlichen umzuformen“ (der Name Naturstaat verdrängt hier den früheren ,Notstaat‘). Ein solcher Versuch sei ein großes Wagnis; denn an die physische Gesellschaft (ein dritter Terminus für denselben Begriff) sei der Mensch gebunden als eine Bedingung seines Daseins, man setze diese Bedingung aufs Spiel, wenn man die moralische Gesellschaft vorzeitig an die Stelle setzen wolle. „Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad 1 12 18

und die Konvenienz: [lat.- frz.]: svw. das in der Gesellschaft Erlaubte. Die Asterisken hier und im Folgenden dienen Tönnies jeweils zur Hervorhebung. dieser bemerkenswerte Passus: Vgl. Michelsen 1876: 278; das Zitatende wurde durch den Hg. markiert. ‚fähig und berechtigt‘ ist.: Vgl. Schiller 1871c: 277 f.

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während seines Umschwunges auszutauschen.“ Dort, in der physischen Gesellschaft (dem Natur- oder Notstaat) herrschen bloße Kräfte, die den natürlichen Menschen bestimmen; hier – in der moralischen – sollen Gesetze herrschen, die aber einen sittlichen Menschen voraussetzen, auf dessen Wirklichkeit man niemals rechnen kann. Es gilt, einen Übergang zu finden, einen Charakter zu bilden, der zwischen dem natürlichen Charakter der Erfahrung und dem moralischen des Ideals in der Mitte stehe, nur das Übergewicht eines solchen könne „eine Staatsverwandlung nach moralischen Prinzipien“ unschädlich machen und ihre Dauer verbürgen. Hieran schließt sich noch eine etwas schwierige Erörterung in Fichteschem Sinne über das Verhältnis des Staates zu den Individuen, und mündet in der Aufstellung, es müsse Totalität des Charakters bei dem Volke gefunden werden, das fähig und würdig sein solle, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen. Nun scheine zwar jetzt eine physische Möglichkeit gegeben, wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen; aber die moralische fehle: Verwilderung in den niederen und zahlreicheren Klassen, der „noch widrigere Anblick“ der Schlaffheit und Degeneration des Charakters bei den zivilisierten, das sei die Gestalt, die sich im Drama der jetzigen Zeit abbilde. Die Ausführung dieser Ansicht begegnet nun auch im Originalbriefe (und zwar immer noch im zweiten), wo sie aber im Wortlaut erheblich abweicht und in bestimmter Weise auf die Erfahrungen der Revolution bezogen wird. Vorausgeht aber hier eine Erörterung, worin Schiller, unter ausdrücklicher Berufung auf die unerfreulichen Erlebnisse, bekennt, er sei so weit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß ihm die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu „auf Jahrhunderte“ benommen hätten. „Ehe diese Ereignisse eintraten, gnädigster Prinz, konnte man sich allenfalls mit dem lieblichen Wahne schmeicheln, daß der unmerkliche aber ununterbrochene Einfluß denkender Köpfe, die seit Jahrhunderten ausgestreuten Keime der Wahrheit, der aufgehäufte Schatz von Erfahrung, die Gemüter allmählich zum Empfang des Besseren gestimmt und so eine Epoche vorbereitet haben müßten, wo die Philosophie den moralischen Weltbau übernehmen und das Licht über die Finsternis siegen könnte. So weit war man in theoretischer Kultur vorgedrungen, daß auch die ehrwürdigsten Säulen des Aberglaubens zu wanken anfingen, und der Thron tausendjähriger Vorurteile schon 1 9

„... das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen.“: Vgl. ebd.: (3. Brief) 280; das folgende Zitat ebd.: 281 im 4. Brief. Hieran schließt sich: Vgl. ebd.: 285 f. (5. Brief).

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erschüttert ward. Nichts schien mehr zu fehlen, als das Signal zur großen Veränderung, und eine Vereinigung der Gemüter. Beides ist nun gegeben – aber wie ist es ausgeschlagen?“ – Die Beziehung auf die unmittelbaren Eindrücke der Revolution, die Schiller 2 Jahre später nur durch das Gerücht zu kennen vorgibt – was freilich scherzhaft gemeint, aber ernsthaft bezeichnend ist –, ist hier vollkommen deutlich. Vollends in dem, was folgt: „Der Versuch des französischen Volkes, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens und ein ganzes Jahrhundert in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht wert war und weder zu würdigen noch zu benutzen verstand.9 Den Gebrauch, den sie von diesem großen Geschenk des Zufalls macht und gemacht hat, beweist unwidersprechlich, daß das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, und daß das liberale Regiment der Vernunft da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der Tierheit zu erwehren, und daß derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt.“ Der Passus über die Extreme der Verwilderung und Erschlaffung gewinnt, indem er hier angeschlossen wird, seinen rechten Sinn, da er offenbar aus der Betrachtung allerneuester Zeitereignisse abgezogen ist – die Verwilderung soll das Schreckensregiment, die Erschlaffung, Geistesschwäche und Versunkenheit des Charakters, soll das Wesen 9 Dieser Gedanke kehrt in den Horenbriefen als die kurze Sentenz „und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht“ wieder. Berühmt ist er ge­worden durch das in den ersten Xenien (1797) enthaltene Distichon: „Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren, Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.“ Ebenso erinnert obige Stelle von der Erwartung, daß die Philosophie den moralischen Weltbau übernehme, deutlich an die Verse „Einstweilen bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält Erhält sie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe“ aus dem Jahre 1795. 3 2 5 29

„Ehe diese Ereignisse ... aber wie ist es ausgeschlagen?“: Vgl. Michelsen 1876: 279 f.; dort auch die folgenden Briefpassagen. Dieser Gedanke kehrt: Vgl. Schiller 1871c: 284–287, hier 285 (5. Brief). „Eine große Epoche ... findet ein kleines Geschlecht.“: Vgl. Schillers „Der Zeitpunkt“ (1871i: 101). Die folgende Strophe ist aus Schiller 1871g: 67 (Die Thaten der Philosophen. Die Weltweisen).

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und Treiben der Emigranten bezeichnen. Hierauf beruht nun auch das persönliche Bekenntnis, wodurch Schiller gleichsam Abschied nimmt von dem Glauben an jede unmittelbare Verwirklichung seiner politischen Ideale und von der Hoffnung auf eigne Mitwirkung daran. „Wäre das Faktum wahr (heißt es im Originalbrief) – wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage.“ Zugleich ein neues Zeugnis dafür, wie tief bei ihm der Gedanke, sich der politischen Tätigkeit hinzugeben, gesessen hat. Ein durchgehende Vergleichung der Originalbriefe mit der Abhandlung, die in den Horenbriefen auseinandergezogen vorliegt, wäre auch sonst in mancher Hinsicht lohnend. Der Gedankengang, der in dieser ziemlich verwickelt und mühsam geworden ist, liegt dort schlicht und bündig gefaßt vor. Er sei hier in Kürze wiedergegeben: Nur der Charakter der Bürger erschafft und erhält den Staat und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich. Jeder Versuch einer Staatsverfassung aus Prinzipien (jede andere ist bloßes Not- und Flickwerk) ist so lange für unzeitig, darauf gegründete Hoffnung so lange für schwärmerisch zu halten, bis der Charakter der Menschheit von seinem tiefen Verfall wieder emporgehoben ist – eine Arbeit für mehr als ein Jahrhundert. „So lange aber der oberste Grundsatz der Staaten von einem empörenden Egoismus zeugt [ein ganz neuer Gesichtspunkt] und so lange die Tendenz der Staatsbürger nur auf das physische Wohlsein beschränkt ist, so lange, fürchte ich, wird die politische Regeneration, die man so nahe glaubte, nichts als ein schöner philosophischer Traum bleiben.“ Man soll deshalb aber nicht aufhören, danach zu streben. „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“ Hier macht Schiller sich selbst den Einwand, 14

Ein durchgehende Vergleichung: Sic! ein schöner philosophischer Traum bleiben.“: Vgl. Michelsen 1876: 281; der Klammerausdruck ist von Tönnies; das folgende Zitat ebd.

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daß der Charakter des Bürgers ebensogut von der Verfassung abhänge, als diese auf dem Charakter des Bürgers ruhe. Es folge daraus, daß man entweder auf Mittel denken muß, dem Staat aufzuhelfen, ohne den Charakter dabei zu Hilfe zu nehmen – das aber enthalte einen Widerspruch – oder dem Charakter beizukommen, ohne den Staat dabei nötig zu haben – dies lasse sich wenigstens denken; denn auf den Charakter werde durch Berichtigung der Begriffe und durch Reinigung der Gefühle gewirkt; beide Quellen erhalten sich rein und lauter bei allen Mängeln des Staats. „Das dringende Bedürfnis unseres Zeitalters scheint mir die Wandlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu sein, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel getan worden. Es fehlt uns ... nicht sowohl an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer, als an“ – man würde nun erwarten, ethischer, Schiller setzt aber dafür ein: ästhetischer Kultur. Und er fügt sogleich hinzu: „Diese letztere halte ich für das wirksamste Instrument der Charakterbildung.“ – „Die Künste des Schönen beleben, üben und erfreuen das Empfindungsvermögen, sie erheben den Geist von den groben Vergnügungen des Stoffes zum reinen Wohlgefallen an bloßen Formen und gewöhnen ihn, auch in seine Genüsse Selbsttätigkeit zu mischen.“ Freilich – fährt dann der dritte Brief fort – finden wir in der Geschichte, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen, daß die Kunst nur auf dem Grunde des Heroismus sich ihren Thron aufrichtet, daß gewöhnlich mit der Energie des Charakters, der wirksamsten Feder alles Großen und Trefflichen im Menschen, die ästhetische Verfeinerung erkauft wird. Darf man also die ästhetische Kultur als das Werkzeug betrachten, wodurch die sittliche befördert wird? Allerdings, denn es ist nur die eine Seite der ästhetischen, das Schöne, was durch seine „schmelzenden“ Wirkungen solche erschlaffenden Wirkungen hat; in entgegengesetzter Richtung arbeitet das Erhabene; dies und die Anspannung des Gemütes, die es hervorruft, hat wiederum die Gefahr, eine gewisse Härte, ja oft sogar Roheit zu begüns­ tigen; dieser Gefahr wirkt eben das Schöne entgegen. Durch ihre Ergänzung und gegenseitige Neutralisierung haben also das Schöne und das Erhabene zusammen die erwünschtesten sittlichen Wirkungen: der erschlaffende Einfluß des Schönen ist eine Wohltat, solange er sich nur an der Sinnlichkeit äußert; umgekehrt wirkt das Erhabene günstig, solange es nur die geistige, aber nicht die sinnliche Natur an Schnellkraft gewinnen läßt. Die Sensualität ist ein Zustand der Abhängigkeit, die Rationalität ein Zustand der 12 14

als an“: Zitatende durch Hg. markiert. fügt sogleich hinzu: Vgl. ebd.: 282; dort auch das folgende Zitat.

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Freiheit; wie läßt sich von der einen zur anderen ein Übergang denken? Antwort: der Geist muß zur Materie hinuntersteigen, muß schon im Gebiet der Empfindungen seine Wirksamkeit eröffnen. Über der ersten Stufe oder Epoche, in der der Mensch nichts ist als wirkende Kraft, steht die zweite, wo er durch das Wohlgefallen der Betrachtung das erste liberale Verhältnis gegen die Natur gewinnt; so steht das Vergnügen am Schönen (und Erhabenen) über dem Vergnügen am Angenehmen. Auf der höchsten Stufe, der sittlichen, „lasse ich die Sinnlichkeit ganz hinter mir zurück und habe mich zu der Freiheit reiner Geister erhoben“. – Zwischen dem dritten und vierten der Originalbriefe hatte Schiller eine Antwort des Prinzen erhalten, auf die sich der vierte bezieht. „Willig,“ schreibt Friedrich Christian (den 2. September 1793) „trete ich Ihrer Meinung bei, daß das Reich der politischen Freiheit noch zu frühzeitig ist. Es fehlt an Priestern, dieser Gottheit würdig. Nur Freigeborene können ihren Dienst versehen, und die Menschen unseres Zeitalters sind nicht einmal Freigelassene. Ich bin völlig überzeugt, daß jeder Versuch, ohne politische Ketten einherzuwandeln, uns mißlingen wird. Die edlen Menschen, die besseren Köpfe müssen daher nach wie vor mit großmütiger Entsagung des eignen Genusses sich begnügen, Samen auszustreuen, vorzubereiten, einzelne in das lichtvolle Reich der Vernunft und Freiheit einzuführen, dessen Bürger sie sind, und dem keine Verfolgung, kein Despotismus sie entreißen kann. Es wird noch lange dauern, bis Staaten und Völker in dieses Himmelreich eingehen werden.“ Zwei Jahre früher hegte er noch den Glauben an die Revolution, als sie ihre „schönen Tage“ gefeiert hatte und König und Volk in der neuen Verfassung einträchtig zu vereinigen schien. „Aus jenen politischen Trümmern erhebt sich jetzt ein stattliches, schön anzusehendes Gebäude, dessen Bequemlichkeit erst die Erfahrung bewähren muß“,10 schrieb er an seine Schwester, und hofft ähnlichen Erfolg von der Kantischen Philosophie, die ja auch ein Trümmerfeld zurücklasse. In Schiller trat ihm der Kantianer entgegen. Nun erklärt sich aber (in dem erwähnten Schreiben vom 2. September 1793) der Prinz dissentierend von dem Dichter dahin, daß er auch von besserer theoretischer Einsicht die günstigsten Folgen erwartet; es fehle dem Verstande der Zeit 10 Deutsche Rundschau, März 1905, S. 343. 9 11 27

„... und habe mich zur Freiheit reiner Geister erhoben“: Vgl. Michelsen 1876: 408. schreibt Friedrich Christian: Vgl. Urlichs 1876: 389. schrieb er an seine Schwester: Vgl. Friedrich Christians Brief an seine Schwester Luise, undatiert, etwa eine Woche nach dem 14. 2. 1791 in: Schulz 1905: 342–364, hier 343. Vgl. die folgende Briefpassage an Schiller vom 2. 9. 1793 in: Urlichs 1876: 389.

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genossen ebensowohl an Licht, wie ihren Herzen an Wärme. Man lasse sich nicht die Zeit, gehörig zu lernen; auch die Anordnung unserer Studien sei schuld, die entweder das Gepräge unwissender Willkür oder des barbarischen Zeitalters trage. „Hier muß vor allen Dingen reformiert werden, und ich für meinen Teil arbeite dazu aus allen Kräften.“ (Er ist später als dänischer Unterrichtsminister tätig gewesen.) In einem gleichzeitigen Briefe an die Schwester meinte Friedrich Christian, Schiller sei auch einer von denen geworden, die es zu vergessen scheinen, daß Geist und Sinnlichkeit im Menschen in der Theorie wohl abgesondert werden können, allein in der Wirklichkeit sich immer gemeinschaftlich äußern. – In seiner Antwort entgegnet Schiller, Mangel an theoretischer Kultur sei allerdings eine der nächsten Ursachen der „Verwilderung, an der unsere Zeitgenossen krank liegen“, aber nicht die letzte. „Eine gesündere Philosophie hat die Wahnbegriffe unterwühlt, worauf der Aberglaube seinen Schattenthron erbaute – warum steht dieser Thron noch jetzt? Eine bessere Moral hat unsere Politik, unsere Legislation, unser Staatsrecht gemustert, und das Barbarische in unseren Gewohnheiten, das Mangelhafte in unseren Gesetzen, das Ungereimte in unseren Konvenienzen und Sitten aufgedeckt – woran liegt es, daß wir nichtsdestoweniger noch Barbaren sind?“ An Kraft und Energie des Entschlusses fehle es. Und nun folgt eine interessante Stelle, die uns zeigt, wie Schiller von seinen medizinisch-anthropologischen Studien her, die ihn auch bei den historischen leiteten, in das soziale Leben und dessen Wirkungen auf die Menschen hineingeschaut hat. „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den harten Kampf mit dem physischen Bedürfnis viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und inneren Kampf mit Wahnbegriffen und Vorurteilen aufraffen sollte.“ Und sein alter Radikalismus kommt noch einmal zu Worte in dem Satze: „Geschieht es, daß in seinem Kopfe und Herzen sich höhere Bedürfnisse regen, so ergreift er mit hungrigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten, *und womit es ihnen von jeher gelungen ist, das erwachte Freiheitsgefühl ihrer Mündel abzufinden*. *Man wird daher immer finden, daß die gedrücktesten Völker auch die borniertesten sind; daher muß man das Aufklärungswerk bei einer Nation 13 26

„Verwilderung, an der unsere Zeitgenossen krank liegen“: Vgl. Michelsen 1876: 410 (4. Brief); das folgende Zitat ebd.: 410 f. „Der zahlreichere Teil der Menschen ... aufraffen sollte.“: Vgl. ebd.: 411; das folgende Zitat ebd.

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mit Verbesserung ihres physischen Zustandes beginnen. Erst muß der Geist vom Joch der Notwendigkeit losgespannt werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen kann. Und auch nur in diesem Sinn hat man recht, die Sorge für das physische Wohl der Bürger als die erste Pflicht des Staates zu betrachten*. *Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben11 , wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll.* “ Anders verhalte es sich mit der oberen Gesellschaftsklasse. „Was jenen der Zwang ihrer Lage verbietet, davon schreckt diese eine strafbare Weichlichkeit ab.“ *„Sie fliehen die Aufklärung nicht bloß um der Mühe willen, womit sie erworben werden muß; sie fürchten sie ebensosehr um der Resultate willen, zu denen sie führt. Sie sind bange, die Lieblingsideen aufgeben zu müssen, denen nur die Dunkelheit günstig ist, und mit ihren Wahnbegriffen zugleich die Grundsäulen einstürzen zu sehen, die das morsche Gebäude ihrer Glückseligkeit tragen.“* Usw.12 Die fernere Betrachtung der Originalbriefe ist von geringerem Interesse. Im fünften will Schiller das bisher theoretisch ausgeführte auch historisch erweisen; der Grundgedanke, daß die Liebe zum Putz immer die anfangende Humanisierung bei wilden Stämmen verkündigt, ist in den Horenbriefen ausführlicher entwickelt; der Inhalt des sechsten ist zum größten Teile in eine besondere Abhandlung „Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten“ übergegangen. Dieser ist der letzte, der vollständig erhalten ist. Das 11 Vergl. Das Epigramm 4: „Würde des Menschen“ im Musenalmanach 1797: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“ Deutlich kündigt der sozialistische Gedanke gegen den liberalen sich an. 12 In der entsprechenden Stelle gegen Ende des achten der Horenbriefe fehlen die schneidenden Sätze, die hier zwischen Sternchen gesetzt sind, ganz; auch anschließende, die den letzten Gedanken ausführen. Der ganze Gedanke ist dort auf einige minder starke Sätze reduziert. Schiller schrieb den Originalbrief in Ludwigsburg, vom Hause des Doktor Hoven aus, und es ist mir nicht zweifelhaft, daß dieser die Jugendideen des Freundes neu angeregt und befruchtet hat. Vergl. Hovens Selbstbiographie, Nürnberg 1840. S. 124 ff., 326 ff. 7

soll.*“: Zitatende durch Hg. markiert. jenen der Zwang ... Glückseligkeit tragen.“: Vgl. ebd.: 412. Beachte das Epigramm 4 („Würde des Menschen“) in: Schiller 1871k. das bisher theoretisch ausgeführte: sic! „Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten“: Vgl. Schiller 1871d. Doktor Hoven: Der Mediziner und Schriftsteller, ein Jugendfreund, besuchte mit Schiller die Karlsschule.

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Fragment des siebenten fährt in der geschichtsphilosophischen Betrachtung fort, indem der Satz aufgestellt wird, daß der Geschmack allein eine harmonische Einheit in die Gesellschaft bringe, weil er eine harmonische Einheit im Individuum stifte. Aus dem gesamten Zusammenhange erkennen wir klar, wie nahe im Bewußtsein des Dichters die Gestaltung seines ästhetischen Programms und seine fernere künstlerische Betätigung mit den Erlebnissen standen, in denen das Reich der Vernunft, wie ihm mit so vielen Zeitgenossen schien, Schiffbruch litt. Aber wir bemerken die Stufen des Überganges. In den Originalbriefen, an einen edlen Fürsten gerichtet, ist die politische Tendenz und Hoffnung noch nicht erloschen; ein bis zwei Jahre später, in den Horen, glimmt sie nur noch unter der Asche. Die Einleitung zu den „Horen“ will unbedingt für die neue Zeitschrift alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht. Cotta freilich wollte zu gleicher Zeit eine große politische Zeitung begründen und auch diese Schillers Leitung übertragen. Zunächst haben nur Gesundheitsrücksichten Schillers Ablehnung bestimmt; aber sie trifft mit seinem definitiven Abschied von der Politik zusammen. In den Xenien zeigt er sich nur noch als „Zeitbürger“, indem er die Aufklärung, die Revolution und ihre Anhänger verspottet. Verachtung seiner Zeitgenossen, des ,Publikums‘, schreibt er auf seine Fahne. Er lebt fortan mehr im klassischen Altertum, als in der neuesten Zeit, er flieht aus der drückenden Atmosphäre der Wirklichkeit in das Reich der Ideen.

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Schillers Ehrgeiz ging dahin, mit der ,sentimentalischen‘ Poesie über die naive zu triumphieren. Die Abhandlung über diese beiden Gattungen der Dichtung bedeutete seine Auseinandersetzung mit der zweiten Art (der naiven), als deren Vertreter ihm Homer und die antiken Dichter generell, unter den neueren Shakespeare und Goethe galten. Sie waren für ihn Muster; aber er glaubte, daß seine spezifisch moderne Art, die sich befleißige, Natur zu suchen, weil sie nicht Natur zu sein vermöge, die durch Ideen zu rühren suche, weil sie durch lebendige Gegenwart es nicht wolle noch könne, die sich anheischig mache, das Ideal darzustellen, ... daß diese wert sei, neben Goethe – denn darauf kommt es ihm zuletzt am meisten an – gestellt zu werden, daß sie ihre eigentümlichen Vorzüge habe. Ungeachtet dieses Anspruches hat aber Schiller in der wirklichen Kunstübung seiner letzten Epoche sich Goethen in nicht geringem Maße untergeordnet; er richtete sich nach ihm, er strebte danach, die klassische Ruhe zu gewinnen, die er an Goethe so sehr bewunderte, daß er noch im Jahre 1796 verzweifelnd meint, er bleibe doch, gegen jenen gehalten, „ein poetischer Lump“. Aus diesem Streben geht die vollkommene Metamorphose seines dramatischen Schaffens hervor, die eine so tiefe Kluft zwischen Wallenstein einerseits, Carlos und vollends den 3 früheren Schauspielen andererseits auftut. Ihm selber war zuerst wunderlich dabei zu Mute. „Vor dieser Arbeit ist mir ordentlich angst und bange, denn ich glaube, mit jedem Tag mehr zu finden, daß ich eigentlich nichts weniger vorstellen kann als einen Dichter, und daß höchstens da, wo ich philosophieren will, der poetische Geist mich überrascht ... Was ich je im Dramatischen zur Welt gebracht, ist nicht sehr geschickt, mir Mut zu machen, und ein Machwerk wie der Carlos ekelte mich nunmehr an ... Im eigentlichen Sinne des Wortes betrete ich eine mir ganz unbekannte, wenigstens unversuchte Bahn, denn im Poetischen habe ich seit 3, 4 Jahren einen völlig neuen Menschen angezogen.“ Und Körner, an den er dies schrieb (4. September 1794), warnte ihn, daß er 3 6 30

Abhandlung über diese beiden Gattungen der Dichtung: Vgl. Schiller 1871e. Shakespeare: Neben Wieland, Schlegel und Voß gehörte auch Schiller zum Kreis der Shakespeare-Übersetzer. 4. September 1794: Vgl. Jonas 1892–96: 4. Bd., 6.

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nicht den Wallenstein zu sehr mit dem Verstand und zu wenig mit Begeisterung angreife. Körner sah scharf, und Schillers Theorie, auf die er so viel sich zugute tat, hat Verschiedenartiges durcheinander gebracht, zumal da er schließlich seinen Gegensatz von naiv und sentimentalisch mit dem von realistisch und idealistisch zusammenwarf. Was er zumeist im Auge hat, ist eine bewußtere Art des Produzierens, und in diesem Sinne war Schiller selber aus einem naiven ein sentimentalischer Dichter geworden, oder stand im Begriff es zu werden. Gerade sein Idealismus war naiv, und die bewußte, methodische Kunstübung hatte zugleich die Richtung auf realistische Objektivität, wie er selber über der Arbeit am Wallenstein bemerkte, wenn auch erst nach Abfassung jener theoretischen Schrift. „Vordem habe ich wie im Posa und Carlos die fehlende Wahrheit durch schöne Idealität zu ersetzen gesucht, hier im Wallenstein will ich es probieren, und durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealität (die sentimentalische nämlich) entschädigen.“ Er spricht dabei wieder von seinem neuen, ihm nach allen vorhergegangenen Erfahrungen fremden Wege und findet es erstaunlich, wieviel Realistisches schon die zunehmenden Jahre mit sich bringen, wieviel der anhaltende Umgang mit Goethen und das Studium der Alten, die er erst nach dem Carlos habe kennen lernen, bei ihm nach und nach entwickelt habe (an Humboldt 21. März 1796). „In Rücksicht auf den Geist, in welchem ich arbeite, werden Sie wahrscheinlich mit mir zufrieden sein. Es will mir ganz gut gelingen, meinen Stoff außer mir zu halten und nur den Gegenstand zu geben. Beinahe möchte ich sagen, das Sujet interessiert mich gar nicht, und ich habe nie eine solche Kälte für meinen Gegenstand mit einer solchen Wärme für die Arbeit in mir vereinigt. Den Hauptcharakter, sowie die meisten Nebencharaktere traktiere ich wirklich bis jetzt mit der reinen Liebe des Künstlers ..“ (an Goethe 28. November 1796). Zum Teil dieselben Worte schreibt er am selbigen Tage an Körner, wo er noch hervorhebt, daß hier die entscheidende Krise mit seinem poetischen Charakter erfolgen müsse. Und es sei wohl möglich, daß sein Wallenstein durch eine gewisse Trockenheit der Manier sich von seinen vorhergehenden Stücken gar seltsam unterscheiden werde; wenigstens habe er sich bloß

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jener theoretischen Schrift: Über naive und sentimentalische Dichtung (Schiller 1871e). Vgl. das folgende Zitat aus einem Brief Schillers an Humboldt vom 21. 3. 1796 in: Jonas 1892–96: 4. Bd., 436. an Goethe: Vgl. Jonas 1892–96: 5. Bd., 119; das Zitatende wurde vom Hg. markiert. an Körner: Vgl. ebd.: 121–124 (Brief vom 28. 11. 1796).

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vor dem Extrem der Nüchternheit, nicht wie ehemals vor dem der Trunkenheit zu fürchten.13 Trocken, kühl und nüchtern sind nun in der Tat alle diese späteren fünf Dramen im Vergleiche zu den früheren; aber auch nur im Vergleiche ... die Liebe des Künstlers ist doch in ihren Gestalten, und das Erhabene des großen gewaltigen Schicksals in den menschlichen Handlungen darzustellen, bleibt des Dichters (nie ganz erfülltes) Streben. Dazu aber tritt eine andere Absicht, worin er wieder seine eigene Weltanschauung stärker hervorhebt und betätigt, sich als modernen und sentimentalischen Dichter gleichsam zu retten sucht. Als er ganz von seiner Theorie erfüllt war, im Jahre 1795, da galt ihm die Tragödie keineswegs als höchste Gattung der Poesie. Er wollte ja das Ideal zum Stoffe machen, es individualisieren, „ohne alles Pathos“. Dafür, meint er damals (in einem Briefe an W. v. Humboldt, 29. November 1795) sei die Idylle, oder vielmehr eine besondere Art von Idylle, die er schaffen wollte, die geeignete Kunstform; die Vermählung des Herkules mit der Hebe im Olymp sollte der Inhalt sein – im Anschluß an das Ende des Gedichts „Das Ideal und das Leben“ (das damals noch „Reich der Schatten“ hieß). Diese Art würde in der Gattung der Idylle dasselbe bedeuten, 13 Auf diese Stelle habe ich jüngst auch in anderem Zusammenhange, wo ich über Schiller und das Verbrecherproblem handle, hingewiesen (Deutschland, Mai-Heft 1905). Schiller erinnerte sich nicht, daß seine „Realistik“ auch eine viel ältere und ursprünglichere Quelle hatte, und daß diese mit seinem alten sozialen und politischen Idealismus dicht zusammenlag, nämlich im anthropologischen Interesse für menschliche Handlungen und ihre Ursachen, für Verirrungen und Heldentaten, Kabalen und Staatsaktionen, gemeine und politische Verbrechen, einem Interesse, an dem auch sein medizinisches Studium starken Anteil hatte.

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29. November 1795: Vgl. Schillers Brief vom 29. (und 30.) 11. 1795 in: Jonas 1892–96: 4. Bd., 333–341, hier 337. „Reich der Schatten“: Vgl. ebd.: 337 f. Die letzte Strophe des Gedichtes lautet (Schiller 1871f): „Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, / Flammend sich vom Menschen scheidet / Und des Äthers leichte Lüfte trinkt. / Froh des neuen ungewohnten Schwebens, / Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens / Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. / Des Olympus Harmonien empfangen / Den Verklärten in Kronions Saal, / Und die Göttin mit den Rosenwangen / Reicht ihm lächelnd den Pokal.“ – Hebe, Tochter des Zeus, ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Jugend und Mundschenkin der Götter. Herkules (Herakles), ebenfalls ein Kind des Zeus, stellt das Ideal des Helden schlechthin dar (in der Philosophie das Ideal männlicher Tugend). Herakles, am Scheidewege den Göttinnen der Wollust und der Tugend begegnend, entscheidet sich für die Tugend als Gefährtin seines Lebens. Nach seiner Selbstverbrennung wird er durch Athene in den Kreis der Götter eingeführt und mit Hebe vermählt.

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was die hohe Komödie in der Gattung der Satire; jene, die Komödie, habe er immer für das höchste poetische Werk gehalten, bis er angefangen habe, an die Möglichkeit einer solchen Idylle zu glauben. Und er schwelgt in dem Gedanken, in einer poetischen Darstellung „alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen – keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen“. „Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse.“ – „Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart,“ heißt es in der Abhandlung, wo er Satire, Elegie und Idylle als die drei auf die möglichen Empfindungszustände gegenüber Ideal und Wirklichkeit gegründeten Dichtungsarten deduziert. Ein solcher Zustand der Harmonie und des Friedens (der Menschheit mit sich selbst und von außen) sei es aber auch, den die Kultur als ihr letztes Ziel beabsichtige. „Die Idee dieses Zustandes allein und der Glaube an die mögliche Realität derselben kann den Menschen mit allen den Übeln versöhnen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen ist, und wäre sie bloß Schimäre, so würden die Klagen derer, welche die größere Sozietät und die Anbauung des Verstandes bloß als ein Übel verschreien und jenen verlassenen Stand der Natur für den wahren Zweck des Menschen ausgeben, vollkommen gegründet sein. Dem Menschen, der in der Kultur begriffen ist, liegt also unendlich viel daran, von der Ausführbarkeit jener Idee in der Sinnenwelt, von der möglichen Realität jenes Zustandes eine sinnliche Bekräftigung zu erhalten, und da die wirkliche Erfahrung, weit entfernt, diesen Glauben zu nähren, ihn vielmehr beständig widerlegt, so kömmt auch hier, wie in vielen andern Fällen, das Dichtungsvermögen der Vernunft zu Hülfe, um jene Idee zur Anschauung zu bringen und in einem einzelnen Fall zu verwirklichen.“ Und somit wird dem sentimentalischen Dichter aufgegeben, eine Idylle zu schaffen, „welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung“ ausführe, „welche, mit einem Worte, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach 6 9 30 31

„alles Sterbliche ausgelöscht ... mehr zu sehen“: Vgl. dies und das folgende Zitat Jonas 1892–96: 4. Bd., 338. heißt es in der Abhandlung: D. i. „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (Schiller 1871e: 484); das folgende Zitat ebd: 485. Verfeinerung“: Zitatendezeichen von Hg. eingefügt. Arkadien: D. i. die gr. Landschaft auf der Peloponnes, die seit der hellenistischen und römischen Schäferpoesie als der ideale Schauplatz ländlich-sorgenfreien dichterischen Lebens gilt.

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Elysium führt“. „Der Begriff dieser Idylle ist ... kein anderer, als das Ideal der Schönheit auf das wirkliche Leben angewendet.“ Man kann mit Recht Schillers Vorstellungsweise auch in diesem Stücke unklar nennen. Es bleibt zweifelhaft, um an den dreifachen Sinn des Rousseauschen Denkens zu erinnern, ob er die Darstellung des Elysiums in einem „konservativen“ oder in einem „sozialistischen“ Sinne gemeint hat. Das Gedicht, von dem der Brief an Humboldt schwärmt, hat er nicht ausgeführt, auch sonst hat er sein Ideal in der eigentlichen Idylle zu verwirklichen nicht einmal versucht. Dennoch hat ihn der Gedanke daran nicht verlassen. In seine letzten Dramen hat er ihn hinübergetragen. Den Platz der Idylle nimmt das lyrische Element in diesen Dramen ein. Die Einführung des Chores in die Tragödie hängt damit nahe zusammen. Wie Ruhe der herrschende Eindruck der Idylle sein soll, Ruhe, die aus dem Gleichgewicht der Kräfte fließt, so soll der Chor „Ruhe in die Handlung“ bringen – die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edlen Kunstwerks sein muß. „Wohl dem! Selig muß ich ihn preisen, Der in der Stille der ländlichen Flur, Fern von des Lebens verworrenen Kreisen Kindlich liegt an der Brust der Natur. Und auch der hat sich wohl gebettet, Der aus der stürmischen Lebenswelle Zeitig gewarnt sich herausgerettet In des Klosters friedliche Zelle.

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Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte, Die Welt ist vollkommen überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.

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Elysium: Im gr. Mythos ein gesegnetes Gefilde am Westrand der Erde, nahe dem Okeanos, dem Weltstrom, wohin die Söhne der Götter, ohne den Tod zu erleiden, versetzt werden, um dort ein kummerfreies Leben zu führen. Dies und das folgende Zitat in: ebd.: 489 f. Wohl dem!: Aus „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“, Verse 2561–2564, 2569–2572, 2585–2589 (Schiller 1872c: 117).

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Dieselbe idyllische Stimmung, die der Chor in der „Braut von Messina“ verkündet, durchtönte auch die „Jungfrau von Orleans“. „Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften“ – „Kümmert mich das Los der Schlachten, Mich der Zwist der Könige? Schuldlos trieb ich meine Lämmer Auf des stillen Berges Höh’. Doch du rissest mich ins Leben, In den stolzen Fürstensaal, Mich der Schuld dahinzugeben, Ach, es war nicht meine Wahl.“ – Und vollends der „Tell“ – keine Tragödie, sondern ein frohes Schauspiel. „Wie die Freiheit der Berge sich gegen fremde Tyrannen behauptet“ ... „Johanna kommt aus der Idylle in die große politische Welt und führt ihr Vaterland zur Unabhängigkeit zurück. Das ganze Schweizervolk lebt in der Idylle; da bricht der Druck des Tyrannen über sie herein, und sie werfen ihn ab: die verletzte Natur stellt sich wieder her“ (Scherer, Geschichte der deutschen Literatur, S. 609). Schiller hat selber den Kommentar dazu geschrieben, der sein Werk von einer Verherrlichung der modernen Revolution, deren Gedächtnis in den Seelen lebendig war, abscheiden sollte.

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Wilhelm Tell Wenn rohe Kräfte feindlich sich entzweien, Und blinde Wut die Kriegesflamme schürt; Wenn sich im Kampfe tobender Parteien Die Stimme der Gerechtigkeit verliert; Wenn alle Laster schamlos sich befreien; Wenn freche Willkür an das Heil’ge rührt, Den Anker löst, an dem die Staaten hängen – Das ist kein Stoff zu freudigen Gesängen.

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„Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften“: Vgl. hier den Auftritt der Johanna in: Schiller 1870: 187; ebd.: 286 der folgende Vers (IV, 1). Seite 609: Vgl. Scherer 1883: 609. Wilhelm Tell: Vgl. Schiller 1871p: 401.

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Doch wenn ein Volk, das fromm die Herden weidet, Sich selbst genug, nicht fremden Guts begehrt, Den Zwang abwirft, den es unwürdig leidet, Doch selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt, Im Fluche selbst, im Siege sich bescheidet – Das ist unsterblich und des Liedes wert. Und solch ein Bild darf ich Dir freudig zeigen, Du kennst’s, denn alles Große ist Dein eigen.

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Einem Fürsten überreichte er das Buch mit diesen Versen. Auch das Lied von der Glocke ist seiner ganzen Absicht nach Idylle und enthält zugleich die leidenschaftliche Absage an alle Selbstbefreiung der Völker, an Eigenhilfe, Aufruhr, Freiheit und Gleichheit. Die Idylle, die das Landleben, Hirtenleben, die Poesie der Berge feiert, entspricht einer konservativen Denkungsart, wie weit auch deren Träger von der Einfalt und Unschuld selber entfernt zu sein pflegen, die darin gefunden oder hineingelegt wird. Wir sahen Schiller von der dritten auf die zweite Form Rousseauscher Gesinnung zurückgehen; wir sehen ihn hier in der ersten beharren. Sie ist zugleich die Gesinnung des politischen Indifferentismus, der völligen Abkehr von der Wirklichkeit, die Schiller schon 1795 schlechthin für die Aufgabe der Poesie erklärte. „Es läßt sich“, schrieb er an Herder (4. November 1795) „beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. Diese Übermacht der Prosa in dem Ganzen unseres Zustandes ist, meines Bedünkens, so groß und so entschieden, daß der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, notwendig davon angesteckt und also zugrunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Koalition, die ihm gefährlich sein würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, daß er sich seine eigne Welt formieret und durch die griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde.“ Schiller hat seine Lebensaufgabe in den letzten 10 Jahren seiner Laufbahn nach diesem Gedanken bestimmt. Er hat sich alles Politische so fern als möglich gehalten. Dennoch blieb er ein „Zeitbürger“. Für seine Person 20

an Herder: Vgl. Jonas 1892–96: 4. Bd., 313 f.

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blieb er ein Freidenkender. An der alleinigen Richtigkeit und dem hohen Werte einer nach der Vernunft eingerichteten Staatsverfassung hat er ohne Zweifel immer festgehalten. Er sah nur die Verwirklichung des Ideals „auf Jahrhunderte“ hinausgerückt. Das Verbot einer philosophischen Schrift hielt er auch 1799, selbst wenn sie wirklich atheistisch wäre, für unstatthaft; „denn eine aufgeklärte und gerechte Regierung kann keine theoretische Meinung, welche in einem gelehrten Werke für Gelehrte dargelegt wird, verbieten“ (an Fichte 26. Januar 1799). Die „Jungfrau“ und „Tell“ wirken heute durch die großen Klänge der Befreiung von Fremdherrschaft, der nationalen Ehre, der Begrenzung von Tyrannenmacht, in Deklamationen, von der Bühne und in Zitaten, auf das Volk und auf jugendliche Gemüter mit immer neuem Zauber. Daß Schiller mit diesen zündenden Worten an das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich gedacht habe, läßt sich nicht nachweisen und ist nicht einmal wahrscheinlich. Für die Wahl der Themata hat kein Gedanke daran mitgewirkt. Zu der Jungfrau zog ihn zuerst das Interesse des Hexenprozesses, sodann das „Romantische“ der Tragödie. Der „Tell“ war ihm bekanntlich von Goethe, der ein Epos daraus hatte machen wollen, „abgetreten“. Das „ganz grundlose Gerücht“ daß er ein solches Stück in Arbeit habe, machte ihn auf das „Sujet“ aufmerksam; von allen Erwartungen, die das Publikum und das Zeitalter gerade zu diesem Stoffe mitbringe, wollte er, „wie billig“, abstrahieren.14 Dennoch sind die Spuren nicht undeutlich, daß eine deutsche, nationale Gesinnung in Schiller während seiner letzten Lebensjahre lebendig geworden ist. Zwar, wenn er vom Vaterlande und dem Triebe zu ihm spricht, so muß man sich erinnern, daß ihm selber sein ,Vaterland‘ immer das liebe Schwabenland blieb. Zwar sang er noch beim Antritt des Jahrhunderts, bedeutend, daß das Band der Länder gehoben, daß die alten Formen einstürzen, daß zwei gewaltige Nationen (die französische und die britische) um der Welt alleinigen Besitz streiten ... 14 Daß, wie bei Bielschowsky, Goethe II, 111 zu lesen, Schiller nicht im Tell, sondern im Demetrius-Fragment seine „letzten“ politischen Ansichten ausgesprochen habe, ist, an der Zeit gemessen, einleuchtend richtig: die begrifflich letzten dürften weder in dem einen noch in dem anderen dieser Werke kundgetan sein. 8 27 31

an Fichte: Vgl. Jonas 1892–96: 6. Bd., 5 f. Antritt des Jahrhunderts: „Der Antritt des neuen Jahrhunderts”, entstanden 1801, im „Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1802“ u. öfter. Goethe II, 111: Vgl. Bielschowsky 1895–1904: 2. Bd., 111.

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„In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang.“ – 5

Aber die Würde der deutschen Kunst wurde ihm mehr und mehr heilig, und der Stolz darauf befestigte sich. „Einheimischer Kunst ist dieser Schauplatz eigen, Hier wird nicht fremden Götzen mehr gedient, Wir können mutig einen Lorbeer zeigen, Der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt. Selbst in der Künste Heiligtum zu steigen Hat sich der deutsche Genius erkühnt. Und auf der Spur des Griechen und des Briten Ist er dem bessern Ruhme nachgeschritten.“

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„Rühmend darf’s der Deutsche sagen, Höher darf das Herz ihm schlagen, Selbst erschuf er sich den Wert.“–

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Die ärgsten Jahre der Fremdherrschaft hat Schiller freilich nicht erlebt, aber daß er gegen Bonaparte eine starke Abneigung hegte, ist bezeugt. Und einen Monat vor seinem Ende hat er an Wilhelm von Humboldt nach Rom geschrieben: „Der deutsche Geist sitzt Ihnen zu tief, als daß Sie irgendwo aufhören könnten, deutsch zu empfinden und zu denken. Frau von Staël hat mich bei ihrer Anwesenheit in Weimar aufs neue in meiner Deutschheit bestärkt, so lebhaft sie auch die vielen Vorzüge ihrer Nation vor der unsri-

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„In des Herzens ... blüht nur im Gesang.“: Aus Schillers „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“ (1871o: 333). Die folgenden „Verse an Göthe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte“ (1871t: 322). „Rühmend ... erschuf er sich den Wert.“: Vgl. Schiller 1871s: 329 („Die deutsche Muse“). gegen Bonaparte: Am 14. 10. 1806 wurde das preußische Heer in der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt durch Napoleon vernichtend geschlagen. Im Frieden von Tilsit 1807 verlor Preußen die Hälfte seines Staatsgebietes. All das erlebte der 1805 verstorbene Schiller nicht mehr. Frau von Staël: Die frz. Schriftstellerin prägte auf Jahrzehnte hinaus das Deutschlandbild der Franzosen; sie suchte in Weimar Goethe, Schiller und Wieland auf. Siehe den Brief an Humboldt vom 2. 4. 1805 in: Jonas 1892–96: 7. Bd., S. 229.

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gen fühlbar machte. Im Philosophieren und im poetischen Sinne haben wir vor den Franzosen einen entschiedenen Schritt voraus ...“ Aus der Zeit, da er die Strophen an Goethe (als er den Mahomet Voltaires auf die Bühne brachte) und das Gedicht „Die deutsche Muse“ verfaßte, also aus der Jahrhundertwende (1800/01) müssen auch die drei merkwürdigen Fragmente stammen, die offenbar auf ein großes Poem, der Würde und dem Werte des deutschen Geistes gewidmet, angelegt sind. (Schillers sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe von Karl Goedeke. Elfter Teil. Gedichte. Anhang „Aus Schillers Nachlaß.“) Diese Ausführungen sind zum größten Teil in ungebundener Rede, nur einige fragmentarische unfertige Verse stehen daneben. Sie führen zum Teil den Gedanken des Epigramms in den Xenien

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„Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens, Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“ weiter, zum Teil gehen sie aber, eben im nationalen Sinne, darüber hinaus. Alles ist zu einer Verherrlichung deutschen Wesens gegenüber den „toten Schätzen“ des Briten und „des Franken Glanz“ abgestimmt. Die bedeutendsten Stücke daraus mögen die Charakteristik Schillers als Zeitbürgers auf schickliche Art beschließen; sie führen uns zugleich in die Werkstatt des Poeten. „Ihm (dem Deutschen) ist das Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden, und das schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen. Und so wie er in der Mitte von Europas Völkern sich befindet, so ist er der Kern der Menschheit, jene sind die Blüte und das Blatt.“ „Er ist erwählt vor dem Weltgeist, während des Zeitkampfs ... an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten ..., zu bewahren, was die Zeit bringt. Daher hat er bisher Fremdes sich angeeignet und es in sich bewahrt ... Alles, was Schätzbares bei andern Zeiten und Völkern aufkam, mit der Zeit ... entstand und schwand, hat er aufbewahrt, es ist ihm unverloren, die Schätze von Jahrhunderten ...“

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Die deutsche Muse: Vgl. Schiller 1871s. „Aus Schillers Nachlaß“: Vgl. Schiller 1871q. Epigramms in den Xenien: Vgl. Schillers „Deutscher Nationalcharakter“ (1871j: 110). „Ihm (dem Deutschen) ... sind die Blüte und das Blatt.“ Vgl. Schiller 1871j: 410; das folgende Zitat ebd.

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„Dem, der den Geist bildet, beherrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden, denn endlich an dem Ziel der Zeit, wenn anders die Welt einen Plan, wenn des Menschen Leben irgend nur Bedeutung hat, endlich muß die Sitte und die Vernunft siegen, die rohe Gewalt der Form erliegen – und das langsamste Volk wird alle die schnellen, flüchtigen einholen ...“ „Das köstliche Gut der deutschen Sprache, die alles ausdrückt, das tiefste und flüchtigste, den Geist, die Seele, die voll Sinn ist ... Unsere Sprache wird die Welt beherrschen. Die Sprache ist der Spiegel einer Nation, wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen ... Keine Hauptstadt und kein Hof übte eine Tyrannei über den deutschen Geschmack aus.“ Das ist nicht des Deutschen Größe Ob(zu)siegen mit dem Schwert, In das Geisterreich zu dringen, Vorurteile zu besiegen, Männlich mit dem Wahn zu kriegen, Das ist seines Eifers wert.

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Dann zum Preise der Lutherischen Reform: Schwere Ketten drückten alle Völker auf dem Erdenballe, Als der Deutsche sie zerbrach, Fehde bot dem Vatikane, Krieg ankündigte dem Wahne, Der die ganze Welt bestach. Höhern Sieg hat der errungen, Der der Wahrheit Blitz geschwungen, Der die Geister selbst befreit Freiheit der Vernunft erfechten, Heißt, für alle Völker rechten, Gilt für alle ew’ge Zeit.

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„Dem, der den Geist bildet ... einholen ...“: Vgl. dies und das folgende Zitat ebd.: 412. Das ist nicht des Deutschen Größe: Vgl. diese und die beiden folgenden Verse ebd.: 413.

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Und mit großer Ahnung: Deutschlands Majestät und Ehre Ruhet nicht auf dem Haupt seiner Fürsten, Stürzte auch in Kriegesflammen Deutschlands Kaiserreich zusammen, Deutsche Größe bleibt bestehn. Endlich im letzten dieser Fragmente (wieder in Prosa): „Darf der Deutsche in diesem Augenblicke, wo er ruhmlos aus seinem tränenvollen Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Fuß auf seinen Nacken setzen, und der Sieger sein Geschick bestimmt – darf er sich fühlen? Darf er sich seines Namens rühmen und freuen? Darf er sein Haupt erheben und mit Selbstgefühl auftreten in der Völker Reihe?“ – „Ja, er darf’s. Er geht unglücklich aus dem Kampf, aber das, was seinen Wert ausmacht, hat er nicht verloren. Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürs­ ten. Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eignen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten.“ – Dazu einzelne Versstücke am Rande, das letzte lautend: „Und mit lorbeerleerem Haupt?“ Dann in Prosa: „Sie (die deutsche Würde) ist eine sittliche Größe, sie wohnt im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist ... Dieses Reich blüht in Deutschland, es ist in vollem Wachsen, und mitten unter den gotischen Ruinen einer alten barbarischen Verfassung bildet sich das Lebendige aus. (Der Deutsche wohnt in einem alten sturzdrohenden Haus, aber er selbst ist ein edler Bewohner, und, indem das alte politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet.)“ Dazu am Rande: „Er hat sich längst seinen politischen Zustand emporgehoben, ein strebendes Geschlecht wohnt in dem alten Gebäude, und der Deutsche ...“ Und unser Dichter? – Man darf mit Gewißheit sagen, daß Schiller seinen nationalen Patriotismus auch in seine Dichtung hätte ausströmen lassen, wenn er die tiefe Erniedrigung Deutschlands, und gar, wenn er die Befreiungskämpfe erlebt hätte. Er hätte sich von Goethen an diesem Punkte getrennt, und gewissermaßen wäre er erst dadurch wieder ganz er selber geworden. Auch sein Kunstideal 7 12

(wieder in Prosa): Vgl. ebd.: 414; dort auch die folgenden Zitate. Reihe?“: Zitatende durch Hg. markiert.

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hätte noch eine etwas andere Gestalt angenommen. Die völlige Scheidung zwischen Kunst und Leben wäre dann wieder aufgehoben worden.

Von demselben Verfasser: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen. Leipzig. O. R. Reisland. 1887. Anastatischer Neudruck 1905. Hobbes. Elements of Law natural and politic. London 1889. Hobbes. Behemoth or the long Parliament. London 1889. Durch den Herausgeber (Prof. Tönnies, Eutin) zu beziehen. „Ethische Kultur“ und ihr Geleite. Berlin. Dümmler 1892. Hobbes’ Leben und Lehre. Stuttgart 1896. Fr. Frommanns Verlag. Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Leipzig. Reisland 1897. Politik und Moral. Frankfurt a. M. Neuer Frankfurter Verlag. 1901. Vereins‑ und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit. (Schriften der Gesellschaft für soziale Reform. Heft 5.) Jena. Fischer. 1902. Strafrechtsreform. (Moderne Zeitfragen I.) Berlin. Pan-Verlag. 1905.

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Von demselben Verfasser: Der Autorisierungsstatus dieser – wohl von Tönnies selbst genannten – unvollständigen Bibliographie bleibt ungeklärt; vgl. in der Bibliographie Tönnies 1887, 1889a, 1889b, 1893, 1896, 1897, 1901a, 1902 und 1905b. Anastatischer Neudruck: [gr.] aufstehender, wiederauffrischender Druck. „Von den vertraglichen 1000 Exemplaren der ersten Auflage waren 1887 nur 750 gedruckt worden, und der Verleger beabsichtigte nach einiger Zeit, einen unverkauften Rest einzustampfen. Indessen erwies sich 1905 ein photomechanischer Neudruck nötig, um der geringen, aber stetigen Nachfrage zu genügen. Als dieser Neudruck erschöpft war, bereitete Tönnies mit großer Sorgfalt eine ‚zweite, erheblich veränderte und vermehrte Auflage‘ vor, die 1912 erschien“ (Jacoby 1971: 79); siehe dazu auch TG 2. Korrekter Titel: „Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen“. Dümmler 1892: Das Buch erschien 1893 in Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung; das Vorwort Tönnies’ datiert vom November 1892.

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Die Reform des Strafrechts ist beinahe plötzlich aus einem Gegenstande langer theoretischer Erörterungen eine Frage der praktischen Politik geworden.1 In der deutschen Gruppe der „Internationalen kriminalistischen Vereinigung“, die im April 1902 zu Bremen ihre Jahresversammlung hielt, erklärte ein Vertreter des Reichsjustizamtes, daß die Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetze in diesem Amte vorbereitet werden. Seine fast humoristische Ausdrucksweise wies auf die Länge und Schwierigkeit des betretenen Weges hin. Die „Revision des Strafgesetzbuches“ stand auch auf der Tagesordnung des deutschen Juristentages, der im September desselben Jahres in Berlin sich versammelte. In der Tat ist die Notwendigkeit einer durchgreifenden Besserung auch von solchen Kriminalisten längst anerkannt worden, die an den Grundsätzen des bestehenden Strafrechts (oder an dem, was sie so nennen) strenge festhalten, die allen tiefgehenden Neuerungen durchaus 1 „Probleme des Verbrechens und der Strafe“ von Ferdinand Tönnies (Monatsschrift Deutschland, I, Heft 1 und 2). Die vorliegende Abhandlung ist eine verbesserte und vermehrte Auflage dieser Arbeit. 2

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Die Reform des Strafrechts: Die „Strafrechtsreform“ erschien 1905 als Band 1 in der von Hans Landsberg herausgegebenen Reihe „Moderne Zeitfragen“ des Berliner Pan-Verlages. Hierbei handelt es sich um die geringfügig erweiterte und überarbeitete Fassung einer Arbeit, die Tönnies unter dem Titel „Probleme des Verbrechens und der Strafe“ (folgend: ProblemeVS) bereits 1903 in „Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur“ publiziert hatte. Die Abweichungen gegenüber dem Erstdruck sind so marginal, sind vorwiegend stilistischer, nicht inhaltlicher Art, dass kaum behauptet werden kann, Tönnies sei 1903 damit beschäftigt gewesen, „seinen gerade erschienenen Aufsatz über ‚Probleme des Verbrechens und der Strafe‘ für die spätere Monographie „Strafrechtsreform“ (1905b) zu überarbeiten und erweitern“ (Knüppel 1998–99: 3). Sie werden hier, sofern sie ein tolerierbares Maß übersteigen, gesondert ausgewiesen. Die Kapitelgliederung ist in beiden Fassungen identisch, in der Fassung von 1905 mit römischen Zahlen, in ProblemeVS mit arabischen Zahlen beziffert. Gleichzeitig berücksichtigt Tönnies jetzt an verschiedenen Stellen die Zeitdifferenz von zwei Jahren. Hierzu siehe auch den Editorischen Bericht, S. 507–510. Vereinigung: Die „Internationale Kriminalistische Vereinigung“ (I. K. V.), deren Mitglied Tönnies war, widmete sich dem „Verbrechen“ und der „Strafe“ sowohl vom „soziologischen wie vom juristischen Standpunkte aus“. Sie wurde 1889 gegründet und 1933 aufgelöst (siehe dazu Bellmann 1994). (oder...nennen): Dieser Einschub ist in ProblemeVS nicht enthalten.

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widerstreben. Man wird sich wohl nicht täuschen in der Erwartung, daß auch die verbündeten Regierungen nur in diesem konservativen Sinne der großen Aufgabe näher treten wollen; ja, man wird sich nicht irren, wenn man annimmt, daß gewisse reaktionäre Tendenzen dabei mitwirken. In den Reichsämtern dürfte die Stimmung etwas lebhafter zu Gunsten der neuen Ansichten sich neigen. Außer dem Justizamt war auch das Reichsmarineamt in der Versammlung zu Bremen durch zwei Herren vertreten, die als Anhänger einer entschiedenen Reform bekannt sind. Anerkanntes Haupt der neuen Schule ist der vor einigen Jahren von Halle nach Berlin berufene Professor Franz von Liszt, der mit K. v. Lilienthal als Herausgeber der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ seit mehr als 20 Jahren eine lebhafte Tätigkeit in der Richtung auf Kritik und Umgestaltung des Strafrechts entwickelt hat. Ihm ist auch vor anderen die Begründung der I. K. V. (wie die oben genannte Vereinigung kurz bezeichnet wird) zu verdanken, eines Gelehrtenbundes, der, fast in allen zivilisierten Ländern vertreten, insgesamt etwa 800 Mitglieder zählt, darunter mehr als 300 im Deutschen Reich, zumeist Juristen, aber auch Gefängnisbeamte und Anstaltsgeistliche, nebst anderen Interessenten und Politikern. Hier war es nun für die Einleitung der gesetzgeberischen Arbeit, die leicht ein Dezennium in Anspruch nehmen dürfte, von nicht geringer Bedeutung, daß schon im Jahre 1901 v. Liszt erklärte, ohne einen Kompromiß sei die Reform unseres Strafrechtes überhaupt unmöglich und daß er seinerseits unter strenger Wahrung seines wissenschaftlichen Standpunktes und seiner „Weltanschauung“ sein Programm auf 2 Hauptforderungen reduzierte, an denen er und seine Freunde unbedingt festzuhalten entschlossen seien, in allen anderen Stücken zum Entgegenkommen bereit. 2 Dies war gesprochen mit dem Takte eines politischen Kopfes. Und es hat schon den günstigen Erfolg gehabt, daß bald nachher ein Hauptvertreter der konservativen Richtung gleichfalls sich bereit erklärt hat, den Schulenstreit für die 2 Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. XXI S. 122, 140.

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Man wird sich … Erwartung: In ProblemeVS: Man hat alle Ursache, zu erwarten, daß … ja, man wird sich nicht irren ... mitwirken: Dieser Satzteil ist in ProblemeVS nicht enthalten. zumeist Juristen, aber ... und Politikern: In ProblemeVS fehlt dieser Einschub. v. Liszt erklärte: Vgl. Liszt 1901: 122, 140. mit dem Takte eines politischen Kopfes: In ProblemeVS: in der Mundart eines Politikers. S. 122, 140: Die Seitenangabe bezieht sich auf Liszt 1901.

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praktischen Aufgaben der Gesetzgebung zurückzustellen (Prof. Kahl in der „Deutschen Juristenzeitung“ 1902, Nr. 13). Dieser Schulenstreit bleibt gleichwohl von weitestreichender Bedeutung. Denn er berührt die letzten Gründe der Rechtsordnung und des menschlichen Zusammenlebens. Die Reform des Strafrechtes selber ist recht eigentlich eine Sache, deren Folgen die große, dunkle Masse angehen, während die Reformen des bürgerlichen Rechtes in ihren Wirkungen sich weit überwiegenderweise auf die oberen und besitzenden Schichten der Gesellschaft beziehen. Im Strafrecht setzt sich die Zwangsgewalt des Staates, um den bestehenden öffentlichen und privatrechtlichen Zustand aufrecht zu erhalten, am unmittelbarsten der Freiheit des einzelnen entgegen. Wir werden uns ein Urteil bilden über die bevorstehende Reform, indem wir die Probleme und Prinzipien der Strafgesetzgebung richtig verstehen, und wenn wir voraussehen können, daß die Reform in einigen Stücken vielleicht heilsam, im ganzen durchaus ungenügend sein wird, so werden wir um so lebhafter eine tiefergehende, radikalere Reform anstreben.

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1902, Nr. 13: Vgl. Kahl 1902. und wenn wir voraussehen können ... Reform anstreben: In ProblemeVS fehlt dieses Satzende.

I. Der Schulenstreit, den wir hier ins Auge fassen, pflegt sich heute als Gegensatz des Vergeltungsprinzips und des Zweckprinzips vorzustellen. Ich bin der Meinung, daß der Gegensatz in dieser Form nicht seinen völlig echten Ausdruck besitzt. Die eigentliche Vergeltung böser Taten, darum weil sie böse sind, liegt den Aufgaben und dem Bereiche des Staates so sichtlich fern, daß einer gewissen Unklarheit zugeschrieben werden muß, wenn behauptet wird, daß das bestehende Strafrecht wesentlich auf diesem Grunde beruhe. Auch dürfte es als historische Tatsache feststehen, daß das preußische Strafgesetzbuch von 1851, dem das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund und dann wiederum dasjenige für das Deutsche Reich nachgebildet sind, vielmehr auf einem ekletischen Prinzip – wenn man das ein Prinzip nennen will – aufgebaut worden ist. Für unser Gefühl freilich wird immer, wenn Untaten, die es empört haben und empören, der öffentlichen Strafe unterliegen, ein Ausgleich, eine Beruhigung sich ergeben; wir werden immer Verlangen danach tragen, daß der offenbare Bösewicht seine verdiente Strafe finde. Aber wir tragen dies Verlangen auch, und zwar oft in viel höherem Grade, wenn wir wissen, daß kein Strafgesetz daran denken kann, den Bösewicht zur Verantwortung zu ziehen; wenn es z. B. bekannt wird, daß ein Ehemann seine gute Frau zu Tode gequält oder durch Liederlichkeit zur Verzweiflung gebracht hat, oder daß ein Schurke durch freche Verführung ein Familienglück zerstörte. Und unser Vergeltungsbedürfnis wird auch befriedigt, wenn ein solcher oder ein krimineller Bösewicht auf andere Weise als durch den „rächenden Arm der Justiz“ ins Verderben gerät oder zur Vernunft gebracht wird. Andererseits besteht dies Verlangen nach vergeltender Justiz nur einem kleinen Teile der Verbrechen und Vergehen gegenüber. Die meisten „strafbaren Handlungen“ empfinden wir keineswegs als Missetaten in diesem Sinne. Sinnige Denker und Weise haben überdies immer behauptet, daß die böse wie die gute Tat ihren Lohn in sich selber trage, und daß es ein trauriges, mitleidwürdiges Schicksal sei, als ein Böser ans Licht der Welt geboren zu sein oder durch die finsteren Mächte der eige 5 6 12

eigentliche: Dieses Wort fehlt in ProblemeVS. darum weil sie böse sind: Diese Passage ist in ProblemeVS nicht enthalten. ekletisch: Korrekt: eklektisch (= „auswählend“, im Gegensatz zu „systematisch“).

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nen und der umgebenden Natur zu bösen Taten fortgerissen zu werden. Das subjektive Recht der Staatsgewalt, Strafen anzudrohen und zu verhängen, kann aus dem öffentlichen Bedürfnis der Vergeltung nicht abgeleitet werden. Es würde die Ungerechtigkeit zum Prinzip erheben, trotz oder gerade wegen des Vorwandes der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit bleibt in ganz anderem Sinne der in sich selbst beruhende Grundsatz aller Justiz, insofern sie Rechtfindung und Rechtsprechung ist. Sie kann und muß auch in der Gesetzgebung auf bewußte Weise erstrebt werden. Der Staat darf nicht für seine Zwecke und um des gemeinen Wohles willen über Leben und Güter der Individuen nach Belieben verfügen. Die angedrohten Strafübel müssen allerdings in einem angemessenen Verhältnisse zu der Beschaffenheit des gesetzwidrigen Wollens stehen. Auch unser Denken fordert, daß der gefährliche Missetäter bestraft werde. Aber ihm ist wenig oder gar nichts daran gelegen, daß er Schmerzen erleide, daß es ihm übel ergehe und er gedemütigt werde; alles ist ihm daran gelegen, daß er verhindert werde, seine Übeltat zu wiederholen, daß er „unschädlich gemacht“ werde. Als einfachste und sicherste Methode der Bestrafung muß sich diesem Gedanken jene empfehlen, die das alte Recht in allen „hochnotpeinlichen“ Sachen befolgte: den Verbrecher, vor dem man in Zukunft sich schützen wollte, vom Leben zum Tode zu bringen. Heute wenden wir diese Methode – abgesehen von politischen Verbrechern – nur noch gegen den Mörder, wenn er das Alter der vollen Strafmündigkeit besitzt, an. Indem wir sie anwenden, haben wir zugleich das Gefühl, daß die einmal geschehene Untat ihre angemessene Sühne finde. In ihrer Wirkung als radikale Unschädlichmachung kommt neben der Todesstrafe nur die lebenslängliche Einsperrung in Betracht. Wir lassen sie oft – und zwar wird es zumeist durch Gnade vermittelt – an die Stelle der Todesstrafe treten. Alle übrigen Strafmittel haben die erwünschte Wirkung, daß der Verbrecher in alle Zukunft unfähig sei, gleiche oder ähnliche Taten zu begehen, nicht. Sie haben entweder nur für eine Zeitlang diese direkte Wirkung: nämlich für die Zeitdauer der Unfreiheit; oder sie haben nur eine indirekte und erheblich schwächere Wirkung im gleichen Sinne: indem nämlich erwartet wird, daß die unangenehme Erfahrung der Strafe, möge diese nun in zeitweiliger Unfreiheit oder in einer erzwungenen Geldzahlung bestehen, den Schuldigen minder geneigt mache, etwas Ähnliches oder überhaupt etwas Strafwürdiges von neuem zu tun. Die Frage, warum wir nicht alle Verbrecher, die als solche erkannt sind, dauernd unschädlich machen, beantwortet sich von selbst. Viele Gründe machen es untunlich, ja unsinnig. Unser Interesse, daß es geschehe, ist von sehr verschiedener Stärke.

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Die Schwierigkeit des Tatbeweises bei mangelndem Geständnis ergibt die Gefahr des Justizirrtums, also unter Umständen des „Justizmordes“, eine Gefahr, deren Verringerung im schärfsten allgemeinen Interesse ist. Vor allem kommt aber in Betracht, daß die Strafe, die wir verhängen, nach einer Regel verhängt werden muß, daß wir nicht dem Gutdünken eines Richters oder Richterkollegiums überlassen können, die Notwendigkeit dauernden Unschädlichmachens im gegebenen Falle auszusprechen, sondern die Voraussetzungen dafür im Gesetze vorschreiben müssen. Die Voraussetzungen können nur objektive sein. Mit anderen Worten, es muß Rechtens sein, daß dem Täter solcher Tat solche Behandlung zuteil wurde. Im einzelnen Falle kann der Totschläger ein ziemlich harmloses Individuum sein, von dem ein neues Verbrechen überhaupt nicht zu erwarten steht. Anstatt ihn lebenslänglich oder doch 15 Jahre lang gefangen zu halten, wäre es vielleicht viel nützlicher, ihm Gelegenheit zu geben, an den Hinterbliebenen des Erschlagenen sein schweres Unrecht wieder gut zu machen. Im einzelnen Falle könnte es dagegen sehr weise sein, einen Menschen, der des ersten Diebstahls überführt wurde, lebenslänglich einzusperren, weil man deutlich erkennt, daß es ein Mensch ist, der sich zum Raubmörder oder wenigstens zum Erzgauner und zu einer Pest für seine Umgebung entwickeln wird. Aber für solche Fälle läßt sich keine Regel bilden. Der Regel nach erscheint der Totschläger als ein Mensch, der das Leben seiner Mitmenschen gefährdet, der Dieb als einer der nur das Eigentum gefährdet. Der Schutz des Lebens ist viel wichtiger als der Schutz des Eigentums. Wenn es Rechtens wäre, daß jede Verletzung des Eigentums die gleiche Strafe nach sich zöge wie die Tötung, so würde das eine Ermutigung zur Tötung bedeuten, sofern diese etwa für die unmittelbare Absicht – auf Diebstahl – vorteilhaft wäre, oder die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung und Überführung zu vermindern schiene. Die allgemeine Wirkung – der Regel – ist viel wichtiger als die besondere Wirkung im einzelnen Falle. Darum die Wirkung der allgemeinen Drohung – des Gesetzes – viel wichtiger als die Wirkung der einzelnen Anwendung eines Strafmittels. Das Versagen der Drohung in vielen Fällen – daß also die mit Strafe bedrohten Taten doch geschehen – ist kein Beweis dafür, daß die Drohung überhaupt keine Wirkung, also keinen Wert habe. Es ist freilich leichter auszumachen, was sie nicht verhindert, als was sie verhindert hat. In einfachen Fällen von Übertretungen ist aber beides leicht zu unterscheiden. Setzen wir, in einem öffentlichen Park habe sich die Gewohnheit entwickelt, über den Rasenplatz zu gehen. Eine Tafel wird aufgerichtet, die es verbietet und mit 3 Mark Geldstrafe bedroht. Die große Mehrheit des Publikums will sich der Gefahr dieser Bestrafung nicht

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aussetzen. Man geht lieber den weiteren Weg um den Rasen herum. Manche junge Leute aber und etliche ältere lassen es darauf ankommen. Der Parkwächter ist nicht immer zur Stelle, sie hoffen, damit durchzukommen; einige reizt sogar die Gefahr. Ein Teil der Übertreter wird dann zur Strafe gezogen. Das vermehrt die Wirkung der Drohung. Die Gefahr ist größer, als man gedacht hatte. Aber die Versuchung bleibt; und diejenigen, für die die Gefahr den Reiz vermehrte, lassen sich auch ferner nicht abhalten. Unter diesen werden zumeist die schon Bestraften sein. Sie sind nach wie vor die frechsten Übertreter. Sie tun es nun dem Parkwächter zum Trotz und wissen seiner Verfolgung zu entrinnen. Auch wiederholte Bestrafung erweist sich unwirksam gegen diese einzelnen Buben. Darum ist aber die Strafdrohung überhaupt nicht unwirksam. Wenn man die Tafel nicht aufgerichtet hätte, so wäre es um den Rasen geschehen gewesen, während er jetzt, zwar beschädigt, aber doch nicht zerstört wird. Analog, wenn auch nicht genau ebenso, liegt das Verhältnis auch bei den kriminellen Strafdrohungen. Darum gibt auch deren Unfähigkeit, Verbrechen zu unterdrücken, für sich allein noch keinen genügenden Grund, die Drohungen zu verschärfen. Solche Verschärfung ist immer ein Experiment. Die Folgen lassen sich nicht vollständig voraussehen. Als Kampfmittel gedacht, wird es vielleicht den Widerstand des Feindes brechen. Es kann aber auch dessen Scharfsinn auf erfolgreiche Gegenmittel lenken. Wenn ausgesprochen wurde, daß der Gegensatz zwischen dem Vergeltungsprinzip und dem Zweckprinzip nicht völlig echt sei, so sollte das heißen: auch die entschiedensten Anhänger des Vergeltungsprinzips, wie sehr sie in jedem einzelnen Falle die Strafe als eine Vergeltung vorstellen mögen, werden nicht leugnen, daß die Vergeltungen gefürchtet werden sollen; daß darum das Gesetz, als Ankündigung der Absicht, Vergeltung zu üben, so sehr als möglich bekannt sein müsse (wenn auch seine Stelle, wie noch heute in England, durch die Gerichtspraxis vertreten werden kann); daß also das Strafgesetz in hohem Grade nützlich sei, durch die Eindämmung, die es den kriminellen Begierden gegenüber bewirke; daß endlich auch die jedesmalige Vergeltungsstrafe wenigstens nebenher auch insofern einen erwünschten Effekt habe, als sie den Täter hindere oder wenigstens entmutige, von neuem gesetzwidrig zu handeln, und als sie zugleich ein Exempel gebe, das die allgemeine Drohung wirksam erhalte und ihre Kraft erhöhe. Auf der anderen Seite werden diejenigen, denen diese Zwecke, oder allgemein aus 14 33

während er jetzt, ... zerstört wird: 1905 hinzugefügte Ergänzung. hindere: In ProblemeVS statt dessen: verhindere.

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gedrückt, der Zweck das Verbrechen zu bekämpfen und so sehr als möglich zu unterdrücken, zugleich den eigentlichen Sinn und das maßgebende Prinzip des Strafrechts bedeutet, schwerlich etwas dagegen einwenden, daß die jedesmalige Strafe von dem Bestraften und von den Zuschauern auch als gerecht empfunden werde; ja sie werden zugeben müssen, daß das Gegenteil, die Empfindung und Meinung, daß eine Strafe, sei es ihrer Art nach, oder im einzelnen Falle, ungerecht sei, den Zweck des Strafrechts schwer beeinträchtigt; denn es wird Zorn und Haß gegen die Urheber der Bestrafung dadurch erregt, also ein innerer Widerstand gegen die Staatsgewalt begünstigt, der die Neigung zu gesetzwidrigen Unternehmungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern. Sie werden also in dem Streben nach Gerechtigkeit nicht nur als Richter, sondern auch als Gesetzgeber mit ihren Gegnern übereinkommen. Diese – die Vergeltungstheoretiker – denken mehr an die jedesmalige einzelne Bestrafung, sie gehen von dieser aus und leiten aus ihr den Grundsatz der Strafe ab, wie er dem volkstümlichen Gefühl und Bewußtsein entspricht. Amt und Würde des Richters prägt sich in dieser Anschauung aus. Hingegen die Zwecktheoretiker nehmen – wenigstens, wenn sie konsequent denken – den Standpunkt des Gesetzgebers ein; ihnen liegt es dann viel näher, nach dem Zweck des Strafrechts als nach dem Zweck der einzelnen Bestrafung zu fragen. Und das Strafrecht soll der Gesetzgeber selber machen, wobei er sich mehr oder weniger an die Überlieferung gebunden halten mag; je freier er sich über sie erhebt, um so mehr ist er genötigt, den Zweck seines Gesetzes, als seines Wollens, ins Auge zu fassen. Er kann sich nicht an der Frage genügen lassen: warum soll auf das Vergehen X die Strafe Y folgen? sondern er muß auch die Frage aufwerfen: welche Wirkung wird es haben, daß von Rechtswegen die Strafe Y für das Vergehen X bestimmt wird? Die Wirkung der einzelnen Bestrafung tritt zurück gegen die Wirkung der Ankündigung der allgemeinen Regel, nach der die Bestrafungen geschehen sollen. Offenbar muß aber die Einheit dieser Ideen gesucht werden; denn das Gesetz wendet sich an die Vorstellung, die Strafe selber an die Empfindung, beide sind auf die Seele des denkenden und wollenden Menschen gerichtet.

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– wenigstens, wenn sie konsequent denken: In ProblemeVS nur: von vornherein. je freier er sich ... ins Auge zu fassen: Dieser Satzteil fehlt in ProblemeVS. für das Vergehen X bestimmt wird?: In ProblemeVS statt dessen: auf das Vergehen X gesetzt ist? denn das Gesetz ... Menschen gerichtet: Dieses Satzende fehlt in ProblemeVS.

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Das Wegekreuz, das den Zugang zu einem objektiven und also wissenschaftlich gültigen Urteil über die Grundfragen des Strafrechts versperrt, ist die verschiedene Art des Denkens über die Freiheit des Willens. Die Meinung, daß jemand Strafe verdient hat, daher mit Recht gestraft werden könne und – vielleicht auch um anderer Zwecke willen – bestraft werden müsse, scheint untrennbar mit der Vorstellung verbunden und dadurch bedingt zu sein, daß er seinen Willen selbst bestimmt habe zu der Tat, daß er die Freiheit hatte zu tun oder zu unterlassen, daß er die Strafbarkeit seiner Handlung kannte und sie dennoch bewußt wollte, also sich aus eigener Entschließung dem Gesetze widersetzt habe; eben dadurch hat er sich schuldig gemacht. Weil der normale, erwachsene Mensch, als ein vernünftiger, diese Fähigkeit, seinen Willen frei zu bestimmen, besitze, weil alle einander in dieser einen Hinsicht gleich seien, darum – so sagt oder denkt man – könne das Gesetz sich an alle wenden, zu allen sprechen: „Wer“ solches oder solches tut, wird auf solche und solche Weise bestraft. Die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetze wird als ein wesentliches Prinzip der Gerechtigkeit aufgestellt und behauptet; sie gilt als eine Errungenschaft höher geförderter Kultur. – Seit lange nun aber hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß das Wollen des Menschen bedingt ist wie ein anderes natürliches Ereignis; daß es verursacht wird durch Faktoren innerer und äußerer Art, die zum größten und schwersten Teile nicht seinem Wollen ihr Dasein verdanken; und soweit dies der Fall ist, so war auch jenes Wollen bedingt und unausweichlich. Daß dieser Mensch diese Tat begeht oder sich dieser Unterlassung schuldig macht, ist ebenso notwendig, wie es notwendig ist, daß dieser Stein, den ich in die Luft werfe, zur Erde fällt. Wenn aber dem so ist, wie kann man den Menschen verantwortlich machen? Muß man nicht ausschließlich Mitleid haben mit dem Armen, der (etwa) von liederlichen Eltern

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Urteil über die Grundfragen ... Freiheit des Willens: In ProblemeVS ohne Hervorhebung so: Ansicht des Problems versperrt, ist die Frage des freien Willens. selbst bestimmt: In ProblemeVS: frei bestimmt. sie gilt als eine Errungenschaft ... Kultur: In ProblemeVS fehlt diese Passage. (etwa): 1905 hinzugefügt.

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erzeugt, in Schmutz und Entbehrungen aufgewachsen, durch schlechte Beispiele verlockt, vielleicht hinlänglich mit Verstand begabt war, um das Gesetz zu erkennen und zu verstehen, unmöglich aber die Maxime des gesetzlichen Handelns so in sein Gemüt aufnehmen könnte, wie es uns, den Begünstigten, zuteil geworden ist, denen es unnatürlich und widrig erscheinen würde, unsern Lebensunterhalt durch Diebstahl zu suchen? die wir uns die erbärmliche Lage dessen kaum vorzustellen vermögen, der dazu die Versuchung in sich empfunden hat, dem eine solche Lebensweise gar zur Gewohnheit geworden ist? Muß man nicht auch Mitleid haben mit jenem anderen Manne, der von Jugend auf an ein üppiges und reichliches Leben gewöhnt wurde, der an die Spitze eines großen Geschäftes gestellt, entweder die Aufgabe zu groß für seine Fähigkeiten fand, oder von Mißgeschick heimgesucht, in das Mißgeschick anderer hineingerissen wurde und in dem Wahne, daß es verborgen bleiben werde, daß er alles wieder gut machen könne, in der Angst vor dem Zusammenbruch, hoffend, dem gräßlichen Schicksale der Armut und Verachtung zu entgehen, zur Fälschung, zur Untreue, zum Betruge seine Zuflucht nahm? Wie sehr es ihn gereuen mochte nachher, wie sehr ihn ekeln mochte vor seinem eigenen Tun – sicherlich, im Augenblick, da er tat, konnte er nicht anders; er, so wie er einmal war, und geworden war – wäre er ein anderer gewesen, stark, mutig, fest, von angeborenem oder erworbenem Widerwillen gegen niedriges und unehrliches Handeln erfüllt, dann freilich – aber ist es seine „Schuld“, daß er diese edlen Eigenschaften nicht besaß? Edles kommt von Edlem und Gemeines von Gemeinem. In nicht wenigen Fällen wird man sogar sagen dürfen: er handelte so, wie die Mehrzahl seiner Richter an seiner Stelle, in genau derselben Lage, auch gehandelt hätte. Und doch verurteilen, doch strafen wir? – Die radikale Zwecktheorie, wie sie zumeist von Philosophen, Psychologen, Soziologen vertreten wird, aber gerade in neuerer Zeit auch unter Juristen und eigentlichen Kriminalisten ihre Anhänger gefunden hat, antwortet darauf: Allerdings. Wir strafen, weil die Strafdrohung ihre Kraft behalten soll. Das allgemeine Interesse, also auch das Interesse dieser Unglücklichen, die den Schutz der Gesetze so wenig entbehren können und wollen wie alle anderen, gebietet, daß gegen das Unrecht Schranken aufgerichtet werden; wer sie zu durchbrechen versucht, tut es weil er muß, aber er tut es auch auf seine Gefahr: die soziale Folge, daß er bestraft wird, ist ebenso eine notwendige Folge wie die natürliche Folge, daß er ausgleitend und zu Falle kommend einen Knochenbruch erleidet; wenn wir Mitleid mit ihm haben, so haben wir auch Mitleid mit dieser notwendigen Folge seines Tuns. Daß

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wir selber die soziale Folge in unserer Hand haben, gibt uns keinen Grund, sie zu beseitigen oder preiszugeben. Unser Strafen unterliegt nicht nur, ebenso wie das Verbrechen, der allgemeinen physischen Notwendigkeit, sondern wir sind auch logisch genötigt, die Strafe zu verhängen, weil wir nur durch dieses Mittel unsern Zweck: die möglichste Verhütung von Verbrechen, oder die Erhaltung des öffentlichen Friedens erreichen können. „Aber“ – werden nun die Verteidiger der Willensfreiheit entgegenhalten – „ihr werdet doch nur den strafen, der da wissend gehandelt hat? der Recht und Unrecht unterscheiden konnte, der einen normalen Verstand besaß, der also gleichsam eingewilligt hat in die ihm bekannte gesetzliche Folge seiner Tat? nur den strafen, den ihr verantwortlich machen könnt? und wie könnt ihr ihn verantwortlich machen, wenn ihr sagt, daß er nicht anders konnte, daß er getan hat wie er mußte, daß die Umstände, die gesellschaftlichen Verhältnisse, oder – wenn ihr überhaupt menschliche Schuld zugebt – die Eltern und Erzieher oder die Kameraden und Verführer des Menschen die Schuld daran tragen, daß er so geworden ist und so handeln mußte?“ Ich meine, daß die richtige Antwort auf diese Fragen etwa folgendermaßen lauten müßte: Daraus, daß wir Grund haben, den Menschen verantwortlich zu machen, folgt nicht, daß er verantwortlich ist; und daraus, daß er – in einem metaphysischen Sinne – nicht verantwortlich ist, folgt nicht, daß wir nicht berechtigt seien, ihn – im rechtlichen Sinne – verantwortlich zu machen. Indem wir ihn verantwortlich machen, bedienen wir uns einer Fiktion oder, wenn man lieber will, wenden wir eine Idee auf ihn an, eben die Idee der Freiheit des Wollens, die in keiner Erfahrung ihr vollkommenes Gegenbild hat. Wir drücken dadurch aus, daß wir denken, auf jeden normalen Menschen übe die Vorstellung einer drohenden Strafe – ebenso wie etwa die Vorstellung der sittlichen Verwerflichkeit – irgendwelche Wirkung aus, ob sie gleich bei vielen erfahrungsgemäß unzureichend ist, sie von verbrecherischen Taten abzuhalten; obgleich wir dies, eben wegen ihrer üblen Anlagen, und wenn wir der traurigen Umgebungen gedenken, worin sie aufgewachsen sind, völlig begreifen können, also als notwendig einsehen. Wenn wir im gegebenen Falle einen Menschen für das, was er unserer Vermutung nach getan hat, verantwortlich machen, wenn wir ihn für „zurechnungsfähig“ erklären, so sagen wir damit nur aus, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen seinem Denken und Wollen einerseits, dem Geschehenen andererseits bestehe, daß 2 31

Unser Strafen unterliegt nicht nur ... auch logisch genötigt: In ProblemeVS dagegen: Wir sind genötigt. also als notwendig einsehen: Diese Passage fehlt in ProblemeVS.

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diese zu jenem gehöre und davon abhängig sei, daß er, insofern er ein Ich ist, d. h. der menschlichen Eigenschaft, die wir als Vernunft bezeichnen, teilhaftig ist, der Urheber dieser Handlung sei und dafür geachtet werden müsse. Nur solche Urheber aber wollen wir strafen, denn nur an sie, an mögliche freie d. h. vernünftige Urheber von Handlungen konnte unsere Androhung von Strafe sich wenden; und die Bestrafung geschieht um der Androhung willen. Sie ist insofern gerecht, als sie die Erfüllung eines (wenn auch negativen und dem Individuum ungüns­tigen) Versprechens ist, und die Berechtigung zu diesem Versprechen – der Drohung – leitet sich aus dem allgemeinen Interesse an der allgemeinen Wirksamkeit dieses Versprechens her. Den strafen, von dem wir wissen: er handelte, weil er mußte; wissen: unsere Drohung konnte auf ihn, obgleich er der Vernunft teilhaftig war, nicht in genügender Weise wirken, weil die Antriebe zur Tat zu stark – in ihm und außer ihm – waren; den strafen, d. i. ihm als Folge seines Tuns Leid zufügen, scheint freilich hart. Aber es ist die Konsequenz davon, daß wir ihn verantwortlich machen, ihn für zurechnungsfähig erklären; und dies ist keineswegs ein Übel, das ihm zugefügt wird – so scheint ihr Verteidiger der realen Willensfreiheit es aufzufassen, wenn ihr glaubt, daß unsere Behandlung des Verbrechers mit unserer Ansicht von ihm sich nicht vertrage – es ist vielmehr eine Ehre, die der Gattung erwiesen wird, die auch ihre geringsten Exemplare vor den unvernünftigen Wesen auszeichnen soll, daß sie zur Verantwortung gezogen, daß sie vor den ordentlichen Richter gestellt werden, daß sie sich verteidigen dürfen wider die Anklage, kurz, daß mit ihnen auf gesetzliche Art, d. i. nach allgemeinen Regeln, verfahren wird, und vor allem, daß die Gegenwirkung gegen ihr schädliches Tun – eben die Strafe – in vorher bestimmter und begrenzter Weise geschieht. Indem wir den Elenden bestrafen, obgleich wir, nach seinem Naturell, seiner Vergangenheit, vielleicht schon nach seiner Physiognomie und Schädelbildung nur allzugut begreifen, daß er der Versuchung zu dieser niedrigen Tat nicht widerstehen konnte; indem wir ihn bestrafen, entziehen wir ihn zugleich der Selbsthilfe des Beleidigten, der Rache des Geschädigten, entziehen wir ihn der „Lynch-Justiz“, der wir eben in den Fällen, wo die Strafe nicht gewiß scheint oder eine ungenügende Strafe erwartet wird, nicht immer zu wehren vermögen; entziehen wir ihn jedenfalls der willkürlichen und ungemessenen Behandlung durch die Polizei, die sonst irgendwie gegen die Wiederkehr ebensolcher oder ähnlicher Handlungen vonseiten eben desselben Individuums Vorkehrungen treffen müßte. Wir geben ihm sein Recht. Alles dies sind Wohltaten, die wir ihm erweisen, sind als solche gemeint und wirksam. Dieser Gesichtspunkt vermehrt unser Recht und stärkt in hohem Grade

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unser gutes Gewissen, womit wir, als „Deterministen“, uns unterfangen, das Strafrecht anzuwenden. – Also ergäbe sich für die Praxis kaum ein nennenswerter Unterschied, ob man davon ausgeht, daß alle normalen Menschen insofern gleich sind, als sie die eine gleiche absolute Qualität der Willensfreiheit besitzen, oder ob wir dies verneinen und die Zurechnungsfähigkeit nur als einen ideellen Maßstab betrachten, den wir an die höchst verschieden gearteten und bedingten Menschen anlegen? Am Ende wären es nur verschiedene Namen derselben Sache – die einen nennen sie freier Wille, die anderen Vernunft oder Bestimmbarkeit durch Motive oder geistige Gesundheit oder normale Gemütsverfassung? – Es ergeben sich doch sehr bedeutende Unterschiede und eben durch diese Unterschiede wird der Gegensatz der Schulen hell illustriert. Sie liegen in den Begriffen, nicht bloß in den Namen begründet. Denn eben am Verhältnis zu unseren Begriffen können wir – die wir den Determinismus zu Grunde legen – zeigen, daß wir mit klarerer Bewußtheit den Dingen gegenüberstehen. Auch wir bilden den Begriff des vernünftigen, verantwortlich zu machenden, zurechnungsfähigen Menschen. Aber wir wissen, daß die Gleichheit der unter diesem Begriff subsumierten Individuen nichts ist als eine Fiktion – eine zweckmäßige, ja eine notwendige Fiktion, aber immer eine Fiktion, d. i. ein Gebilde unseres Denkens. Für jene – die Indeterministen und für die naive, vulgäre Auffassung – ist sie eine Realität. Der „freie Wille“ ist eine metaphysische Essenz, die, immer sich selber gleich, wie ein Gott in der Brust jedes Menschen wohnen soll, mit wunderbarer Fähigkeit begabt, keinem Naturgesetz unterworfen, selber ursachlos, aber Ursache der mächtigsten Wirkungen, nämlich aller menschlichen Handlungen, die nicht etwa durch äußere Mächte, namentlich durch fremden Willen erzwungen worden sind. Hingegen Vernunft, oder wie immer wir die Qualität nennen mögen, die den Menschen als Menschen bezeichnet, ist etwas, das jeder in verschiedenem Grade, ja in verschiedener Art besitzt, nicht anders als etwa die Kraft in Arm- und Beinmuskeln, als Seh- oder Hörschärfe, Unterscheidungsvermögen der Geruchs- oder Geschmacksnerven, und was dergleichen mehr ist. – Aus diesem großen und wichtigen Unterschiede folgen tiefgehende Konsequenzen. Der Richter, der von jener – sagen wir es unumwunden: wissenschaftlich unzulänglichen psychologischen Ansicht ausgeht, hält es im allgemeinen für selbstverständlich, daß ein Mensch, der nicht rast, der in verständlicher Rede spricht, der, wie die Akten ergeben, mit Anpassung der Mittel 26

namentlich: In ProblemeVS dagegen: nämlich.

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an seine Zwecke, ja methodisch und planmäßig gehandelt hat, daß ein solcher Mensch „zurechnungsfähig“ ist und war, daß er also insofern der übergroßen Mehrheit aller übrigen Menschen gleich ist; denn die Wahnsinnigen sind Ausnahmen. Er hält es also von vornherein für sehr unwahrscheinlich, daß ein Mensch der nicht offenbar wahnsinnig, auch nicht ausdrücklich und durch einmütiges Urteil der Sachverständigen für wahnsinnig erklärt worden ist, unzurechnungsfähig, es scheint ihm ausgeschlossen und ganz und gar unverständlich, daß in bezug auf die Zurechnungsfähigkeit ein Mehr oder Minder denkbar sei; er läßt sich genügen an der Schlußfolge: dieser Mensch hat dies getan; er ist zurechnungsfähig; er befand sich im Augenblicke der Tat nicht in einem Zustande, der „die freie Willensbestimmung ausschloß“ – also ist er schuldig; also können und müssen wir ihn verurteilen; also muß er die Strafe erleiden. – Für den anderen Richter, der zugleich die Notwendigkeit alles Geschehens und die Relativität aller Begriffe klar und deutlich eingesehen hat, wird es von vornherein problematisch sein, ob ein ihm vorgeführtes Individuum mit hinreichendem Grunde derjenigen Gruppe beigezählt werden könne, an die das Gesetz mit seiner Strafdrohung allein sich wenden will, den Menschen nämlich von normaler Bestimmbarkeit oder Vernünftigkeit oder den in dieser Beziehung hinlänglich geistig gesunden; denn wenn es auch für manche Zwecke notwendig ist, zu unterscheiden und auszusprechen: „gesund“ oder „krank“, so wissen wir doch in bezug auf die Gesundheit der übrigen Leibesorgane gut genug, daß es ihrer sehr viele Grade gibt, z. B. von einem „prachtvollen“, „unverwüstlichen“ bis zu einem schwachen und überempfindlichen Magen; und daß es in betreff des Nervensystems und jenes allerzartesten, kompliziertesten Organes, dem wir die Kraft des Denkens zuschreiben, sich nicht anders verhält, mit anderen Worten, daß es auch sehr viele Grade geistiger Gesundheit gibt, ist in Wahrheit schon ins allgemeine Bewußtsein übergegangen, ja, wenn man es genau erwägt, niemals ganz unbekannt gewesen. Ein Richter, wie wir ihn nunmehr voraussetzen, weiß darum auch, daß es ein Akt formaler Willkür ist, eben darum freilich auch sehr sorgfältiger Erwägung bedarf, ob ein Individuum in die Gruppe der „durchaus“ oder „hinlänglich“ Gesunden eingeschlossen oder von ihr ausgeschlossen wird und werden soll. Er wird es um so sorgfältiger erwägen, da er ferner weiß, daß die Zurechnungsfähigkeit in diesem relativen Sinne ein Ehrentitel des Menschen ist, den man ihm nicht ohne schwerwiegende Gründe aberkennen darf. Während der frühere Richter sich ungern 7 32

unzurechnungsfähig: Lies: unzurechnungsfähig ist. „hinlänglich“: Fehlendes Anführungszeichen von Hg. eingefügt.

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dazu entschließt, jemanden für unzurechnungsfähig zu halten, 1. weil er es für unwahrscheinlich hält, daß hinreichender Grund dafür vorhanden ist, 2. weil er darin so etwas wie eine Privilegierung und begünstigende Exemtion erblickt, die den Inkulpaten von der Strafe befreit, welche ihm doch offenbar als Vergeltung für die ihm zuzurechnende Tat gebühre; ... so wird auch dieser neue Richter sich nicht leichtherzig dazu bewegen lassen, die Zurechnungsfähigkeit zu verneinen, 1. obgleich er es keineswegs für unwahrscheinlich hält, daß die Abweichungen von der als normal vorgestellten und gesetzten intellektuellen Beschaffenheit im gegebenen Falle groß genug sind, ein solches Verdikt zu begründen; weil aber die Untersuchung schwierig, oft mehrdeutig, weil Simulation auf Grund des Wunsches, für irre gehalten zu werden, nicht selten (welche Simulation freilich sehr oft ein Symp­tom wirklicher Perversität der geistigen Verfassung darstellt); weil man wünschen muß, daß in möglichst vielen Fällen auf die reguläre, einfache rechtliche Art verfahren werde, wünschen muß, daß die Voraussetzung des Strafrechts in betreff des Einflusses von Strafandrohungen nicht zu oft Lügen gestraft werde. 2. weil er aber auf der anderen Seite in der Behauptung der Unzurechnungsfähigkeit etwas erkennt, was schwerer für das Schicksal des Menschen ins Gewicht fällt als die meisten Strafurteile; in der Tat eine capitis deminutio maxima, eine moralische Enthauptung; etwas was zwar einem Gauner erwünschter sein kann als schwere physische Strafe, aber doch auch für den etwaigen Simulanten große Unbequemlichkeit und, wenn er ein gefährlicher Mensch ist, jedenfalls keine geringere und kürzere Unfreiheit im Gefolge haben wird, als die „zugerechnete“ Tat haben würde. Wenn das geltende Recht nicht die notwendigen Konsequenzen aus einer solchen Erklärung zieht, so ist das ein offenbarer Mangel, eine einfache Lücke, deren gründliche Ausfüllung nicht lange unterlassen werden kann.3 – Es liegt auf 3 Bei Beratung des geltenden Strafgesetzbuches im Jahre 1870 wurde vom Reichstag die Resolution gefaßt: „den Bundeskanzler aufzufordern, im Wege einer Vorlage die Rege-

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Exemtion: [lat.] svw. Befreiung, Ausnahme von bestimmten allgemeinen Lasten oder gesetzlichen Pflichten. Inkulpaten: [lat.] veralteter Ausdruck der Rechtswissenschaft für Angeklagter, Angeschuldigter. capitis deminutio maxima: [lat.] svw. die umfangreichste Form der Aufhebung der Rechtsfähigkeit; im römischen Recht der Verlust der bürgerlichen, politischen und Familienrechte (nur bei Todesstrafe und lebenslänglicher Zwangsarbeit). die Resolution gefaßt: Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des konstituirenden Reichstages 1870: 234; dort gesperrt gedruckt: Personen, die ... für straflos

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der Hand, daß das Ergebnis für den Richter der alten und für den Richter der neuen Schule ein sehr verschiedenes sein wird. Jener hält für seine Pflicht, im Namen des Staates Vergeltung zu üben; er meint, wenn die Frage der Zurechnungsfähigkeit vorliegt, über eine objektive Tatsache zu urteilen, deren Bejahung in der Regel so selbstverständlich ist, wie die Bejahung der Frage, ob der Mensch sehen könne (schwieriger ist bekanntlich schon die Untersuchung, ob einer normalsichtig ist); er sträubt sich gegen die Anerkennung von Tatsachen, die seinem Begriffe vom freien Willen als einer allgemein menschlichen Qualität zu widersprechen scheinen. Er wird die Zurechnungsfähigkeit sehr selten verneinen. Der Richter neuen Stiles wird sie ziemlich oft verneinen: nämlich so oft die befragten Psychologen4 einstimmig sind, oder wenn er auch nur eines der Gutachten für beweiskräftig zu halten sich in seinem Gewissen verbunden fühlt, in dem Sinne, daß ein Fall „verminderter Zurechnungsfähigkeit“ vorliege. Denn die verminderte Zurechnungsfähigkeit ist für den Kriminalisten ihre Verneinung. Als Tatsache steht es fest, daß unter den Urhebern von Verbrechen aller Art halbirre Individuen zahlreich vertreten sind. Der neue Richter wird daher, auch wenn am Strafgesetze nichts verändert wird, dazu beitragen, die Strafanstalten von den wohl in jeder anzutreffenden mehr oder minder geisteskranken Personen zu entlasten. Daß solche in Strafanstalten schlechterdings nicht hineingehören, daß sie darin keiner angemessenen, am allerwenigsten einer heilenden Behandlung teilhaftig werden können, versteht sich von selbst. Es ist unter den obwaltenden Umständen nicht zu vermeiden, daß Individuen, deren geistige Gesundheit gar keinem oder doch keinem gewichtigen Zweifel unterworfen war, als sie verurteilt wurden, in der Strafanstalt psychisch erkranken: nicht nur sind sie ebenso wie andere Menschen dem ausgesetzt, sondern die neuen Lebensbedingungen wirken in besonders lung eines Verfahrens herbeizuführen, durch welches Personen, die wegen ihres Geisteszustandes oder als Taubstumme für straflos erklärt worden sind, im Falle der Gemeingefährlichkeit einer wirksamen Beaufsichtigung überwiesen werden können“. Bisher hat diese Resolution noch keinen Erfolg gehabt. 4 Die Psychologie hat bisher freilich noch keine gesetzliche Anerkennung gefunden. Als forensischer Psycholog wird immer nur der Arzt befragt, und zwar mancher Arzt, dessen psychiatrische Kenntnisse sich auf die herkömmliche Einteilung der Geisteskrankheiten beschränken.

erklärt worden sind. Mit dem Begriff „Reichstag“ greift Tönnies auf 1871 vor, noch ist es der „Norddeutsche Bundestag“.

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ungünstiger Weise auf vorhandene Anlagen dieser Art; keineswegs alle Bedingungen: die ruhige und regelmäßige Lebensweise, die angestrengte Arbeit, die Versagung des Alkoholgenusses sind Momente, die für dissolute und haltlose Naturen sicher vorteilhafter sind als das vagierende und ausschweifende Leben, dem sie entzogen wurden; dagegen ist aber die Ausschließung von der menschlichen Gesellschaft, der unablässige Zwang, die unausgesetzte Beobachtung, der fast ausschließliche Aufenthalt in geschlossenen Räumen, für viele die drückende Einsamkeit der Zelle, für alle das Gebot des Schweigens und die furchtbare Monotonie dieses durch und durch künstlichen Zustandes – alles dies sind so gefährliche, verdüsternde Umstände, daß die Schädlichkeit der Strafanstalt in der hier bedeuteten Hinsicht, mit Recht für überwiegend gehalten wird. Es ist des öfteren ausgesprochen worden, daß der heutige Richter Strafen verhängt, deren eigentliches Wesen er nicht kennt, da er um die Vollziehung sich nicht zu bekümmern braucht und in Wirklichkeit dagegen gleichgültig ist. Ein Richter, der beflissen sein wird, die Ursachen der strafbaren Handlungen, daher auch die Beschaffenheiten der Täter zu erforschen, wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß in vielen Fällen die Behauptung der Zurechnungsfähigkeit und demnach die Verurteilung des Individuums zu langjähriger Unfreiheit, unter den Bedingungen, die sie bisher als Strafe charakterisiert haben, eine unnütze Grausamkeit bedeutet. Er wird dann auch aus diesem Grunde dem Zweifel an der normalen Beschaffenheit des Delinquenten weiteren Spielraum geben, als ihm bisher gegönnt worden ist, und wird sich durch das urteilslose Geschrei leichtgebildeter Schwätzer nicht beirren lassen. Diese freilich werden weit lieber an die Bosheit als an die Krankheit ihrer Mitmenschen glauben, schon weil die zornige Entrüstung ein angenehmerer und gemeinerer Affekt ist als das Mitleid; und weil sie sich selber (gar oft irrtümlicherweise) moralisch ganz gesund fühlen.

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Geschrei leicht gebildeter Schwätzer: In ProblemeVS dagegen: Geschrei einer blöden Menge leichtgebildeter Schwätzer. und weil sie selber ... gesund fühlen: So 1905 ergänzt.

III. Noch mehr und noch deutlicher als für den Richter wird für den Gesetzgeber, der mit den hier besprochenen Einsichten Strafbarkeit und Strafwürdigkeit betrachtet, die Aufgabe eine andere. Er wird erst, nachdem er diese Einsichten erworben hat, in gehöriger Weise erwägen, welche Wirkungen sein Werk, das Strafgesetz, haben könne, haben werde. Wenn er sich an alle oder doch an alle Zurechnungsfähigen wenden muß, so weiß er doch, daß die Gleichheit, die der Begriff der Zurechnungsfähigkeit in sich einschließt, eine Fiktion ist. Wie das Gesetz selber, so ist auch diese Voraussetzung sein Werk, er wird sich dessen bewußt, daß ihm obliegt, die Merkmale der Zurechnungsfähigkeit zu bestimmen, ihre Grenzen festzulegen. Der Gesetzgeber alten Stiles suchte diese Grenzen in der Wirklichkeit. Er begegnete schon einer tödlichen Schwierigkeit, wenn er herausfinden wollte, in welchem Lebensalter die Zurechnungsfähigkeit beginne. Niemals konnte man die Prinzipien der Vergeltung und der Gleichheit so weit treiben, daß man kleine Kinder für den Schaden, den sie, wenn auch absichtlich, verursachen, strafrechtlich verantwortlich machte; und doch ward im römischen Rechte die Regel niedergelegt und ging ins kanonische Recht über, daß Kindern, die mehr als 7 Jahre alt (über die zweite Zahnperiode hinaus) seien, unter Umständen schon ihre Taten zugerechnet werden müssen. Die neueren Gesetzgebungen haben teils dem Ermessen des Staatsanwalts oder des Richters die Entscheidung, ob ein Kind zu verfolgen und zu verurteilen sei, überlassen, teils haben sie eine Altersgrenze gesetzt, die aber schon innerhalb der Staaten des ehemaligen deutschen Bundes – charakteristisch genug – zwischen dem vollendeten achten und dem vollendeten vierzehnten Lebensjahre schwankte. Für das vollendete zwölfte Lebensjahr, das in unser heute noch gültiges Reichs-Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, ist ein Gutachten des preußischen Medizinal-Kollegiums, das physiologische und psychologische Gründe dafür geltend machte, bestimmend gewesen: „die äußeren Eigen-

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kanonische Recht: Das Kirchenrecht (ius canonicum) ist eine wichtige Quelle auch des gemeinen deutschen Privatrechts sowie des Strafrechts, insbesondere des Prozessrechts geworden, jedoch nicht gleich bedeutend mit der im Corpus iuris canonici festgelegten Ordnung. In der Moderne ist das kanonische Recht dem Inhalt des Codex iuris canonici gleichzusetzen, der sich im Wesentlichen auf das innere Recht der katholischen Kirche beschränkt.

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tümlichkeiten des Kindesalters pflegen bis zum zwölften Jahre vorzuherrschen“; erst gegen das Ende dieses, des Knabenalters5 seien „von einer Berücksichtigung anderer, von wahrer Überlegung und deshalb von Gründen, die über persönliche Empfindungen hinausgehen, und von einer freien Willensbestimmung“ mehr als die ersten Spuren sichtbar. Gegenüber der gemeinrechtlichen Praxis, die auf der Carolina (Kaiser Karls des Fünften Peinlicher Gerichts-Ordnung) beruhte, bedeutet diese Fixierung nur insofern etwas neues, als sie gleichsam um einen Kalendertag gerinnen macht, was dort flüssig gelassen wurde; denn diese Praxis unterschied bei den 7–14jährigen, ob sie infantiae proximi oder pubertati proximi seien, und zu letzteren wurden solche, die bereits im vierzehnten oder wenigstens im dreizehnten und dem Anfang des vierzehnten Jahres nahe waren, gerechnet; alles jüngere Volk blieb in der Regel straffrei, und auch wider die zweite Gruppe pflegte man bei geringen Verbrechen „nicht leicht auf eigentliche Strafen zu erkennen, sondern die Züchtigung der Eltern oder Lehrer für genügend zu achten, oder solche auch, bewandten Umständen nach, gerichtlich zu verhängen.“6 Bei schweren Verbrechen wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bosheit das Alter erfülle („malitia supplet aetatem“ lautete hierfür die Formel), d. h. ob ein hoher Grad des Vorsatzes erkennbar sei, und in diesem Falle wurde zwar nicht leicht auf Todesstrafe und lebenslängliche Freiheitsstrafe, 5 Auf die wissenschaftliche Sorgfalt dieses berühmten Gutachtens fällt nicht eben ein güns­ tiges Licht, wenn darin überall nur vom Kinde und – vom Knaben die Rede ist; daß es auch Mädchen gibt, die gerade in diesem Lebensalter besondere kriminalistische Aufmerksamkeit verdienen, scheint der Verfasser vergessen zu haben. Nicht bloß in den Ausdrücken; denn die ganze, übrigens ziemlich triviale Ausführung über das „Charakteristische der Adolescenz“ kann auf irgendwelche allgemeine Gültigkeit durchaus nur für das männliche Geschlecht Anspruch machen. 6 Quistorp, Joh. Christian Edler von, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts. Erster Teil. Fünfte Auflage. Rostock und Leipzig 1794. S. 60.

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„die äußeren Eigentümlichkeiten ... von einer freien Willensbestimmung“: Als Zitat nicht nachweisbar. Carolina: D. i. Karls V. „Constitutio Criminalis Carolina“ (C.C.C.) von 1532, das erste allgemeine deutsche Strafgesetzbuch, verbunden mit einer Strafprozessordnung, das der Rechtsvereinheitlichung im Reich dienen und der Willkür der Strafrechtspflege entgegen wirken sollte. infantiae proximi oder pubertati proximi: [lat.] svw. eher Kinder oder eher Jugendliche (Pubertierende). malitia supplet aetatem: [lat.] svw. die Bosheit ersetzt das Alter, d h. dass bei besonders schwerwiegenden Straftaten auch vor Erreichen der sonst gültigen Altersgrenzen Strafmündigkeit angenommen wird (entsprechend dem Codex Justinianus 2.42,3).

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aber doch auf Freiheitsstrafe von Jahren erkannt, während sonst (wenn nur ein geringerer Vorsatz gefunden wurde) entweder Rutenzüchtigung oder ein kurzes Gefängnis, allenfalls bei Wasser und Brot, verhängt wurde. Sodann wurden auch bei „Minderjährigen“, d. h. solchen, die über vierzehn Jahre alt, aber noch nicht zur Großjährigkeit gelangt waren – wo denn nach Gerichtsgebrauch erst das vollendete fünfundzwanzigste Jahr als Anfangspunkt der Großjährigkeit in peinlichen Fällen galt – mit mancherlei Unterscheidungen mildere Strafen beliebt. Es ist klar, daß, gegen diese Praxis gehalten, die Veränderungen zwar gering sind, die in den Normen unseres Strafgesetzbuches, besonders in der bedingten Strafmündigkeit vom dreizehnten bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre, auftreten, daß sie aber wenigstens teilweise zu Ungunsten der Kinder und jugendlichen Personen ausgefallen sind; denn das alte Recht ließ von den Zwölfjährigen den größten Teil straffrei und dehnte das Privileg der Minderjährigkeit nominell bis zum sechsundzwanzigsten, tatsächlich wohl mindestens bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre aus. Die Gesetzgebungskunst im Strafrecht ist noch kaum hundert Jahre alt; kein Wunder, daß sie noch nicht in allen Stücken weit von der Überlieferung sich zu entfernen gewagt hat; wenngleich in einigen Beziehungen die Abstände von der Bambergischen und der Carolinischen Halsgerichtsordnung enorme geworden sind, nachdem freilich Gerichtspraxis, landesherrliche Verordnungen und wissenschaftliche Kritik im achtzehnten Jahrhundert den Gesetzbüchern des neunzehnten vorgearbeitet hatten. Der neue Gesetzgeber, in dessen Seele wir uns versetzen, wird alle subtilen Untersuchungen, wie weit ein Knabe oder ein kleines Mädchen „doli capax“ (d. i. des bösen Vorsatzes fähig) sei, entschlossen über Bord werfen; er wird sich an die rein praktische Frage halten: ist es nützlich, die Wohltaten und Lasten des Strafprozesses auf erwachsene Personen zu beschränken oder müssen sie auch auf Kinder angewandt werden? Und er wird die Notwendigkeit, sie auf Kinder anzuwenden, nicht zugeben. Denn er wird sagen: was die negative Seite – die Lasten – betrifft, so hat die Staatsgewalt nicht nötig, sich in irgend einer Hinsicht zu den Kindern auf den Kriegsfuß zu setzen, wie sie es den Erwachsenen gegenüber tatsächlich durch das Strafrecht tut: sie kündigt diesen an, in welcher Weise sie ihre Macht gebrauchen werde gegen Angriffe, die von ihnen als

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Bambergischen ... Halsgerichtsordnung: Die vom bischöflich-bambergischen Hofmeister Schwarzenberg 1507 verfasste Bambergensis, die als Vorbild für die Carolina diente, wurde 1516 als Strafgerichtsordnung eingeführt. (d. i. des bösen Vorsatzes fähig): Dieser Einschub fehlt in ProblemeVS.

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freien, d. i. ihrer selbst mächtigen, Wesen ausgehen würden. Denn zu dieser deutlichen und scharfen Erkenntnis muß der Gesetzgeber vor allen Dingen gelangen, daß dies der Kern und das Wesen des Strafrechtes ist, sich herausstellend, nachdem es von allen Beimischungen theologischer und ethischer Art gereinigt worden: die Verteidigung des öffentlichen gegen das Privatinteresse, wenn dieses seine Grenzen überschreitet. Diese Überschreitungen werden nach ihrer Schädlichkeit und Gefährlichkeit beurteilt und bedroht – so geschieht es tatsächlich, wenn unmittelbare tätliche Angriffe auf den Staat und seine Verfassung in der ersten Reihe der Verbrechen und Vergehen stehen und ohne Rücksicht auf ihre vielleicht idealen Beweggründe mit Strafen bedroht werden; und wenn dieser Gesichtspunkt in bezug auf „Privatverbrechen“ noch nicht durchgeführt worden ist, so wird der Gesetzgeber, der seine Aufgabe nicht mit der eines Rächers oder Zensors verwechselt, um so mehr ihn durchzusetzen beflissen sein. Er wird dann zu der Folgerung gelangen, daß es nicht nötig ist, den Staat und das öffentliche Interesse durch solche Mittel gegen Kinder zu schützen; dem Staate unmittelbar können sie gar nicht gefährlich werden, und auch zu Privatverbrechen ist ihre Neigung so gering und ungewöhnlich, ihre Fähigkeit so schwach, daß sie im allgemeinen als ungefährlich gelten dürfen; wie denn auch tatsächlich nicht leicht jemand von Kindern leiblichen Schaden befürchtet: und auch ihre Neigung zu Diebstählen hält sich zumeist an Nahrungs- und Genußmittel oder an unbedeutende Geldbeträge. Was aber die Wohltaten des Strafprozesses betrifft, so beruht deren Notwendigkeit für Erwachsene auf dem Gedanken, daß die Einrichtung des Staates in erster Linie die Erhaltung eines Rechtszustandes zum Zwecke hat; daß der Staatsbürger gesichert sein will gegen andere als gehörig begründete, in voraussehbarer Weise geregelte und bestimmte Eingriffe in seine Freiheit; daß er, eben als Freier und Gleicher, d. h. als normaler Mensch, kein Objekt der Erziehung oder irgend welcher willkürlichen Behandlung von seiten der Staatsgewalt, sei es zu seinem Wohl oder Wehe, sein will, während er jedoch der rechtlich bestimmten Strafe als der gesetzlichen Folge seiner Tat oder Unterlassung sich willig und bewußt unterwirft. Alle diese Gründe gelten für Kinder nicht. Das Kind ist noch kein Staatsbürger, es ist noch nicht freigesprochen, es ist ein Objekt der Erziehung, und wenn auch Eltern alle Ursache haben, sich zu wehren gegen Eingriffe der Staatsgewalt in ihre, die elterliche Gewalt, so ist doch die Befugnis der Behörden zu solchen Eingriffen unabweisbar, sobald als diese elterliche Gewalt sich unfähig erwiesen hat, verbrecherische 5

ethischer: In ProblemeVS statt dessen: moralischer.

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Taten oder überhaupt Störungen der öffentlichen Ordnung durch Kinder, die ihr unterworfen sind, zu verhüten. Hier tritt das Notrecht des Staates ein, dasselbe Recht, das längst innerhalb der bürgerlichen Rechtspflege als Obervormundschaft seinen Ausdruck gefunden hat; freilich – gemäß der Natur und den Zwecken des bürgerlichen Rechts – weit stärkeren Ausdruck in vermögensrechtlicher als in personenrechtlicher Beziehung. Ihre Ausbildung nach dieser Richtung gehört nicht sowohl dem bürgerlichen Rechte, als vielmehr der Polizei, oder sagen wir lieber, um diesen mehrdeutigen und gehässigen Begriff näher zu bestimmen, der öffentlichen Pädagogik an. Auf die Funktionen der Obervormundschaft in diesem Sinne hat der Amts- oder sonstige Strafrichter nicht den geringsten natürlichen Anspruch; sein juris­ tisches Studium und seine übrige Berufstätigkeit geben nicht irgend welche Gewähr, daß er wirklich dieser ungemein schwierigen, verantwortungsvollen sittlichen Aufgabe gewachsen sei;7 sie machen es eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich; daß ihm in den meisten deutschen Staaten die Aufsicht über Erziehung bevormundeter Kinder und in bestimmten Fällen das Recht des Eingreifens in die Erziehung von Kindern, die unter elterlicher Gewalt stehen, als ein (geringer Aufmerksamkeit gewürdigter) Zweig der „freiwilligen Gerichtsbarkeit“ belassen worden ist, bedeutet nichts anderes als einen gedankenlosen Schlendrian, an dessen Stelle die Einrichtung besonderer Erziehungs-Behörden ein dringender und höchst wichtiger Gegenstand der sozialen Gesetzgebung sein wird, wofür auch die Kriminalpolitik sich auf das lebhafteste interessieren muß. Denn diesen Erziehungsbehörden würde die Untersuchung und Aburteilung aller durch Kinder begangenen strafbaren Handlungen als eine ihrer bedeutendsten Aufgaben zufallen, wobei sie ihrem pädagogischen Charakter gemäß ganz anderer Methoden, ganz anderer Prinzipien als der Untersuchungs- und besonders als der Strafrichter sich bedienen würden. In der Regel würde für sie weit weniger die einzelne Tat, als der gesamte dadurch und durch andere Umstände dargetane Zustand des verbrecherischen Kindes ins Gewicht fallen; sie würde beflis 7 Daß es einzelne Richter gibt, die sich diese Sache ganz besonders angelegen sein lassen, ja sich große Verdienste darum erwerben, ist eine Tatsache, die durch obiges Urteil nicht berührt wird.

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(geringer Aufmerksamkeit gewürdigter): In ProblemeVS: herkömmlicherweise für unwichtig geltender. freiwilligen Gerichtsbarkeit: D. i. ein Zweig der Rechtspflege, der die rechtsgestaltende und ‑fürsorgende Tätigkeit der Gerichtsbarkeit im Gegensatz zur streitigen betrifft, etwa im Vormundschafts‑, Register- und Beurkundungswesen.

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sen sein, eine dem Kinde heilsame, seine Erziehung befördernde Maßregel zu finden, wobei aber die Rücksicht auf das gemeine Wohl, insbesondere auf den Schutz anderer Kinder vor der Infektion durch das verbrecherische Kind, keineswegs außer acht gelassen werden dürfte und oft eine erhebliche Rolle spielen müßte; eine besondere und eigentliche Strafe, die hier durchaus einen disziplinarischen Charakter trüge, von der Rechtsstrafe also gänzlich verschieden wäre, würde zwar in den meisten Fällen genügen, ihre Art und Höhe würde aber dem jedesmaligen Ermessen der Erziehungsbehörde, mithin der Erwägung des einzelnen gegebenen Falles, der Rücksicht auf die Individualität des Übeltäters und auf seine häuslichen und übrigen Zustände überlassen bleiben. – Wenn nun die Anwendung des Kriminalrechtes auf Kinder in keiner Weise als notwendig sich ergibt, so muß noch viel bestimmter verneint werden, daß sie irgendwie nützlich sei. Denn es kann vielmehr als notorisch bezeichnet werden, daß sie in hohem Grade und in mehr als einer Hinsicht schädliche Wirkungen hat. Es ist unvermeidlich, wenn dem Kinde ein förmlicher Prozeß gemacht wird, es wie eine erwachsene Person zu behandeln. Vom Richter kann nicht verlangt oder erwartet werden, daß er auch nur mit mittelmäßigem pädagogischen Takte sich zu dem angeklagten Kinde in ein persönliches Verhältnis des Wohlwollens und der überlegenen Weisheit setze. Der Richter ist nicht einmal in der Lage zu verhüten, was die Formen des Prozesses herausfordern, wozu sie geradezu das Recht geben: daß das Kind, „wie ein Alter“, durch Leugnen und Lügen, durch Listen und Schliche gegen die Anklage und die drohende Strafe sich wehre. Schon die Anklagebank und die Untersuchungshaft müssen korrumpierend auf ein jugendliches Gemüt wirken. Was aber die Verurteilungen von Kindern betrifft, so werden sie tatsächlich auch von orthodoxen Kriminalisten als die schwache Seite des gültigen Strafrechtes anerkannt. Und es stimmen fast alle denkenden Beamten, Prediger, Ärzte der Gefängnisse, auch solche, die nicht zugeben wollen, daß Freiheitsstrafen überhaupt die moralische Beschaffenheit der Verurteilten eher verschlimmern als verbessern, dahin überein, daß für sehr junge Personen die Schäden selbst dann, wenn für strenge Einzelhaft gesorgt ist, stark überwiegen; von den konservativsten Männern hört man die ungestümsten Rufe nach radikalen Neuerungen auf diesem Gebiete – wie überall, wo der Gegenstand gekannt und das Übel empfunden wird, die Schwärmerei für Erhaltung bestehender Zustände bei Redlichen nicht lange stand zu halten pflegt. Die allgemeine Ansicht geht 21 2 2

wozu sie geradezu das Recht geben: 1905 hinzugefügt. „wie ein Alter“: In ProblemeVS: wie eine erwachsene Person.

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dahin, daß ein Kind, einmal aus dem Gefängnisse in seine bisherigen Zustände zurückkehrend, der verbrecherischen Laufbahn nicht wohl entrinnen könne; und die wissenschaftliche Beobachtung, soweit sie mit den Mitteln der Statistik bisher möglich ist, scheint diese Ansicht in hohem Grade zu bestätigen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich ein Notschrei: nehmet die unglücklichen Kinder aus den Gefängnissen, bestrafet sie nicht mit lebenslänglichem Verderben für das Elend ihrer Geburt, für ihre Armut und Verlassenheit, für das Schicksal, das sie ohnehin mit Füßen tritt. Sorget, daß diese Kinder ernährt, behütet, daß sie erzogen werden! Und Politiker, die nicht gewöhnt sind, den Anwandlungen ihres Gemütes eine Stimme zu gönnen, lehren mit leichter Begründung, daß es als zweckmäßig sich bewähren müsse, den Schäden des Verbrechens vorzubeugen, indem man die Entstehung von Verbrechern zu verhindern suche; und daß hierzu das einfache und einzige Mittel darin gegeben sei, daß man die Neigungen, Gewohnheiten, Gedanken, wie auch die gesamte äußere Lage derer zu verbessern sich bemühe, die auf dem Wege einer solchen Entwicklung angetroffen werden. Mit großer Entschiedenheit erheben sich daher zunächst die beiden Forderungen: 1. es solle eine höhere gesetzliche Altersgrenze bestimmt werden, bei der die Verantwortlichkeit im Strafrechte beginne, 2. es solle nicht die strafbare Handlung abgewartet werden, um Maßregeln zu treffen, durch die man ihre Wiederholung zu verhüten meine; sondern es gelte, die Gefahr früher zu erkennen und zu ersticken; man möge auch nicht bloß auf die Verhütung eines verbrecherischen Lebenswandels, sondern des sittlichen Verderbens schlechthin bedacht sein; und den ersteren, politischen Zweck könne man nur, indem man ihn ethisch erweitere, in zulänglicher Weise erfüllen. „Erziehung an Stelle von Strafe“ und „Erziehung vor und wider Strafe“ so mögen die beiden Postulate sich zusammenfassen und formuliert werden. – Bekanntlich hat schon in einem gewissen Maße die neuere Gesetzgebung der deutschen Bundesstaaten diesen Postulaten gerecht zu werden versucht, und zwar gründet sich diese gesetzgeberische Tätigkeit teils – ihrem älteren Bestande nach – auf das Reichs-Strafgesetzbuch, teils – in ihren jüngeren Erscheinungen – auf das Bürgerliche Gesetzbuch. Es ist die Zwangserziehung, neuerdings  –  im preußischen Gesetze – „Fürsorge-Erziehung“ genannt, worauf ich hier im Vorbeigehen

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im Vorbeigehen hinweise: In ProblemeVS fehlt die Fußnote; vgl. dazu Tönnies 1900b und ergänzend Tönnies 1900a.

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hinweise. 8 Aber die entscheidende Reform bleibt der Revision des Strafgesetzbuches vorbehalten, die Erfüllung nämlich jener ersten Forderung, mit der die Exemtion der Kinder vom Strafrechte zusammenfällt. Obgleich nun beinahe allgemeine Übereinstimmung vorhanden ist, daß 12- und 13jährige Kinder nicht auf die Anklagebank und nicht ins Gefängnis gesetzt werden sollten, so gehen doch die Ansichten über die richtige Altersgrenze erheblich auseinander: diejenigen, die sie zu begründen versuchen, tappen, wie schon der Badenser Roßhirt vor 77 Jahren spottete,9 zwischen den Zahlen wie zwischen Irrlichtern umher. Da die Chancen des Erfolges in der Gesetzgebung im umgekehrten Verhältnis zum Weitgehen eines Reformvorschlags zu stehen pflegen, so dürfte die Fixierung auf das Ende des 14. Lebensjahres am meisten Aussicht auf Verwirklichung haben, die zugleich als Wiederherstellung der gemeinrechtlichen Praxis – da die Ausnahmen auf Grund der erwähnten Finessen offenbar sehr selten gewesen sind – gelten kann. Die Grenze nur um ein Jahr hinaufzurücken, ist von keiner Seite in Anregung gebracht worden. Ich stehe bisher allein mit dem Vorschlage, den ich gleichwohl für den besten zu halten mich erkühne: es möge der Grundsatz ausgesprochen werden, daß schulpflichtige Kinder nicht als „strafmündig“ geachtet werden sollen. Zur Begründung habe ich vor 14 Jahren, als diese ganze Frage von einer Kommission der I. K. V., die sich dann zu einer Konferenz erweiterte, beraten wurde, ausgeführt, daß eine solche Bestimmung, die an eine bestehende staatliche Institution – eben die Schul 8 Meine schweren Bedenken gegen manche Bestimmungen des neuen preußischen Gesetzes, und gegen die daran geknüpften Erwartungen habe ich zu entwickeln versucht in (H. Brauns) Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. XV, 3 u. 4 (1900). 9 Entwicklung der Grundsätze des Strafrechts. Heidelberg und Leipzig 1828. S. 198.

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Kommission der I.K.V.: Die Frage der Straffähigkeit Jugendlicher war deren zentrales Thema 1890 in Bern. Die Debatten waren wenig ergiebig und wurden auf die zweite Landesversammlung der deutschen Sektion 1891 in Halle vertagt; auch wurde die Bildung eines Ausschusses beschlossen, bestehend aus Appelius, Krohne und von Liszt. Dieser sollte mit Hilfe eines Fragebogens Material sammeln und auf der nächsten Sitzung einen gedruckten Bericht vorlegen. Unter Hinzuziehung eines Praktikers des öffentlichen Erziehungswesens (Keßler) einigte sich die Kommission zunächst über die Grundzüge eines Gesetzesentwurfes, den die Mitglieder und Sachverständige verschiedener Berufe, Vorsteher von Erziehungs- und Strafanstalten, von Erziehungsvereinen und Gefängnissen, Lehrer, Seelsorger etc. erhalten sollten. Dadurch wurden die ursprünglichen Vorschläge in mehrfacher Beziehung geändert. Das Resultat all dieser Vorarbeiten war der im Auftrag der Landesgruppe von Appelius (1892) verfasste Bericht über „Die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder“ (vgl. Bellmann 1994: 50–53).

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pflicht – anknüpft, den Vorzug verdient vor der Begrenzung durch Tag und Jahr, da die Vollendung irgend eines Lebensjahres als solche weder an den äußeren noch an den inneren Zuständen der Menschen irgend etwas verändere und sicherlich niemand an einem seiner Geburtstage plötzlich aus einem unzurechnungsfähigen ein zurechnungsfähiger Mensch „wird“. „Kinder aber, welche die öffentlichen Schulen besuchen, stehen in einem besonderen Verhältnisse: direkt zur Gemeinde, indirekt zum Staate (Zöglinge der höheren Schulen meistens sogar direkt zum Staate; von diesen kann aber hier um so mehr abgesehen werden, da sie, schon ihrer geringen Zahl halber, kriminalistisch wenig in Betracht kommen). Das Ausscheiden aus der Schule bedeutet in den meisten Fällen zugleich ein Verlassen des elterlichen Haushalts, das Ende, wenn auch nicht der rechtlichen, so doch der tatsächlichen Gewalt des Vaters (oder der Mutter) – diese tatsächliche Gewalt ist aber in sozialer Hinsicht wichtiger als jene rechtliche. In protestantischen Ländern bezeichnet der religiöse Ritus der ‚Einsegnung‘ oder ‚Konfirmation‘ diesen bedeutsamen Abschnitt, den ‚Eintritt ins Leben‘, woraus eine fortwährende Hinweisung durch besonderen religiös-moralischen Unterricht, der diesem Abschnitt vorausgeht, zu geschehen pflegt. Das entsprechende katholische Sakrament wird, wenigstens der Regel nach, in dieselbe Epoche gesetzt. – In meiner Heimat (Schleswig-Holstein), wo das Volksschulwesen und die allgemeine Schulpflicht seit lange ihre Wurzeln geschlagen haben, bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch der Ausdruck: ‚er ist aus der Schule‘ so viel als ‚er ist erwachsen.‘“ Heute möchte ich noch hinzufügen, daß in einer solchen Rechtssatzung die unmittelbare Aufforderung zum Ausbau des Schulwesens zu einer sittlich mehr als bisher wirksamen Institution läge, und daß aus der bestehenden staatlichen Schulaufsicht sich auf natürliche und leichte Art die geforderten Erziehungsbehörden entwickeln würden. Wenn heute noch die ungleiche Begrenzung der Schulpflicht in verschiedenen Ländern und Landesteilen der gedachten Bestimmung ent-

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„Kinder aber, ...‚ er ist erwachsen“: Als Zitat nicht nachgewiesen. Anscheinend handelt es sich um eine Passage jener 64 Gutachten, die der Berliner Konferenz der I. K. V. am 5. und 6. 12. 1891 vorlagen und zu der „die Verfasser der bedeutenderen Gutachten“ ebenfalls eingeladen worden waren. „Die Gutachten, die nur für die Acten der Commission bestimmt waren,“ sind zwar in die Endfassung der Kommissionsvorschläge eingegangen, wurden aber, wie im Appelius-Bericht (1892: 2, 4) nachzulesen ist, nie gesondert publiziert. Das der Kommission „schriftlich und in vertraulichem Meinungsaustausch“ Mitgeteilte sollte unbeeinflusst von der Öffentlichkeit bleiben. Das Zitat findet sich ebenfalls auf Blatt 17 des handschriftlichen Manuskripts der Monographie „Strafrechtsreform“ (vgl. SHLB Cb 54.32:4c).

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gegenzustehen scheint, so darf man doch mit Grund erwarten, daß diesem Übel durch fortgesetzte Einschränkung der Kinderarbeit und auch durch besondere Landesgesetzgebungen im Sinne einer Verlängerung da, wo sie noch regelmäßig vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres erlischt, bald wird abgeholfen werden. Noch weit besser wäre es, wenn alle jugendlichen Personen einer ergänzenden Fortbildungsschulpflicht mindestens bis zum Ende des 16. und höchstens bis zum Ende des 18. Lebensjahres unterworfen würden, und wenn aus dieser, und damit erst aus der gesamten Schulpflicht, welche die Strafunmündigkeit bedingen sollte, eine besondere und förmliche Entlassung durch die Erziehungsbehörde stattfände. – Der gesamte Grundsatz, daß der Beginn der Strafmündigkeit und damit der Anfang staatsbürgerlicher Pflichten und Rechte als ein tiefer Einschnitt im Leben des Individuums markiert werde, erfordert ferner vor allem, daß eine gehörige Bekanntschaft mit diesen Pflichten und Rechten, insbesondere aber mit Inhalt und Wesen des Strafrechts von dieser Epoche an mit Fug vorausgesetzt, daß also ein methodischer Unterricht über dies ganze Gebiet ihr vorausgeschickt werde. Selbst wenn das im Deutschen Reiche geltende Recht, wonach auch Kinder – vom 13. Lebensjahre ab – bestraft werden können, behalten wird, so muß man vor das 13. Jahr einen Unterricht setzen, der darauf abziele, vor Verbrechen zu warnen; es versteht sich, daß hierbei moralischen Gründen das Hauptgewicht zukommt, aber auch die Strafen, wodurch der Staat seine Verbote in Kraft erhält, müssen so scharf und tief eingeprägt werden, daß sie im Denken des Kindes sich festsetzen wie das Alphabet; wenn diese Unterweisung auch nicht auf den ganzen Bereich des Gesetzbuches ausgedehnt werden könnte. Wenn man aber richtige Bedenken hegt, Schulkinder auf diese Art in die Greuel des Lebens einzuführen, so vermehren solche Bedenken die Gründe, die ohnehin stark genug sind, für Exemtion der Schulkinder vom Strafrechte. Wenn man aber die Neuerung trifft, die strafrechtliche Verantwortung mit einem höheren Lebensjahre beginnen zu lassen, oder – wie ich vorschlage – sie an das Aufhören der Schulpflichtigkeit, also an den anerkannten „Eintritt ins Leben“ anzuknüpfen, so kann und soll man um so mehr eine gehörige Vorbereitung einrichten, um in jeder Weise den Gebrauch der zukünftigen Freiheit zu lehren und insbesondere die Folgen der besseren und schlechteren Handlungen in wahren und deutlichen Farben vorzustellen; wenn es nicht verhehlt werden muß, daß keineswegs die Tugend immer belohnt, das Laster immer bestraft wird, so kann doch die Erkenntnis lebendig gemacht werden, daß auch für das äußere Glück die Achtung vor dem Sittengesetze und die Vermeidung des Unrechtes eine tiefreichende Bedeutung hat; und in sol-

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chem Zusammenhange müßte die Strafe, womit der Staat gewisse Arten des Unrechtes bedroht, müßte die Erniedrigung des Menschen dargestellt werden, die der Aufenthalt in den Gefängnissen mit sich bringt. Man wendet ein: das wisse ein jeder von selbst? Wohl. Aber Wissen und Wissen, dunkles und allgemeines, oder deutliches und bestimmtes, ist zweierlei. Es wird ja auch nicht für überflüssig gehalten, christlichen Kindern im Konfirmanden-Unterricht die 10 Gebote zu erklären. Mädchen wie Knaben werden geheißen nicht zu begehren ihres Nächsten Weib, und was des Unsinnigen mehr ist.10 Dagegen frage man einen Jungen, der wegen Brandstiftung verurteilt worden, ob er nie gelernt habe, daß dies Sünde und Verbrechen sei und mit schwerer Strafe geahndet werde: er wird sehr oft mit gutem Gewissen antworten können: „Nie“. Jedenfalls geschieht aller dieser Unterricht jetzt auf eine Weise, die den Tatsachen des Lebens und dem Zustande der Seelen, die für das gegenwärtige Leben gerüstet werden sollen, völlig unangemessen ist. Gerade die Tatsache, in gedankenloser Jugend nicht bedacht und erkannt, geschweige denn gewürdigt, daß die Strafe nicht sich „abmachen“ läßt, sondern daß der einmalige Fall einen immer tieferen Fall regelmäßig zur Folge hat, – diese Tatsache, deren Wahrheit der Verbrecher durch bittere Erfahrung erkauft, kann nicht billig genug angeboten, nicht laut genug gepredigt werden, solange als es Zeit ist. Die Jugend, welche in das Leben eintritt, muß wissen, wie dieses Leben beschaffen ist; man mag ihr gestehen, daß die Höhen des Schönen und Guten darin schwer 10

Man vergleiche, was hierüber Goethe in den Wahlverwandtschaften seinem Mittler in den Mund legt. Auch hat dieser recht, daß in dem Ganzen des Moral-Unterrichtes den Verboten nur eine untergeordnete Rolle zukommt; er vergißt aber, daß man von ihnen als den Minimalforderungen ausgehen muß. In durchdachter und auf Erfahrung gegründeter Weise behandelt die Fragen der ethischen Unterweisung neuerdings F. W. Förster­– Zürich in seiner Schrift „Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche“, 1. – 7. Tausend. Berlin, Reimer 1904.

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sehr oft mit gutem Gewissen: In ProblemeVS nur: mit gutem Gewissen. Wahlverwandtschaften: Vgl. Goethe 1892: 402 f.: „Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei, als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen ... ‚Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote in der Kinderlehre wiederholen läßt.‘“. Jugendlehre: Während Tönnies in seiner Monografie auf das 1904 erschienene Buch von Förster explizit hinweist, konnte er es in seinem 1903 in „Deutschland“ erschienenen Aufsatz ProblemeVS naturgemäß noch nicht erwähnen. Stattdessen verwies er ganz allgemein auf verschiedene Aufsätze Försters, die u. a. in der Wochenschrift „Ethische Kultur“ erschienen waren.

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zu erklimmen sind – aber der kundige Führer soll auch vorher sagen, wo die Abgründe liegen und daß den Haltlosen kein Wehgeschrei rettet, daß keine Gnade ihm wieder emporhilft. – Wer in die Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen vollkommene Einsicht besitzt, wird sich über die Wirkung sogestalten Unterrichtes keinen Täuschungen hingeben. Aber diejenigen müssen das menschliche Gemüt übel kennen, die da nicht zugeben, daß Warnungen, wenn sie nur oft genug wiederholt, nur scharf genug geschliffen, nur kräftig genug angewandt werden, einige Wirkung haben müssen, daß ein Meister sogar mit solchem Werkzeug viel ausrichten wird. Ja, es ist gewiß: gerade jene gefürchtete und verlästerte Einsicht (daß der menschliche Willensakt bedingt ist wie jedes andere Ereignis) macht erst die bewußte und rationelle Behandlung des menschlichen Willens möglich. Dessen wesentliche Beschaffenheit läßt sich nicht verändern; aber Vorstellungen und Gedanken lassen sich hervorbringen, können gehegt, ernährt und fruchtbar gemacht werden, um wenigstens mitbestimmend auf die Handlungsweise einzuwirken. Es ist ein Feld der Versuche. Versucht kann in dieser Hinsicht noch alles werden. Und die Kunst des energischen Versuchens muß derjenige erlernen, der ein Lehrer der Jugend sein will. Dies ist sein Beruf und ist wichtiger als die genaue Erinnerung, welche Namen die Flüsse in Spanien tragen, welche Feld- und Raubzuge ein alter König unternommen habe: ein äußerliches Wissen, das die offizielle Weisheit, die in pädagogischen Dingen vorherrscht, noch immer für unerläßlich und für das wesentliche Merkmal eines tüchtigen Bildners der Jugend erachtet. – Jene Kunst muß also gelehrt und nur wer ihrer mächtig ist, darf zur Ausübung zugelassen werden; es ist aber wahrscheinlich, daß in dem zahlreichen und zu einem erheblichen Teile noch volksfrischen Stande der Gemeindeschullehrer nicht wenige Talente sich entdecken und ausbilden lassen, die den Moralunterricht und die Moralpredigt, auf wesentlich rationaler Basis, wieder zu einer sozialen Macht zu gestalten vermögen. Es versteht sich, daß dieser Unterricht für die weibliche Jugend eine besondere Methode annehmen muß und auch lieber Frauenhänden und -herzen übertragen werden sollte. – Immer wird der Ernst der Persönlichkeit und das lautere Vorbild am stärksten wirken, um gute Grundsätze einzuprägen und edle Gesinnung zu erwecken; demnächst darf ganz besonders von produktiver Tätigkeit und Übung, wenn sie nicht im Dienste eines Unternehmers oder Herrn, sondern zu eigenem Nutzen und Vergnügen geschieht, ein tiefgehender moralisierender Einfluß auf jugendliche Gemüter, wie und weil auf ihre leibliche Gesundheit, erwartet werden, ein Einfluß, den man bisher nur an verwahrlosten und Anstaltskindern methodisch erprobt hat. Aber ein wei-

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ter Spielraum bleibt nicht nur dem ethischen Geiste des Unterrichts, sondern auch der besonderen Unterweisung über Wesen und Wirkungen des Guten und Bösen, der eindringenden, begeisternden und erschütternden Rede dessen, der davon heilig erfüllt ist. Bleibe sie nur überwiegend hell und heiter, zum Leben und Tun, zur Freude und Hoffnung ermutigend!

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Der Gesetzgeber, welcher die Wirkung und also den Zweck des Gesetzes dem Zwecke der einzelnen Bestrafung voranstellt, wird nun darauf verzichten, besondere Normen für die Bestrafung jugendlicher Personen festzusetzen. Er wird mit dem Grundsatze der Gleichheit aller normalen Personen vor dem Gesetze Ernst machen. Nach dem geltenden Rechte soll auch, nachdem die Grenze überschritten, der jugendliche Mensch eine Reihe von Jahren hindurch nicht für „voll“ angesehen werden. Das jugendliche Alter ist ein Grund, die Strafe zu mildern, für den Gesetzgeber wie für den Richter; und der Richter soll (nach dem Strafgesetzbuche des Deutschen Reiches § 56) erwägen, ob im gegebenen Falle der Delinquent die zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner Handlung erforderliche Einsicht besessen habe; wenn er diese Frage verneint, so muß er den Angeschuldigten freisprechen. In Wirklichkeit aber geschieht die Freisprechung aus diesem Grunde in wenigen Fällen; das regelmäßige Ergebnis einer raschen Prüfung ist dies, daß der Übeltäter allerdings jene Einsicht besessen habe.11 Man darf die Frage erheben, welchen Maßstab wohl der Richter bei dieser Prüfung anzuwenden pflege; und ob wohl immer der Richter die zur Beurteilung dieses psychologischen Tatbestandes erforderliche Einsicht besitze; und endlich ob die der Regel nach bejahende Entscheidung auf einer Auslegung des Gesetzes beruhe, die den Sinn oder die Absicht des Gesetzgebers richtig treffe. 1. Die Betrachtung vieler Fälle und die Regelmäßigkeit jener Entscheidung selbst, wird ergeben, daß die Richter darum zu bejahen pflegen, weil sie finden, daß der Angeschuldigte bei Begehung der Tat sich als normaler, als vernünftiger Mensch bewiesen habe. Es wird etwa folgender Schluß gemacht: wenn der Junge (oder das Mädchen) so klug war, den Wert des Geldes (oder dergl.) zu kennen, wenn er so klug war, dass er den Augenblick, da er nicht beobachtet war, wahrzunehmen wußte, oder gar, daß er einen zusammengesetzten Plan entwerfen konnte – dann war er ohne Zweifel auch klug genug, um zu wissen oder zu 11

In Frankreich, dessen Rechte (dem Code pénal) wir jenes Kriterium (das „discernement“) entnommen haben, ist die Praxis merkwürdigerweise entgegengesetzt.

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Code pénal: D. i. das frz. Strafgesetzbuch von 1810.

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erkennen, daß er eine strafbare Handlung beging, daß er im Falle der Entdeckung eine Strafe erleiden müsse; ein Schluß, der fast immer richtig sein wird. 2. Was heißt es aber: die zu einer gewissen Erkenntnis erforderliche Einsicht „besitzen“? Der Ausdruck ist eine potenzierte Metapher; er ist zunächst aus dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens und des Privatrechtes übertragen, und hier doch auch ein sinnliches Bild für ein Verhältnis, das nur dem Denken zugänglich ist. Gleichwohl gilt jene dem täglichen Leben entnommene Anwendung als von selbst verständlich. Jedermann wird glauben, daß ein Richter die zur Beurteilung jenes psychologischen Tatbestandes erforderliche Einsicht ebenso „besitze“, wie die Richter die zur Erkenntnis von Strafbarkeit erforderliche Einsicht bei dem jugendlichen Delinquenten voraussetzen. Warum hegen wir jene für den Richter günstige Meinung? Die Analogie des materiellen Besitzes führt auf Erbschaft oder Erwerb als seine normale Bedingung. Wird Einsicht vererbt wie ein Vermögen? Offenbar keine fertige Einsicht, sondern nur die Fähigkeit, Einsicht zu erwerben. Im geistigen Leben ist kein Besitz denkbar an einem fertigen und der Leistung fähigen Vermögen, der nicht in irgend einem Sinne, durch mehr oder weniger bewußte Anstrengung und Übung erworben wäre; und als ein solches Vermögen muß auch jene Einsicht verstanden werden, die zu einer bestimmten Erkenntnis erforderlich sein soll, daher als ein erworbenes Organ, das zum entwickelten Menschen oder Richter gehört und unter gegebenen Bedingungen notwendigerweise gewisse Funktionen vollzieht. Der Richter – so denken wir – hat seine besondere Einsicht durch ein besonderes Studium erworben, durch Erfahrung seines Amtes vermehrt. Durch Studium und Erfahrung habe er solche Fälle beurteilen gelernt. Durch Studium? Macht das juridische Studium geschickt zum psychologischen Urteile? oder ist die Sache so einfach, wie sie in der vorerwähnten Schlußfolgerung erscheint, so daß es nur eines logisch geschulten allgemeinen Urteiles bedarf? Hat der Begriff der zu einer bestimmten Erkenntnis erforderlichen Einsicht psychologische Schwierigkeit nicht? 3. Ich sage: er hat solche Schwierigkeit. Denn die Frage hat einen andern Sinn, wenn die Erkenntnis als Akt stattfindet, wie im Falle des Richters, und wenn sie nur als eine mögliche betrachtet wird, wie im Falle des Delinquenten. Der Richter denkt jedenfalls über die Sache nach, dies gehört zu seiner eigentümlichen Tätigkeit, es mag mit Grund erwartet werden, daß er richtig denkt, wenn er die ... erforderliche Einsicht besitzt. Von dem Verbrecher kann – unter der entsprechenden Voraussetzung – nur verlangt werden, daß er richtig denkt; d. h. es hat einen vernünftigen Sinn, dies zu verlangen, wie man von einem, der gesunde Augen hat, verlangen kann, daß er zusehe, von einem

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Blinden nicht. Der Akt selber (des Erkennens) fand vielleicht – wahrscheinlich in den meisten Fällen – gar nicht statt. Mit Recht nimmt der Richter an, daß der Junge klug genug war, daß er wohl wußte: „diese Handlung ist strafbar“; wenn man ihn in dem Augenblicke gefragt hätte: was geschieht dir, wenn – ? oder: darfst du das? – so würde er richtig geantwortet, er würde sich erinnert haben, daß man ihm dann und wann von der Strafbarkeit des Diebstahls usw. gesprochen. Die Frage, ob er wirklich die Strafbarkeit erkannt hat, ist damit nicht erledigt. Um sich zu erinnern, um darüber nachzudenken, um also auch actu zu erkennen, ohne daß er von jemandem gefragt wurde – durch seine eigene Frage aufgefordert –, dazu gehörte vielleicht ein weit höheres, ein fester geronnenes Maß von Einsicht und von anderen Eigenschaften. Oder ist die Meinung des Gesetzgebers, daß aus dem Besitze immer die Tätigkeit gefolgert werden müsse? ist also dieser Schluß dem Richter vorgeschrieben, so daß er nur die Frage nach dem zur möglichen Erkenntnis erforderlichen Besitze aufwerfen darf? Die Meinung des Gesetzgebers scheint allerdings dahin zu gehen. Denn ihm ist ja daran gelegen, diesen Gedankengang anzuwenden: der normale und erwachsene Mensch denkt über Natur und Folgen seiner Handlung nach; er erkennt deren Strafbarkeit und will sie dennoch; eben dadurch wird er als Person strafbar. Darf nun von einem Halberwachsenen im gegebenen Falle als gewiß oder als hinlänglich wahrscheinlich angenommen werden, daß er in dieser Hinsicht schon den Erwachsenen gleich gewesen ist? – Es wäre dann nur deshalb nach dem Besitze anstatt nach dem Akte (ob der Angeschuldigte die Strafbarkeit erkannt habe) gefragt, weil jener leichter erkennbar ist. Der Gesetzgeber hat mithin selber sich in einem psychologischen Irrtume befunden. Wenn der Richter ihn nach dem Geiste, anstatt nach dem Buchstaben, auslegen darf, so wird er den Irrtum verbessern, wird also nach dem Maße und der Art von Einsicht forschen, die den Schluß, daß der Täter wirklich seine Handlung bedacht und ihre Strafwürdigkeit erkannt habe, unabweislich machen. Dann wäre dem Richter eine viel schwerere Aufgabe gestellt, die eine so tiefe Kenntnis der jugendlichen Seele voraussetzt, wie eher bei einem berufsmäßigen Pädagogen als bei einem Juristen zu erwarten sein möchte. Das höchste Gericht des Deutschen Reiches hat freilich für eine Auslegung nach dem Buchstaben sich entschieden: das Gesetz fordere nach seinem klaren Wortlaut nicht, daß der Angeklagte die Strafbarkeit ... eingesehen habe, sondern nur, daß er vermöge der ihm beiwohnenden Einsicht imstande gewesen sei, die Strafbarkeit zu erkennen.12 12 Vgl. Stenglein, Lexikon des deutschen Strafrechts. Berlin 1900. II, S. 965 ff.

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Daß ein klarer Wortlaut einen unklaren Gedanken bedeckt, scheint demnach bei modernen Gesetzen nicht vorzukommen? – Tatsächlich wird nun, soweit der Reichsgerichts-Entscheidung gemäß erkannt wird, die gemeinte Wohltat des Gesetzes nur ganz oder halb blödsinnigen Kindern zuteil, solchen also, die auch als erwachsene Personen nicht für zurechnungsfähig gelten dürfen. Es ist aber bekannt, daß sich manche Richter die Abweichung von Buchstaben und Geist der Bestimmung erlauben, auf Grund der moralischen Unreife des Kindes, die denn oft nur allzusehr durch seine gesamten häuslichen und übrigen Lebensverhältnisse dokumentiert wird, auf Freisprechung und Überweisung an eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt zu erkennen. Das Bedürfnis hierfür wird freilich nicht wegfallen, wenn die eigentlichen Kinder überhaupt nicht mehr dem Strafrichter vorgeführt werden. Ich behaupte aber, daß diesem Bedürfnisse nachgeben zu der Konsequenz führt, auf die Anwendung des Strafrechts überhaupt zu verzichten. Es kann in der Tat nur auf die intellektuelle Beschaffenheit des Individuums Rücksicht genommen werden. Daß die moralische ungenügend und schlecht ist, beweist in den meisten Kriminalfällen eben die Tat selbst, und daß diese Beschaffenheit ihre Ursache hat teils in angeborenen Anlagen, teils in übler Erziehung und Umgebung, können wir a priori wissen; wenn dies die Tat entschuldigen könnte, so müßten fast alle Taten entschuldigt werden. Das Entschuldigen ist Sache des Sittenrichters, aber nicht des Strafrichters. Was aber die intellektuelle Reife betrifft, so fällt der Grund, nach ihr bei jugendlichen Personen mehr als die älteren zu fragen, weg, wenn die Anwendung des Strafrechts auf Erwachsene eingeschränkt wird. Wer mit 15–16 Jahren soviel intellektuelle Reife, als dazu gehört, um die Strafbarkeit einer Handlung einzusehen, nicht besitzt, wird sie überhaupt nicht mehr erwerben; ob er die Handlung wirklich bedacht und ihre Strafbarkeit erkannt habe, ist doch nur dann von Bedeutung, wenn das Gesetz außer der Vorsätzlichkeit auch die Prämeditation, und überall nur, wenn es den Dolus erforderlich sein läßt; dann aber ist die Frage ebenso wichtig in bezug auf ältere wie in bezug auf jugendliche Personen. Überhaupt aber lassen sich sehr gewichtige Gründe dafür geltend machen, daß ein gesetzlicher Unterschied zwischen jugendlichen und älteren Personen auch in bezug auf Art und Dauer der Strafen nicht gemacht werde. Das geltende Recht geht, im Anschlusse an alte Überlieferung, von der pädagogischen Erwägung aus, daß der jüngere Mensch mit Nachsicht beurteilt

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Prämeditation ... Dolus: [lat.] svw. Vorbedacht ... Vorsatz.

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werden müsse. Der moderne Gesetzgeber sollte wissen, daß solche pädagogische Gesichtspunkte dem Wesen des Strafrechts fremd und seinem Zwecke zuwider sind. Er sollte die Frage immer an die Spitze stellen: welche Strafankündigungen wirken auf das Vorstellungsvermögen intellektuell-normaler Menschen am sichersten, um sie von den einzelnen Straftaten abzuhalten? wobei denn der Grundsatz gelten muß, daß über das im allgemeinen genügende Strafmaß nicht hinausgegangen werden muß, da eine völlige Unterdrückung niemals vom Strafgesetzbuch allein erwartet werden kann, und da in erster Linie die Höhe des öffentlichen Interesses an der Verhinderung der einzelnen Delikte maßgebend sein muß. Demnächst aber behaupte ich, daß der Gesichtspunkt und Zweck, von dem Betreten einer verbrecherischen Laufbahn abzuhalten, den Gesetzgeber bei seinen Drohungen gegen die einzelnen Straftaten leiten sollte. Denn dies ist ein öffentliches Interesse von allgemeiner Art, daher und als solches von viel größerer Bedeutung als das öffentliche Interesse, die meisten einzelnen Taten zu verhindern. Es ist freilich wichtig, auch durch das Strafgesetz darauf hinzuwirken, daß beim Bankier M nicht eingebrochen, und daß dem Handwerksgesellen N seine Barschaft nicht aus dem Koffer gestohlen, daß die arme Witwe O nicht um 10 Mk. beschwindelt werde; aber sehr viel wichtiger ist es, darauf hinzuwirken, daß der Bursche A nicht einen Entschluß fasse, in dessen Konsequenz er mit tödlicher Sicherheit sich zu einem gewerbsmäßigen Einbrecher oder zu einem unverbesserlichen Schwindler entwickeln wird. Es ist dem geltenden Strafrecht oft zum Vorwurfe gemacht worden, daß es ausschließlich gegen das Verbrechen gerichtet sei und um den Verbrecher sich nicht kümmere. Ich halte diesen Vorwurf so allgemein gestaltet, nicht für begründet. Das geltende Strafrecht kümmert sich allerdings um den Verbrecher, aber, wie ich behaupte, in einer ganz und gar unrichtigen Art und Weise. Die gesetzlichen Strafen, die auf Taten gesetzt sind, die im Rückfall begangen werden, beziehen sich ausschließlich auf die Persönlichkeit des rückfälligen Verbrechers und nicht auf die Tat als solche. Nicht anders ist es mit der gesetzlichen Zulassung „mildernder Umstände“. Dazu kommt noch die Gerichtspraxis, die auch über die „rückfällige“ Begehung der gleichen Straftat hinaus nach den „Vorstrafen“ in einer Herz und Nieren durchbohrenden Art zu forschen sich verpflichtet hält und nach der Menge und Schwere der Vorstrafen die angemessene Strafe innerhalb des gesetzlichen Spielraumes bemißt; die Gerichtspraxis, die ebenso die bisherige 2 5

und seinem Zweck zuwider: Nicht in ProblemeVS. abzuhalten: In ProblemeVS dagegen: abzuschrecken.

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Unbescholtenheit oder die Geringfügigkeit der Vorstrafen als mildernde Umstände gelten läßt oder doch bei Abmessung der Strafe zu Gunsten des Angeklagten in Betracht zieht. Daß der Übeltäter durch seine erste Strafe, daß er durch jede folgende, zumal wenn sie strenger ausgefallen ist, „gebessert“, d. h. zur Räson gebracht werde und von nun an, gleichsam gestärkt durch die Strafe, seinen freien Willen anders bestimme, zu gesetzmäßigem Handeln und insonderheit zur Enthaltung von eben der strafbaren Handlung, um derenwillen er bestraft worden ist: dies wird gleichsam als der normale, weil sein-sollende Fall angesehen, der Rückfall und überhaupt die neue Begehung irgend welcher Straftat als eine besonders ungehörige, rebellische Auflehnung, eine Hartnäckigkeit und ein Trotz des verbrecherischen Wollens, das eben durch diese Eigenschaften eine immer empfindlichere Bestrafung notwendig und berechtigt mache. Das Strafrecht ist von pädagogischen Absichten – neben seinen anderen Absichten, die sogar dadurch überschattet werden – durchzogen. Diese Pädagogik, möge sie an sich dem Strafrechte angemessen sein oder nicht, wird allerdings völlig zu Boden geschlagen durch die Tatsache, daß das Gefängnis den Willen eher verschlechtert als verbessert und daß eben die Straferfahrenheit die Hartnäckigkeit des antisozialen Willens erst erzeugt; abgesehen davon, daß sie eine andere Laufbahn einzuschlagen immer schwerer, endlich so gut wie unmöglich macht. Darum ist die Psychologie, die in jener Pädagogik enthalten ist, falsch. Eine allgemeine Erfahrung drückt sich in dem Spruche aus: Ce n’est que le premier pas qui coûte.13 Es wird daher auch pädagogisch richtig sein, mit aller Energie den ersten Schritt zu hemmen. Man darf den tiefen Unterschied nicht übersehen. Die Freiheitsstrafe, und schon die Möglichkeit einer unehrenhaften Tat öffentlich überführt zu werden, steht entweder vor dem Gedanken als ein 13

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„Hüt’ dich vor dem ersten (Fehl-) Tritte, denn mit jedem neuen Schritte ist ein neuer Fall getan“ ist eine deutsche Fassung dieses Gedankens, die ich in meiner Jugend oft vernommen habe.

das eben durch diese Eigenschaften ... berechtigt mache: In ProblemeVS statt dessen: der eine immer mehr empfindliche Bestrafung herausfordere. Ce n’est que ... coûte: Anspielung auf die Länge des Weges, die der auf dem Montmartre enthauptete St. Dionysius bis nach Saint-Denis mit seinem Haupt in den Händen zücklegen musste. Das Zitat lautet korrekt: Il n’y a que le premier pas qui coûte (frz.: Es kommt nur auf den ersten Schritt an). Der Ausspruch stammt von der Marquise du Deffand an den Kardinal von Polignac; sie wiederholt ihn in einem Brief an d’Alembert vom 7. 7. 1763 (vgl. Larousse 1870). Die folgende Fußnote fehlt in ProblemeVS.

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absolut Abscheuliches, als etwas, das unter allen Umständen vermieden werden muß, wie der Tod oder mehr als der Tod. „Lieber tot als Sklave“, sagt ein friesisches altes Wort; und „das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes ist die Schuld“, ist die entsprechende Anschauung des philosophischen Idealismus. Solange als von diesem Gefühle, diesem Willen, noch ein Rest vorhanden ist, solange wird auch die gefürchtete Dauer der Freiheitsstrafe nicht ohne Wirkung aufs Gemüt bleiben: wo das Gefühl ganz vorhanden, ist die Dauer verhältnismäßig gleichgültig; aber im gewöhnlichen Falle kommen die Schrecken zusammen und bilden gleichsam einen Knäuel: 1. Schande – schon in der Anklage, der Untersuchung, der Verurteilung –, 2. Unannehmlichkeit des Verlustes der Freiheit, 3. deren Dauer. Oder aber es wird mit der wahrscheinlichen Strafe kalten Sinnes gerechnet, als mit einem relativen Übel, das allerdings quantitativ auch nach Dauer sich bemißt, aber viel mehr als diese Unterschiede bedeuten, hat die Gefahr, wie jede Gefahr, an Kraft verloren dadurch, daß ein dreister Kopf sie ins Auge faßt und ihre Assoziation mit anderen Übeln, die sie unendlich scheinen ließ, gelöst hat. Er nimmt das Risiko auf sich. Und diese große Verwandlung tritt zwar oft erst allmählich, oft aber auch plötzlich ein, und immer wird sie dadurch am stärksten befördert, daß das Übel einmal bestanden, also in seiner isolierten Gestalt erfahren wurde. Die Absicht, durch Art und Dauer der Strafe abzuschrecken, wird nun in der Regel versagen, dagegen wird das Interesse, der Strafe zu entgehen, zu erhöhter Vorsicht, größerer Planmäßigkeit, engerer Verbindung der Genossen des Verbrechens anregen. Es handelt sich dann um einen Kampf – einen Kampf, in dem Gericht und Polizei nur allzuoft den kürzeren ziehen. Im anderen Falle handelt es sich darum, feindlichen Rekruten den Kampfplatz zu versperren. Und hier ist es doch nicht gleichgültig, ob man einen niedrigen Zaun errichtet oder eine Palisade mit spitzen Nägeln beschlägt. Daher sollte gerade die erste Kriminalstrafe so beschaffen sein, daß sie nicht nur als gerichtliche Strafe, sondern auch wegen ihrer Art und Dauer gefürchtet wird. Wohlgemerkt: die erste Kriminalstrafe; denn nun gilt es, diejenigen Straftaten herauszufinden und zu charakterisieren, die teils durch ihre Schädlichkeit und Gefährlichkeit an und für sich, teils durch die Umstände, unter denen sie 2

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„lieber tot als Sklave“: „Lewer duad üs Slaw“ – dieser friesische Wahlspruch ist neueren Forschungen zufolge erst in dem Jahrfünft zwischen 1839 und 1844/45 entstanden (vgl. Bülck 1951), also kein „altes“ Wort. „ das Leben ... größtes ist die Schuld“: Schlusssatz in Schillers ‚Braut von Messina‘ (Vers 2838 f. ; 1872c: 128), dort: ... der Uebel größtes aber ist die Schuld. diesem Willen: Diese Einfügung ist in ProblemeVS nicht enthalten.

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als hervorgehend aus einem verbrecherischen Milieu und als Symptome einer beginnenden verbrecherischen Lebensweise erscheinen, den Namen des wirklichen Verbrechens verdienen. Als Erkenntnisgrund für diese so wichtige als schwierige Unterscheidung kann auch, sei es als Wiederholung derselben oder einer verbrecherischen Handlung überhaupt, der „Rückfall“ von erheblicher Bedeutung sein. Außerdem aber sehe ich keinen Grund, z. B. das furtum tertium (Diebstahl im wiederholten Rückfall) grundsätzlich mit schärferer Strafe zu bedrohen als das furtum primum. Für den Bestohlenen ist es völlig gleichgültig, ob der Dieb ein Neuling oder ein Vorbestrafter ist; und dem Staat kann es auch gleichgültig sein, ob der Vagabund zum ersten oder zum dritten Male ein Paar Stiefel, die er unbewacht auf einem Hausflur findet, „mitnimmt“: er ist, war und bleibt ein Vagabund, sicherlich eine unerfreuliche Spezies, unerfreulich wie andere liederliche Leute, mögen sie auch wie die „Harmlosen“, in Ministersalons empfangen werden – dem Verbrecherwesen und Verbrechertum stehen diese edlen Jünglinge nicht selten näher (man erinnere sich, mit wem der Prinz Soundso Arm in Arm gesehen wurde) als jene armen Teufel. Der Vagabund ist seiner ganzen Art nach kein Verbrecher im strengen und wissenschaftlichen Sinne dieses Wortes, auch wenn er zum fünften Male „eine fremde bewegliche Sache in rechtswidriger Absicht“ sich aneignet. Die Aufgabe, der Vagabondage zu wehren, ist völlig verschieden von der Aufgabe, das Gaunertum zu bekämpfen. Die Vagabondage und mit ihr das kleinere Eigentumsvergehen ist wesentlich bedingt durch die jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnisse; sie sind geradezu eine Funktion der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, also der industriellen Krisen, an denen, soweit überhaupt einzelne Menschen, sicherlich nicht diese Menschen schuld sind, die infolge davon zum Wander- und Bettelstabe greifen müssen und dann freilich um so rascher auch in moralischen Verfall geraten, je mehr sie willenschwach, stumpfsinnig und träge, teils von Haus aus – infolge von Krankheiten oder angeborenen Defekten –, teils durch ihre bisherige Lebensweise und ihre ganze soziale Lage geworden sind; was nicht von allen, aber von sehr vielen gilt. Gegen diese Erscheinungen ist mit dem Strafgesetze so gut wie gar nichts auszurichten. Der Gesetzgeber, der sich dessen bewußt ist, steht daher hier vor einer völlig anderen Aufgabe als dem ganzen Gebiete des Verbrechens

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furtum tertium: [lat.] svw. der dritte Diebstahl; entsprechend dann der erste Diebstahl (furtum primum). wie die „Harmlosen“: In ProblemeVS dagegen: den obersten Schichten angehören und, wie etwa die „Harmlosen“.

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gegenüber. Die Beobachtung und unmittelbare Bekämpfung der Vagabondage ist wesentlich Sache der Polizei – das Strafrecht ist nur eines ihrer Hilfsmittel, und schon heute ist die einzige dauernde Unfreiheit, die über Vagabunden als solche verhängt werden kann, die „Nachhaft“ (bis zu 2 Jahren ausdehnbar), nicht eine gerichtliche Strafe, sondern eine polizeiliche Maßregel, die freilich in ihrer Ausführung noch allzusehr einer Strafe ähnlich sieht. Wenn aber ein Teil solcher „Korrigenden“ mit Landeskulturarbeiten, Aufforstungen usw. beschäftigt wird, so ist damit einer der Wege beschritten, auf denen von vornherein – auch ehe strafbare Handlungen, wie Betteln, Landstreicherei, qualifizierte Obdachlosigkeit, kleine Mausereien und andere Früchte der Not und des Elends vorliegen – brachliegende Arbeitskräfte mit möglichst geringer Einschränkung der persönlichen Freiheit und unter so sehr als möglich günstigen Arbeitsbedingungen, von Staats und Gemeinde wegen in einer wenn nicht rentablen, so vielleicht um so mehr produktiven und nützlichen Weise verwertet werden sollten. Es gilt hier, das Strafrecht durch radikale Reformen des Arbeitsrechtes überflüssig zu machen. – Auch das geltende Recht macht, nach dem Vorgange der Carolina, einige tiefgehende Unterscheidungen, wodurch eine prinzipiell andere Auffassung desselben Deliktes, je nach seinem Charakter, getroffen werden soll. Vor allem in bezug auf den Diebstahl: einfacher Diebstahl soll mit Gefängnis, schwerer Diebstahl mit Zuchthaus bestraft werden; wenn aber bei schwerem Diebstahl „mildernde Umstände vorhanden“ sind, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 3 Monaten ein. Daneben aber gilt allgemein, wenn der Angeschuldigte weniger als volle 18 Jahre alt ist, daß Gefängnisstrafe an Stelle der Zuchthausstrafe tritt, und daß nicht mehr als die Hälfte des Höchstbetrages der angedrohten Strafe bestimmt werden darf. Diese gesetzlichen Milderungen sind allerdings, wenn man auch 12–14jährige Kinder verurteilen muß, eine Gunst, die durch Humanität geboten ist. Wenn aber diese Verurteilungen abgeschafft werden, so sehe ich keinen ausreichenden Grund mehr dafür. Ich halte sie vielmehr für außerordentlich bedenklich und anfechtbar. Von frechen Gemütern können sie aufgefaßt werden als eine Prämie, die darauf gesetzt wird, Verbrechen vor Ende des 18. Lebensjahres zu begehen. Wer die Denkungsart loser Buben kennt, weißt, daß unter ihnen solche Reden umgehen, wie die: „im schlimmsten Falle geht es uns nicht an den Kragen, solange wir das Alter nicht haben, können sie uns nicht viel tun“. Was die moralische Berechtigung der Strafvollstreckung betrifft, so vermag ich, wenn es sich um ein durchaus ver 7

„Korrigenden“: [lat.] die Zurechtzuweisenden, Bezeichnung für Arbeitshausinsassen.

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dorbenes Subjekt handelt, keinen erheblichen Beweggrund zu finden, warum ein 16–17jähriger anders als ein 18–19jähriger Mensch behandelt werden sollte. Allerdings müßte an Stelle der Todesstrafe, wenn sie generell behalten wird, für alle jugendlichen Personen, das würde nun aber heißen für alle, die unter 25 oder wenigstens die unter 21 Jahren stehen, lebenslängliche Deportation treten; sie würde mindestens ebenso sehr gefürchtet werden und den ethischen Bedenken nicht unterliegen, die der Hinrichtung so junger Menschen ohne Zweifel entgegenstehen; eine Massendeportation, die mit so großen Schwierigkeiten und Übeln verknüpft ist, daß man bekanntlich bei uns die ganze Strafart für unanwendbar hält, würde hieraus nicht folgen; für die wenigen Fälle könnten wohl geeignete Vorkehrungen getroffen werden; wenn als die wesentliche Absicht festgehalten würde, sie zu verhindern, Gewohnheitsverbrecher zu werden und sie um dieses auch für sie selber heilsamen Zweckes willen für immer oder doch für möglichst lange Dauer aus dem Vaterlande zu entfernen. Was aber das „Zuchthaus“ betrifft, so verneine ich ferner, daß guter Grund besteht, den Menschen erst vom 19. Jahre an für „zuchthausfähig“ zu halten. Wie die Dinge liegen, sind die praktischen Unterschiede zwischen Gefängnis- und Zuchthausstrafe sehr gering, außer daß in der Regel die Zuchthaus-Anstalten moderner, hygienisch besser ausgestattet und in größerem Umfange mit Einrichtungen für Isolierung versehen sind – lauter Eigenschaften, die sie für jugendliche Personen tauglicher machen; die Erschwerungen, die in der demütigenden Anrede (des Duzens) und in der Zulässigkeit der körperlichen Züchtigung liegen, kommen für jugendliche Personen nicht in Frage, da sie auch in Gefängnissen dieselbe Behandlung finden. Wenn man aber meint, daß Sechzehnjährige noch mehr Hoffnung lassen als Achtzehnjährige, und deshalb Bedenken trägt, jenen die Unehre anzuhaften, die im Volksbewußtsein mit der Zuchthausstrafe verbunden ist, so hängt man sich hier, wie auch sonst, viel zu ängstlich an die Frage: wie wirkt die jedesmalige Strafe und ihr Vollzug auf den Bestraften? anstatt der viel wichtigeren Frage den Vortritt zu lassen: wie wirkt die Gefahr, einer solchen Strafe zu verfallen, auf die Nichtbestraften? Auch die erste Frage ist bedeutsam genug; ich bezweifle aber stark, ob sich durch irgendwelche staatliche Strafe insbesondere durch eine Freiheitsstrafe irgend so etwas wie „Besserung“ des Bestraften erzielen läßt – man pflegt jetzt auf moralische Besserung zu verzichten und will an 15

wenn als die wesentliche Absicht ... aus dem Vaterlande zu entfernen: In ProblemeVS dagegen ohne Hervorhebung: wenn als der wesentliche Zweck festgehalten würde, sie bürgerlich tot zu machen und für immer aus dem Vaterlande zu entfernen.

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„bürgerlicher“, als deren Ausdruck man den Nicht-Rückfall ansieht, sich genügen lassen. Ich behaupte aber allgemein: Individuen, auf welche die Vorstellung der Freiheitsstrafe nicht hemmend wirkt, lassen auch durch deren Erfahrung sich nicht hemmen. Im einen wie im anderen Falle hoffen sie, nicht „gefaßt“ zu werden, und haben zu dieser Hoffnung immer Grund genug. Wenn solche, die durch Naturell und Charakter und durch ihre soziale Lage – beide Gruppen von Faktoren wirken regelmäßig zusammen – die entschiedene Tendenz zu bestimmen Arten gesetzwidriger Handlungen haben, nicht rückfällig werden, so wird man dies nicht der Straferfahrung zuschreiben dürfen – da Naturell und Charakter sich nicht verändern, es sei denn durch hohes Lebensalter, so kann man fast immer auf eine Veränderung der sozialen Lage schließen: dazu wäre aber auch zu rechnen, wenn etwa ein Dieb Insasse von Hospitälern oder als Invalide Stammgast der Landstraße wird. Schon der Ausdruck „rückfällig“ ist irreführend; er ist der Klinik entnommen. Wer eine akute Krankheit bestanden hat, erleidet wohl einen Rückfall, sehr wider seinen Willen, trotz der Sorgfalt des Arztes und der Krankenwärter. Wenn man nun auch die Vergleichung der Strafe mit einem Heilverfahren zulassen wollte, so hätte man doch kaum jemals ein Recht zu sagen: der Verbrecher sei in der Genesung gewesen. Der sogenannte Rückfall ist bei Dieben, Räubern, Betrügern eine Rückkehr zu ihrer gewohnten, für sie normalen Lebensweise, die sie durchaus mit Willen und nicht erst durch die neuen Straftaten, sondern sobald als sie die Freiheit gewinnen, wieder aufnehmen; oft sind die neuen Delikte nur gelegentliche, aber regelmäßige Betätigungen eines Berufs oder doch Quasi-Berufs. Eher vergleichbar mit dem Rückfall in eine Krankheit sind die nicht minder regelmäßigen Wiederholungen strafbarer Handlungen, die wesentlich aus Schwäche, gegen die eigenen Vorsätze, Überzeugungen, Gewissensvorwürfe (insofern also gegen den eigenen Willen) erfolgen, wie zum Teil bei den Verfehlungen der Trinker und Lüstlinge der Fall ist. Die jedesmalige einzelne Bestrafung hat ihren hauptsächlichen Wert nach außen hin als Verwirklichung der Strafdrohung, als ein Fall, der gegen die Hoffnung des Durchschlüpfens zeugt; in bezug auf den bestraften wirklichen Verbrecher muß ihr ganzer Wert in die, wenn auch nur temporäre, Ausscheidung gesetzt werden, die ihn in zwiefacher Weise unschädlich macht: 1. direkt, d. h. unfähig, in der bisherigen Weise zu delinquieren, 2. indirekt, d. h. unfähig, als Infektionsherd zu wirken. Denn, obgleich auch innerhalb der Strafanstalten Gelegenheit zu schlechtem Einflusse auf vergleichungsweise unschuldige Mitinsassen nicht fehlt, und sicherlich bisher nicht mit gehöriger Anspannung versperrt worden ist, so ist doch der schlechte Einfluß, den

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der Verbrecher in der Freiheit auf seine Umgebungen ausüben kann, weit bedeutender und gefährlicher. Auch aus diesem Grunde halte ich für ratsam, ja notwendig, daß für eigentliche Verbrechen, insbesondere für Straftaten, die durch Art und Ausführung den Rekruten des Gaunertums verraten, auch die erste Freiheitsstrafe, auch gegen jugendliche Personen, von möglichst langer Dauer sei. Über die Unzweckmäßigkeit, ja Schädlichkeit der kurzen Gefängnisstrafen herrscht allgemeine Übereinstimmung. Die Führer des neuen Kurses im Strafrecht haben im Grunde wohl dasselbe Ziel, das hier bezeichnet wird, im Auge, wenn sie jugendliche Verbrecher in „Erziehungsanstalten“ schicken wollen. Ich halte Erziehungsanstalten, die erwachsene Personen erziehen sollen, für ein Unding; entweder sie werden mit einem täuschenden Namen geschmückte Strafanstalten; oder sie werden doch, nicht minder als diese, Brutstätten von Lastern; und nebenher (was aber auch die Strafanstalten sein wollen) Einrichtungen zur Ergänzung des Schulunterrichts, einer Ergänzung, deren moralisierender Erfolg sehr fragwürdig bleibt. Ich lasse durchaus den Nutzen und Wert der Fürsorge- oder, wie ich lieber sage, Pflegeerziehung für Kinder gelten; hier aber bilden strafbare Handlungen, die von diesen Kindern begangen werden, nur einen der Erkenntnisgründe für deren Notwendigkeit, wie in den neueren Gesetzen, auch in dem preußischen vom 2. Juli 1900, zum Ausdrucke gekommen ist. Auch liegt mir nichts ferner, als den Bemühungen geistlicher und weltlicher Menschenfreunde um das sittliche Wohl von Sträflingen wehren zu wollen. Ja, ich halte für sehr erwünscht, daß alle Strafanstalten in dem Sinne zu Erziehungsanstalten umgewandelt werden, daß jede unnötige Strenge und Härte, jede pharisäische Verachtung und Demütigung der Schuldigen ganz und gar daraus verbannt und durch einen Geist des Wohlwollens, des Mitleides und der Hilfe noch weit mehr, als es schon geschehen ist, ersetzt werde. Das hauptsächliche, vielleicht das einzige Erziehungsmittel aber, an das sich irgendwelche Hoffnungen wenigstens für jugendliche Taugenichtse knüpfen lassen, ist die Gewöhnung an Arbeit und die Förderung der Lust zur Arbeit. Und da in dieser Hinsicht die Arbeit in Garten und Feld einen Wert hat, der den Wert aller anderen Arbeit übertrifft, so sollte es Grundsatz alles Strafvollzugs sein, dieser Art der Arbeit so große Ausdehnung zu geben, als sich mit der Rücksicht auf Ordnung und Disziplin, auf die Arbeitsfähigkeiten der Gefangenen und mit anderen Rücksich-

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einen Wert hat, ... Ausdehnung zu geben: In ProblemeVS: bekannte große Vorzüge hat, so sollte es Grundsatz alles Strafvollzuges sein, dieser so große Ausdehnung zu geben.

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ten irgendwie vertragen möchte. Der beste Kenner des Gefängniswesens14 erhebt freilich bedeutende Einwände gegen diesen Arbeitsbetrieb, sofern er „außerhalb der Gefängnisse und der dazu gehörigen umfriedeten, gegen den Verkehr mit der freien Bevölkerung abgeschlossenen Besitztümer“ stattfinden sollte; der ernste Zwang, den die Freiheitsstrafe bedeuten müsse, gehe verloren, die Gefangenen fühlten sich zu heimlichen oder gewaltsamen Fluchtversuchen geradezu herausgefordert, der ungehinderte Verkehr der Gefangenen untereinander werde befördert. Anderswo meint der gelehrte Praktiker, es sei ohne Bedeutung, daß – nach unserem Strafgesetzbuch – der zu Zuchthausstrafe Verurteilte zu solchen Arbeiten (außerhalb der Anstalt), ohne seine Zustimmung, der zu Gefängnisstrafe Verurteilte nur mit seiner Zustimmung herangezogen werden dürfe. Denn „90 Proz. aller zu Gefängnis oder Zuchthaus Verurteilten werden die Arbeit außerhalb der Anstalt als eine ganz besondere Vergünstigung betrachten, weil sie den Ernst der Freiheitsstrafe fast bis zum Verschwinden mildert“ (so daß an ihrer Einwilligung nicht zu zweifeln sei). Ich würde diese Milderung für einen ebenso geringen Schaden halten, wie alle übrigen Milderungen und Verbesserungen des Strafvollzuges, an denen die kleinbürgerliche Meinung als an törichtem „Humanitätsdusel“, der die Gefängnisse zu Palästen mache, Anstoß nimmt. Aus dem Gesichtspunkte der Kriminalpolitik betone ich vor allem diesen großen Vorteil: alles, was wir der Freiheitsstrafe an Schrecken nehmen, können wir ihr an Dauer zusetzen, und nur an der Dauer, nicht an der – den Rückfall keineswegs unwahrscheinlicher machenden – Strenge hat die Gesellschaft ein starkes Interesse. Außer den schon erwähnten Wirkungen hat die Freiheitsstrafe im Verhältnisse ihrer Dauer noch den Wert, daß für diese Zeit die Fortpflanzung des Verbrechers und der Verbrecherin verhindert ist. Überhaupt aber bleibt ein hinlänglich schweres Übel die Entziehung der Freiheit ihrem Wesen nach, zumal für jüngere Menschen, und es braucht nicht durch die Art, wie das Übel geltend gemacht wird, eine besondere Intention auf Schmerzerregung im Sinne eines züchtigenden Ernstes hinzukommen. Es genügt schlechthin, daß das Übel in der Vorstellung – nicht denen, die doch durch überstarke Motive und Umstände zum 14

Krohne, Gefängniskunde S. 400 f.

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Kenner des Gefängniswesens: D. i. der Berliner Strafanstaltsdirektor Karl Krohne; vgl. folgendes Zitat in: Krohne 1889: 400 f. „90 Proz. ... Verschwinden mildert“: Vgl. ebd.: 224. verhindert: In ProblemeVS steht statt dessen: behindert.

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Verbrechen getrieben werden, sondern – der großen Menge derer, die außerdem in Versuchung stehen, Verbrechen zu begehen, groß genug erscheine, und für diese Wirkung wird immer die Schande, die der Freiheitsstrafe an sich zwar wenig, wohl aber der Freiheitsstrafe wegen schändlicher Vergehungen und ganz besonders der Zuchthausstrafe in der öffentlichen Meinung anhafet, von wesentlicher, ja entscheidender Bedeutung sein, ihr zunächst aber muß die Langwierigkeit ins Gewicht fallen, wenn sie auch für den Besitzlosen zumeist verhängnisvoller wirkt als für den Besitzenden (dagegen ist für diesen wiederum die Unannehmlichkeit größer). Am wenigsten vernichtend ist aber eine langwierige Freiheitsstrafe für den noch jungen und ledigen Mann.Wenn wir um der Abschreckung willen eine solche auf das erste wirkliche Verbrechen setzen müssen, so können wir auch die Verwirklichung der Drohung gerade an einem jüngeren Menschen am leichtesten verantworten; denn solche Strafe wird, richtig vollzogen, noch am ehesten zu seinem Besten dienen. Von einer fünfjährigen Zuchthausstrafe würden die ersten zwei Jahre, wenn ich bestimmen dürfte, in Isolierhaft, aber unterbrochen – nicht bloß durch Spaziergänge im Gefängnishofe, sondern durch Arbeiten im Freien – zuzubringen sein; der Rest sollte mehr den Charakter des gezwungenen Lebens in einer Arbeiter-Kolonie tragen, die Gefangenen würden also wesentlich für öffentliche Arbeiten verwandt werden, und das Prinzip müßte dabei obwalten, das Quantum und Quale der Nötigung immer mehr zu verringern und so sehr als möglich überflüssig zu machen; auch Krohne gibt zu (a. a. O.), es könne, unter gewissen Kautelen (für die Disziplin) diese Art der Beschäftigung „für die zu längerer Freiheitsstrafe Verurteilten eine passende Vermittelung des Übergangs zur Freiheit werden“. Die Grundgedanken des irischen oder progressiven Systems

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(dagegen ist ...) ... und ledigen Mann: In ProblemeVS dagegen ohne die eingeklammerte Passage: Am wenigsten vernichtend ist sie aber gerade für den noch jungen und ledigen Mann. auch Krohne gibt zu.: Vgl. Krohne 1889: 401. Kautelen: [lat.] svw. (vertraglicher) Vorbehalte, Vorsichtsmaßregeln. irischen oder progressiven Systems: Ein auf Walter Croftons Resozialisierungsgedanken zurückgehendes vierstufiges Strafvollzugssystem, das seit 1854 die Vorteile der Einzelhaft unter Vermeidung ihrer Nachteile beizubehalten suchte: (1) Einzelhaft von maximal neun Monaten, (2) gemeinschaftliche Zwangsarbeit mit Einzelunterbringung nur bei Nacht, (3) Zwischenanstalt im gewerblichen oder landwirtschaftlichen Bereich (intermediated prison), (4) bedingte Entlassung. Entsprechend seiner Führung in der zweiten Stufe erhält der Häftling sogenannte Marken und kann dadurch seine Situation verbessern (Markensystem).

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sind das Beste, was für den Vollzug der Freiheitsstrafe vorgeschlagen oder versucht worden ist. Wenn aber der genannte treffliche Autor hinzufügt, es könne dem Gemeinwesen durch jene Strafmethode „ein großer Vorteil erwachsen, indem nützliche Anlagen, die unter Verwendung freier Arbeiter zu große Kosten verursachen würden und deshalb unterbleiben, durch die Gefangenen um einen billigen Preis hergestellt werden“, so meine ich vielmehr, daß es für hinlänglichen Weitblick auch finanziell eine weisere Politik sein würde, auf alle fiskalischen Vorteile beim Strafensystem zu verzichten und hingegen die allmähliche Befreiung auch dadurch zum Ausdrucke zu bringen, daß die Geldlöhne den normalen Löhnen für gleichartige Arbeit immer mehr angenähert werden – mit billigster Anrechnung des Obdachs und der Verpflegung – um ein möglichst erhebliches, zinsbar anzulegendes Peculium für jeden Gefangenen anzusammeln. Diese kleinen Vermögen würden zugleich eine Bürgschaft bilden, indem Abzüge davon – zugunsten irgend eines gemeinnützigen Zweckes – wirksame Disziplinarstrafen bilden könnten und im Falle der Flucht der ganze Betrag verfiele. Ferner ist schon bei dem gegenwärtig vorherrschenden System, wo die „Arbeitsprämien“ sehr winzig sind, von großer Wichtigkeit, daß nach der Entlassung – zumal wenn die vorläufige und bedingte Entlassung gewagt wird – die Geldbeträge, die dem Entlassenen über den Aufwand für Kleider, Reisekosten usw. verbleiben, dem Leichtsinnigen, Törichten nicht zum Verderben werden, wie es tatsächlich sehr oft der Fall ist. Es gibt ja nicht wenige junge Leute – auch in der wohlhabenden Klasse –, deren schlimmster Fehler der ist, daß Geld in der Tasche sie liederlich macht. Der befreite Gefangene, der in eine lebhafte Stadt zurückkehrt, ist wie der Seemann im Hafen. „Daher bestimmen fast überall die Gefängnisordnungen, daß ... der Überschuß den Orts- bezw. Polizeibehörden oder den Fürsorgevereinen zu übersenden ist ... Diese Bestimmungen werden indessen nur sehr mangelhaft ausgeführt, Behörden und Vereine händigen das Geld möglichst rasch aus, um den unbequemen Forderer los zu werden.“ (Krohne S. 422). Schwierig ist ohne Zweifel auch diese Seite des Problemes. Die langwierigen Freiheitsstrafen haben ohnehin das Übel im Gefolge, daß sie den Gefangenen der eigenen Führung seiner Angelegenheiten entwöhnen und ihn dem Leben „draußen“ entfremden. In vielen Fällen könnte hier geholfen werden, wenn der Staat oder eine andere öffentliche Körperschaft in der Lage wäre, dem Entlassenen ein freies Arbeitsverhältnis anzubieten, und zwar örtlich und sachlich 6 13

„... billigen Preis hergestellt werden“: Vgl. Krohne 1889: 401. Peculium: [lat.] Vermögen.

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möglichst fern von allen Versuchungen des Rückfalles, zugleich aber möglichst gesichert und unter mindestens normal-günstigen Bedingungen. Wenn diesen Arbeitsverhältnissen ein etwas patriarchalischer Charakter beiwohnte, der sie für den unbescholtenen, zumal den „klassenbewußten“ Arbeiter wenig anziehend machte, so wäre das für jene moralisch schwachen und immer gefährdeten Individuen kein Schade. Wenn es auf diese Weise gelänge, einem jugendlichen Spitzbuben über die leichtsinnigsten Jahre, also bis etwa zum 25. hinwegzuhelfen, und man ihm dann noch helfen möchte, mit seinen Ersparnissen in einem fernen Lande – wäre es auch in einer deutschen Kolonie – sich eine neue Heimat zu begründen, so gäbe ein so langes und zusammengesetztes Heilverfahren wohl einige Aussichten auf „Besserung“. Die bisherigen Versuche in dieser Richtung sind völlig unmethodisch und in der Wurzel verfehlt. Sie machen ganz regelmäßig den geistlichen oder weltlichen „Vereinsbruder“ zur willkommenen und hinterher verlachten Beute des frechen und heuchelnden Schwindlers.

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F. v. Liszt hat – wie der Sache nach schon erwähnt wurde – das von ihm und seinen Freunden aufgestellte kriminalpolitische Programm auf diese zwei Hauptforderungen zurückgeführt: 1. Erziehende Behandlung der Besserungsfähigen. 2. Sicherung der Gesellschaft gegenüber den unverbesserlichen und gemeingefährlichen Verbrechern. „Ob man diese sichernden und jene bessernden Maßnahmen als Strafen im technischen Sinne des Wortes bezeichnen und behandeln will oder nicht, ist zwar von großer wissenschaftlicher, aber von ganz geringer legislativer Bedeutung.“ Der berühmte Kriminalist leitet einen Aufsatz mit diesen Worten ein, worin er den zweiten Punkt dieses Programms unter dem Titel „Das gewerbsmäßige Verbrechen“ behandelt, und nach lehrreichen, bündigen Erörterungen über „die heutige Gestaltung des gewerbsmäßigen Verbrechertums“ und über „das gewerbsmäßige Verbrechen im geltenden Recht“ feststellt, daß dem Gesetzgeber gerade die Haupttypen des heutigen gewerbsmäßigen Verbrechens völlig fremd geblieben sind: der gewerbsmäßige Diebstahl und der gewerbsmäßige Betrug; daß also die gefährlichste Erscheinung des heutigen Verbrechertums dem deutschen Strafgesetzbuch unbekannt ist. Nach einem – freilich sehr anfechtbaren aber zur Sache nicht direkt erheblichen – Abschnitte über „die Ergebnisse der Kriminalstatistik“ gelangt er sodann zu dem Satze: „die Sicherung der Gesellschaft verlangt, daß diese unsozialen Elemente in die Unmöglichkeit versetzt werden, der Gesellschaft zu schaden“ und folgert daraus – da von Todesstrafe und Deportation „aus hier nicht interessierenden Gründen“ abgesehen werden müsse –, daß eine grundsätzlich bis zum Lebensende fortdauernde Einschließung „das einzig Richtige“ sei. Dabei müsse die Revision der Feststellung offen gehalten werden; vielleicht genüge es, die bedingte Entlassung organisch in den Strafvollzug einzugliedern und 9 20

„... geringer legislativer Bedeutung“: Vgl. Liszt 1901: 122. gelangt er sodann zu dem Satze: Tönnies zitiert sehr ungenau; bei Liszt 1901: 138 heißt es: Die Sicherung der Gesellschaft verlangt, daß diese antisozialen Elemente in die Unmöglichkeit versetzt werden, der Gesellschaft zu schaden. Da es wohl ausgeschlossen ist, daß wir die sämtlichen Mitglieder des Verbrechergewerbes hängen oder köpfen, und da die Deportation aus den verschiedensten hier nicht interessierenden Gründen für sie nicht in Frage kommen kann, so bleibt nichts übrig, als Ausscheidung aus der Gesellschaft durch Freiheitsentziehung.

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auf die lebenslang Verurteilten auszudehnen. Wenn man aber – wie von den Vertretern der „klassischen Richtung“ zu erwarten stehe – die grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafe für zu schwer halte, so möge eine zeitige Zuchthausstrafe mit möglichst hoch gegriffenem Mindestmaß ausreichen. Vorgeschlagen wird, 5 Jahre als Mindestmaß zu setzen, wenn es sich um die erste Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Begehung handle, 10 Jahre bei jeder folgenden Verurteilung. „Und sollte man weiter einwenden, daß eine so lange ausgedehnte Einschließung keine Strafe mehr sei, sondern eine Sicherheitsmaßregel, so trage ich für meine Person diesem Bedenken mit dem größten Vergnügen Rechnung. Man mag dann etwa von einer Sicherheitshaft sprechen. Auf den Namen kommt es mir hier wie sonst nicht an.“ Soweit Professor v. Liszt.15 Was den Tatbestand betrifft, daß das heutige Strafrecht gegen die professionelle Gaunerei – wie ich mit dem alten Ausdrucke das gewerbsmäßige Verbrechertum lieber benenne – sehr schwach operiert, so wird dieser Tatbestand in allen Ländern als ein schweres Ärgernis empfunden. Die I. K. V. hatte schon in ihren ersten Satzungen (1889) die Gesetzgebungen aufgefordert, „unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher“, auch dann, wenn es sich um oftmalige Wiederholung kleinerer Vergehungen handle, für eine möglichst lange Zeitdauer unschädlich zu machen.16 15 Zeitschrift a. a. O. S. 122, 126 ff., 138, 139. In einer der Thesen, die von Liszt dem Juristentage 1902 vorlegte, wird „Zuchthaus nicht unter 10 Jahren“ schlechthin als „Sicherungsstrafe“ gegen gewerbsmäßige Verbrecher gefordert. 16 Nachdem sich bei der wachsenden Mitgliederzahl herausgestellt hatte, daß viele Mitglieder diese und andere Forderungen keineswegs anerkannten, hat sich die Vereinigung in Lissabon 1897 ein neues Programm gegeben, worin alle diese Grundsätze gestrichen sind. Sie bezeichnet ihre Ziele seitdem nur noch durch Art. 1 mit den Worten: „Die Intern. Krim. Vereinigung vertritt die Ansicht, daß sowohl das Verbrechen als auch die Mittel zu seiner Bekämpfung nicht nur vom juristischen, sondern ebenso auch vom anthropolo-

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soweit Prof. von Liszt: Vgl. ebd.: 139; dort jedoch durch Sperrung hervorgehoben: Sicherheitshaft. unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher: Der von Tönnies paraphrasierte Grundsatz, der letzte von insgesamt neun Grundsätzen des Artikels II, lautete: „Unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung, und zwar auch dann, wenn es sich um die oftmalige Wiederholung kleinerer Vergehen handelt, für eine möglichst lange Zeitdauer unschädlich zu machen“. Der Artikel I lautete ursprünglich: „Die internationale Kriminalistische Vereinigung geht von der Überzeugung aus, daß Verbrechen und Strafe ebensosehr vom soziologischen wie vom juristischen Standpunkt aus ins Auge gefaßt werden müssen. Sie stellt sich die Aufgabe, diese Ansicht und die sich aus ihr ergebenden Folgerungen in Wissenschaft und Gesetzgebung zur Anerkennung zu bringen.“ (Liszt 1889: 363, 365)

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Und auf ihrem zweiten Kongresse (Bern 1890) wurde der Gegenstand verhandelt auf Grund von nahe übereinstimmenden Thesen, die von Lilienthal und der Franzose Leveillé aufgestellt hatten. Der Erstgenannte formulierte seine Ansicht so: „Als unverbesserlich sind anzusehen diejenigen wiederholt Rückfälligen, bei denen das Verbrechen erscheint als Ausfluß 1. einer auf erblicher Belastung beruhenden oder erworbenen Entartung, 2. einer gewerbsmäßig verbrecherischen Lebensführung“ (1. und 2. soll heißen: entweder – oder, was aber keineswegs ausschließt: beides zugleich). Man sieht, daß der Gedanke nunmehr, da die legislatorische Aufgabe soviel näher gerückt ist, eine präzisere Fassung gewonnen hat. Treffend bemerkt von Liszt: „Indem ... die Untergruppe der gewerbsmäßigen Verbrecher mit der Gesamtgruppe der Unverbesserlichen vertauscht (besser wäre gesagt: zusammengeworfen) wird, schleicht sich in die Berechnungen der Kriminalstatistik wie in die Vorschläge der Gesetzentwürfe ein ... verhängnisvoller Fehler ein.“ Im gleichen Sinne habe ich selber im Jahre 1895 geschrieben:17 „Als Gewohnheitsverbrecher pflegt man die ganze soziale Schicht zu verstehen, die regelmäßig von den Erträgen des Diebstahls oder des strafrechtlich faßbaren Betruges ihr Leben – fristet oder pflegt. Viel zweckmäßiger nannte eine ältere Literatur diese soziale Schicht die der ‚Gauner‘; denn als Gewohnheitsverbrecher ist man genötigt, auch alle Individuen zu verstehen, die zu wiederholten Malen wegen gefährlicher Körperverletzung oder wegen Sittenverbrechens verurteilt werden; unter diesen ist zwar ein Teil, der jener sozialen Schicht angehört, keineswegs gilt dies von allen.“ Und: „der großen Menge gelegentlicher und habitueller Diebe und Betrüger steht die engere Gruppe der eigentlichen Gauner gegenüber“. Eine Anzahl von Leitsätzen in betreff der wissenschaftlichen Erkenntnis des Gaunertums habe ich sodann mit dem Satze eingeleitet: „Verbrechen in bezug auf das Eigentum unterscheiden sich von allen anderen dadurch, daß ein großer Teil, und gerade die signifikantesten Formen, von Personen begangen werden, die gischen und soziologischen Standpunkt aus betrachtet werden müssen. Sie stellt sich zur Aufgabe die wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens und seiner Ursachen und der Mittel zu seiner Bekämpfung.“ 17 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, herausgeg. v. H. Braun, VIII. S. 338.

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Der Erstgenannte formulierte seine Ansicht so: Vgl. Lilienthal 1890: 72. Treffend bemerkt von Liszt: Vgl. Liszt 1901: 124. „Als ... Gewohnheitsverbrecher“: Zitatbeginn vom Hg. markiert.; vgl. Tönnies 1895: 338; das folgende Zitat ebd.: 342.

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einen regelmäßigen Erwerb daraus zu gewinnen versuchen, oder gewohnt sind.“ – Ich würde nun nicht sagen, daß eine grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafe für professionelle Gauner zu schwer sei. Für den Gesetzgeber kann nur fraglich sein, ob sie anzudrohen zweckmäßig ist. Und hier muß ich das Bedenken geltend machen, das überhaupt gegen unbedingte oder terroristische Abschreckung spricht. Als Versuch, sie von strafbaren Handlungen abzuhalten, verstehen Gauner das Strafgesetz überhaupt nicht mehr. Sie erkennen darin eine Kriegserklärung und eine Aufforderung, sich zu wehren. Ihren Kampf führen sie nicht gegen Richter oder Gesetzgeber, sondern gegen die Polizei. Sie können diesen Kampf führen entweder durch Täuschung oder durch Gewalt oder durch Modifikation ihrer verbrecherischen Methoden. Durch Täuschung wird schon jetzt der Kampf in ausgedehntem Maße geführt. Es gibt nicht wenige professionelle Gauner, die hinter allerlei und nicht nur hinter geduldeten Gewerben (wie dem des „Beherbergers“ in Hamburg und anderen Städten), sondern sogar hinter solchen, die sich einiges Ansehens erfreuen, sich viele Jahre lang, vielleicht ihr Leben lang, zu verstecken wissen. Sie sind vielleicht gar nicht, vielleicht 1 oder 2 mal bestraft und seitdem „bürgerlich gebessert“. Typus dieses Gauners war der „Kommissionär“ Dickhoff in Berlin, dessen Laufbahn vor 19 Jahren in einem zwiefachen Mordprozeß zu Ende ging. Man lese in dem wohlunterrichteten Büchlein „Die Verbrecherwelt von Berlin. Von Ω. Σ.“ Berlin  –  L eipzig 1886 S. 9 ff., besonders S. 25 ff., welche erlaubten, obschon nicht eben seinen „Geschäfte“18 dieser „gewerbsmäßige Ausbaldowerer“ (S. 30) und Anstifter schwerer Diebstähle als sein normales Gewerbe betrieben hat. „Und diesen Lebenswandel hat der Mann – eine Stunde von Berlin, in Rixdorf wohnend – in Berlin wohl selbst an die zwanzig Jahre lang geführt, ohne daß es auch nur ein einziges Mal gelungen wäre, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Nicht allein, daß er nicht bestraft worden ist, nein, es ist in der ganzen Zeit auch nicht eine einzige Untersuchung, nicht ein einziges Ermittelungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden“ (a. a. O. S. 27). Mit Gewalt kämpft die heutige großstädtische Verbrecherwelt im allgemeinen 18 Durch die neuerdings bekannt gewordenen Geschäfte höchst angesehener, staatlicher Kontrolle unterliegender Hypothekenbanken wird man lebhaft daran erinnert. 19

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Dickhoff in Berlin wurde am 17. 11. 1883 nach zehntägiger Verhandlung der Anstiftung zum schweren Raube in zwei Fällen und der Beihilfe zum Mord in einem Fall für schuldig befunden und zweimal zu lebenslänglicher und zehnjähriger Zuchthausstrafe verurteilt (vgl. Otto [d. i. Ω Σ] 1886: 7). welche erlaubten … betrieben hat.: Sic!

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nicht gegen die Polizei. Was sie davon abhält ist Feigheit und Trägheit. Man kann aber nicht sagen, daß diese Motive unüberwindlich sind. Von den alten Räuberbanden ist bekannt, daß sie „den Bürgern, der Polizei, der bewaffneten Macht förmliche Schlachten lieferten“ (v. Liszt a. a. O. S. 127). Banden, die heute so etwas versuchten, würden freilich leicht aufs Haupt geschlagen werden. Daß aber der Beruf der Kriminalpolizisten einer größeren persönlichen Gefährdung, als jetzt schon besteht, ausgesetzt werde, kann auf keine Weise als wünschenswert gelten. Es würde indirekt doch die überaus schwierige Tätigkeit dieser Leute in ihren Wirkungen und Erfolgen beeinträchtigen. Die Räuberbanden aber führen uns auf die Modifikation der spitzbübischen Methoden. Auch das Gaunertum ist der Anpassung an eine veränderte Rechtslage fähig. Wenn heute seine Zusammenhänge lose sind, so ist damit nicht gesagt, daß es nicht festere Verbindungen eingehen, daß es nicht, zum Widerstande angestachelt, in gefährlicherer Weise sich organisieren kann. Alle diese Gefahren werden nun freilich durch den positiven Vorschlag, an dem von Liszt sich genügen läßt, sehr verringert. Aber eine andere Schwierigkeit wohnt diesem bei, die wenigstens durch das bequemste Mittel der Gegenwehr – die Täuschung – erhöht werden kann: die Schwierigkeit der tatsächlichen Feststellung, daß jemand aus Diebstahl und Betrug ein Gewerbe macht. Es ist ein gewöhnlicher Fall, daß gerade der wiederholt Rückfällige wegen eines unbedeutenden Delikts derselben Art, die ihn früher vor den Richter brachte, angeklagt wird; zumeist wohl, weil er gealtert und schlaff geworden, sich an große Unternehmungen – im Gebiete des schweren Diebstahls, der Hochstapelei und des Schwindels – nicht mehr heranwagt; oft wohl auch, weil er seine Beteiligung an solchen zu verbergen weiß. Der Richter verurteilt ihn jetzt etwa zu 1 Jahr Zuchthaus, nicht selten billigt er ihm sogar mildernde Umstände zu: der Mensch macht einen bejammernswerten Eindruck, er ist in Not gewesen, außer Arbeit gekommen, weil seine Vorstrafen bekannt geworden waren und dergl.19 In Zukunft wird der 19 Aus der Kriminalstatistik scheint eine stark zunehmende Milderung der Richtersprüche, auch gegen Gauner, hervorzugehen. Die Richter haben ganz recht, wenn sie den individuellen Fall ins Auge fassen (obgleich sie auch recht oft sich täuschen lassen). Sie haben zu wenig gelernt, allgemeine Gedanken zu denken, wissen daher nicht, daß die einzelne Bestrafung ihren wesentlichen Wert dadurch hat, daß sie das Gesetz in Kraft erhält („ne peccetur“). Nur in Prozessen, die einen parteipolitischen Beigeschmack haben, sind unsere heutigen Richter regelmäßig streng. 35

ne peccetur: [lat.] svw. dass nicht gefehlt, gesündigt werde; auf Senecas Präventions-Ideo­ logem in „De ira“ (1995: 19,7) zurückgehend, dort: „Kein Vernünftiger straft wegen einer Verfehlung, sondern um Verfehlungen zu verhüten“.

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Staatsanwalt ihn wegen gewerbsmäßiger Gaunerei unter Anklage stellen. Beweis? die Polizei behauptet es, er kann sich über regelmäßigen ehrlichen Erwerb nicht ausweisen, er ist des intimen Verkehrs mit bestraften Personen verdächtig oder überführt, ist selber mehrfach bestraft – wird sich aus diesen Momenten ein Beweis ergeben? Warum läßt sich denn der Beweis führen bei Hehlern (§ 260), bei Buchmachern und Bankhaltern (§ 284), bei Wilderern (§ 294), bei Wucherern (§ 302 d u. e), endlich bei sich prostituierenden Weibern (§ 361 b)? Alle diese sind Leute, deren Delikte den Charakter von Geschäften oder Berufstätigkeiten haben, bei denen daher schon einige Fälle unerlaubter Geschäfte zum Beweise genügen können, daß sie aus solchen unerlaubten Geschäften ein Gewerbe machen; weil eben Geschäfte an sich ein Gewerbe begründen. Hingegen Diebstahl und Betrug haben ein so direktes Verhältnis zu irgendwelchem Gewerbebetrieb nicht. Der von Lisztsche Vorschlag setzt sich aber vollends einer scharfen Kritik aus, da er die Bestimmung über Gewerbsmäßigkeit des Verbrechens in den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches eingefügt wissen will. Sie soll das Gesamtgebiet der strafbaren Handlungen bedecken, damit nicht nur die wiederholte Begehung desselben Delikts oder die mehrfache Begehung gleichartiger Delikte getroffen werde. Von den „Übertretungen“ soll dabei abgesehen werden. „Andere Ausnahmen ließen sich leicht anfügen.“ Übrigens aber soll lediglich festgestellt werden, „daß der Angeklagte die Begehung strafbarer Handlungen gewerbsmäßig betreibt.“ Von anderen Gefahren abzusehen – welche furchtbare Waffe könnte aus einer solchen Bestimmung im politischen Kampfe geschmiedet werden! Man weiß, wie großindustrielle und kommerzielle Kreise, und Richter, die in deren Anschauungen leben, über gewerbsmäßige Agitatoren in der Arbeitsklasse denken. Gesetzt, ein solcher mache einer Unterschlagung oder auch nur einer Ehrverletzung, d. i. eines bösen Wortes im Streik, sich schuldig. Das Gericht dürfte dann, nach dem Lisztschen Vorschlage, die Gelegenheit benutzen, „festzustellen“, daß der Angeklagte und Verurteilte „die Begehung strafbarer Handlungen gewerbsmäßig betreibt“. Man wird leicht für bewiesen halten, daß er gewerbsmäßig den Koalitionszwang betreibt – bezahlter Beamter einer Gewerkschaft, ständiges Mitglied in Streikkomitees – die Sache liegt ja auf der Hand. Oder sollen die Vergehen gegen die Gewerbeordnung ausgenommen werden? Nun, so wird man finden, daß er ein Gewerbe aus Nötigun 19 21

„Übertretungen“: Vgl. Liszt 1901: 139; das folgende Zitat ebd. „daß der Angeklagte ... gewerbsmäßig betreibt.“: Vgl. ebd.: 140; dort auch das folgende Zitat.

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gen oder aus Erpressungen macht. Die Schlinge wird sich bewähren. Ob es nicht möglich wäre, diesen Gefahren durch gesetzgeberische Kautelen zu begegnen? Vielleicht. Aber dann wird auch die Aufnahme in den allgemeinen Teil nicht mehr haltbar sein oder ihren Zweck verlieren. Ich meine aber auch, daß dieser hinlänglich erreicht würde, wenn in einem besonderen Abschnitte die gewerbsmäßige Begehung von Verbrechen gegen das Vermögen unter die besonderen Strafen gestellt würde; diese müßten dann als in gleicher oder in verschiedener Weise gravierend, aufgezählt, Falschmünzerei, Bankrott, Wucher, eigennützige Brandstiftung müßten ausdrücklich eingeschlossen werden. Wird eine solche Strafdrohung dann Erfolg haben? Den normalen Erfolg, daß sie eine größere Menge von dem Delikte abhält, erwarten wir, wie gesagt, nicht; der Eigenzweck der Strafe – die Unschädlichmachung – überwiegt ja hier völlig den Zweck der Bedrohung. Diese hat hier fast nur den Zweck, den Richter anzuhalten und zu befugen, solche Strafen zu erkennen. Der ganze Erfolg wäre also darin gelegen, daß der Richter auf Grund dieses neuen Gesetzes verurteilt. Wird ein gewissenhafter Richter dies verantworten wollen, wenn etwa nichts vorliegt als ein unbedeutendes Vergehen und die Tatsache des zweiten oder dritten Rückfalles? Vor hundert Jahren wurde die Frage vielfach erörtert, ob es bei schwerem Verdacht und unvollständigem Beweise zulässig sei, auf eine „außerordentliche Strafe“ zu erkennen. Die Kriminaljurisprudenz gelangte, wie billig, zu einer einhelligen und entschiedenen Verneinung dieser Frage. Den prozessualen Beweis aufgeben heißt in der Tat eine der wenigen und der wesentlichen Garantien der bürgerlichen Freiheit zerstören. Sollen wir also um dieser Garantien willen die notorischen Gauner mit Strafen verschonen? Mit Strafen ja. Aber damit ist nicht gesagt, daß wir sie überhaupt verschonen sollen. Ich kann es nicht mit von Liszt für gleichgültig halten, ob man die Sicherheitsmaßregel eine Strafe nenne oder nicht, und noch weniger kann ich zugeben, daß es von ganz geringer legislativer Bedeutung sei, ob man „bessernde und sichernde Maßnahmen als Strafen im technischen Sinne des Wortes bezeichnen und behandeln wolle oder nicht“. Ich denke, der Gesetzgeber, der sich mit Revision des Strafrechts befaßt, hat es mit nichts anderem zu tun als mit der Schaffung eines Rechtes, das Strafen als gesetzliche Folgen ungesetzlicher Handlungen festsetzt. Eben dadurch ist es gültiges Recht, daß der Bürger weiß, welchen gesetzlichen Folgen er sich durch ungesetzliche Handlungen aussetzt. In Übereinstimmung mit dem natürlichen Rechte ist es, insofern als jeder Bürger Mitgesetzgeber ist, 30 „ bessernde

oder sichernde Maßnahmen... oder nicht: Vgl. ebd.: 122.

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oder insofern doch vorausgesetzt werden kann, daß jeder, für den es gilt, damit einverstanden ist, daß solches Recht gelte. Jeder unterwirft sich unter der Bedingung den Regeln des Zusammenlebens, daß ihm auch, wenn er Verbotenes getan hat, nicht nur materielles Recht zuteil werde, sondern zuteil werde in den gesetzlichen Formen des Prozesses, die jeden gleich günstig stellen sollen mit jedem anderen, und (im akkusatorischen Verfahren) jeden als vor dem Richter gleichen Gegner der Anklagebehörde gegenüberstellen. Eben dadurch wird der Richterspruch etwas anderes als die Verhängung einer Maßregel, er spricht aus – wie im Zivilprozeß –, was zur Wahrung des Rechtszustandes dem allgemeinen Willen gemäß, der im Gesetze enthalten ist, nicht aber weil er, der Richter, es für gut und zweckmäßig erachtet, sein und geschehen soll. Indem er sich verantwortet, wirkt der Anklagte selber zum Zustandekommen des Richterspruches mit, wie denn auch sein Wille im allgemeinen Willen enthalten ist. Es könnte und sollte eine schwere Strafe sein, daß dieses Recht, vermöge dessen der Regel nach (und im geltenden Rechte unbedingt und unbegrenzt) der Verbrecher dem Unbescholtenen gleich gehalten wird, durch Richterspruch aberkannt würde. Der Form nach wäre es eine Zusatzstrafe, wie jetzt die Aberkennung bürgerlicher „Ehrenrechte“; die Wirkung wäre Unterstellung unter ein anderes als das gemeinsame („gemeine“) Recht, unter ein Ausnahmegesetz gegen Verbrecher, die einzige Art eines Ausnahmegesetzes, die sich, neben den vorhandenen und noch zu erweiternden Exemtionen vom Strafrechte, grundsätzlich rechtfertigen ließe. Dieses Ausnahmegesetz würde gar nicht mehr von Strafen, es würde nur noch von Sicherheitsmaßregeln sprechen. Es wäre seiner Natur nach keine Drohung und Warnung (deren Voraussetzungen aufgehoben sind), sondern eine Anweisung an die Behörden, Regelung und Begrenzung ihrer Befugnisse. Die nach diesem Ausnahmegesetz zu Behandelnden wären (für bestimmte Zeit oder dauernd) der Polizei überwiesen. Das würde nicht heißen, daß die Polizei mit ihnen schalten und walten dürfe nach Belieben. Es würde, außer der schon bestehenden und wirksamer zu machenden Polizeiaufsicht, die Folge haben, daß, im Falle sie von ihrer Aufsichtsbehörde neuer strafbarer Handlungen bezichtigt oder als „gemeingefährlich“ angezeigt würden, ein besonderes Gerichtsverfahren, ohne die Kautelen, die im ordentlichen Gerichtsverfahren den Angeklagten schützen, wider sie anhängig würde und daß dieses Gericht die Polizeibehörde ermächtigen würde, weitere Beschränkungen der Freiheit, bis zur Internierung auf unbestimmte Zeit, eintreten zu lassen. Jede Intention auf Leidzufügung – die von der Strafe als Verwirklichung einer Bedrohung mit Leid nicht völlig ablösbar ist – würde als unwesentlich weg-

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Kapitel V

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fallen. Die Unschädlichmachung wäre der einzige leitende Gesichtspunkt. Die Anstalten, in denen solche Verbrecher aufbewahrt würden, müßten als moralische Krankenhäuser, ganz wie die Irrenanstalten angesehen und eingerichtet werden. Hierin läge eine gerechte Kompensation für die Strafunmündigkeit und Rechtlosigkeit, die über den Verbrecher ausgesprochen wäre. – Im Effekte würde diese Neuerung beinahe auf dasselbe hinauskommen, wie der von Lisztsche Vorschlag. Für das Prinzip der Strafe ist aber der Unterschied von enormer Bedeutung. Ich halte es auch für außerordentlich wichtig, daß das „Zuchthaus“ seinen einmal erworbenen Charakter als ehrmindernde Strafe behalte. Der erklärte Verbrecher aber, der Gauner, hat keine Ehre mehr zu verlieren. Das Zuchthaus würde den Übergang zum rechtlichen Stande der „Atimie“ bedeuten. Es ist wohl offenbar, daß schon die Rückfallstrafen eine Art von Ausnahmerecht für die Verbrecher bedeuten. Mit dem reinen Rechtsgedanken sind sie nicht vereinbar. Die früher begangene strafbare Handlung soll durch die „abgebüßte“ Strafe rechtlich annulliert sein. In der Tat, wenn nach dem Grundsatze der psychologischen Hemmung – wie ich für Feuerbachs psychologischen Zwang lieber sage, um das Wesen der gesetzlichen Drohung zu bezeichnen – gerade auf den ersten „geflissenen gefährlichen Diebstahl“ (mit der Carolina zu reden) eine schwere und ehrmindernde Strafe – sage von 5 Jahren Zuchthaus gesetzt wäre, so würden die Rückfallschärfungen so gut wie überflüssig. Auf den Diebstahl in wiederholten Rückfalle setzt die Carolina Todesstrafe. Wir würden dies alte Recht gewissermaßen wieder herstellen, nur daß an Stelle der physischen die moralische Enthauptung träte. Auch würde uns nicht für ein so hartes Urteil der dritte Diebstahl schlechthin, sondern nur der dritte geflissene gefährliche Diebstahl und entsprechenderweise etwa der dritte gaunerische Betrugsfall als genügender Grund erscheinen. Daß die Unterscheidung von einfachem und schwerem Diebstahl in unserem Strafgesetzbuch völlig unzulänglich ist, wird auch von konservativen Theoretikern des Strafrechts anerkannt. Der Diebstahl als Verbrechen müßte schärfer herausspringen – dazu würde z. B. in der Regel wohl der Taschendiebstahl, aber nicht jeder „schwere“ Diebstahl gehören – und für diesen dürfte es keine gesetzlichen mildernden Umstände geben, deren gänzlicher Abschaffung ich sonst widersprechen würde. Was den Betrug angeht, so ist hier eine Unterscheidung und Gradation bisher nicht einmal versucht worden. – Die Revision des Strafgesetzbuches ist eine schwere und wichtige Aufgabe. Möge sie mit Energie und Schärfe, aber auch mit humaner Gesin 12

Atimie: [gr.] svw. Ächtung, hier Entziehung der bürgerlichen Ehre als Strafe.

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nung und wissenschaftlicher Einsicht, in Angriff genommen werden. Vor allen Dingen aber hüte man sich vor der Illusion, als ob das beste Strafgesetzbuch die sozialen und daher die sittlichen Volkszustände in ihrem Kerne zu verbessern oder gar zu heilen vermöchte. Denn „stärker als alle Gesetze ist die menschliche Natur“; 20 weil sie den Naturgesetzen des psychischen und sozialen Lebens unterworfen ist. 20 Thukyd. III 84.

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„stärker als alle Gesetze ist die menschliche Natur“: Offensichtlich von Tönnies selbst nach Thukydides’ „Peloponnesischem Krieg“ (3. Buch, Kap. 84) übersetzt. Wahrmund (Thukydides 1864: 239), seinerzeit eine der verbreitetsten Übersetzungen, formuliert: „Wie für jene Zeit in der Stadt alle Verhältnisse des Lebens zerrüttet waren, so zeigt sich hier recht klar, wie die Natur des Menschen, die auch sonst gegen die bestehenden Gesetze fehlte, hier aber der Gesetze bereits Meister geworden war, unfähig ist, die Leidenschaften zu beherrschen, sich hinwegsetzend über das, was gerecht ist, und alles Hervorragende anfeindend“.

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Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht

Diese Abhandlung erhielt den Welby-Preis (1898)

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Diese Abhandlung: erschien 1906 im Verlag von Theodor Thomas in Leipzig. Zuvor war die von Tönnies erstellte Preisschrift bereits in einer englischen Übersetzung von Helen Bosanquet mit dem Titel „Philosophical Terminology“ in drei Teilen in der Zeitschrift „Mind“ erschienen (Tönnies 1899); siehe dazu den Editorischen Bericht S. 510–522.

Vim verborum qui ignorant, facile in ratiociniis decipiuntur. Aristoteles.

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Aristoteles: [hier lat.] Die die Gewalt der Worte nicht kennen, werden in (ihren) Überlegungen leicht getäuscht. Das Zitat fehlt in Tönnies 1899; seine Quelle wurde nicht ermittelt.

Herrn

Georg Hoffmann o. ö. Prof. der semitischen Sprachen an der Chr. Albr. Universität zu Kiel freundschaftlich gewidmet.

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Georg Hoffmann: Freund von Tönnies, dessen – gescheiterte – Bewerbung auf den Kieler Philosophielehrstuhl 1889 Hoffmann unterstützte, vgl. Tönnies 1922: 217.

„Das Beste wird nicht deutlich durch Worte.“ Goethe.

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Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ([1795]: 259). Das Zitat fehlt in Tönnies 1899.

Vorwort (1897)

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Das Preisthema lautet (ins Deutsche übertragen): „Die Ursachen der gegenwärtigen Unklarheit und Verworrenheit in psychologischer und philosophischer Terminologie, und die Richtungen, in denen wir auf praktisch wirksame Abhülfe hoffen dürfen“. Zur Erläuterung des Themas war hinzugefügt worden, was wir gleichfalls hier übersetzen: „Der Geber des Preises wünscht, daß allgemeine Rücksicht genommen werde auf die Klassifikation der verschiedenen Weisen, in denen von einem Worte oder anderem Zeichen gesagt werden kann, daß sie „Bedeutung“ haben und auf die entsprechenden Unterschiede der Methode in Übertragung oder Auslegung von „Bedeutungen“. Das Preis-Komitee wird die praktische Nützlichkeit des ihm unterbreiteten Werkes als vorzugsweise wichtig betrachten“. Verfasser gegenwärtigen Aufsatzes hat im Thema selber und in den Erläuterungen die Aufforderung erblickt, das Wesen von Zeichen im allgemeinen, und von Worten im besonderen, von neuem zu untersuchen. Er hielt sich um so mehr dazu berechtigt, als mehrere der einflußreichsten philosophischen Autoren früherer Zeit, in der gleichen Absicht auf Beseitigung terminologischer Unklarheit und Verworrenheit, regelmäßig ebenso für geboten hielten, in eingehender Weise Wesen und Ursprung von Wortbedeutungen überhaupt, darzustellen. Der gegenwärtige Autor glaubte aber, durch seine Bestimmung und Einteilung des Begriffes „Wille“, insonderheit durch Unterscheidung der Formen eines sozialen Willens, eine verbesserte Basis für solche Darstellung zu schaffen. Die „praktische Nützlichkeit“ dieser Leistung sieht er – außer dem, daß jede Vertiefung in bedeutsame Probleme für nützlich gelten darf – darin, daß sie dazu beitragen soll, das Ziel selber zu fördern: die Einigung über Begriffe und über die Kunstausdrücke, mit denen sie bezeichnet werden. Denn zu diesem Zwecke hält er für unerläßlich, daß den Denkern, und 2

Das Preisthema: In Tönnies 1899: 19 wird in der Überschrift „I. – Philosophical Terminology (I.)“ auf folgende Fußnote verwiesen: „The Welby Prize of £50 was awarded to this admirable essay by Dr. Ferdinand Tönnies of Hamburg (Editor, G. F. S.)“.

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Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht

zumal den angehenden Denkern, ein klares und starkes Bewußtsein erzeugt oder befestigt werde ihrer Macht über die Materie, ihrer freien Verfügung, nicht allein über Laute und andere Zeichen zur Notierung, sondern auch über Ideen zur Bildung von Begriffen. Wegen Dunkelheit und Unzulänglichkeit des Begriffes, den man mit dem Worte „Wille“ zu verbinden pflegt, wird aus diesem „der Willkür Tür und Tor eröffnen“ regelmäßig die absurde Folgerung gewonnen, grundlose, d. h. vernunftwidrige Laune werde damit zur Herrin gemacht. Als ob, wenn ich jemanden freie Verfügung über ein großes Vermögen gebe, ich ihn dadurch anweisen wollte, sein Vermögen zu verschwenden oder auf törichte Weise anzulegen. Ich gebe ihm allerdings das Recht dazu, aber ich gebe ihm zugleich das Recht zur weisesten Verfügung, Einteilung, Bestimmung jedes Stückes davon, und wenn ich auf seinen Willen Einfluß habe, so werde ich ihn lehren, seinen deutlich vorgestellten Zwecken gemäß über seine Mittel zu disponieren; kann ich aber sogar auf seine Zwecksetzungen einwirken, so werde ich ihn lehren, daß er sich vornehme, so sehr als möglich auf menschlich edle Art zu leben und nicht auf den sinnlichen Genuß oder auf eitle Ehren sein Streben gerichtet zu halten. Ebenso ist die Freiheit des Denkers zu verstehen. Es muß vorausgesetzt werden, daß er seinen Willen dahin bestimmt habe, Wirklichkeit in ihrer Beschaffenheit und in ihrem Zusammenhange zu erkennen, oder es muß ihm dieser als sein (wenigstens) nächster Zweck klar gemacht werden. Besitzt er aber diese Klarheit, so steht alsbald, anstatt einer lustigen Schwelgerei, eine überaus schwierige Aufgabe vor seinen Augen: auf die sachlichste, nützlichste, angepaßteste Art soll er über die gewaltigen Mittel des Gedankens verfügen, die besten, d. h. jenem Zwecke am vollkommensten entsprechenden Begriffe soll er gestalten, und die brauchbarsten, bequemsten, leichtest-verständlichen Zeichen soll er prägen und jenen Begriffen anhängen. Nicht jeder und nicht der Lehrling oder Geselle wird sich so hoher Kunst gewachsen fühlen, und ganz eigentlich gelten auch in diesem Gebiete die Goethe’schen Maurer-Verse: „Wer soll Lehrling sein? – jedermann!“ „Wer soll Geselle sein? – der was kann!“ „Wer soll Meister sein? – der was ersann!“

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Maurer-Verse: Diese Freimaurer-Verse sind Goethe nur zugeschrieben. In Tönnies 1899: 291 sind die Verse nur in einer Fußnote in das Englische übersetzt.

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Sie alle aber müssen wissen, daß sie einem großen Bunde angehören, der durch alle Völker geht, der Gelehrten-Republik, und daß in dieser, für diese zu wirken, in ihr verstanden, anerkannt zu werden, Nachfolge und Mitarbeit zu finden, höchstes Ziel der Meisterschaft immer gewesen ist. So fühlt alsbald der individuelle Wille auf der Höhe seines Machtgenusses und Künstlerstolzes, einem mächtigeren, Achtung heischenden sozialen Willen sich gegenüber, der selber sich bildend in einer Ratsversammlung, in der die Stimmen der erlesensten Meister das größte natürliche Gewicht haben, seines Amtes der Sonderung und Auslese waltend, mit entscheidender Souveränität bestimmt, was allgemeine, was dauernde, was allgemeine und dauernde Geltung haben soll. Wie sehr wir noch in den Anfängen wissenschaftlicher Erkenntnis vom Menschen stehen – um die es bei aller Psychologie und Philosophie im modernen Sinne wesentlich sich handelt – läßt sich daran ermessen, daß so außerordentlich wenig über ihre Ziele und Wege Klarheit und Übereinstimmung angetroffen wird. Allenfalls wird zugegeben – wenn auch selten danach gehandelt – daß nicht aus Worten philosophiert werden dürfe, sondern das Wort ein an sich gleichgültiges Zeichen sei, dessen Wert ganz und gar dadurch bestimmt wird, daß es zweckmäßig gebildet und daß es zur Erregung der gewollten klaren und deutlichen Vorstellung oder – im eigentlichen, dem abstrakten Denken – zur Erinnerung an die eigene, fremde oder gemeinsame Tätigkeit der Begriffsbildung und dadurch an den Inhalt solches Begriffes diene. Viel weniger erkannt wird die Möglichkeit und Bedeutung der willkürlich-freien Begriffsbildung selber, oder sie wird mit der bloßer Determinierung einer Wortbedeutung verwechselt. Und doch liegt hier der Springquell für die Bewältigung der größten Probleme. Der Begriffsstoff ist das Eisen, das wir als Denker zu schmieden haben. Mannigfache Geräte müssen daraus zusammengefügt werden: zum Graben, zum Pflügen, zum Kämpfen, zum Schmieden selber. Das wissenschaftliche Denken ist nicht von ungefähr. Es will in harter Arbeit erlernt, mit zäher Ausdauer, in heißem Ringen, geübt, seine Regeln und Methoden wollen erkannt werden. Natürliche Begabung wird erfordert wie zu jeder anderen Kunst, aber auch der Fähigste wird in die Irre gehen, wenn er von dem Wahne sich leiten läßt, oder darin bestärkt wird, als ob Philoso-

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Gelehrten-Republik: Für Tönnies war die Idee einer von den nationalen Grenzen unabhängige Gelehrtenrepublik seit langem selbstverständlich; siehe dazu z. B. Tönnies 2002: 98 u. 184, (TG 14), Tönnies 1887: 289 und Jacoby 1971: 52. Der Begriff ist bereits im 18. Jh. geläufig.

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phie durch lebhafte Anschauung, Fantasie und poetische Rede, anstatt durch genaues und strenges Denken ihren Charakter empfangen müsse. In der Meinung aber, daß ein redliches Bemühen, auch wenn man sein Gelingen nicht anerkennen sollte, um tiefere Begründung dieser Erkenntnisse, wenigstens als guter Wille geehrt zu werden verdiene, wagen wir, uns die Aussprüche eines berühmten Vorgängers zu eigen zu machen: „The consideration then, meint John Locke (Essay on human understanding IV, 21, 4), of ideas and words, as the great instruments of knowledge, makes no despicable part of their contemplation, who would take a view of human knowledge, in the whole extent of it. And perhaps, if they were distinctly weighed and duly considered, they would afford us another sort of logick and critick than what we have been hitherto acquainted with“1. Und auch was den Nutzen der Erörterung angeht, dürfen wir mit ihm sagen (ibid. III, 5, 16): „I shall imagine I have done some service to truth, peace and learning, if by any enlargement on this subject, I can make men reflect on their own use of language; and give them reason to suspect, that, since it is frequent for others, it may also be possible for them, to have sometimes very good and approved words in their mouths and writings, with very uncertain, little or no signification. And therefore, it is not unreasonable for them, to be wary herein to themselves, and not to be unwilling to have them examined by others“2 . 1 „Mithin macht die Betrachtung von Ideen und Wörtern, als der großen Werkzeuge der Erkenntnis, keinen verächtlichen Bestandteil in den Gedanken derer aus, die eine Ansicht der menschlichen Erkenntnis, in ihrer ganzen Ausdehnung gewinnen wollen. Und vielleicht würden sie, wenn deutlich erwogen und gehörig untersucht, uns eine andere Art von Logik und Kritik schaffen als die uns bisher bekannt gewordenen“. 2 „Ich werde denken, daß ich der Wahrheit, dem Frieden und der Bildung einen Dienst geleistet habe, wenn ich, durch Verbreitung über diesen Gegenstand, die Menschen veranlassen kann, über ihren eigenen Gebrauch der Sprache nachzudenken; und ihnen Grund zu dem Verdachte gebe, daß, wie es so häufig bei anderen sich findet, auch sie selber möglicherweise manchmal sehr gute und allgemein-gebilligte Wörter im Munde führen und in die Feder nehmen, die doch eine sehr unsichere, geringe oder gar keine Bedeutung haben. Und darum ist es nicht unvernünftig, wenn sie darin für sich selber behutsam und nicht abgeneigt sein wollen, ihren Wortgebrauch der Prüfung durch andere zu unterwerfen“.

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Locke: Vgl. Locke (1727: vol. 1, book IV, chap. 21, § 4, S. 342). Das folgende Zitat ebd.: book 3, chap. V, § 16, S. 199. Die deutsche Übersetzung der Zitate findet sich nicht in Tönnies 1899.

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Vorrede (1906)

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Äußere Anregung und äußerliche Beweggründe haben den Verfasser dieser Schrift bewogen, sie in ihrem ursprünglichen Texte herauszugeben, nachdem sie zuerst (vor etwa 7 Jahren) in einer englischen Übersetzung, die im Mind Vol. VIII N. S. No. 31, 32; Vol. IX N. S. No. 33 gedruckt wurde, dem gelehrten Publikum ist vorgelegt worden. Ich habe mich lange mit der Absicht getragen, diesen Text einer ganz neuen Bearbeitung zu unterwerfen, die den Umfang leicht hätte verdoppeln mögen; denn ich wußte wohl, daß viele der von mir vorgetragenen Sätze eine eingehendere Begründung, auch die Auseinandersetzung mit den Lehren anderer, wie sie in hervorragenden Schriften niedergelegt sind3, wünschenswert erscheinen lassen. Meine Schrift war in kurzer Zeit entstanden, und darf für sich geltend machen, daß sie einigermaßen aus einem Gusse ist; auch kann ich – was sich vielleicht von selbst verstehen sollte – alle Gedanken darin als meine eigenen in Anspruch nehmen. Aber nicht allein darum habe ich geglaubt, sie aus dem Schreine, in dem sie so lange geruht hat, hervorholen zu dürfen. Sondern mich hat vor 3

Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß ich nicht Sprachforscher, auch nicht Sprachphilosoph bin; es wäre mir aber allerdings erwünscht, meine Theoreme zu denen dieser verdienstvollen Denker in Beziehungen zu setzen. Das große Werk Wundt’s über die Völkerpsychologie in der Sprache ist inzwischen erschienen, und daran hat sich mit „Grundfragen der Sprachforschung“, (Straßburg 1901) B. Delbrück angeschlossen, dessen Ausführungen sehr lehrreich sind, gruppiert um die Entgegenstellung Herbart’scher intellektualistischer und Wundt’scher voluntaristischer Psychologie. Delbrück findet (S. 14) diese (von mir zuerst eingeführten) ‚Schlagworte‘ besonders treffend. – Erwähnen möchte ich hier auch den mir durch die englische Übersetzung („Semantics“; London 1900) bekannt gewordenen Essai de Sémantique von Michel Bréal (engl. mit Vorrede und Anhang von J. P. Postgate).

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Mind: Vgl. Tönnies’ (1899) „Philosophical Terminology“ (3 Parts), übersetzt von H. Bosanquet. Völkerpsychologie: D. i. „Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte“ (Wundt 1900). Delbrück: Beachte dazu Wundts Erwiederung (1901). Schlagworte: Siehe dazu Tönnies 1887. besonders treffend: Bei Delbrück (1901: 14): „ Wie treffend die von Wundt selbst angewendeten Schlagworte intellektualistisch und voluntaristisch sind, zeigt sich besonders klar bei der Erörterung der wichtigen Begriffe, [...] nämlich Affekt und Wille“.

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allem die große Wichtigkeit des Gegenstandes dazu ermutigt, eine Wichtigkeit, die im Laufe dieser 9 Jahre – und ich freue mich, daß ich ein wenig dazu mitwirken durfte – mehr und mehr, in weiteren Kreisen, erkannt und anerkannt worden ist. Vor allem ist eine Frage, die ich im Zusammenhange damit angerührt hatte, seitdem lebhaft in Fluß gekommen: die Frage der Universalsprache. Es ist dies in ausgezeichneter Weise das Verdienst einiger Franzosen, unter denen ich den trefflichen Kenner der Leibnizischen Schriften und scharfsinnigen mathematischen Logiker, Herrn Louis Couturat, rühmend hervorhebe. Um seine Bestrebungen richtig zu würdigen, muß man immer der Tatsache eingedenk sein, daß es ihm zunächst und in erster Linie nur darum zu tun ist, die Idee einer „internationalen Hilfssprache“4 zur Geltung zu bringen: in diesem Sinne wendet er sich an die Akademien und gelehrten Gesellschaften, die im Jahre 1900 eine internationale Assoziation gebildet haben, in Verbindung mit einer schon erklecklichen Zahl von Gelehrten aller Länder, unter denen in deutscher Sprache Hugo Schuchardt schon seit vielen Jahren im Sinne dieser Idee gewirkt hat5, nicht minder tätig ist dafür Wilhelm Ostwald6 , der wie wir hoffen mögen, nachdem er sein Lehramt niedergelegt hat, einen Teil seiner kostbaren Muße dieser großen Aufgabe widmen wird. In Verbindung mit dem Mathematiker Dr. L. Léau hat inzwischen Dr. Couturat eine große „Histoire de la langue universelle“ (Paris, Hachette 1903 XXXII – 576 S.) verfaßt und herausgegeben – ohne Zweifel ein verdienstvolles Werk. – Aber auch in Sachen der philosophischen Terminologie ist um die Wende des Jahrhunderts es nicht still geblieben. Erschienen ist 1899 zuerst, dann in zweiter Auflage umgearbeitet 1904, das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ von Dr. Rudolf Eisler (Berlin, E. S. Mittler & Sohn), das freilich zu ausschließlich aus bloßen Zitaten besteht; aber der emsige Sammlerfleiß, der darin 4 Eine kleine Broschüre dieses Titels – ins Deutsche übersetzt von W. Ostwald – ist von Veit & Co. in Leipzig verlegt (1902) und wird den Interessenten auf Verlangen gratis und franko zugesandt. 5 „Weltsprache und Weltsprachen“ 1894. Vgl. Rapport sur le mouvement tendant à la création d’une langue auxiliaire internationale artificielle. Paris 1904 (nicht im Handel) – ein Bericht an die Wiener Akademie der Wissenschaften. 6 Vgl. „Die Weltsprache“ (Stuttgart, Franckh 1904) 16 SS. (10 Pfg., 10 Stück 80 Pfg.) 4 28

anerkannt worden ist: Siehe zur Rezeptionsgeschichte den Editorischen Bericht (S. 522–524). kleine Broschüre: Mit dem Titel „Die internationale Hilfssprache“ (Couturat 1902); siehe zur „Universalsprache“ auch Tönnies 1906a (hier S. 464) und Tönnies 2000b: 174, wo er Latein als „lingua doctorum“ fordert.

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niedergelegt wurde, ist sicherlich alles Lobes wert. Größer entworfen und ausgeführt ist das der Vollendung nahe amerikanische „Dictionary of philosophy and psychology, giving a terminology of English, French, German and Italien“ Ed. by J. M. Baldwin (3 Vols. in 4 parts) 1803–1806. Endlich aber ist auch Frankreich in dieser Richtung tätig. Die Société française de philosophie, an deren Spitze die Herren Xavier Léon und André Lalande stehen, gibt in ihren Bulletins ein „Vocabulaire technique et critique de philosophie“ heraus, woran mit großer Sorgfalt gearbeitet wird, und schon ist es bis nahe an die Hälfte fortgeschritten; es ist mir eine Genugtuung, daß ich, als Deutscher neben Herrn Eucken, daran, wenn auch nur durch kleine Anmerkungen, mittätig sein darf. Unter den Leitern dieses Unternehmens ist auch Herr L. Couturat. Auch hier werden die Termini nach Möglichkeit in den 4 Sprachen wiedergegeben; zugleich aber am Schlusse jedes Artikels eine oder mehrere „internationale Wurzeln“, gebildet nach den Regeln des Esperanto. Den Bemühungen des Herrn Couturat um die Anerkennung des Prinzips einer internationalen Hilfssprache ist es vielleicht schädlich, daß er zu gleicher Zeit persönlich für die merkwürdige Erfindung des russischen Arztes Dr. Zamenhoff (Warschau), das Esperanto, sich engagiert hat. Es würde hier zu weit führen, den Wert dieser Kunstsprache zu diskutieren; auch fühle ich mich dazu keineswegs kompetent. Es muß aber anerkannt werden, daß sie in kurzer Zeit sehr bedeutende Fortschritte gemacht hat, und durch ihre einfachen und klaren Regeln sich stark zu empfehlen scheint. Ich selber stehe, so lebhaft ich auch für die Idee einer internationalen Hilfssprache mich interessiere, außerhalb der Parteinahme. Aber ich habe noch nicht die Überzeugung gewonnen, daß meine im Jahre 1897 (in dieser Schrift) gestellte Prognose unrichtig sei – eine Prognose nenne ich es, denn ich halte strenge davon getrennt, was ich etwa wünschen, und wenn ich zur Erörterung der Sache berufen wäre, raten möchte. Meine Prognose ging und geht dahin, daß die Universalität der englischen Sprache, als der Sprache des internationalen Verkehrs und Geschäftes, unaufhaltbar und gesichert ist; daß aber die Gelehrtenrepublik, auch aus terminologischen Gründen, nicht mit der englischen Sprache zufrieden sein, daß sie am ehesten, da das Bedürfnis des Weltverständnisses immer stärker sich fühlbar machen muß, zur lateinischen Sprache zurückkehren wird. Der Handel werde – so 4 7 2 5

1803–1806: Korrekt: 1901–1905. Beachte Tönnies’ Rezension von Baldwins Sozialpsychologie (Tönnies 1900/1902; erneut 1929: 320–322; TG 20). Bulletins: Vgl. Lalande 1902. 1897: Vgl. hier § 96, S. 226 f. (zuerst veröffentlich 1899).

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war und ist meine Meinung, – neben den nationalen Sprachen, mehr und mehr englisch; die Wissenschaft und Philosophie werde, gleichfalls neben den nationalen Sprachen, mehr und mehr wieder lateinisch sprechen. Ich habe schon an anderer Stelle (vgl. Additamente II S. 247) darauf, als auf ein merkwürdiges Zusammentreffen hingewiesen, daß kaum ein Jahr vergangen war, seitdem ich diese Prognose aufgestellt hatte, da ging von der Berliner Akademie der Wissenschaften die Anregung aus, mit den übrigen gelehrten Gesellschaften in eine Verhandlung über die Wiederherstellung des Latein, als interakademischen Mittels der Verständigung, einzutreten. – Ich leugne nicht, daß mit meiner Prognose eine Befürwortung verbunden war; jetzt aber trenne ich sie gänzlich davon: meine (ohnehin unmächtige) Befürwortung lasse ich fallen; die Prognose halte ich fest. Was aber die Leitgedanken dieser Abhandlung betrifft, so wird dem geneigten Leser, der die Grundlegung der philosophischen Soziologie, wie sie in meinem Werke „Gemeinschaft und Gesellschaft“7 enthalten ist, sich zu eigen gemacht hat, nicht entgehen, daß die gegenwärtige Schrift so zu sagen eine Tochter jenes Werkes ist, und mehrfache Anwendungen darin vorgelegter und entwickelter Begriffe enthält. – Dies gilt weniger von den später geschriebenen „Additamenten“, die, unmittelbaren Anlässen entsprungen, vorzugsweise den Verdiensten anderer gerecht werden wollen. Übrigens, wenn man wieder liest und erwägt, was man vor 9 Jahren geschrieben hat, so kann es nicht leicht anders sein, als daß man – auch wenn man einstweilen nicht an eine völlig neue Bearbeitung des Gegenstandes denken kann – manche Sätze verändern, einige streichen möchte, aus allerlei Gründen. Nach eingehender Überlegung habe ich auch hierauf verzichtet, und mich auf den Satz gestellt: Quod scripsi, scripsi. So habe 7 Leipzig, O. R. Reisland, 1887. Anastatischer Neudruck 1905. 7 17 26 27

Berliner Akademie: D. i. Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin (seit 1812–1946). ist, und: im Original: nnd. Quod scripsi, scripsi: [lat.] Ausspruch des Pilatus: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben (Vulgata Evangelium Secundum Ioannem 19, 22). Neudruck 1905: Beachte hier Jacobys (1971: 79) Darstellung der Buchgeschichte: „Von den vertraglichen 1000 Exemplaren der ersten Auflage waren 1887 nur 750 gedruckt worden, und der Verleger beabsichtigte nach einiger Zeit, einen unverkauften Rest einzustampfen. Indessen erwies sich 1905 ein photomechanischer Nachdruck nötig, um der geringen, aber stetigen Nachfrage zu genügen. Als dieser Neudruck erschöpft war, bereitete Tönnies mit großer Sorgfalt eine ‚zweite, erheblich veränderte und vermehrte Auflage‘ vor, die 1912 erschien“.

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ich nur ganz geringe stilistische Änderungen vorgenommen, die nicht der Erwähnung wert sind. Man wird daher vielleicht einige Äußerungen in dieser Schrift finden, die ich wortwörtlich noch zu vertreten kaum gesonnen bin. Indessen mögen sie wenigstens eine Erörterung und Kritik verdienen, die möglicherweise den Sachen, an denen mir gelegen ist, förderlich sein werden. Ich werde inzwischen fortfahren, auf meine Art der Wahrheit nachzugehen und dankbar dafür zu sein, wenn mir auf meinen ziemlich einsamen Wegen hin und wieder eine Ermutigung zu Teil wird.

Übersicht I. Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe

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1. Definitionen. 2. Natürliche Zeichen – ideeller Fall der Identität – Organismus und Seele. 3. Sympathie – Intuition – Werden von Zeichen. 4. Nachempfindung – Schlußfolgerung – Vermischung von Sache und Zeichen. 5. Äußere Bewegung – Zeichen von Empfindung und Gefühl 6. Ähnlichkeit – Gleichheit – Bild natürliches Zeichen des Originales. 7. Teil natürliches Zeichen des Ganzen. 8. Stück Zeichen eines anderen Stückes – Zeichen ist, was als Zeichen wirkt – Ideenassoziationen – Lokalzeichen  –  Urteil. 9.  Natürliche Zeichen im Naturverlaufe oder von Menschen aus – letztere als Zeichen unwillkürlich oder zu Zeichen bestimmt. 10. Unwillkürliche Zeichen – Ausdrucksbewegungen des Menschen. 11. Ausdrückliche Zeichen – Mitteilung. 12. Gebrauch gemachter Zeichen – Symbole. 13. Gegenseitiges Verständnis – Geberdensprache – Lautsprache. 14. Künstliche Zeichen – durch menschlichen Willen – natürliche Zeichen, die den Sprachlauten zu grunde liegen. 15. Bedeutung des Wortes – Wille eines einzelnen Menschen – das Verstehen – Anstrengung. 16. Wörter als soziale Zeichen – sozialer Wille. 17. Ankündigung des Unterschiedes im sozialen Willen. 18. Bedeutung als Gleichung. 19. Verbindung von Namen und Sache für wirklich gehalten. Aberglaube. Die richtigen Namen. 20. Verschiedene Sprachen – Dialekte – Sondersprachen. 21. Gemeinsames Ideensystem als Mitbedingung gegenseitigen Verständnisses – guter Wille. 22. Zeichen als Ideen – Lernen – Gewohnheit – das Natürliche. 23. Der Geist der Sprache ist sozialer Wille. 24. Definition des Individualwillens. 25. Wille als Ursache. 26. Vorausfühlen – vorausdenken – Grundzweck – Endzweck. 27. Fernere Klassifikation der Willensformen. 28. 6 Klassen. 29. Anwendung auf Zeichen. 30. Analogie des sozialen Willens. 31. Sitte – Gesetz. 32. Wesen der Sitte. 33. Sitte als Wille und als bloße Übung. 34. Herkommen – Brauch. 35. Sprachgebrauch – Wille in Gewohnheit. 36. Gewohnheitsrecht – Gesetzgebung. 37. Charakteristik des Gegensatzes. 38. Sprachgebrauch im Gewohnheitsrecht. 39. Gesetzgebung und Definition. 40. Freie Verfügung über den Sprachstoff. 41. Sprachgesetzgebung. 42. Wirkung der Wissenschaft auf die Sprache – wissenschaftlicher Sprachgebrauch. 43. Entwick 1

Übersicht: Die hier genannten Themen fehlen im Text und werden dort jeweils als editorische Fußnote genannt; die – kürzere – Übersicht der engl. Fassung (Tönnies 1899) siehe im Editorischen Bericht, S. 520 f.

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Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht

lung individualer und sozialer Gewohnheit. 44. Natürliche Harmonie – Ursprung der Sprache. 45. Überlieferung durch Lehre – Autorität – Glaube. 46. Wort und Glaube – Vorbedeutung und Mitbedeutung. 47. Kunst des Redners. 48. Poetische Sprache – Metaphern u. a. Redefiguren. 49. Gegensatz von Volksglaube und Wissenschaft. 50. Einverständnis und Verabredung – Interpretation. 51. Verabredete Zeichen – verabredete Sprache – Schriftzeichen – Derivativzeichen – konventionelle Rede und Lüge. 52. Konventionelle Sprache – Weltsprache – Geschäftssprache. 53. Freier sozialer Wille – Wissenschaft – Terminologie – Allgemeinvorstellungen und Begriffe – allgemeine und spezielle Namen – praktisches und theoretisches Interesse – Begriffsbildungen. 54. Abstrakte Begriffe – ihre Gegenstände – Maßstäbe – Vergleichung – Erkenntnis der Verhältnisse. 55. Definitionen – nicht Explikationen des Sprachgebrauchs – nicht bloß, was ein Name bedeuten soll – Beschreibung des ideellen Gegenstandes. 56. Andere Zeichen. 57. Analogie des Geldes – gemünztes und Papiergeld – Geldsurrogate – die Banknote. 58. Mannigfaltigkeit von Bedeutung – subjektive und objektive Bedeutung. 59. Gestaltungen des sozialen Willens in bezug auf die Bedeutung von Wörtern – Bedingungen des Verständnisses – Schriftsprache – Umgangssprache – Feiertagsgefühle. 60. Beurkundung – Kanzleistil – Lapidarstil. 61. Korrespondenz der Stufen – Balance des sozialen und individualen Prinzips – Phrasen – Auslegung – Begriffe – Kommentare 62. Fortsetzung der Geld-Analogie. 63. Wissenschaft als Form des sozialen Willens – Zeichen als Mittel – freie Übereinstimmung.

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II. Philosophische Terminologie und ihre neuere Entwicklung 64. Zustand der philosophischen Terminologie. – 65. Die Ursachen. – 66. Allgemeine Hemmnisse und historische Bedingungen. – 67. Alte Klage. – Bruch mit der Überlieferung. – 68. Physik und Chemie und ihre Terminologie. – Stellung der Naturwissenschaften zu Metaphysik und Logik – deren eigene Entwickelung – Ausdehnung des wissenschaftlichen Denkens – Mechanik – more geometrico – Definitionen – Meinung, daß dadurch der meiste Streit verschwinden müsse – die Philosophie der Aufklärung – Anklagen gegen die Sprache – Beziehung auf die 3 Begriffe des sozialen Willens – erste Anklage – Klassifikation der Organismen – Realismus und Nominalismus – künstliche Systematik und natürliche Ordnung – Konstanz der Arten – Biologie – künstliche Namen. 69. Zweite Anklage – moralische Meinungen und Begriffe – Billigung und Mißbilligung – Verstoß gegen die Sprache als moralischer Frevel – sozialer Wille der Öffentlichkeit – eigene Urteile jeder 33

Mißbilligung: Im Original: Mißbilliguug.

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Übersicht

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Gruppe – Anwendung der Namen – Bemühungen der Philosophen – Parteiansichten in den Systemen – diese selber sozialer Wille – Interesse der Gesellschaft und des Staates an rein wissenschaftlicher Bearbeitung der Moral  –  70.  Drittes Argument – metaphorische Ausdrücke – Wechselwirkung zwischen Bezeichnungen für physische und psychische Vorgänge – Bildersprache in der Psychologie. – 71. Historische Ursachen – Untergang der europäischen Gelehrtensprache – die nationalen Schriftsprachen – Freimeistertum der Philosophie – die deutschen Universitäten – Aneignung der rationalistischen Prinzipien. – 72. Das System Wolfs in lateinischer Sprache – Kant – Verfall der Gelehrtensprache im 19. Jahrhundert – die kleinen Nationen – Nachteile und Vorteile. – 73. Verfall der Schultradition – Annäherung der Philosophie an common sense – Schlagwörter – Vereinfachung der Ausdrucksweise – Locke über Gefahren unterhaltender Abhandlungen – auch heute Psychologie vielfach Tummelplatz des Witzes und der Phantasie – Wiederholung des Kampfes gegen die Universitätsphilosophie des 19. Jahrhunderts in Deutschland – Folgen für die Terminologie – Urteil Euckens – seither neue Belebung der Philosophie durch die Geisteswissenschaften – Terminologie der neueren Psychologie. – 74. Hemmnisse in der Verschiedenheit des Denkens selber – Gleichheit der Sprache bei verschiedenem Denken an sich möglich – aber nicht, wenn der Gegenstand, den A bezeichnet, von B nicht gekannt oder nicht anerkannt wird. – 75. Geschichte der Terminologie als Reflex der Geschichte der Philosophie – die mechanistische Philosophie – Descartes – Klare und deutliche Begriffe – Ausscheidung des NurDenkbaren – des Möglichen – Spott über die scholastischen Begriffe – die Lebenskraft – Kraft – Energie – vitalistische Strömung in jüngster Zeit – Opposition gegen mechanische Deutung der Energie – richtige Einsicht und falsche Voraussetzung – die Welt erklärbar? – Hume – Spinoza – ratio = causa – das Unendliche – mechanische Bewegung allein real? – Bewegung als Größe – regulative Idee. – 76. Kritik des absoluten Wertes der mechanischen Prinzipien – Auflösung der Wirklichkeit in Dinge – Trennung von Subjekt und Objekt – naives Denken – Reflexion – wissenschaftliches Denken – kritische Besinnung gegen mathematischen Verstand – Dasein der Welt als einziger Prozeß – Entropie – Erklärung als Beschreibung. 77. Kritik des mechanistischen Rationalismus durch das ganze Jahrhundert – tieferes Studium des Lebens – philosophische Folgerungen – siegreiche Ideen – Bewegung, Veränderung, Werden – Leben als Reproduktion und Zerstörung zugleich – Wirklichkeit als Möglichkeit – regenerierte aristotelische Begriffe. 78. Bedeutung für Psychologie – gegen die cartesianische Auffassung – Entwicklungstheorie – Identität von Leib und Seele. – 79. Descartes und seine Gegner – Assoziations-Psychologie – Herbartianer – Klippe der Gefühle. 80. Unbefangene Selbsterkenntnis – Abstammungslehre – Gefühl und Leben. – 81. Streit der Terminologien – Schwierigkeit – Intelligenz Wesen der Seele? – Begriffe, die das Leben bezeichnen, kommen nicht zu gehöriger

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Geltung – 82. Lehre vom Willen – Einheit des Lebensgefühls – Scheidung – Funktionen – Bedeutungen des Wortes Wille im Sprachgebrauch – Wille und Intelligenz – Instinkt – gemeinsames der Ideen – Beziehung auf die Zukunft – mannigfache Auffassung im Anschluß an die Sprache. – 83. Was Wille sei? – Zustand, den jeder kennt? – keine Definition möglich? – James und Wundt – die Physiologen – Huxley und die Materialisten – Unterschied von Identitätspsychologie – die einzig wichtige Aufgabe – eigene Begriffsbildung – individualer und sozialer Wille. – 84. Nebenursachen – Beschaffenheit der Gegenstände der Psychologie – praktische Interessen – Verachtung der Philosophie – Abschaffung der Metaphysik – eigentlicher Sinn der „Ontologie“ – Wolf – Kants Kritik – Hegel – das Allerheiligste – die drei System-Philosophen nach Hegel – 85. Hemmungen des Fortschritts – Münchener Reden. 86. Gespensterfurcht – unklares und falsches Denken – Verantwortlichkeit. 87. Philosophie im höheren Unterricht und im öffentlichen Leben. – Vorlesungen – Geschichte der Philosophie – Autorität? – Philosophie als Vagabundin.

III. Die Richtungen der Reform 88. Hauptrichtung. 89. Internationaler Charakter der Philosophie. 90. Weltverkehr – Kongresse – Ausgleichung. 91. Weltsprache – wissenschaftliches Bedürfnis – Wilkins – Descartes – Leibniz. 92. Utopische Ideen. 93. Richtungen des Strebens – geometrische Darstellung von Begriffen. 94. Beispiele – Prototype. 95. Autoritative Stelle – eine internationale Akademie. 96. Forschung und Lehre – Schrift- und Gedankensprache. 97. Das philosophische System – Modellbegriffe. 98. Andere Utopien realisiert – internationale Probleme – soziale Frage – Statistik – Wirkung auf Bestimmung von Begriffen. 99. Hoffnungen und Fortschritte.

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Additamente I. (Resumé.) Streit über Worte – Verabredungen, Verträge – die Sprache – Sprachinseln – die Sachen – das Bedürfnis – die wirklichen Differenzen – Psychologie und Soziologie – Begriffe in den Wissenschaften – Wirkung auf Phantasie – Metaphern – Unterscheidung empirischer und rationaler Begriffe – Maßstäbe – soziale Gültigkeit – Unterschied des Bildens und Benennens von Begriffen – nichts zu entdecken, sondern zu statuieren – Anregungen von außen – Herbeiführung eines Reiches der Ordnung. II. (Auseinandersetzung mit einer Kritik.) Die Idee einer allgemeinen Reform der Ausdrucksweise – Bedeutung für Wissenschaft – Schädlichkeit beabsichtigter Mißverständnisse – unfreiwillige – Wert pädagogischer Ein-

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Übersicht

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flüsse – Bedeutung und Ausdruck – die Analogie des Geldes gerechtfertigt – Metaphern und Analogien – Gefahren – der ernste Wille zum Verstehen – das Reale – eine internationale Ratbehörde – die allgemeine Sprache. III. (Was ist Bedeutung?) – Sinn, Bedeutung, Hochsinn – Dienstbarkeit des Gedankens – unentwickelter Zustand der Sprache – plastische Sprache – Dunkelheit – Deutungen – Übertragungen – die Schemata – das Warum? und die Erziehung – Schaffen, Denken, Leben – der Planet, das Sonnensystem, der Kosmos.

I.

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1. Wir nennen einen Gegenstand (A) Zeichen eines anderen Gegenstandes (B), wenn die Wahrnehmung oder Erinnerung A die Erinnerung B zur regelmäßigen und unmittelbaren Folge hat. Als Gegenstand verstehen wir hier alles, was in eine Wahrnehmung oder Erinnerung eingehen kann, mithin sowohl Dinge als Vorgänge. Wahrnehmung ist alle Auffassung durch Sinne; Erinnerung umfaßt außer Reproduktion von Wahrnehmungen Reproduktion aller anderen Empfindungen, sofern sie einen Gegenstand oder doch einen als Gegenstand setzbaren Inhalt haben. Menschliche Erinnerung ist gleich Denken. Denken, wie es hier verstanden wird, ist selber zum größten Teile Erinnerung an Zeichen und durch Zeichen an andere, bezeichnete Dinge. Wahrnehmungen und Erinnerungen werden im Folgenden gelegentlich unter dem Namen „Ideen“ zusammengefaßt, welcher Name aber auch Gefühle mitbezeichnen kann. 2. Einige Zeichen sind natürliche Zeichen, d. h. solche, bei denen jene Folge durch das natürliche Verhältnis zwischen Zeichen (A) und Bezeichnetem (B) begründet ist. Natürliche Verhältnisse dieser Art sind mannigfach. Sie lassen sich aus einem idealen Falle ableiten, der jene Folge als von selbst verständlich erscheinen läßt: aus dem Falle der Identität von A und B, von Zeichen und Bezeichnetem. Diese Identität kann 1. im Erkenntnisakte des wahrnehmenden Subjektes vorhanden sein; dann ist B in keinem Sinne ein anderes Ding und der Satz, daß A Zeichen von B sei, sagt nichts anderes, als daß die Wahrnehmung oder Erinnerung eines Gegenstandes die Erinnerung seiner selbst zur regelmäßigen und unmittelbaren Folge hat; von der Erinnerung ausgesagt, bedeutet er nur, daß sie eine gewisse Dauer hat, die als eine Reproduktion ihrer selbst begriffen werden kann; von der Wahrnehmung ausgesagt ist er insofern wahr, als Wahrnehmung nicht ohne Erinnerung stattfinden kann, – ein Urteil, dessen Richtigkeit hier vorausgesetzt werden muß; dadurch aber wird der Satz auf das erste Stück der Alternative (daß er

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1.: Laut „Übersicht“ lautet das Kapitel: Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe. – Der Absatz lautet: Definitionen. Die Kapitelbezeichnung „I.“ fehlt irrtümlich, in der engl. Fassung von 1899 ist sie vorhanden. 2.: Thema laut „Übersicht“: Natürliche Zeichen – ideeller Fall der Identität – Organismus und Seele.

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von der Erinnerung ausgesagt wird) zurückgeführt; Identität aber ist für ein wahrnehmendes oder denkendes Subjekt die Ununterscheidbarkeit; 2. ist die Identität im Erkenntnisakte des wahrnehmenden Subjektes nicht vorhanden und doch durch einen Gedankenprozeß erkennbar. Das ist – nach einer philosophischen Lehre, deren Richtigkeit hier, gleichfalls, für den Zweck dieser begrifflichen Einteilung, vorausgesetzt werde – die Identität des lebenden Organismus mit der (ihm nach gewöhnlicher Auffassung innewohnenden) Seele, in anderem Ausdrucke: organischer „äußerer“ – Bewegungen mit den darin sich ausdrückenden – „inneren“ – Empfindungen und Gefühlen. Für Wahrnehmung sind, ihrem Begriffe nach, Empfindungen und Gefühle (im Folgenden werden diese unter Empfindungen mitbegriffen) nicht als Gegenstände vorhanden – sie sind unwahrnehmbar; dagegen sind alle körperlichen Bewegungen wahrnehmbar; in Wirklichkeit jedoch werden die meisten Bewegungen des lebenden Organismus nicht wahrgenommen, nur einige solche Bewegungen, die auch „Ausdrucksbewegungen“ genannt werden, sind regelmäßige Gegenstände der Wahrnehmung. 3. Wenn aber Empfindungen und Bewegungen als identisch gedacht werden, so folgt, daß die Auffassung solcher (äußerer organischer) Bewegungen in Wirklichkeit zugleich Auffassung von Empfindungen, wenn gleich in völlig unbestimmter Weise, ist; und dem entspricht es, daß zwischen organischen Wesen Mitempfindung stattfindet und daß für sinnlich wahrnehmende Subjekte diese in einem ungeteilten Akte mit sinnlichen Wahrnehmungen (in der „Intuition“) sich vollzieht. In solchen Fällen, z. B. wenn durch die Stimme des Jungen Mitempfindung seines Hungers in das Muttertier übergeht, kann man sagen: der Schrei ist Zeichen der mit ihm identischen Empfindung des Hungers, und wenn man jenen ungeteilten Akt der Intuition in die zwei: Wahrnehmung (des Tons, d. h. einer Bewegung) und Mitempfindung (einer Empfindung) zerlegt, so ist die regelmäßige und unmittelbare Folge von selbst verständlich, d. h. aus jener Identität erklärbar. Je mehr aber in Wirklichkeit die Erkenntnistätigkeiten sich abschnüren von der Gesamtmasse der Erlebnisse, d. h. der psychischen Tatsachen, desto mehr tritt es hervor, daß Ausdrucksbewegungen Zeichen der (im Grunde mit ihnen identischen) Empfindungen werden, d. h. nach unserer Definition, daß die Wahrnehmung oder Erinnerung solcher organischen äußeren Bewegungen Mitempfindung d. i. Erinnerung einer Empfindung zur regelmäßigen und unmittelbaren Folge hat.

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3.: Thema laut „Übersicht“: Sympathie – Intuition – Werden von Zeichen.

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I. Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe

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4. Aus Mitempfindung aber wird Nachempfindung, endlich die „diskursiv“ vollzogene daher dem Irrtum um so eher ausgesetzte Schlußfolgerung. Der Schluß von der Ausdrucksbewegung auf den „Willen“ bleibt immer der Intuition um so näher, je mehr beide auf unzweideutige Art miteinander verbunden sind, und das ist um so stärker der Fall, je weniger ein spezifisch menschlicher, „vernünftiger“ Wille vorhanden oder entwickelt ist; so daß alsdann, was objektiv als Zeichen begriffen werden kann, tatsächlich und subjektiv von dem es Empfangenden (Verstehenden) als die Sache selber aufgenommen wird, oder doch in Vermischung: zugleich als die Sache und als deren Zeichen. So empfängt und versteht der Despot die Prostration zugleich als die tatsächliche gewollte Unterwerfung und als deren Zeichen; in diesen und vielen ähnlichen Fällen läßt sich beobachten, wie aus der Sache selber das Zeichen entsteht, oder doch sich davon ablöst, d. h. das bloße Zeichen, das nicht mehr zugleich die Sache selber ist, obgleich diese anfänglich sogar Haupt-Sache war. Das Schlachten des Opfertieres ist ursprünglich ganz eigentlich gemeint: als Ernährung der abgeschiedenen Geister; zugleich soll es für diese Zeichen des Gedenkens, der Furcht und Pietät ihrer Angehörigen sein; allmählich wird es dann zum bloßen Zeichen dieser Gesinnung, auch in der Meinung der Opfernden; der Zweck wird zum Mittel und das Mittel wird mehr und mehr selbständig gegen den Zweck, d. h. mehr und mehr von ihm verschieden. 5. So ist oder wird im allgemeinen für wahrnehmende Subjekte organische äußere Bewegung Zeichen von Empfindung und Gefühl; und dies wird auch, da das natürliche Denken metaphorisch ist, d. h. Unwahrnehmbares in sinnliche Bilder übersetzt, so ausgedrückt: Äußeres Zeichen des Inneren, als ob die Seele räumlich im Leibe vorhanden wäre, beide also Teile eines wahrnehmbaren Ganzen; womit dieser dem Begriffe unmittelbar angehörige Fall durch die Sprache (die das natürliche Denken ausdrückt) auf einen ferneren, aus der Identität ableitbaren, zurückgeführt wird. 6. Der nächste Fall aber, der an der Identität gemessen werden kann, ist die sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit eines Dinges mit einem andern, deren Vollkommenheit als Gleichheit bezeichnet wird. So ist ein Bild Zei 1

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4.: Thema laut „Übersicht“: Nachempfindung – Schlußfolgerung – Vermischung von Sache und Zeichen. – In Tönnies 1899: 294 abweichend hier erst „2.“ Thema, folgend dann bis Thema 92 gleiche Erhöhung der Nummerierungziffern. Prostration: das sich (ausgestreckt) Niederwerfen zur Begrüßung 5.: Thema laut „Übersicht“: Äußere Bewegung – Zeichen von Empfindung und Gefühl. 6.: Thema laut „Übersicht“: Ähnlichkeit – Gleichheit – Bild natürliches Zeichen des Originales.

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chen des Originals, und zwar um so mehr, d. h. hat die Erinnerung an das Original um so regelmäßiger und unmittelbarer zur Folge, je ähnlicher es ist, oder je mehr es sich der Gleichheit nähert. So ist aber selbst der Schatten noch durch seine Ähnlichkeit natürliches Zeichen eines Gegenstandes, so die Spur des abgedrückten Fußes usw. 7. Andererseits kann aus dem Falle der Identität abgeleitet werden, daß der Teil natürliches Zeichen des Ganzen ist. Denn es ist das Wesen der Erinnerung zu ergänzen: dies beruht zuletzt auf den Gesetzen der Übung und Gewöhnung, die wiederum materiell gedacht spezielle Fälle des „kleinsten Kraftmaßes“ sind, psychologisch aber den Trieben der Selbsterhaltung (dem Willen zum Leben) entspringen: je tiefer und enger eine Wahrnehmung oder Erinnerung mit diesen Trieben verknüpft ist, desto leichter, rascher, häufiger wird sie reproduziert; es genügen um so mehr, um die Vorstellung eines Ganzen als gegenwärtigen zu erregen, Wahrnehmungen von Stücken eines solchen Ganzen; die Ergänzung wird dagegen um so schwieriger, daher um so mehr in Form eines Schlusses vollzogen, je geringer – kleiner oder weniger charakteristisch – das Stück im Vergleiche zum Ganzen ist. 8. Ebenso nun ist das Stück natürliches Zeichen eines anderen Stückes, insonderheit des benachbarten, im Raume und in der Zeit; daher kann jedes Antezedens Zeichen eines Konsequens werden und umgekehrt: etwas Äußeres Zeichen von etwas Innerem usw. Zeichen ist, was als Zeichen wirkt. Hier ist so viel Mannigfaltigkeit, wie in den Tatsachen der Ideen-Association überhaupt, die bekanntlich auf wenige Grundregeln zurückgeführt werden. Mit Recht wird gelehrt, wenn auch noch nicht in definitiver Gestalt, daß schon für den Prozeß des einfachsten Erkennens, insbesondere der räumlichen Anordnung von Empfindungen als Wahrnehmungen eine für die andere zum „Zeichen“ wird, indem uns durch den Übergang – unbewußte Folgerungen – vom Bekannteren auf minder Bekanntes jene Leistung des Gedächtnisses möglich ist, die wir als Orientierung verstehen. Ferner sind aber auch alle höheren Arten des Erkennens als Vergleichungen – Identifikation, Unterscheidung, Folgerung – an „Merkmale“ gebunden, die zur Erwägung, zur Erwartung und zur Gewißheit führen. Das Urteil gründet sich auf Zeichen.

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7.: Thema laut „Übersicht“: Teil natürliches Zeichen des Ganzen. 8.: Thema laut „Übersicht“: Stück Zeichen eines anderen Stückes – Zeichen ist was als Zeichen wirkt – Ideenassoziationen – Lokalzeichen – Urteil.

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I. Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe

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9. Natürliche Zeichen erscheinen entweder in dem von menschlichem Wollen unabhängigen Naturverlaufe oder sie werden von Menschen „gemacht“, „gegeben“, „gebildet“, und diese wiederum sind entweder (als solche, nämlich als Zeichen) unwillkürlich oder werden zu dem Zwecke gemacht, etwas zu „bezeichnen“, sollen etwas bezeichnen. Ein gemachtes Zeichen ist entweder bestimmt dem, der es macht, selber für seine zukünftige Erinnerung zu dienen, oder es soll Anderen dienen für gegenwärtige oder zukünftige Erinnerung. 10. Unwillkürliche Zeichen sind oder werden alle menschlichen Ausdrucksbewegungen für die sich in ihnen ausdrückenden psychischen Zustände; sie, jene Zeichen, bewegen sich zwischen dem, was auch wider den Willen oder Wunsch an einem (z. B. Erröten, Erblassen) und von einem aus geschieht (sogen. Reflexbewegungen, z. B. Zusammenfahren, Stirnrunzeln), daraus ergeben sich „verräterische“ Zeichen, die noch ganz dem unabhängigen Naturverlaufe angehören; und auf der andern Grenze solchem, was, obgleich als Zeichen unwillkürlich, doch gleichsam die volle Zustimmung des Subjektes hat, z. B. der Jubel und das in die Armefliegen beim Empfange des Geliebten. 11. Ausdrückliche Zeichen zu machen ist oder wird notwendig für den, der seine Empfindungen und Gefühle mitteilen will, insbesondere seinen Wunsch, daß ein anderes Wesen etwas tun oder unterlassen möge. Zeichen, die in diesem Sinne gemacht werden, können auch von vielen Tieren verstanden werden; dahin gehören vorzüglich Töne und Geberden, aber auch Wirkungen auf das allgemeine Sinnesorgan der Haut, angenehme und unangenehme. 12. Vorzugsweise auf gemachten Zeichen beruht der für das gesamte Kulturleben der Menschheit unendlich wichtige Gebrauch von Zeichen verschiedener Art. Gemeinsame Empfindungen, gemeinsames Denken und Glauben gibt sich im Gebrauche von Zeichen kund, auch wenn diese keinen anderen Zweck haben, als eben der Stimmung und Übereinstimmung Ausdruck zu verleihen, „Symbole“ der Gemeinschaft zu sein.

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9.: Thema laut „Übersicht“: Natürliche Zeichen im Naturverlaufe oder von Menschen aus – letztere als Zeichen unwillkürlich oder zu Zeichen bestimmt10.: Thema laut „Übersicht“: Unwillkürliche Zeichen – Ausdrucksbewegungen des Menschen. 11: Thema laut „Übersicht“: Ausdrückliche Zeichen – Mitteilung. 12.: Thema laut „Übersicht“: Gebrauch gemachter Zeichen – Symbole.

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13. Die meisten Zeichen dieser Art dienen aber auch zum gegenseitigen Verständnisse und werden um so leichter verstanden, je mehr sie natürliche Zeichen des Willens sind, der durch sie „sich äußert“ oder „sich offenbart“. Da ist denn die Wirkung auf das Gesicht („Geberdensprache“) weit größerer Mannigfaltigkeit fähig als die Wirkung auf das Gemeingefühl, die Wirkung auf das Gehör aber („Lautsprache“) übertrifft wiederum jene in viel höherem Maße durch die Bildsamkeit des Materials, in dem die Zeichen gleichsam geprägt werden. Zunächst freilich ist die Entwicklung der Geberdensprache leichter, weil sie eben über mehr natürliche Zeichen verfügt, und so wird sie in früheren Phasen menschlicher Entwicklung nur unterstützt durch die Lautsprache, ein Verhältnis, das später sich umkehrt, bis endlich die schriftlich fixierte Lautsprache allein durch sich selber wirkt und auch die Erklärung, die der Redende durch Modulation der Stimme seinen Worten mitgibt, entbehren muß. Im gleichen Verhältnisse entwickelt sich im ganzen der Fortgang von sinnlichen und einzelnen zu gedanklichen und allgemeinen Mitteilungen. 14. Denn aus artikulierten Lauten entsteht fast ausschließlich die ganze andere Gattung von Zeichen, die wir als künstliche Zeichen den natürlichen Zeichen gegenüberstellen. Hier ist kein natürliches Verhältnis oder Band mehr zwischen Zeichen und Bezeichnetem, sondern allein menschlicher Wille stellt das Verhältnis der Ideen-Association her, wodurch das Wort Zeichen des Dinges wird, ebenso das Verhältnis, wodurch die Schrift Zeichen des Wortes, die Einheit des Buchstabens Zeichen der Einheit des Lautes wird. Die Abscheidung künstlicher von natürlichen Zeichen ist aber ein Prozeß, der allmählich und in unmerklichen Übergängen fortschreitet: das Gedächtnis muß sich an immer unnatürlichere, folglich unbequemere Zeichen gewöhnen, die jedoch für die menschlichen Zwecke Erleichterungen sind, weil die natürlichen Zeichen nicht ausreichen oder einen viel größeren Aufwand von Arbeit kosten würden, um in genügendem Maße ausgebildet zu werden. Die natürlichen Zeichen, die den Sprachlauten zu grunde liegen, sind teils unwillkürliche Ausdrucksbewegungen der vokalen Organe, teils Nachahmungen, d. i. Abbildungen gehörter und bekannt gewordener Töne, zum Teil endlich nach Prinzipien der Analogie und des Kontrastes gebildete Versuche, die Eindrücke von Gegenständen wieder zu geben, die 1 17

13.: Thema laut „Übersicht“: Gegenseitiges Verständnis – Geberdensprache – Lautsprache. 14.: Thema laut „Übersicht“: Künstliche Zeichen – durch menschlichen Willen – natürliche Zeichen, die den Sprachlauten zu grunde liegen.

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I. Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe

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dann, durch relativ zufällige Umstände begünstigt, sich erhalten haben, d. h. in eine mehr oder minder feste Verbindung mit den Ideen (Wahrnehmungen oder Erinnerungen) der Gegenstände gekommen sind. 15. Ein gewisses Wort hat eine gewisse Bedeutung, d. h. es ist Zeichen eines gewissen (wahrnehmbaren oder denkbaren) Gegenstandes, nach dem Willen eines oder mehrerer Menschen. Wenn nach dem Willen eines Menschen, so versteht entweder er nur allein das Zeichen, dann ist es ein individuelles Zeichen, oder es wird auch von Anderen verstanden, alsdann ist es ein soziales Zeichen. Auch hier sind Übergänge vorhanden. Verstehen ist selbst eine Art des Wollens, ist der Wille der Anerkennung, der Annahme, d. h. Aneignung, und so wird gemeinsames Verstehen einem gemeinsamen Besitze ähnlich. Durch das Verstehen wird also aus dem individualen ein sozialer Wille. Je weniger aber das Wort soziale Geltung hat, desto mehr bedarf es für das Individuum der Anstrengung, sich verstanden zu machen; den Sinn, den er dem Worte geben will, unterstützt er dann durch natürlichere Zeichen: Töne und Geberden. 16. Wesentlich und nach dem Gesetze ihrer Entwicklung sind aber Wörter soziale Zeichen, und der soziale Wille, der in ihnen sich ausdrückt, ihnen ihre Bedeutung gibt und darüber entscheidet, ist, wie aller sozialer Wille, von mannigfacher Art. 17. Hier muß vor allem der tiefe Unterschied vorausbedeutet werden zwischen sozialem Willen, der auf natürliche Art sich gebildet hat, und solchem, der auf bewußte Art gemacht wird. Aus diesem Unterschiede entspringt der Grundunterschied des Sinnes, worin ein Wort etwas bedeutet. Ehe wir jedoch dies in eingehender Weise betrachten, möge eine allgemeine Erörterung vorausgehen. 18. In jedem Falle ist die Bedeutung eine Art von Gleichung: ein Wort ist gleich einem oder mehreren anderen Worten, durch die es erklärt wird und ist so, mittelbar oder unmittelbar, gleich dem Gegenstande einer Wahrnehmung oder Erinnerung. Diese Gleichungen aber werden im Allgemeinen nicht als etwas Gewolltes gedacht, sondern als etwas Wirkliches, das man also kennt oder nicht kennt, über das man richtiger oder falscher Meinung sein kann; man weiß oder weiß nicht, was ein Wort bedeutet, d. h. wofür es

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15.:Thema laut „Übersicht“: Bedeutung des Wortes – Wille eines einzelnen Menschen – das Verstehen – Anstrengung. 16.: Thema laut „Übersicht“: Wörter als soziale Zeichen – sozialer Wille. 17.: Thema laut „Übersicht“: Ankündigung des Unterschiedes im sozialen Willen. 18.: Thema laut „Übersicht“: Bedeutung als Gleichung.

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das Zeichen ist; wie ein Ding „heißt“, d. h. durch welches Wort es bezeichnet wird. Die Frage, aus welcher Ursache etwas so oder so heiße, liegt zunächst so ferne, wie die Frage, aus welcher Ursache etwas grün oder blau sei. 19. So sehr wird in jedem Kreise von Menschen das für wirklich gehalten, d. h. dem Natürlichen gleich, was Alle kennen (oder doch erfahren können); woran deshalb Alle sich gebunden fühlen; die Verbindung von Namen und Sache wird so fest, daß sie als notwendig empfunden und gedacht wird. Der Name gilt als zur Sache gehörig, und wie ein Bild oder Schatten in mystischem Zusammenhange mit ihr. Dies dann in besonderer Weise bei den Namen von Personen, so daß man fürchtet, wer den Namen wisse, erlange Gewalt über Leib und Seele; daher die Sorge, den Eigennamen zu verhehlen, die Scheu, den Namen Verstorbener auszusprechen, um ihre Ruhe nicht zu stören und viel verwandter Aberglaube. Sogar in der Philosophie wird die Meinung nicht leicht überwunden, daß irgendwelche Namen den Dingen von Natur (φύσει) zukommen, und die christlichen Denker statuieren, daß Adam den Dingen die richtigen Namen beigelegt habe: noch im Anfange des XIX. Jahrhunderts gelangt die Lehre zu neuer Geltung, daß aus dem Hebräischen als der Ursprache alle Sprachen abzuleiten seien. Ja, noch heute gibt es berühmte Autoren, die den Besitz der Sprache, also eines ausgebildeten Systems von Lautzeichen, für eine absolute Kluft zwischen Menschen und Tieren halten; eine Theorie, die zu ihrer Ergänzung nur der anderen bedarf, daß eine neue absolute Kluft zwischen Menschen, die das Zeichensystem einer Buchstabenschrift besitzen und solchen, die es nicht besitzen, aufgetan sei, so daß jene nicht von diesen abstammen können. 20. Nun aber weiß man doch, daß es verschiedene „Sprachen“ der Menschen gibt, und versteht darunter die Gesamt-Systeme von Lautzeichen, die in einer gewissen Menge von Menschen, in einem Volke oder in verwandten Völkern verstanden und gebraucht werden. Die Tatsache, daß innerhalb einer solchen Menschenmenge kleine Gruppen wiederum sich unterscheiden, teils und hauptsächlich in bezug auf die Lautformen oder die „Aussprache“ der gleichen Wörter, teils durch eine gewisse Zahl abweichender, eigentümlicher Wortzeichen, wird dadurch ausgedrückt, daß man innerhalb einer Sprache verschiedene „Mundarten“ oder „Dialekte“ als vorhanden hinstellt. Tatsächlich kommen in jeder größeren oder kleineren Gruppe von Menschen, die zusammen leben und gemeinsame Angelegenheiten haben, 4 2 5

19. : Thema laut „Übersicht“: Verbindung von Namen und Sache für wirklich gehalten. Aberglaube. Die richtigen Namen. 20.: Thema laut „Übersicht“: Verschiedene Sprachen – Dialekte – Sondersprachen.

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besondere Wörter vor, die regelmäßig gebraucht werden und oft so massenhaft und auffallend sind, daß man wieder von einer besonderen „Sprache“, der Studentensprache, Schiffersprache, Gaunersprache u. dgl. redet. Auch gibt es nicht selten in engsten und kleinsten Gruppen, als zwischen Ehegatten oder Geschwistern, eine eigene Sprache, d. h. zahlreiche Namen von Dingen, die sie allein verstehen oder gebrauchen, die sie oder die einer von ihnen „erfunden“ hatten, sei es nun ein beliebiger, sonst bedeutungsloser Laut oder ein sonst etwas anderes bedeutender, oder ein Laut, der sich an einen so bekannten anlehnt. 21. In Wahrheit ist zum gegenseitigen Verständnis eben so sehr ein gemeinsames Ideen-System, wie ein gemeinsames Zeichen-System notwendig, ja in höherem Grade, denn wenn die Ideen vorhanden sind, so werden Zeichen leichter und rascher erworben, also auch zum Ersatze gewonnen, während die Kenntnis von Zeichen nichtig ist ohne Kenntnis der Ideen, worauf sie zu beziehen sind, und diese Kenntnis ist viel schwerer zu erwerben oder zu ersetzen, zumal wenn es nicht mehr um wahrnehmbare, sondern nur noch um denkbare Gegenstände sich handelt. Darum ist die Tatsache, daß zwei Menschen dieselbe Sprache reden, keineswegs Garantie dafür, daß sie einander in weitem Umfange verstehen. Hier kommt außer der Fähigkeit von Wahrnehmungen (dem Blinden redet man umsonst von Farbe), Vorstellungen, Abstraktionen sogleich das ganze Gebiet spezieller technischer und wissenschaftlicher „Begriffe“ in Frage, deren Namen nicht nützen ohne Vertrautheit mit den Objekten. Zum intimen Verständnisse gehört aber endlich, zumal wo es um nur subjektive Gefühle und Erfahrungen sich handelt, auch ein entschiedener („guter“) Wille des Verstehens, daher eine lebhafte Sympathie, sofern diese nicht durch Interesse, d. h. durch einen Gedanken, dem das Verstehen Mittel zu anderem Zwecke ist, ersetzt wird. In jedem Falle ist das Verstehen dessen, was ein anderer gemeint hat, als Reproduktion eine Art von Kunstleistung, die mehr oder minder gelingt, deren Gelingen wahrscheinlicher wird durch Aufmerksamkeit und Übung, aber auch durch Kenntnis von Regeln, nach denen teils aus der Erscheinung (dem angewandten Zeichen), teils aus begleitenden Erscheinungen (z. B. der Betonung) auf die wirkliche Meinung dessen, der diese mitteilen will, geschlossen werden darf. Je nach dem genügt zum Verstehen ein für alle außer dem Verstehenden unverständliches Stammeln oder Lallen, oder ist

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21.: Thema laut „Übersicht“: Gemeinsames Ideensystem als Mitbedingung gegenseitigen Verständnisses – guter Wille.

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eine lange Lehrzeit und selbst für den Gelehrten noch eine in vielen verwickelten Sätzen vollzogene Entfaltung eines Gedankens notwendig. 22. Also setzt nicht blos gegenseitiges, sondern auch einseitiges Verständnis gemeinsam-gleichartige Kenntnis von Ideen und von Zeichen voraus; Zeichen sind selber Ideen und ihre Verbundenheit mit den bezeichneten Ideen ist das, was vorhanden sein muß, um ein Verstehen möglich zu machen. Diese Verbindung kann, sobald andere als natürliche Zeichen verstanden werden sollen, nur erworben werden durch Lernen, d. h. durch zunehmende und sich befestigende Erfahrung, die wesentlich auf eigene Faust oder wesentlich durch Hilfe anderer gewonnen wird; in jedem Falle ist durch eigene Übung und damit sich bildende Gewohnheit die Entwickelung jener Ideen-Assoziationen bedingt, die als gewohnte gekannt werden und ein (wenn auch latent bleibendes) Wissen involvieren. Das Gewohnte aber und Bekannte wird als natürlich empfunden und gedacht, daher von dem naiven Geiste die Frage nicht leicht aufgeworfen, warum denn der Gegenstand diese Namen oder das Wort diese Bedeutung habe, oder aber gleich ähnlichen Fragen nach dem Ursprunge von Handlungsweisen, Gebräuchen usw. durch Hinweisung auf die Übereinstimmung und auf die Überlieferung von den Vorfahren her, beantwortet. Die Gewalt der Tatsache, als einer für wirklich und natürlich gehaltenen, wird freilich dadurch abgeschwächt, daß es viele Sprachen gibt und daß es nur „in“ dieser „unserer“ Sprache so ist – denn hierdurch wird der Gedanke darauf hingelenkt, Bedeutung oder Namen als zufällig, anstatt als notwendig anzuschauen, als durch menschlichen Willen gesetzt, daher auch veränderlich (νόμψ) anstatt als natürlich und unabänderlich (φύσει) sie zu begreifen. Aber die einzelne „Sprache“ erscheint nun als ein Wesen von natürlicher oder übernatürlicher Art, sie hat einen „Geist“, man bedient sich ihrer als eines lebendigen Werkzeuges, ihrer, der ganzen, die als Ganzes sich darstellt, weil durch sie, d. h. wenn man sie gebrauchen will, die einzelnen Wörter in folgerichtiger, dem Belieben entrückter Weise zusammenhängen und also vorgeschrieben, geboten sind, so daß man sie anwenden muß; dazu „Regeln“ für ihre Zusammensetzung, die man nicht „übertreten“ darf, ohne sich eines falschen, verkehrten, unverständlichen oder doch unschönen Redens schuldig zu machen. 23. Der Geist der Sprache, das ist eine der Gestalten, in denen das erkannt wird, was wir als sozialen Willen definieren. Die Natur des sozialen Wil-

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22.: Thema laut „Übersicht“: Zeichen als Ideen – Lernen – Gewohnheit – das Natürliche. 23.: Thema laut „Übersicht“: Der Geist der Sprache ist sozialer Wille.

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lens zu erkennen ist notwendig, um den verschiedenen Sinn zu analysieren, worin von Wörtern oder anderen sozialen Zeichen gesagt werden kann, daß sie „Bedeutung“ haben. Darum haben wir die Unterscheidung vorausgeschickt zwischen sozialem Willen, der auf natürliche Art sich gebildet hat, und solchem, der auf bewußte, wir dürfen sagen willkürliche Art gemacht wird. Als sozialen Willen überhaupt verstehen wir den für eine Mehrheit von Menschen gültigen, d. h. ihre Individual-Willen in gleichem Sinne bestimmenden Willen, insofern als sie selber als Subjekte (Urheber oder Träger) dieses ihnen gemeinsamen und sie verbindenden Willens gedacht werden. 24. Als individueller menschlicher Wille aber wird hier begriffen jede bestehende Verbindung von Ideen (Gedanken und Gefühlen), welche für andere sich bildende Verbindungen von (ebensolchen) Ideen erleichternd, beschleunigend, oder erschwerend und hemmend wirkt (sie wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht). 25. In diesem Sinne kann menschlicher Wille als Ursache menschlicher Tätigkeiten oder bewußter Unterlassungen gedacht werden; denn Tätigkeiten und bewußte Unterlassungen sind psychologisch verstanden nichts als Sukzessionen von Ideen. 26. In jenen kausalen Ideenverbänden sind aber die relativ konstanten Elemente die Gefühle (die Bejahung oder Verneinung), die relativ variabeln die Gedanken. Das Verhältnis dieser zu jenen muß daher Prinzip der Einteilung und der Klassifikation bilden. Dies Prinzip liegt der Dichotomie des individualen wie des sozialen Willens zu Grunde. Natürlich nennen wir den Willen, in dem die Gefühle, künstlich den Willen, in dem die Gedanken überwiegen. Das heißt: die Beziehung auf Tätigkeiten (um so kurz zu sagen), in denen Wille überhaupt sich „äußert“ oder „verwirklicht“, ist in einem Falle mehr vorausgefühlt – man kann dies auch ausdrücken: als objektiv vorhandene Tendenz empfunden –, im anderen mehr vorausgedacht. Vorausgefühlt ist sie von Natur unbestimmt und entwickelt sich von allgemeinen zu besonderen Beziehungen. Vorausgedacht geht sie von einzelnen Bestimmungen aus und geht in allgemeinere über, die aus jenen zusammengesetzt werden. Aus diesem Gegensatze ergibt sich das charakteristische Merkmal: dort – im Gefühlswillen – Herrschaft des Grundzweckes; d. h. die Idee eines allgemeinen Gutes richtet Gefühle und Gedanken auf das besondere Gut; hier – im Gedankenwillen – leitet die Idee eines besonderen Gutes – des 10 15 19

24.: Thema laut „Übersicht“: Definition des Individualwillens. 25.: Thema laut „Übersicht“: Wille als Ursache. 26.: Thema laut „Übersicht“: Vorausfühlen – vorausdenken – Grundzweck – Endzweck.

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Endzwecks – alle übrigen Ideen und ordnet sie sich unter. Dort – um einen noch bestimmteren Kontrast herzustellen – „wird“ dem Menschen seine Aufgabe, sein Beruf offenbar (oder ist ihm offenbar geworden): „das soll ich“; hier „macht“ er sich einen Plan (oder hat ihn gemacht): „das muß ich“. Dort – um endlich an geläufige wissenschaftliche Begriffe anzuknüpfen – herrscht im Willen das Unbewußte, hier das Bewußte vor. 27. Die fernere, diese Einteilung kreuzende Klassifikation der Willensformen richtet sich nach der beiden Typen gemeinsamen Beziehung auf Tätigkeiten. Je nachdem nämlich darin, d. h. in der entsprechenden Sukzession von Ideen, das sinnliche Element (Empfindungen, Wahrnehmungen) oder aber das intellektuelle Element (Vorstellungen, Gedanken) überwiegt, ergeben sich je 2 Hauptformen, eine des Anfanges und eine der Vollendung; dazwischen aber legen wir die breite Masse, in der jene Elemente so vermischt angetroffen werden, daß sie in relativem Gleichgewicht sich befinden. 28. Es entstehen also 6 Klassen von Willensformen, deren jede aber in Unterabteilungen zergliedert werden kann. Wir benennen sie hier mit Buchstaben

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Inwieweit diese begrifflich konstruierten Formen in der Wirklichkeit vorkommen oder mit solchen, die in der Wirklichkeit vorkommen, sich de­cken, bleibt hier außer Frage; darum auch, ob es möglich ist, sie mit Worten, die sonst üblich sind, zu bezeichnen. 29. Ein Gegenstand (A) wird durch individualen, z. B. meinen Willen Zeichen eines anderen Gegenstandes (B), – dies ist, um den Gegensatz gegen natürliche Zeichen darzustellen, das nächste Problem. Auf den einfachsten und rationalen Ausdruck gebracht, heißt es: ich will bei Wahrnehmung von A – obwohl sie mit B in keinem natürlichen Zusammenhange steht – an B denken. Dieses „ich will“ kann aber (im Deutschen auch sprachlich) sowohl auf die gegenwärtige als auf die zukünftige Zeit sich beziehen, es kann auf eine einmalige oder gelegentliche, es kann auch auf eine regelmäßig zu wiederholende Erinnerung gehen. Die Erinnerung selber ist wesentlich an die Wahrnehmung oder nur an die Vorstellung gebunden, also mehr 7

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27.: Thema laut „Übersicht“: Fernere Klassifikation der Willensformen. 28.: Thema laut „Übersicht“: 6 Klassen. 29.: Thema laut „Übersicht“: Anwendung auf Zeichen.

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von sinnlicher oder mehr von intellektueller Art. Der Wille aber, der die Assoziation bildet oder in ihr sich darstellt, wird hier, nach dem gegebenen Schema, in seine Gestaltungen unterschieden. Auf der einen Seite stehen 2 „Erlebnisse“, die durch die „Gefühlsbetonung“ des einen oder beider oder eines dritten miteinander verknüpft werden. Der Hoffende, Mutige, der z. B. in den Kampf zieht, „nimmt“ leicht irgend ein zufälliges Ereignis als ein „gutes Zeichen“ für sich („accipio omen“) – die Idee des Sieges erregt ihn so, daß sie jede andere Idee sich assimiliert; jene Idee verbunden mit dem Wunsche ist hier der Wille. Die Verbindung aber zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist hier nur lose und oberflächlich, sie entsteht und vergeht leicht mit der sinnlichen Wahrnehmung des Zeichens. Dauerhafter wird sie, wenn ein dauernder Wunsch, ein „Interesse“ sie knüpft; zu Grunde liegt immer der „Wunsch“ günstiger Erlebnisse, daher günstiger Zeichen; die Freude an jenen überträgt sich auf diese; daher „verweilt“ Erinnerung eben so gern als Wahrnehmung bei ihnen. So gewöhnt sich der Schaffende, von Zufällen Abhängige, z. B. ein Landmann oder Schiffer, vielerlei Beobachtetes so mit den einzelnen Stadien seiner Tätigkeit zu verbinden, daß ihm regelmäßig die wiederkehrende Wahrnehmung zum günstigen oder ungünstigen Zeichen wird. Aus solchen Denkgewohnheiten setzt sich die ganze Masse des traditionellen Aberglaubens zusammen. Endlich kann man, durch eben solche Willensmotive angestachelt, förmlich lernen, sei es von anderen oder durch eigene Erfahrung und Überlegung, Erlebnisse „sich zu deuten“, z. B. Träume, die mit zukünftigen Ereignissen in keiner natürlichen Verbindung stehen, aber in beliebigen Zusammenhang mit der Meinung darüber gebracht werden können. Hier wird denn die Erinnerung selber von ausgeprägt intellektueller Art, z. B. die durch eigenes Denken gewonnene „Überzeugung“, daß ein Traum von fetten Kühen glückliche Jahre bedeute. In allen diesen Fällen ist immer nur daran gedacht, wie etwas für ein Individuum durch seinen Willen zum Zeichen von etwas anderem wird. In Wirklichkeit haben oder gewinnen solche Zeichen zumeist auch eine soziale Bedeutung vor der individualen oder durch diese. Notwendig ist aber jene erst, wenn Zeichen soziale Gebrauchsgegenstände werden. – Auf der anderen Seite aber betrachten wir, daß der Wunsch einer bestimmten Erinnerung diese zum Zwecke und irgend etwas, das mit ihrer Idee vorher in Verbindung gebracht wird, zum Mittel macht, d. h. zur vorausgesetzten Ursache der Erinnerung; er kann ihr natürliches Zeichen dazu wählen oder 7 33

accipio omen: [lat.] svw. das Vorzeichen nehme ich an (röm. religiöse Alltagsformel). – Auf der anderen Seite: In Tönnies 1899: 303 beginnt damit ein neuer Absatz.

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ein sozial gültiges Zeichen, oder endlich – was uns hier allein angeht – ein nur für sich bedeutendes Zeichen mit jener Idee verknüpfen. Die Formen des Willens werden für den gegenwärtigen Zweck in genügender Weise durch Beispiele erläutert. 1. Ich mache mir ein Zeichen zu einmaligem oder gelegentlichem Gebrauch – z. B. einen Knoten ins Schnupftuch, um morgen an einen zu schreibenden Brief zu denken; Striche in ein Buch, um bei wiederholtem Lesen mich meines Gefallens oder Mißfallens zu erinnern. 2. Ich setze mir ein Zeichen zum bleibenden Gedächtnis, z. B. einen Stein auf meinem Acker, um mich immer daran zu erinnern, daß ich an dieser Stelle eine wichtige Nachricht empfing. 3. Ich erfinde mir ein Zeichen, um etwas dadurch wieder zu erkennen, d. h. mich zu erinnern, daß ein Gegenstand in einer gewissen Beziehung zu mir steht, z. B. mein Eigentum ist. So „zeichne“ ich mein Vieh für eine Herde; wesentlich ist dabei die intellektuelle Gewißheit, es jederzeit aus der Herde als das meine aussondern zu können. Die individuelle Bedeutung des Zeichens geht hier leicht in eine ausschließende, d. h. in die „geheime“ über. Das Zeichen soll entweder nur für mich verständlich oder nur für mich wahrnehmbar sein. 30. Um nun darzustellen, wie in analoger Weise sozialer Wille sich mannigfach darstellt, wollen wir von den ausgeprägtesten Haupttypen seiner beiden Gattungen ausgehen, deren Begriffe fast auf vollkommene Art durch sprachlich anerkannte soziale Mächte gedeckt werden. Sogleich soll aber die Anwendung auf gültige Bedeutungen von Worten geschehen, die durch solche Mächte geschaffen werden. 31. Typus jener Kategorie ist die Sitte, Typus dieser Kategorie ist das Gesetz, in dem Sinne, in dem es gedacht wird, als aus Beratungen und Beschlüssen eines Einzelnen oder einer Versammlung hervorgehend („statute law“). 32. Das Wesen der Sitte liegt in der tatsächlichen Übung, sie entspricht psychologisch dem, was am Individuum als Gewohnheit verstanden wird, sie heißt auch ausdrücklicher Weise Volksgewohnheit. Als Wille ist sie auf einfachste Art erkennbar durch allgemeinen Unwillen, oft auch Entrüstung, ja Abscheu, den ihre Verletzung erregt, aber auch durch die Redeformen, die aus dem allgemeinen Denken hervorgehen, als: die Sitte befiehlt, die Sitte fordert, die Sitte ist streng und unerbittlich usw. 33. In den Sprachen vermischt sich diese Auffassung der Sitte mit derje 18 24 27 35

30.: Thema laut „Übersicht“: Analogie des sozialen Willens. 31.: Thema laut „Übersicht“: Sitte – Gesetz. 32.: Thema laut „Übersicht“: Wesen der Sitte. 33.: Thema laut „Übersicht“: Sitte als Wille und als bloße Übung.

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nigen einer nur objektiven Tatsache, der Gewohnheit als bloßer Übung, d. h. regelmäßiger Übung. Wer aber den „Geist“ seiner Sprache kennt, bemerkt wohl, wie an einem inneren Akzente, ob von Sitte in dem einen oder in dem anderen Sinne gesprochen wird, wie man auch von dem sozialen Sinne noch einen individualen unterscheiden kann, der aber (im Deutschen) sich dadurch charakterisiert, daß er pluralisch geformt wird, und daß er nur der zweiten, objektiven Anwendung des sozialen Begriffes entspricht („ein Mensch von lockeren Sitten“). 34. Synonyma des Wortes im sozialen Sinne sind (im Deutschen) „das Herkommen“, „der Brauch“: jener Ausdruck weist auf die Begründung durch Übung früherer Generationen und auf das Verbindliche dessen, was die Väter getan und für gut gehalten haben, hin; dieser („der Brauch“) geht mehr auf die lebendige Praxis. 35. In Anwendung auf Bedeutungen der Wörter bildet die deutsche Sprache für den Begriff der Sitte das besondere Wort „Sprachgebrauch“, wobei weniger an die Überlieferung als an die tatsächliche Übung gedacht wird; allerdings ist er auch in hohem Maße durch jenes bedingt, wie denn der „herkömmliche Sprachgebrauch“ besonders betont zu werden pflegt. Daß der Sprachgebrauch gleich anderer Sitte auch eine subjektive Seite hat, liegt bei einem so psychischen Akte wie dem Sprechen nahe zu gewahren; indessen ist das Objekt auch zu intellektuell, als daß Abweichungen und Verfehlungen eigentlichen Unwillen erregen sollten; wohl aber gibt sich bei jedem Sprachkundigen andere Unzufriedenheit oder doch Ablehnung kund, oft nur als Komischfinden oder in minder ausgeprägten Fällen, einfach als Urteil, das etwas als falsch verneint, und als Wunsch zu berichtigen. Daß aber dem tatsächlichen Gebrauche, nach dem der Einzelne sich richtet, den jeder als „entscheidend“ für die Bedeutung von Wörtern anerkennt, so etwas wie ein gemeinsamer, gleichgerichteter Wille zu grunde liegt, ist auch daraus ersichtlich, daß die Sprache als ein „Gut“, ein „nationales Erbe“, ein „heiliges Besitztum“ aufgefaßt zu werden pflegt, dessen „Antastung“ oft zu heftigen Rede- und Waffenkämpfen geführt hat und noch führt. „Wir wollen unsere Sprache sprechen“, was heißt das anders als: wir wollen diese Zeichen mit diesen Bedeutungen gebrauchen; der Wille des Gebrauchs involviert den Willen der Bedeutungen: daß diese nicht als mitgewollt gedacht werden, beruht auf schon früher angedeuteten Gründen. Es ist aber allgemein: in der Gewohnheit wird der Wille nicht erkannt obgleich er sich stark genug, 9 14

34.: Thema laut „Übersicht“: Herkommen – Brauch. 35.: Thema laut „Übersicht“: Sprachgebrauch – Wille in Gewohnheit.

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zumal als Widerstand, darin kundgibt. Es schwebt immer die an sich richtige Schlußfolgerung vor: wenn dies durch meinen (unsern) Willen wäre, so könnte mein (unser) Wille es in jedem Augenblicke aufheben oder verändern. Falsch ist nur, was dabei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß der (individuelle oder soziale) Wille etwas sei, was ohne zureichende Ursachen in jedem Augenblick entstehen könne. Tatsächlich gilt: je fester gewurzelt eine Gewohnheit, desto unwahrscheinlicher und schwieriger ist es, sei es durch fremden oder durch eigenen Willen, ihr entgegenzuwirken. 8 36. Durch Volksgewohnheit oder Sitte entstehen und wachsen als am tiefsten das Leben der Einzelnen berührend die sozialen Gebilde, die wir „Recht“ nennen; Gesetzgebung vereinheitlicht diese mannigfachen Gebilde und macht Recht auf bewußte und planmäßige Weise. Jenes, das Gewohnheitsrecht, erscheint teils in Tatsachen, Meinungen, Sprüchen, mündlich oder schriftlich überlieferten Regeln, teils in der Praxis der Richter, dem Gerichtsbrauch, d. h. in regelmäßig oder nur einmal, in gegebenem typischem Falle, ausgesprochenen Urteilen. Diese, die Gesetzgebung, d. h. die zur Durchführung ihres Willens fähige soziale Macht versucht alle möglichen Fälle im Voraus zu denken, nach Erwägung der Angemessenheit für bestimmte Zwecke, Regeln aufzustellen, nach denen geurteilt, gerichtet werden soll. 37. Während Gewohnheitsrecht in großer Mannigfaltigkeit und zahlreichen Widersprüchen die Rechtssphären der Personen vielfach in Vermischungen und Kreuzungen und schwer lösbaren Gemeinschaften läßt, so ist Gesetzesrecht beflissen, die einzelnen Sphären scharf von einander zu trennen und gegen einander abzugrenzen, nichts gemeinsam zu lassen, als was aus dem individuell bestimmten Eigentum oder Rechte abgeleitet oder doch ableitbar ist. Gesetzesrecht ist, wo es in seinen eigenen Bahnen wandelt, so sehr als möglich rational. Sofern Gewohnheitsrecht in Sätzen oder Urteilen enthalten ist, folgt seine Sprache dem allgemeinen Sprachgebrauch, ist daher mit diesem vielfach unbestimmt und schwankend. 8 In den Sprachen sind jedoch Spuren dieser, der Psychologie fehlenden, Erkenntnis zu finden. Man denke an das griechische Wort ὲϑελω, wo die Identität direkt, und an das entsprechend deutsche „pflegen“, wo sie indirekt angedeutet wird.

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36.: Thema laut „Übersicht“: Gewohnheitsrecht – Gesetzgebung. 37.: Thema laut „Übersicht“: Charakteristik des Gegensatzes. ὲϑελω: [gr.] svw. wollen, pflegen (hier in bezug auf Sachen); in Tönnies 1899: 305 korrekt geschrieben (ἐϑέλω).

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38. Im Gewohnheitsrechte liegt immer ein Sprachgebrauch eingeschlossen, durch den es sich expliziert. Es ist Sache des richterlichen Urteils, zu erkennen, ob eine Sache das und das sei, d. h. ob ein gewisser Name ihr zukomme, z. B. einem Getränke der Name Wein, einer Zutat dazu der Name Gift. Es wird geprüft, ob die Sache die Qualitäten habe, die der Sprachgebrauch mit dem Namen bezeichnen will, für seine Merkmale hält. 39. Gesetzgebung muß sich direkt mit der Bestimmung von Wortbedeutungen befassen. So wird im Strafrechte nicht alles, was im Volke und in gewöhnlicher Rede Betrug oder Diebstahl genannt wird, als Verbrechen dieser Art verstanden und mit Strafe bedroht; vielmehr werden Definitionen solcher Begriffe zu Grunde gelegt und als Maßstäbe der Bedeutung vorgeschrieben. Die neuere sozialpolitische Gesetzgebung und auf ihr beruhende Verordnungen können nicht umhin, Ausdrücke des täglichen Lebens, wie Fabrik, Arbeiter, Handwerker als Begriffe zu stempeln, d. h. ihnen feste, leicht erkennbare Grenzen zu geben; und zwar bestimmen verschiedene Gesetze, verschiedene Verordnungen diese Grenzen auf verschiedene Art; es heißt dann z. B. „Handwerker“ im Sinne dieses Gesetzes ist . . . ., Arbeiter im Sinne dieser Verordnung usw. 40. Wie aber in weitem Umfange Gesetze die Normen des Gewohnheitsrechtes nur fixieren, ausdehnen oder einschränken, insbesondere aber sie vereinheitlichen, so auch die gesetzlichen Bestimmungen über Bedeutung von Wörtern. Oft aber geschieht diese auch ohne alle Rücksicht auf den Sprachgebrauch, ja diesem entgegen: neue Begriffe werden gebildet und für diese neue Wörter geschaffen oder alten die neue Bedeutung gegeben; der Gesetzgeber verfügt frei über den Sprachstoff, hält es aber in der Regel für zweckmäßig, den Sprachgebrauch zu schonen, an den er tatsächlich auch vielfach gebunden bleibt, wo er sich nicht mehr gebunden fühlt. 41. Dem Sprachgebrauch, der so sehr die breite Masse des auf die Wortbedeutungen bezüglichen sozialen Willens enthält, daß man fast immer anstatt des Wortes (Sprachgebrauch) das Wort Sprache schlechthin anwenden kann, steht außer den genannten indirekten Fällen keine eigentliche Sprachgesetzgebung gegenüber. Indessen gibt es doch ein bedeutendes Analogon dazu durch die Tätigkeit der Grammatiker und Lexikographen, wenn diese mit einer gesellschaftlichen Autorität von Staatswegen ausgestattet ist, oder sich 1 7 19 28

38.: Thema laut „Übersicht“: Sprachgebrauch im Gewohnheitsrecht. 39.: Thema laut „Übersicht“: Gesetzgebung und Definition. 40.: Thema laut „Übersicht“: Freie Verfügung über den Sprachstoff. 41.: Thema laut „Übersicht“: Sprachgesetzgebung.

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solche durch ihr eigenes Gewicht erwirbt; der Gesetzgebung näher im ersten Falle. Typisch dafür ist die französische Akademie, deren Dictionnaire die Sprache zu unifizieren und zu reinigen mit so grossem Erfolge unternommen hat; ein Satiriker nannte die hyperkritischen Urheber „souverains arbitres des mots“. Eine viel schwächere Analogie bietet der Einfluß von Schriftstellern, die als mustergültig anerkannt werden; wir werden ihm an einer anderen Stelle aufs neue begegnen. 42. In verwandter Art aber mit solchen Autoritäten und auch in vielfachen direkten Berührungen mit der Gesetzgebung verfährt und wirkt Wissenschaft auf die Sprache. Sie ist gesetzgebend für die Bedeutungen von Wörtern, die sie für ihre bestimmten Zwecke aus dem Sprachgebrauche ablöst und definiert, d. h. die Bedeutungen als sein-sollende setzt; auch ist ihr die Bildung von neuen – im Sprachgebrauche garnicht vorkommenden – Wörtern nicht fremd, die sie zugleich mit Fixierung ihrer Bedeutungen ins Leben ruft, sei es, daß sie die Wörter erfindet oder, wie in der Regel, einer fremden Sprache entlehnt. Die Bedeutungen selber kann sie wiederum entweder durch eben solche Kunstwörter oder durch natürliche Wörter ausdrücken, denen sie ihren gebräuchlichen Sinn gelassen oder einen neuen verliehen hat. Ihre volle Souveränität aber macht sie erst geltend, wenn sie ihre eigentümlichen Objekte schafft, d. h. unabhängig von dem was sonst vorgestellt und gedacht wird, Gegenstände konstruiert und diesen alte oder neue Namen beilegt. Ihre Worte gewinnen dann eine besondere Bedeutung. Z. B. das Wort „Kreis“ hat im Sprachgebrauche sonst mannigfache Bedeutung, durch Gesetzgebung wird das deutsche Wort Name eines künstlich abgegrenzten Verwaltungsbezirkes, für die Wissenschaft bedeutet es, und in jeder zivilisierten Sprache ein entsprechendes Wort, den Begriff eines in keiner Erfahrung vollkommen möglichen Dinges, nämlich einer geschlossenen Linie, die in jedem ihrer Punkte die gleiche Entfernung von einem Mittelpunkte hat: wo schon die Worte Linie und Punkt ebensolche spezifisch wissenschaftliche Bedeutung haben. Man nennt solches nun auch einen wissenschaftlichen Sprachgebrauch – im Sprachgebrauch. Wir aber unterscheiden und definieren hier, achten daher nicht des Sprachgebrauchs; 2 5 9

Dictionnaire: In diesem Wörterbuch der Akademie legt Frankreich den authentischen Wortgebrauch fest; „hyperkritisch“ [gr.] hier svw. überstreng. „souverains arbitres des mots“: [frz.] unumschränkter Herrscher über die Worte; als Zitat nicht nachgewiesen. In Tönnies 1899: 307 ohne jegliche Hervorhebung. 42.: Thema laut „Übersicht“: Wirkung der Wissenschaft auf die Sprache – wissenschaftlicher Sprachgebrauch.

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dadurch selber ein Beispiel gebend der wissenschaftlichen Freiheit, Begriffe zu bilden und zu klassifizieren; einer Freiheit, die nur limitiert wird durch die Kritik ihrer Zweckmäßigkeit (wir gedenken daher, durch den Verlauf der Abhandlung unsere Idee zu rechtfertigen). 43. Wenn wir aber die soziale Gewohnheit, den Brauch, des näheren untersuchen, so findet sich, daß so etwas regelmäßig entsteht, wo ein Zusammenleben von Menschen auf den ihm am meisten natürlichen Grundlagen beruht. Wie sich individuelle Gewohnheiten am leichtesten und häufigsten aus ursprünglichen und starken Neigungen (Geschmäcken, Bedürfnissen) entwickeln, so entwickelt sich soziale Gewohnheit aus wechselseitiger und gemeinsamer Neigung. Alle Neigung offenbart, vielmehr vollendet sich in Tätigkeit, denn sie ist der Beginn solcher Tätigkeit. Aus der Stärke und häufigen Erneuerung der Neigung folgt eine häufige Wiederholung der entsprechenden Tätigkeit; diese wird subjektiv zur Gewohnheit, wenn durch die Häufigkeit selber die Neigung verstärkt oder sogar ausschließlich bedingt wird, da das wiederholte Tun auch aus minder freiwilligen Quellen fliessen kann. Immer ist Gewohnheit eine von der Neigung verschiedene Disposition zu bestimmten Tätigkeiten, als solche mehr bindend und regulierend, die Freiheit des Willens wird durch sie in besonderer Weise determiniert, sie wird als nötigend, ja zwingend empfunden, der „Mensch“ ist „Sklave“ seiner Gewohnheiten, und doch sind diese wesentlich nur festere Gestaltungen flüssiger, aber darum nicht minder notwendiger und nötigender Antriebe. Ganz so wirkt im sozialen Leben der Brauch und verhält sich ebenso zum sozialen Instinkte, oder wie immer wir das ursprünglich Verbindende nennen wollen, das auch für die Bedeutung von Zeichen maßgebend ist. 44. Wenn schon das Verständnis natürlicher Zeichen z. B. von Ge­berden, Rufen durch die Ähnlichkeit der Organe bedingt, durch soziale Gefühle und gewohntes Zusammenleben erleichtert wird, so differenzieren sich, wo diese Förderungen vorhanden sind, künstliche Zeichen in kaum merklicher Weise davon. Wenn der Hilfstrieb – ein- oder gegenseitig – stark ist, so wird der Versuch eine bestimmte Gefahr durch einen Laut anzuzeigen, auch wenn dieser Laut nicht mehr oder nicht zuerst expressiv oder imitatorisch ist, rasch verstanden, kommt leicht in Umlauf, wird auf- und angenommen. Indem gegenseitige Nachahmung Ausdruck der Einmütigkeit ist, darf diese, die natürliche Harmonie der Gemüter, als erste Ursache einer kurrenten Bedeutung von Wörtern, wie von anderen Zeichen, begriffen wer 5 26

43.: Thema laut „Übersicht“: Entwicklung individualer und sozialer Gewohnheit. 44.: Thema laut „Übersicht“: Natürliche Harmonie – Ursprung der Sprache.

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den. Man kann in jeder Kinderstube, im Schoße jeder glücklichen Familie beobachten, wie neue Bezeichnungen für Menschen und Sachen erfunden und verstanden, wie sie aus Wohlgefallen an ihnen selber oder an ihrem Erfinder – z. B. dem Schall nachahmenden Kinde – aufgenommen und wiederholt werden. Ähnlich ist es, wenn in größeren Sprachgemeinden Redner und Schriftsteller neue, besondere Wörter oder neue Bedeutungen alter Wörter aufbringen; dadurch, daß sie gefallen oder durch den Eindruck und Einfluß des Erfinders, gewinnen sie, wenigstens für eine Zeit lang, Kurs, d. h. werden nachgeahmt, wiederholt. Und so muß auch der Ursprung der Sprachen gedacht werden, daß diese Quellen der freien Erfindung, der Versuche zur Einführung, und der zeitweiligen Geltung, reichlich geflossen sind, nachdem einmal die Organe gewöhnt waren, eine Mannigfaltigkeit von Lauten zu bilden. Was dann in dauerndem Brauche sich erhält und auf jüngere Generationen übertragen wird, ist durch Auslesen aus diesem Reichtum ursprünglicher Wortkeime gewonnen; Auslesen, die selber immer aufs neue sich wiederholen. Die psychologische Ursache jener üppig wuchernden Urkeime, in denen die Wörter zugleich mit ihrer sinnlich empfundenen Bedeutung erzeugt werden, können wir als Sprachgefühl, Sprachinstinkt oder besser als „Sprachbildungstrieb“ bezeichnen, und diesen also als dem Sprachgebrauche zu grunde liegend darstellen. Bekannt ist es, daß gerade rohere Sprachen mit einer Überfülle von Synonymen belastet sind, wie auch, daß in ihnen die Verschiedenheit der Mundarten zumeist bis in die engsten lokalen Bezirke sich fortsetzt. 45. Sprache wird, wie andere Systeme, von Zeichen, z. B. Schriftzeichen, Noten, Signale durch Lehre überliefert. In bezug auf die Muttersprache pflegt freilich die Lehre mit dem Gebrauche vermischt zu sein und in unmerklichen kleinen Dosen, die durch Kontinuität um so stärker wirken, eingegeben zu werden. Immer aber ist es die Autorität des Erziehers, die als Tatsache mitteilt, daß das Ding so und so heißt, daß das Wort und der Satz (als Einheit mehrerer Wörter) solche Bedeutung haben. Dieser Aussage muß nicht allein Begierde und Fähigkeit zu verstehen, dem Gedächtnisse einzuprägen und nachahmend sich kund zu geben, sondern auch der Glaube des Lernenden entgegenkommen. Leicht geglaubt wird aber alles, was nicht in entgegengesetztem Wissen, in persönlichem Mißtrauen oder in Mißfallen an der Sache seine psychologischen Widerstände findet. Glaube ist Aufnahme und Bestätigung, gleichsam ein Indossament durch Unterschrift, 24 36

45.: Thema laut „Übersicht“: Überlieferung durch Lehre – Autorität – Glaube. Indossament: Übertragung der Rechte (an einem Wechsel) an einen anderen.

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mithin eine Willenshandlung; und da auch der Lehrer das, was er überliefert, in gutem Glauben empfangen hat, so darf man auch den gemeinsamen Glauben als eine der Formen des sozialen Willens ansprechen, die Wörtern wie anderen Zeichen ihre Bedeutung geben. 46. Dies aber ist in ausgeprägter Weise erkennbar, wenn es sich um besondere Zeichen und besondere Wörter handelt, denen der Glaube oder verwandte Arten eines gefühlhaften Wollens, als Ehrfurcht, Begeisterung, eine besondere und erhöhte Bedeutung verleihen. So geschieht es in weitem Umfange mit Zeremonien und damit verbundenen Zauberworten, die für heilig und auf übernatürliche Weise wirksam gehalten werden. Wörter, deren eigentliche Bedeutung nicht verstanden wird, z. B. wenn sie einer fremden Sprache entlehnt sind, empfangen so die Bedeutung, eine Kraft in sich zu enthalten, die über die Kräfte gewöhnlicher Wörter, menschliche Gefühle und Empfindungen zu erwecken, weit hinaus geht. Der Glaube sagt, daß sie auf die Natur oder auf Götter und Dämonen wirken, die durch und für ihn (den Glauben) in der Natur vorhanden sind. So hat in charakteristischer Art der gemeine Aberglaube die unverstandenen Worte der Eucharistie „Hoc est corpus (meum)“ als „Hokus pokus“ zu Zauberwörtern schlechthin gemacht, die gleich dem Hexen-Einmaleins zum notwendigen Apparate derer gehören, die das Unmögliche zu verwirklichen scheinen. So denken auch die Theologen den Schöpfer, nicht als unmittelbaren Urheber des Himmels und der Erden, etwa durch sein Wesen oder seinen Willen allein, sondern er muß das schöpferische Fiat sprechen [dies keineswegs der jüdisch-christlichen Idee eigentümlich; auch „in indischen und persischen Religionssystemen wird ... die Schöpferkraft des Wortes an die Spitze des Seins gestellt“; der Laut ist „Brahma“, heißt es im Mimansa, durch das gesprochene Wort schafft Parabrahma die Welt. „Als Ahriman, der Todesschwangere, die Erde durchstürmt, spricht Ormuzd das Honover, das reine, das heilige, das schnellkräftige Wort, um die Schöpfung zu

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46.: Thema laut „Übersicht“: Wort und Glaube – Vorbedeutung und Mitbedeutung. „Hoc est corpus (meum)“: D. i. die Einsetzungsformel des Abendmahls bei der Eucharistie, [lat.] das ist (mein) Leib (Vulgata Evangelium secundum Matthaeum 26, 26). Fiat: [lat.] es sei! Mimansa: D. i. die letzte u. dritte Periode der Vedischen Philosophie; Parabrahma entspricht dort der Vorstellung der ungeteilten Einheit. Ahriman ... Ormuzd: Gottheiten des Bösen und des Guten (Prinzipien des Lichts und der Finsternis) in der persischen Religionslehre des Zoroaster (Zarathustra). Honover: Schlüsselwort (Logos) des Urwesens der Zendavesta.

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erhalten und zu schützen“ (Bastian)], und so macht die an solche naive Vorstellungen sich heftende Spekulation das Wort selber zum Gotte oder zum offenbarten Sohne Gottes, und wie das Wort alles schaffen, alles verwandeln kann, so schafft und verwandelt es sich selber in Fleisch und wandelt als Mensch unter den Menschen. Aber auch außer der Sphäre des Wunderglaubens wird dem Worte ein geheimnisvoller sachlicher Wert beigelegt, daher gewissen Worten eine gute oder üble Vor-Bedeutung. Auch beruht die Macht des gesprochenen Wortes, zumal der öffentlichen Rede, großenteils darauf, daß gewissen Wörtern und (Rede-) Wendungen vom Hörenden eine Mit-Bedeutung gegeben wird, die seine Gefühle erregt: Liebe, Verehrung, Begeisterung; Haß, Abscheu, Entrüstung. Man denke an den „Zauber“ von Worten, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und dagegen an die düsteren Assoziationen, die durch Worte, die mit Blut zusammengesetzt sind, erregt werden: Blutschuld, Blutrache, Blutbad und dergl. 47. Es gehört zur Kunst des Redners, durch richtige Anwendung, Hervorhebung, Betonung solcher Wörter die „Stimmung“ zu erwecken und zu erhalten, die für Aufnahme seiner Gedanken, Befolgung seiner Ratschläge bereit macht. 48. Mit der religiösen und aller feierlichen Rede ist wesentlich die kunsthafte, die poetische Sprache verwandt; auch sie hat ihre ursprüngliche Kraft und Geltung durch den Volksglauben, für den das eigentlich und wirklich ist, was in der poetischen Sprache als Bild und Gleichnis bleibt; gläubige Phantasie erfüllt die Welt mit lebendig tätigen Geistern; die Naturmenschen und ihnen voranschreitend ihre Lehrer – Priester, Seher – glauben, daß es überall menschlich zugehe, sie sehen den menschlichen Willen, menschliche Leidenschaften in die Dinge hinein und machen diese sich dadurch vertraut und verständlich, Dichtung ist zugleich Erklärung. Alle merkwürdigen Naturerscheinungen, ebenso auch Ereignisse des menschlichen Lebens sind für solche Denkungsart übersinnliche Dämonen, Riesen, Götter u. dgl. oder werden durch diese verursacht. Die Neigung und Gewohnheit, lebende Wesen gleichsam in jeden Winkel zu setzen, wird durch besondere Erzählungen, Fabeln, Mythen, erhöht und verstärkt, wie sie darin sich offenbart; und diese stehen in fortwährender Wechselwirkung mit der Sprache – teils wird der sprachliche Ausdruck durch den Mythus, teils wird dieser durch 1 15 19

Bastian: Tönnies’ Zitationsnachweis auf S. 250 lautet: Bastian in Zeitschrift für Völkerpsychologie V, 174. (Berlin 1868) – dort aber S. 174 f. 47.: Thema laut „Übersicht“: Kunst des Redners. 48.: Thema laut „Übersicht“: Poetische Sprache – Metaphern u. a. Redefiguren.

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jenen hervorgerufen. Bei weitem überwiegt aber der erste Zusammenhang: die Personifikation der Dinge oder der Ursachen von Vorgängen ist die natürliche Assimilation des Fremdartigen an das Bekannte, und diese geschieht, wenn einmal Sprache vorhanden ist, notwendigerweise mit deren dargebotenen Mitteln, die aber jene für sich und nach sich gestaltet. Die Erzählungen sowohl als die generellen Ausdrucksweisen werden in und mit der Sprache gelehrt, überliefert, empfunden, sie verwachsen mit dem Volksgeiste, mit der Sitte, der Religion; aber sie scheiden sich auch wieder davon, wenn die gemeine Denkungsart nüchterner, besonnener, verständiger wird, wenn die Poesie als Kunst sich über das Leben erhebt. Die Bedeutung vieler Wörter, die bisher eben so eigentlich war, wie die der Aussagen über wirkliche Erlebnisse, wird vermindert, sie werden nicht mehr als Zeichen von Wirklichkeiten, sondern nur noch als Zeichen von Bildern gedacht, und so „erblassen Gedanken, die einst einen realen Sinn hatten, zu bloßen poetischen Redeformen“ (Tylor). Auf der anderen Seite aber macht auch die Sprache, zuerst Mythen, sodann wenigstens sinnliche Vorstellungen von den Dingen, die viel zäher als jene sich erhalten. Auch außerhalb der Personifikationen des Unlebendigen behandelt die sprachliche Ökonomie alle Vorgänge nach Analogie von animalischen Tätigkeiten, alles Gedachte nach Analogie des Wahrgenommenen, alles Wahrgenommene nach Analogie der organischen Wesen, zu denen das eigene „Ich“ des Redenden gehört. Wo aber Tätigkeiten von Dingen vorzuliegen scheinen – ein Schein, den oft die Redeweise erst hervorbringt – da ist der Schluß gegeben ab esse ad posse, vom Tun auf die Kraft des Tuns, und so werden die „Eigenschaften“ des „Dinges“, wahrnehmbare und verborgene (okkulte Qualitäten) zu „Kräften“, aus denen die wirklichen Ereignisse notwendiger oder doch begreiflicher Weise hervorgehen. Für bekannt darf erachtet werden, daß diese Deutungen, durch das Vehikel der sogenannten Metaphysik, tief in die Wissenschaften eindringen; und nur mit großer Mühe wieder ausgeschieden werden. Das natürliche Denken genügt durch Beilegung von Namen unmittelbar dem jeweilig entstehenden Bedürfnisse nach Wissen, nach Erklärung; und dies hängt auf das engste mit jener phantastisch-poetischen Belebung der Natur zusammen, die daraus immer neue Nahrung zieht, wenngleich sie allmählich trockener und prosaischer wird. Auch nachdem das wissenschaftliche Denken soweit 15

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(Tylor): Tönnies Zitationsnachweis auf S. 250 lautet: Tylor, Die Anfänge der Kultur. Deutsche Ausg. I, 297. (Leipzig 1873) – dort: „... Gedanken ,welche einst einen mehr realen Sinn hatten, zu blossen ...“. ab esse ad posse: D. i. der Schluss von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit.

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fortgeschritten ist, wie in unseren Tagen bei den am besten Gebildeten, gibt jenes Bedürfnis noch regelmäßig sich zufrieden, wenn die Tätigkeit eines Menschen als Ursache einer Erscheinung hingestellt oder aufgezeigt wird; zuhöchst geht etwa die Forschung noch nach seinen Beweggründen und zieht auch diese gleichsam auf Namen ab, die etwas allen bekanntes bezeichnen, z. B. Zorn, Rachsucht, Liebe, Haß usw. Das natürliche Denken erklärt nach dieser Analogie alles; und in der Gestalt, in der es auch uns, außerhalb der menschlichen Wirkungen, geläufig bleibt, begnügt es sich mit einer Reduktion der Analogie, nachdem die menschenartigen Eingriffe übersinnlicher Wesen nicht mehr geglaubt werden. Man findet einen Eichenstamm zersplittert. „Das hat der Blitz getan,“ „er muß mit furchtbarer Gewalt hier eingeschlagen haben“ – so etwa sagen wir, wenn wir unserem natürlichen Denken folgen; der phantastische und abergläubige Mensch früherer Zeiten oder einfacher Kulturzustände sagt und meint: „Zeus oder Gott zürnte dem Besitzer dieses Grundstückes, darum hat er durch einen Blitzstrahl diese Eiche gefällt“. So oder auf ähnliche Art kann aber auch einer reden, der es nicht glaubt: dann ist es eine poetische oder rhetorische Figur; aus einer derartigen Anschauung und Fiktion kann endlich ein bloßer metaphorischer Ausdruck entstehen, z. B. der Blitz hat hier gewütet. Alle Redefiguren, von denen die Metapher bei weitem die wichtigste und am meisten charakteris­ tische ist, haben dies gemein, daß in ihnen die Wörter eine uneigentliche neben ihrer eigentlichen Bedeutung haben – jene soll durch diese gleichsam hindurchscheinen, sofern die Figur verstanden sein will; es kann aber auch geschehen, daß der Redner nicht oder wenigstens nicht von allen, die ihn hören, verstanden sein will; er ist zufrieden, ja es ist ihm lieber, wenn nur einige ihn verstehen, vielleicht wünscht er sogar, garnicht verstanden zu werden, nämlich nicht auf die vollkommene Art verstanden zu werden, worin die uneigentliche Bedeutung mitverstanden wird. Er will dann nur sich selber verstehen, und das, was er wirklich meint, nur stückweise oder nur den Schein oder endlich sogar das Gegenteil davon mitteilen. Die rednerische Phrase, z. B. die Ironie, besonders aber die Hyperbel, grenzt so an die Lüge und geht darin über. Lüge ist ein Gebrauch der Worte zu einem ihnen (d. h. dem in ihnen enthaltenen sozialen Willen) fremden individuellen Zwecke – zu dem Zwecke, durch scheinbare Mitteilung der eigenen Meinung eine Vorstellung zu erregen, die von dieser verschieden, im extremen Falle ihr widersprechend ist. – Der herrschende Glaube – wofür man auch mit einem naheliegenden Gleichnisse sagen kann: der Kredit, dessen 31

Hyperbel: [gr.] Übertreibung.

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der Redende genießt – ist auch in diesem besonderen Sinne das, was den Wörtern ihre wahre Bedeutung gibt. Es unterscheidet diese Bedeutung auch die Persönlichkeit und ihre Worte: dieselben Worte haben das volle Gewicht ihrer eigentlichen Bedeutung, wenn ein redlicher Mann sie gebraucht hat, und sind leere Worte im Munde eines Wichtes oder gar Schwindlers. 49. Wir hatten als Hauptformen des Bedeutung gebenden sozialen Willens den Sprach-Gebrauch und die Sprach-Gesetzgebung einander gegenüber gestellt. Ersichtlich ist nun, daß „Volksglaube“ und „Wissenschaft“ in analoger Weise einander gegensätzlich entsprechen. Beide Formen des sozialen Willens können gleichsam als Abgeordnete (Delegierte), Volksglaube des Sprachgebrauches, Wissenschaft der Gesetzgebung angesehen werden, d. h. als Willensträger, die innerhalb der Gesamtsphäre, die der Gestaltung des Sprachgebrauches, bezw. der Gesetzgebung untersteht, mit einem speziellen Mandate ausgerüstet sind, das sie dadurch erfüllen, daß sie Gruppen von Wörtern ausgezeichnete Bedeutungen anhängen. In Anwendung auf Sprachen wollen wir den Volksglauben Sprachgenius nennen. 50. Es bleibt nun noch eine wichtige Form des sozialen Willens zur Erörterung übrig, die der Gesetzgebung und Wissenschaft ebenso zu grunde liegt, wie die natürliche, wir dürften sagen, animalische Übereinstimmung, das „Einverständnis“, dem Sprachgebrauche und dem Volksglauben. Jene Form nennen wir ihrem allgemeinen Wesen nach „Vertrag“ und in besonderer Anwendung auf die Bedeutung von Zeichen „Verabredung“. Unter der Voraussetzung von lauter getrennten individuellen Willen ist Vertrag die natürliche und notwendige Form für ihr „Zusammenkommen“, ihre Verbindung oder Vereinigung in einen sozialen Willen. Diese Form hat das Dasein zweier oder mehrerer freier Personen, d. h. solcher, die durch ihren eigenen Wunsch sich bestimmen lassen, einander fremd zu bleiben oder zusammen zu kommen, zur Voraussetzung. Die gegebene Materie, d. h. der begrifflich einfachste Inhalt des Vertrages ist der Austausch von Sachen: hier werden zwei Willen, die vorher entgegengesetzt waren, indem jeder seine Sache so stark als möglich zur Geltung bringen will, „sich einig“, daß zwei Sachen einander gleich gelten sollen oder, wo der Ausdruck der Geltung in einer bestimmten Sache üblich geworden ist, daß eine vorliegende Sache so und so viel, d. h. so und so viel Einheiten des „Wertmaßes“ gleich gelten solle, möge nun diese Geltung den Akt des Austausches überdauern oder nicht.

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49.: Thema laut „Übersicht“: Gegensatz von Volksglaube und Wissenschaft. 50.: Thema laut „Übersicht“: Einverständnis und Verabredung – Interpretation.

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Ebenso können aber beliebig viele Willen sich darüber vereinigen, daß ein Maßstab oder eine Norm „gelten“ solle, auch wenn das: „wie viel“ die einzelne Sache gelte, entweder dem Vergleichen, genauer dem Messen einer oder mehrerer Personen, oder aber vielfachen Übereinkünften überlassen werden muß. Am besten bezeichnet die griechische Sprache solche Vereinbarung als „Zusammensetzung“ (ξυνθήκη) – hier entsteht gleichsam auf sichtbare Weise der gemeinsame Wille dadurch, daß mehrere einen Beitrag ihres eigenen Willens dazu leisten; und dies kann nicht anders geschehen, als, indem sie ihren Willen „erklären“, d. i. durch Zeichen kundgeben. Solches Zeichen kann die Übergabe einer Sache sein, es kann aber – als Abkürzung – ein gesprochener Satz, endlich ein Wort genügen. Und nur in Worten kann der gegenwärtige Wille eines zukünftigen Willens – ein Versprechen – ausgedrückt werden. Ebenso kann nur in Worten ein Befehl, überhaupt ein Satz, der etwas für eine über den Augenblick hinausgehende Zeitdauer Gewolltes enthält, ausgedrückt werden. Solcher Satz ist aber der Satz über Geltung von Zeichen, daher möglicherweise auch über die Bedeutung von Wörtern. Der darauf ausgehende Imperativ bleibt entweder ohne Ausdruck oder er drückt sich in Worten aus. Auch Maßstäbe, Gewichte, Münzen sind Zeichen, nämlich Zeichen einer verabredeten oder sonst festgesetzten, jedenfalls aber zunächst nur in Gedanken existierenden Maß-Einheit oder eines Vielfachen davon. 51. Verabredete Zeichen zwischen Zweien und Mehreren sind eine Sache, die jedermann kennt. Sie sind dadurch charakterisiert, daß sie von dem Wesen natürlicher Zeichen sich beliebig weit entfernen können und regelmäßig sich weiter davon entfernen, als Zeichen, deren Bedeutung in naturwüchsigem sozialem Willen begründet ist. So hat z. B. die schräge Stellung einer Briefmarke oder hat eine gelbe Rose im Knopfloche, nicht die gerings­te Ähnlichkeit oder andere Verwandtschaft mit einer Ankündigung „heute Nachmittag 5 Uhr Rendezvous in der Konditorei“ und können doch beide, wenn nur die vorherige Abrede getroffen ist, vortrefflich zum Zwecke solcher Ankündigung dienen. Die Macht des menschlichen Willens, etwas zum Zeichen zu machen, tritt hier in ihrer elementaren (sozial wirksamen) Gestalt entgegen. Auch die Verabredung über eine besondere Bedeutung von Worten, sogar von sonst sinnlosen Worten, spielt im sozialen Leben eine bedeutende Rolle. Besonders gibt dazu die rasche, aber kostspielige Mitteilung in weite Ortsferne Veranlassung, es entsteht z. B. im Verkehr zwi 2 2

51.: Thema laut „Übersicht“: Verabredete Zeichen – verabredete Sprache – Schriftzeichen – Derivatzeichen – konventionelle Rede und Lüge.

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schen England und Indien eine verabredete „Kabelsprache“, zunächst etwa innerhalb einer Familie oder eines Geschäftes, so daß etwa der Silbe „Tar“ die Bedeutung vorausgegeben wird: „ich bin gesund angekommen“ oder der Silbe „Ver“ die Bedeutung: „der Silberpreis zieht an“. Sehr nahe liegt es dann, solche Zeichen zu Mitteln geheimer, d. h. ausschließlicher Verständigung, im Gegensatze zum öffentlichen Gemeingut der Volkssprache, zu machen. Viel älter und größer ist in diesem Sinne die Anwendung verabredeter Schriftzeichen, die ebenso ihren besonderen Wert als Mittel geheimer Anzeigen und Mitteilungen erhalten. Alle solche Privatzeichensysteme haben aber regelmäßig, wie die Schrift selber, eine vorhandene Sprache zur Voraussetzung und beziehen sich darauf, so daß sie Zeichen von Zeichen darstellen: als verkürzte Schrift, gleich der Stenographie, gleichsam Zeichen in dritter Potenz. Die Zeichenqualität der Originalzeichen kann dabei völlig vergessen sein, und pflegt vergessen zu sein; ja, es kann als Regel ausgesprochen werden, daß diese, sofern sie durch einen natürlichen sozialen Willen ihre Beglaubigung haben, niemals als gewollte Zeichen deutlich bewußt gewesen sind; ganz klar ist dies, wenn sie als natürliche Zeichen empfunden, ja dafür gehalten werden, wozu individuelles wie soziales Gewohntsein drängt. Hingegen gehört es zum Wesen der hier erörterten Derivativzeichen, daß sie als Zeichen, mithin als Mittel für gemeinsame Zwecke, von denen, die ihnen Bedeutung geben, gedacht und gewollt werden. Andere freilich, die nicht auf diese Weise tätig gewesen sind, können dem Inhalte einer solchen Verabredung beitreten: sie nehmen es dann in ihren Willen auf, ohne daß sie über Wesen und Ursprung der Zeichen nachzudenken brauchen, diese können ihnen daher eben so natürlich werden, wie die „Muttersprache“ und die gewohnten Umgangsformen. Andererseits ist aber auch der Ursprung für den konventionellen Charakter von Zeichen und Zeichensys­ temen nicht allein entscheidend. Zeichen jedes Ursprunges können konventionelle werden, dadurch, daß sie als solche, d. h. wesentlich als äußerliche Mittel, empfunden, gedacht, angewandt werden. Deutlich ist dies eben an den Umgangsformen; man kann sich naiv und gläubig zu ihnen verhalten, dann nimmt man Versicherungen der Hochachtung, Verehrung, der Teilnahme usw. für „baare Münze“, und gibt sie auch nur dann, wenn man sie mit „gutem Gewissen“, d. h. mit Zustimmung seines Denkens, aussprechen kann – mit Recht wird man dann bald über die gesellschaftlichen Lügen sich entrüsten –; oder man nimmt und gibt sie als bloße „Scheine“, man weiß, daß sie nichts als Mittel sind, eine verkehrswillige Gesinnung auszudrücken und seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft, insbesondere zu derjenigen, die sich die gute nennt, zu dokumentieren. Es gibt

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dafür, dem Begriffe nach, nur das eine Mittel, daß man ihre Regeln beobachtet, und zu diesen Regeln gehört der Gebrauch solcher Redewendungen. Sie sind nicht ernst gemeint, es sind bloße Formen – ohne allen oder doch ohne entsprechenden Inhalt – „hohle Phrasen“, oder wie immer dies ausgedrückt wird. Wer aber mitspielen will, muß sich den Spielregeln unterwerfen. – Es ist klar, wie dieser Gebrauch der Worte mit dem von Redefiguren verwandt ist. Hier wie dort neigen die Übergänge leicht in das Gebiet der Lüge. Die Lüge hebt die eigentliche Bedeutung, den buchstäblichen Sinn der Wörter hervor und verlangt, daß diese hingenommen, geglaubt werden; sie (d. h. der Lügende) meint nicht die uneigentliche Bedeutung, sondern gar keine. Das Lügen wird aber durch die figürliche Bedeutung sehr erleichtert – man denke an die Rhetorik von Liebesschwüren und Freundschaftsbeteuerungen –; ebenso wird es erleichtert durch die gesellschaftliche Bedeutung oder vielmehr Entwertung der Worte. Wer sich durch Schmeichelworte Vorteile zu verschaffen sucht, kann sich darauf beschränken, Redewendungen zu gebrauchen, die in seiner Gesellschaft gang und gäbe sind, über deren wahren Sinn in der Regel sich niemand täuscht. Er kann sie doch mit der Absicht und dem Erfolge der Täuschung gebrauchen: er hat nur nötig, einen besonderen Akzent, eine Wärme des Tones hineinzulegen, die sonst „vom Herzen kommt“; sollte man aber Verdacht gegen ihn merken lassen, so kann er immer sich darauf zurückziehen, daß er ja nur die üblichen konventionellen Reden geführt habe. Die Variationen, die sich hier beobachten lassen, sind mannigfach. 52. Wenn nun in dieser Sphäre Teile der sonst gesprochenen Sprache gleichsam aufgeweicht und in einen Kuchenteig geknetet werden, so ist auch eine ganze Sprache möglich, in der alle Wortbedeutungen einen konventionellen Charakter hätten, sei es, indem sie unmittelbar auf Gegenstände oder (was wahrscheinlicher), indem sie auf viele empirische (natürliche) Sprachen bezogen würden. Alte und neue Versuche, eine Weltsprache zu konstruieren, entsprechen einer durchaus vernünftigen und notwendigen Idee, die bei der gegenwärtigen Ausbreitung des Verkehres früher oder später tiefere Wurzeln fassen und rasch emporwachsen wird. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß in vielen Rücksichten besser wäre, eine gegebene, natürliche Sprache zum Range eines internationalen Verständigungsmittels zu erheben; und dahin arbeiten ökonomische und politische Entwicklungen mächtig vor, am meisten zu gunsten der englischen Sprache, die zufäl-

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52.: Thema laut „Übersicht“: Konventionelle Sprache – Weltsprache – Geschäfts­sprache.

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ligerweise auch gewisse konstitutionelle Vorzüge, gerade für solchen allgemeinen gesellschaftlichen Gebrauch, besitzt, Vorzüge, durch die sie auch leichter erlernbar ist als die übrigen modernen Sprachen. Wir sind heute geneigt, zu vergessen, daß noch alle Wurzeln unseres Kulturlebens in einem Zustande liegen, der durch allgemeine Herrschaft einer solchen Weltsprache, des Lateinischen, charakterisiert war; daß von dieser Geltung noch viele höchst bedeutende Reste erhalten sind; daß sie in einigen Gebieten, nämlich als Sprache der Höfe und der Diplomatie, unmittelbar abgelöst wurde – im 17. Jahrhundert – durch das Französische und daß auch diese Sprache noch ein hohes Maß von internationaler Anwendung behalten hat. In allen diesen Fällen kann man von einer „konventionellen“ Geltung mit gutem Grunde reden. Das Verhältnis, das jeder zu einer fremden Sprache empfindet, ist, zumal so lange ihm diese noch nicht „in Fleisch und Blut“ übergegangen ist, sehr verschieden von dem Verhältnisse zur Muttersprache: jenes ist dem Gebrauche eines Werkzeuges, dieses dem Gebrauch eines angeborenen Organes ähnlicher. Daher auch, wenn mehrere zusammen eines solchen Werkzeuges zu gegenseitiger Verständigung sich bedienen, sie sich ähnlich dazu verhalten, als wenn sie durch Verabredung die Bedeutungen dieser Zeichen festgesetzt hätten. Zunächst sind sie freilich an den Geist, d. h. den Willen oder die Assoziationen dieser fremden Sprache gebunden, aber je mehr sie ihre besonderen, gemeinsamen Angelegenheiten in diesem Stoffe ausdrücken, um so leichter verfügen sie mit einer gewissen Freiheit darüber, ohne den Hemmungen zu begegnen, die das „Sprachgefühl“, d. i. die Gewohnheit und das Gedächtnis für die Regeln der eigenen Sprache sonst entgegenstellt. Aber auch in der Muttersprache entwickelt das „Geschäft“, d. i. aller menschliche Verkehr, bei dem jeder seinen eigenen Vorteil in bewußter Weise verfolgt, Erfindung und Gebrauch von Worten und Redewendungen spezifischer Geltung, die einer verabredeten gleichartig ist. Der soziale Wille, der darin enthalten ist, unterscheidet sich vom naiven Sprachbildungstrieb durch seine „reflektierte“ Beschaffenheit, er ist in reifer Gestalt nur auf Grund einer alten Kultur denkbar, seine Sprache ist wesentlich Schriftsprache, sein Stil ein papierner Stil. 53. Die freiere Verfügung über gegebenen Stoff ist für alle Formen charakteristisch, in denen ein freierer sozialer Wille sich ausprägt; das aber ist ein solcher, der auf die eigenen Akte der verbundenen Individuen zurück 33

53.: Thema laut „Übersicht“: Freier sozialer Wille – Wissenschaft – Terminologie – Allgemeinvorstellungen und Begriffe – allgemeine und spezielle Namen – praktisches und theoretisches Interesse – Begriffsbildungen.

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geführt werden muß. Wir rechnen hier dazu sowohl den Willen, der in einer normalen Gesetzgebung, als den Willen, der in einer normalen Wissenschaft zum Ausdrucke gelangt. Es ist klar, wie aus Konvention Gesetzgebung hervorgehen kann. Wenn irgend eine Gesellschaft eine Kommission wählt und ihr den Auftrag gibt, die in ihr gültigen konventionellen Regeln aufzuzeichnen, auch je nach Bedünken zu verändern, minder zweckmäßige durch zweckmäßigere zu ersetzen und in Übereinstimmung beschließt, nach diesen neuen Regeln sich richten zu wollen, – so wird diese Kommission ein gesetzgebender Körper. Solcher Ursprung, solche Autorisierung der Gesetzgebung wird hier als normaler Fall gedacht. Es ist wahr, daß sich in der Erfahrung Einzelpersonen und Körperschaften zeigen, die ihr Recht, Gesetze zu geben, auf ganz andere Weise beglaubigen, und zwar vorzugsweise durch übersinnliche Ordnungen der Dinge. (Ius divinum.) Aber die Erfahrung lehrt auch, daß Gesetzgebungen dieser Art weit mehr auf Fixierung gegebener Zustände und Gewohnheiten, als auf freie, planmäßige, zielbewußte Neuerungen ihr Absehen haben. Sie gehören regelmäßig unter jene Form des sozialen Willens, die wir als Volksglauben bestimmt haben. Dieser ist zwar – auch in seinem Verhältnisse zum Sprachgebrauch – förmlich frei, zu bilden und zu gestalten; er hat aber eine ausgesprochene, ihm wesentliche Vorliebe für das Alte, als das Bewährte und Geheiligte, ohne über seinen Nutzen in bezug auf bestimmte einzelne Zwecke zu reflektieren. Altertümlich ist auch die Rede der Religion, ja nicht selten in einer Sprache gehalten, die nur für die Geweihten und Gelehrten verständlich ist; so die Sprache der heiligen Kunst frommen Gesanges; während sonst die Entwickelung der Sprache, wie aller Zeichensysteme, auf Abkürzungen hingeht, so wird hier absichtlich den langgedehnten Formen als den herkömmlich-feierlichen der Vorzug gegeben. Überhaupt erstreckt sich die so beglaubigte „Gesetzgebung“ mehr auf die Formen als auf den Inhalt des Lebens. Sie berührt sich dadurch – und dies gilt vom Volksglauben schlechthin – mit der Konvention, so daß das Konventionelle oft „nur“ ein anderer Name für das Heiliggehaltene ist. Auch die Konvention ist zunächst und bleibt in gewissem Umfange immer „konservativ“, daher das „Steife“ der „Etikette“, die gewundene, umständlich-feierliche Sprachform alter Kourtoisie, des Briefstils usw. Es liegt aber in ihrem Wesen, sich davon abzulösen und zur launenhaft wechselnden, neuerungssüchtigen „Mode“ zu werden. Mit viel stärkerem Überwiegen jener Vorliebe für 13

Ius divinum: [lat.] nach der kath. Lehre das in der Bibel heilsgeschichtlich offenbarte zeitlose u. universale „Göttliche Recht“.

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das Alte bewegt sich auch zwischen Volksglauben und Konvention das Recht, wie es auf Grundlage des Gewohnheitsrechtes geübt und gesprochen, gelehrt und erörtert wird; ebenso die besondere Sprache des Rechts, die als technische an die gelehrte und heilige Sprache sich anlehnt, dann aber als Sprache einer Kaste (eines Standes – ordo –, einer Fakultät) auf freiere, d. h. auf mehr konventionelle Art angeeignet und umgebildet wird. In rücksichtsloser Weise wirkt dann aber auf sie – dies wurde schon vorausgeschickt – die bewußte Gesetzgebung, wie auf das Recht selber, und im engsten Zusammenhange damit. – Durch freiere Verfügung über gegebenen Denk- und Sprachstoff, sagten wir, sei mit Konvention und Gesetzgebung Wissenschaft gleichartig. Auch hier ist – wie bei Gesetzgebung und genau besehen auch bei Konvention – unser Begriff von Wissenschaft das Thema. Was im Sprachgebrauch so genannt wird (wenigstens im Deutschen), z. B. Theologie, Jurisprudenz, politische und moralische Disziplinen, das ist nicht (in unserem Sinne) freie Wissenschaft, es blieb an Herkommen und Volksglauben, oft auch an Konvention und Gesetzgebung, bisher regelmäßig gebunden. Unserem Begriffe von Wissenschaft entsprechen am vollkommensten die Mathematik und die mathematische Physik. Alles was Wissenschaft heißt, wie auch alles, was Kunst heißt, hat seine Terminologie, seine technischen Begriffe. Diese aber sind zumeist nicht Begriffe in dem Sinne, wie wir sie jetzt im Auge haben, sondern nur besondere Namen für besondere Gegenstände, – Dinge und Tätigkeiten, die in der Erfahrung derer, die solchen Künsten und Wissenschaften sich hingeben, hervorragende Bedeutung haben. Dies involviert keineswegs, daß jene Dinge und Tätigkeiten nicht objektiv, also für jedermann, vorhanden wären. Anders ist es mit der eigentlichen Wissenschaft. Sie (d. i. die sich ihr widmende Denktätigkeit) bildet ihre Begriffe, ausschließlich für ihre eigenen Zwecke, als bloße Gedankendinge, gleichgültig gegen ihr Vorkommen in irgendwelcher Erfahrung, ja mit dem Wissen der Unmöglichkeit eines solchen Vorkommens. Die natürliche Entstehung allgemeiner Begriffe, die besser Allgemeinvorstellungen heißen, wird in der Regel nicht oder doch nicht mit genügender Schärfe von dieser künstlichen, bewußten Bildung „abgezogener“ (wie man im XVIII. Jahrhundert „abstrakt“ ins Deutsche übersetzte) Begriffe unterschieden. Die natürliche Entstehung allgemeiner Vorstellungen geht der Entstehung besonderer Vorstellungen voraus; jene ist eine unvollkommene, mangelhafte Vorstellung, mit der regelmäßig ein zugehöriger Name an wenige oder gar an ein einziges hervorstechendes Merkmal wahrgenommener Gegenstände sich heftet. Merkmale sind, wie das Wort andeutet, Kennzeichen für die Erinnerung,

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und zwar werden sie für den sprechenden Menschen unmittelbare Ursache für das „Einfallen“ des Namens. Alle Namen sind ursprünglich Eigennamen und Gattungsnamen zugleich. Das oft angewandte Beispiel des kleinen Kindes, das jeden nicht durch ein neues Merkmal neue Gefühle erregenden Mann „Papa“ nennt, ist typisch für die Verbindung von Allgemeinvorstellungen mit Namen. Allgemeinvorstellung ist jede Apperzeptionsmasse (im Sinne Herbarts und Steinthals), die einmal mit einem Wortzeichen verbunden die Idee dieses Wortzeichens auslöst, sobald sie durch aktuelle Perzeptionen angeregt wird. Der Fortschritt des Erkennens knüpft sich an den Besitz und die Kenntnis mehrerer Namen für denselben Gegenstand, an deren Unterscheidung, d. i. Beziehung auf verschiedene Gründe, oder schlechthin auf die Tatsache des So-Heißens; mithin ebenso an die Kenntnis verschiedener Namen für getrennte Gegenstände, insofern sie verschieden von einander sind, wie an diejenige gleicher Namen für eben dieselben Gegenstände, insofern sie einander irgendwie ähnlich sind. Denken wir einen Zustand, der von allem, was wir als Wissenschaft verstehen mögen, unberührt sei, so wird doch das Kind ebenso darüber belehrt, daß dieser Hund „Phylax“ heißt (ohne daß es den Grund dieses Namens zu lernen braucht), wie darüber, daß dies Tier, ebenso wie die Jagdgefährten des Nachbars, „ein Hund ist“, d. h. diesen gemeinsamen Namen hat; der Unterschied ist eben, daß es, um diesen Namen richtig anzuwenden, den Grund kennen lernen muß: nicht alle vierbeinigen Lebewesen nennen wir „Hund“, sondern diese ernst-blickenden, die durch ihr „Bellen“ sich bemerklich machen; andere, größere, gemähnte Vierbeiner heißen „Pferd“; sowohl Hunde als Pferde heißen „Tier“. Auf Grund dieser leichten Unterscheidung durch rohe Allgemeinvorstellungen beginnt erst mit einem Kennenlernen von Merkmalen, die nicht der unmittelbaren Wahrnehmung sich aufdrängen, speziellere Benennung einzelner Gruppen innerhalb eines schon feststehenden Ganzen, wie die Zusammenfassung mehrerer Ganzen in abgegrenzte größere Ganze; denn zunächst gilt: je allgemeiner, desto unbestimmter die Vorstellung. Während aber alles praktische Wissen in der Kenntnis jener spezielleren Allgemeinvorstellungen und Namen besteht und daran sich entwickelt, so hängt sich das theoretische Interesse viel mehr an die Verallgemeinerungen und deren bessere, genauere Begründung und Bestimmung durch wirklich charakteristische Merkmale. So entstehen neben den Allgemeinvorstellungen, wie Pferd, Hund, Tier, die in Begriffe umgearbei 7 18

Apperzeptionsmasse: Vgl. Herbart 1887 u. Steinthal 1881. Phylax: [gr.] Wächter, Hüter.

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tet werden, neue Begriffe, die erst zu Allgemeinvorstellungen werden, wie Säugetier, Wirbeltier, Molluske, endlich Begriffe von Lebewesen, an denen nicht nur die gemeinsamen Merkmale ohne Studium unerkannt bleiben, sondern die selber für die natürlichen Sinne unwahrnehmbar sind, z. B. der Begriff „Bazillus“. In allen diesen wirklichen Begriffsbildungen geschieht aber doch nichts als die Verbindung vieler vorgestellter Gegenstände in eine einzige neue Apperzeptionsmasse, die um so weniger Merkmale besitzt, je allgemeiner sie ist. Nicht wesentlich anders verhält es sich, wenn die Gegenstände oder Begriffe nicht Dinge, sondern Qualitäten oder Vorgänge sind. Es sind immer nur einzelne – sinnliche oder unsinnliche – Eindrücke, an die ein Name sich heftet, der nun als auf viele solche Eindrücke anwendbar sich erweist. Alle diese Begriffe sind so wenig, als die natürlichen Allgemeinvorstellungen, „abstrakte“ Begriffe in unserem Sinne, sondern die ihnen beigelegten Namen bezeichnen viele konkrete Gegenstände in bezug auf bestimmte, ihnen gemeinsame Merkmale. Immerhin ist ein großer Unterschied, ob man Gegenstände oder Ideen zu benennen meint: das Allgemeine ist nicht in den Gegenständen, wohl aber in den Ideen. – 54. Ein abstrakter Begriff wird erst gebildet, wenn mit dem Namen der zu benennende Gegenstand „erfunden“, d. h. fingiert und konstruiert wird, so daß hier Idee und Gegenstand sich decken – der Gegenstand möge als Ding oder als Vorgang gedacht werden. Was wir vom Begriffe aussagen wollen, das müssen wir bei der Bildung unseres Begriffs vom abstrakten Begriffe unmittelbar anwenden. Wir definieren also den abstrakten Begriff als ein Kunstgebilde des wissenschaftlichen Denkens, das wissenschaftliche Denken aber als ein Operieren mit solchen Gebilden, indem sie teils miteinander, teils mit konkreten Begriffen oder Einzelvorstellungen verglichen werden. Der abstrakte Begriff ist ein Gegenstand, dem beliebige „Merkmale“ gegeben werden, sinnlich vorstellbare oder nicht, in Wirklichkeit („in der Erfahrung“) miteinander verbunden angetroffene oder nicht; entscheidend ist nur der Endzweck, dem das Gebilde dienen soll, und dieser Endzweck ist die Erkenntnis der Verhältnisse zwischen erfahrenen und erfahrbaren Gegenständen. An der Spitze der abstrakten Begriffe steht daher der Begriff des Denkbaren schlechthin, dem ein beliebiger, ihn repräsentierender Name, z. B. A beigelegt wird, und die Operationen des wissenschaftlichen Denkens beginnen damit, daß dieser Begriff sich selber gleichgesetzt wird, was durch „Worte“ in der Gestalt des Urteiles A = A geschieht, des so oft miß 18

54.: Thema laut „Übersicht“: Abstrakte Begriffe – ihre Gegenstrände – Maßstäbe – Vergleichung – Erkenntnis der Verhältnisse.

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verstandenen Satzes der Identität. Der Satz bedeutet den Willen des wissenschaftlich Denkenden, seinen Begriff als sich selber gleich, d. i. als der Veränderung nicht unterworfen zu behandeln, und dieser Wille macht darauf Anspruch, ein gültiger Wille zu sein, weil er jenem Endzwecke innerhalb weiter Grenzen angemessen ist. Denn in einem gewissen Maße sind auch alle erfahrbaren Gegenstände der Veränderung nicht unterworfen, d. h. sie können so gedacht werden, und dieses Denken ist wiederum zweckmäßig, ja notwendig, weil nur unter dieser Voraussetzung eine Vergleichung solcher Gegenstände mit Begriffen, und folglich miteinander, geschehen kann. Denn die Vergleichung der erfahrbaren Gegenstände geschieht dadurch auf vollkommene Weise, daß sie auf den gedachten Gegenstand bezogen und darin ausgedrückt werden. Der gedachte Gegenstand ist ein Maßstab. Er kann als ein individueller beschrieben werden. Während die Allgemeinvorstellung, je weiter und allgemeiner, desto ärmer an Merkmalen, kann der abstrakte Begriff, wenn er auf noch so viele Erscheinungen bezogen werden soll, mit Merkmalen so reich ausgestattet werden, wie der Zweck es erfordert. Er repräsentiert seine eigene Idee, die Idee eines Allgemeinen, das zugleich singulär (individuell); er ist selber ein Zeichen, ein Symbol und nichts anderes. Er ist um so zweckmäßiger, je mehr seine Merkmale scharf und bestimmt, je mehr sie durch einander bedingt, also aufeinander in Gleichungen beziehbar sind; er wird dagegen unbrauchbar, wenn seine Merkmale schon als gedachte einander ausschließen oder – was dasselbe heißt – einander widersprechen. 55. Definitionen sind nach dem gewöhnlichen Sinne des Wortes nichts als Erklärungen von Wörtern, die Allgemein-Vorstellungen bezeichnen. Sie sollen also den Umfang dieser Allgemein-Vorstellungen angeben; die alten Regeln sind bekannt, daß dies geschehen müsse durch Verbindung der Gattung mit der spezifischen Differenz, und was daraus abgeleitet wird: daß die Definition nicht zu weit, auch nicht zu eng sein dürfe, daß sie also genau das decken solle, was das Wort wirklich bedeute. Die Untersuchung der wirklich, d. h. fast immer im Sprachgebrauche oder in einem speziellen Bezirke dessen, geltenden Bedeutungen ist an und für sich eine wichtige wissenschaftliche Aufgabe; aber mit den besonderen Zwecken des wissenschaftlichen Denkens schlechthin, hat sie nichts zu tun. In solcher Anwendung vermischt sich daher die Aufgabe in der Regel mit der ganz anders gearteten, daß der Definierende angeben solle, in welchem Sinne er den allgemeinen Namen 24

55.: Thema laut „Übersicht“: Definitionen – nicht Explikation des Sprachgebrauchs – nicht bloß, was ein Name bedeuten soll – Beschreibung des ideellen Gegenstandes.

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gebrauchen wolle. Wir sagen: die Aufgaben werden vermischt; denn teils ist man sich des Unterschiedes bei weitem nicht immer bewußt, teils wird erwartet, daß das wissenschaftliche Subjekt sich nicht als Souverän geberde, d. h. daß es sich möglichst nahe an den Sprachgebrauch halten werde, ja es wird vorausgesetzt, daß der Definierende seiner Aufgabe am besten gerecht werde, wenn er in der Tat nur den Sprachgebrauch expliziere, mit anderen Worten, wenn er das denke, was Alle denken. Geschieht es nun, daß der flüssige und mannigfache Sprachgebrauch in eine feste und einheitliche Form gebracht wird, so kann allerdings eine solche Abgrenzung der Bedeutung für viele Zwecke genügen. Sie ist auch der Sinn, in dem Gesetze die Bedeutung von Wörtern bestimmen: hier fällt aber jeder Gedanke in sich zusammen, daß es sich um die Explikation des Sprachgebrauchs handle; der offenbare Zweck ist vielmehr, die unbestreitbaren Grenzen der Geltung des Gesetzes festzusetzen. Ganz analog ist aber auch der Zweck, auf den die wissenschaftliche Definition immer bezogen werden muß: Geltung innerhalb einer Gedankenfolge, also eines Buches, eines Systems usw. Wer daher einen wissenschaftlichen Begriff ausprägt, der tut es auf seine Verantwortung und mit völliger Freiheit gegenüber dem Sprachgebrauch. In diesem Sinne sagte Pascal: „Rien n’est plus libre que les définitions“. Und so haben die schärferen Logiker immer eingesehen, daß wissenschaftliche Definitionen Sätze sind, deren Wahrheit auf dem Willen dessen beruht, der sie aufstellt. Auch wenn ein Name schon in irgend welchem z. B. wissenschaftlichem Sprachgebrauch einen Begriff bezeichnet, d. h. eine bestimmt abgegrenzte Allgemein-Vorstellung, so muß doch der Definierende diesen Begriff und zugleich diesen Namen sich zu eigen machen, wenn die Definition auch in seinem Gedankenzusammenhange gelten, d. h. für ihn wahr sein soll. Vollends ist aber die freie Definition notwendig, wenn mit jenen ganz individuellen Denkgebilden operiert wird, die wir hier als abstrakte Begriffe verstehen. Solche Definition ist mehr als eine Erklärung, was ein Name bedeuten solle (und noch weiter entfernt von dem, was er „in Wirklichkeit“ bedeuten mag); sie will hauptsächlich die Sache, d. i. den gedachten Gegenstand beschreiben und legt ihm dann, als abgekürztes Kennzeichen dieser Beschreibung, einen Namen bei, der am besten willkürlich gewählt wird, als ein jeder anderen Bedeutung barer. Die Beschreibung ist hier nicht 19

sagte Pascal: [frz.] nichts ist freier als die Definitionen. – Tönnies’ Zitationsnachweis auf S. 250 lautet: Pascal Pensées I, 2. 3. – Bei Pascal (1827: 62) – diese Ausgabe befand sich in Tönnies’ Besitz – ohne Hervorhebung aber: „...; car, comme j’ai dit tantôt, rien ...“. – Die bibliogr. Angabe „I, 2.3“ bleibt unklar, korrekt: Première Partie, Art. II.

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bloß eine Angabe von Grenzen, die sich wesentlich auf den Umfang des Begriffes beziehen muß; sondern eine möglichst vollkommene Determination seines Inhaltes, ohne Rücksicht auf den etwanigen Umfang. Es ist nur ein Notbehelf, wenn sie in (nicht definierten) Worten des Sprachgebrauchs geschieht; Wissenschaft bedient sich dieser nur, wenn und so weit sie keine anderen, von ihr selbst definierten Ausdrücke hat. Treffend bezeichnet dies Sigwart mit den Worten: „jede Definition setzt eine wissenschaftliche Terminologie voraus“. Anmerkung 1. Gleich anderen neueren Logikern unterscheidet Sigwart von bloß analytischen Definitionen, „in denen der Wert eines Wortes durch eine gleichgeltende Formel ausgedrückt wird“, synthetische Definitionen als solche, „die den Terminus für einen neuen Begriff einführen“; er bemerkt aber nicht, daß alle Definitionen von wissenschaftlichem Sinne, wenigstens ihrer Intention nach, synthetische Definitionen sind und an dieser Idee gemessen werden müssen; ebenso nicht, daß es bei dem Postulate von Real-Definitionen um nichts anderes als um diese sich handelt; obgleich er im angeführten Zusammenhange von Formeln spricht, die „äußerlich einer Nominal-Definition gleich, der Sache nach von ihr verschieden“ seien, so meint er doch (wenige Seiten vorher), daß der Begriff der sogen. Real-Definition „für uns in der Logik keinen Sinn mehr habe“. Anmerkung 2. Wenn Bischof Berkeley lehrte, und damit immer von neuem Beachtung findet, daß etwas Allgemeines überhaupt nicht gedacht werden könne, so läßt sich darüber streiten, wenn man überein gekommen ist, was als Allgemeines und was als denken zu verstehen sei. Wenn er aber darauf exemplifiziert und Neuere ihm darin folgen, daß ein Dreieck, das weder gleichseitig noch ungleichseitig usw. sei, nicht vorgestellt werden könne, so ist dies zwar richtig, beweist aber nichts. Denn niemand wird behaupten, daß es eine natürliche Allgemein-Vorstellung des Dreiecks gebe; was aber den abstrakten Begriff Dreieck anbetrifft, so ist dessen Gegenstand in der Tat hinlänglich beschrieben als ein von drei geraden Linien eingeschlossener Raum der Ebene, wenn zuvor die Begriffe der Geraden und der Linie definiert wurden, die verschiedenen Sorten von Dreiecken, die in der Vorstellung oder in der Zeichnung wirklich sind, verhalten sich zu dem Begriffe nicht wie Arten zur Gattung, sondern 7 10 17 18 20

Sigwart: Tönnies’ Zitationsnachweis auf S. 250 lautet: Sigwart, Logik I² § 376 – dort jedoch § 44, S. 376. Wert eines Wortes: Vgl. ebd.: 376 f., dort jedoch: Werth– und statt: die den Terminus: „welche den Terminus“. Nominal-Definition: Vgl. ebd.: S. 377; dort: Nominaldefintion. (wenige Seiten vorher): Vgl. Fußnote ebd.: S. 373. Anmerkung 2.: Beachte dazu Berkeleys „Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ (1869).

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sind seine Abbilder oder Verwirklichungen (ersten und zweiten Grades) und als solche für und in bezug auf den Begriff völlig gleichwertig. Im übrigen verhalten sie sich zu ihm, wie isolierende Experimente zu einem in abstracto gedachten idealen Fall. 5

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56. Inwiefern aber, was in der Wissenschaft gilt, als durch sozialen Willen gültig gedacht wird, darüber wird noch eine kurze Erörterung sich notwendig machen, nachdem zuvor von den Bedeutungen eines höchst wichtigen anderen Zeichens gehandelt sein wird. 57. Es ist beinahe ein philosophisches Herkommen, Worte (oder „Begriffe“, an denen nur ihre Bezeichnung dann gemeint ist) mit dem Gelde zu vergleichen, wie es auch in dieser Abhandlung schon geschehen ist, u. a. als erwähnt wurde, daß konventionelle Redensarten zuweilen für „bare Münze“ genommen werden. In der Tat ist die Analogie durchgehend. Dem Worte wie dem Gelde ist es wesentlich, daß sie Zeichen sind, und daß sie – wonach im Deutschen das Geld genannt ist – „gelten“, d. h. daß sie durch sozialen Willen die Gegenstände, deren Zeichen sie sind, vertreten. Das Wort ist Zeichen von Gegenständen als Vorstellungen oder Ideen; das Geld ist Zeichen von Gegenständen als Werten, d. h. insofern sie als nützlich-angenehm empfunden und gedacht werden, also auf das, was wir Wollen oder Streben im Menschen nennen mögen, einen Eindruck machen, kurz: bejaht werden. Wir können aber ohne Mühe die Analogie auch auf den verschiedenen Sinn ausdehnen, in dem Geld wie Wort „Bedeutung“ hat. Nämlich A, durch naturwüchsigen sozialen Willen: das ist alles gemünzte Geld, B, durch künstlichen sozialen Willen: d. i. alles Papiergeld. Ebenso, wie die Namen von Begriffen empirisch fast nur vorkommen, indem sie auf die natürliche Sprache zurückführbar sind, so hat auch Papiergeld empirisch nur Bedeutung dadurch, daß es auf das „natürliche“ Geld bezogen wird; wie aber, der Idee nach, die Namen von Begriffen sich direkt auf fingierte, konstruierbare und daher gleiche Gegenstände beziehen, so führt auch das Papiergeld den notwendigen Gedanken mit sich, direkt auf fingierte Werte, z. B. auf gleiche menschliche Arbeitsstunden bezogen zu werden. Der Gegensatz fordert etwas nähere Betrachtung. Wie das Wort aus dem, was noch nicht Wort, so entwickelt sich Geld aus dem, was noch nicht Geld ist. Das ursprüngliche Geld ist von anderen Werten nicht verschieden, dann nur wenig verschieden. Bekannt ist, daß auf niedrigen wirtschaftlichen Stufen viele Werte die Funktionen des Geldes haben. „Wie rasch die allgemeine 4 8

56.: Thema laut „Übersicht“: Andere Zeichen. 57.: Thema laut „Übersicht“: Analogie des Geldes – gemünztes und Papiergeld – Geldsurrogate – die Banknote.

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Absatzfähigkeit die Einbürgerung eines Gegenstandes als Geld ermöglicht, dafür bieten die Berichte neuerer Reisender unzählige Beispiele“ (von Philippovich). Der soziale Wille ist hier noch von der sozialen Praxis wenig oder garnicht verschieden, wie der individuelle Wille auf seiner untersten Stufe nur das Gefühl der Tätigkeit und die daraus sich notwendig entwickelnden Gefühle gehemmter Tätigkeit (Unlust) und beschleunigter Tätigkeit (Lust) ist. Aber zweitens, „Übung und Gewohnheit haben allmählich das absatzfähigste Gut (sollte heißen: die absatzfähigsten Güter) zum allgemein üblichen Tauschmittel (immo = zu allgemein d. h. in bestimmten Verkehrskreisen gültigen Tauschmitteln) erhoben“ (von Philippovich). Das sind Metalle, mit zunehmendem Besitze die edlen Metalle. Dazu kommt drittens die Garantie des Gemeinwesens für ein bestimmtes Gewicht und bestimmten Gehalt. In Kleinasien haben sich „die Anfänge des Münzwesens entwickelt, indem man Stücke edlen Metalles von bestimmtem Gewicht mit dem Wappen der prägenden Stadtgemeinde als einer Art von Garantiestempel bezeichnete“ (Nasse). Diese Garantie ist wesentlich eine moralische, daher empirisch regelmäßig eine religiöse. Das Wort Moneta, das durch seinen Übergang ins Englische Weltbedeutung gewonnen hat (money), rührt vom Tempel der Juno Moneta her, der ursprünglichen römischen Münzstätte. – Mit der Garantie durch den öffentlichen Glauben ist aber auch der Täuschung, der Lüge das Tor geöffnet: hier liegt die historische Rolle der Münzverschlechterungen, die hauptsächlich in der Zeit des Übergangs zum modernen Staate eine so übelberufene Rolle spielen. Der Staat, in seiner ersten Phase zumeist repräsentiert durch Fürsten und ihre Kriegskassen, verleiht den Münzen nicht so sehr durch moralische Garantie ihre Geltung, als durch den Zwang, der das allgemeine Tauschmittel zum gesetzlichen Zahlungsmittel macht. Die Natur dieses Zwanges zeigt sich erst in reiner Gestalt durch die Papierwährung, die bedruckte Zettel zu gesetzlichen Zahlungsmitteln und dadurch auch zu gangbaren Umlaufsmitteln erhebt, wobei ihr wirklicher Wert nicht sowohl durch den moralischen, als durch den kaufmännischen Kredit der Staatsregierung bedingt ist. Dieser, der kaufmännische Kredit, liegt über 3

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(von Philippovich): Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: v. Philippovich, Grundriß der politischen Ökonomie I, S. 178 – dort aber, ohne Klammerausdrücke: „Uebung und Gewohnheit haben dadurch ...“. (Nasse): Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Nasse in Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie I, 319 – dort, jedoch ohne Hervorhebung: edlen Metalls. Juno Moneta: Beiname der Iuno, Schutzgöttin (und Warnerin; lat. „monere = „ich warne, erinnere“) Roms, deren Tempel auf dem Kapitol seit 269 v. Chr. auch die Münzprägestätte war.

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haupt aller Geltung von Geldsurrogaten, seien es beschriebene, gedruckte oder lithographierte Papiere, zu grunde. Er macht auch – und dies ist die Form, die wir gegenüber dem staatlichen Papiergelde als die frühere Stufe verstehen – konventionelles Papiergeld (möge es so genannt werden oder nicht) in Gestalt von mannigfachen Kredit-Umlaufsmitteln. Dahin gehören „Wechsel, Anweisungen, Checks, Coupons, Briefmarken“ und charakteristischer Weise auch „einlösbares staatliches Papiergeld“ (A. Wagner). Diesem ganz ähnlich ist die Banknote, die von einer Monopol-Zettelbank ausgegeben wird, nachdem solcher Bank die Ausübung des staatlichen Notenregals übertragen wurde. Die Verwaltung jeder großen Bank geschieht aber – in weit höherem Maße als die Verwaltung irgend eines Staates – nach wissenschaftlichen Prinzipien, insbesondere nach den Regeln der Wahrscheinlichkeits-Rechnung (des „calcul des probabilités“). Wir dürfen die Banknote (ihrer Idee gemäß) das wissenschaftliche Geld nennen. Darum haben sich auch die philosophischen Pläne einer Rekonstruktion der ökonomischen Gesellschaft so oft und leicht mit dem Gedanken einer reinen Kreditwirtschaft verbunden, die dann wohl als Synthese der Natural- und der Geldwirtschaft begriffen wurde. Das soziale Wertzeichen würde – wie das Papiergeld – nur von sozialem Willen seine Geltung ableiten; aber es würde, anstatt auf Geld – das halb-natürliche Zeichen aller Werte –, sich, gleich dem Gelde, direkt auf alle Werte beziehen. Werte werden sonst gleich gemacht durch den Austausch, generell also durch den Handel – ihre Gleichheit hat den konventionellen Charakter. Hier dagegen würde eine Gleichwertung nach wissenschaftlichen Prinzipien geschehen: Werte würden insgesamt auf die in ihnen verkörperte notwendige Arbeit, diese am einfachsten auf die durchschnittliche Arbeitszeit bezogen werden. Ein Mittleres zwischen jener realen und dieser idealen Gleichung kommt vielfach vor, z. B. in gesetzlicher Bestimmung von Honoraren, von Beamtengehalten, und liegt auch den gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit und anderen Einmischungen in den freien Vertrag als Preisregulator menschlicher Arbeitskraft, zu grunde. Ferner kann aber die Idee einer Anweisung auf „geronnene Arbeitszeit“ füglich mit den zugleich im Handel umgehenden und gesetzlich gültigen Besitz- und Forderungstiteln verglichen werden; diese lauten zwar auf einen Geldbetrag, bei reinen Besitztiteln (Aktien) ist aber dieser ohne 7

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(A. Wagner): Tönnies’ Literaturangabe auf S. 250 lautet: A. Wagner daselbst I, 431. – Dort (1890): „..., gleich anderen Kredit-Umlaufsmitteln (Wechseln, Anweisungen, Checks, Koupons, Briefmarken, einlösbarem zwangskurslosen Staatspapiergeld u. dgl. m.) und gleich ...“. „calcul des probabilités“: [frz.] Wahrscheinlichkeitsrechnung.

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Bedeutung gegenüber der Bedeutung als Anteil an einem Kapital, das mit seinem Geldwerte nur in der Rechnung figuriert. 58. Die Mannigfaltigkeit des Sinnes, worin man von einem Worte oder anderen Zeichen sagen kann, daß es Bedeutung habe, läßt sich also auf folgende Art klassifizieren: 1. Bedeutung nach der Absicht des Individuums, das sich des Wortes oder anderen Zeichens bedient (subjektive Bedeutung, die also hineingelegt wird). 2. Diese aber ist wesentlich bedingt hinsichtlich des Wortes, wie aller sozial gültigen Zeichen, durch die Bedeutung, welche sie im regelmäßigen Gebrauche haben (objektive Bedeutung). Die objektive Bedeutung aber ist wesentlich verschieden, je nachdem der soziale Wille, den wir als ihren Urheber denken, diese Bedeutung mit dem Zeichen selber schaffend entwickelt, oder sie für bestimmte Zwecke dem Zeichen beigelegt hat. Wir nennen jene die natürliche, diese die künstliche Bedeutung. Jede modifiziert sich nach drei Gestaltungen des ihr zu Grunde liegenden so­zialen Willens, die wir unterscheiden nach einem Prinzip, das in der ersten Gattung (A) der Einteilung von Willenshandlungen in triebhafte, gewohnheitsmäßige und gedankenhafte entspricht; sie wurden genannt: natürliche Harmonie, Sitte, Glaube, oder in bezug auf die Sprache: Sprachbildungstrieb, Sprachgebrauch, Sprachgenius. 59. Die Gestaltungen des sozialen Willens der anderen Gattung (B) aber werden in analoger Weise unterschieden, je nachdem er 1. auf seiner ersten Stufe aus den individuellen Willen hervorgeht (sensuelle Stufe), 2. durch einen ständigen, anerkannten Träger repräsentiert wird (sensuell-intellektuelle Stufe), 3. als denkender, durch mehrere, wenn auch nicht anerkannte Subjekte repräsentiert wird (rein intellektuelle Stufe). So unterscheiden sich Konvention, Gesetzgebung, Wissenschaft, die wir in Anwendung auf die Bedeutung von Wörtern

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nennen mögen. Nun soll in Kürze gezeigt werden, wie den Arten des Sinnes, die so klassifiziert wurden, verschiedene Methoden für Mitteilung und Auslegung von Bedeutungen – der Wörter und anderer Zeichen – entspre-

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58.: Thema laut „Übersicht“: Mannigfaltigkeit von Bedeutung – subjektive und objektive Bedeutung. – Die nummerierten Aufzählungen in diesem und im folgenden Thema 59 beginnen in Tönnies 1899: 326 f. mit jeweils neuem Absatz. 59.: Thema laut „Übersicht“: Gestaltungen des sozialen Willens in bezug auf die Bedeutung von Wörtern – Bedingungen des Verständnisses – Schriftsprache – Umgangssprache – Feiertagsgefühle.

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chen. Zuerst der Mitteilung, und zunächst in bezug auf Wörter: hier ist der Redende oder Schreibende zu beobachten. Auf der ersten Stufe ist die Mitteilung, und entsprechender Weise das Verständnis, leicht unter gewissen primitiven Bedingungen. 1. Je intimer die gegenseitige Zuneigung, Sympathie oder auch nur die gegenseitige Kenntnis und Vertrautheit; wie leicht hier jedes Zeichen verstanden wird, jede „Andeutung“ genügt, läßt sich auch bei entwickelter Sprache im täglichen Leben bemerken, z. B. bei einem Liebesoder Ehepaar, unter intimen Freunden u. dgl. Der Sinn der Worte ist hier am meisten mit dem Sinne der Töne, also mit der Musik, der „Sprache des Gefühls“ verwandt und verwoben. 2. Auch in weiterem Kreise, je näher noch die Lautzeichen den natürlichen Zeichen stehen (expressive und imitative Laute). 3. Je mehr sie durch andere Zeichen, insbesondere durch die Geberdensprache unterstützt werden (demonstrative Laute) oder auch die bloß assoziativen Laute durch diese und durch die vorher genannten beiden Arten unterstützt werden. In umgekehrtem Verhältnisse ist die Mitteilung schwierig, erfordert daher die entsprechenden Hilfsmittel, wo sie ihrer entbehrt. Die Geberdensprache tritt am häufigsten als „gemeinverständlich“ vikarierend ein, wo die Wortsprache fehlt oder lückenhaft ist oder wegen organischer Defekte versagt. – Bei schriftlicher Mitteilung fallen aber die sub 2 und 3 genannten Hilfsmittel weg, nur daß die gewollte Betonung wenigstens angedeutet werden kann, teils durch besondere Zeichen, teils durch den „Bau“ der Sätze, ferner kann das Verständnis des Geschriebenen durch bildliche Darstellungen – von denen die Schrift abstammt, wie die artikulierte Sprache von der unartikulierten – erleichtert, unter Umständen ersetzt werden. – Auf dieser Stufe ist also die Mitteilung an individuelle und natürliche Bedingungen geknüpft. Sie hat die (in einem größeren Kreise) verstandene Sprache noch nicht als fertiges soziales Organ, dessen jeder in dieses soziale Leben Hineingeborene und Hineinerzogene mit relativer Leichtigkeit und Sicherheit sich bedient. Dies ist der Fall, in dem Maße als der Sprachgebrauch eine Macht geworden ist. Hier hat sich eine Masse von festeren Bedeutungen herausgebildet, so daß sogar regelmäßig Wortvorstellung und Gegenstandsvorstellung verschmolzen sind. In vielen Ausdrücken, zumal solchen, die dem Alltäglichen ferne liegen (den Ausdrücken „komplexer Ideen“), ist jedoch der Sprachgebrauch vieldeutig und schwankend, läßt daher ihrer individuellen Anwendung große Freiheit. Je mehr diese Freiheit gebraucht wird, desto mehr fällt der Redende auf die Bedingungen der ersten Stufe zurück oder muß seine Meinung, d. h. die Bedeutung, die er seinen Worten beigelegt wissen will, in gewöhnlicheren, daher im Sprachgebrauch fester angesiedelten Worten auseinanderlegen, sie also

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gleichsam „übersetzen“ (die komplexen Ideen explizieren). Die Sprache des Sprachgebrauchs als ein Allgemeines gegenüber den vielen Mundarten unterscheidet sich in fortgeschrittenen Bildungszuständen als Schriftsprache von der Umgangssprache. Hier ist die Mitteilung individuellen Sinnes in einem sozialen Stoffe zwar noch mit allen Mängeln behaftet, die beim Gebrauche der Zeichen von Zeichen unvermeidlich sind; aber die Kenntnis der schriftlich fixierten Sprache nötigt auch zu einer bewußteren Unterordnung unter gegebene, durch Lehre mitgeteilte Normen und Regeln, deren Beobachtung wiederum das Verständnis, also die soziale Anwendung, erleichtert. Ähnliches gilt auch für die mündliche Mitteilung auf der dritten Stufe. Die Mitteilung bewegt sich hier zum großen Teile in festen Formen, die durch Alter und Autoritäten geheiligt, daher als wertvolles Erbe überliefert und jedem Teilhaber bekannt werden. Auch verbindet sich hier die auf der zweiten Stufe vorherrschende Mitteilung von Vorstellungen mit der die erste Stufe charakterisierenden leichteren, der Erregung von Gefühlen: von sozialen Gefühlen differenzierterer Art, wir dürfen sagen, von Feiertagsgefühlen. Sofern dies die Erfüllung ist, stört auch die minder verständliche oder gar unverständliche Sprache nicht, die also dann ihre eigentliche Bestimmung verfehlt, indem die Wörter wieder auf die Assoziationen ihrer Klangbedeutung reduziert werden. Mit dieser vermählt sich auch die poetische Rede: obgleich sie, wie alle Kunst, ursprünglich durch Volksanschauung, Tradition, Kultus streng gebunden ist, neigt sie doch, phantastischer Eingebung folgend, zu freierem Gebrauche der Sprache, und wird dadurch schwerer verständlich, wenn nicht diese Tendenz wieder aufgehoben wird dadurch, daß ihr die Phantasie der Hörer entgegenkommt, an die sie durch bildliche Ausdrücke, durch Gleichnisse, durch Rhythmus und Metrum sich wendet. Echte Poesie ist die reinste Gestalt des Sprach-Genius selber. 60. In schriftlicher Mitteilung fehlen der künstlerischen, feierlich erhabenen oder schönen Rede wiederum die besten ihrer Ausdrucksmittel. Wo dennoch solche Rede gerade für dauernde Beurkundung, daher für das Verständnis späterer Geschlechter dienen soll, ist sie teils auf kurze zusammenfassende Formeln und auf „symbolische Handlungen“, deren Bedeutungen leichter verständlich sind, sich besser in gleichem Sinne erhalten, teils auf weitläufige „Umschreibungen“ angewiesen. Daher die Bündigkeit des Lapidarstiles neben der Breite des Kanzleistiles – beide wollen die Bedeutungen

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60.: Thema laut „Übersicht“: Beurkundung – Kanzleistil – Lapidarstil. Lapidarstil: [lat. „lapis“ Stein] lakonischer, knapper Stil.

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ihrer Worte tief einprägen. Die „Schriftsprache“ empfängt von diesen Stilen, weit mehr aber von allen künstlerischen Stilen des Wortgebrauches bedeutende Einflüsse, und wirkt um so mehr auch auf den mündlichen Sprachgebrauch zurück. 61. Die folgenden drei Stufen stehen, wie schon angemerkt wurde, in einer gewissen Korrespondenz zu den drei ersten; sie stehen aber auch in einem sozialen Zusammenhange, so daß die vierte in der ganzen Reihe sich an die dritte, die fünfte an die vierte anschließt usw. Alle drei späteren Stufen haben im allgemeinen eine hohe Kultur, eine zu mannigfachstem Gebrauche ausgebildete Sprache, folglich auch die Schriftsprache, zur Voraussetzung. Es wurde schon gesagt, daß sie sich der Sprache als eines Werkzeuges frei bedienen: das Wort wird in bewußter Weise zum Mittel für den Zweck der Mitteilung gestaltet: daher fällt alles unwesentliche „Beiwerk“, das Gefühle ausdrückt und Gefühle erregt, weg; die Sprache wird prosaisch, darum genügt der „trockene“, schriftliche Ausdruck; das Individuelle taucht unter, es herrschen bestimmte, soziale Stile, Formen, Methoden wie Schablonen, – alles dies um so mehr, je reiner sich in der Wirklichkeit darstellt, was diesen Begriffen entspricht. Auf der anderen Seite liegt aber gerade hier ein entwickelter Individualismus oder Egoismus zu Grunde – Bestrebungen, die sich um jeden Preis, also auch auf Kosten der anderen durchsetzen wollen, und auch die sozialen Ordnungen und Regeln nur als Mittel für ihre Zwecke betrachten, daher sich solchen nur widerwillig und bedingter Weise unterordnen. Das soziale und individuelle Prinzip balancieren also und streiten gegen einander, beide zur Schärfe und eben dadurch zu Gegensätzen entwickelt. Für die Mitteilung in Worten ergibt sich daraus folgendes: das Verständnis ist auch hier nur leicht für den, der die „Sprache“, aber auch die Ideen kennt; es ist sogar oft nur möglich dadurch, daß man „eingeweiht“ ist; übrigens ist es im weiten Umfange ferner bedingt durch Kenntnis der Person dessen, der seinen Willen oder seine Meinung kundgibt, denn je nach ihrer Vertrauenswürdigkeit muß erkannt werden, ob es ihr darum zu tun ist, etwas Wirkliches mitzuteilen oder ob sie etwa gehaltlose konventionelle Phrasen „dreschen“, wenn nicht geradezu täuschen oder doch sich zweideutig ausdrücken will; ebenso ob der Gesetzgeber etwa durch mehrdeutige Worte Schlingen legt oder Fallen stellt (man denke an sogenannte „Kautschuk-Paragraphen“!); ob der Gelehrte sich absichtlich in Dunkel hüllt und, weil seine Begriffe schwach sind, der Worte Schwall vermehrt. 5

61.: Thema laut „Übersicht“: Korrespondenz der Stufen – Balance des sozialen und individuellen Prinzips – Phrasen – Auslegung – Begriffe – Kommentare.

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Immer bleibt hier, zumal wenn nur die Schriftzeichen von Worten vorliegen, der Auslegung (Interpretation) das weiteste Feld. Diese ist ihrem Wesen nach immer Übersetzung in eine leichter verständliche Sprache oder Ausdrucksweise. Sie ist im allgemeinen innerhalb der gleichen „Sprache“, d. h. eines formal zusammenhängenden Systemes, um so schwieriger, je weiter die Worte von ihren ursprünglichen sinnlichen Bedeutungen oder von dem ursprünglich in ihnen enthaltenen sozialen Willen sich entfernt haben. Die Methoden der Deutung sind daher 1. auf der ersten Stufe die Etymologie, 2. auf der zweiten die Erforschung des besten, d. h. festesten, regelmäßigsten Gebrauches, 3. auf der dritten die der zu Grunde liegenden Anschauungen, Meinungen, Vergleiche, Bilder usw., um besondere Bedeutungen auf allgemeine, höhere auf einfache, uneigentliche auf eigentliche zurückzuführen. Um solche Zurückführung handelt es sich auch bei allen folgenden Stufen. Hier ist nicht sowohl der ursprüngliche, als der gerade jüngste, moderne Sinn zu erforschen, den die Wörter nach Absicht der konventionell verbundenen Individuen, nach Absicht des Gesetzgebers, nach Absicht der wissenschaftlichen Autoren haben sollen. In überwiegendem Maße sind es Begriffe, die hier bezeichnet werden, d. h. Gedankengebilde bestimmter Intention, die nur in Worten der gewöhnlichen Sprache (1–3) erklärt werden kann. Je mehr diese Worte vieldeutig, ungewissen Ursprungs, schwankend im Sprachgebrauch, figürlich sind, desto schwieriger ist die klare und sichere Interpretation. Daher die Massenhaftigkeit von Kommentaren und von Kontroversen zu rituellen Vorschriften aller Art, nachdem sie zu konventionellen erstarrt sind; zu Gesetzbüchern, die Rechtskraft erlangen oder erlangen sollen; zu philosophischen Systemen, je zweifelloser solche als gültig anerkannt werden, wie so viele Jahrhunderte hindurch Physik und Metaphysik des Aristoteles, wie neuerdings zu Kant, geraume Zeit zu Hegel usw. Ebenso machen aber auch Dichter und andere Autoren, die als „klassisch“ gelten, Erläuterungen ihres Sprachgebrauches notwendig. Vollends heilige Bücher und gar „Orakel“, die geflissentlich mehrdeutiger Worte sich bedienen. 62. Es bedarf nur einer kurzen Hinweisung auf die Tatsache, daß die Analogie des Zeichens „Geld“ mit dem Zeichen „Wort“ auch auf die Arten der Mitteilung und Erklärung sich erstreckt, wenn gleich diese Analogie nicht ins Detail sich verfolgen läßt. In engen Lebenszuständen, wo die Bedürfnisse gleichartig, werden dauerhafte Werte leicht als Geld angenommen, bei höherer Entwicklung regelmäßig nur Metallstücke; diese aber muß der Einzelne noch prüfen auf Gehalt und Gewicht, bis der Garantiestempel den 31

62.: Thema laut „Übersicht“: Fortsetzung der Geld-Analogie.

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I. Zeichen und Wörter – Wörter und Begriffe

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Umlauf erleichtert und das Geld zum Gleichnis aller Werte macht. In der Regel ohne Zweifel zu erregen, wenn auch Falschmünzerei jedem, der am Verkehr teilnimmt, Gefahr bringt. Papiergeld ist seinem eigentlichen Sinne nach immer nur eine Anweisung auf Geld, also ein Zeichen des Zeichens, es kann aber völlig dessen Stelle vertreten, also auch für alle möglichen Werte gelten. Es ist der Fälschung noch mehr ausgesetzt, als die Münze; besonders aber steigert sich die Gefahr einer schädlich vermehrten Emission, die das einzelne Stück entwertet, d. h. seine wirkliche und als vernünftig anerkannte Geltung unter den „Nominalwert“ herabdrückt. Vergleichbar ist auch hier der Überfluß an Worten, den Redner und Schriftsteller doloser fahrlässiger Weise emittieren; und gutgläubige Kommentare dazu können wohl an der Einfalt dessen gemessen werden, der sich Assignaten hat aufschwatzen lassen und nun meint, daß man sie zu ihrem vollen Werte ihm wieder abnehmen müsse, weil dieser Wert doch gedruckt, durch Stempel und Unterschriften beglaubigt, dastehe. 63. In diesem Zusammenhange bleibt noch die Erläuterung des Sinnes übrig, worin wir „Wissenschaft“ als eine Form des sozialen Willens bestimmt haben, des Sinnes also, wodurch Begriffsnamen ihre Bedeutung oder, sagen wir, ihren Kurs erhalten. Denn dieser Sinn ist, seiner normalen Gestalt nach, durchaus bedingt durch die Methode der Übertragung und Interpretation solcher Bedeutungen. Dies ist auf den früheren Stufen nicht der Fall. Zwar verbindet sich auf allen die Lehre mit den übrigen Weisen der Bekanntmachung oder des Bekanntwerdens öffentlicher oder geheimer Bedeutungen von Wörtern; aber auf keiner bildet sie ausschließlich das Wesen des sozialen Willens, so daß dieser durch Lehre entsteht, erhalten und fortgepflanzt wird. Von dieser Art ist aber die Wissenschaft: durch Lehre bildet sich eine Gemeinde, die an dem Besitze ihrer Begriffe, d. h. Kenntnis ihrer Bedeutungen und der Kunst, mit ihnen zu operieren, Anteil nimmt. Auch für die (korrespondierende) dritte Stufe fanden wir Lehre charakteristisch; aber dort ist sie nur die angemessene Form der Überlieferung, wie sie in minder entwickelter Gestalt schon die spontane Nachahmung als Anleitung dazu befördert. Der soziale Wille, den wir dort als Glauben bestimmten, ist ihr präexistent und bedingt sie selber. Hier aber wird gedacht – auch dies ist ein idealer Grenzfall –, daß der soziale Wille zunächst nur durch die individuelle Gestalt des Lehrers repräsentiert wird; es sammeln sich um ihn die Schü-

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doloser: [lat.] arglistiger. 63.: Thema laut „Übersicht“: Wissenschaft als Form des sozialen Willens.

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ler, die aus eigener, freier Einsicht in die Anerkennung der von ihm gebildeten Begriffe und somit deren Zeichen gelten zu lassen, einwilligen. Hier ist die Lehre weit davon entfernt, einen Glauben an die Zeichen, Teilnahme an deren abgesonderter und heiliger oder auch nur ästhetischer Bedeutung beizubringen; vielmehr sind ihr die Zeichen an und für sich völlig gleichgültig, sind nichts als Zeichen, d. h. als Mittel für die Bezeichnung, ohne allen „inneren Wert“. Wir unterscheiden so die Begriffe und untersuchen hier nicht, wie in Wirklichkeit die Arten der Lehre sich zu einander verhalten; man sieht aber leicht, daß sie zahlreiche Übergänge aus der einen in die andere Gattung darstellt. Dagegen ist offenbar, wie der „free assent“, mit dem Locke so eindringlich dem, der die Wahrheit suche, höchst vorsichtig umzugehen empfiehlt, mehr den Zweifel als den Glauben zur Basis hat, daß er aber zu allererst den Begriffen gegeben werden muß, die in Urteilen enthalten sind; und daß diese freie Übereinstimmung Begriffe zu konventionell gültigen Mitteln der Erkenntnis stempelt. In der Tat können freie Personen, auch ohne als Lehrer und Schüler sich zu einander zu verhalten, über die Gültigkeit von Begriffen einen Vertrag schließen und die Bedeutung auch solcher Wörter vereinbaren. Wir bringen aber durch Absonderung der Wissenschaft den Gedanken zum Ausdruck – dem eine breite Wirklichkeit entspricht – daß regelmäßig die Bildung und Ausprägung von Begriffen geniale Individuen zu Urhebern hat, die sich also gewissermaßen, zunächst aber zu ihrer Schule, als Gesetzgeber verhalten. So sehr auch anderseits die Überlieferung und der blinde Glaube in diesem Gebiete, wie in jedem anderen, eine große Rolle spielt, so ist doch in einem Zeitalter wissenschaftlichen Lebens die Entwickelung, Umbildung, Neuerung von Begriffen, gleich den Umwälzungen der Technik, in weitestem Umfange der Beobachtung offen. „Je mehr geistiges Leben eine Zeit enthält, desto mehr wird sie die überkommende Lage der Terminologie verändern.“ (Eucken.) –

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Locke: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Locke, Conduct of the understanding; Works in fol. Volume III. p. 398. (London 1751) – Diese Ausgabe konnte nicht eingesehen werden, vgl. die 3. Auflage von 1727a: vol. 3, § 32 (S. 417 f.); der Ausdruck „free assent“ findet sich jedoch dort nicht. (Eucken): Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie. S. 212. (Leipzig 1879). – Korrekte Seitenangabe jedoch: 112.

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64. Es ist gefragt worden nach den Ursachen der Unklarheit und Verwirrung in psychologischer und philosophischer Terminologie. Die Tatsache, daß solche Unklarheit und Verwirrung vorhanden sei, wird als gegeben vorausgesetzt. Es gehört daher nicht zu unserer Aufgabe; diese Tatsache zu erhärten; den Zweifelnden aber müssen wir auf Vergleichung der am meisten anerkannten und je in ihrer Besonderheit hervorragenden Werke, europäischer und amerikanischer Provenienz, hinweisen, von denen fast jedes in diesen Gebieten mit anderen oder doch anders bestimmten Begriffen operiert. Aber auch innerhalb eines jeden einzelnen Werkes wird man bei scharfer Prüfung nicht immer eine durchgeführte Terminologie antreffen, sondern oft den Sinn, in dem ein Kunstausdruck eingeführt wurde, ja die Definition, die ihm mitgegeben wurde, im Verlaufe der Erörterung verlassen und scheinbar vergessen finden, so daß der Leser, der daran wie an einem Stab sich halten wollte, diesen unter seiner Hand zerbrechen fühlt. „Wer die Philosophie ins Auge faßt, soweit sie sich mit dem Gesamtleben berührt, der wird die der Unsicherheit und Verworrenheit der Sprache entstammenden Mißstände schmerzlich empfinden“ (Eucken). 65. Wir richten also unsere Forschung ausschließlich auf die Ursachen jener Unklarheit und Verwirrung, um dann auf die Mittel zur Verbesserung so unerwünschten Zustandes bedacht zu sein. 66. Die wesentlichen Ursachen werden teils in allgemeinen Hemmnissen, teils in den historischen Bedingungen enthalten sein, die dem Stande und der Bewegung dieser Wissenschaften zu grunde liegen. Diese aber sind von mannigfacher Art. Wir müssen sie hier darstellen, wie sie uns, für die Beurteilung dieser Kausalität, in schärfster Ausprägung erscheinen.

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II.: Laut „Übersicht“ lautet das Kapitel: Philosophische Terminologie und ihre neuere Entwicklung. 64.: Thema laut „Übersicht“: Zustand der philosophischen Terminologie. – (Eucken): Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Eucken l. c. S. 162 – mit abweichender Orthographie (gemäß der 1901 verabschiedeten „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“). 65.: Thema laut „Übersicht“: Die Ursachen. – 66.: Thema laut „Übersicht“: Allgemeine Hemmnisse und historische Bedingungen. –

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67. Wir müssen aber zuvördert feststellen, daß die Bemerkung selber und die Klage über diesen Zustand nicht der gegenwärtigen Zeit allein angehört, sondern von altem Datum ist. Um von Stimmen aus der Antike abzusehen, so hat seit der Erneuerung der Wissenschaften eine Reihe hervorragender Denker auf das Übel einer unklaren Terminologie hingewiesen und den Ursachen nachgeforscht. Im 16. und 17. Jahrhundert verbreitete sich unter den freier Denkenden die Überzeugung, daß der ganze herkömmliche Betrieb der Philosophie auf den Universitäten – die Scholastik – wertlos sei. Leere Wortwissenschaft werde gelehrt; unter einer ausgebildeten Terminologie halte sich Unwissenheit und Aberglauben verborgen. Verhöhnt wurden die Kunstworte, verachtet die subtilen Distinktionen. Man bekundete den Entschluß, diese ganze Überlieferung von sich abzutun, um unmittelbar zu den Dingen vorzudringen. Das Buch der Natur hielt man allein für lesenswert; sei es, daß man, wie Baco, von einzelnen Erfahrungen zu Verallgemeinerungen sich erheben wollte oder, daß man, wie Galilei, erklärte, das Buch der Natur sei in geometrischen Figuren geschrieben, wer es verstehen wolle, müsse die Sprache der Triangel und Quadrate erlernen. 68. Die mathematische Richtung übertraf aber jene induktive bei weitem an Gehalt und Wirkung; sie begründete die moderne Philosophie. Soweit nun diese die wissenschaftliche Aufgabe der Naturerklärung sich setzte, ja in erster Linie Physik war, kam ihr in der Tat die ausgebildete Zeichensprache der geometrischen Figuren, der Arithmetik, und bald auch der Algebra in hohem Maße zu Hülfe. Auf dem Werkzeuge der mathematischen Formel beruht noch heute das internationale Verständnis der großen Theoreme, die in jenem Gebiete siegreich geworden sind. Daneben hat in jüngerer Zeit auch die wesentlich auf Induktion und Experiment begründete Chemie ihre eigentümliche Formelsprache ausgebildet. Aber auch, was in Physik und 1

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67.: Thema laut „Übersicht“: Alte Klage – Bruch mit der Überlieferung –. – Hier fehlt das in Tönnies 1899: 468 vorhandene Strukturierungsmerkmal „(1)“; siehe folgend dazu Themata 71, 73, 74 u. 84. Das Buch der Natur: Beachte die induktive Methode Bacons (1620) bzw. Galileis „metodo risolutivo“ (1632). 68.: Thema laut „Übersicht“: Physik und Chemie und ihre Terminologie. – Stellung der Naturwissenschaft zu Metaphysik und Logik – deren eigene Entwickelung – Ausdehnung des wissenschaftlichen Denkens – Mechanik – more geometrico – Definitionen – Meinung, daß dadurch der meiste Streit verschwinden müsse – die Philosophie der Aufklärung – Anklagen gegen sie Sprache – Beziehung auf die 3 Begriffe des sozialen Willens – erste Anklage – Klassifikation der Organismen – Realismus und Nominalismus – künstliche Systematik und natürliche Ordnung – Konstanz der Arten – Biologie – künstliche Namen.

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Chemie über die Formeln hinausgeht, hat terminologisch geringe Schwierigkeiten gemacht. Zum guten Teile rührt dies günstige Resultat daher, daß man in der Terminologie nicht neuerungssüchtig war; und dies wiederum ist dem Umstande zuzuschreiben, daß trotz freien Schaltens der Abstraktion, die zu grunde liegenden Dinge und Vorgänge der Beobachtung und dem Experiment offen liegen, oder doch, als erschlossene, in hohem Grade wahrscheinlich gemacht werden. Einmütig über den Gegenstand der Vorstellung oder des Begriffes, wird man gegen die Bezeichnung gleichgültig, und läßt gern einen überlieferten Terminus, wenn dieser auch ehemals eine andere Bedeutung hatte, gelten, da niemand diese Bedeutung wiederherzustellen sich versucht fühlt; oder man nimmt den von einem Meister geprägten Ausdruck dankbar entgegen, auch wenn er etwa „nicht glücklich gewählt“ scheint; um dem Streite über Geschmacksachen vorzubeugen. So ist denn im wesentlichen das erreicht worden, was die kühnen Propheten des neuen Zeitalters verlangten. Um theoretische Logik, daher auch um die Prinzipien der Terminologie, hat man sich wenig gekümmert; die ganze Scholastik ist über Bord geworfen, mit der Theologie ist ihre Schwester, die Metaphysik, in einen Winkel geschoben, von dem aus sie den Naturforscher nicht stören können: Metaphysik hieß ja jene in „abstrusen Distinktionen“ und unverständlichen Ausdrücken sich ergehende Scheinweisheit, die zusammen mit der Logik das „pedantische Studium des barbarischen Mittelalters“ erfüllt hatte – auch durch die Logik wähnte man über die Dinge selber, denen doch nur durch Erfahrung und durch Rechnung beizukommen ist, etwas ausmachen zu können. Wenn diese Stellung der modernen Naturwissenschaften zu den alten Säulen der Philosophie bezeichnend dafür ist, daß jene sich völlig selbständig gemacht haben und beinahe völlig siegreich geworden sind, so hat doch eine eigene Entwicklung der Logik und der Metaphysik nicht gefehlt, so wenig, wie eine Ausdehnung des wissenschaftlichen Denkens auf Gebiete, die der Physik und Chemie wenig oder garnicht zugänglich sind, dem philosophischen Interesse aber mindestens ebenso nahe liegen. Da ist denn nicht zu verwundern, daß von jener Zeit an, da die Mechanik mitten in die Werkstätte der Natur hineinzuführen schien, resolute Forscher unternommen haben, das Werkzeug, dem dieser Erfolg am meisten verdankt wurde, teils zu vorausnehmenden Verallgemeinerungen, teils zur Erweiterung der Sphäre des Wissens überhaupt anzuwenden: das Werkzeug der mathematischen Methode. Daher im stolzen und starken 19 2 2

„abstrusen Distinktionen“: Als klassifikatorische Bestimmung nicht nachweisbar. „... barbarischen Mittelalters“: Quelle nicht nachweisbar, stehende Redewendung.

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17. Jahrhundert die energische Bemühung, neben der Physik auch die Psychologie, die Moral und Politik „more geometrico“ zu traktieren, d. h. zu demonstrieren. Worin lag aber die Stärke dieser Methode? Man war darüber einmütig: im lückenlosen Fortgange von gesicherten Ausgangspunkten aus, mit anderen Worten in der Verknüpfung unbezweifelter und unbezweifelbarer Sätze zum Beweise von Sätzen, die sonst bestritten werden können. Einige erklärten: die Grundlagen sind lauter Definitionen, andere hielten sich an die gegebene Form der Mathematik und meinten, weil jene absolute und höchste Methode unmöglich sei – denn es gebe Urwörter, die man nicht definieren könne – so müsse man darauf verzichten und sich begnügen, alle Termini zu definieren, deren Sinn nicht durch sich selber klar und bekannt sei (vgl. Pascal). Alle mußten die schärfste Aufmerksamkeit auf die Terminologie gerichtet halten, und versuchen, die Fundamente zu legen, die man für unentbehrlich hielt. Man war geneigt zu glauben, daß der größte Teil der Streitigkeiten zwischen philosophischen Sekten verschwinden würde, wenn man nur über die Bedeutung der Wörter sich geeinigt hätte, man nahm also an – und die Erfahrung des Tages lehrte es damals wie heute –, daß viele Disputanten einander garnicht verstehen, daß mancher mit seinem Gegner einverstanden sein würde, wenn er ihn verstünde, d. h. wenn er wüßte, welche Meinung jener mit seinen Ausdrücken verbinde: für den von Vorurteilen gereinigten Verstand, der sich auf das Zeugnis der Sinne und, fügen einige hinzu, der inneren Wahrnehmung (reflection) verlasse, könne es über die allgemeinen Tatsachen und ihre nächsten Zusammenhänge kaum eine Verschiedenheit der Meinung geben. Das Unheil sei nur darin gelegen, daß jeder diese Tatsachen anders benenne – also in der Sprachverwirrung. Mehr oder minder ausgesprochen, mehr oder minder schrankenlos, war dies die Ansicht der Philosophen der „Aufklärung“: Descartes, Hobbes, Spinoza, Pascal und der Logiker von Port-Royal, Locke, Leibnitz, Berkeley, Condillac, Wolff mögen hier im großen Zusammenklange genannt werden. Viel seltener ist die Klage, daß unter gleichen Ausdrücken sich Verschiedenheit der Gedanken versteckt halte. Mehrere dieser großen Autoren glaubten aber nicht, daß durch Definitionen allein die Schwierigkeit gelöst werden könne; sie bezweifelten die Tauglichkeit jeder Natursprache für wissenschaftliche Zwecke. Die Anklagen, denen minder berühmte Namen 12 28

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Pascal: Vgl. ders. 1827: 58 f. Logiker von Port-Royal: D. i. Antoine Arnauld, dessen „La logique ou l’art de penser“, zusammen mit Pierre Nicole – 1635–1695 – verfasst, bis in das 19. Jahrhundert hinein in Frankreich und England ein klassisches Lehrbuch war. Leibnitz: Heute übliche Schreibform: Leibniz.

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sekundierten, lassen sich leicht auf die drei Begriffe beziehen, unter denen die gegenwärtige Abhandlung den natürlichen sozialen Willen betrachtet hat. Sie gingen nämlich dahin: 1. daß den Dingen ihre Namen gegeben seien, auf Grund mangelhafter Erkenntnis, nach den Eindrücken der Fantasie, nach dem Scheine. 2. daß der Sprachgebrauch unsicher und unkonsequent sei, daß er in weitem Umfange mehr den widersprechenden Gefühlen und Interessen als den übereinstimmenden Einsichten und Gedanken der Menschen Ausdruck gebe. 3. daß die gewöhnliche Rede, aber auch insbesondere die philosophische Terminologie, angefüllt sei mit uneigentlichen bildlichen Ausdrücken, wodurch Unklarheit und Verwirrung gehäuft werde. Die erste Anklage richtete sich besonders gegen die Klassifikation der Organismen. Sie war um so schärfer, da nach der hergebrachten, bestautorisierten Lehre, die Gattungen und Arten für Realitäten gehalten wurden, so daß also eine reale Essenz, die durch den Namen bezeichnet werde, allen Individuen dieser Gattung oder Art gemeinsam innewohnen sollte. In der Tat hängt der „Realismus“ der Schulen, in der Form, wie er gemeinhin verstanden wurde, innig zusammen mit der Meinung, daß zwischen Dingen und Namen ein natürliches und notwendiges Band existiere, während die nominalistische, freiere Denkungsart die Erscheinungen in ihrer namenlosen Vereinzelung auffaßt, und das Recht in Anspruch nimmt, sie neu zu benennen, wie sie es als zweckmäßig erkennt; praktisch bedeutet das: sie nach ihren eigenen Gesichtspunkten, d. h. nach Beobachtung der konstantesten und am meisten charakteristischen Merkmale zu unterscheiden, zu ordnen, zu klassifizieren. Wenn hierdurch zunächst eine künstliche Systematik begünstigt, weil allein für möglich gehalten, schien, so mußte doch die Untersuchung selber den Gedanken der natürlichen Ordnung hervorrufen, einer Klassifikation also, die den wirklich gemeinsamen Merkmalen jeder Tier- und Pflanzenart, Gattung, Familie gerecht werde; in diesem Sinne haben die großen französischen Naturalisten gearbeitet, die Subordination und die Korrelation der Organe festzustellen. Die Anerkennung und Aufdeckung eines „Bauplanes der Natur“, den man in seiner durchgehenden Einheit, wie in seinen mannigfachen Verzweigungen erforschte, hätte nun freilich, wenn der alte Streit noch gelebt hätte, als ein Sieg des Realismus erscheinen können, und hat durch die Lehre von der „Konstanz“ der Arten allerdings in dieser Richtung gewirkt. Zugleich aber führte die Morphologie unmittelbar in die Entwicklungslehre hinüber, die in entgegengesetzter Richtung, also wiederum im Sinne des alten Nominalismus, endliche Entscheidung zu bringen schien. Wie dem auch sei, mit Gewißheit darf gesagt werden, daß der Fortschritt der beschreibenden Naturwissenschaften, und

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in Anlehnung an sie, der Biologie, jene Klagen in diesem Gebiete zu schanden gemacht hat; vom Standpunkte jeder Sprache – mögen nun ihre Benennungen von antiker Wissenschaft abstammen oder diese von der Volksanschauung noch ungetrennt gewesen sein – sind alle neueren Klassifikationen der Organismen unnatürlich, d. h. sie beruhen auf methodischem Studium innerer Verwandtschaft anstatt auf naiven Wahrnehmungen äußerer Ähnlichkeit – sind daher aus dem Groben in unendliche Feinheit entwickelt und angefüllt mit künstlichen Namen, die freilich auch neue Verwirrung durch die Verschiedenheit und den Streit der Systeme hervorbringen. Diese Terminologie aber – so wichtig auch die Biologie in philosophischer Hinsicht ist – betrachten wir hier nicht als spezifisch philosophische mehr. 69. Hingegen besteht die zweite Anklage in voller Kraft noch heute. Sie betrifft, ihrem Wesen nach, hauptsächlich die moralischen Meinungen und Begriffe. Der Sprachgebrauch hat in bezug auf diese eine charakteristische Funktion. Seine Zusammenhänge mit den natürlichen Gefühlen und Gewohnheiten, aber auch mit dem Volksglauben und mit gültigen Normen des Urteiles, treten hier auf das deutlichste hervor. Die umlaufenden Prädikate, mit denen Neigungen, Handlungen, Charaktere und Menschen belegt werden, gehören zu den Wörtern, die als ausschließliche Bedeutung oder als Mitbedeutung eine Bejahung oder Verneinung – Billigung oder Mißbilligung – des Redenden ausdrücken; sie geben aber diesem subjektiven Verhalten die Form einer objektiven Qualität – (wie es, den Lehren der reformierten Physik gemäß, in etwas anderem Sinne ebenso mit den sinnlichen Empfindungen der Fall ist). Wenn nun zwar in vielen Einzelheiten der individuellen Freiheit, mithin dem Zweifel und dem Streite, weiter Spielraum bleibt, so sind doch die Prinzipien des moralischen Denkens in der Sprache so festgelegt, daß ein Verstoß dagegen nicht allein als Übertretung des Sprachgebrauchs, sondern hauptsächlich als ein moralischer Frevel empfunden und verneint wird. Die offene – d. h. durch Worte oder andere Zeichen kundgegebene – Billigung und Mißbilligung, generelle oder singuläre, von Handlungen, Grundsätzen usw. untersteht selber, als eine Handlung, der öffentlichen Billigung und Mißbilligung und dem, was daraus folgen mag. Der soziale Wille dieser Öffentlichkeit deckt 12

69.: Thema laut „Übersicht“: Zweite Anklage – moralische Meinungen und Begriffe – Billigung und Mißbilligung – Verstoß gegen die Sprache als moralischer Frevel – sozialer Wille der Öffentlichkeit – eigene Urteile jeder Gruppe – Anwendung der Namen – Bemühungen der Philosophen – Parteiansichten in den Systemen – diese selber sozialer Wille – Interesse der Gesellschaft und des Staates – an rein wissenschaftlicher Bearbeitung der Moral. –

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sich nun aber keineswegs mit demjenigen, der in der Sprache und ihrem Brauch sich verkörpert. Von jenem gibt es viele Arten, deren Kreise mit den Kreisen eines Sprachgebrauches zwar vielfach sich schneiden, hie und da sich decken, teils aber ihn umschließen, teils in ihm enthalten sind. Soziale Stände, Klassen, Schichten, Berufe, politische Körper, Korporationen, Parteien, religiöse Gemeinden, Sekten, Kirchen, künstlerische und wissenschaftliche Schulen und Richtungen – jede solche Gruppe hat, wenigstens in einigen Stücken, ihre eigenen Urteile über das, was gut oder böse, löblich oder verwerflich – freilich auch in weitem Umfange über das, was wahr oder falsch, zu nennen sei; denn auch dies involviert Bejahung und Verneinung und auch dies nicht allein, weil das Wahre gesucht, das Falsche gemieden wird, sondern auch, weil das, was gewollt wird, als wahr, was nicht gewollt wird, als falsch behauptet zu werden pflegt, nach den Gesetzen der menschlichen Natur. Jede solche Gruppe ist eben, wenn überhaupt einmütig, so über das, was sie will – möge es nun in Gewohnheiten oder Gesetzen, in Glaubens- oder wissenschaftlichen Bekenntnissen sich ausdrücken – und dies gibt jeder einen besonderen Sprachgebrauch in Anwendung jener bejahenden und verneinenden Namen. Teilweise sollen diese Namen, auch wenn sie sprachlich als Qualitäten auftreten, nur den Willen bezeichnen und kundgeben, teilweise aber nehmen sie allerdings in Anspruch, als den Dingen wirklich zukommend, also zugleich als Wahrheiten zu gelten. Philosophen nun haben sich oft bemüht, diesen Tatbestand aufzuhellen und dagegen rein sachliche Gründe für solche Benennungen zu entdecken und festzustellen. Tatsächlich fließen aber in die philosophischen Systeme ganze Ströme von jenen Partei-Ansichten und Grundsätzen, so daß daraus notwendigerweise ein großer Teil der beklagten Unklarheit und Verworrenheit der Terminologie sich ergeben muß. Zum großen Teil hat dies seine direkte Ursache in den noch bestehenden Abhängigkeiten dieser philosophischen Disziplinen von der Theologie; diese Abhängigkeit selber ist aber nur eine besonders starke Ausprägung der Bedeutung, die solchen Lehren im öffentlichen Leben überhaupt, d. h. von jedem sozialen Willen beigemessen wird. Die Lehren selber sind nur sozialer Wille in einer sublimierten Gestalt. Die moderne Gesellschaft und der moderne Staat haben freilich in einem gewissen Maße ein Interesse an der wissenschaftlichen Bearbeitung auch dieses Gebietes. In dem Maße, als sie von den traditionellen moralischen Mächten sich losreißen, um so mehr, wenn sie sich ihnen entgegenstellen. Und ferner in dem Maße, als eine wissenschaftlich basierte Überzeugung gebildeter Menschen dem Frieden und der Ordnung innerhalb der Gesellschaft und des Staates – natürlichem Inhalte

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ihres Willens – nützen kann. Wo immer jene wissenschaftliche Bearbeitung energisch unternommen wurde, da hat sie naturgemäß fast alle jene unter sich streitenden Parteien zu übereinstimmenden Gegnern. Auch die Gesellschaft ist – wenigstens in Europa – selten ihrer so bewußt geworden, um eine reine und strenge Moralwissenschaft zu fördern. Der Staat aber laviert zwischen alten und neuen sozialen Mächten; je mehr er als materielle Stütze die neuen gebraucht, desto mehr glaubt er, seine moralische Stütze nur den alten anvertrauen zu dürfen. 70. In Kraft ist auch noch das dritte Argument gegen die gewöhnliche Sprache. Die Sprache ist erfüllt von metaphorischen Ausdrücken. Und zwar besteht eine merkwürdige Wechselwirkung zwischen den Bezeichnungen für physische (objektive) und psychische (subjektive) Vorgänge. Während eine poetische oder mythologische Denkungsart – worauf schon hingewiesen wurde – in der Sprache dahin niederschlägt, daß die Dinge personifiziert und durch ihre freien Tätigkeiten das Geschehen zugleich ausgedrückt und erklärt wird, so wird andererseits durch Metaphern die überwiegende Masse der psychischen Tatsachen materialisiert und also objektiviert, ja schon durch die Gewohnheit, ein grammatisches Subjekt als „Ding“ zu bezeichnen, Dinge aber als räumlich ausgedehnt oder körperlich vorzustellen. Mit beiden Arten natürlicher Ausdrucksweise hat auf Schritt und Tritt die psychologische Terminologie zu kämpfen. Die Überwindung des Anthropomorphismus ist ihr bereits in hohem Maße gelungen, aber Unsicherheiten und Rückfälle lassen sich doch überall beobachten. In der modernen glänzenden Entwicklung, die der Psychologie der Empfindungen und Vorstellungen zu teil geworden ist, hat doch vielfach eine neue Anwendung der Bildersprache stattgefunden: man denke an die Verschmelzung, die Schwelle des Bewußtseins, u. a. Termini, deren Bedenklichkeit hiermit aber nicht behauptet werden soll. Viel größeren Schwierigkeiten begegnet auch terminologisch die Analyse der Gefühle und des Willens, in deren Schilderung die poetische und rhetorische Sprache ihre Triumphe feiert. Alle diese Schwierigkeiten hängen aber mit den Schwierigkeiten der Sache, auf die uns eine folgende Erörterung hinführt, aufs innigste zusammen.

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70.: Thema laut „Übersicht“: Drittes Argument – metaphorische Ausdrücke – Wechselwirkung zwischen Bezeichnungen für physische und psychische Vorgänge – Bildersprache in der Psychologie. –

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71. (2.) Unter den historischen Ursachen des betrachteten Phänomenes, wie es in gegenwärtiger Zeit sich darstellt, tritt zunächst am stärksten hervor: der Untergang der europäischen Gelehrtensprache, des Neu‑Lateinischen. So lange, als man diese besass, gab es, wenn auch nur der Wortform nach, eine wissenschaftliche Terminologie, die allen gemeinsam war; zugleich unterschieden sich äußerlich die gelehrten Kunstausdrücke von der flatterhaften Sprache des täglichen Lebens, der Dichtung usw. International war die lateinische Sprache als Kirchensprache; von der Kirche aus hatte sie über alte und neue Künste und Wissenschaften sich ausgebreitet. Je mehr sich diese von der Kirche entfernten und frei machten, desto mehr wurden sie „national“, das hieß zunächst nichts anderes, als einer größeren Schriftsprache-Gemeinschaft zugehörig, deren Gestaltung sie selber beförderten. Wie das Latein die Sprache des geistlichen Standes, so gehörte die nationale Schriftsprache dem weltlichen Adel und den bürgerlichen Schichten, die sich ihm an die Seite stellten. An diesen sozialen Mächten aber rankten die Naturwissenschaften, und folglich die neue Philosophie sich empor. Inzwischen verharrte die offizielle Wissenschaft mit geringen Abweichungen, unter geistlichem Einflusse; die Universitäten und Schulen blieben im wesentlichen, bis gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts, der lateinischen Sprache treu. Die neue Philosophie war ein Freimeistertum gegenüber den Zünften: von den Seite 188 genannten glänzenden Namen gehörte ein einziger einem philosophischen Würdenträger, und dieser einzige (Christian Wolf) wurde im Jahre 1723 unter Androhung des Stranges von seinem Hallischen Lehrstuhl vertrieben; zu jenen Freimeistern gesellen sich noch u. a. Hartley, Priestley, Hume, Voltaire, Diderot, Helvetius, Rousseau; unter den Deutschen möge noch aus dem 17ten Jahrhundert Tschirnhaus, aus dem 18ten sollen Lessing und Herder genannt werden. Übrigens aber hebt der gelehrte Zustand der Deutschen von dem der beiden anderen leitenden Nationen – Italien versinkt nach Galileis Prozess in den Klerikalismus zurück – in höchst merkwürdiger Weise sich ab. Während die deutschen Universitäten bis gegen Ende des 17ten Jahrhunderts fast unberührt blieben von den neuen Paradoxen, so fand im 18ten eine rasche und ent-

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71. (2.): Thema laut „Übersicht“: Historische Ursachen – Untergang der europäischen Gelehrtensprache – die nationalen Schriftsprachen – Freimeistertum der Philosophie – die deutschen Universitäten – Aneignung der rationalistischen Prinzipien. – „(2.)“ irrtümlich gesetzt; in der engl. Fassung ist das Thema 65 zusätzlich mit „(1)“ gekennzeichnet, 69 mit „(2)“, 71 mit „(3)“, 72 mit „(4)“, 82 mit „(5)“.

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schiedene Aneignung und Verarbeitung der rationalistischen Prinzipien statt. Das war ein Erfolg des Systems der Konkurrenz und der kleinen Höfe. Charakteristisch dafür ist die Aufnahme Wolfs in Marburg; auch sind Gestalten, wie die von Chr. Thomasius und N. H. Gundling nur in der deutschen Kleinstaaterei jener Zeit vorstellbar. Erst die Revolution brachte auch in Frankreich eine freie Universitätsphilosophie, die Schule Condillacs, zur Geltung. 72. Von Deutschland aus war aber jenes vielbändige, in der gelehrten Sprache würdevoll wandelnde System der neuen Weltweisheit ausgegangen, das den Gegensatz von scholastischer Formenstrenge und freiem Vernunftinhalt bis zu einer gewissen Höhe in sich vereinigte, das Werk Chr. Wolfs, des späteren K. Preußischen Geheimen Regierungsrates. Zum ersten Male wurde dieser gesamte Inhalt planmäßig einer ausgestalteten, aus altem und neuem Material zusammengesetzten Terminologie unterworfen, die mächtig dazu helfen mußte, den Widerstand des Katheders, soweit er darin beruhte, daß in der hergebrachten Schale auch der alte Inhalt tradiert wurde, zu brechen. Ohne die Herrschaft der Wolfischen Philosophie auf den Universitäten läßt weder das tiefe Eindringen der Aufklärung in das deutsche bürgerliche Bewußtsein sich begreifen, noch der dadurch mitbedingte Aufschwung der poetischen Literatur, noch endlich die umgestaltende Wirkung, die der größte, aus diesem Zustande hervorgegangene Denker, Immanuel Kant, als Professor der Philosophie erzielen konnte. Kant, der mit großer Freiheit die Terminologie für seine Zwecke umprägte, blieb doch in breitem Umfange von dem abhängig, was er aus den Büchern der Wolfianer empfangen hatte; bezeichnend dafür ist seine Gewohnheit, dem deutschen Terminus die lateinische Fassung in Parenthese hinzuzufügen. Aber die gemeinsame Sprache der Gelehrtenrepublik ist im 19ten Jahrhundert, das er einleitete, tiefer als zuvor in den Hintergrund gesunken. Die Nachteile, die daraus sich ergeben, sind besonders für die kleineren Nationen bedeutend, und dadurch indirekt für die Gesamtheit, dass sie die Entwickelung tüchtiger Ingenien in diesen kleineren Nationen hemmen, das Bekanntwerden ihrer Werke noch schwerer machen, als dies für die Werke der großen Sprachgebiete zutrifft, wo wenigstens allgemeinere Fähigkeit gegenseitiger Kenntnis sich mehr und mehr ausbreitet, auch durch Übersetzungen leichter geholfen wird. Hingegen haben freilich die kleinen Nationen den Vorteil, daß sie dem Schrift 8

72.: Thema laut „Übersicht“: Das System Wolfs in lateinischer Sprache – Kant – Verfall der Gelehrtensprache im 19. Jahrhundert – die kleinen Nationen – Nachteile und Vorteile. –

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tum dieser großen Sprachgebiete mehr oder minder indifferent gegenüberstehen, sich den Honig aus den Blüten saugen können, anstatt genötigt zu sein, durch die massenhaften Unkraut-Produkte jeder einzelnen Großsprache – wie die Gelehrten, die deren Gebiet angehören – sich ihren Weg zu bahnen. Dies ist auch für die Terminologie von Bedeutung; denn je weniger das wert ist, was einer gedacht hat, desto weniger lohnt es sich, mit dessen Kunstausdrücken sich zu plagen. 73. Wenn einst den Universitäten – und zwar zum teil mit Recht – ein unnützes Raffinement der Terminologie, das über Worten oder doch über Begriffen die Sachen vergesse, schuld gegeben wurde, so ist doch als Ursache des gegenwärtigen dissoluten Zustandes auch der Verfall der Schultradition und die verminderte Stellung der Philosophie im gelehrten Unterricht – wenigstens für Deutschland – anzusehen. Über den letzten Punkt lese man Paulsen. Die allgemeine Tatsache hängt in der stärksten Weise mit dem zuletzt verhandelten Gegenstande zusammen. Denn durch die feindliche Stellung gegen die Universitäten und durch den Ausschluß von ihnen gewann die neue Philosophie ebenso wie durch ihre inneren Tendenzen eine Annäherung an die gemeinvernünftige Denkungsart oder, wie man sagte, den gesunden Menschenverstand – common sense – und damit zugleich an die freie, kritisch-räsonnierende Literatur der heimischen Sprache, die, zumal seit sie periodisch wird, zur Signatur des Zeitalters gehört. Die große Arena der öffentlichen Meinung tritt an die Stelle der Disputatorien in Klöstern und Hörsälen. Das gegenseitige Verständnis dort wird schon durch die grenzenlosen Entfernungen, den Mangel persönlicher Bekanntschaft, die Massenhaftigkeit der durcheinander lautbaren Stimmen erschwert. Und wenn auch das geschriebene Wort besser erwogen werden kann als das gesprochene, so entwöhnen doch schon die Hast der Produktion, dazu der Mangel an jeder Autorität, an jedem sichtbaren Richter, und die Erfolge der Keckheit, der Schlagwörter, den „Literaten“ gar sehr von der Präzision des Denkens, von der sorgfältigen Wahl der Wörter, von der Gewissenhaftig 8

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73.: Thema laut „Übersicht“: Verfall der Schultradition – Annäherung der Philosophie an common sense – Schlagwörter – Vereinfachung der Ausdrucksweise – Locke über Gefahren unterhaltender Abhandlungen – auch heute Psychologie vielfach Tummelplatz des Witzes und der Phantasie – Wiederholung des Kampfes gegen die Universitätsphilosophie des 19. Jahrhunderts in Deutschland – Folgen für Terminologie – Urteil Euckens – seither neue Belebung der Philosophie durch die Geisteswissenschaften – Terminologie der neueren Psychologie. – Paulsen: Tönnies’ korrekter Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts II, 2. S. 664.

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keit des Eingehens auf eine etablierte Terminologie, zumal wenn sie im Gebrauche des Gegners ist. Gerade die Häupter der anti-scholastischen Philosophie sprachen wohl über exakte Terminologie, aber waren, nur zum teil, auch praktisch bemüht um Definitionen, wobei denn gerade in den heftigsten Gegnern der Einfluß der Tradition sich am stärksten erwies. Man wollte aber vor allem Vereinfachung – wenige, leicht erlernbare Kunstausdrücke, meinte man, müßten genügen. Mehr und mehr bildete sich eine philosophische Popularliteratur aus, die die Sprache der Höfe, der Salons oder der Märkte und Wirtshäuser redet – eine Gefahr für das genaue und strenge Denken, die mit großer Kraft ein Haupt dieser Popularphilosophie, John Locke, signalisiert hat, „I confess“, erklärt er am Schlusse des langen Kapitels über den Mißbrauch der Worte, „in discourses, where we seek rather pleasure and delight, than information and improvement, such ornaments, as are borrowed from them, can scarce pass for faults. But yet, if we would speak of things as they are, we must allow that all the art of rhetorick, besides order and clearness, all the artifical and figurative application of words, eloquence hath invented, are for nothing else, but to insinuate wrong ideas, move the passions, and thereby mislead the judgment, and so, indeed, are perfect cheat . . . . where truth and knowledge are concerned, cannot but be thought a great fault, either of the language, or person that makes use of them.“ In dem vorausgehenden Satze bemerkt er aber, daß „wit and fancy finds easier entertainment in the world, than dry truth and real knowledge“, und dies gilt, trotz des enormen Fortschrittes der Wissenschaften, auch heute, zumal auf den Gebieten, die man nicht kennen zu lernen sucht um eines praktischen Nutzens willen, deren Nutzen man nicht einsieht, oder die auch eines unmittelbaren Nutzens, wenigstens für äußere Zwecke, sich nicht rühmen können. Gerade die Psychologie ist der natürliche Tummelplatz des Witzes und der Phantasie, und Belehrung wird hier ungern aufgenommen, wenn sie mit der Unterhaltung in Wettstreit gerät. Und doch ist die unterhaltende Belehrung keineswegs verwerflich; sie sollte nur möglichst scharf von der terminologisch „trockenen“ esoterischen Wissenschaft getrennt gehalten werden. Aber das Übel ist in einigem Maße der Entwickelung inhärent: die sich emanzipierenden, kühneren Gedanken durchbrechen die alten Formen, starren Regeln, steifen Kunstausdrücke, wie eine Flamme, verzehrend und erleuchtend, „einher 11

John Locke: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Locke, Essay on human understanding III, 10. 34. (Works I, 237). – Vgl. Locke 1727: 235 (vol. 1, book 3, chap. X, § 34); das folgende Zitat ebd.: 234. In Tönnies 1899: 476 f. keine Hervorhebung des Zitates.

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geht auf der eigenen Spur, die freie Tochter der Natur“. In Deutschland zumal wiederholt sich, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, in verkürztem Maßstabe das Schauspiel, das die neue Philosophie als Ganzes gegenüber der Scholastik darbot. Eine neue Universitäts-Philosophie war etabliert worden. An ihrer Geschichte gehen wir hier vorbei. Sie gipfelte in Hegel, der seine eigene Sprache redete, den „Jargon“, wie die Gegner spotteten. Als Universitäts-Philosophen, die seiner Alleinherrschaft entgegenwirkten, machten nur Beneke, der nie ein Ordinariat erlangte, und besonders Herbart Schule. Dann aber tritt wieder, mit breiterem Einflusse, eine Schar von Freimeistern auf, die ganz auf ähnliche Art, wie die Neuerer überhaupt gegen die Scholastik, besonders auch mit den charakteristischen Beschwerden über „Unverständlichkeit der Sprache“, wider die gesamte „spekulative“ Philosophie beredt und rücksichtslos sich kehren und das Publikum um so mehr für sich gewinnen, da sie der gleichzeitig aufs neue von aller Philosophie sich losreißenden Naturwissenschaft, mehr oder minder mit Reserven, huldigen, und wiederum der Popular-Literatur sich deutlich nähern. Die Namen Schopenhauer, Feuerbach, Dühring, von Hartmann – vielleicht muß man jetzt sogar Nietzsche hinzufügen – bezeichnen das Gemeinsame dieser Richtungen. Neue Schultradition, die, wenn auch in stark divergenten Richtungen, sich ausgebildet hatte, ist rasch von neuem zersetzt worden. Über das Ergebnis dieser Gesamt‑Entwickelung – von der die letzte Phase naturgemäß am lebhaftesten nachwirkt – für das gegenwärtige Thema, mögen wir das klare Zeugnis eines besonnenen Sachverständigen hören, das unsere eigene Kenntnis nur bestätigen kann. „So traten – heißt es bei Eucken – mannigfache Systeme und Richtungen auf und behaupteten neben- oder nacheinander Macht und Herrschaft. Aber keinem gelang es, die Überlegenheit dauernd zu wahren. Das erweist sich auch in der Terminologie. An dem im allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauch Umlaufenden lassen sich alle jene Systeme erkennen, wenn auch in sehr verschiedenem Grade (unbedingt überwiegt noch immer Hegel). Ein gewisser Synkretismus ist unleugbar vorhanden, mit allen Mängeln und Gefahren. . . . . (Zwar) erhält sich bei einzelnen Genossenschaften und Sekten durch Ablehnung alles Fremden eine strenge Observanz. Indessen gleichen die Termini solcher Sekten den Scheidemünzen, deren Geltung nicht 1 2 5

„... Tochter der Natur“: Vgl. Schillers „Das Lied von der Glocke“ (1871z: 310). bei Eucken: Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Eucken l. c. 162 – Bei Eucken (1879: 162): Ueberlegenheit., Klammerausdruck dort als Fußnote; statt „Zwar“ dort: Auch; statt „dass“: dass.

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über das enge Gebiet hinausreicht. . . . . Namentlich bei uns Deutschen hat sich mannigfaches und entgegengesetztes so sehr gehäuft und in einander geschoben, daß die technisch philosophische Sprache kaum noch ein Mittel der Verständigung bildet.“ Seitdem dies geschrieben wurde (vor etwa 29 Jahren) hat sich der äußere Zustand etwas verändert. Das philosophische Studium auf den Universitäten, das Jahrzehnte lang schattenhaft war, hat begonnen, wieder aufzuleben; nun aber unter einem neuen Zeichen, dem die ganze Entwickelung vorgearbeitet hat: „überall beginnt man von den Wissenschaften aus zu philosophieren“ (Paulsen); die Wissenschaften aber, von denen aus es am meisten auf energische und hoffnungsvolle Art geschieht, sind nicht, wie im 16ten und 17ten Jahrhundert, die Naturwissenschaften, sondern die Geisteswissenschaften, die sich nunmehr solider zusammenfügen: Psychologie und Soziologie (die auf Sozialpsychologie beruhen muß) sind ihre Zentren, Biologie bildet die Brücke zwischen den beiden großen Gebieten. Ausbildung und Einfluß dieser Wissenschaften beruhen aber auch auf Wechselwirkungen des deutschen Denkens mit dem Denken anderer Sprachgebiete. Soweit allgemeine (logisch-spekulative) Philosophie überhaupt noch geachtet wird, so hat unstreitig nur die deutsche in diesem Jahrhundert einen Rang gewonnen und macht ihre Einflüsse in allen Ländern geltend. Anders mit den Einzelwissenschaften und mit der Philosophie, die über ihnen sich aufbauen will. Hier findet ein vielfaches, wenn auch nur in den Gipfeln und Ausläufern sich begegnendes Zusammenwirken statt, so daß der relative Anteil eines einzelnen Sprachgebietes, an dessen Ausdehnung gemessen, schwer sich herausrechnen läßt. Dieses Zusammenwirken ist besonders da fruchtbar geworden, wo es, wie in Biologie und Individual-Psychologie, auf sachlich und terminologisch festangesiedelten Naturwissenschaften beruhte. Das internationale Verständnis findet an diesen seine Grenzen. Indessen wird mehr und mehr die Psychologie der isolierten Empfindungen, durch experimentelle Methode gefördert, nach Art einer Naturwissenschaft abgehandelt (wozu die Anbahnung längst in der Physik der wahrnehmbaren Qualitäten geschehen war) und prägt sich wenigstens eine beschränkte Zahl von Begriffen so aus, daß sie in alle Sprachen leicht übertragen werden und für die Herstellung einer identischen Terminologie dieses Zweiges das Fundament abgeben können. Die Einteilung aller psychischen Tatsachen in Empfindungen und Gefühle, obgleich dem englischen Sprachgeiste etwas widerstrebend, scheint sich durchzusetzen; sie ist nur 9

(Paulsen): Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Paulsen l. c. II, 666 – Bei Paulsen (1897: 666) keine Hervorhebung und mit Majuskel beginnend.

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eine, den heutigen Kenntnissen angemessene Erneuerung der alten Dichotomie intellectus-voluntas: an die Stelle der einfachen Potenzen sind Komplexe von Akten getreten. 74. Übrigens aber begegnet uns als ein mächtiges und zwar inneres Hemmnis der Verständigung in Worten (also als eine Hauptursache des vorhandenen Zustandes) die Verschiedenheit des Denkens selber. Prinzipiell muß die Frage, ob eine gemeinsame Terminologie trotz differierender Grundsätze, Meinungen, Theorien, möglich sei, unbedingt bejaht werden. Das ist ja gerade der Zweck, dem zu Liebe eine wissenschaftliche „Sprache“ immer geschätzt und gesucht wurde, dem sinnlosen und unfruchtbaren Streiten um Worte, nicht aber dem sinnvollen und fruchtbaren Streiten um Sachen, ein Ende zu machen. Aber mit Recht hat sich Kant gegen jene oft vertretene Maxime gewandt, „alle Streitigkeiten der philosophischen Schulen für bloße Wortstreitigkeiten zu erklären“. Nicht allein, daß auch das Gegenteil vorkommt: scheinbare Übereinstimmung, die aber nur in Worten besteht, bei denen jeder sich etwas anderes denkt; nicht allein, daß verschiedenes Urteilen über Dinge und Vorgänge schon in den Kunstausdrücken sich ausprägt; sondern manche Disputationen sind deswegen leer, weil der Gegenstand, den A durch seinen Terminus bezeichnet, und von dem er etwas aussagt, dem B durchaus unbekannt ist, und weil B auch weder willig noch fähig ist, diesen Gegenstand zu erkennen. 75. Mit Recht weist Eucken überall auf die Zusammenhänge der philosophischen Sprache mit dem philosophischen Denken selber hin. Die Geschichte der Terminologie reflektiert die Geschichte der Philosophie. Wenn wir die Entwicklung aus der Scholastik, und wider sie, unter diesem Gesichtswinkel betrachten, so sehen wir zunächst ein großes Zerstörungswerk. Die Vereinfachung der Terminologie, worauf wir schon hingewiesen, 2

Dichotomie: [gr.] Zweiteilung

4 74.: Thema laut „Übersicht“: Hemmnisse in der Verschiedenheit des Denkens selber – Gleich-

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heit der Sprache bei verschiedenem Denken an sich möglich – aber nicht, wenn der Gegenstand, den A bezeichnet von B nicht gekannt oder nicht anerkannt wird. Kant: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet; Kant, W. W. IV, 466 (Hartenstein) – Vgl. Kant 1867: 466, dort ohne Hervorhebung: blose. 75.: Thema laut „Übersicht“: Geschichte der Terminologie als Reflex der Geschichte der Philosophie – die mechanistische Philosophie – Descartes – Klare und deutliche Begriffe – Ausscheidung des Nur-Denkbaren – des Möglichen – Spott über die scholas­ tischen Begriffe – die Lebenskraft – Kraft – Energie – vitalistische Strömung in jüngster Zeit – Opposition gegen mechanische Deutung der Energie – richtige Einsicht und falsche Voraussetzung – die Welt erklärbar? – Hume – Spinoza – ratio = causa – das Unendliche – mechanische Bewegung allein real? – Bewegung als Größe – regulative Idee. –

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entspricht einer Vereinfachung des Denkens selber. Das Streben darnach durchzieht die ganze Epoche bis in unsere Tage hinein. Es befriedigt sich hauptsächlich in der mechanischen Deutung der körperlichen Dinge. Hinter dieser liegt das Trachten nach technischer Beherrschung der Materie und der „Naturkräfte“. Wo die mechanische Erklärung der Vorgänge nicht hinanreicht – in der Chemie –, da diktiert sich um so mehr die Auflösung des Stoffes in letzte Elemente und elementare Einheiten: die Analyse zum Behufe der Synthese. Die gesamte Tendenz stellt den Menschen der ganzen übrigen Natur gegenüber. Der Mensch denkt – zunächst und hauptsächlich über Materie und Bewegung, deren Zusammenhang und Zusammenhänge er also erkennt, um dann an sich zu denken, d. h. zu wollen, Materie und Bewegung seinen Zwecken dienstbar zu machen. Zur Materie und Bewegung gehört auch der menschliche Körper und sein Leben; der Mensch erkennt beides, um der Medizin willen. Maschinerie ist alles, nur allein in der menschlichen Maschine wohnt auf unbegreifliche Art, aber mit einem Vermögen, diese ihm zufällig verbundene Maschine teilweise zu dirigieren, dadurch aber auch in das ganze übrige Triebwerk hineinzugreifen, das denkende Ich, jenes völlig Andersgeartete, das die ihm fremde, gleichgültige, tote Materie – auch der Tiere und Pflanzen – seinem Erkennen und Wollen unterwirft. Diese Idee, deren Notwendigkeit wir hinlänglich begreifen, wenn wir sie in ihrer Abhängigkeit von der tatsächlichen historischen Entwicklung verstehen lernen, hat ihren klassischen Ausdruck gefunden im Systeme Descartes’, das diese Prinzipien auf eine beinahe vollkommene Art formuliert hat: die beiden entgegengesetzten Extreme, die daraus immer von neuem hervorgehen, der Phänomenalismus (oder Idealismus oder wie immer man  –  neuerdings auch Realismus  –  diese „Erkenntnislehre“ benennen mag) und der Materialismus (in seiner vulgären Fassung) sind nur Modifikationen, in denen der Grundcharakter minder deutlich sich abbildet. Descartes ist es nun auch, der auf die Terminologie radikal zerstörend und nivellierend gewirkt hat – wenn andere mit ihm wetteifern, so ist jedenfalls sein Erfolg in dieser Hinsicht am stärks­ten gewesen. Er eroberte die Schulen – dies die innere Bedeutung des Wolfianismus – und wenn auch damit Gedanken und Termini vom Einfachen wieder zu komplizierten Gestalten fortschreiten (wie vollends in den einzelnen Naturwissenschaften), so erhält sich doch der strenge rationalistische Typus. Descartes hatte ihm die Signatur gegeben: klare 2 3

im Systeme Descartes’: Vgl. Descartes (1870a, b u. c) sowie Tönnies’ kurz zuvor erfolgte Descartes-Rezeption (1896: 97–111).

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und deutliche Begriffe, alles andere bannend. In der wichtigsten Anwendung, derjenigen auf die materielle Natur, bedeutet dies: ausschließliche Geltung der mechanischen Prinzipien. Wenn aber dieser revolutionäre Anspruch schon in der Physik, viel mehr aber in der Chemie, auf heftige Widerstände stößt, die nur Idee und Hoffnung überwinden, so scheint er zunächst ganz und gar zu scheitern in der Biologie. Was jener Anspruch eigentlich ausscheiden wollte, das ist das Nur-Denkbare; klares und deutliches Denken hält sich an die sinnliche Wahrnehmung, indem es sich von ihr trennt. Es scheidet ihre subjektiven Bestandteile aus, um desto reiner ihren objektiven Gehalt – die Ausgedehntheit der Materie – darzustellen. Hier bleibt kein Raum übrig für etwas Nur‑Denkbares; die Teile der Materie sind wirklich und verändern nur ihren Ort, d. h. ihre gegenseitige Lage in der Bewegung. Nur-denkbar ist das Mögliche – daher die so von selbst verständlich scheinende Ausstoßung des Möglichen aus der Wirklichkeit. Von selbst verständlich, ganz und gar natürlich, scheint in der Tat dem Rationalismus alles, was er will, und er sich selber; daher verwirft und verspottet er die scholastischen Begriffe als unsinnig. Die Cartesianer schalten schon die Gravitation der Newtonschen Physik als okkulte Qualität, der Begriff der chemischen Affinität war bei seinem Urheber, Boerhaave, nichts als ein neuer Ausdruck für die bei allen Neueren übelberufene „Sympathie“ zwischen Körpern oder Elementen; der Rationalismus gibt diesen Begriffen allmählich eine, wenigstens provisorische, mechanische Interpretation. Dagegen verwirft er den Begriff der Lebenskraft ganz und gar, nebst allen daraus abgeleiteten, spezifischen Kräften des Organismus. Lange Zeit schien er – während des letzten Menschenalters – hier zu triumphieren; es galt wie ein Axiom, daß das Leben allein aus den sonst bekannten physikalischen und chemischen „Kräften“ erklärt werden könne und müsse. Nun ist zwar der Begriff Kraft selber ein Nur-Denkbares; vollends gilt dies von dem ihn neuerdings verdrängenden, anders formulierten Begriffe Energie. Aber der realistischen Forderung wird man leicht gerecht, indem man alle Kräfte auf Bewegungen von Massenteilchen (invisible parts, wie Herbert Spencer sagt) zurückführt oder die kinetische Energie als Grundform allen anderen Formen gegenüber behauptet, die als „potentielle“ Energien vorläufig zusammengefaßt werden. Aber in jüngster Zeit tritt eine Reak 19 31

chemischen Affinität: Vgl. Boerhaave 1737. Tönnies erhielt davon wahrscheinlich über Goethes Werk, der dieses Lehrbuch schätzte, Kenntnis. invisible parts: Bei Spencer nicht auffindbar; vmtl. ist hier John Locke gemeint, der – sich an Newtons Physik orientierend – die in der Gesellschaft beobachteten Strukturen auf das Verhalten ihrer Individuen zurückführte.

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tion gegen die rationalistisch-mechanischen Tendenzen sehr merklich hervor. Eine vitalistische Strömung greift unter den Biologen aufs neue um sich; das anerkannte Gesetz der Erhaltung der Energie, im Wandel ihrer Formen, wird selber gegen die mechanische Deutung geltend gemacht, diese als „willkürliche Hypothese“, als „schon aufgegeben“ bezeichnet, das Aufsuchen mechanischer Äquivalente, trotz des berühmten Erfolges in bezug auf die Wärme, bei anderen Energieformen, wie der Elektrizität, für aussichtslos erklärt (Ostwald). Diese erneute Opposition gegen die bisher und fortwährend treibende Kraft der naturwissenschaftlichen Vernunft beruht teils auf einer richtigen Einsicht, teils aber auf einer falschen Voraussetzung hinsichtlich des Zweckes und Wertes dieser ganzen Denkungsart, einer Voraussetzung, die freilich gerade von deren entschiedensten Vertretern am schärfsten verfochten wird. Auf einer richtigen Einsicht: denn die Meinung, daß die mechanische Kausalität vollkommen „begreiflich“ sei, daß mit a. W. die Notwendigkeit des ihr zu grunde liegenden Beharrungsgesetzes a priori erkennbar sei, ist die letzte Zuflucht jenes Wahnes, daß die „Welt“ irgendwie „erklärbar“ sei und sein müsse, in dem Sinne, den die Behauptung hat, daß sie von einem Gotte, d. i. einem Geiste „geschaffen“ worden sei: der Glaube an zauberhafte Wirkungen ist dahinter verborgen. Am schärfsten und gründlichsten ist diese Meinung durch David Hume aufgelöst worden; aber längst vorher war die Widerlegung und Überwindung in dem tiefsten und radikalsten Gedankensysteme, das dem christlichen Aristotelismus entgegengewälzt wurde, enthalten gewesen: im Systeme Spinozas denn Spinozas Satz: ratio = causa, der als Ausdruck des äußers­ ten Gegensatzes gegen Hume, nämlich des Rationalismus in strengster Form, gedeutet zu werden pflegt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes; er will sagen: es gibt keine causa, keine „realen“ und also „wirkenden“ Ursachen, es gibt nichts als „Erkenntnisgrund“, dieser aber ist die notwendige Form unseres Denkens, insofern, als es allgemeine Begriffe bildet, in denen besondere Begriffe enthalten sind und daraus folgen. In diesem Sinne ist 5

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willkürliche Hypothese: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. S. 25. (Leipzig 1895). – Vgl. dort die vorgenommene Sinnverschiebung: „... um die Einsicht reifen zu lassen, dass diese hypothetische Zuthat zu dem Energiegesetz keine Vertiefung der Einsicht war, sondern ein Verzicht auf ihre bedeutsamste Seite: ihre Freiheit von jeder willkürlichen Hypothese“. „schon aufgegeben“: Vgl. ebd.: 6. für aussichtslos erklärt: Vgl. ebd.: 15 f. durch David Hume: Vgl. insbesondere dessen „An Enquiry Concerning Human Understanding“ von (zuerst) 1748. Spinozas: Vgl. insbesondere dessen „Ethik“ von 1644.

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der allgemeinste Begriff daher der gemeinsame Erkenntnisgrund oder die „Ursache“ aller Erscheinungen: jenes Unendliche, d. h. in keiner Maßeinheit oder Zahl ausdrückbare, das Spinoza als die Substanz oder als die Natur, und das die heutige Naturwissenschaft, nur in der Benennung abweichend, als die sich erhaltende Energie definiert. – Jene Einrede beruht aber andererseits in einer falschen Voraussetzung: als ob nämlich die Reduktion der Energieformen auf mechanische Bewegung den Sinn haben müsse oder überhaupt haben könne, daß dadurch die mechanische Bewegung als das Realere oder als das allein Reale hingestellt würde. Dies ist allerdings wohl die unkritische Meinung der meisten Naturalisten. In Wahrheit kann es sich nur darum handeln, daß eine äußere Welt aus gleichen Einheiten (Kraftzentren) bestehend, die an einander mechanische Arbeit leisten und damit ihre gegenseitige Lage verändern, für unser Denken der letzte Nenner ist, auf den eine mathematische Interpretation der Erscheinungen alle Größen und ihre Veränderungen beziehen muß, wenn sie konsequent verfahren will. Diese Welt ist nicht in dem Sinne begreiflich, daß wir die Wirkung eines geraden Stoßes als notwendig einzusehen vermöchten, wohl aber in diesem Sinne, daß, wenn Bewegung als Quantum gedacht werden kann – was Galilei zu denken gelehrt hat – dann ist sie der Vermehrung und Verminderung fähig, ihre Veränderungen also können der Rechnung unterworfen werden. Daß diese für unser Denken allein vorhandene, durch unser Denken vereinheitlichte Welt, überhaupt allein vorhanden oder irgendwie wirklicher wäre, als die von unseren Sinnen empfundene, wahrgenommene Welt, dies anzunehmen ist eine unnütze, unbegründete Zutat zu jener „regulativen Idee“, um den erhellenden Begriff Kants hier einzusetzen, in dessen Geiste dies gedacht ist. Daß aber diese höchst kraftvolle Idee aufhören sollte zu regulieren und als leitende Maxime zu dienen, ist, nach dem bisherigen Gange der Entwicklung zu urteilen, ebenso unwahrscheinlich, wie es unerwünscht sein würde für den Fortschritt der Erkenntnis. 76. Je mehr man aber diese überwältigende Bedeutung der mechanischen Prinzipien festhält und behauptet, desto mehr ist es geboten, um ihren absoluten Wert richtig zu schätzen, sich auf ihren Ursprung kritisch 19 2 5 30

Galilei: Vgl. dessen „Dialog“ (1632: I, 14). „regulativen Idee“: Vgl. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1877). 76.: Thema laut „Übersicht“: Kritik des absoluten Wertes der mechanischen Prinzipien – Auflösung der Wirklichkeit der Dinge – Trennung von Subjekt und Objekt – Naives Denken – Reflexion – wissenschaftliches Denken – kritische Besinnung gegen mathematischen Verstand – Dasein der Welt als einziger Prozeß – Entropie – Erklärung als Beschreibung.

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zu besinnen und ihrem Gebrauche danach seine Grenzen anzuweisen. Der Kritik muß dieses ganze höchst erfolgreiche Denken als künstlich erscheinen, jede Auflösung der gesamten und irgend welcher für sich betrachteten Wirklichkeit in für sich subsistierende „Dinge“ (Substanzen) als durch menschlichen Willen oder was hier dasselbe bedeutet, menschliches Denken, gesetzt; die Wirklichkeit selber ist es, zumal die materielle „Außenwelt“, und dem naiven Denken (der Fantasie) begegnen die Dinge als lebendigtätige Individuen innerhalb jener; der reflektierende Verstand baut dieses naive Denken gleichsam künstlerisch aus: er bevölkert die Welt mit wirksamen Qualitäten, Kräften und Seelen: dann aber folgt der wissenschaftliche Verstand, der über die Welt herrschen und darum sie berechenbar machen will; er negiert das naive Denken und die darauf beruhende Reflexion; er entkleidet die „Welt“ alles dessen, was die Dinge als wesentlich (= qualitativ) verschieden erscheinen ließ. In dem, was er übrig läßt, findet er, was er darin übrig gelassen hat – Materie und Bewegung, sie lassen sich der Rechnung unterwerfen, je mehr sie, nach Aufhebung ihrer sonst scheinbar vorhandenen Zusammenhänge, in nicht weiter reduzierbare gleiche Einheiten aufgelöst worden sind, die sich durch Denken, oder sogar durch wirkliche Tätigkeiten, nach Willkür in neue Verbindungen zusammensetzen lassen. Die kritische Besinnung konstatiert nun (wie gesagt), daß alle Scheidungen gesetzt sind, vor oder hinter allen jene von Subjekt und Objekt; „gegeben“ ist nur deren Einheit und in Wirklichkeit (realiter oder, wie die Schule sagte, formaliter) unlösbarer Zusammenhang. Und auch, nachdem die Setzung einer objektiven „Außenwelt“ kritisch reproduziert worden, muß sie von neuem, als Ganzes, in ihrer wesentlichen Einheit erkannt und anerkannt werden, auch wenn sie von allen Subjekten (nicht allein von dem Denkenden selber) losgerissen, also die Entziehung aller sinnlichen Qualitäten gleichsam genehmigt wird. Auch so muß das an die Anschauung – oder, was dasselbe besagen will, die reine Erfahrung – sich anknüpfende Denken den mathematischen Verstand energisch korrigieren. Es spricht gleichsam zu diesem: „du siehst in der Welt nichts als gleiche Vorgänge, die sich von Ewigkeit her nach den Regeln, die du Naturgesetze nennst, wiederholen; du siehst in ihr nichts als diskrete Atome, die sich zusammensetzen und auseinandergehen, sich anziehen und sich abstoßen; diese deine Ansichten sind überaus nützlich und insoweit auch richtig; aber, wenn du einmal alle deine Zwecke und Pläne vergessen willst, so wirst du mir zugeben, daß du deine Materie nur als Kontinuum kennst, und daß du ebenso wie ich genötigt bist, ihre Größe oder Ausdehnung als unendlich, also als jedes Maßes spottend, zu setzen; ferner mußt du zugeben, daß es in der Erfahrung keine vollkommen gleichen

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Vorgänge gibt; und daß uns das Dasein der Welt nur als ein einziger Prozeß gegeben ist, den wir als ganzen mit keinem anderen vergleichen können. Du glaubtest, daß die immer wiederholten Umdrehungen der Planeten um ihre Axen und um die Sonne von Ewigkeit her angeordnet seien und in Ewigkeit dauern würden; aber mit deinen eigenen Mitteln haben wir erkannt, daß die Entstehung dieser Planeten und der Sonne aus der ungeschiedenen Einheit glühender Gasmasse, ein einmaliger Vorgang ist, den wir uns wohl durch die bekannten Naturgesetze im einzelnen erklären mögen, aber nicht als gesamte Wirkung aus einer gesamten antezedenten Ursache abzuleiten vermögen, weil er auf unermittelbare frühere Weltvorgänge ins Unendliche zurückweist. Ebenso sind auch die Abkühlung der Erdrinde und die Entwicklung organischen Lebens auf ihr, Vorgänge, die ihresgleichen nicht haben, also nicht in dem Sinne begriffen werden können, wie Vorgänge, die unter hinlänglich gleichen Bedingungen sich gleichartig wiederholen, oder gar künstlich, nach Belieben, reproduziert werden können. Wenn die Transformationen der Energie im Weltall überwiegend in der Richtung auf Wärme-Erzeugung geschehen, indem die Wärme immer von wärmeren auf kältere Körper übergeht und so sich gleichmäßig zu verteilen tendiert, wenn also die ‚Entropie‘ einem Maximum zustrebt, und der Gesamtzustand dem Aufhören der kinetischen Energie, wie aller Formen der Energie außer der Wärme –, so haben wir diese voraussehbare Geschichte des Weltalls, wie die vergangene, als einfache Tatsache hinzunehmen, deren Erklärung nichts weiter ist als ihre anders ausgedrückte Beschreibung“. 77. Wir sehen in der Tat durch das ganze neunzehnte Jahrhundert, wie Forschung und Erwägung zusammenlaufen zu einer Kritik des mechanistischen Rationalismus, in diesem Sinne, der ihn unversehrt aufgehen läßt in einem höheren Gedanken; wenn auch jene Kritik öfter als eine verständnislose, pure Negation in die Erscheinung tritt. In ihrem richtigen Verstande ist sie eine notwendige Evolution des sich selbst erkennenden und die Grenzen seiner Macht erkennenden Rationalismus selber. Dessen Fortschritt innerhalb der objektiven Naturwissenschaft wird bezeichnet durch das tiefere Studium der Vorgänge des Lebens. Als philosophische Folgerungen aber, in denen er seine Kurve beschreibt, sind es die folgenden, die Anerkennung heischen: 1. Das für ein deduktives Denken, Frühersein des Unendlichen 24

77.: Thema laut „Übersicht“: Kritik des mechanischen Rationalismus durch das ganze Jahrhundert – tieferes Studium des Lebens – philosophische Folgerungen – siegreiche Ideen – Bewegung, Veränderung, Werden – Leben als Reproduktion und Zerstörung zugleich – Wirklichkeit als Möglichkeit – regenerierte aristotelische Begriffe.

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vor dem Endlichen, daher wird auch denkbar die Einheit vor dem Mannigfachen, das Allgemeine vor dem Besonderen, das Ganze vor seinen Teilen. 2. Das Übergewicht und der Sieg

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Bewegung der Ideen Veränderung über die Ideen Werden

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Ruhe Identität Sein.

Für das rationalistische Denken sind die siegreichen Ideen zwar unentbehrlich; aber sie werden als von außen hinzukommende begriffen. Der Ruhestand usw. ist das natürliche, wie an einer konstruierten Maschine, etwa (welches Gleichnis fast jeder von diesen Denkern wiederholt) einer nicht aufgezogenen Uhr. Der Anstoß muß der Materie von außen gegeben sein, da jeder Teil ihn von dem anderen empfängt; hier fordert das System seinen Deus als den Urheber der Bewegung, der Veränderung, des Werdens. Die andere Denkweise, die wir hier zunächst als die empiristische verstehen mögen, nimmt die bewegte Materie als Tatsache der Tatsachen hin, und bekümmert sich nicht um den alten Begriff, wonach Bewegung nicht zum „Wesen“ der Materie gehöre. Sie erkennt in den undurchdringlichen Atomen und den dazu gehörigen leeren Räumen nur Hülfsbegriffe, wenn auch noch so sehr für das rationale Denken notwendige. Hier liegt auch der Punkt, wo die Lehre von Erhaltung und Verwandlung der Energie die alte Gestalt des mechanischen Systems bricht. 3. Wie im konservativen Systeme des Alls die Gesamtmenge der Energie sich erhält, unter steter Verwandlung ihrer Formen, so erhält sich das Ganze eines lebenden Organismus als Dauer der Relationen seiner Teile in deren fortwährendem Wechsel. Leben ist Reproduktion und Zerstörung zu gleicher Zeit; es ist also zugleich mit der Tendenz seines Gegenteils, weshalb Bichat es als Kampf gegen den Tod definierte, und ein anderer französischer Physiologe, Cl. Bernard, den dialektischen Satz wagte: „La vie c’est la mort“. 4. So trägt die Wirklichkeit jedes Augenblickes, oder wie immer begrenzten Zeitabschnittes, die reale Möglichkeit, Anlage, Tendenz, Disposition, Kraft oder Fähigkeit, oder wie immer wir es nennen mögen, zu allen folgenden als ihre Verneinung in sich; Möglichkeit ist also keineswegs ein Nur-Denkbares, sondern ist die

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Bichat: Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Bichat, Sur la vie et la mort. 1, art. 3 - dort (Bichat 1829: 1 f.; „Première Partie, Article premier“) kursiviert: „...: La vie est l’ensemble des functions qui résistent à la mort“. den dialektischen Satz: Tönnies’ korrekter Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Claude Bernard, Leçons sur les phénomènes de la vie p. 41. (Paris 1878).

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Wirklichkeit selber in ihrer notwendigen Beziehung auf die Zeit, d. h. auf Tätigkeit, Leistung, Vollendung. Es muß auf das schärfste bemerkt werden, wie hier die regenerierten aristotelischen Begriffe mit den Begriffen der modernen Physik sich begegnen. Denn was ist Energie, die nunmehr als die eigentliche Realität angesprochen wird, anderes als Fähigkeit, Anlage, Tendenz (oder wie immer benannt) Arbeit zu leisten? – 78. Von der allertiefsten Bedeutung ist aber diese gesamte Neuerung des Denkens für die Psychologie. Die kritische (oder empiristische oder positivistische) Besinnung hat zum Hauptergebnis: daß die Scheidung von Subjekt und Objekt in den gegebenen Tatsachen nicht begründet ist. Die kartesianische Fassung, die ein Subjekt nur mit dem menschlichen Leibe, und zwar als ein Wunder, verbunden sein ließ, wird durch die Entwicklungstheorie definitiv aufgehoben. So radikal sie gegenüber der Tradition und der naiven Meinung auftritt, so ist doch jene Auffassung zugleich ein Rest des uralten Glaubens, daß die Seele als ein anderes Wesen im Leibe ihren Sitz habe, einen Glaubens, der im Aristotelismus sehr verfeinert, aber in der christlichen Scholastik wenigstens für die anima rationalis wieder auf seine vulgäre Form zurückgeführt war. Bei Descartes wie bei seinen Vorgängern nimmt die Seele Bewegungen des Leibes wahr und wirkt auf sie zurück. Die wirklichen Tatsachen werden auf genügende Weise dahin beschrieben, daß der Leib sich selber wahrnimmt und auf sich selber wirkt, d. h. als Ganzes auf seine Teile. Wir können den Leib, insofern als er Subjekt, d. h. psychische Tatsache ist, in hergebrachter Weise „Seele“ nennen. Leib und Seele sind dann verschiedene Namen eines und desselben Gegenstandes, der als Leib in seinen Teilen wahrnehmbar, als Ganzes aber, d. h. als beharrende Relationen der Teile (was die Aristoteliker Form nannten), ebenso wie die Seele, etwas Nur-Denkbares ist. 79. Zwischen Descartes als Intellektualisten (der die Seele unabhängig von aller Erfahrung denken ließ) und seinen sensualistischen Bestreitern (Gassendi, Locke, Condillac) ist aus dem gegenwärtigen Gesichtspunkte kein wesentlicher Unterschied. Auch diese behalten die Seele als 7 11 19

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78.: Thema laut „Übersicht“: Bedeutung für Psychologie – gegen die cartesianische Auffassung – Entwicklungstheorie – Identität von Leib und Seele. – kartesianische Fassung: Siehe Descartes’ „Grundlagen der Philosophie“ (1870b). Vorgängern: Scholastiker und Kirchenväter lehrten einen physischen Einfluss der Dinge auf die Seele (systema influxus physici), den Descartes jedoch substanziell verschieden als anthropologischen Dualismus begriff. 79.: Thema laut „Übersicht“: Descartes und seine Gegner – Assoziations-Psychologie – Herbartianer – Klippe der Gefühle.

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ein anderes Wesen, machen sie aber noch mehr zu etwas Passivem, weil sie aus den Wirkungen oder „Eindrücken“ äußerer Objekte die sinnlichen Empfindungen hinlänglich zu erklären meinten und mit Recht das Denken – als Vorgang des Gedächtnisses – aus Komplikationen beharrender Empfindungen ableiteten. Diese Auffassung hat sich in die ganze moderne Assoziations-Psychologie verpflanzt, die in Verbindung mit der Physiologie des Nervensystems einen so großen Teil der menschlichen Erkenntnis-Tatsachen in seine Atome (mit denen Carus die isolierten Empfindungen vergleicht) aufgelöst und synthetisch nachkonstruiert hat. Ganz konsequent kommen aber die Philosophen dieser Richtung, insbesondere die Herbartianer, auf die Seele als ein einfaches Wesen, als etwas, das dem grammatischen und logischen (d. h. durch einen Namen bezeichneten) Subjekte entsprechen müsse, zurück. Aber die Klippe dieses Denkens sind die Gefühle, zumal jener mit Gefühlen verbundene Komplex von Empfindungen, dem der Name Wille gegeben wird. 80. Die unbefangene Selbsterkenntnis verbindet sich nun mit der Abstammungslehre, um Gefühl als mit der Tatsache des Lebens identisch und folglich als das allen lebenden Wesen gemeinsame, konstante und ursprüngliche Element zu setzen. Lebensgefühle sind Tätigkeitsgefühle, und die scheinbar einfache Tatsache des „Reflexes“ menschlicher Sinnesorgane auf äußere Reize ist in Wahrheit das Gefühl einer höchst komplizierten, spät entwickelten Tätigkeit. 81. Es ist nicht unsere Aufgabe hier, diese Psychologie in ihre Konsequenzen zu führen. Uns kann nur daran gelegen sein, zu betonen, daß eine Terminologie, die an ihr Prinzip sich anlehnt, sich vermischt und streitet mit einer Terminologie, die im wesentlichen auf die Einfachheit der Seelensubstanz und teils auf ihre passive, teils auf ihre menschlich-rationale Beschaffenheit zurückgeht. Bezeichnend für die Schwierigkeit, die jene biologische Betrachtung hat, sich durchzusetzen, ist es, daß selbst die in dieser Hinsicht am meisten fortgeschrittenen Psychologen fortfahren: 1. mit der Psychologie der Empfindungen zu beginnen. 2. die menschliche Psychologie als allgemeine Psychologie hinzustellen oder doch zu behandeln.

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Carus: Tönnies’ korrekter Literaturhinweis lautet: Carus, Paul, Primer of Philosophy p. 190. (Chicago 1893). 80.: Thema laut „Übersicht“: Unbefangene Selbsterkenntnis – Abstammungslehre – Gefühl und Leben. – 81.: Thema laut „Übersicht“: Streit der Terminologien – Schwierigkeit – Intelligenz Wesen der Seele? – Begriffe, die das Leben bezeichnen, kommen nicht zu gehöriger Geltung.

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Damit hängt ferner das hartnäckige Beharren bei der Meinung zusammen, daß Intelligenz zum Wesen der Seele gehört, was einer der geistreichsten Forscher für so gewiß hält, daß er die gewollte Anpassung von Mitteln an Zwecke als das Kriterium für die Annahme psychischer Tatsachen überhaupt darstellt (James). Endlich ist die Konfusion, die in den Terminis Bewußtsein, Unbewußtes, Unterbewußtes oft sich versteckt, zum guten Teil dem Umstande zuzuschreiben, daß vom menschlichen Denken der Begriff des Bewußtseins hergeleitet wird, weil aber Denken als Wesen der menschlichen Seele, so gilt „Bewußtsein“ bald für einen Zustand, der nur durch Denken, d. h. regelmäßig durch Erinnerung von Worten vermittelt wird, bald für psychische Tatsachen, insofern sie vorhanden sind, schlechthin. Weil aber ihr Vorhandensein wiederum nach Analogie von Gedanken oder doch deren Elementen (Empfindungen und Vorstellungen) gedacht wird, so kommen die notwendigen Begriffe der Involvierung und Evolution, des Wachstums und der Differenzierung, aller jener Vorgänge, die das psychische genau so wie das physische Leben bezeichnen, nicht zu gehöriger Geltung und Benennung. 82. Am meisten ist die Lehre vom Willen, die darunter, wie unter der Abhängigkeit der Terminologie vom Sprachgebrauch, leidet. Wenn wir den Begriff des Lebensgefühls und der mannigfachen organischen Tätigkeitsgefühle, in die es sich beim Tiere mit dem Organismus selber entwickelt, zu Grunde legen, so ist jedes, wie das Leben in allen seinen Erscheinungen, zwiefach: assimilierend und ausscheidend, empfangend und abstoßend, bejahend und verneinend. Unter den Lebenstätigkeiten animalischer Wesen sind nun diejenigen des Nervengewebes, in ihrer urspründlichen Einheit mit denen des Muskelgewebes, durchaus charakteristisch, als Träger der durch äußere Reize bewirkten motorischen Veränderungen. Die Einheit des Lebensgefühls scheidet sich in entsprechender Weise in die ihr gleichartig bleibenden Gefühle motorischer Tätigkeit und die sich stärker modifizierenden, unendlich vermannigfachten Gefühle der Reaktion gegen äußere Reize – die Empfindungen. Diese animalische Differenzierung deckt sich nicht mit der ursprünglichen, vegetativen, wenn sie ihr auch verwandt ist. 5 18

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(James): Tönnies’ Literaturhinweis lautet: James, Principles of psychology I, 6. (London 1891) – Korrekt: James 1891: I, 8. 82.: Thema laut „Übersicht“: Lehre vom Willen – Einheit des Lebensgefühls – Scheidung – Funktionen – Bedeutungen des Wortes Wille im Sprachgebrauch – Wille und Intelligenz – Instinkt – gemeinsames der Ideen – Beziehung auf die Zukunft – mannigfache Auffassung im Anschluß an die Sprache. – ursprünglichen: Im Text fehlerhaft „urspründlichen“.

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Diese aber wiederholt sich in der ausgeprägtesten Weise mit der höheren Entwicklung der Empfindungen; ein psychischer Organismus innerhalb der Seele, wie die Großhirnrinde innerhalb des Leibes, bildet sich aus als komplexes Gewebe möglicher und wirklicher Verbände von Empfindungen, ein Gewebe, dessen wesentliche Funktionen die Setzung von Gleichheit und von Unterschied sind, d. h. eben Assimilation und Ausscheidung, Empfang und Abstoßung, Bejahung und Verneinung: im Menschen durch den Besitz des Zeichensystems der Worte sich vollendend zur Urteilsfunktion, eben dadurch zum Gedanken. Nun haben wir das Wort „Wille“. Es bedeutet die Idee A, von etwas Tätigem (grammatisches Subjekt) B, von etwas „Leidendem“ (grammatisches Objekt). Als A. ist die Idee: 1. gleich der Idee von Seele überhaupt; 2. gleich dieser, insofern sie gedacht wird als nach außen hin wirkend, im Gegensatz zum Intellekt, als der von außen aufnehmenden Seele; 3. speziell als herrschend, befehlend, lenkend, Bewegungen des Leibes verursachend. Als B. ist sie etwas Gedachtes, ein Gedanke oder ein Komplex von Gedanken. Während daher die Idee A. überall anwendbar ist, wo ein Leib eine Seele in sich zu haben gedacht wird, daher wenigstens auf alle tierischen Organismen, so ist die Idee B. nur auf Menschen anwendbar. Diese Ideen vermischen sich aber. Wie die Seele überhaupt, so wird alsbald der Wille mit der Intelligenz gleichgesetzt oder doch als etwas Intelligentes bestimmt; hier entspringt dann als Gegensatz zum intelligenten Denken der Begriff des intelligenten „Instinktes“; der Instinkt „leitet“ das Tier, der Instinkt „sagt“ ihm, „lehrt“ es usw. Andererseits: als Produkt des denkenden Ich wird der Wille gleichsam dessen Werkzeug, vermittelst dessen es seine Befehle entsendet und vollzieht; sehr leicht wird er dann mit dem denkenden Ich einfach identifiziert, ist also sein eigenes Objekt, und dies entspricht am besten dem Gefühl und der Idee des „freien“ Willens. Als Subjekt aber oder als Objekt, immer hat die Idee, die das Wort ausdrücken soll, eine Beziehung auf die Zukunft, auf ein Werden, daher schlechthin auf ein Geschehen; sie läßt sich aber ohne Widerstand verallgemeinern und auch auf das Seiende beziehen; das Gemeinsame ist dann die Bejahung und – im Gegensinne – die Verneinung eines Zustandes oder einer Veränderung. Hierdurch wird sie identisch mit dem Gefühle der Lust und Unlust; diese aber sind unlösbar verbunden mit Begehren und Verabscheuen, Hoffnung und Furcht, kurz mit allen positiven und negativen „Wünschen“, die nun wieder durch Empfindung, Vorstellung, Denken eines zukünftigen Zustandes bedingt sind. So läßt sich, wenn man der Sprache folgt, Wille mit allen einzelnen und verbundenen Empfindungen und Gedanken identifizieren oder davon unterscheiden; er kann als etwas

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ganz Unlogisches, Unvermitteltes (als eigentliche „Willkür“ oder Belieben), kann aber auch im Gegenteil als streng logisches, systematisches Gebilde begriffen werden. 83. Physiologen und Psychologen plagen sich mit immer neuen Untersuchungen, was er denn eigentlich sei, finden aber auch wiederum „Begehren, Wunsch, Wille seien Zustände des Geistes, die jeder kennt und die keine Definition deutlicher machen kann“ (James); sie werden aber dann unterschieden: 1. „wir begehren, alles zu empfinden, zu haben, zu tun, was im Augenblicke wir nicht empfinden, haben oder tun; 2. wenn damit ein Gefühl verbunden ist, daß die Erreichung nicht möglich ist, so „wünschen“ wir einfach; aber 3. wenn wir glauben, daß das Ende (die Erreichung) in unserer Macht ist, so wollen wir, daß das begehrte Empfinden, Haben oder Tun wirklich sein soll.“ In der Tat liegt hier eine willkürliche Begrenzung des Sprachgebrauches vor, die vielleicht nicht zu tadeln wäre, wenn der Autor ihr treu bliebe; aber nach einer sehr eingehenden Erforschung findet er, die Anstrengung der Aufmerksamkeit sei das wesentliche Phänomen des Willens und meint, jeder Leser müsse aus eigener Erfahrung wissen, daß dem so sei. Die erste Begrenzung schließt noch jeden „freiwilligen“ Beginn einer Bewegung des Körpers ein, also auch solche „unwillkürliche“, die auf Empfindung oder Vorstellung unmittelbar folgen; die andere macht ausdrücklich „einen stabilen“, mit Anstrengung festgehaltenen Gedanken zur Bedingung des Willens: hier ist nur an „willkürliche“ Tätigkeiten der Menschen gedacht. Auch Wundt erklärte früher: „definieren läßt sich der Wille ebenso wenig wie das Bewußtsein“; er ließ aber dann die „Apperzeption“ oder die „von Anfang an mit dem Bewußtsein gegebene innere Willenstätigkeit“ das entscheidende und allein genügende Merkmal des Begriffes sein, 4

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83.: Thema laut „Übersicht“: Was Wille sei? – Zustand, den jeder kennt? – Keine Definition möglich? – James und Wundt – die Physiologen – Huxley und die Materialisten – Unterschied von Identitätspsychologie  –  die einzig wichtige Aufgabe  –  eigene Begriffsbildung – individualer und sozialer Wille. – – Für diesen Abschnitt gibt Tönnies drei – folgend genannte – Titel von Wundt an, ohne dass erkennbar wird, welche Quelle welcher Textpassage zuzuordnen ist; die Zuordnung erfolgt hier durch den Herausgeber. (James): Tönnies’ korrekter Zitatnachweis lautet: ibid. II, 486 und 562. Tätigkeiten der Menschen gedacht: Tönnies’ richtige Quellenangabe auf S. 250 zur Passage lautet: ibid. II, 562. Auch Wundt: Tönnies’ korrekter Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Wundt, Physiologische Psychologie II, 4. 560. 567. erklärte früher: Vgl. ebd.: 560; dort orthographisch etwas abweichend. „… innere Willenstätigkeit“: Vgl. ebd.: 567: „Die innere Willensthätigkeit ist von Anfang an mit dem Bewußtsein gegeben“.

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und leitete die „äußere“ Willenshandlung als „Apperzeption einer Bewegungsvorstellung“ daraus ab. Ganz anders betrachtet er in seiner jüngeren (kleinen) „Psychologie“ den Willensvorgang, indem er ihn definiert als einen Affekt (einen in sich zusammenhängenden Gefühlsverlauf von einheitlichem Charakter) zusammen mit der aus ihm hervorgehenden Endwirkung einer plötzlichen Veränderung des Vorstellungs- und Gefühlsinhaltes. In den tiefen Erörterungen seines „Systems“ endlich faßt er den Willen in einem Sinne auf, dem ausdrücklich der Parallelismus, ja die Identität von Leib und Seele zu grunde gelegt ist; er wird zum psychischen Inhalte des Lebens, zuweilen unterschieden als der „reine Wille“, ein „transzendenter Seelenbegriff, den die empirische Psychologie als letzten Grund der Einheit der geistigen Vorgänge fordern, von dem sie aber schlechterdings für ihre Zwecke keinen Gebrauch machen kann.“ „Will sie aus ihm einen Seelenbegriff gewinnen, der zur empirischen Ableitung der Tatsachen der inneren Erfahrung brauchbar ist, so muß sie ihn sofort zu einer zusammengesetzten Einheit erweitern, welche die Möglichkeit einer Vielheit vorstellender Tätigkeiten in sich schließt.“ Die Physiologen bleiben zumeist bei einem Begriffe des Willens stehen, der ihn, nach Art der Descartes’schen Seele, zu einer vernünftigen Person innerhalb des Leibes macht, mit Vorliebe lassen sie ihn „telegraphieren“ und Befehle erteilen; einige aber sind, wie Huxley, konsequent und materialistisch genug, alle animalischen und folglich auch die menschlichen Tätigkeiten, als „automatische“ zu denken und alle „Bewußtseins-Erscheinungen“ als bloße Nebenprodukte des Lebensprozesses, ohne jede Rückwirkung auf ihn. Sie unterscheiden sich von der Identitäts-Psychologie nur noch durch das hartnäckig festgehaltene Vorurteil, daß nur das Objektive oder Physische „wirklich“ sei, d. h. im Grunde nur durch die Terminologie; denn in welchem besonderen Sinne jenes wirklich zu heißen verdiene, das Psychische „Begleitende“ aber nicht, hat nie jemand anzugeben vermocht. Wir halten die Wundt’sche neueste Darstellung und auch ihre Terminologie für sehr fruchtbar, aber eine Psychologie, die aus 2 3 7 21

Apperzeption einer Bewegungsvorstellung: Vgl. ebd., dort gesperrt gedruckt. (kleinen) „Psychologie“: Tönnies’ korrekter Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Wundt, Grundriß der Psychologie S. 215. (Leipzig 1896). „Systems“: Tönnies’ korrekter Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Wundt, System der Philosophie. 2. Aufl. S. 379. (Leipzig 1897); – dort fortlaufender Text. Huxley: Tönnies Literaturnachweis auf S. 250 lautet: Huxley, Science and Culture p. 237 ff. (London 1888) – Vgl. Huxley (1881: 199–245): „On the Hypothesis that animals are automata, and its history. An Adress delivered at the Meeting of the British Association for the Advancement of Science, at Belfast, 1874“ (die von Tönnies genann­te Ausgabe konnte nicht eingesehen werden).

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dem allgemeinen und reinen Willen, nach dem gegebenen Programm, die besonderen und die besondersten menschlichen Willen entwickelnd ableitet, hat auch Wundt bisher nicht dargestellt. Auch für Wundt bleibt noch der Name vor dem Begriffe oder doch mit ihm simultan. Es ist aber ewig vergebens, dem nachzujagen, was eigentlich der Wille sei. Die fundamentale Ansicht der Tatsachen zu gewinnen, das ist die einzige wichtige Aufgabe, die allerdings dadurch so sehr erschwert wird, daß wir sie nur in Worten auszudrücken vermögen, die schon etwas anderes bedeuten. Versuchen ließe sich aber, solche Worte zu umgehen, den Begriff in lauter schon definierten Wörtern abzubilden und ihm dann den abkürzenden Namen, z. B. „Wille“ beizulegen. In diesem Sinne haben wir, wenn auch Begriffe antezipierend, versucht – im ersten Abschnitte dieses Traktats – als menschlichen individuellen Willen jede Ideenverbindung zu bestimmen, die für folgende Ideen und Ideenverbindungen irgendwie „setzend“ (quasi gesetzgeberisch) ist oder „wirkt“; wir dürfen jetzt sagen, solche der Möglichkeit nach in sich enthält, sei es nun, daß sie sich (oder ihre „Wirkung“) in einer einmaligen „Handlung“ vollendet und erschöpft, oder daß sie die Regel wiederholter gleichartiger Tätigkeiten, – d. h. der Gefühle von Tätigkeiten – bildet. Wir behaupten nur den Wert dieses Begriffes für das Verständnis unbezweifelter Tatsachen, z. B. jener, daß etwas jemandem zum Zeichen oder Merkmal von etwas anderem wird, ohne es seiner Natur nach zu sein. Der Name ist an und für sich völlig gleichgültig; wir meinen allerdings, daß er von allem, was sonst als menschlich‑vernünftiger Wille gedacht wird, gleichsam die Quintessenz extrahiert, denn dies ist allen jenen Ideen gemeinsam: etwas sich selbst bejahendes, andere Gefühle und Vorstellungen bejahend oder verneinend. Dies ist es auch, was das Verhältnis jedes Einzelwillens zu anderen begründet, und wiederum ist ein Begriff notwendig, der die Einheit mehrerer Willen, wie sie sich selbst bejaht, ihre Glieder „bejaht“ oder verneint, ausdrücke. Diese nannten wir „sozialen Willen“. In ihm wird es durchsichtig und klar, daß Wille oder wie immer die psychische Potenz genannt wird, nur scheinbar körperliche Bewegungen „bewirkt“, daß sie nichts ist als Macht über ihresgleichen: Vorstellungen und Gefühle. Nicht anders aber ist das Verhältnis des individuellen Willens zu sich selber und zu dem ihm zugehörigen Leibe. Dies ist schwer, aber nicht unmöglich zu denken. Es will erlernt und eingeübt werden. 84. 5. Terminologie ist ein Erzeugnis menschlichen Willens, aber auch das Denken und Erkennen selber ist Tätigkeit, worin sich Wille ausdrückt. 36

84.: Thema laut „Übersicht“: Nebenursachen  –  Beschaffenheit der Gegenstände der

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Wenn ein energischer, gleichartiger, gleichgerichteter Wille zur psychologischen und philosophischen Erkenntnis vorhanden wäre, so würde die Einmütigkeit des Denkens sich bald in Einmütigkeit über Benennungen umsetzen. Warum jener Wille nicht vorhanden ist? diese Frage führt uns auf einige Nebenursachen des pathologischen Phänomens, das wir betrachten. Diese Nebenursachen verzögern und hemmen die Überwindung der Schwierigkeiten, selbst wenn sie als solche erkannt werden. Da ist A, was das gesamte Gebiet der Psychologie angeht, die Beschaffenheit der Gegenstände, die sich nicht abbilden, nicht als wahrnehmbare Einheiten sich konstruieren, nur indirekt sich zählen und messen lassen. Auf sprachliche Zeichen sind wir mehr als sonst angewiesen, um psychische Wirklichkeit kundzugeben und zu schildern. Weil aber dies jedem, zumal dem phantasiebegabten Menschen, leicht wird, sonderlich die Schilderung von Gemütsbewegungen, deren Natur bei den Individuen nicht stark variiert, in bildlichen Ausdrücken, deren Sinn jeder, der die Sprache und die elementaren Naturereignisse kennt, versteht, so hält man oft auch psychologisches Denken für leicht. Denken erfordert auch Phantasie, aber eine erstarrte; sie darf hier um so weniger schweifen, als die darzustellenden „Ejekte“, um so mit Clifford zu reden, nur durch Selbstbeobachtung gewonnen werden, die mehr als jede andere Beobachtung, von den Sinnen unabhängig, eine eigentümliche Anstrengung und Übung, ja ein eigentümliches Talent erfordert, das in der Regel nur mit starkem theoretischem Interesse sich verbinden wird. Nun ist aber B, ein solches Interesse, verhältnismäßig wenig gefördert worden. Es stehen keine mächtigen praktischen Interessen dahinter, die auf so eminente Weise der Entwicklung von Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie zu gute kommen. Die praktischen Interessen, denen Psychologie und das auf ihr beruhende Philosophieren ihre Kräftigung verdanken müssen, sind selber ideale Interessen, d. h. Interessen, die gefühlsmäßig, daher in Verbindung mit Fantasie, Kunst, Religion sehr lebhaft sich geltend machen, aber im bewußten Denken um so schwächer zu bleiben pflegen, je mehr sie von jenen Mächten gleichsam mit Beschlag belegt werden. C. So ist denn der Einfluß der Naturwissenschaften auf das allgemeine und philosophische Denken ein unvergleichlich größerer gewesen und ist es noch jetzt, als der

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Psychologie – praktische Interessen Verachtung der Philosophie – Abschaffung der Metaphysik – eigentlicher Sinn der „Ontologie“ – Wolf – Kants Kritik – Hegel – das Allerheiligste – die drei System-Philosophen nach Hegel. – „Ejekte“: „Als Ejekte schlug etwa im Jahre 1880 der englische Mathematiker und Philosoph K. G. Clifford Wahrnehmungsobjekte vor, die nur für das Denken vorhandene Gegenstände des inneren Sinnes zu bezeichnen“ (Tönnies 2002: 67); vgl. Clifford 1879.

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Einfluß dessen, was wir die Geisteswissenschaften nennen. Damit hängt denn eine gewisse Verachtung der Philosophie in den Stücken, die ihr am meisten eigentümlich sind, vielfach zusammen: die Geringschätzung der Logik, der Verruf der Metaphysik. Nun mögen ja die Naturwissenschaften dieser Lehren entbehren können: die Geisteswissenschaften können ihrer nicht entbehren. Was die Metaphysik insbesondere angeht, so ist es ein Verhängnis, daß sie abgeschafft wurde, anstatt reformiert zu werden; abgeschafft wegen den Berührungen mit der Theologie, die ihrer Idee keineswegs wesentlich sind, so bedeutend sie für die historische Erscheinung waren. Ihrer Idee nach will sie – als „oberste Philosophie“ – den notwendigen Inhalt des Denkens, das Seiende schlechthin (τò òν ή̀ òν), in Begriffen darstellen, klassifizieren, entwickeln, also ein System von Urteilen, worin solche Begriffe verbunden sind, aufstellen und beweisen. Auch heute noch gilt der Satz, womit Chr. Wolf seine Ontologie einführte und verteidigte („vix aliud hodie contemtius nomen quam ontologiae“): „Wer die obers­te Philosophie nach wissenschaftlicher Methode abhandelt, der ruft die s­cholastische Philosophie nicht ins Leben zurück, sondern berichtigt sie“. Mit Recht auch hebt jener nüchterne Denker die wirklichen Verdienste der Scholastiker auf diesem Felde hervor, und mit Recht weist er hin auf den praktischen Wert der Ontologie, da man überall auf voreilige, unbesonnene Urteile stoße wegen des Mangels an geklärten Begriffen von jenen Denkgegenständen, deren Namen jeder im Munde führe, als: Ursache, Zweck, notwendig, zufällig, möglich, unmöglich, vollkommen, Einheit, wahr, Ordnung, Raum usw. In der Tat ist das Werk Wolfs seinem wesentlichen Inhalte nach eine, freilich mit unsäglicher Breite vorgetragene, Entfaltung der Idee eines allgemeinen terminologischen Instrumentes, das zu konsequenten Verbindungen aller möglichen Begriffe dienen soll. Es ist eine völlig ungewollte Wirkung der Kantischen Kritik gewesen, die vernünftige Idee eines solchen Instrumentes ebenso zum Gespötte zu machen, wie durch Descartes und seine Genossen die Scholastik geworden war; so daß (zwei Menschenalter nach Wolf) 14

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Chr. Wolf: Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Chr. Wolf, Philosophia prima sive Ontologia prolegg § 7 (ao. 1745). – Siehe zum lateinischen Zitat („Kaum etwas anderes hat heute einen verachteteren Namen als die Ontologie“) Wolfs „Philosophia prima sive ontologiae prolegomena ...“ [Die Erste Philosophie oder Ontologie (mit wissenschaftlicher Methode abgehandelt)], § 1, von 1730 – dort: „... contemtius est nomen …“; und zur folgenden Übersetzung (§ 7, S. 3): „Qui philosophiam primammethodo scientifica pertractat, is philosophiam scholasticam postliminio in scholis non revocat, sed eam emendat“. usw.: Vgl. ebd.: 7 (§ 10): „... de causa, fine, necessario, contingente, possibili, impossibili, perfecto, uno, vero, ordine, spatio & c. quae notiones omnes in Ontologia explicantur?“.

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Hegel schrieb, das, was vor 25 Jahren Metaphysik hieß, sei mit Stumpf und Stil ausgerottet worden und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden – er meinte, daß so „das sonderbare Schauspiel herbeigeführt worden sei, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen – wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes“. Seitdem ist es Hegel wiederum fast ebenso ergangen, wie vor ihm Wolf und vor Wolf den Aristotelikern – oder dürfen wir das Studium der Dialektik, wie es gegenwärtig auf englischen und amerikanischen Universitäten gepflegt wird, als eine neue Auferstehung, wenn nicht der spekulativen Philosophie, so doch jenes Allerheiligsten verstehen? das in Wahrheit dem Menschen der Spruch des delphischen Gottes befohlen hat, denn das ist die theoretische Selbsterkenntnis, daß man die Gedanken der Menschheit in sich aus- und umbilde, und daß man wisse, was man tut, wenn man urteilt und in Begriffen redet. Es ist immerhin bemerkenswert, daß von den drei hervorragenden SystemPhilosophen, die, nach Hegel, in den drei führenden Sprachgebieten die Aufgabe „de faire une spécialité des généralités“ auf empirischer Grundlage erneuerten, der erste die Metaphysik nur als einen Bastard zwischen Theologie und Wissenschaft betrachtete (Comte), der zweite schon wieder aus den „letzten Daten des Bewußtseins“, d. h. aus den Gesetzen des Denkens, die Prinzipien einer synthetischen Philosophie ableitet (Spencer), der jüngste endlich, obwohl gleich jenen beiden durchaus im Boden der Naturwissenschaften wurzelnd, eine eigentümliche Aufgabe der Metaphysik darin erblickt, daß sie die Verbindung der Tatsachen nach dem Prinzip von Grund und Folge auf die Gesamtheit aller gegebenen Erfahrung auszudehnen strebe, und folglich ontologische Einheitsideen neben kosmologische und psychologische setzt (Wundt), was denn den Ausblick auf eine neue Verarbeitung aller transzendenten Begriffe eröffnet. 85. D. Wenn die heutige Philosophie und also auch Einheit und Klarheit der Terminologie gleichsam nach rückwärts zu kämpfen haben, indem ihnen der Geruch der Unwissenschaftlichkeit, der an per Metaphysik haf 1 3 17 20 26 28 30

Hegel schrieb: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Hegel, Logik: Werke III, S. 3; – dort: „Stumpf und Stiel“ (1833: 3). er meinte: Vgl. ebd.: 4: „... Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen ...“. der erste: Beachte insbesondere Comtes „Drei-Stadien-Gesetz“ der geistigen Entwicklung der Menschheit (1830–1842). (Spencer): Vgl. Spencer 1862–1892. (Wundt): Vgl. Wundt 1897. 85.: Thema laut „Übersicht“: Hemmung des Fortschritts – Münchener Reden. an per Metaphysik: Lies: an der Metaphysik.

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tet, den Weg versperrt – so begegnen sie andererseits in ihrem natürlichen Fortschritte den Hemmungen, die alles wissenschaftliche Denken durch überlieferte, für heilig und notwendig gehaltene Lehren und Meinungen immer aufs neue erfahren muß; und obwohl diese Widerstände ihre historisch größte Bedeutung gegenüber der entgeistigten Ansicht der Natur gehabt haben und noch haben, so werden sie doch in gegenwärtiger Zeit viel lebhafter und, man darf sagen, schmerzhafter empfunden in den moralischen Disziplinen. Auch die Psychologie hat, wegen ihrer Bedeutung für diese, ein gemessenes Maß davon zu ertragen. Scharf wird dies bezeichnet durch gewisse Äußerungen in den Eröffnungsreden zum Dritten internationalen Kongresse für Psychologie (München 1896, 4–7. August). Der Präsident, ein gefeierter Psychologe der experimentellen Schule, kritisierte die sogenannte Parallelismus-Lehre und meinte dabei sich ausdrücklich dagegen verwahren zu müssen, daß er diese „politisch oder moralisch verdächtigen“ wolle. Wer sich entschuldigt, klagt hier freilich wohl nicht sich, um so mehr aber andere an. Der Kgl. bayrische Staatsminister des Innern, für Kirchen- und Schulangelegenheiten, antwortete auf diese Rede und sprach zum Schlusse die Hoffnung aus: „daß die psychologischen Kongresse dazu beitragen werden, die große Gefahr, welche dem öffentlichen Leben der Kulturvölker aus gewissen psychologischen Theorien erwachsen könnte, zu beseitigen“, und sogar seine Überzeugung, „daß diese Kongresse den alten Glauben an die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen nicht erschüttern, sondern befestigen werden“. 86. Man denke sich einen Kongreß von Astronomen, dem ans Herz gelegt und die Zuversicht ausgesprochen würde, daß er die altehrwürdige Lehre von den Cycloiden und den überlieferten Glauben an die Bewegung der Sonne um die Erde, nicht erschüttern, sondern befestigen werde; oder einen Astronomen, der seine Kritik der neueren Ansichten von den Kometen damit beschließen wollte, daß ihm nicht darum zu tun sei, diese Ansichten politisch oder moralisch zu verdächtigen! Und doch wären vor nur 300 Jahren 10

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Eröffnungsreden: Vgl. Stumpf 1897: und Landmann 1897. Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Dritter internationaler Kongreß für Psychologie S. 15. und S. 18. (München 1897). Der Präsident: D. i. der Berliner Philosoph Prof. Dr. Carl Stumpf. Parallelismus-Lehre: Der „Psychophysische Parallelismus“ postulierte ein beziehungsloses Nebeneinander von Leib und Seele. Staatsminister: D. i. Robert von Landmann (vgl. 1897: 17). 86.: Thema laut „Übersicht“: Gespensterfurcht – unklares und falsches Denken – Ver­ antwortlichkeit.

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solche Reden durchaus möglich, ja, wenn astronomische Kongresse stattgefunden hätten, so wären sie unvermeidlich gewesen. In Wahrheit reflektiert sich die Gespensterfurcht hier, wie überall, in einem teils unklaren, teils falschen Denken. Unklarem: denn, wenn auch jener Minister ohne Zweifel „Tausenden“ aus der Seele spricht, so dürften doch von diesen Tausenden kaum zehn Personen irgend welchen gedachten Begriff mit dem Worte „Verantwortlichkeit“ verbinden, und vielleicht keiner einen brauchbaren. Alle, die jene Gefahren wittern, dürften das Verantwortlichsein für eine Eigenschaft des Menschen halten, die ihm als vernünftigem Wesen anhänge. Diese Eigenschaft kann nicht wahrgenommen werden, man muß sie also durch Introspektion kennen. Auf das Bewußtsein des freien Willens wird hingewiesen. Dies Bewußtsein aber enthält, wie oft bewiesen worden, in praktischer Hinsicht nichts als die Tatsache des vernünftigen Denkens. Wenn „verantwortlich“ nichts weiter ist als ein anderer Name für diese normale Tatsache, so kann weder Tatsache noch Name durch irgend welche Psychologie erschüttert werden. Aber die im Banne der Sprache Denkenden wären darauf aufmerksam zu machen, daß immer geredet wird vom „verantwortlich machen“, daß es auch hier um einen Begriff sich handelt, dessen Wesen durch individuellen oder (zumeist) durch sozialen Willen konstituiert wird. Die Menschen machen einander gegenseitig, die Gemeinde macht die Bürger, Eltern machen ihre Kinder, Sitte, Religion, Gesetz und Moral nur den Menschen, der ihrer Idee eines vernünftigen Menschen entspricht, verantwortlich. Ob es richtig und erlaubt ist, daß sie es tun? es ist richtig und erlaubt, in dem Maße, als es sinnvoll und zweckmäßig ist. Im ethischen Sinne am höchsten steht es aber, daß der Mensch sich selber verantwortlich mache. – Und die Gespensterfurcht reflektiert sich in falschem Denken: in dem Wahne, daß Menschen in ihrem praktischen Verhalten durch psychologische Lehren sich bestimmen lassen. Hier liegt zuletzt jener Mangel an soziologischer, eben darum aber auch an psychologischer Einheit selber zu grunde, ein Mangel, der in Anwendung auf politische Maximen noch immer für Reichtum gehalten wird. 87. E. Die Philosophie bewegt sich also gleichsam zwischen zwei Feuern: von den Vorausgeschrittenen wird sie als reaktionär, von den Zurückgebliebenen als revolutionär angegriffen. Ihre beklommene Lage verrät sich am deutlichsten durch die Stellung, die ihr im höheren Unterricht und im 32

87.: Thema laut „Übersicht“: Philosophie im höheren Unterricht und im öffentlichen Leben. – Vorlesungen – Geschichte der Philosophie – Autorität? – Philosophie als Vaga­ bundin.

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öffentlichen Leben eingeräumt wird. Im höheren Unterricht: wenigstens in Deutschland spielt sie nur die Rolle eines geduldeten Schutzbürgers; auf vielen Universitäten erhält sie sich, in schwacher Geltung, durch das noch bestehende Privileg der „philosophischen“ Fakultäten, den „philosophischen“ Doktortitel zu verleihen, der in neuerer Zeit einen gewissen Marktwert, hauptsächlich für junge Chemiker, die sich der Industrie widmen, besitzt. Im übrigen wird sie von den Vertretern der Medizin und Naturwissenschaften über die Achsel angesehen, von den Regierungen höchstens etwas gefördert, wo sie, wie die Psychologie, in einigen Beziehungen zu jenen emporzusteigen vermag. Dieser Lage entspricht der schlecht organisierte Zustand des Unterrichtes selber: Vorlesungen müssen „gemeinverständlich“ sein, d. h. wenigstens halbwegs zur Unterhaltung dienen, gleich Vorträgen für Laienpublikum; „Übungen“ für Anfänger wird meistens Kant zu grunde gelegt, weil die unkundige Menge ein dunkles Vorurteil hegt: ihn einigermaßen verstehen, heiße in die Geheimnisse der Philosophie eindringen; zudem ist er Nationalphilosoph. Die Methode aber, mit Kant zu beginnen, ist, als ob man europäische Kinder lesen lehren wollte am koptischen Alphabete. Welche heillose Wirkungen populäre Vorträge auf der einen Seite, Elementarunterricht durch Kritik der reinen Vernunft auf der anderen, in Schülerhirnen haben, davon bleiben selbst bei den fähigsten, zumal wenn sie hurtig an eigene Produktion sich wagten, die Spuren oft genug als beliebige Mischung vulgärer und Kantischer Terminologie erkennbar. Mitschuldig daran ist auch die völlig unzulängliche Art, in der die Geschichte der Philosophie noch immer auf Kathedern und in Büchern vorgetragen wird – zum großen Teile nämlich als eine Geschichte von Einfällen und Fantasien. Das Ansehen, dessen das gefällige belletristische Werk des Geheimen Rats Kuno Fischer sich noch im In- und Auslande erfreut, ist dafür charakteristisch. Für eine exakte Geschichte der Terminologie ist aus neuerer Zeit fast nur, als sehr schätzenswerte Vorarbeit, die Schrift von Eucken vorhanden. – Im öffentlichen Leben – wohl aller Länder – ist die Geltung der Philosophie gleich Null. Weder Psychologen noch philosophische Moralisten und Politiker (Soziologen) genießen als solche irgend welche Autorität. Gesundheitswesen und Gerichte bedürfen oft psychologischer Gutachten, Ratschläge, Dienste; sie werden ausschließlich aus der medizinischen Fakultät bezogen. Für alle höheren Funktionen der Regierung genügt – im Deutschen Reiche – die gewöhnliche Bildung des Juristen: Kenntnis der Pandekten als

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Schrift von Eucken: Vgl. Eucken 1879; siehe dazu auch Tönnies’ Fußnote auf S. 250.

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Überlebsel, und neuerer Gesetzbücher – philosophische Bildung gilt eher als Kontra-Indikation der Befähigung. Von philosophischer Ethik wird offiziell so gedacht, daß die Behauptung, Ethik sei ihrer Natur nach unabhängig von den Religionen, zuweilen als disqualifizierend für philosophische Professuren gilt. – Philosophie hieß einst die Magd der Theologie. Damals diente sie einem guten Hause, in dem sie noch „Königin der Wissenschaften“ blieb. Heute gleicht sie einer Vagabundin, die bald bei der Theologie, bald bei den Wissenschaften sich ein Stück Brot erbettelt, von Zeit zu Zeit aber von der Polizei in sicheres Gewahrsam gebracht wird. Auch die Angst der Umherirrenden gibt sich oft darin kund, daß sie eine dunkle und verworrene Sprache reden.

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88. Die Richtungen, in denen wirksame Abhülfe erwartet werden darf, sind im allgemeinen bezeichnet durch die Diagnose des Zustandes und seiner Ursachen. Die Hauptrichtung ist darum gegeben durch den Fortschritt des Denkens selber, in den verschiedenen Zweigen, in denen es auf diese Sphäre Einfluß übt. 89. Am wichtigsten dafür ist sein zunehmender internationaler Charakter. Es wird in Zukunft einmal höchst problematisch erscheinen, wie in so weitem Umfange, durch Vermischung mit den belletristischen Nationalliteraturen, der internationale Charakter wissenschaftlicher Philosophie hat ausgelöscht werden können. Mehr und mehr wird erkennbar, daß es sich dabei nur um eine, für das Geistesleben der einzelnen Nationen mannigfach fruchtbare Unterbrechung gehandelt hat. Philosophie ist von den Einzelwissenschaften nicht trennbar. Diese aber sind auf die Kommunikation neuer Beobachtungen, neuer Erfindungen, neuer Methoden angewiesen, sie leben durch den Austausch von Gedanken. Die Psychologie wird besonders in den wichtigen Stücken, die durch Experimente und statistische Methode sich entwickeln, rasch zu einer internationalen Wissenschaft. Die sogenannte Statistik, d. h. eine Masse von soziologischen Beobachtungen und Forschungen, die durch statistische Methode gefördert werden, ist längst als internationale Wissenschaft anerkannt. Was die allgemeine Soziologie anbetrifft, so ist sie noch kaum konstituiert, im nationalen Universitätsbetriebe wenig in Geltung, aber schon ist ein internationales Institut, eine internationale Zeitschrift dafür ins Leben gerufen worden. Wenn aber Philosophie heute die Aufgabe hat, das psychologisch-biologische und das soziologische Wissen und Denken in ihrer Sammellinse zu vereinigen, so hat es offenbar keinen Sinn mehr, daß noch immer der Zufall nationalsprachlicher Abstammung für die Kenntnis der neueren Gedankensysteme entscheidender Faktor zu sein pflegt. Der Vernunft ist ihr Anspruch wesentlich, allgemeine Geltung zu haben.

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III.: Laut „Übersicht“ lautet das Kapitel: Die Richtungen der Reform. 88.: Thema laut „Übersicht“: Hauptrichtung. 89.: Thema laut „Übersicht“: Internationaler Charakter der Philosophie.

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90. Mächtig angeregt wird nun die Verständigung und das Zusammenwirken schon durch die Bedingungen und Mittel des heutigen Weltverkehrs. Die Vereinigten Staaten von Amerika, deren wissenschaftliche Eigentradition noch jung, sind zwar durch die Sprache, aber nicht durch nationale Vorurteile auf Beschränkung angewiesen, sie nehmen unbefangen aus allen Ländern die Akkumulatoren der Gedankenkraft bei sich auf. Nicht viel anders die Kolonien des britischen Weltreiches, Japan u. a. Je mehr in der neuen Welt die innere Sammlung für tiefes Denken gewonnen wird, desto mehr hat Europa einen Rückstrom junger Früchte zu erwarten. Studierende aus allen Weltteilen versammeln sich in den Hauptstädten der Wissenschaft, die Gelehrten der meisten Länder treten durch Reisen und Korrespondenzen wieder in lebhaftere Beziehungen. Wieder: denn noch im 17. Jahrhundert war dies, infolge des kosmopolitischen Wesens der Kirche und der lateinischen Sprache, trotz des überaus schwierigen Verkehrs, normaler Zustand gewesen. In modernem Stile bilden sich die Sammelpunkte, teils als periodische Druckschriften, teils als persönliche Kongresse aus; beide müssen auf Ausgleichung immer stärker hinwirken. Es ist unvermeidlich, daß die Hemmnisse verschiedener Terminologie, besonders, sofern sie durch jene nationalen Einschränkungen bedingt waren, mehr und mehr zum Bewußtsein kommen, daß aber auch das Bedürfnis einer gemeinsamen Sprache immer lebhafter sich geltend machen wird. 91. Von den immer erneuten Versuchen, eine Weltsprache zu konstruieren, ist in früherem Zusammenhange geredet worden. Auch wurde angedeutet, daß sie zumeist in den Forderungen des Handelsverkehres ihre Antriebe haben. Hier aber ist nicht unangemessen, daran zu erinnern, wie gerade das wissenschaftliche Bedürfnis ehemals in diesem Sinne gewirkt hat. Von mehreren Versuchen und Plänen, die im 17. Jahrhundert Aufmerksamkeit auf sich zogen, ist keiner so merkwürdig und geistreich, wie das von unsäglicher Arbeitsmühe angefüllte Werk des Bischofs Wilkins. Sein Grundgedanke, so bedeutend, wie einfach, verdient in der Tat immer neue Erwägung, und eine gewisse Verwertung um so mehr, als er, ohne es selber zu wissen, nur verallgemeinert, was die Figuren- und Formelsprache der Mathematik längst dargeboten hat. Der Bischof will, für wissenschaftlichen Gebrauch, eine universelle Schriftsprache erfinden, d. h. ein Zeichensystem

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90.: Thema laut „Übersicht“: Weltverkehr – Kongresse – Ausgleichung. 91.: Thema laut „Übersicht“: Weltsprache – wissenschaftliches Bedürfnis – Wilkins – Descartes – Leibniz.

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für „Begriffe und Dinge“, das zunächst geschrieben und nur akzidenteller Weise auch gesprochen zu werden bestimmt ist. „Obschon es wahr ist“, bemerkt er, „daß die Menschen gesprochen haben, ehe sie schrieben, und daß folglich Schrift nur das Bild der Sprache, der Zeit nach also später ist; so ist doch in natürlicher Ordnung keine Priorität vorhanden . . . . Menschen, die je in ihrer Sprache fortfahren zu reden, können doch miteinander verkehren durch ein reales Schriftzeichen (a real character), das in allen Sprachen lesbar wäre“. Für jedes Ding, jeden Begriff, für grammatische Derivative und Flexionen hat er also ein Zeichen erfunden, und zwar stehen die ersteren so in Beziehung zu einander, daß sie dem Wesen (der Verwandtschaft usw.) der repräsentierten Dinge und Begriffe entsprechen sollen. Er weiß wohl, daß dies eine richtige Theorie, eine universale Wissenschaft zur Voraussetzung hat. Gleichwohl wagt er es, den bei weitem größten Teil seines Folio-Bandes anzufüllen mit Tafeln, auf denen er alle wahrnehmbaren und denkbaren Gegenstände zu registrieren unternimmt. Vor ihm hatte auch Descartes die Idee einer Universalsprache entwickelt und gebilligt, worin gleichfalls alles, was in den menschlichen Geist eintreten könne, geordnet sein solle; „aber die Erfindung einer solchen Sprache hängt ab von der wahren Philosophie . . . . auf deren Basis würde sie allerdings dem Urteile so deutlich alle Dinge darstellen, daß es ihm fast unmöglich sein würde, sich zu täuschen, anstatt daß, ganz im Gegenteile, die Worte, welche wir besitzen, gewissermaßen nur verworrene Bedeutungen haben, an die sich der menschliche Geist von langer Hand gewöhnt hat, infolgedessen er fast nichts auf vollkommene Art versteht.“ „Aber“ – meint schließlich der große Denker – „eine solche Weltsprache hat große Veränderungen in der Ordnung der Dinge zur Voraussetzung; die ganze Welt müßte nichts sein als ein Paradies auf Erden, und so etwas darf man nur in Romanen der Einbildung zumuten“. Diese Idee war nicht dazu angetan, Leibniz abzuschrecken, der immer, mit ahnungsvoller Unklarheit, solchen Weltgedanken nachging. 1

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„Begriffe und Dinge“: Tönnies’ Zitatnachweis auf Seite 250 lautet: Wilkins, John, An essay towards a real character and a philosophical language p. 385. p. 21 (London 1668). bemerkt er: Vgl. ebd.: 385: „But though it be true, that men did first speak before they did write, and consequently writing is but the figure of speech, and therefore in order of time subsequent to it, yet in order of Nature there is no priority between these: ... And because men that do retain their several Tongues, may yet communicate by a Real Character, which shall be legible in all Languages“. der große Denker: Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Descartes, Lettres I, p. 611 f. (Paris 1657) – Vgl. Descartes 1657 („Letttre CXI“, S. 615 f.). Das Zitatende wurde vom Hg. markiert.

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So wollte er denn noch über Wilkins hinausschreiten, indem er meinte, für jede Idee ihre charakteristische Zahl auffinden zu können, so daß man alles Denken ebenso universell und sicher zu machen vermöchte, wie die einfache Arithmetik. Er dachte dabei an die Berechnung der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, und folglich wohl auch an so etwas, wie heute in der Bevölkerungs- und Moralstatistik die Natalitäts-, Mortalitäts-, Nuptialitäts-, Kriminalitäts- usw. Ziffern bedeuten. Übrigens ist bekannt, wie in der Logik die Versuche einer graphischen Darstellung; wie auch einer mathematischen Behandlung von Begriffen immer, wenn auch seither mit geringen Erfolgen, wiederholt worden sind. 92. Viele alte Vernunftentwürfe, die noch vor einigen Jahrzehnten ebenso als utopisch belächelt und weggeworfen wurden, wie noch jetzt die Idee einer solchen Weltsprache von vernünftiger Skepsis abgewehrt wird, sind seitdem, wenn auch keineswegs voll verwirklicht, so doch in gewaltigem Fortschritte gefördert worden; man denke an den Weltpostverein, an das metrische System für Maß und Gewicht, an die lateinische Münzkonvention, an die mitteleuropäische Zeit u. a. Überall handelt es sich um Beziehungen von Zeichen auf ein umfassenderes System, um Bestimmung von MaßEinheiten durch einen universelleren Willen. Im Angesichte dieser Tatsache darf man auf jene Träume, denen Denker von erstem Range anhingen, das Wort anwenden, das Kant von der platonischen Republik gebraucht: man würde besser tun, diesem Gedanken mehr nachzugehen und ihn durch neue Bemühungen ins Licht zu stellen, als ihn, unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Untunlichkeit, als unnütz bei Seite zu stellen. 93. In Wahrheit kann solche Idee höchst nützlich wirken, sie kann als ein Wegweiser dienen, wenn auch in unbekanntes Land, so doch in ersprieß 1

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indem er meinte: Tönnies’ Zitatnachweis auf S. 250 lautet: Leibnitz, Historia et commendatio linguae characteristicae universalis, quae simul sit ars inveniendi et judicandi: Oeuvres philosophiques ed Raspe p. 535 ff. (Amsterdam und Leipzig 1765); – dort: „... charactericae ...“; vgl. zur ‚charakteristischen Zahl‘ und der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ebd.: 538 f.. 92.: Thema laut „Übersicht“: Utopische Ideen. von der platonischen Republik: Tönnies’ Zitathinweis auf S. 250 lautet: Kant, Kritik der reinen Vernunft. Ausg. Kehrbach S. 275. (I. Zweiter Teil, zweite Abteilung, erstes Buch, erster Abschnitt. – Das Zitat beginnt auf S. 276, vgl. Kant 1877: „Allein man würde besser thun, diesem Gedanken nicht nachzugehen und ihn, (wo der vortreffliche Mann uns ohne Hilfe läßt) durch neue Bemühungen in Licht zu stellen, als ihn, unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit, als unnütz bei Seite zu stellen“. 93.: Thema laut „Übersicht“: Richtungen des Strebens – geometrische Darstellung von Begriffen. In Tönnies 1899: 55 Weiterzählung der Nummerierung abweichend erst mit dem nächsten Absatz.

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liche Richtung. Das Höchste muß gewollt, das Unmöglichscheinende muß versucht werden! Ein System von Begriffen ist denkbar, das alle möglichen Gedanken, soweit sie formalen Wert in philosophischen Urteilen haben können, in ihrer natürlichen Ordnung darstellt, ihre Verhältnisse zu einander, Abhängigkeiten, Verwandtschaften, Kontraste festsetzt, alle aber aus einfachen Elementen, von denen angenommen wird, daß sie dem gemeinmenschlichen Bewußtsein angehören, entwickelt; für diese Elemente, die, wie das ganze System, in einer wirklichen Sprache, aber in einer so sehr als möglich universellen (wie der lateinischen) ausgedrückt werden sollten, ließen sich zugleich gewisse lineare Zeichnungen herstellen, so daß sich die komplexen Gedanken daraus zu geometrischen Figuren zusammensetzen würden – ebenen, sphärischen und räumlichen. Diese Linien und Figuren würden den universellen Terminus zwar nicht ersetzen – denn diesen denken wir doch als sprachlich bezeichnet – aber auf eine leicht verständliche Art die Verhältnisse dieser Termini zu einander illustrieren; andere mathematische Zeichen wären daneben anwendbar. 94. Gesetzt, z. B. man beschlösse, den Begriff der Causa dahin zu bestimmen, daß er ein besonderer Fall des logischen Verhältnisses eines Ganzen zu seinen Teilen würde, so könnte das Ganze durch ein Quadrat, die Teile durch eine beliebige Anzahl (z. B. 3) hineingezeichneter Quadrate mit gleichem Schwerpunkte symbolisiert werden; das besondere Verhältnis der Kausalität würde dann etwa durch Konstruktion der durch alle hindurchgehenden Diagonalen sich darstellen lassen. Hieraus mögen wir – argumenti gratia – den Begriff der realen Möglichkeit entwickeln und durch ein hineingezeichnetes Kreuz differenzieren, den Begriff des Willens ferner durch eine um dieses Gesamtquadrat gezogene Kreislinie, den des sozialen Willens durch eine oder mehrere konzentrische Kreise mit größeren Durchmessern usw. Solche Definition und Konstruktion der Begriffe würde sie gleichsam zu Prototypen machen und von den losen Allgemeinvorstellungen, die in unendlicher Mannigfaltigkeit sonst mit den entsprechenden Wörtern verbunden werden, scharf abheben. Sie würde ein in jeder Sprache, in jedem Gedankensystem anwendbares Gerät vorstellen, und dem Lernenden sie als feste Assoziationen einprägen, mit denen er an die Betrachtung und Analyse der Wirklichkeit gerüstet hinangehen würde. 95. Für die Verwirklichung solcher Idee, die sich leicht weiter ausspinnen ließe, ist aber vor allem notwendig, daß eine Stelle vorhanden sei, die nicht 17 24 35

94.: Thema laut „Übersicht“: Beispiele – Prototype. argumenti gratia: [lat.] dank des Argumentes. 95.: Thema laut „Übersicht“: Autoritative Stelle – eine internationale Akademie.

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allein sie auszubauen die Fähigkeit, sondern auch sie geltend zu machen die Autorität besäße. Solche Autorität kann niemals eine zwangsmäßige sein, wie die der politischen Gewalt, sie kann nur ihren Grund finden in ihren wirklichen Leistungen und in der diese anerkennenden allgemeinen Meinung. Nun fordert in jeder Hinsicht die wissenschaftliche Arbeit unserer Zeit, zumal die ungeheuren Arbeiten des Sammelns, Generalisierens, Registrierens – wozu denn auch die terminologische Klassierung und Etikettierung gehört – fordert Beratung, Kooperation, Organisation. Die gegebene Form für eine solche gelehrte Körperschaft ist die Akademie. Was die nationalen Akademien für die Förderung der Naturwissenschaften leisten sollten und zum guten Teile geleistet haben, das ist für die Geisteswissenschaften einer Internationalen Akademie als Aufgabe zu stellen. Jener lag das materielle praktische Interesse der Staatsmänner und Staatsbürger für die Entwicklung des Handels und der Industrie zu grunde; Handel, Industrie und Wissenschaft verbunden haben die großen politischen Körper geschaffen, in denen die Nationen sich guten Teils eifersüchtig und feindlich gegenüberstehen. Diese internationale Akademie muß sich durch die Fülle und den Reichtum ihres Lebens von jenen, die von ihrer Geburt her etwas von einem toten, maschinenhaften Wesen an sich tragen, ebenso abheben, wie eine moderne Weltstadt von den steifen Fürstenstädten des 18. Jahrhunderts. Jene waren Produkte des monarchischen Absolutismus und des militärischen Geistes; diese soll eine Schöpfung des demokratischen Relativismus (den wir als Kommunismus zu definieren freistellen) und des Geistes der friedlichen Arbeit sein. Ihrer Idee liegt das ideale praktische Interesse der Menschenerzieher und Weltbürger zu grunde, ein Interesse, das Psychologie und Soziologie zum Range der leitenden Organe in einem moralischen Körper erheben will, dem die gebildeten Nationen sich willig eingliedern und unterordnen werden. Diese Idee liegt nun, wie unter den Soziologen kaum ein nennenswerter bezweifeln kann, gleichsam in der Luft des Zeitalters. Sie ist die Oberstimme zu allen den Instrumenten, die im ökonomischen, im politischen und im geistigen Leben des Jahrhunderts gegeigt und geblasen werden. An der Wende eines neuen Jahrhunderts darf sie in diesem Konzerte vielleicht den Ton angeben. 96. Eine solche Akademie soll in erster Linie eine Stätte für wissenschaftliche Forschung und Gedankenarbeit sein. Eben dadurch soll sie in 9

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Akademie: Zu Tönnies’ Vorstellungen einer philosophischen Gemeinde und einer Akademie beachte seine Briefe an Paulsen vom 6. 3. 1881 u. 26. 1. 1885 (Klose 1961: 111, 207) und sein Engagement beim Forscherheim in Assenheim 1923–1932 (Solms 1982). 96.: Thema laut „Übersicht“: Forschung und Lehre – Schrift- und Gedankensprache.

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zweiter Linie auch eine Stätte der Lehre sein. Nur nicht der Lehre als eines Mittels zur Ausbildung von Beamten oder zur Ausstattung wohlhabender Männer und Frauen mit dem Apparate unterrichteter Plauderei – sondern einer Lehre, die unmittelbar aus der Mitarbeit des Forschens und Denkens hervorgeht, die also in persönlichem Verkehr, im Einflusse und Vorbilde der Meister ihre lebendigen Quellen habe, die nur den wahrhaft Wissensdurstigen zugänglich, auf diese aber auch intellektuell und moralisch befruchtend wirken kann. Die Akademie ist nicht denkbar ohne eine gemeinsame Sprache. Ob nun, wie wir schon vorausgesetzt haben, das Neulateinische darin seine Auferstehung feiern wird? Manche Gründe ließen sich anführen, um es wahrscheinlich, nicht wenige, um es wünschenswert zu machen. Völlig untergegangen ist es nie; unentbehrlich ist es noch in jeder technischen und wissenschaftlichen Terminologie, auch durch seine unbegrenzte Fähigkeit, die teils aus der Geschichte der Wissenschaft, teils aus neueren Bedürfnissen herstammenden griechischen Wortformen sich anzubilden; überhaupt hat es eine lange Periode der Gestaltung für Zwecke eines mannigfachen und verfeinerten Denkens durchgemacht; es hat dadurch eine gewisse Kühle und Nüchternheit gewonnen, die der Vernunft höchst angemessen ist; nur durch die archaisierende Philologie, daher nicht eigentlich als es selber, sondern als erneuertes Altlatein, hat es der Rhetorik dienstbar gemacht werden können; und auch diese Anwendung ist als bewußte dem Denken nicht so gefährlich, wie die unbewußte Rhetorik, die in jeder „lebenden“ Sprache verborgen ist; endlich darf man sagen, daß die Tradition auch ihre Rechte hat, und daß jene tote Sprache jedenfalls als neutrale über allen Eifersüchten der Nationen steht, mit deren Widerstand eine so erleuchtete und freie Tat, wie die Begründung dieser Akademie, allerdings wird rechnen müssen. Wenn wir in früherem Zusammenhange eine spontan sich bildende Herrschaft des Englischen als der Sprache kommerziellen und persönlichen Weltverkehrs für wahrscheinlich erklärten, so steht die hier gedachte Wiederaufnahme des Neulateinischen damit nicht in Widerspruch. So gut wie eine Umgangssprache und eine Schriftsprache, sehr verschieden von einander, oft zusammen bestehen, so könnten auch eine universelle Umgangsund Schriftsprache auf der einen, eine Schrift- und Gedankensprache auf der anderen Seite, ohne Reibungen neben einander hergehen. 97. In dieser Schrift- und Gedankensprache, wie immer sie beschaffen sei, wird das große philosophische System, werden ebenso die besonderen Corpora der Geisteswissenschaften, dargestellt werden müssen, deren 35

97.: Thema laut „Übersicht“: Das philosophische System – Modellbegriffe.

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Abfassung wir als das Werk unserer Akademie vorstellen, mögen auch viele sukzessive Generationen ihrer Mitglieder daran tätig sein. ModellBegriffe auszuprägen genötigt, wird sie um die Ausdrücke dafür nicht verlegen sein, und das Wort Leibnizens endlich wahr machen, mit dem er auf die von Locke aufgezählten Unvollkommenheiten der Natursprachen für wissenschaftliche Zwecke sich bezieht. „Car il dépend de nous“, sagt er, um zu begründen, daß jene Mängel ihren Bestand nur haben durch unsere Nachlässigkeit, „de fixer les significations, au moins dans quelque langue savante, et d’en convenir pour détruire cette tour de Babel“. 98. Wem dies utopisch scheint, der werde an die Utopie des metrischen Systems für Maß und Gewicht nochmals erinnert und auf die ältere Literatur darüber aufmerksam gemacht, worin beklagt wird, daß der Wissenschaft nicht gegeben sei, die Macht des Herkommens zu brechen, die nur Gewalt besiegen könne. Noch sind wenig mehr als 100 Jahre vergangen, seit die Pariser Akademie der Wissenschaften die Erdmessungen beendete, auf Grund derer die deponierten Mustermaße als Meter und Kilogramm zu gesetzlichen Einheiten für ganz Frankreich erhoben wurden, und schon seit etwa 30 Jahren ist auf Grund von Verträgen zwischen 17 Staaten ein ständiges internationales Bureau für Maß und Gewicht ins Leben getreten. Wer nach dieser Analogie ein internationales Amt für psychologische und soziologische Begriffe denkt, wird ohne Zweifel bedeutet werden, daß er Unvergleichbares zusammenstelle; man wird vor allem den praktischen Wert nicht zugeben, wird darauf hinweisen, daß die Triebkraft des Interesses solchen idealen Dingen immer fehlen werde. Wir haben selber darauf hingewiesen, daß die idealen Interessen von Fantasie, Kunst, Religion gleichsam mit Beschlag belegt werden. Hier aber dürfen wir dagegen betonen, daß auch in dieser Hinsicht die Lebensbedingungen des gegenwärtigen Zeitalters eine gewaltige Umwälzung deutlich vorbereiten. Die moderne Gesellschaft reckt ihre ungeheuren Glieder. Die soziale „Frage“ erregt die Köpfe der Politiker und der Philosophen aller Länder. In einzelnen Proble 4

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das Wort Leibnizens: Tönnies’ Zitathinweis auf S. 250 lautet: Leibnitz, Nouveaux essais III, 9. 11. Oeuvres ed Raspe p. 299; – bei Leibniz 1765a orthographisch etwas abweichend : „Car il depend de nous de fixer les significations, au moins dans quelque langue sayante, et d’en convenir pour detruire cette tour de Babel“. 98.: Thema laut „Übersicht“: Andere Utopien realisiert – internationale Probleme – soziale Frage – Statistik – Wirkung auf Bestimmung von Begriffen. Macht des Herkommens: Tönnies’ Literaturhinweis auf S. 250 lautet: Dove, Maas und Messen. 2. Aufl. (Berlin 1835) Jacobi Unité des poids et mesures. (Petersburg 1865). – Vgl. Dove 1835: 45: „Da aber die Macht des Herkommens nur durch Gewalt zu besiegen ist, welche der Wissenschaft nicht gegeben ..“.

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men verdichtet sie sich, die schon als internationale anerkannt wurden: Kapital und Arbeit, Weltmonopole, Verbrechertum. Die Einrichtungen, Erfahrungen, Studien der einzelnen Länder ringen nach Verständigung miteinander. In der Richtung auf das zuletzt genannte Problem ist seit bald einem Dezennium die Internationale Kriminalistische Vereinigung – Union Internationale de Droit pénal – in lebhafter Tätigkeit. Über das Studium der Statistik, das für alle diese Probleme von so großer Wichtigkeit, ist noch ein Wort zu sagen. Statistik pflegt als besondere Wissenschaft zu gelten. Was aber heute unter ihrem Namen gedacht wird, ist nur die universell anwendbare numerische Methode; deren hauptsächliches Objekt ist – gemäß dem ursprünglichen Sinn des Wortes Statistik – Erforschung der Zustände und Veränderungen des sozialen Lebens, wofür man auch „empirische Sozialpsychologie“ setzen kann. Ihre Wichtigkeit, ja Notwendigkeit ist von allen Staaten und von vielen Kommunalverbänden öffentlich anerkannt. Aber trotz und wegen dieser Anerkennung liegt sie noch im Banne der unmittelbaren administrativen Bedürfnisse, ja, ist dem tendenziösen Mißbrauche für Regierungs- und Parteizwecke ausgesetzt. Man kann sie mit dem Zustande der Astronomie vergleichen, jener Zeit, als die großen Herren Sternwarten bauten, um sich und ihren Frauen und Kindern das Horoskop stellen zu lassen. Dahinter lagen tiefere Interessen, die über solchen Zauber die Astronomie erhoben. So liegt auch hinter den Verlegenheiten von Ministern und Magistraten um „statistisches Material“, das Lebensinteresse der modernen Gesellschaft, sich zu erkennen, um sich zu beherrschen. Sie strebt nach Harmonisierung, Ausgleich, Frieden, aber es fehlt ihr an Organen; sie bedarf eines Ganglions, wäre es auch nur als eines Hemmungsmechanismus gegen den Wahnsinn und die Lügen leidenschaftlicher Interessenkämpfe. Hier, wie überall, kann nur aus vielfachem Streben die Tätigkeit, aus vielfacher Tätigkeit das organische Gewebe sich bilden. Streben und Tätigkeit, eine universelle, echte Wissenschaft aus der „Statistik“, d. h. der Sozialbiologie und Sozialpsychologie zu gestalten, sind vorhanden und werden sich vermehren. Gesetzt aber, ein internationales Bureau für freie wissenschaftliche Statistik würde eingerichtet, und ein würdiger Nachfolger Quetelet’s an dessen Spitze gestellt, wie hätte dies Wert und Folgen für philosophische Begriffsbildung, also für Metaphysik und Ontologie, wie wir sie verstehen wollten? Dies ist nicht schwer zu erkennen. Die Statistik kann keinen Schritt tun, ohne alte Wortbegriffe zu dissoziieren, neue Gegenstände unterscheidend zu denken, also auch zu benennen. Ein Beispiel. Die amtliche Statistik hat in Frankreich, und nach diesem Vorbilde, im Deutschen Reiche, als notwendig erkannt, um

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die stärker agglomerierte Bevölkerung von der weniger agglomerierten zu unterscheiden, Ortschaften von 2000 und mehr Einwohnern zusammenzufassen, gleichgültig dagegen, daß diese weder administrativ, noch dem Sprachgebrauche nach, eine Einheit bilden; weil aber in beiden Hinsichten allerdings ähnliche Unterscheidungen bezeichnet sind, so paßt man diesen sich an, indem man die eine Gruppe „Stadt“, die andere „Landort“ nennt. Würde diese einfache Norm allgemein durchgeführt, so wäre etwas gewonnen, was für wissenschaftliche Zwecke vorbildlich gelten kann. In allen Sprachen werden Stadt und Land unterschieden, zum Teil nur mit unbestimmter Größenvorstellung von Orten, zum Teil aber hat der Name Stadt positive, historische, d. h. rechtliche Begründung. Diese kreuzt sich mit dem Größenunterschiede. In neuerer Zeit ist die rechtliche Bedeutung des Stadtbegriffes stark zurückgetreten, die Unterschiede der Orte nach ihrer Volksmenge haben sich immer mehr davon abgelöst und zugleich sich immer stärker entwickelt. Für die Statistik haben diese Unterschiede elementares Interesse. Sie findet z. B., daß die stärker agglomerierten Bevölkerungen auch stärker zunehmen. Wenn sie dies, sei es am sprachgebräuchlichen oder am administrativen Gegensatze von Stadt und Land zeigen will, so muß sie stark agglomerierte Orte als Land, schwach agglomerierte als Städte registrieren – würde also ihrer eigenen Absicht entgegen handeln. Die Ergebnisse verschiedener Länder wären vollends unvergleichbar. Willkürliche, d. h. aber ihrem Zwecke bestens angepaßte Begriffsbildung ist unerlässlich. Der Name ist an sich gleichgültig; wenn aber der Name „Stadt“ behalten wird und diese neue Prägung erhält, so können für diese Wahl wie für alles, was sich bestehenden Assoziationen anschmiegt, gute Gründe geltend gemacht werden. Der Begriff Stadt ist selber ein ontologischer in unserem Sinne. Von allen „Entitäten“ bedürfen die sozialen am allermeisten solcher scharfen Bestimmung für wissenschaftliche Zwecke, zumal solche, wie Recht, Religion, hinter denen noch eine Entität, wie eine Seele hinter der Hirnschale, gesucht zu werden pflegt. Daß aber die wissenschaftlich-amtliche Bestimmung psychologischer Begriffe, denen die hergebrachten Namen Empfindung, Gefühl, Wille angemessen wären, minder zweckmäßig sei, als jene Abgrenzung von Phänomenen gegen einander, worauf die alten Namen Stadt und Land angewandt werden, wird sich nicht wahrscheinlich machen lassen. – Man kann mit Grund sagen, daß es sich hier um rein „äußerliche“ Merkmale und Begriffe handle. Allerdings; aber der Weg ins Innere geht immer durch das Äußere. Man muß die Grenzen eines Landes überschreiten, wenn man sein Klima, wenn man Land und Leute kennen lernen will.

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99. Vielleicht aber genügen diese Hinweisungen nicht, wenn man Vorschläge für unmittelbare praktische Beseitigung der vorhandenen Übel erwartet hat. Wir haben uns an das Thema gehalten und nur die Richtungen gezeichnet, in die sich Hoffnungen begeben dürfen. Wir meinen auch allerdings, daß Erfahrung genugsam lehrt: aus den Nöten und Strebungen des Lebens, aus dem Wachstum vorhandener Bildungen, aus den Wirkungen bedeutender Beispiele, muß der Fortschritt der Erkenntnis, mithin auch die Vervollkommnung ihrer Instrumente, hervorgehen. So wird auch in dieser Sphäre das alte Wort gelten:

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„Multi pertransibunt et augebitur scientia.“

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99.: Thema laut „Übersicht“: Hoffnungen und Fortschritte. das alte Wort: [lat. ] svw. „viele werden vergehen und die Wissenschaft wird fortschreiten“ – verkürztes Zitat aus der Daniel-Apokalypse (Vulgata Daniel 12, 4; vgl. Bibel); auch Motto des Frontispiz von Francis Bacons Hauptwerk „Instauratio Magna“ von 1620 als Idee einer kooperativen Wissenschaft, die sich erst zukünftig verwirklicht.

Additamente I.

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(Auf Wunsch meines Freundes Dr. Oskar Vogt schrieb ich im Jahre 1900 ein Resumé diese Abhandlung, unter dem Titel „Terminologische Anstöße“, gedruckt in der Zeitschrift für Hypnotismus Bd. X Heft 3, S. 121–130. Ich gebe den Artikel hier wieder, mit Ausnahme der zwei letzten Seiten, die zum größten Teil wörtlich aus dem Manuskript meines Traktates zitiert waren. Dieser Artikel hatte eine kurze, teils zustimmende, teils (in bezug auf das Neulatein als Weltsprache) kritische Erörterung über den Gegenstand von A. Forel zur Folge (daselbst Heft 4).

Wissenschaftliche Disputationen werden oft durch die Bemerkung unterbrochen: „das kommt auf einen bloßen Wortstreit hinaus“. Es wird dabei als Einverständnis vorausgesetzt; daß man über Worte nicht streiten wolle, wenn man über die Sache der gleichen Meinung sei. Es gilt nicht nur als töricht, über Worte zu streiten, sondern auch zumeist als vergeblich; denn man weiß oder fühlt doch: wenn einer einmal einen bestimmten „Begriff“ mit einem Worte verbindet, so ist diese Verbindung nicht leicht lösbar; er ist keineswegs bereit oder geneigt, einen anderen Begriff an die Stelle treten zu lassen, oder für seinen Begriff ein anderes Wort als bezeichnend gelten zu lassen. 1 2

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Additamente: [lat.] Hinzufügungen. Vgl. hierzu die eingeflossenen Passagen aus Tönnies 1901b u. 1901c (siehe im Editorischen Bericht S. 512–520). I.: Thema laut „Übersicht“: (Resumé.) Streit über Worte – Verabredungen, Verträge – die Sprache – Sprachinseln – die Sachen – das Bedürfnis – die wirklichen Differenzen – Psychologie und Soziologie – Begriffe in den Wissenschaften – Wirkung auf Phantasie – Metaphern – Unterscheidung empirischer und rationaler Begriffe – Maßstäbe – soziale Gültigkeit – Unterschied des Bildens und Benennens von Begriffen – nichts zu entdecken, sondern zu statuieren – Anregungen von außen – Herbeiführung eines Reiches der Ordnung. Oskar Vogt: Der Husumer Neurologe arbeitete mit seiner Frau Cécile über die Gliederung der Großhirnrinde. Tönnies war mit dem Ehepaar eng befreundet und inspirierte den späteren Direktor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der seit 1937 ein eigenes Institut für Hirnforschung und allgemeine Biologie in Neustadt/Schwarzwald besaß (vgl. Klose 1961: 343 f, Satzinger 1998: 29 f.). Er vermachte ihm testamentarisch seinen Schädel und sein Gehirn (vgl. Schümer 1998.) „Terminologische Anstöße“: Vgl. Tönnies 1901c. – Korrekt: dieser Abhandlung. Heft 4: Vgl. Forel 1901: 248–252 (jedoch: Heft 5).

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Man darf auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn man sagt: ein klarer Streit über Wirkliches kann sich erst ergeben, nachdem alle Wortstreitigkeiten ausgeschieden sind – am besten, wenn diese ganz unmöglich wären, wenn jede Gefahr eines Mißverständnisses ausgeschlossen wäre. Dann würde jeder durch Worte ausdrücken, was er gedacht hat, der Hörende würde diese Gedanken richtig reproduzieren und mit seinen eigenen „Ansichten“ derselben Sache vergleichen können, wenn er solche hat. Man würde sich verstehen – was im deutschen Sprachgebrauche oft schon so viel heißt als „übereinstimmen“, während es hier nur als die Voraussetzung dafür betrachtet wird, daß man Nicht-Übereinstimmung konstatiere. Die eine Übereinstimmung ist dafür notwendig: Übereinstimmung über die Bedeutung der Wörter. Und eben darum gilt der Streit „um Wörter“ für töricht, weil man denkt, daß es unvernünftig sei „an den Wörtern zu kleben“, sie zu „klauben“; denn es müsse dem Vernünftigen gleichgiltig sein, ob er etwas so oder so benenne, ob ein Wort in dieser oder jener Bedeutung gebraucht werde. Es scheint leicht und einfach, sich über die Zeichen einig zu werden, wenn man nur wisse, was man bezeichnen will – in diesem Gebiete, wie in jedem anderen, wo einer zu seinem eigenen (individuellen) Gebrauche sich ein Zeichen „macht“ oder mehrere zu gemeinsamem Gebrauche darüber eine Verabredung treffen, d. h. eine Art von Vertrag schließen, wodurch sich jeder verpflichtet, das Zeichen anzuerkennen, d. h. es in einem bestimmten Sinne anzuwenden und in einem bestimmten Sinne zu empfangen oder zu „verstehen“. Gegenüber diesem Bedürfnisse nach künstlichen Zeichen mit genau bestimmter Bedeutung besitzen wir nun aber in den Sprachen – und am meisten jeder in seiner „Muttersprache“ – Systeme von natürlichen Zeichen mit vielfach unbestimmten, mehr gefühlten als klar und deutlich unterschiedenen Bedeutungen. Freilich wir verstehen einander im Allgemeinen genugsam für Zwecke des täglichen Lebens – daher besonders soweit es Gefühl und Wollen zu erregen gilt (aber auch nur im Allgemeinen: denn wie viel Feindschaft entsteht durch eigentliche und wörtliche Mißverständnisse!). Wenn es aber um wissenschaftliches Denken sich handelt, so ist von jeher für notwendig oder wenigstens für erwünscht gehalten worden, „die Begriffe zu definieren“, d. h. zu erklären, in welcher Bedeutung man besondere Wörter anwenden wolle – ob dies Versprechen auch gehalten wird, bleibt dabei immer noch zweifelhaft. Nach der Absicht des Lehrers oder Schriftstellers liegt darin ein bedingtes Geheiß an den Schüler oder Leser: „wenn du mich richtig verstehen willst, so mußt du diese Wörter in diesem bestimmten Sinne verstehen, d. h. bei jedesmaligem Vorkommen die Gleichung, die ihren Wert

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ausdrückt (d. i. meine Definition), dir ins Gedächtnis zurückrufen“. Wer danach, um dieses ausschließlichen Zweckes willen (den Autor zu verstehen), sich richtet, erklärt damit nicht zugleich, auch seinerseits die Wörter in jenem Sinne gebrauchen zu wollen. Will und tut er dies, so geht er gleichsam eine terminologische Konvention mit dem Urheber jener Definitionen ein. Auf diese Weise können sich viele kleine Sprach-Inseln bilden – in der Philosophie als Sekten oder Schulen bekannt – deren Bewohner jenseits ihrer Grenzen von Niemandem verstanden werden, während sie unter sich die Wertzeichen ihrer Begriffe als vollgültig geben und empfangen. In diesem Sinne ist vor 60 und 70 Jahren der „Hegel-Jargon“ berufen gewesen. Hieraus kann sich zunächst ein Zustand ergeben, dem ähnlich, der zwischen verschiedenen wirklichen Sprachen besteht. Man kann aus einer Sprache in die andere übersetzen – aber man weiß auch, daß dies immer mangelhaft bleibt, zuweilen so gut wie unmöglich ist: manche Ausdrücke und Wendungen sind „unübersetzbar“, warum? Weil das eine Volk kein Wort für die entsprechende „Sache“ besitzt, und es besitzt kein solches Wort, weil es die „Sache“ nicht kennt, d. h. aber (da es hierbei zumeist nicht um materielle Dinge sich handelt), weil es kein Bedürfnis fühlte, einen gewissen Komplex von Vorstellungen und Gefühlen durch einen Namen zu „begreifen“. Dies zeigt sich besonders in dem Mehr oder Minder von Unterscheidung: was man nicht unterscheidet, das sieht man nicht, und auch jede Kombination oder Synthese muß als etwas Unterschiedenes und Besonderes vorgestellt werden, um für ein Subjekt überhaupt „da zu sein“. So in der Philosophie. Man verlachte im 17. Jahrhundert die quidditas der Skotisten als sinnlos; für diese – in ihrem Systeme – hatte das Wort aber eine ganz bestimmte Bedeutung. Im 17. Jahrhundert hatte man das Bedürfnis nicht mehr (oder so viel weniger), diesen Sinn zu unterscheiden, d. h. zu denken, man hatte sein Interesse in eine andere Richtung gewandt. Voraussetzung für das Bedürfnis einer gemeinsamen Ausdrucksweise ist ein gemeinsames Interesse und ein darin wurzelndes gemeinsames Denken. Nur insoweit als dieses vorhanden, ist es verhältnismäßig einfach und leicht, sich über die Ausdrücke „zu verständigen“. Dies „gemeinsame Denken“ bedeutet nicht so viel als „gleiches Meinen“ oder „übereinstimmendes Urteilen“ – im Gegenteil, es soll ja auch die Basis dafür bieten, daß man über die wirklichen Differenzen des Meinens und Urteilens zur Klarheit also zur 24

quidditas: D. i. ein scholastischer Ausdruck für die Washeit, Wesenheit (Substanz) eines Dinges (von: lat. quid? was?), hier anspielend auf die Anhänger des Franziskaners Johan Duns Scotus.

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Verständigung gelange. Es bedeutet aber, daß man dieselben Gegenstände des Denkens erkennen und anerkennen, oder – in komplizierteren Fällen, daß man die Probleme, die Streitfragen selber, in gleichem Sinne verstehe. Davon sind wir nun auf keinem Gebiete so weit entfernt, wie auf dem der Psychologie und dem mit ihr – wie ich behaupte – ganz und gar verwachsenen der Soziologie; eben darum aber auch in der „eigentlichen“ Philosophie, denn diese ist – möge man sie als Logik, als Metaphysik oder als Erkenntnistheorie verstehen – nichts ohne psychologische Fundamente. Besser müßte es damit stehen, wenn das Bedürfnis der Verständigung und also eines gemeinsamen, gleichartigen Denkens allgemein empfunden wäre. Das ist eben nicht einmal zwischen den Teilhabern an derselben Sprache der Fall; geschweige denn zwischen verschiedenen Sprachgebieten, von denen jedes seine eigene gelehrte Sprache ausgebildet hat, seitdem die alte Gelehrtensprache – das Neulateinische – in Verfall geraten ist. Und in keinem ist diese gelehrte Sprache scharf geschieden von der Sprache des täglichen Lebens. Ja, es wird nicht nur für ein Verdienst gehalten, sondern sogar ziemlich ungestüm gefordert, daß wissenschaftliche Werke gerade auf diesen Gebieten „gemeinverständlich“ sein sollen; die populären (exoterischen) und die strengen (esoterischen) Darstellungen derselben Gegenstände werden nicht auseinandergehalten. Und doch ist eine Wissenschaft nicht möglich ohne Begriffe, d. h. ohne scharf begrenzte Denkobjekte; dagegen hat die Sprache des täglichen Lebens solches Bedürfnis garnicht: sie ist zwar sehr reich in der Bezeichnung psychischer Wirklichkeiten; aber es sind immer nur die Gefühle, Empfindungen usw. dieser bestimmten redenden Menschen, die sie ausdrücken und wohl auch beschreiben will, aber nicht Gefühle und Empfindungen an und für sich, die als bei allen Menschen oder sogar Tieren vorhanden gedacht werden müssen. Da sie immer hauptsächlich auf die Fantasie wirken will, so hilft sich die Sprache des Lebens mit metaphorischen Ausdrücken; und diese gehen in die wissenschaftliche Sprache über, ohne in ihrer Ungenauigkeit erkannt zu werden. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Sprache werden zwar immer neue Versuche gemacht, die Wortbedeutungen zu fixieren. Damit verbindet sich aber allzuoft der Irrtum, als wäre dies ebensoviel als das Wesen der Sache „erklären“. Es wird verkannt, daß Begriffe unter allen Umständen psychische Gebilde sind, die von den Sachen verschieden, diese nur repräsentieren, auch wenn die Sachen selber psychische Tatsachen und Gebilde sind; ferner, daß es zwei Gattungen von Begriffen gibt, die in der Logik wohl als analytische und synthetische unterschieden werden, die aber auch empirische und rationale heißen können: jene erwachsen unmittelbar aus den

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Vorstellungen, d. h. aus Erinnerungen, sie sind nur Allgemein-Vorstellungen, daher je weiter, desto ärmer an Merkmalen, also an Inhalt. Diese, die wohl auch unter dem Namen der „Idee“ oder des „Typus“ auftreten, sind reinere Gebilde des Denkens; ihnen wird der Reichtum eines individuellen Objekts gegeben, das die Allgemein-Vorstellung oder den empirischen Begriff repräsentiert, wie dieser die Menge der einzelnen Vorstellungen, aus denen er „abgezogen“ ist. Die Gattung (B) verhält sich zur Gattung (A) wie in einem speziellen (alltäglichen) Gebiete ein Maßstab zur bloßen AllgemeinVorstellung eines Längenmaßes. Der Armut an Merkmalen entspricht hier der Mangel eines materiellen Substrats; ohne dieses ist nur eine Schätzung möglich, z. B. nach der durchschnittlichen Länge eines männlichen Fußes (welche Vorstellung auf einer unbestimmten Menge von erfahrungsmäßig bekannten Füßen beruht). Eine eigentliche Messung geschieht schon, wenn ich meinen individuellen Fuß als Maßstab gebrauche; was aber durch die Messung in der Regel erreicht werden soll, wird erst möglich, wenn eine bestimmte Länge, an einem bleibenden individuellen Gegenstande verifizierbar und korrigierbar, soziale Gültigkeit als Maß-Länge erworben hat, z. B. der rheinische Fuß, von dem ein Modell aufbewahrt wird. Und eine neue Aufgabe ist sodann, ein allgemein giltiges Längenmaß mit den Maßen anderer Größen in ein System zu bringen. In der Psychologie werden, soviel ich sehe, die beiden Gattungen von Begriffen noch nicht gehörig unterschieden; und soweit als eigentliche Begriffe zur Anwendung gelangen, kommen sie über das Stadium der individuellen Füße nicht hinaus, oder kommen höchstens dem in einer Landschaft, einem kleinen Verkehrsgebiete giltigen Maßstabe gleich. Oder, wie Eucken in seiner trefflichen, grundlegenden „Geschichte der philosophischen Terminologie“ vor 25 Jahren mit einem anderen Gleichnisse sich ausdrückte, die Kunstausdrücke (der philosophischen Schulen) sind wie Scheidemünze: sie haben keinen Kurs außerhalb ihres engen Bezirkes. Eu­cken hat, wenn ich nicht irre, kein besonderes Gewicht darauf gelegt, die Begriffe von ihren Ausdrücken zu unterscheiden; wohl aber hebt er selbst hervor, daß es immer verschiedene Denkweisen sind, die in den verschiedenen Terminologien sich reflektieren. Und ich meine, daß jeder wissenschaftlich Denkende hierüber zur Klarheit kommen sollte, daß es zweierlei ist: Begriffe bilden und sie

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wie Eucken: Vgl. Eucken 1879: 162: „Indessen gleichen die Termini solcher Sekten den Scheidemünzen, deren Geltung nicht über das enge Gebiet hinausreicht“.

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benennen 9. Und darüber, daß es vor allen Dingen wichtig ist, in Betreff des Wesens und Inhaltes der notwendigen und zweckmäßigen Begriffe sich zu einigen. Da kommen zu den Begriffen der Wirklichkeit die rein logischen Hülfsbegriffe hinzu, die auf psychologische gleichermaßen wie auf materielle Gegenstände Anwendung finden. Die Bearbeitung und Feststellung dieser Begriffe – wie notwendig und zufällig, möglich und wahrscheinlich, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel – war es eigentlich, die unter den alten Namen der Metaphysik oder „ersten Philosophie“ oder Ontologie gesucht wurde, und jetzt in der „Erkenntnistheorie“ ein neues Obdach gefunden hat, nachdem jene Namen – hauptsächlich durch ihre Verbindung mit theologischen Vorstellungen – in Verruf geraten sind. Hier liegen nun die Kunstausdrücke selber in jeder Sprache fest, und wegen ihrer Übersetzung aus einer Sprache in die andere kann kaum ein Zweifel entstehen. Um so mehr wird eine übereinstimmende und genaue Fixierung ihres Inhalts vermißt; um so weniger wird erkannt, daß es nicht darauf ankommt, zu entdecken, was sie etwa in irgend welchem Sprachgebrauch tatsächlich bedeuten, sondern zu statuieren, was sie, um für einen bestimmten wissenschaftlichen Gebrauch tauglich zu sein, bedeuten sollen. Und daß die Begriffe für mannigfachen Gebrauch modifiziert werden müssen, welche Modifikationen denn auch durch differenzierte Ausdrücke unterschieden werden müssen. Nächst Eucken, der nur in einem Artikel des „Monist“10 das Thema wieder aufgenommen hat, ist es englische Frau, Viktoria Lady Welby, der das Verdienst zukommt, mit großer Energie, ja mit einer edlen Leidenschaft, das Mißliche der bestehenden Zustände dargestellt und auf einen vernünftigen „sinnreichen“ Gebrauch der Sprache zu Zwecken der Erkenntnis gedrungen zu haben. Sie möchte eine eigene Disziplin begründen und das Verständnis dafür schon durch den Schul-Unterricht anbahnen, die sie früher „Sensifics“, das Studium des Sinnes, nannte, nämlich des Sinnes, den Wörter über 9 Vor sprachlichen Ungeheuern schreckt die Chemie nicht zurück – und tut ihrer Popularität dadurch keinen Eintrag –, wenn sie den Ursprung neuer Synthesen in Kunstwörtern anzudeuten sucht, die die Länge einer ganzen Zeile gewinnen. Sie ist aber durch ihr vorzügliches Buchstaben- und Ziffern-System immer in der Lage, die kompliziertesten Namen im gewöhnlichen Gebrauch entbehrlich zu machen. 10 Philosophical terminology: expository and appellatory. Monist VI, 497 ff. (July 1896). Als ich die Preisschrift verfaßte, war mir diese Abhandlung unbekannt. Auch wußte ich damals von Lady Welby’s Bemühungen nichts, und der Ursprung der Preisaufgabe war mir fremd.

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ist es englische Frau: sic!

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haupt haben können und den sie haben sollten; daraus müsse methodisch erlernt werden, wie ein Gedanke am treffendsten, am zweckmäßigsten und am schönsten ausgedrückt werde. „Denn in der Regel finden diejenigen, die am meisten zu sagen haben, es nicht am leichtesten, es zu sagen. Im Gegenteil, die größten Geister sind es oft, die am meisten sich beklagen über die Unzulänglichkeit von Worten, ihr ganzes Denken auf angemessene Art auszudrücken, und über das Versagen des gewöhnlichen Lesers ihnen zu folgen, selbst wo Worte ihnen in zureichender Weise gedient haben“ 11. Lady Welby hat, außerdem, daß sie diese allgemeinen Anregungen gegeben, noch in mehreren kleinen Broschüren „Zeugnisse“ wissenschaftlicher Autoren (hauptsächlich englischer) gesammelt, die den Zustand der Terminologie, sogar in der Naturwissenschaft, wo man das Übel viel weniger vermutet, zwar nicht systematisch, aber durch die Vielstimmigkeit um so beredter, darlegen. Die einleitenden Worte, die sie zu diesen „Witnesses of Ambiguity“ (in Philosophie und Psychologie)12 geschrieben hat, sind durchaus wert, hier (in Übersetzung) wiederholt und allen, die für die Bedeutung der Sache Verständnis haben, ans Herz gelegt zu werden. Sie lauten nämlich: „Die folgenden Eingeständnisse einer irreführenden oder lähmenden Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit des Ausdruckes (wo sie oft am wenigsten vermutet werden und am meisten Schaden tun) sind nur Beispiele, ausgelesen aus einer viel größeren Anzahl, und diese wiederum sind nur ein Zehntel von dem, was mit Leichtigkeit gesammelt werden könnte in anerkannten und weitverbreiteten Werken der modernen Literatur; man wird sehen, daß die Fälle aus den verschiedensten Quellen geschöpft sind. Der Zweck dieser Sammlung ist, dazu zu helfen, daß ein Mißstand bekannt werde, der beständig ignoriert und zuweilen sogar geleugnet wird; der aber eine Hauptursache der vielfachen Unfruchtbarkeit umlaufender Erörterungen, der Verwirrung in Sachen von dringender Wichtigkeit, der Hoffnungslosigkeit in bezug auf die Möglichkeit ist, zu einer wirklichen Lösung von „Rätseln“ zu gelangen, 11 V. Welby, Grains of Sense. London 1897. XI u. 146 S. Ein so geistreiches und unterhaltendes, als ernsthaftes und unterrichtendes Büchlein. Neuerdings zieht die Autorin den Ausdruck Significs vor, und will das Studium der Zeichen schlechthin, und ihrer Werte, zu einer pädagogischen und ethischen Bedeutung erheben. Besser dürfte ein dem Griechischen entlehnter Name, etwa Semantik, dieser Idee sich anpassen. 12 Grantham 1891, W. Clarke.

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einleitenden Worte: Das Original konnte nicht eingesehen werden. 1897: Das Original konnte nicht eingesehen werden.

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denen vielleicht nur ein Überlebsel oder ein Wechsel von Wortbedeutungen zu grunde liegt, die als solche nicht erkannt worden sind. – Sicherlich, so lange wir uns nicht bewußt werden, wie viel Unklarheit und sogar erbitterter Streit wenigstens teilweise auf diese Ursache zurückgeführt werden kann, so lange dürfen wir nicht hoffen, daß es besser damit werde. Und ob es besser werden kann oder nicht, es muß ein Gewinn sein, zu wissen, wie es damit steht. Zur Hälfte liegt das Übel gerade daran, daß man allgemein annimmt, „selbstverständlich“ bedeute das Wort x die Sache y, und daß weiter nichts darüber zu sagen sei.“ – Systematisch hat sodann Lady Welby ihre Gedanken über „Sinn, Bedeutung und Auslegung“ in 2 Artikeln des „Mind“ 1896 entwickelt, und hieran anknüpfend erhob der französische Philosoph André Lalande in der Revue de Métaphysique et de Morale 1897 seine Stimme13 , um zur Herbeiführung eines „Reiches der Ordnung“ in den philosophischen Studien mitzuwirken. Er plädiert für eine „philosophische Gesellschaft“, die sich dieses Ziel ausdrücklich setzen solle; durch sie meint er auf die „philosophische Propädeutik“ in den Gymnasien – Lalande war Professor am bekannten Lycée Michelet – wirken zu können: „sie allein kann die genügende Autorität besitzen, so lange wir nicht einen Minister haben, der selber Philosoph und Schulmeister wäre, um Ordnung in ein Gebiet zu bringen, das tatsächlich ein Chaos darstellt“14 . 13 „Le langage philosophique et l’unité de philosophie“, l. c. S. 566–588. 14 (Zusatz 1906.) Von Herrn Lalande ist das Thema ferner behandelt worden in einem Vortrage auf dem internationalen philosophischen Kongreß (Paris 1900) „Sur la critique et la fixation du langage philosophique“ (abgedruckt in der Bibliothèque du Congrès intern. de philos. I „Philosophie générale“). Er bezieht sich darin auch auf meine Arbeit, die ihm in der englischen Übersetzung bekannt geworden ist, und gibt sehr gute Beispiele philosophischer Mehrdeutigkeiten an den Worten „Evolution“ und „Natur“. Die frühere Anregung wird dahin erweitert, daß jede Nation ihren philosophisch‑terminologischen Verein haben, und daß diese Vereine in beständigem Verkehr miteinander stehen sollten. Auch die Schrift des Dott. Giovanni Vailati: „Alcune osservazioni sulle questioni di Parole nella storia della scienza e della cultura“ (Torino 1899) lernte ich erst kennen, nachdem die obigen Mitteilungen publiziert waren. Diese am 12. Dez. 1898 gehaltene Vorlesung 11 12

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2 Artikeln des „Mind“: D. i. „Sense, Meaning and Interpretation“; vgl. Welby 1896: 24–37 u. 186–202. 1897: Korrekt 1898 : 575: „Avant de songer à l’examen des moyens pratiques qui peuvent amener dans nos études le règne de l’ordre, il n’est pas inutile de répondre aux objections contre cet ordre même, dont la recherche paraît à beaucoup des philosophes – …“; ebd. : 584 u. 586 das Plädoyer für die „societé de philosophie“ ; das folgende Zitat ebd. : 585. Vortrage: Vgl. Lalande 1900: 257–280.

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Nachdem die Preisschrift in englischer Übersetzung, die mit Kenntnis und Sorgfalt Mrs. Bosanquet verfaßt hatte, im „Mind“ gedruckt worden, erschienen in derselben Zeitschrift: Notes on the Welby Price Essay (Vol. X No. 38 S. 188–204) von V. Welby, der schon genannten Urheberin des Preises. Diese Anmerkungen folgen dem Gedankengange meines Werkchens mit sehr dankenswerter Aufmerksamkeit und vieler Anerkennung. Jedoch verhehlt die Verfasserin in mehreren Punkten ihre Zweifel und abweichenden Ansichten nicht. Ihre Güte gab sich aber auch darin kund, daß sie dem Verfasser das Manuskript dieser Anmerkungen übersandte, um ihm für eine Entgegnung Raum zu gewähren. Diese kurze Entgegnung wurde in englischer Sprache geschrieben, sie schließt sich an der bezeichneten Stelle S. 204–209 an. Sie wird hier im deutschen Texte wiedergegeben; es wird daraus zugleich ersichtlich sein, welchen Inhalt Lady Welby’s Einwendungen hatten. Nachdem mein schuldiger Dank abgestattet worden, lautet die Entgegnung wie folgt: Die Verfasserin der „Anmerkungen“ geht geradewegs auf die praktische Seite des Gegenstandes. Ihr leitender Gedanke ist Befreiung von überkommenen Formen des Ausdruckes, sofern sie dem eigentlichen Zwecke, für den sie bestimmt waren, nicht mehr angemessen sind. In dieser Allgemeinheit schien mir der Gedanke nicht unmittelbar zu der Frage der philosophischen und psychologischen Terminologie zu gehören. Ich anerkenne aber durchaus, daß er mit dieser Frage einen bedeutenden Zusammenhang hat. Der Übergang von dem Bedürfnis, das technische Idiom des Denkens zu verbessern, zu dem allgemeineren Bedürfnis, die Sprache der Unterhaltung und der Literatur vollkommener zu machen, ist allerdings unvermeidlich, berührt sich in mehreren Punkten (ohne daß wir von einander wissen konnten) mit meinen hier vorliegenden Ausführungen. 1

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II.: Thema laut „Übersicht“: (Auseinandersetzung mit einer Kritik.) Die Idee einer allgemeinen Reform der Ausdrucksweise – Bedeutung für Wissenschaft – Schädlichkeit beabsichtigter Missverständnisse – unfreiwillige – Wert pädagogischer Einflüsse – Bedeutung und Ausdruck – die Analogie des Geldes gerechtfertigt – Metaphern und Analogien – Gefahren der ernste Wille zum Verstehen – das Reale – eine internationale Ratbehörde – die allgemeine Sprache. in englischer Übersetzung: Siehe Anmerkung oben, S. 240. von V. Welby: Vgl. Welby 1901; siehe auch Tönnies’ (1901b) Entgegnung mit fehlerhaftem Titel (Notes on the ‘Welby Prize Essay’) im Editorischen Bericht, S. 515–520.

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so lange als jene als Teil einer empirisch gegebenen und „lebenden Sprache“ betrachtet wird. Indessen kann doch (z. B.) die Sprache der Chemie von allen Einflüssen der gewöhnlichen Redeweise sich frei erhalten; denn da die gewöhnliche Rede alle ihre chemischen Kenntnisse und Ausdrücke von der wissenschaftlichen Chemie entlehnt, so empfängt sie fast nur und gibt sehr wenig. Anders ist es mit Psychologie und Metaphysik. Das tägliche Gespräch gebildeter Menschen, und die allgemeine Literatur, sind voll von psychologischen und metaphysischen Begriffen, die – wenigstens auf bewußte Weise – nicht aus irgendwelchem philosophischen System bezogen sind, sondern den Anspruch erheben, in der Natur oder im gesunden Menschenverstand, oder – in der Sprache selber begründet zu sein. So lange daher als die philosophische Sprache nicht scharf abgegrenzt ist gegen die allgemeine Sprache – m. a. W. so lange als Autoren Wörter dieser allgemeinen Sprache ohne weiteres in philosophischen Gebrauch nehmen, als ob sie jedenfalls richtig verstanden werden müßten von jedem, der diese Sprache kenne – so lange werden die Verworrenheiten und Unklarheiten dieser allgemeinen Sprache auch ferner in die philosophischen Systeme sich hineinschleichen. Und folglich wird, wenn man die Philosophen auffordert, strenger und auf weniger mißverständliche Art sich auszudrücken, diese Aufforderung so gut wie erfolglos sein, es sei denn, daß eine allgemeine Regel durchgesetzt werden könnte, wonach man in allen Dingen auf strengere, unmißverständlichere, weniger zweideutige Art sich ausdrücken würde. Es wäre allerdings ein vorzüglicher Gegenstand für eine besondere Untersuchung – die in ihrer Tragweite mehr soziologisch als individualpsychologisch oder sprachwissenschaftlich wäre –, die Quellen lockerer und leichtfertiger Redeweise und daraus folgender beständiger oder häufiger Mißverständnisse zu erforschen. Hier möge nur soviel darüber gesagt werden: alle Arten von Mißverständnis, möge der Redende sie wohl gar beabsichtigt haben oder nicht, sind, wenn dauernd in den Seelen wirksam werdend, Symptome einer tiefgewurzelten Verderbnis des menschlichen Zusammenlebens. „Et la pâle famine et la peste effroyable N’égalent point les maux et les troubles divers, Que les mal-entendus sèment dans l’univers.“     (Boursault) 3 4

(Boursault): [frz.] Und der bleiche Hunger und die entsetzliche Pest gleichen nie dem Übel und der Aufruhr, die Missverständnisse in der Welt säen. – Das Zitat konnte bei Boursault nicht nachgewiesen werden, jedoch in Voltaires „Dictionaire philosophique“ (1785: 353).

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Und freilich werden sie (die Mißverständnisse), wie alles schädliche, verschlimmert dadurch, daß die Absicht darauf gerichtet ist, Übel zu bewirken, indem nämlich Worte und Redewendungen zu dem Zwecke gebraucht werden, „die Gedanken zu verbergen“, oder wenigstens mit dem Wunsche und der Hoffnung, daß sie in einem gewissen Sinne, der den Zwecken des Redenden gemäß ist, aufgenommen und verstanden werden, obgleich er selber das nicht eigentlich „sagen“ oder „gesagt haben“ will, d. h. wie in diesem Falle ganz eigentlich zu verstehen, von aller Verantwortung sich freihält. – Nun versteht sich freilich von selbst, daß jeder Versuch, die Sprache zu verbessern, voraussetzt, daß wir ernstlich gewillt sind, uns verstanden zu machen und einander zu verstehen, auf so vollkommene Art wie möglich. Daher gehen uns hier nur die auf beiden Seiten unfreiwilligen Mißverständnisse an. Und da ist es denn durchaus richtig und verdienstlich, wenn Lady Welby nachdrücklich betont, daß sehr viel mehr getan werden könnte und getan werden sollte, um Mißverständnisse zu vermeiden – 1. dadurch, daß alle Weisen des Ausdruckes entwickelt und organisiert würden; 2. dadurch, daß wir uns selber, und besonders dadurch, daß wir die Jugend dazu erziehen, diese Weisen sorgfältig zu deuten, die verschiedenen Arten von „Sinn, Meinung, Bedeutung“ [Lady Welby’s Trias: sense, meaning, significance, siehe unten] zu unterscheiden, um die Gefahren zu vermeiden, die in aller Bildersprache und in rhetorischen Figuren verborgen sind. Ich bekenne, daß es mir, ehe ich mit den Ideen und Bestrebungen Lady Welby’s bekannt wurde, nicht klar geworden ist, welches weite Feld sich hier gerade der pädagogischen Reform eröffnet. Ich betrachte es ebenso als eine reelle Bereicherung meiner Gedanken über die Gültigkeit des Wortsinnes, was Lady Welby über die Macht des Zusammenhanges (des Kontextes) über einzelne Worte und – umgekehrter Weise – leitender Worte über die Bedeutung vieler Worte bemerkt hat, von denen manche, wie sie sich ausdrückt, „nur einen gewissen Kern von Bedeutung haben, von dem ihre Wert-Schwankungen ausgehen müssen“. Und es ist durchaus wahr, was sie hinzufügt, daß die geschriebene Sprache, wie sie ist (im Englischen vielleicht mehr als sonst), beinahe aller der Hülfsmittel entbehrt, um seinen „Sinn“ verstanden zu machen, die eine gesprochene Sprache besitzt, und daß hier ein weites Feld für den Anbau offen liegt. Die Verfasserin geht hier vorüber an der Frage der Interpunktion, die ja ihrem Ursprunge nach ein Mittel (wenn auch nur ein ziemlich armseliges) ist, um die Weise anzuzeigen, in der ein Schriftsteller seine Sätze gelesen haben will. Wie wenig ist geschehen, um dieses Mittel aus seiner Kindheit heraus zu entwickeln! Sogar ist die Anwendung dieses schwachen Gerätes

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keineswegs geregelt; nach Herkommen ist sie verschieden in verschiedenen Sprachen; so daß, um eine fremde Sprache richtig zu lesen, wir zwar, wenn es eine Sprache unserer westlichen Kultur ist, nicht nötig haben, ein neues Alphabet, wohl aber nötig haben, eine neue Interpunktion zu erlernen, wenn wir nicht vorziehen, wie es wahrscheinlich die meisten Leute tun, uns ihres Gebrauches gänzlich zu entschlagen. Alles dies betrifft indessen den Sinn und die Bedeutung von Sätzen, ganzen Perioden oder, wie Lady Welby sagt, eines Textes, also nur auf indirekte Art den Sinn der einzelnen Worte. Die kritischen Bemerkungen kommen aber auf dies eigentliche Thema zurück, indem sie die gesetzgeberische Wirkung der Wissenschaft anzweifeln. Ich habe in dieser Hinsicht ein Ideal und nicht die Wirklichkeit vorstellen wollen, die aber wenigstens in einigen der Naturwissenschaften, z. B. in der Astronomie und in der Chemie, dem, was man ein Muster nennen kann, ziemlich nahe kommt. Was Synonyme betrifft, so glaube ich, es darf nach deutschsprachlicher Erfahrung bestätigt werden, daß wir „nach allen Seiten hin diesen Schatz verwüstet werden lassen“. Insbesondere verführt eine übertriebene und besinnungslose Abneigung gegen „Fremd-Wörter“ dazu, diese abzustoßen, auch wenn ihnen spezialisierte Bedeutungen anhaften, die sie von den entsprechenden einheimischen Ausdrücken abheben – sie abzustoßen, ohne daß man in der Lage ist, Eigenwörter einzusetzen oder neu zu bilden, die mit den gleichen Vorstellungen assoziiert sind. Die Verfasserin der „Anmerkungen“ hat hier eine – für ihre Auffassung charakteristische – Auslassung eingefügt über das, wie sie sagt, „vornehme“ Wort „Bedeutung“ (Significance). „Ein Begriff, wie der des Logos, kann freilich auf grobe und buchstäbliche Art mißdeutet oder gar in ein „Dogma“ krystallisiert auftreten, und doch mag eine Zeit kommen, wo wir uns freuen werden, wenigstens in dieser Form die Wahrheit angeschaut zu haben, daß das (echte) Wort des (echten) Sprechers schöpferischer, heiliger, gewaltiger ist, als unsere gewöhnlichen Ideen vom Wesen der Sprache ahnen lassen. Wenn der Redner, sogar wie er jetzt sich uns darstellt, bei seinen Zuhörern wohl eine Kraft der Begeisterung und des Entschlusses erweckt, die dazu helfen kann, das Angesicht der Welt und den ganzen Gang der Kultur zu verändern, oder wie man sagt, „das härteste Herz zu schmelzen“ vermag – was zuweilen die schwerere Aufgabe ist –: wenn die Worte in einem Buche durch die Jahrhunderte hindurch so die Menschheit in Schwingung versetzten können, daß sie als „Offenbarung“ par excellence gelten und von unzähligen Mengen beinahe abergläubisch verehrt werden – so dürfen wir uns allerdings versichert halten,

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daß der Ausdruck in Formen, die wir bis jetzt nur schwach uns einzubilden vermögen, in gewissem Sinne Sitten und Gebräuche rechtfertigen wird, in denen wir jetzt entweder bloßes Dogma, das von gedankenlosem Glauben angenommen werden will, oder das Überlebsel von naivem Mythus erblicken“. Lady Welby erhebt Einwände gegen die „Analogie des Geldes“. Es war aber nicht meine Meinung, den Gebrauch eines „Bildes“ zu verteidigen; und ich bin, nicht weniger als meine gelehrte Gönnerin, davon durchdrungen, daß es falsch sein würde, Sprache „figürlich zu definieren“ durch jene Analogie. Ich habe nur darauf hinweisen wollen, daß unter den vielen sozialen Symbolen, mögen sie konsensueller (wie ich hier sagen möchte) oder konventioneller Natur sein, die alle den Worten gar sehr unähnlich sind, geringwertiger als sie und sogar von ihnen abhängig, es doch einige gibt, und zwar solche, die in der empirischen Kultur eine höchst wichtige Rolle spielen, die gewisse charakteristische Züge mit Worten gemein haben und wohl geeignet sind, das Wesen und die Macht verschiedener Formen von sozialem Willen zu illustrieren. Das sind die Zeichen ökonomischen Wertes, d. h. des Tauschwertes. Sie haben ebenso wie Worte selber, im eminenten Sinne des Wortes einen sozialen Charakter. Wie Worte von Gehirn zu Gehirn wandern, so gehen die Zeichen des Tauschwertes (Geld, seine Vorgänger und seine Ersatzmittel) von Hand zu Hand – sie führen eine Bedeutung mit sich, außer dem, was sie sind – d. h. sie müssen außer dem, als was sie den Sinnen [und dem an sie gebundenen Verstand] erscheinen, intellektuell gedeutet werden: und es versteht sich, daß dieser ihr „Sinn“ eine Beziehung auf „Gehirntätigkeit“ (d. h. auf Denken) in sich schließt, sowohl im Falle des Geldes wie im Falle der Worte. (In der Tat hätte ich darauf bestimmter hinweisen sollen, und bin der Kritikerin dankbar dafür, daß sie mich auf diesen Mangel aufmerksam macht.) Die Analogie steht allerdings nicht „durch“, außer in gewissen allgemeinen Zügen, die vielleicht „äußerlich“ genannt werden dürften, wenn gleich eben dies Gleichnis, wie Lady Welby oft mit Nachdruck betont hat, sehr leicht irreführt. Wenn aber hier der allgemeine Satz ausgesprochen wird, „man könne den Wert des Geldes nicht dadurch vermindern, daß man es unterstreiche oder in Majuskeln drucken lasse“, – so wage ich doch, dazu noch eine gewisse Analogie zu finden in dem Indossieren von Wechseln, das allerdings ihren Wert in dem geschäftlichen Zirkel, wo sie ihren „Kurs“ haben, erhöht; freilich auch dies simile claudicat. Vielleicht 1 36

Ausdruck: Durch Fettdruck statt wie sonst durch Sperrung hervorgehoben. simile claudicat: [lat.] svw. (jeder) Vergleich hinkt.

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aber ließe das Unterstreichen besser noch mit einer speziellen Bürgschaft, die ein Zahlender dafür übernehmen würde, daß seine Münzen echt oder vollwichtig sind, sich vergleichen; das wird ihren Wert zwar nicht schlechthin, aber doch für den, der sie empfängt, erhöhen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich den Einwand nicht für gültig erachte, daß die „Metapher“ mit anderen, die von der Kritikerin für „wahrer“ gehalten werden, sich nicht vereinigen lasse. Ich würde Metaphern nicht als mehr oder weniger „wahr“, sondern als mehr oder weniger illustrierend und dadurch nützlich hinstellen. Übrigens aber ist eine Metapher nicht dasselbe mit einer Analogie. Die Kritikerin unterscheidet selber, was ich wohl durch ein Beispiel erläutern darf. Wenn ich sage: dies Wort hat keinen Kurs-Wert mehr, so brauche ich offenbar eine Metapher, die so wenig „echte Analogie“ in sich schließt, als wenn ich vom Strome des Lebens oder vom Zahn der Zeit spreche. Eine echte Analogie bedeutet, wenn ich mich nicht irre, daß mehr als ein Punkt der Ähnlichkeit vorhanden ist, daß es eine Ähnlichkeit in den Verhältnissen der Merkmale zueinander gibt, wie in einer mathematischen Proportion. Und dies wage ich aufrecht zu erhalten, daß eine echte Analogie existiert zwischen Worten als Zeichen von Ideen, und Münzen oder anderen Zeichen von Tauschwert. Eine Gefahr haftet sicherlich allen Analogien wie allen Metaphern an, wenn sie nicht in gehöriger Weise verstanden werden (natürlicherweise werden Metaphern leichter verstanden). Aber die Kritikerin zeigt durch die Sätze, mit denen sie den Abschnitt schließt, deutlich, daß sie vortrefflich verstanden hat. Und in bezug darauf möchte ich hinzufügen, daß „Philosophie oder Wissenschaft oder überhaupt alles ernste Denken“ schwerlich darauf abzielen kann, den „gewöhnlichen Leser“ zu überzeugen oder zu unterrichten, der in der Regel alle diese Arten „gelehrten Jargons“ allzugründlich verachten wird, und der in der Tat, wie Plato jungen Leuten rät, die nicht ihren Kursus in der Geometrie durchgemacht haben, „mein niedriges Dach“ besser vermeiden wird. Denn, wie derselbe Plato (in der Republik) so trefflich sagt, keine Wissenschaft oder Lehre kann sich in Seelen einprägen, die nicht den ernstlichen Willen haben, sie zu empfangen, d. h. vor allem, sie zu verstehen. Und ist nicht dies Motto der wahre Kern dessen, worauf meine verehrte Gönnerin selber abzielt? – 10 29

mit einer Analogie: sic! „mein niedriges Dach“: So nicht bei Platon; das angebliche Akademie-Motto („mêdeis agêometrêtos eisitô“, μηδεῖς ἀγεωμέτρητος εἰσίτω = Kein Unkundiger der Geometrie trete ein!) geht vmtl. auf Johannes Philoponos zurück.

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Die „Anmerkungen“ enthalten auch in bezug auf das zweite Kapitel meiner Schrift manche wertvolle Anregungen, die meine eigenen Ansichten über das „Übel und seine Heilmittel“, Ansichten, die ich nur zagend mitgeteilt habe, weiter zu entwickeln geeignet sind. Insbesondere bin ich der Kritikerin dankbar dafür, daß sie auf die „nur zu gewöhnliche Verwechslung von Trennung und Unterscheidung“ [im wissenschaftlichen Sprachgebrauch] aufmerksam macht. Was den Ausdruck „real“ betrifft, so werde ich gewiß nichts dagegen haben, daß er für die „physische“ Welt reserviert wird, sobald nur ein allgemeines Einverständnis herrscht, daß das „Reale“ nicht das einzige „Existierende“ oder gar „Seiende“ ist. Alles wäre hier leicht zu erledigen, wenn nur Autoritäten anerkannt und Gesetze beobachtet würden. Der dritte Teil der Anmerkungen führt mich zu den Schlußsätzen, die mich nur erfreuen können durch die volle Zustimmung und Würdigung, die meine Skizze über die Art der Abhülfe bei der aufgezeichneten Kritikerin gefunden hat. Ich gebe auch zu, daß es vielleicht schicklicher wäre, von einer internationalen Auskunftsstelle (an International Council of Reference), anstatt von einer Akademie, zu sprechen, wenn nur jener Name nicht zu lang wäre. Sicherlich sollte es nichts sein als ein beratendes Konzilium; es würde keine Zwangsgewalt haben; es würde nicht wirken außer durch Argumente und Gründe. Aber das Bedürfnis einer allgemeinen Sprache halte ich für gebieterisch; dasselbe Bedürfnis wird von den vorhandenen nationalen Akademien und gelehrten Gesellschaften eben jetzt sehr stark empfunden, und es ist sehr merkwürdig für mich gewesen, daß gerade ein Jahr später, als ich meine Preisschrift verfaßt hatte (also ehe sie gedruckt war), eine Konferenz dieser Akademien stattgefunden hat, die sich zum Ziele setzte, die Frage der Wiedereinsetzung des Lateins in seinen alten Rang als Sprache der Gelehrtenrepublik zu erörtern. Ich teile nicht die Besorgnis, der Lady Welby Ausdruck gibt, daß „diese Wiedereinsetzung schlimmere Übel mit sich führen möchte, als die sind, zu deren Heilung sie bestimmt wäre;“ denn das Neu-Latein wäre biegsamer und geschmeidiger als irgendwelche lebende Sprache, und könnte sehr wohl „der gegenwärtigen Neigung, archaische Redefiguren zu gebrauchen“ entgegenwirken (anstatt, wie Lady Welby meint, diese zu begünstigen); und was die Gefahr betrifft, von der hier ferner gesprochen wird, – nur durch die größte Behutsamkeit werde sich verhindern lassen, daß es die Fesseln des Formalisten noch fester schmieden würde, als sie schon sind – warum sollte diese größte Behutsamkeit nicht angewandt werden, um der Gefahr zu begegnen? 15

der aufgezeichneten Kritikerin: Korrekt: ausgezeichneten Kritikerin.

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III. Im Jahre 1903 erschien – London, Macmillan & Co. – das Buch: „What is meaning? Studies in the development of significance.“ By V. Welby (XI u 321 S.) Hierin entwickelt die Verfasserin ihre Idee einer Lehre, die sie Significs nennt (s. oben) und ihre schon erwähnte Unterscheidung der 3 Begriffe, die wir vielleicht besser, als oben geschehen, durch die Wörter „Sinn, Bedeutung, Hochsinn“, wiederzugeben versuchen. Es ist aber schwerlich möglich – wie wir wünschen möchten – den Gedankengang dieses Werkes in wenigen Sätzen zu charakterisieren. Ich glaube indessen, daß, trotz einer gewissen Undurchsichtigkeit in ihrem Denken und Wollen, die Verfasserin etwas so Hohes und Edles im Auge hat, daß wir von ihren Gefühlen und Ahnungen uns gern eine Weile in ferne Regionen entführen lassen dürfen. Der Leser wird alsbald erkennen, daß die Verfasserin etwas erstrebt, was weit über das Thema dieser Schrift hinaus zielt, wenn es auch darüber schwebt. Sie behauptet und beklagt, daß der Gedanke in ungehöriger Weise geltenden Formen, Regeln und Moden des Ausdruckes dienstbar sei, daß die Sprache sich in einem so zurückgebliebenen Zustande befinde, wie ehemals die örtlichen Kommunikationsmittel, daß dem enormen Fortschritt unseres Wissens ein Fortschritt oder eine Umwälzung in den Ausdrücken dieses Wissens folgen und sich anpassen müsse; die Sprache müsse im biologischen Sinne plastisch werden, und so immer mit einer höheren, rationalen Bewußtheit gebraucht werden. „Die Dunkelheit großer Schriftsteller ist oft die Folge gerade jener Gabe von Einsicht und Vorsicht, deren ihre Leser in der Regel ermangeln.“ Von entscheidender Bedeutung ist die Richtigkeit, d. h. der tiefere Sinn von Metaphern und Analogien. Wir sollen von einer planetarischen zu einer solarischen, von dieser zu einer kosmischen Deutung aller unserer Erfahrung aufsteigen; dadurch soll diese ihre richtige Bedeutung erhalten; so erst werden wir von ptolomäischen zu kopernikanischen Analogien, und darüber hinaus, uns erheben. Die Verfasserin versucht, Sätze über einen Gegenstand in die Terminologie eines anderen 1

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III.: Thema laut „Übersicht“: (Was ist Bedeutung?) – Sinn, Bedeutung, Hochsinn – Dienstbarkeit des Gedankens – unentwickelter Zustand der Sprache – plastische Sprache – Dunkelheit – Deutungen – Übertragungen – die Schemata – das Warum? Und die Erziehung – Schaffen, Denken, Leben – der Planet, das Sonnensystem, der Kosmos. (s. oben): S. 243. Die Dunkelheit großer Schriftsteller: Vgl. Welby 1903: XVI: „The obscurity of great writers is often due to that very gift of insight and prevision their readers commonly lack“. – Siehe dazu ebd. S. 69.

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zu übertragen, und will so die innere Verwandtschaft und aufsteigende Ordnung aller Wahrheiten illustrieren. Der Mensch ist Ausdruck der Welt. Der primitive Geist wird beherrscht durch das Schema des ‚Sinnes‘ d. h. der unmittelbaren Empfindung; das Schema der ‚Bedeutung‘ hat sich mehr und mehr angebahnt, das Schema des ‚Hochsinns‘ müssen wir erstreben. Alles Lebende sucht und fragt; das Warum? ist die eigentlich menschliche Frage. Der Erzieher der Zukunft wird das Warum? des Kindes gleichsam zum musikalischen Schlüssel der Erziehung machen. Das Kind muß vor allem lernen und davon ausgehen, den ‚Sinn‘ von Worten und Dingen zu verstehen. Aber der Hochsinn, zu dem der erwachsene Mensch sich erheben soll, ist der Generalschlüssel zur Wirklichkeit. Der Mensch soll wissen, wie zu schaffen, wie zu denken, wie zu leben. Er kann schaffen nur auf dem planetarischen Niveau; er kann (und muß im höchsten Sinne) denken in der solarischen Welt. Aber leben, in dem verklärten Sinne, der das Leben wesentlich lebenswert macht, kann er nur im Kosmos. Er tritt ein in dies Leben, wenn er erreicht hat, den ‚Hochsinn‘ zu schauen (oder – zu ahnen).

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leben: Lies: leben sei.

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Zitate § 46. Bastian in Zeitschrift für Völkerpsychologie V, 174. (Berlin 1868) S. 160 „ 48. Tylor, Die Anfänge der Kultur. Deutsche Ausg. I, 297. (Leipzig 1873) „ 161 „ 55. Pascal Pensées I, 2. 3 „ 173 „ 55 und Anmerkung I. Sigwart, Logik I² § 376 „ 174 „ 57. v. Philippovich, Grundriß der politischen Ökonomie I, S. 178 „ 176 „ 57. Nasse in Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie I, 319 „ 176 „ 57. A. Wagner daselbst I, 431 „ 177 „ 63. Locke, Conduct of the understanding; Works in fol. Volume III. p. 398. „ 184 (London 1751) „ 63. Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie. S. 212. (Leipzig 1879) „ 184 „ 64. Eucken l. c. S. 162 „ 184 „ 73. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts II, 2. S. 664 „ 195 „ 73. Locke, Essay on human understanding III, 10. 34. (Works I, 237) „ 196 „ 73. Eucken l. c. S. 162 „ 197 „ 73. Paulsen l. c. II, 666 „ 198 „ 74. Kant, W. W. IV, 466. (Hartenstein) „ 199 „ 75. Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. S. 25. „ 200 (Leipzig 1895) „ 77. Bichat, Sur la vie et la mort. I, art. 3 „ 206 „ 77. Claude Bernard, Leçons sur les phénomènes de la vie p. 41. (Paris 1878) „ 206 „ 79. Carus, Paul, Primer of Philosophy p. 190. (Chicago 1893) „ 208 „ 81. James, Principles of psychology I, 6. (London 1891) „ 209 „ 83. James ibid. II, 486 und 562 „ 211 „ 83. Wundt, Physiologische Psychologie II, 4. 560. 567 „ 211 „ 83. Wundt, Grundriß der Psychologie S. 215. (Leipzig 1896) „ 212 „ 83. Wundt, System der Philosophie. 2. Aufl. S. 379. (Leipzig 1897) „ 212 „ 83. Huxley, Science and Culture p. 237 ff. (London 1888) „ 215 „ 84. Chr. Wolf, Philosophia prima sive Ontologiae prolegg § 7 (ao. 1745) „ 216 „ 84. Hegel, Logik: Werke III, S. 3 „ 216 „ 85. Dritter internationaler Kongreß für Psychologie S. 15. und S. 18. „ 217 (München 1897) „ 91. Wilkins, John, An essay towards a real character and a philosophical language „ 222 p. 385. p. 21 (London 1668) „ 91. Descartes, Lettres I, p. 611 f. (Paris 1657) „ 223 „ 91. Leibnitz, Historia et commendatio linguae characteristicae universalis, quae simul sit ars inveniendi et judicandi: Oeuvres philosophiques ed Raspe p. 535 ff. „ 224 (Amsterdam und Leipzig 1765) „ 92. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Ausg. Kehrbach S. 275. (I. Zweiter Teil, „ 224 zweite Abteilung, erstes Buch, erster Abschnitt) „ 97. Leibnitz, Nouveaux essais III, 9. 11. Oeuvres ed Raspe p. 299 „ 228 „ 98. Vgl. z. B. Dove, Maas und Messen. 2. Aufl. (Berlin 1853) Jacobi Unité des „ 228 poids et mesures. (Petersburg 1865)

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Zitate: Die folgenden Seitenangaben sind dieser Ausgabe angepasst; die Nachweise sind in die editorischen Fußnoten am Seitenende aufgenommen und ggf. bibliographisch ergänzt bzw. korrigiert worden.

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II. Schriften

Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre

1 Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre: Der Text erschien mit diesem Titel und in sechs Teilen zuerst im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] (1905, 29. Jg., Heft 1, S. 27–101). Die folgenden Teile haben Untertitel: „Zweiter Abschnitt“ (1906, 30. Jg., S. 1283–1321 [Heft 4, S. 49–87]); „Dritter Abschnitt“ (1906, 30. Jg. Heft 1, S. 121–145); „Vierter Abschnitt. Eine Replik“ (1907, 31. Jg. S. 487–552 [Heft 2, S. 49–114]); „(Nachträge)“ (1909, 33. Jg., S. 879–894 [Heft 3, S. 17–32]); „Zweite Nachlese“ (1911, 35 Jg., Heft 1, S. 375–396). Der Text wurde überarbeitet wieder abgedruckt unter dem Titel „Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung“ in: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung. Jena: Fischer 1925, S. 133–329. Entsprechend den Editionsrichtlinien ist diese letzte Fassung mit Erläuterungen versehen im Band 15 der Tönnies-Gesamtausgabe (S. 205–448) aufgenommen worden. Der Text dokumentiert die Position des Soziologen Ferdinand Tönnies, die er im Rahmen eines Preisausschreibens zur Deszendenztheorie (vgl. Preisausschreiben 1900) und allgemeiner in Auseinandersetzung mit eugenischen und gesellschaftspolitischen Theorieansätzen formuliert hat. Für die Wiederveröffentlichung in den „Soziologischen Studien und Kritiken“ kürzte Tönnies Teile seiner Schrift um insgesamt etwa 20 Druckseiten. Er verzichtete auf den Wiederabdruck jener Passagen, die im Wesentlichen die Polemik gegen die Preisstifter und insbesondere gegen den ersten Preisträger, Wilhelm Schallmayr, enthielten. In TG 15 (S. 653–693) befindet sich die umfangreiche Darstellung der Abweichungen der ersten Fassung.

Die Sozialdemokratie in Küche und Keller Hiermit – nämlich mit der Sozialdemokratie in der Küche – ist nicht allein die Köchin gemeint. Daß diese rebellisch ist, wissen wir alle – wir Frauen, die, von der Frauenbewegung noch nicht erfaßt, dem Manne so ungleich wie möglich sein wollen. Sie anerkennt keine Autorität, nicht einmal der in höheren Töchterschulen ausgebildeten Geheimrätin. Die Berufung auf das Kochbuch, z. B. auf die allverehrte Henriette Davidis, entlockt ihr nur ein frivoles Lächeln. Die Roheit und Dreistigkeit der Köchin ist viel älter als die Sozialdemokratie. Sie könnte füglich Sozialdemokratie vor der Sozialdemokratie genannt werden oder die Sozialdemokratie des Nichtseins. Die Köchin ist die Rebellion an sich, sie ist aber zugleich nur ein Bestandteil derselben, freilich der augenfälligste (für uns Frauen nämlich). Augenfällig ist sie schon durch ihre Kleidung, man bemerkt neuerdings entschiedene Vorliebe für Reform, also für eine der Spiegelungen der Sozialdemokratie des Daseins. Sie ist überhaupt sehr für Spiegelungen, besonders Sonntagnachmittags. Der Spiegel, dieses glatte, gleißnerische Instrument, ist aber gleichsam das Symbol der Sozialdemokratie, die unverblümte Ausprägung der materiellen Selbstsucht und Eitelkeit. Uebrigens sagt schon Theodor Storm so treffend wie wahr:

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Die Sozialdemokratie in Küche und Keller: Bei der vorliegenden Glosse, die unter dem Pseudonym „Julia von Egge-Weichling“ veröffentlicht wurde, handelt es sich um eine Replik auf einen konservativen kunstkritischen Artikel Julius von Pflugk-Harttungs. Sie erschien in „Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur“ (Berlin: Schwetschke), 1905, Bd. 6, Okt. 1904 – März 1905, S. 586–587. Tönnies war, wie aus dem Impressum hervorgeht, ständiger Mitarbeiter dieser von Graf Paul von Hoensbroech herausgegebenen Zeitschrift. Die Redaktion kommentierte den Beitrag mit einer Fußnote: „Von sehr bemerkenswerter Seite ist uns diese humoristische Entgegnung auf den Artikel ‚Die Sozialdemokratie in Kunst und Literatur‘ zugegangen.“ – Der besagte Artikel des Baseler Kulturhistorikers Julius von Pflugk-Harttung erschien im Bd. 5 derselben Monatsschrift (1905: 335 ff.). Hierzu siehe auch den Editorischen Bericht, S. 524 f. Henriette Davidis: D. i. Helena Clemen; sie verfasste das lange Zeit sehr geschätzte und verbreitete „Praktische Kochbuch“ (1845). sagt schon Theodor Storm: Vgl. Storm 1987a: 42 („Von Katzen“), dort: Die Köchin aber – Köchinnen sind grausam, / und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche – Storm – hier: S. 42.

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„Köchinnen sind grausam Und Menschlichkeit wohnt nicht einer Küche.“ –

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Ist es nicht, als ob die Hexenküche der Sozialdemokratie damit charakterisiert würde? Aber in jeder Küche ist heute der gewaltige Drang nach Veränderung und Umwälzung vorhanden. Wo ist der alte offene und ehrliche Herd geblieben? – „Koche mit Gas!“ lautet die revolutionäre, sozialdemokratische Parole. Und wie viele Köchinnen, ja ehrbare Frauen, kochen gar mit Petroleum! Die Petroleusen in der Küche!! Kein Wunder, daß eine wüste Gleichmacherei immer mehr in der Kochkunst überhand nimmt. Längst sind die Hotelsaucen berüchtigt; aber auch auf anderen Gebieten sind die feineren Nuancen und Würzen in den Hintergrund gedrängt. Das einzige, was so eine heutige Köchin noch leidlich herstellen kann, ist Kartoffelbrei – ihrer Gesinnung entsprechend, wie schon der Ausdruck „Gleichheitsbrei“ andeutet. Ihnen ist eben „allens ejahl“ wie der durch und durch sozialdemokratisch verseuchte Berliner sagt. War doch sogar Bismarck von dieser Sozialdemokratie des Nichtseins, von diesem Nihilismus der Küche angekränkelt, wenn er sich seiner kolossalen Wurschtigkein rühmte: „Ich wüßte nicht, was mir wurschtiger wäre“ – ja freilich, wenn man keine feine Zunge hat, wird man zwischen Blutwurst und Leberwurst keinen Unterschied finden. Und geschmacklos ist die sozialdemokratische Köchin – am liebsten macht sie alle Würste eben nach Blutwurst schmecken – man weiß wohl, warum! Daß 18

rühmte: Bismarck schrieb am 22. Dezember 1853 seiner Schwester vom Frankfurter Bundestag: „Ich gewöhne mich daran im Gefühle gähnender Unschuld alle Symptome von Kälte zu ertragen und die Stimmung gänzlicher Wurschtigkeit in mir vorherrschend werden zu lassen, nachdem ich den Bund allmählich mit Erfolg zum Bewußtsein des durchbohrenden Gefühls seines Nichts (vgl. Schiller, „Don Karlos“, II, 5, S. 142) zu bringen nicht unerheblich beigetragen zu haben mir schmeicheln darf“ (vgl. Bismarck 1898: 170). Diesem Gefühl der „Wurschtigkeit“ gab Bismarck Jahre später einen geradezu klassischen ironisierenden Ausdruck: Moritz Busch (1878: 255) berichtet unter dem 21. Januar 1871 bei Gelegenheit einer Erörterung über die Titulaturen „deutscher Kaiser“, „Kaiser von Deutschland“, „Kaiser der Deutschen“: „Als ein Weilchen darüber verhandelt worden war, fragte der Chef, der bisher zu der Debatte geschwiegen: Weiß einer der Herren, was auf lateinisch ‚Wurscht‘ heißt? – ‚Farcimentum‘, erwiderte Abeken. – ‚Farcimen‘, sagte ich. – Chef, lächelnd: ‚Farcimentum‘ oder ‚Farcimen‘, einerlei: ‚Nescio, quid mihi magis farcimentum esset‘ – ‚Ich weiß nicht, was mir mehr Wurst wäre‘“. Ein tüchtiger Lateiner machte darauf aufmerksam, dass Bismarck bei diesem Scherz die consecutio temporum nicht im Kopf gehabt habe. Natürlich muss es statt „esset“ „sit“ heissen, denn: auch Bismarck non supra grammaticos. (Analogie nach dem [lat.] Sprichwort „Caesar non supra grammaticos“, [auch] Cäsar [steht] nicht über den Grammatikern).

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im übrigen der moderne Stil dieser Petroleusen-Köchin nüchtern ist, daß sie eine Neigung zum Alltäglichen der unteren Klassen hat, braucht kaum beigefügt zu werden. Natürlich gibt es auch Angebranntes nicht selten. Und dann der Kladderadatsch! Ich meine nicht das komische Wochenblatt, sondern die tragische Wochenübersicht des zerbrochenen Geschirrs alle Woche. Haben die Respekt vor Porzellan? Und wenn’s aus der Königlichen Manufaktur ist, macht so’n ruchloses Pöbelweib wohl gar mit republikanischer Absicht den kostbaren Teller kaput! Der Umsturz wird ja ohnehin zum Prinzip erhoben. „Und allens muß verrunjeniert werden“ ist der Wahlspruch dieser Sorte. Entschuldigen Sie, wenn ich in vulgäres Deutsch verfalle. Schon der Gedanke an diese sozialdemokratische Wüstheit infiziert die Feder. Ja auch im Keller – ich meine nicht Gottfried – nimmt man die Spuren der roten Partei wahr. Kommt nicht von Keller das Wort Kellner her? Und woran denkt der Kellner außer an Trinkgeld? Und was ist der Gedanke an Trinkgeld anders, als Spekulation auf die Gutmütigkeit, auf die Freigebigkeit der besitzenden Klassen? Und wenn nun gar das freie Geschenk als ein Recht gefordert wird, ist nicht die sittliche Weltordnung damit in Frage gestellt? Nicht die Unverschämtheit auf den Thron erhoben? – Von Kellnerinnen will ich schweigen. Ihr Wesen ist so, daß ich es in anständiger Gesellschaft kaum schildern kann. Ihr unsittlicher Kern erscheint in roher, bisweilen geradezu gemeiner Schale, ist also noch schlimmer als Rose Bernd. 4 7 13

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Kladderadatsch war 1848–1898 eine Berliner polit.-satir. Wochenschrift. Königlichen Manufaktur: Die 1751 gegründete Berliner Porzellanmanufaktur wurde 1763 unter Friedrich dem Großen königlich, 1918 staatlich. Gottfried: D. i. der schweiz. Dichter Gottfried Keller. Er führte eine umfangreiche und vielseitige Korrespondenz mit Theodor Storm. Offensichtlich hatte Tönnies nicht nur persönlichen Kontakt zu Storm, sondern auch zu Keller. In einem Brief vom 13. 6. 1880 schreibt Keller aus Zürich an Storm in Hademarschen: „Heute war der junge Dr. Töniges [gemeint ist Ferdinand Tönnies – d. Hg.] bei mir und brachte mir Ihren Gruß. Er kam bei kühlem Regenwetter ...“ (S. 87, 244). Bereits am 15. 7. 1878, noch aus Husum, hatte Storm an Keller geschrieben: „... Dr. Tönnies – er wird wohl noch von sich reden machen ...“ (S. 36). Und noch einmal, am 8. 5. 1881, äußert er sich brieflich, scheinbar aus einem aktuellen Anlass: „Leid tut es mir fast, daß Sie meinen jungen Freund Dr. Tönnies nicht etwas näher haben kennen lernen; nächst, seinerzeit, Theodor Mommsen, ist er der bedeutendste junge Mann, den ich in meinem Leben gefunden habe, dabei ein Junge, ich weiß nicht, ob ‚nach dem Herzen Gottes‘, aber jedenfalls nach dem meinen ...“ (Storm 1904: 108). Rose Bernd: D. i. eine Anspielung auf eine Kindesmörderin, vgl. dazu die gleichnamige Tragödie Gerhart Hauptmanns (1903), der seinerzeit als Geschworener am Prozess gegen die des Meineids und Kindesmordes angeklagte Bauernmagd teilgenommen hatte.

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Die sozialistische Revolution ist eben nicht nur auf der Bühne, nicht nur in der Küche, sie ist auch im Keller anzutreffen. In den meisten modernen Wohnungen glänzt er ja überhaupt schon durch seine Abwesenheit. Wo hat ’ne anständige Herrschaft noch ’nen anständigen Keller? Teilen heißt es da, echt modern und kommunistisch. Ich danke für diese großstädtische, sozialdemokratische Korruption. Ich will Herrin im eigenen Hause sein und verlange meinen Keller für mich allein. Aber leider – wie oft ist in den Kellern selbst die Fäulnis zu Hause! Verrottete Äpfel findet man, und Verderbnis überall. Es liegt nahe, ja es ist geboten, diese Verderbnis wie jede andere, mit dem sozialdemokratischen Geist, oder sagen wir in modernem schlechten Geschmack, mit dem Bazillus der Sozialdemokratie in Zusammenhang zu bringen. Jawohl, Bewegung bringt überall hin, auch in Küche und Keller, aber die Bewegung ist Zersetzung. Wenig wirklich erfreuliche Erscheinungen, keine wahren Werte hat sie geschaffen. Auch der Weinkeller füllt sich mehr und mehr mit wertlosem Mischmasch, mit schamlosen Fälschungsprodukten. Wer kann sich noch edle Weine leisten? Proletariat wird auch hier die vorherrschende Marke. Schlechter Schaumwein – Massenerzeugnis – ganz wie auf der Bühne und in der Kunstausstellung. Eine Zeit, die in Küche und Keller das unsichtbare Band des guten Geschmacks, der verfeinerten Sittlichkeit verleugnet, ist zum Abbruch reif. Die Geschichte wird richten.

Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier Man ist geneigt die Frage aufzuwerfen: „Warum gehen die großen Streiks regelmäßig verloren, während manche kleinere gewonnen werden?“ Die Antwort scheint einfach: der konzentrierte Angriff begegnet konzentriertem Widerstand, und im großen ist die Macht des Kapitals der Macht der Arbeit immer überlegen – das Kapital „kann warten“, die Arbeit kann es nicht. Die Hilfe der Gefährten kann nur eine kleine Zahl längere Zeit über Wasser halten. Indessen ist auch folgendes zu erwägen: als planmäßig vorbereitete, unternommene und geleitete Angriffe sind große Streiks bisher selten, in Deutschland vielleicht noch niemals vorgekommen; durch Mangel an Zusammenhang, Ordnung und Direktion ist in der Regel die Kraft des Angriffes von vornherein gelähmt. Die großen Streiks haben mehr den Charakter von Naturereignissen, als von bedachten menschlichen Handlungen. Sie entspringen den Stimmungen der Masse, zuweilen dem Druck der Not und Entbehrung, öfter dem allmählich angehäuften Unwillen, verletztem Ehrgefühl – sittlicher Entrüstung. Sie haben weniger den Charakter eines gewollten Mittels zu bestimmtem Zwecke, als den der unmittelbar gewollten Demonstration. Alle Bedenken und Warnungen werden beiseite

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Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier: Zuerst in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1905(d), IV. Jg., Nr. 23, erstes März-Heft, S. 893–900. An die Überschrift schließt sich der Zusatz an „Von Ferdinand Tönnies (Eutin)“. – Tönnies thematisiert die großen Streiks der Ruhrbergarbeiter von 1905 und 1889. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung (1883–1889) sowie die politischen Kämpfe um Aufhebung des Sozialistengesetzes (am 30. 9. 1890 außer Kraft getreten) bilden den historischen Hintergrund dieser an großen und bedeutenden Streiks reichen Jahre; siehe dazu den Editorischen Bericht, S. 535 f. die großen Streiks: Von politisch ähnlich entscheidender Bedeutung wie der Streik im Ruhrkohlenrevier war der kurz zuvor großes, auch international, Aufsehen erregende – erfolglose – Streik der Textilarbeiter von Crimmitschau vom 7. 8. 1903 bis 17. 1. 1904. Als Reaktion auf diesen Streik gründeten die Unternehmer zur Koordinierung und Durchsetzung ihrer Interessen die „Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände“ (12. 4. 1904), den „Verein Deutscher Arbeitgeberverbände“ (23. 6. 1904) sowie – in enger Fühlung mit dem Reichskanzler von Bülow – den „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ (9. 5. 1904).

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geschoben, über die Köpfe der Führer hinweg werden Beschlüsse gefaßt –: „hier stehen wir, wir können nicht anders“, das ist der Ruf solcher streikenden Menge! – Hoffnungen knüpfen sich freilich daran: „man wird ein Einsehen haben, die Sympathie aller Rechtlichdenkenden wird auf unserer Seite sein, unsere Einigkeit, unser friedliches Verhalten wird einen güns­ tigen Eindruck machen, die öffentliche Meinung wird auf die Unternehmer drücken, die Staatsregierung wird etwas für uns tun, unser Los wird erleichtert werden.“ Aber von solchen Hoffnungen wird der größere Teil zu Schanden! – Es ist nicht schwer, sich den Seelenzustand derer vorzustellen, die nach solchem Schiffbruch die Arbeit wieder aufnehmen. Alle leidenschaftlichen Gefühle finden darin Raum: Ärger und Reue, Erbitterung gegen Genossen und Führer, Haß und Wut gegen die hartherzigen Herren, Empörung über deren Hochmut, mit dem sie jede gütliche Verhandlung verweigern, jede Vermittlung abweisen, jede Anerkennung des gleichen Rechtes der Arbeiter, des Rechtes, an der Festsetzung ihrer Arbeits-Bedingungen mitzuwirken, versagen. Wenn ein „vernünftiger“, mit der Aussicht auf Erfolg eingeleiteter, Ausstand keineswegs immer beweist, daß die Zustände in der Werkstatt oder in dem Gewerbe, worauf er sich bezieht, unerträglich sind; wenn er zuweilen sogar dem Bewußtsein der Überlegenheit, dem Bestreben, eine Schwäche des Gegners auszunützen, ja dem Übermut entspringt; so sind hingegen diese unbesonnenen Massenstreiks Symptome tiefliegender Schäden in der Arbeitsverfassung, der diese Massen unterworfen sind. Dort der organisierte, fortschreitende, seiner Interessen, seiner Zwecke, seiner Macht bewußte; hier der unorganisierte, hoffnungslos in seine Lage festgebannte, von der Sorge um das tägliche Brot überwältigte, nebenher – so lange ihm die Jugend blüht – dem Vergnügen sich ergebende Arbeiter. Dort eine Minderheit zum größten Teile „gelernter“, mit den Traditionen des Handwerks noch zusammenhängender Gesellen; hier die Mehrheit ungelernter, zum

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„hier stehen wir ... nicht anders“: Tönnies variiert hier ein Luther-Zitat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!“. Die Worte stehen am Luther-Denkmal in Worms (1868), sie erscheinen zuerst in der Wittenberger Ausgabe von Luthers Werken (1539–1558). Luther soll sie am 18. 4. 1521 vor dem Reichstag zu Worms gesprochen haben. Tatsächlich hat er nur die damals üblichen Worte „Gott helf mir, Amen!“ gesprochen. „man wird ... erleichtert werden“: Als Zitat nicht nachgewiesen, vmtl. Rollenprosa von Tönnies selbst.

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großen Teil der ländlichen Tagelöhnerei, dem Dienste des Großgrundbesitzes entronnener Handlanger. Es ist aber ein bekannter Prozeß, daß die gelernte Arbeit von ungelernter Arbeit teils verdrängt und ersetzt, teils numerisch überwältigt wird – ein Prozeß, der sich auch im Bergbau während des letzten Menschenalters in ganz hervorstechender Weise vollzogen hat. Gegen diesen Prozeß hat die Organisation der Arbeit mühsam zu kämpfen; in England hat sie ihn vielfach zu hemmen gewußt; bei uns ist mit der Einsicht, daß dies auf die Dauer unmöglich, oder auch nicht einmal wünschenswert, das Streben vielmehr dahin gegangen, die Verbindungen, Gewerkschaften, wie sie sich mit bergrechtlichem Namen nennen, (der als solcher einen anderen Sinn hat), auf die ungelernten Arbeiter auszudehnen. Dies ist aber angesichts der ökonomischen Lage, des Bildungstandes, des fluktuierenden Charakters dieser Massen eine Aufgabe von überwältigender Schwierigkeit. Als im Jahre 1889 der Streik der Bergleute in diesem selbigen Gebiete ein fast noch größeres Aufsehen erregte als der jüngst beendete – man erinnere sich des Eingreifens der Majestät –, da gab es Berufsvereine unter ihnen noch so gut wie gar nicht. Die seither entstandenen sind ein Ergebnis der damaligen Niederlage. Beim Beginne des neulichen Streikes waren von den Ausständigen mehr als die Hälfte organisiert. Das Zusammenhalten der 4 5 11 15

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ungelernter Arbeit: Im Original: ungelernter Arbeiter. überwältigt wird ein Prozeß: Fehlendes Satzzeichen auch in Original. mit bergrechtlichem Namen: Die „bergrechtliche Gewerkschaft“, eine frühe Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, hatte „Gewerken“ statt wie die AG Aktionäre. selbigen Gebiete: Obwohl die Sozialgesetze für einen großen Teil der Arbeiter unübersehbar Verbesserungen brachten (Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884, Alters- und Invalidenversicherung 1889), erstarkten die Gewerkschaften, und die Streiktätigkeit stieg seit der Mitte der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts erheblich an. Ihr Höhepunkt war der große Bergarbeiterstreik vom 4. Mai bis zum 6. Juni 1889. Nahezu 150 000 Bergarbeiter aller deutschen Steinkohlenreviere streikten für die AchtStunden-Schicht, für 15 Prozent Lohnerhöhung, Beseitigung der Lohnabzugssysteme und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der Schwerpunkt des Streiks lag im Ruhrgebiet. Wenn der Streik für die Arbeiter auch nur Teilerfolge auf sozialem Gebiet brachte, so war er doch, wie Tönnies bemerkt, von großer Bedeutung für die Einbeziehung neuer Schichten in den politischen Kampf der Arbeiterbewegung um soziale Gerechtigkeit. jüngst beendete: Der Streik wurde formell am 9. 2. 1905 beendet, dauerte tatsächlich aber noch weit in den Februar hinein. Ausführlicheres dazu im Editorischen Bericht, S. 535 f. Majestät: Auf Betreiben der Ultramontanen empfing Wilhelm II. eine Deputation der streikenden Bergarbeiter, bestehend aus drei Mitgliedern, von denen zwei (Friedrich Bunte und Ludwig Schröder) Sozialdemokraten waren (vgl. Protokoll 1890: 74).

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verschiedenen Richtungen, besonders der sonst am stärksten rivalisierenden Gruppen „freier“ und „christlicher“ Gewerkschaften, charakterisierte jetzt die gesamte Lage. Und doch war es seinem Wesen nach kein Streik organisierter Arbeiter. Wider ihren Willen, oder doch wider den Willen ihrer Leiter, wurden diese hineingerissen. Während des Streikes sind die Verbände, wie es aus nicht tiefliegenden Ursachen zu geschehen pflegt, mächtig angewachsen.1 Ob dieses Wachstum, ob eine steigende Macht der Organisationen die dauernde Folge sein wird? Das ist nicht die Regel, wenn diese selbst einen Streik verloren haben. Ehemals pflegte eine Deroute einzutreten: Maßregelung der Führer, Entmutigung, Beitragsunfähigkeit und Unlust der Menge. In den letzten Jahren hat sich die Vertiefung der gewerkschaftlichen Bewegung eben darin bewährt, daß sie diesem Verhängnis im allgemeinen zu begegnen gewußt hat. Freilich auf eine so schwere Probe wie diesmal ist sie noch nicht gestellt worden. Aber vielleicht wird gerade die „Unschuld“ der Verbände an dem Ereignis ihnen zugutekommen. Wir wissen ja noch nicht, wie sich die Zechenbesitzer verhalten, wie das Syndikat seinen Sieg ausbeuten wird. Mit ihrer prinzipiellen Haltung: keine Verhandlung, keine Anerkennung der Arbeitervereine, Ablehnung jeder Vermittlung, auch der von der königlich preußischen Regierung versuchten – haben sie einen glänzenden äußeren Erfolg errungen. Es ist nicht anzunehmen, daß sie sich den moralischen Mißkredit, der daran hing, zu Herzen nehmen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie den Eingriff, den die Novelle zum preußischen Berggesetz in ihre Autokratie zu machen droht, zu fürchten Grund haben. Die Bergbau-Unternehmung hat sich – speziell in Preußen – während des letzten halben Jahrhunderts der staatlichen Bevormundung und Aufsicht so gut wie ganz zu entziehen gewußt. Daß ein Gesetz, das aus dem Bureau des Ministers Möller hervorgeht, mit irgendwelcher 1 Einer mir zugehenden freundlichen Mitteilung des Bureaus für Sozialpolitik (Berlin W 30) zufolge wären vor dem Streik ca. 110000, aber Anfang Februar 180000 insgesamt organisiert gewesen. In diesen Zahlen sind aber wohl einige Tausende enthalten, die außerhalb des Ruhrreviers den Bergarbeiterverbänden angehören.

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Deroute: [frz.] wilde Flucht. Ministers Möller: 1901 kam es aufgrund von Konflikten zwischen ostelbischem Großgrundbesitz und Schwerindustrie im preußischen Landtag unter von Bülow zu einer Regierungsumbildung. Das damals sehr wichtige Handelsministerium erhielt der zum rechten Flügel der Nationalliberalen gehörende westdeutsche Großindustrielle Theodor Adolf von Möller.

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Gründlichkeit den bestehenden Zustand umzuwandeln versuchen wird, ist nicht wahrscheinlich. Daß der preußische Landtag die Neuerungen schärfer bestimmen wird, ist so gut wie ausgeschlossen. Wenn von den beiden Kammern die eine das Herrenhaus heißt – die andere verdiente auch so zu heißen. Und dies sagt genug. Unter dem Drucke erregter Gefühle hätte in der kurzen Frist, als der Streik auf seiner Höhe stand, vielleicht auch diese „Volksvertretung“ ein wenig der Einsicht nachgegeben, daß es unweise ist, die Macht des verbundenen Kapitals – zumal wo sie die Herrschaft über das tägliche Brot fast der gesamten Industrie in Anspruch nimmt – ins Ungemessene wachsen zu lassen; politisch geboten sei, die Organisationen der Arbeiter, als das wirksamste Gegengewicht gegen diese ungeheueren Gefahren zu fördern, anstatt sie aus „Gefühlspolitik“, nämlich aus Angst und Widerwillen, zu hemmen. Nachdem die Stimmungen verflogen, ist von diesen Herrenhäusern nichts Erhebliches mehr zu erwarten. Fast noch mehr als die neuen Normen, die immerhin eine kleine Besserung der auffallendsten Mißstände herbeiführen mögen, könnte die Teilnahme des Staates an einer Kohlenbergwerk-Aktien-Gesellschaft, und dadurch an dem berufenen Syndikat bedeuten. Aber zugunsten der Selbstständigkeit der Bürgerrechte, des Koalitionsrechtes der Arbeiter? Unter einem Ministerium, das – in dieser Hinsicht ohne Zweifel einmütig – die Teilnahme von Beamten und Arbeitern der Eisenbahnen an Konsumvereinen für staatsgefährlich, beinahe für revolutionär hält? Man darf vorläufig mit Sicherheit sagen, daß alle Tendenzen auf Unterdrückung von Arbeiterberufsvereinen jeder Art – Tendenzen, die bekanntlich in den Arbeitgeberverbänden neuerdings sich stark gerüstet haben – auf den kräftigen Beistand der preußischen Regierung immer werden rechnen können. Wenigstens, wenn sie irgendwelchen Zusammenhang mit der politischen Partei, die als dem Staate und dem Vaterlande feindlich angesehen wird, auf-

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Teilnahme des Staates: 1904 beriet das preußische Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf über „die Beteiligung des Staates an der Bergwerksgesellschaft Hibernia zu Herne“ (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten 1905: 7665–7779). mit der politischen Partei: Die SPD galt nach wie vor als „Umsturzpartei“, obwohl ihr gemäßigter Flügel auf Grund steigender Wahlerfolge zunehmend an Boden gewann. Auf dem Dresdener Parteitag vom 13. bis 20. September 1903 trat der Konflikt zwischen revolutionärem (Bebel, Kautsky, Singer) und reformerischem Flügel (Bernstein, Vollmar) offen zutage.

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weisen! Es war ja die etwas hilflose Rede des Reichskanzlers, der zugleich preußischer Ministerpräsident ist, womit er auf die sehr sachlichen, sehr bergmännischen Ausführungen eines Abgeordneten im Reichstage erwiderte: das Unheil in Deutschland sei, daß die Arbeiterverbände in einem zu intimen Verhältnisse zu politischen Parteien sich befänden; sie seien „im wesentlichen“ Werkzeuge der politischen Parteien; die Umsturzpartei sehe auch in dem Elend eines unglücklichen Streikes nur ein Mittel zur Schürung des Hasses, zur Stärkung des Klassengefühls im Parteiinteresse! – Das war gewiß eine sich selbst schlagende, mehr rednerische als staatsmännische, mehr phrasierte als richtige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes. Ich gehöre sonst nicht zu denen, die von den Fähigkeiten und Einsichten unseres leitenden Staatsmannes – der eine überaus schwierige Stellung inne hat – zu gering denken. Jene Rede war gewiß dem bedeutenden Momente nicht im mindesten angemessen. Was aber den Kern der Sache angeht, so hat der Reichskanzler nur gemeint, was von Sozialpolitikern, die zu den Gewerkschaften durchaus freundlich und günstig sich stellen, seit lange und oft ausgesprochen worden ist. Der Reichskanzler ist aber falsch unterrichtet, wenn er zu glauben scheint, daß die Sache – das Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu den freien „auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden“ Gewerkschaften – heute noch ebenso stehe wie 1 3

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die etwas hilflose Rede des Reichskanzlers und preuß. Ministerpräsidenten Bernhard Heinrich Fürst von Bülow. eines Abgeordneten: D. i. Otto Huë, der die „Interpellation der Abgeordneten Auer und Genossen, betreffend den Bergarbeiterstreik im Ruhrkohlengebiet (Nr. 550 der Anlagen)“ im Reichstag begründete (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1905: 3903–3919). „im wesentlichen“ Werkzeuge: Die entsprechende Passage in der Rede des Reichskanzlers, von Zurufen der Sozialdemokraten mehrfach unterbrochen, lautet: „Die Arbeiterorganisationen sind in Deutschland nicht aus wirtschaftlichen Bedürfnissen natürlich entstanden [...], sondern sie sind, von dieser oder jener Ausnahme abgesehen, im Wesentlichen Werkzeuge der politischen Parteien“ (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1905: 3920). seit lange: sic! „auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden“ Gewerkschaften: Als Zitat nicht nachgewiesen. Die ersten freien („auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden“) Gewerkschaften in Deutschland entstanden zwischen 1865 und 1870. Durch das Sozialistengesetz (1878–1890) wurde ihre Tätigkeit unterbunden; unmittelbar nach seiner Aufhebung bildeten sich in fast allen Berufen neue Verbände. Die freien Gewerkschaften waren grundsätzlich sozialistisch ausgerichtet. Sie waren von der SPD aber weitgehend unabhängig, spätestens und offiziell seit dem Kölner Gewerkschaftskon-

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vor etwa 15 Jahren. Es ist nicht einmal mehr in dem Zustande der Unklarheit und Dämmerung, worin es noch vor etwa 8 Jahren, also lange ehe der Reichskanzler Reichskanzler war, sich befunden hat. Der Reichskanzler oder wenigstens sein vortragender Rat müßte eigentlich eine Schrift wie die von Sombart, „Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung“ (Jena, Fischer 1900), kennen. Die Herren hätten daraus gelernt (S. 108), daß am 25. Mai 1900 der einflußreichste politische Führer der Sozialdemokratie seine Meinung dahin ausgesprochen hat, die einseitige politische Tätigkeit in den Gewerkschaften sei ein Fehler gewesen! Die Gewerkschaft solle Parteipolitik nicht treiben! Auch Klassenpolitik solle man – wohl als Politiker aber – nicht als Gewerkschaftler treiben! So hat sich damals Bebel geäußert. Daß ganz gleichgerichtet auch Ansichten und Absichten der Gewerkschaftsführer selber, die sich politisch betätigen, sind, ist vielleicht auch dem Reichskanzler und seinen Räten bekannt.

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gress von 1905. Im Gegensatz hierzu entstanden die christlichen Gewerkschaften innerhalb der christlich-sozialen Bewegung in bewusster Ablehnung revolutionärer Ziele, ferner die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, die sämtlich am 2. 5. 1933 vom NS-Staat aufgelöst wurden und sich nach 1945 in der BRD zu der Einheitsgewerkschaft des DGB zusammen schlossen. Zwar erkannten die christlichen Gewerkschaften die Klassengegensätze der bestehenden Gesellschaftsordnung an, lehnten den Klassenkampf aber als mit der christlichen Ethik unvereinbar ab. der Reichskanzler: Vor von Bülow war Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (zwischen 1894 und 1900) Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Während seiner Amtszeit, im Juni bzw. Juli 1897, wurde vor dem Hintergrund der Protestbewegung gegen das „kleine Sozialistengesetz“ mit der Novellierung des Vereins‑ und Versammlungsgesetzes in der preußisch-deutschen Politik ein „Systemwechsel“ vollzogen. Durch den Austausch von Staatssekretären und Ministern wurde „Onkel Chlodwig“ vollständig entmachtet. Wilhelm II. bestimmte unter dem Einflusse von Bülow die auswärtige Politik, von Tirpitz die Flottenrüstung und von Posadowsky die Reichsinnenpolitik. (S. 108): Vgl. dort Sombart (1900): „Die denkwürdigen Auslassungen Bebels, mit denen er sich in ausgesprochenem Gegensatz zu früher von ihm vertretenen Anschauungen setzte, sind erfolgt in einer von den Lithographen und Steindruckern einberufenen Versammlung im neuen Gewerkschaftshause in Berlin am 25. Mai und haben – nach dem Berichte des ‚Vorwärts‘, der auffallend dürftig ist, beispielsweise fehlt in ihm die charakteristische Aeußerung Bebels ‚wär‘ ja auch schlimm, wenn man nicht gescheiter würde“ – folgenden Inhalt gehabt: Bebel verwies zunächst darauf, daß es die Gewerkschaften mit Rücksicht auf das Vereinsgesetz seither vermeiden mußten, Politik innerhalb der Organisation zu treiben. Jetzt, nachdem das Verbindungsverbot für politische Vereine aufgehoben ist, stehe aber den gewerkschaftlichen Organisationen kein Gesetz mehr im Wege, welches sie an der politischen Thätigkeit hindern könnte. Mittlerweile sei aber in der Gewerkschaftswelt selbst die Ansicht aufgetaucht, daß es nicht Aufgabe der Gewerkschaften sei, Parteipolitik zu treiben, sondern daß sie nur Fach‑ und Betriebsinteressen zu vertreten hätten.“.

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Aber daß sie sich politisch betätigen! Liegt nicht da der Hase im Pfeffer? Ich vermag es nicht zu erkennen, wie dadurch eine Gewerkschaft zum Werkzeug der politischen Partei wird, daß ihr Führer als Anhänger dieser Partei ein Mandat für den Reichstag annimmt. Ist der Bergbauverein oder ein anderer Unternehmerverband dadurch ein Werkzeug der freikonservativen Fraktion, daß einer ihrer Häuptlinge dieser Fraktion angehört? – Ich kann in der Anwesenheit von Gewerkschaftsführern, von Männern, die auch politisch so gemäßigt auftreten, wie die Herren Legien, v. Elm, Molkenbuhr, Hué u. a., nur ein für die Partei, der sie angehören, moderierend wirksames Element erblicken, ein Element, das bei der eminenten Bedeutung einer vom Arbeiterstandpunkte sachkundigen Erörterung gewerberechtlicher Fragen auch im allgemeinen Interesse schlechthin unentbehrlich im deutschen Reichstage geworden ist. Ich weiß, daß ich dies in Übereinstimmung mit allen denkenden Sozialpolitikern unseres Vaterlandes ausspreche. Im Reichskanzleramte muß man wohl anderer Ansicht sein. – Wenn man aber in den Regierungen Irrtümer hegt und rhetorisch zur Geltung bringt, in den „scharfmacherischen“ Unternehmerkreisen werden sie gehegt und gepflegt, geliebkost und mit Liebe großgezogen. Der entschiedene Interessen- und Klassenstandpunkt dieser Kreise kümmert sich, im Grunde, um die politischen Meinungen der Arbeiterführer, mit denen sie es praktisch zu tun haben, ganz und gar nicht. Aber die Behauptung, daß diese dem Umsturz huldigen, daß sie, um mit dem Grafen v. Bülow zu reden, jeden wirtschaftlichen Fortschritt unter der gegenwärtigen Staatsund Gesellschaftsordnung für ausgeschlossen erklären, daß sie die Arbeiter zu einem Kommunismus erziehen, der das Ende unserer Kultur und den

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Bergbauverein: Der Bergbauliche Verein war die Interessenvertretung der Zechenbesitzer, die, repräsentiert durch ihr Vorstandsmitglied, den Bergmeister Konrad Engel, es strikt ablehnte, die Siebener Kommission als berufene Vertretung der gewerkschaftlich organisierten Grubenarbeiter anzuerkennen (vgl. Engel 1905). um mit den Grafen v. Bülow zu reden: Die entsprechende Passage in der Rede des Reichskanzlers lautet: „Was bei uns nottut, ist die Emanzipation der in Berufsvereinen aller Art organisierten Arbeiter von der Parteipolitik und namentlich von der Politik einer Partei, deren geistiges Oberhaupt schon vor Jahren und Jahrzehnten die Führer der englischen Gewerkschaften, weil sie die Lage der Arbeiter auf friedlichem Wege, womöglich ohne Streik, verbessern wollten, für Verräter erklärte, einer Partei, die jeden wirtschaftlichen Fortschritt unter der gegenwärtigen Staats‑ und Gesellschaftsordnung für ausgeschlossen erklärt ...“ (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1905: 3920).

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Tod der individuellen Freiheit bedeute – alle diese Sätze sind jenen Herren höchst willkommene, wenn nicht blanke, so doch spitze und scharfe, Waffen, in ihrem Kampfe gegen die Interessen, gegen die völlig gesetzmäßige, völlig gemäßigte, völlig unpolitische Vertretung der eigenen Wünsche und Willen der Arbeiter, gegen die völlig unkommunistische Forderung gleicher und wirklicher individueller Freiheit, zur Anwendung und Sicherung ihres Koalitionsrechtes, gegen das bescheidene Verlangen, aus dem Namen des freien Kontraktes, soweit als möglich „unter der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung“, eine Wahrheit und Wirklichkeit zu machen! – Mit anderen Worten die Klagen über den politischen Charakter unserer ökonomischen Arbeiterbewegung sind zu 99 Hundertstel nichts als Vorwände! Wenn die zielbewußten Verehrer des Freiherr v. Stummschen Genius den Satz in jener Reichskanzler-Rede gelesen haben, „was die englischen Gewerkschaften Großes geleistet haben, haben sie geleistet auf rein wirtschaftlichem Boden, ohne jedes Ansehen der Partei“ – so müssen sie über diese Brentano-Reminiszenz – gelächelt haben. Ihre ganze Politik zielt ja eben darauf ab, dieses „Große“ zu hintertreiben! Rühmte doch der wa­ckere alte Hammerschmiedefürst an den deutschen Arbeitern – trotz aller „sozialdemokratischen Verhetzung“ – die Disziplin, hatte er doch von englischen Kollegen sich erzählen lassen, darauf beruhe der Vorsprung, den die deutsche Industrie auf so vielen Gebieten gewonnen habe, daß die englischen Arbeiter durch die Wirkungen der Trades Unions zu einem Selbstund Machtbewußtsein gekommen seien, mit dem für den Unternehmer 1

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Tod der individuellen Freiheit: Vgl. ebd.: 3920: „Und nun vollends die sozialistischen Gewerkschaften, die von Anfang an ja gar nichts anderes sein wollten, als Exerzierplätze, als Manöverfelder für eine Partei des Umsturzes, als eine Schule für die Erziehung der Arbeiter zu jenem Kommunismus, der das Ende unserer Kultur und der Tod der individuellen Freiheit sein würde“. „unter der gegenwärtigen Staats‑ und Gesellschaftsordnung“: Vgl. ebd. v. Stummschen Genius: Der Großindustrielle, Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei übte einen so starken Einfluss auf die preußisch-deutsche Politik aus, dass der Begriff „Ära Stumm“ geprägt wurde. „was die englischen Gewerkschaften ... Ansehen der Partei“: Vgl. ebd.: „Was die englischen Gewerkschaften Großes geleistet haben, das haben sie geleistet auf rein wirtschaftlichem Boden ohne jedes Ansehen der Partei“. Brentano-Reminiszenz: Der Ökonom und Sozialpolitiker Lujo Brentano plädierte für die Freiheit der Gewerkschaftsbewegung, auch für das Streikrecht, wobei er auf die guten Erfahrungen verwies, die England mit dem Trade Unionismus gemacht habe. Hammerschmiedefürst: D. i. Frhr. von Stumm-Halberg, der die 1715 gegründete Firma „Gebrüder Stumm“ in Neunkirchen zum führenden saarländischen Kohle‑ und Eisenkonzern gemacht hatte.

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Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier

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schlechterdings nicht auszukommen sei! Wenn wirklich das „Ansehen der Partei“ oder das Unheil, daß die deutschen Gewerkschaften, im wesentlichen „Werkzeuge“ der politischen Parteien, sie unfähig machen sollte, so „Großes“ zu leisten – und dahin geht ja der Gedanke des Ministers –, wie willkommen müßte jenen diese Parteiabhängigkeit sein! Wie müßten sie in der Tat sich freuen, wenn durch solche Anklagen, solches Odium, so gut wie durch die Sache selber, die rein ökonomische Aktion dieser Verbände gelähmt würde! – Wenn wir leidenschaftslos den Gang der Dinge zu erkennen suchen, so werden wir auf jeden Fall in der ferneren Entwickelung der Organisation der Arbeit eine höchst folgenreiche und wichtige Entwickelung beobachten, so gut wie in den Fortschritten der Organisation des Kapitals und der Unternehmerschaft. Es stehen gewiß viele bittere Kämpfe noch bevor! Ihnen vorzubeugen, sie zu hindern wird schwerlich möglich sein, so sehr man als Menschen-, als Vaterlandsfreund es wünschen mag. Aber daß diese Kämpfe in einem Geiste der Versöhnlichkeit, und des allgemeinen Wohles geführt würden, dazu kann die unabhängige wissenschaftliche Erkenntnis, kann die Ausbreitung eines sozialethischen Geistes sehr Bedeutendes beitragen. Der Riesenstreik im Ruhrkohlenrevier hat die große Bedeutung für das öffentliche Bewußtsein in Deutschland gewonnen, daß er nicht bloß die Sympathie mit den Leiden der Arbeiterklasse, sondern das Gefühl für ihre gerechten Ansprüche in die weitesten Kreise mit zündender Blitzeskraft getragen hat. In Wahrheit ist dies die erste Vorbedingung für eine humane Gestaltung und Ausgleichung aller auf diesem Gebiete noch bevorstehenden Kämpfe, daß sie auf dem Boden der ohne Vorbehalt zugestandenen Gleichberechtigung der Arbeiter – als Kontrahenten des Arbeitsvertrages und als Staatsbürger – geführt werden. Wir haben keinen Schimmer von historischem, formalem oder sittlichem Recht, ihnen diese Gleichberechtigung noch zu verweigern, wie es doch fortwährend durch einen großen Teil der Unternehmer, durch die Behörden und durch die Gesetzgebung geschieht. Wir sind unserer Ehre schuldig, wir sind sittlich verpflichtet, mit den Institutionen, deren Wirken uns selber günstig gewesen und ein Element unseres Daseins geworden ist, auch da Ernst zu machen, wo sie anderen zugute kommen sollen, die unter nichts mehr leiden als unter der Halbheit und Unbesonnenheit des Rechtszustandes, der ihr tägliches Leben bestimmt! –

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„Werkzeuge“: Vgl. von Bülow in: ebd.

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Die besitzenden und gebildeten Schichten unserer Nation haben das Vertrauen der lohnarbeitenden Klasse, zum guten Teil durch ihre eigene Schuld, verloren. Ein großes Quantum davon läßt sich wiedererobern. Aber dazu müßte nicht nur die öffentliche Meinung, sondern unsere gesamte innere Politik von einem ganz anderen Geiste erfüllt werden als es in den letzten 10 Jahren unheilvoller Weise der Fall gewesen ist.2

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Vergl. die trefflichen Ausführungen in dem Vortrage des Frhrn. von Berlepsch (des vormaligen preußischen Handelsministers) „Das Koalitionsrecht der Arbeiter“ vom 22. März 1904 (gedruckt als Sonderabdruck aus der „Sozialen Praxis“ Jahrgang XIII, Nr. 28, 29 und 30). Berlepsch: Bismarck, in unüberbrückbarem Gegensatz zu Wilhelm II. stehend, trat am 31. Januar 1890 als Leiter des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, das für sozialpolitische Fragen zuständig war, zurück. Sein Nachfolger wurde Hans Frhr. von Berlepsch, der als Gegner der sozialpolitischen Konzeption Bismarcks bekannte Oberpräsident der Rheinprovinz. Als die von ihm angestrebten Maßnahmen, unter anderem die Erweiterung des Arbeitsschutzes, am Widerstand der Großindustrie scheiterten, trat er, mit dessen Person die gesamte Sozialpolitik seit 1890 verbunden war, am 27. Juni 1896 zurück.

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The problems of social structure we find in a rather confused state at the present moment. In an earlier stage of sociological thinking considerable expectations were attached to the interpretation of social phenomena by means of biological analogies, or what was called the organic theory of society. These expectations may now be said to have been disappointed. The organic theory has almost universally been abandoned. Yet even its severest critics are likely to admit that there is some truth in or behind it, although they seem to be at a loss to explain properly what kind of truth it is. By a curious coincidence, the three most notable representatives of that doctrine – the Russian, Paul von Lilienfeld, a man of high social standing; the German, Albert Schäffle, with a reputation as a political economist; and the Englishman, Herbert Spencer, whose fame needs not to be emphasized – all departed from life in the year 1903, the two latter in the month of December; all in advanced old age. To these three men sociology owes a debt of gratitude, because, after Comte, they were the first – at least in 1 A paper read at the Congress of Arts and Science, Departement of Sociology, St. Louis, September, 1904. 1

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The Present Problems of Social Structure ist „a paper read at the Congress of Arts and Science, Department of Sociology, St. Louis, September, 1904”. Am Schluss des Essays steht in Kapitälchen links am Seitenrand noch: „University of Kiel.“, und rechts, größer gesetzt: „Ferdinand Tönnies.“. Der hier zu Grunde gelegte Text erschien erstmals in: The American Journal of Sociology, vol. X, March, 1905(e), Nr. 5, S. 569–588 (in dessen Herausgebergremium Tönnies auf seiner USA-Reise berufen worden war); erneut dann in: Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis, 1904. Edited by Howard J. Rogers. Volume V. Boston and New York: Houghton, Mifflin and Company 1906, S. 825–841 (vgl. Tönnies 1906v). Spencer: So sehr Tönnies die Verdienste Spencers um die Entstehung der Soziologie auch immer anerkannte und würdigte, so sehr sprach er sich, wie unter anderem aus diesem Beitrag hervorgeht, gegen eine organizistische Grundlegung der Soziologie mittels biologischer Analogien aus. Comte: Comte und Spencer sind für Tönnies die Gründungsväter der Soziologie schlechthin. Von Paris aus sei der Name „Soziologie“ in die Welt hinaus gegangen. Comte wollte die Wissenschaft, deren Namen er prägte, die „speziellste und komplizierteste“, in ihr definitives, in ihr positives Stadium erheben. Neben das System Comtes habe sich die Philosophie Spencers gestellt. Auch sie suche in der noch unvollendeten Soziologie ihren Gipfel (vgl. Tönnies 1894: 52).

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Europe – to formulate a theory of social life in large outline. From all, but especially from Schäffle and Spencer, we receive, and shall continue to receive, constant and fertile impulses or suggestions. But I feel safe in predicting that it will soon be universally acknowledged that the foundations of their theories were not laid firmly enough for permanently supporting those boldly planned structures of thought. For a long time past I have cherished the opinion that these authors, as well as nearly all their successors and critics, are hampered by a fundamental lack of clearness as to the subject of their inquiries – a subject which they are in the habit of designating by the very indefinite name of “a society”, or, as Schäffle puts it, “the social body”. Confusion of ideas invariably proceeds from a defect of analytical reasoning; that is to say, of proper distinction. I believe and assert that three distinct conceptions, the common object of which is social life in its broadest sense, are not sufficiently, or not at all, kept apart nor even recognized as being distinct, viz., the biological, the psychological, and the sociological in what I call the exclusive sense, the subject of this third conception only being entirely new, as compared with the subjects of other sciences or departments of philosophy. It seems to me to be our fundamental task as philosophical sociologists to deduce from this last conception, and others implied in it, a system of social structure which shall contain the different notions of collective entities in their mutual dependence and connection; and I firmly trust that out of such a system will be gained a better and more profound insight into the evolution of society at large, and into its historical phases, as the life of these collective entities. It is therefore in the struggles, first, between any of these groups and the individuals composing it; second, between their different forms and kinds – for instance, the struggles between church and empire; between church and cities; between church and state; between cities and other corporations; between the sovereign state and feudal communities, and consequently established orders or estates; between single states and a federal state – it is in these and similar struggles, presupposing the existence of those collective entities, that the growth and decay of higher civilizations exhibit themselves most markedly.

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viz.: Lies: [lat.] videlicet, namely, [engl.] nämlich, und zwar.

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I.

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When we speak of a house, a village, or a city, the idea immediately arising in our minds is that of a visible building, or of larger or smaller groups of buildings; but soon we also recollect the visible contents of these buildings, such as rooms and cellars and their furniture; or, when groups of buildings are concerned, the roads and streets between them. The words “house”, “village”, and “city” are, however, used in a different sense when we have in mind the particular contents of buildings which we call their inhabitants, especially their human occupants. Very often, at least in many languages, people are not only conceived of as the inhabitants of, but as identical with, the buildings. We say, for instance, “the entire house”, “the whole village” – meaning a lot of people the idea of whom is closely connected with the idea of their usual dwelling-place. We think of them as being one with their common habitation. Nevertheless it is still a visible union of inidviduals which we have in mind. This visible union, however, changes into an invisible one, when it is conceived of as lasting through several generations. Now the house will become identified with a family or perhaps with a clan. In the same manner a village community or a township will be imagined as a collective being, which – although not in all, yet in certain important respects – remains the same in essence, notwithstanding a shifting of matter; that is to say, an incessant elimination of waste portions – men who die – and a constant accretion of fresh elements – born children. Here the analogy with the essential characteristics of an organism is obvious. Vegetable and animal organisms likewise are only represented by such elements as are visible at any time, and the law of life consists in this, that the remaining portions always predominate over the eliminated and the reproduced ones, and that the latter by and by move and fill up the vacant spaces, while the relations of parts – e. g., the co-operation of cells as tissues, or of tissues as organs – do not undergo a substantial change. Thus such an application of biological notions to the social life of mankind – as the organicist theories or methods set out to do – is not to be rejected on principle. We may, in fact, look upon any community of this kind – maintaining itself by receiving its parts – as being a living whole or unity. This view is the more plausible if the renewal itself is merely biological, as indeed is the case in the human family, and, as we think, to a still greater extent – because a family soon disperses itself – in certain larger groups: a tribe, a nation, or a race; although there is involved in this view the question whether there is a sameness of nature – or, as we

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usually say, of blood – guaranteed, as it should be, by an in-and-in breeding of parents (German, Inzucht). Indeed, this self-conservation of a group is the less to be expected, the smaller the group; and it is well known among breeders that it is necessary for the life of a herd not to continue too long selecting sires of the same breed, but from time to time to refresh the blood by going beyond the limits of a narrow parentage, and crossing the race by mixtures with a different stock. At any rate, this is what I should call a purely biological aspect of collective human life, in so far as their conception is restricted to the mere existence of a human group, which, so to speak, is self-active in its maintenance of life. This aspect, however, does not suffice when we consider social units of a local character, which also continue their existence, partly in the same, but partly in a different manner. With reference to them we do not think exclusively of a natural Stoffwechsel, as it is effected by births and deaths of the individuals composing the body, but we also consider the moving to and fro of living men, women, and children, the ratio of which, like the ratio of births and deaths, may cause an increase or a decrease of the whole mass, and must cause one or the other if they do not balance. In consequence of this, we also have less reason to expect a biological identity of the stock of inhabitants at different times, than a lasting connection between a part of space (the place), or rather a piece of the soil, and a certain group of men who dwell in that place and have intercourse with each other, although the place itself grows with the number of its inhabitants, and although even among these inhabitants there be, for instance, not one direct descendant of those who occupied the place, say, a hundred years ago. We may, it is true, take it to be the rule that at least a certain nucleus of direct descendants keeps alive through many generations – a rule so much more certain if it is a large place, a whole region, or even a country that we have in mind. Still we shall not hold this to be a conditio sine qua non for acknowledging the village or the city to be the same; it being in this respect much more relevant that the nucleus of the place, of the “settlement”, has endured and has preserved itself through the ages. Now, since place and region, air and climate, have a very considerable effect upon the intelligence and sentiment of the inhabitants, and seeing that a considerable change may not justly be expected with respect to this, except when the minds as well as the external conditions of the newcomers are totally different from those 30

conditio sine qua non: [lat.] eine Bedingung, ohne die es nicht (geht).

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of the older strata, we may consider the identity of a place, in so far as it is founded upon the social connection of men with a part of the soil, as a psychological identity, and call this aspect of social life a psychological aspect. There can be no doubt that this psychological aspect is in great part dependent upon the biological aspect, and is, as a rule, closely interwoven with it. Yet it needs but little reflection to recognize that both are also to a certain extent separate and independent of each other. The subject-matter of a social psychology is different from the subject-matter of a social biology, though there exist a great many points of contact between them, and though both, apart from the foundations here given to them, may be applied to animal as well as to human societies.

II.

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Neither of the above-mentioned conceptions of a continuous unity or whole implies that the essential characteristic of the unity is perceived and recognized by those who belong to it, much less that it is perceived by others, by outsiders. And this is the third idea, by far the most important one for the present consideration – the idea of what I purpose to designate by the name of a corporation, including under it all social units whatever, in so far as they have this trait in common, that the mode of existence of the unity or whole itself is founded upon the consciousness of its existence, and consequently that it perpetuates itself by the conception of its reality being transmitted from one generation to the next one; which will not happen unless it be done on purpose by teaching, and generally in the form of tradition. This evidently presupposes human reason and human will, marking off sharply this third genus from any kind of animal subhuman society. We are now to give closer attention to this conception. For the most part, though not always, it is the conception of a unity different from the aggregate of members; the idea of a psychical or moral body, capable of willing and of acting like a single human being; the idea of a self or person. This person, of course, is an artificial or fictitious one. It represents indeed, as the former two conceptions did, a unity persisting through the change of its parts, but this unity and identity persisting in the multitude are neither biological nor directly and properly psychological, but must, in distinction from these, be considered as specifically sociological; that is to say, while the second is the social consciousness or social mind itself, this is the product of it, and can be understood only by looking into the human soul, and

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by perceiving thoughts and wills which not only have a common drift and tendency, but are creators of a common work. The idea, however, of a body capable of willing and acting is, as said above, not always, and not necessarily, implied in the idea of a sociologic­al unit. There is a conception preceding it, as protoplasm precedes individual bodies; namely, the general idea of a society (or a community, if this important distinction is adverted to), which is not essentially different from our second idea of a psychological unit, except in this one respect, accessory to it, that the idea of this unit be present somehow in the minds of the people who feel or know themselves as belonging to it. This conception is of far-reaching significance, being the basis of all conceptions of a social, as contrasted with a political, corporation. It therefore comprises especially those spheres of social life which are more or less independent of political organization, among which the economical activity of men is the most important, including, as it does, domestic life as well as the most remote international relations between those who are connected exclusively by the ties of commercial interest. But practically it is of little consequence whether this general idea be considered as psychological or as sociological, unless we precisely contemplate men who consciously maintain their own conception of their own social existence, in distinction from other ideas relating to it, chiefly when it is put in contrast to the idea of a political corporation, and the political corporation of highest import is concerned – the state. And it was exactly in these its shifting relations to the state that the idea of society proper – though without recognition of its subjective character – was evolved about fifty years ago by some German theorists – notably Lorenz Stein, Rudolph Gneist, and Robert Mohl – who were more or less strongly under the sway of Hegelian philosophy, seeing that Hegel in his Rechtsphilosophie develops his idea of human corporate existence under the threefold heading of (1) the family as “thesis”, (2) civil society as “anti­ thesis”, and (3) the state, as “synthesis” of the two former. But, though I myself lay considerable stress upon this general notion of society, in juxtaposition and opposition to the state or political society, I still regard it as more indispensable to a theory of social structure to inquire into the nature and causes of what may be called, from the present point of the two former. Tönnies bezieht sich hier auf den dritten Teil (Die Sittlichkeit) der hegelschen Rechtsphilosophie, und zwar auf den ersten Abschnitt (die Familie), den zweiten Abschnitt (die bürgerliche Gesellschaft) und den dritten Abschnitt (den Staat); vgl. Hegel 1964.

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of view, genuine corporations; that is, those conceived of as being capable of willing and acting like a single individual endowed with reason and selfconsciousness. The question arises how a “moral person” may be considered as possessing this power. Evidently this is an impossibility, unless one single individual, or several together, are willing and acting in the name of that fictitious being. And in order justly to be taken for the volitions and acts of an individual distinct from their own individualities, those volitions and acts must be distinguishable by certain definite marks from the rest of their willing and acting, which they do in their own name; they must be differentiated formally. There must be a tacit or an open understanding, a sort of covenant or convention, that only volitions and acts so differentiated shall be considered as volitions and acts of the said moral person whom that one or those several individuals are supposed to respresent. By the way, this question of marks and signs, consensual or conventional, by which a thing, physical or moral, not only is recognized as such, but by which its value (or what it is good for) is differentiated from its existence (or what it is), pervades all social life and mind, and may be called the secret of it. It is clear that certain signs may easily be fixed or invented whereby the volitions and acts of a single individual may be differentiated from the rest as being representative. But how if there are more than one, who only occasionally have one will and act together, and who cannot be supposed to agree in their feelings as soon as they are required to represent their moral person? It is well known that these must be “constituted” as an assembly or as a whole capable by its constitution to deliberate and, what is more, to resolve and act. It must be settled by their own or by the will of another person (1) under what conditions, and with respect to what subject-matters, their resolutions shall be considered as representing declarations of will of their own body; and (2) under what conditions, and with respect to what subject-matters, declarations of will of this body shall be valid as declarations of will of the moral person they respresent. It is therefore the constitution of a multitude into a unity which we propose as a fourth mode, and as a necessary consequence of the third one, unless the moral person be represented exclusively by a single man or woman as a natural person. The Many constitute themselves or are constituted as a body, which is, as far as it may be, similar to a natural person in such relations as are essential precisely for the notion of a person. Consequently, this body also is a unity, but a unity conceived a priori as being destined for a definite purpose, viz., the representation of a moral person – the third or

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sociological kind of unity. And it is different from that third notion by this very relation only, which evidently cannot be inherent in that person himself. That, in consequence of this relation, it has a visible existence apart from its own idea, while the moral person represented is nothing beyond his own idea. We may distinguish, therefore, between five modes of existence in a moral person represented by a body: (1) the ideal existence in the minds of its members; (2) the ideal existence of the body constituted, which represents the moral person, being as well in the minds of the natural persons who compose that body, as in the minds of members of the corporation generally; (3) the visible existence of this body, being the assembly of natural persons, willing and acting under certain forms; (4) the intelligible existence of this assembly, being conditioned by a knowledge, on the part of those who externally or theoretically perceive it, of its constitution and its meaning; (5) the intelligible existence of the moral person or the body represented, being conditioned of a knowledge of the relation between this corporation and the body representing it, implying the structure of the former in the first, and of the latter in the second instance. The visible existence of an assembly means that members are visible as being assembled, but the assembly as a body can be recognized only by a reflecting spectator who knows what those forms mean, who “realizes” their significance, who thinks the assembly. Of course, a corporation also, apart from its representation, can be perceived only mentally, by outsiders as well as by its own members, and these are different perceptions (distinguished here as ideal and intelligible existence): members perceiving it directly as a product of their own will, and therefore in a way as their property (a thing which they own); and outsiders perceiving it only indirectly, by knowing the person or body that represents it; this being an external perception only, unless it be supplemented by a knowledge of its peculiar mode of being, that is, of its constitution and of the relations which members bear to the whole, and the whole to its members. But it is, above all, in this respect that great differences exist between different kinds of corporations. The first question is whether individuals feel and think themselves as founders or authors or at least as representative ideal authors of their own corporation. Let us take an obvious example. Suppose a man and a woman contract a marriage (we waive here all questions of church or state regulations for making the marriage tie public). They are said to found a family. Now, the children springing from this union and growing up in this family cannot justly feel and think themselves as the creators or authors of it, as long as they are dependent upon their

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parents. However, they partake of it more and more consciously, and some day they may take upon themselves the representation of this whole internally and externally, in place of their father and mother. They may learn to feel and to think of themselves as bearers of the personality of this ideal being, playing, so to speak, the parts of the authors and founders, whom they also may survive, and will survive in the normal course of human events; and they may continue the identity of the family beyond the death of their parents. They may maintain the continuity of this identical family, even when new families have sprung from it which may or may not regard themselves as members of the original one. The proposition that it exists still is true at least for those who will its truth, and who act upon this principle; nay, it is by their thought and will that they are creating it anew, as it was made originally by the wills of the first two persons. A different question is whether the existence of this corporation will be recognized and acknowledged by others, who may stand in relations to its members, or may simply be impartial theoretical spectators. But, further, there is this fundamental difference in the relation of individuals to that ideal entity which they think and will, whether they be its real or merely its representative authors, viz.: (1) they may look upon the corporation, which they have created really or ideally, as upon a thing existing for its own sake, as an end in itself, although it be at the same time a means for other ends; or (2) they may conceive it clearly as a mere tool, as nothing but an instrument for their private ends, which they either naturally have in common, or which accidentally meet in a certain point. The first case appears in a stronger light, if they consider the social entity as really existing, and especially if they consider their corporation as a living being; for a real thing, and especially a living thing, has always some properties of its own. The latter has even something like a will of its own; it cannot be conceived as being disposable, divisible, applicable, and adaptable at pleasure to any purpose, as a means to any end – this being the notion of pure matter, as it exists only in our imagination; and therefore a thing which has merely a nominal existence would be really nothing but a mass of such imaginary matter, absolutely at one’s disposal, offering no resistance, being stuff in itself, that is to say, potentially anything one may be able to make, to knead, to shape, or to construe out of it (of course, real matter may and will more or less approach to this idea). On the other hand, to think of an ideal thing as being ideal is not the same as to think of it as imaginary matter; but if one aims at a certain object, if one follows out one’s designs, one is constrained by a psychological neces-

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sity to break resistances and to subject things as well as wills to one’s own will; one tends to make them all alike, as “wax in one’s hand”, to remove or to oppress their own qualities and their own wills, so as to leave, as far as possible, nothing but a dead and unqualified heap of atoms, a something of which imaginary matter is the prototype. Of course, it is only as a tendency that this dissolving and revolutionary principle is always active, but its activity is manifest everywhere in social life, especially in modern society, and characterizes a considerable portion of the relations of individuals to each other and consequently to their corporations. As long as men think and regard “society” – that is to say, their clan or their polis, their church or their commonwealth – as real and as truly existing; nay, when they even think of it as being alive, as a mystical body, a supernatural person – so long will they not feel themselves as its masters; they will not be likely to attempt using it as a mere tool, as a machine for promoting their own interests; they will look upon it rather with awe and humility than with a sense of their own interest and superiority. And, in consequence of feelings of this kind, they even forget their own authorship – which, as a rule, will indeed be an ideal one only; they will feel and think themselves, not creators, but creatures of their own corporations. This is the same process as that which shows itself in the development of men’s regular behavior toward their gods, and the feeling and thinking just mentioned are always closely related to, or even essentially identical with, religious feeling and thinking. Like the gods themselves, to whom so regularly la cité antique, with its temples and sanctuaries, is dedicated, the city or corporation itself is supposed to be a supernatural eternal being, and consequently existing not only in a real, but in an eminent sense. But, of course, all feelings of this kind are but to a limited extent liable to retard the progress of a consciousness of individual interests, or, as it is commonly spoken of – with a taint of moral reproach – of selfishness. As a matter of fact, it is the natural ripening of consciousness and thinking itself which makes reflection prevail over sentiment, and which manifests itself, first and foremost, in reflection upon a man’s own personal interest, in the weighing and measuring of costs and results; but, secondly, also in a similar reflection upon some common interest or business which a person, from whatever motive, selfish or not, has made his own affair; and, thirdly, in that unbiased interest in and reflection upon the nature and causes of

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la cité antique: Vgl. Fustel de Coulanges 1864.

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things and events, of man’s happiness and social existence, which we call scientific or philosophical. All reflection is, in the first instance, analytical. I have spoken already of the dissolving principle which lies in the pursuing of one’s own personal affairs, of which the chase after profit is but the most characteristic form. But the same individualistic standpoint is the standpoint, or at least the prevailing tendency, of science also. It is nominalism which pervades science and opposes itself to all confused and obscure conceptions, closely connected, as it is, with a striving after distinctness and clearness and mathematical reasoning. This nominalism also penetrates into men’s supposed collective realites (supernatural or not), declaring them to be void and unreal, except in so far as individual and real men have consented to make such an artificial being, to construct it, and to build it up mentally. Knowledge and criticism oppose themselves to faith and intuition, in this as in most other respects, and try to supplant them. To know how a church or a state is created means the downfall of that belief in its supernatural essence and existence which manifestly is so natural to human feeling and intellect. The spirit of science is at the same time the spirit of freedom and of individualistic self-assertion, in contradiction and in opposition to the laws and ties of custom – as well as of religion, so intimately connected and homologous with custom – which seem entirely unnatural and irrational to analytical reasoning. This reasoning always puts the questions: What is it good for? Does it conduce to the welfare of those whom it pretends to bind or to rule? Is it in consonance with right reason that men should impose upon themselves the despotism of those laws and of the beliefs sanctioning them? The classical answer has been given in a startling fashion by one whom Comte called the father of revolutionary philosophy. There is, says Thomas Hobbes, a realm of darkness and misery, founded upon superstition and false philosophy, which is the church; and there is, or there might be, a realm of light and of happiness, founded upon the knowledge of what is right and wrong; that is to say, of the laws of nature, dictated by reason and by experience, to check hostile and warlike indi 28

Hobbes: Tönnies beschäftigte sich zeitlebens mit der Wende in der Naturrechtsdiskussion, wie sie durch des engl. Philosophen Theorem vom „Krieg aller gegen alle“ als dem Naturzustand des Menschen ausgelöst wurde. Tönnies gilt, nachdem er 1878 in England „wertvolle Entdeckungen über Leben und Werke Hobbes“ (vgl. Tönnies 1931: 1918) gemacht hatte, international als einer der produktivsten Hobbes-Forscher und wurde 1929 zum Präsidenten der im selben Jahr zu Oxford gegründeten Societas Hobbesiana gewählt; siehe dazu z. B. Tönnies 1932 (TG 22, Tönnies 1998: 320–323).

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vidual impulses by a collective will and power; this realm is the true state, that is to say, the idea and model of its purely rational structure, whether it may exist anywhere as yet or not. Hobbesianism is the most elaborate and most consistent system of the doctrine commonly known as that of “natural law” (Naturrecht), including, as it always did, a theory of the state. As a matter of fact, this doctrine has been abandoned almost entirely, especially in Germany, where it had been exerting a very considerable influence in the century which preceded the French Revolution, when even kings and absolutist statesmen were among its open adherents. It has been controverted and abandoned ever since the first quarter of the nineteenth century – a fact which stands in manifest connection with the great reaction and restoration in the political field following the storms of that revolution and of Bonapartist rule in Europe. There is hardly a liberal school left now which dares openly profess that much derided theory of a “social compact”. This, I believe, is somewhat different in the United States. As far as my knowledge goes, this theory – that is to say, an individualistic construction of society and of the state – is still the ordinary method employed in this country for a deduction of the normal relations between state or society, on the one hand, and individuals, on the other; for, as needs no emphasis, it is not the opinion of an original contract in the historical sense that is to be held in any way as a substantial element of the theory. And yet the obvious criticism of that pseudo-element has been the most powerful argument against the whole theory, which consequently has seldom met with an intelligent and just appreciation in these latter days. And it is in opposition to it that, apart from a revival of theological interpretations, the recent doctrine of society or state as an organism has become so popular for a time. This doctrine, of course, was an old one. Not to speak of the ancients, in the so-called Middle Ages it had preceded the contract theory, as it has supplemented it in more modern times. It was, indeed, coupled with the theological conceptions and religious ideals so universally accepted in those days although it was not dependent upon them. The doctrine of St. Thomas and of Dante, however, contains a theory of the universal state; that is to say, of the empire, not a theory of society, of which the conception 32

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St. Thomas and Dante: Nach Thomas von Aquins papsttreuer Version ist staatliche Autorität nur von Gott her möglich, dem Ghibellinen Dante dagegen steht der Frevel am Staat dem Verrat an Gott gleich, die drei Erzsünder sind ihm dann auch Judas und die Cäsar­ mörder Brutus und Cassius. not a theory of society: Die theoretische Grundlage der „Göttlichen Komödie“ Dantes findet sich in der Sittenlehre des Aristoteles, so wie sie Thomas von Aquino mit der christ-

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had not yet been formed, as we may safely say that a consciousness of it did not exist. This traditional organicism – applied as well to the church, the mystic body, of which Christ was the supposed head – has been transferred of late to “society”, after it had regained fresh authority as a politic­al doctrine. However, the conception of a “society”, as distinguished from political or religious bodies, is much more vague and indefinite. Either it is to be taken in the first and second sense, which I have pointed out as a biological or a psychological aspect of collective life, in which case organic analogies hold, but the whole consideration is not properly sociological; or it may be taken in our third, or sociological, sense, in which case it implies much less than any corporation the idea of what may be called an organization. It is well known that a lively controversy has been aroused about the new organicist theory, as proposed by Mr. Spencer and others, chiefly among those sociologists who center about the Institut international of Paris, where the late lamented M. Tarde played so prominent a part. M. Tarde has been among the foremost combatants against the vague analogies of organicism; and I fully agree with most of his arguments as set forth in the third sociological congress of 1897. I even flatter myself on having anticipated some of them, in an early paper of mine upon Mr. Spencer’s sociological work; which paper, however, did not become known beyond the small public of the Philosophische Monatshefte (1888). I have especially, and to a greater degree than M. Tarde, insisted upon the radical difference between a physiological division of labor and that division which

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lichen Sittenlehre in Einklang gebracht hatte. Für Thomas stellt sich erst durch die Verknüpfung von Wissen und Glauben die ganze christliche Weisheit her. Die sich hieraus ergebenden Normen prägen auch die politische Sphäre: Dem Fürsten, dem einerseits das Recht zusteht, für Zwecke der Gemeinschaft Steuern von seinen Untertanen zu erheben, obliegt andererseits die Verpflichtung zu höchster Gerechtigkeit. Institut international of Paris: D. i. das Institut International de Sociologie, 1894 mit einer geschlossenen Zahl von 100 Mitgliedern gegründet. Darüber hinaus gehörten ihm sog. „Associés“ an. Tönnies war Gründungsmitglied, seit 1899 Vizepräsident des Instituts. In einem Brief an Friedrich Paulsen, datiert vom 27. 9. 1894, äußert er sich dazu: „Die Begründung eines Institut international de sociologie scheint mir wichtig genug, um persönlich und um als Deutscher daran teilzunehmen.“ Und einige Tage später, am 6. 10. 1894, meldet er aus Paris, dass „ich hergekommen, freut mich. Es war auch gut, daß das deutsche Reich vertreten war. Wir haben nach Kräften Brüderschaft getrunken“ (vgl. Klose u. a. 1961: 312 f.). Philosophische Monatshefte (1888): Tatsächlich erschien die Abhandlung „Herbert Spencers sociologisches Werk“ dort 1889; vgl. Tönnies 1889.

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is a cardinal phenomenon of society. I said: If we justly call it a division of labor that England manufactures cotton and China produces tea, and that the two countries exchange their products, then there is not and has not been a common labor or function preceding this division and dividing itself, as in the case of an organism; no state of society being historically known where China and England were one whole, working in harmony upon the spinning-wheel and upon the tea plant. This is far from being true; each had its own historical development, until they met in the mutual want of barter; and even this consideration implies that the countries themselves may justly be said to entertain trade and commerce with each other, though this is hardly more than a façon de parler with respect to a country like China. It may be objected that there is a better analogy, if we think of a primitive household, where labor is indeed one and is shifting among members of the community, while at a later stage it splits up into several families, some cultivating the soil, some becoming warriors or priests, or artisans and tradesmen. And in the same way a village community, even an independent township like the ancient or mediæval city, and a whole territory of which a city is the center, may reasonably be conceived of as one real household, of which all single households form organic parts. They would thus be contrasted with modern society, which is more adequately conceived of as a mere aggregate of individual households, each pursuing its own interest, maybe at the cost of all the others. This is my own objection, and this view is contained in my own theory of Gemeinschaft and Gesellschaft, meaning the dualism of that primitive economical condition, surviving in many respects down to our own days, on the one hand, and “commercial” or “capitalistic” society, of which the germs are traceable in any form of what, with an abstract term, may be called communism, on the other. It is the former sense that even modern political economy may

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I said: Die Passage, auf die Tönnies sich bezieht, lautet: „Wenn wir, der Deutlichkeit halber, als ein typisches Verhältnis den Austausch zwischen England und China nehmen, so geht ihrer Zweiheit nicht die Einheit vorher, welche etwa zugleich Tee gebaut und baumwollene Waren fabriziert hätte, wenn auch beides in minder vollkommener Weise, um alsdann alle ihre Kräfte für Tee in China zu versammeln, alle für Baumwollwaren in England – nichts dergleichen; sondern wenn wir auch die gesamten Länder – als Subjekte ihres Austausches denken mögen (was noch am günstigsten für die Vorstellung ist), so bleiben sie doch durchaus selbständig gegeneinander und ohne jedes organische Verhältnis zueinander“ (vgl. Tönnies 1925: 92 f.). façon de parler: [frz.] Redensart. Gemeinschaft and Gesellschaft: Vgl. Tönnies 1887 (TG 2).

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be spoken of (as we style it in German) as “national“ economy. But even if this be allowed, the organic analogy does not hold other than in a rather indefinite way. Where is the one “social body”, which thus evolves its organs and members, being in its early stage like a single household or a village community, and growing to be a complex ensemble of manors and municipalities and great cities, some of which have their manufactures working for foreign export, some for inland consumption? Is it England that has taken a development of this kind? Or is England and Wales? Or are Scotland, and even poor conquered Ireland, to be included? The more we should try to follow out the admirable attempt which Herbert Spencer has made in this direction of employing the organicist view as a working hypothesis, the more we should become convinced that our real insight into the lines along which social evolution travels is more hampered than promoted by that method of biological analogies.

III.

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But did I not say there was truth in the biological conception of social life? Indeed I did, and I say so again, if social life is considered externally, and if we speak of a group as a living whole, where life is understood in its genuine sense, that is to say, biologically. And from this point of view, as that famous term, “physiological division of labor”, is borrowed from economical fact and theory, we may vice versa apply physiological terms to social life, considered externally. We may speak of organs and functions in a nation or society, or even with respect to mankind at large. We may metaphorically call the civilized nations the “brain” of humanity, and we may say that the United States has become an independent lobe of the cortex in the course of the last forty years. In the same way it was only lately, I understand, that your President spoke of railways as the arteries through which the blood of trade is circulating. The force of this metaphor will, I believe, not be impair­ed by the fact that several theorists point in more than a figurative sense to money, or credit, as the social fluid into which all substances of commodities are changed, and which nourishes again the social brain and social muscles; that is to say, men and women who perform men 27

your President spoke: Die Aussage Theodore Roosevelts (1925: 117) lautet: „At the same time it must not be forgotten that our railways are the arteries through which the commercial life-blood of this nation flows“.

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tal and physical work; in consequence of which analogy banks, and their correspondence by letters and bills and checks, would, more than railways, resemble arteries and veins. Of course, it would be small trouble to adduce a number of similar ambiguities, which make sociological inquiries of this kind appear as a matter of rhetoric and poetry, but not of science. Is there no other, no philosophical, truth at least in the comparison of a corporation to a living body? If there is, it can, according to the present view, be only in this respect, that a corporation may be thought and felt as an organic whole, upon which the members think and feel themselves dependent in such a way that they consider their own inidvidual existence as subservient to the life of the whole. The question whether a “society” is an organism must be kept apart from the question whether there are “societies” the relations of which to their members are so qualified as to imply thoughts and feelings of that kind on the part of their members. We are well aware that social systems, which have been called by some eminent authors “ancient society”, truly exhibited this characteristic trait. Why is not modern society – and, above all, the modern state – an organism in this peculiar sense? I believe, indeed, that there is strong reason for controverting the theory in its application to these collective beings as they actually are. We live, as everybody knows, in an individualistic age, and we seek each other’s society chiefly for the benefit that accrues from it; that is to say, in a comparatively small degree from motives of sentiment, and to a comparatively great extent from conscious reflection. It is this which makes us regard the state also as an instrument fit for serving our particular interests, or those we have in common with some or with all of our fellow-citizens, rather than as an organism, ideally pre-existent to ourselves, living its own life, and being entitled to sacrifices of our life and property in its behalf. It is true that in extraordinary times we live up to this view, but then we do not speak so much of society and of the state as of the fatherhood which puts forward its claim to what we call our patriotism. A feeling of brotherhood and fellowship, of which in ordinary times the traces are as sadly scarce among compatriots as those who are foreigners to each other, rises, in moments of public danger, from the bottoms of our souls in effervescent bubbles. The feeling, to be sure, is more of the nature of an emotion than of a last 16

ancient society: Vgl. Morgan 1877: 552. Im Wiederabdruck seines Vortrages (Tönnies 1906v) hat Tönnies hier den Quellennachweis als Fußnote eingefügt: „Ancient society, p. 552.”.

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ing sentiment. Our normal relations toward our present societies and states must not be taken as being accommodated to this extraordinary standard. They are, howsoever men may boast of their patriotism, generally of a calm and calculating character. We look upon the state, represented as it is by its government, as upon a person who stands in contractual rather than in sentimental relations to ourselves. Certainly this view is more or less developed in different countries, under different circumstances, with different individuals. But it is the one that is indorsed by the most advanced and the most conscious members of modern societies, by those powerful individuals who feel themselves as masters of their own social relations. Societies and states are chiefly institutions for the peaceful acquisition, and for the protection, of property. It is therefore the owners of property to whom we must look when we are inquiring into the prevailing and growing conceptions of society and of the state. Now, it cannot be doubted that they do not consider either society or the state as representing that early community which has always been supposed to be the original proprietor of the soil and of all its treasures, since this would imply that their own private property had only a derivative right – derived from the right and law of public property. It is just the opposite which they think and feel: the state has a derivative right of property by their allowance and their contributions; the state is supposed to act as their mandatary. And it is this view which corresponds to the facts. A modern state – it is by no means always the youngest states that are the most characteristic types of it – has little or no power over property. I cannot refrain from quoting here, as I have done elsewhere, a few sentences of the eminent American sociologist, Mr. Lewis Morgan, in which he sums up his reflections upon modern as contrasted with “ancient society”, Since the advent of civilization the outgrowth of property has been so immense, its forms so diversified, its uses so expanding, and its management so intelligent in the interests of its owners, that it has become, on the part of the people, an unmanageable power. The human mind stands bewildered in the presence of its own creation.

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Since the advent ... of its own owners: Die Passage lautet (ebd.): „Since the advent of civilization, the outgrowth of property has been so immense, its forms so diversified, its uses so expanding and its management so intelligent in the interests of its owners, that it has become, on the part of the people, an unmanageable power. The human mind stands bewildered in the presence of its own creation. The time will come, nevertheless, when

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He thinks, it is true, that the time will come when human intelligence will rise to the mastery over property, and will be able to define the relations of the state to the property it protects, as well as the obligations and the limits of the rights of its owners. declaring himself unwilling, as he does, to accept “a mere property career” as the final destiny of mankind. But this outlook into a future far distant – although it was written, I believe, before there were any of the giant trusts established, and ere anybody in these states seemed to realize the dangers of the enormous power of combined capital – does not touch immediately the present question. It is the actual and real relation of the state to individuals which best reflects itself in the lack of power over property, as pointed out by Mr. Morgan, or, in other words, in the subservient position which the governments hold, in all countries more or less, toward the wealth-possessing classes. I do not say – although maybe I think – that this ought to be different; “je ne propose rien, j’expose.” It is merely as a theoretical question that I touch upon this point. But I am not prepared to deny that it is also the great practical pro­ blem of social structure – to reconstruct the state upon a new and enlarged foundation; that is to say, to make it, by common and natural effort, a real and independent being, an end in itself, a common wealth (spelled in two words) administered not so much for the benefit of either a minority or a majority, or even of the whole number of its citizens, as for its own perpetual interests, which should include the interests of an indefinite number of future generations – the interests of the race. It cannot be overlooked that there are at present many tendencies at work in this direction, but I believe they are in part more apparent than real. The problem, we should confess, is an overwhelming one; and I for one do not feel at all sure that this splendid and transcendent constitution of ours will overcome its difficulties; that there will be sufficient moral power even if intelligence should rise to a suf-

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human intelligence will rise to the mastery over property, and define the relations of the state to the property it protects, as well as the obligations and the limits of the rights of its owners“. „a mere property career“: Vgl. ebd.: „A mere property career is not the final destiny of mankind, if progress is to be the law of the future as it has been of the past“. „je ne propose rien, j´expose.“: [frz.] svw.: Ich schlage nichts vor, ich lege etwas dar (als Zitat nicht nachgewiesen).

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ficient height, for solving in a truly rational way the “social question” as a question of social structure.

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To sum up the argument, I put it in the form of a few theses or pro­ positions: 1. The object of sociological theory proper, in distinction from either biological or psychological, though these be never so closely connected with it, is the corporation, for the most part represented, as it is, by a constituted body. 2. Religious faith makes some of the most important corporations appear as real, organic, mystic, and even supernatural beings. Philosophical criticism is right in discovering and explaining that all are creations of man, and that they have no existence except in so far as human intellect and human will are embodied in them. 3. But nominalism is not the last word of a scientific philosophy. The existence of a corporation is fictitious indeed, but still is sometimes more than nominal. The true criterion is whether it be conceived and felt as a mere tool or machine, without a life of its own, or as something organic, superior to its temporary members. The true nature, however, of this conception is legible only from facts. 4. As a matter of fact, modern society and the modern state are prevailingly of a nature to correspond to an individualistic and nominalistic conception and standpoint. This is distinctly perceptible in the relation of the public power to private property. 5. This relation, and the relation dependent upon it, may substantially change in the course of time. An organic commonwealth may spring into existence which, though not sanctioned by any religious idea, and not claiming any supernatural dignity, still, as a product of human reason and conscious will, may be considered to be real in a higher sense than those products, as long as they are conceived as mere instruments serving the interests and objects of private individuals.

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propositions: Die folgenden Ziffern 1.–5. sind in Tönnies 1906v in Klammern gesetzt.

Glückauf! Die Bekämpfung der Sozialdemokratie, ihrer Irrtümer und Übertreibungen, ihrer Verworrenheiten und Widersprüche, ist gewiß eine notwendige und verdienstliche Sache, wie die Betonung einer patriotischen und monarchischen Gesinnung es ebenfalls ist – zumal für einen praktischen Staatsmann. Aber die unumwundene Anerkennung dieser Verdienste kann doch nicht übersehen, daß die allzu eifrige und beflissene Hervorkehrung dieser Tendenzen manchmal zu recht sonderbaren, recht bedenklichen Gedankengängen verführt. Es ist immer dieselbige üble Sache, wenn Menschen sich mit Ausschließlichkeit der Verfolgung einzelner Zwecke und Absichten hingeben, z. B. dem Gelderwerb oder dem Streben nach Ehrenstellen, oder nach „Eroberungen“, sei es in „öder“ Weltpolitik oder, wie die Kokette, im Ballsaale. Die Anspannung aller Sinne auf den einen Zweck, das geistige Hinstarren auf einen Punkt, macht blind und taub gegen alle hemmenden Vorstellungen, es bewirkt, daß alle Gedanken sich dem einen Gedanken unterordnen, daß alles, was doch Wert und Bedeutung an und für sich selber hat, zum bloßen, banalen und nichtswürdigen Mittel erniedrigt wird. Der preußische Ministerpräsident bringt ein Gesetz an den preußischen 1

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Glückauf!: Unter dem Pseudonym „Normannus“ erschienen in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1905, V. Jg., Nr. 2, zweites Aprilheft, S. 49–52. „Normannus“ ist ein von Ferdinand Tönnies öfter verwendetes Pseudonym, unter dem er vor allem in der Zeitschrift „Das freie Wort“ zwischen 1904 und 1913 mehr oder weniger regelmäßig publizierte (vgl. Fechner 1992, S. 158 f.). Ministerpräsident: D. i. Fürst Bernhard Heinrich von Bülow, der von 1900 bis 1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident war. ein Gesetz: Unter dem Eindruck des großen Streiks der Ruhrbergarbeiter (siehe dazu hier S. 258–268) kündigte die preußische Regierung am 27. Januar 1905 eine Novelle zum Berggesetz an, die die bestehenden Bestimmungen in einer Reihe von Fällen zugunsten der Arbeiter ändern sollte. Am 9. Februar wurde daraufhin auf einer Delegiertenkonferenz beschlossen, den Streik abzubrechen. Die Novelle wurde am 26. Mai 1905 vom Abgeordnetenhaus verabschiedet. Sie brachte den Arbeitern einige Verbesserungen, wie teilweise die Herabsetzung übermäßiger Arbeitszeiten, die Einführung von Arbeiterausschüssen, die Reformierung des Strafsystems und eine Reihe sanitärer Vorschriften. Eine grundsätzliche Verbesserung der Verhältnisse auf den Zechen trat jedoch nicht ein (vgl. Fricke 1955).

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Landtag, das dazu bestimmt ist, furchtbaren Übeln abzuhelfen, unter deren Druck Hunderttausende von preußischen Staatsbürgern leiden, wodurch diese Hunderttausende an den Rand der Verzweiflung getrieben wurden und sich zu einer einmütigen Kundgebung erhoben, hinter deren großem Ton alle Gegensätze religiöser und politischer Parteiung verstummten und verschwanden. Der lächelnde Diplomat erklärt zur Begründung dieser Vorlage, wenn auch nicht ganz mit „dürren“ Worten: unser, der Regierung Vorgehen in dieser Sache hat einzig und allein den Zweck – die Sozialdemokratie zu bekämpfen, die Ausdehnung der sozialdemokratischen Organisation in dem Kreise der Bergleute zu verhindern. Wenn wir ein solches Gesetz nicht fertigbringen, so werden gar manche Bergleute, die bisher noch katholischchristlich und kaiserlich gesinnt waren, sagen: „Nein, mit unserer katholischchristlichen – Vergebung, protestantisch-christlichen oder nein: christlichparitätischen Regierung ist nicht zu reden, es bleibt uns nichts übrig, als zur Sozialdemokratie überzugehen, die dieser Regierung eine entschiedene und unbedingte Opposition macht.“

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Kundgebung: Allein im Jahre 1905 streikten in Deutschland fast ebenso viel Arbeiter wie in den Jahren 1900 bis 1904. Es gab 2.403 Streiks, an denen 408.145 Personen beteiligt waren. Während der grossen Streikbewegung im Ruhrgebiet stieg die Zahl der Streikenden bis zum 19. Januar 1905 allein auf rund 217.500 an. Das waren 78 Prozent der Gesamtbelegschaft (vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1905: 42 f.; ebd. 1915: 92; zur Problematik der Streikstatistik vgl. Fricke 1955: 772). alle Gegensätze ... verschwanden: Ein besonderes Merkmal des Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905 war die Aktionseinheit der vier Bergarbeiterorganisationen: des Verbandes deutscher Bergarbeiter, des Gewerbevereins christlicher Bergarbeiter, des Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins und der polnischen Berufsvereinigung. Der lächelnde Diplomat erklärt: Wörtlich sagte der preußische Ministerpräsident am 27. 3. 1905 (Stenographische Berichte der Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten 1905: 12155 bzw. Bülow 1907: 207): „Solange ich an dieser Stelle stehe, werden Sie mich im Kampfe gegen die Bestrebungen, die freiheits- und kulturwidrigen Bestrebungen der Sozialdemokratie immer auf dem Platze finden! ... Prüfen Sie mit Wohlwollen die Vorschläge, welche Ihnen die Königliche Staatsregierung unterbreitet. Was Sie, meine Herren, in der Erfüllung der sozialen Aufgaben, der sozialen Pflichten des Staates mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit für die Abstellung wirklicher Beschwerden tun, das tun Sie gegen sozialdemokratische Bestrebungen, das tun Sie für die Monarchie“. „Nein, ... Opposition macht.“: Als Zitat so nicht nachgewiesen. Bülow beschloss die Debatte unter anderem mit folgenden Worten: „Es kommt dazu, meine Herren – und das ist ein wichtiger Punkt –, daß der alte Bergarbeiterverband bestrebt ist, die christlichen Gewerkschaften aufzusaugen ... Erschweren wir nun dieses Bestreben der Sozialdemokratie, die christlichen Gewerkschaften aufzusaugen, erschweren wir das, indem wir

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Außerdem, sagt der Graf, war unsere Meinung, als wir durch das Versprechen gesetzlicher Reform auf Beendigung des Ausstandes hingewirkt haben, daß es zur Bekämpfung der Sozialdemokratie dienlicher sei, Not und Elend unter den Bergleuten nicht zum Äußersten kommen zu lassen, denn – Not und Elend sind der beste Acker für die Sozialdemokratie. Eine bemerkenswerte Zurechtweisung für diese Auslassung hat der kluge Staatsmann sich, wie wir lesen, durch eine gewisse „Antisozialdemokratische Correspondenz“ gefallen lassen müssen. Diese führt aus, die Ansicht, die er ausgesprochen habe, sei veraltet. Nein, je mehr der Arbeiter prosperiere, je mehr er Hoffnung habe, desto stärker seien seine sozialdemokratischen Tendenzen. Der Urheber dieser Zurechtweisung ist der Meinung, daß es gut sei, die „Sozialdemokraten“ durch Not und Elend für ihren Übermut büßen zu lassen, sie durch schonungslose Unterdrückung kirre zu machen, anstatt sie durch Konzessionen zu ermutigen. Wenn einmal die gesetzliche Vertretung der Arbeiterinteressen mit der Sozialdemokratie identifiziert wird, wenn um des Kampfes willen, der gegen diese geführt wird, jene verdammt und gedemütigt werden soll: so hat der Herausgeber der Antisozialdemokratischen Correspondenz, der direkt und ausdrücklich die Interessen der Unternehmerverbände vertritt, Recht gegen seinen Mitkämpfer, den Reichskanzler, der das Interesse des Staates vertritt. Den Unternehmerverbänden ist es zugestandener Weise um die Knebelung aller Arbeiterverbände, ob christlich oder sozialdemokratisch zu tun; aber

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die für die Bergarbeiter vorgeschlagenen Verbesserungen ablehnen? Ich bin überzeugt, daß, wenn die Hoffnung der Bergarbeiter auf die in diesen Gesetzentwürfen enthaltenen Reformen nicht in Erfüllung geht, dann manches Mitglied der christlichen Gewerkschaften zu der Sozialdemokratie übertreten wird.“ Und er appelliert eindringlich an das Plenum, es möge der Gesetzesvorlage zustimmen, mit einem Zitat des (christlich-nationalen) Vorsitzenden der Siebener-Kommission, Effert: „Treffen Regierung und Landtag baldigst gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutze der Bergarbeiter, so bleibt nicht nur das Vertrauen des größten Teiles der Bergarbeiterschaft erhalten, sondern Tausende, die jetzt noch zweifeln und sozialdemokratischen Utopien nachlaufen, werden neuen Mut fassen und zu Stützen der monarchischen Ordnung werden“ (ebd.: 1905: 12223 f.). Not und Elend: Die Aussage lautet (vgl. ebd.: 12154 bzw. Bülow 1907: 207): „Verlängerung des Streiks bedeutete Vergrößerung der Not und des Familienelends unter den Bergarbeitern, Not und Elend aber sind der beste Acker für die Sozialdemokratie“. „Antisozialdemokratische Correspondenz“: D. i. die „Antisozialdemokratische Korrespondenz. Organ zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“, 1903 von Max Lorenz zur Bekämpfung der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen gegründet, bis 1907 erschienen. Lorenz war bis 1896 Mitglied der SPD gewesen.

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weil das Odium auf der Sozialdemokratie ruht, so reden sie nur von dieser. Der Staatsmann will die Arbeiterverbände gelten lassen, wenn sie nur nicht sozialdemokratisch sind; aber um die Sozialdemokratie anzugreifen, nimmt er an jener objektiv unwahren Identifikation teil, die in ihrer ganzen Sinnlosigkeit sich manifestiert, wenn man auf die Ausstände in anderen Ländern, wo die Sozialdemokratie einen verschwindenden oder gar keinen Einfluß darauf hat, hinschaut. Der preußische Ministerpräsident sagt implicite: gäbe es keine Sozialdemokratie zu bekämpfen, so würden wir uns entbrechen, Gesetze zum Schutze der Arbeiter zu machen; es würde uns ganz gleichgültig sein, ob Not und Elend wachsen, wenn dadurch nicht die Sozialdemokratie gefördert würde. Und die unerbittlich-leidige Konsequenz seines Gedankenganges ist die: wir müßten Not und Elend von 200 000 fleißigen, redlichen, unter Lebensgefahren saurer Arbeit obliegenden Mitbürgern, von deren Schweiß die gesamte Industrie ernährt wird, willkommen heißen, – wenn dadurch die Sozialdemokratie gelähmt würde, wenn die Ansicht des Herrn Lorenz (so heißt ja wohl jener Schriftsteller?) richtig wäre. Und wenn sie richtig wäre, Herr Reichskanzler? – Ein denkender Mann, in so hoher verantwortlicher Stellung, wird mit gerechtem Abscheu die Unterstellung zurückweisen, daß er diese Konsequenz zu ziehen bereitwillig sei. Er wird uns bedeuten, wie er des öfteren schon getan hat, daß der Diplomat seine Ausdrucksweise nach der Gelegenheit und nach den augenblicklichen Zwecken, die er verfolgt, einrichten müsse. Sein augenblicklicher Zweck sei aber der Zweck gewesen, den Widerstand gegen die Berggesetznovelle zu überwinden. Ein Zweck, den wir billigen müssen. – Welcher Täuschung gibt der Diplomat sich hin, wenn er wähnt, daß seine Vorstellungen, die von ihm erregten Vorstellungen so viel vermögen! Wenn die Herren des Abgeordnetenhauses sich zur Annahme der wesentlichen Bestimmungen bequemen, so tun sie es gewiß nicht, weil sie sich einbilden und sich einbilden lassen, daß der Sozialdemokratie dadurch Abbruch geschehe. Sie tun es, weil sie fühlen, daß sie eine bleibende Unehre auf sich laden, wenn sie einer so bescheidenen, so sehr als notwendig sich aufdringenden Reform Widerstand leisten, daß jenes geheimnisvolle Ding, die öffentliche Meinung, ihnen nachzugeben gebietet, obgleich und wiewohl dies Nachgeben allerdings als ein Erfolg des Willens und der Kraft der Bergarbeiter gedeutet werden kann und gedeutet werden muß, wenn man ehrlich und klar die Dinge sieht wie sie sind; und obgleich die interessiertesten Gegner aller und jeder Arbeiterbewegung nicht ermüden werden, diesen Erfolg – als Erfolg der Sozialdemokratie auszuschreien. Dies alles wird der leitende Staatsmann selber erkennen und denken, und würde es

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offen und laut aussprechen, wenn er es nicht für weise hielte, seine Gedanken zu verbergen, und vielleicht mit dem berüchtigten Talleyrand glaubte, daß die Sprache dem Menschen für diese Weisheit verliehen sei. In einem gewissen Maße dies zu glauben, wird der Staatsmann nur allzusehr durch seine Erfahrungen gelehrt; aber er sollte sich immer der unermeßlichen Gefahr bewußt sein, die darin für ihn liegt, daß ein Mann, der mit vielen Redekünsten umgeht, von denen, die diese Redekünste durchschauen, nicht mehr ganz ernst genommen wird. Und während dieses trübe Gezänk über die Methode des Kampfes gegen die Sozialdemokratie und (wie es doch eigentlich gemeint ist) die Arbeiterbewegung überhaupt aus den Hallen des Hauses der Abgeordneten in den Reichstag hinüberschallt, da tritt ein anderes Ereignis auf die Bühne des hauptstädtischen Lebens. Delegierte der Bergleute selber kommen zusammen, tagen und beraten mit höchstem Ernste, einträchtig, sachlich, beschämend für andere Tagsatzungen – ein Kongreß, gemischt aus den vier verschiedenen Arten der Arbeiterverbände, gemischt aus Vertretern des Ruhrgebietes, des Saargebietes, des oberschlesischen Kohlenrevieres. Der Kongreß liefert den handgreiflichen, augenscheinlichen Beweis, daß es eine Unwahrheit ist, der Tätigkeit von Hetzern, dem Einfluß von Sozialdemokraten die gewaltige Ausstandsbewegung zuzuschreiben, daß über alle Hauptsachen Einmütigkeit vorhanden ist unter Anhängern und Gegnern der Sozialdemokratie, unter Gegnern, die wiederum weit von einander in den Grundlagen ihrer Anschauungen abweichen. „In Wahrheit sind die Verbände hier nicht so geschieden wie Parteien im Parlament“, sagte am dritten Verhandlungstag, dem 30. März, ein Redner und der Beifall, der ihm folgte, bestätigte es. In der Tat bedeuten die maßvollen und wohlmotivierten Kundgebungen dieser Versammlung einen Schritt in der inneren Entwickelung der sozialen Reform, dessen Bedeutung sehr hoch angeschlagen werden muß. Von Parteipolitik ist kein Schimmer in diesen Verhandlungen sichtbar. Wer sich mit der Geschichte der Bergleute einerseits, mit der Geschichte der sozialdemokratischen Partei andererseits angelegentlich beschäftigt hat, konnte 2 15 24

Talleyrand: Dieser frz. Staatsmann trug nach vorgängiger Parteinahme für die Revolution und dann für Napoleon entscheidend zur Restauration der Bourbonen bei. ein Kongreß: Vom 28. bis 30. März 1905 fand in Berlin der Bergarbeiter-Delegiertentag für Preußen statt. „In Wahrheit ... im Parlament“: Die entsprechende Protokollstelle lautet: „In Wahrheit seien die Verbände hier nicht so geschieden wie Parteien im Parlament. (Bravo!)“ (Protokoll über die Verhandlungen des Bergarbeiter-Delegiertentages für Preußen 1905: 76).

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Glückauf!

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niemals glauben, daß der „alte Verband“, wenngleich seine Führer sich zur Sozialdemokratie bekennen, einen ausgesprochenen Parteicharakter an sich trage, geschweige daß er die Arbeiterinteressen in den Dienst politischer Parteiinteressen gestellt habe. Er würde sich von vornherein dadurch so gut wie unmöglich gemacht haben, und wäre sicherlich nicht zu einem allgemeinen Einfluß und zur Verständigung, ja Verbindung mit den anderen Organisationen gelangt, wie es tatsächlich, erfreulicher Weise, der Fall ist. Und damit gelte, dieser erquicklichen Einmütigkeit und der Wahrheit zur Ehre, den vielgeplagten wackeren Bergleuten ein tiefherzliches Glückauf!

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der „alte Verband“: Der Verband deutscher Bergarbeiter war eine der vier gewerkschaftlichen Organisationen, die zu dieser Zeit im Ruhrgebiet existierten (siehe den Editorischen Bericht, S. 535). 10 Glückauf: In größerer Schrift und fett gedruckt. 1

Schiller und der Genius seiner Zeit

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Schiller und der Genius seiner Zeit erschien in der von Friedrich Naumann 1895 begründeten und bis zu seinem Tode 1919 geleiteten linksliberalen, der Evangelischen Arbeiterbewegung nahe stehenden Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst „Die Hilfe. Nationalsoziale Wochenschrift“ (XI. Jg., Nr. 15 vom Sonntag, den 16. April 1905g, S. 7–8). Von 1905 bis 1912 war Theodor Heuss Redakteur, bis 1936 Herausgeber dieser Zeitschrift. Bei dem Aufsatz „Schiller und der Genius seiner Zeit“ handelt es sich um die Einleitung (S. 3–7) der hier abgedruckten Monographie „Schiller als Zeitbürger und Politiker“ (S. 3–60, Tönnies 1905a). Dieser Vorabdruck wurde um zwei Sätze und einen Halbsatz gekürzt und weist sieben, inhaltlich zum Teil bedeutsame, Druckfehler auf. Eine Korrektur dieser Fehler findet sich in einer „Anmerkung zu dem Aufsatz in Nr. 15“ in der genannten Zeitschrift (1905, XI. Jg., Nr. 17 vom 30. April, S. 8). Üblicherweise sind die Texte dieser Wochenschrift am Schluss mit dem Namen des Autors gezeichnet. Das ist bei dem vorliegenden Aufsatz, offensichtlich aus Platzgründen, nicht der Fall. Darum wohl auch ist diese Schrift im „Ferdinand-Tönnies-Werkverzeichnis“ von Rolf Fechner nicht enthalten. Tönnies’ Autorenschaft ist lediglich dem Inhaltsverzeichnis (kleiner Kasten links oben) auf der Titelseite der Wochenschrift zu entnehmen. Allerdings nimmt Tönnies in dem zwei Wochen später ebd. erschienenen Aufsatz „Schiller als Zeitbürger“ (1905h) ausdrücklich Bezug auf „die vor kurzem hier gedruckte Betrachtung über Schiller und den Genius seiner Zeit“ (Tönnies 1905a: 8; hier S. 295).

Schiller als Zeitbürger

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Unter diesem Titel wird zum Hundertjahrestage des frühen Hinscheidens unseres Dichters eine kleine Schrift im Buchverlage der „Hilfe“ erscheinen: sie nimmt die vor kurzem hier gedruckte Betrachtung über Schiller und den Genius seiner Zeit in sich auf und ist darauf basiert. Ihre Grundgedanken sind nämlich folgende: daß Schiller eine sehr bedeutende Wandlung seiner Denkungsart und Dichtungsart durchgemacht hat, ist bekannt genug und kann niemandem entgehen; besonders nicht, daß eine tiefe Kluft seine späteren dramatischen Werke von den früheren scheidet. Ich versuche zunächst, diese Wandlung auf einen knappen Ausdruck zu bringen. Ich mache darauf aufmerksam, daß schon der frühere Schiller das Herz des deutschen Volkes erobert hatte, daß also ein ganz anderer Mann und Dichter es war, der sich später darin befestigt hat. Kein Wunder, daß die Unterschiede oft verkannt werden, daß man vom ganzen Schiller oder gar ausdrücklich vom späteren aussagt, was nur für den früheren gilt; kein Wunder, daß die Eigenschaften des späteren oft verkannt und mißverstanden werden. Man wird Schillers eigentümlichen Wert sowohl als die Grenzen seines ungeheuren Geistes um so besser erkennen, je mehr man lernt, den früheren und den späteren Schiller auseinander zu halten und die echte Gestalt jedes von beiden zu begreifen. Der Hauptgesichtspunkt meiner Schrift schließt sich der in der Hilfe abgedruckten Charakteristik des Rousseauschen Geistes an. Es läßt sich bemerken, daß Schiller von der dritten Richtung dieses Geistes auf die zweite und von dieser in einem gewissen Maße auf die erste zurückgegan-

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Schiller als Zeitbürger erschien zuerst in: Die Hilfe. Nationalsoziale Wochenschrift, 1905, XI. Jg., Nr. 17 vom Sonntag, den 30. April, S. 8. Der Text ist am Schluss mit „Ferdinand Tönnies“ gezeichnet und wird ergänzt durch eine siebenzeilige „Anmerkung zu dem Aufsatz in Nr. 15.“. Bei dem Aufsatz handelt es sich um den von Tönnies verfassten Text „Schiller und der Genius seiner Zeit“ (vgl. hier auch den editorischen Hinweis auf S. 294). eine kleine Schrift ... erscheinen: D. i. Tönnies’ „Schiller als Zeitbürger und Politiker“ von 1905; siehe hier S. 3–60. Genius seiner Zeit: D. i. Tönnies’ „Schiller und der Genius seiner Zeit“ von 1905; vgl. Tönnies 1905g, hier den editorischen Hinweis S. 294.

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gen ist. Dabei ist er der Rousseauschen Grundidee immer treu geblieben, die zugleich die Grundidee aller sozialistischen Bestrebungen ist, so mannigfach sie auch ausgeprägt werden mag: der Naturzustand der Menschheit ist unschuldig und glücklich; die Kultur – wie sie uns in der Erfahrung vorliegt – ist Verderbnis dieses Zustandes; das Ideal liegt in der Zukunft, es bedeutet Rückkehr zur Natur auf einer erhöhten Stufenleiter – eine Synthese von Natur und Kultur, sie hat den Durchgang durch die bisherige Kultur zur Voraussetzung. Aber nur der frühere Schiller macht seine Dichtung zum Organ seiner Gesinnung, seiner politischen Ideen. Das republikanische Drama, die soziale Tragödie lassen in ihm einen Vorkämpfer der Revolution erkennen. Davon ist jede Spur in den späteren Werken ausgelöscht. Dort tritt uns zuerst die dritte, dann die zweite Richtung des Rousseauschen Geistes, die sozialistische und die liberale, entgegen; die erste ist auch bei Rousseau wesentlich poetisch, und so tritt bei Schiller, nachdem er seinen ganzen Ehrgeiz darein gesetzt hat, nur Dichter, ganz und gar Künstler zu sein, die Richtung auf die Idylle hervor, der er aber zugleich einen idealen Gehalt zu geben beflissen ist. Das unpolitische Denken berührt sich hier – wie überall – mit dem konservativen Denken. In Schillers künstlerischer Entwickelung reflektiert sich seine Lebensgeschichte, in seiner Lebensgeschichte die Zeitgeschichte. Die Einwirkungen der französischen Revolution und ihrer Folgen, soweit der Dichter sie erlebte, sind in dieser Hinsicht vorzüglich merkwürdig. Die bedeutsamste Urkunde für Schillers Verhältnis zur Revolution ist uns – darauf will ich ganz besonders hinweisen – erst vor 30 Jahren eröffnet worden; sie liegt in der originalen Fassung der Briefe an den Prinzen, späteren Herzog von Augustenburg vor, die als „Briefe über die ästhetische Erziehung des Men-

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Der Hauptgesichtspunkt ... zurückgegangen ist: Während die Herrschaft der Vernunft sich gleichsam in Voltaire verkörpert, so die Empörung dagegen in Rousseau, wobei „drei ganz verschiedene Richtungen ungetrennt in seinem Geiste nebeneinander liegen“: die Vertretung des Dorfes gegen die Stadt (das ist die Verherrlichung der Natur gegen Künste und Wissenschaften), die Erhebung der Gesellschaft über den Staat, die Verkündung des Rechtes der Armen gegen die Reichen (vgl. Tönnies 1905a: 5 f., hier S. 10, sowie Tönnies 1905g). Die bedeutsamste Urkunde: In seiner akribischen Textexegese, in der er „originale“ und „redigierte“ Brieffassungen miteinander vergleicht, bezieht Tönnies sich auf Andreas Ludwig Jacob Michelsen (1876), Max Müller (1875) und Ludwig von Urlichs (1876) sowie auf Friedrich von Schiller selbst (1871c).

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schen“ später, stark redigiert, in den „Horen“ erschienen. An der Vergleichung des originalen mit dem redigierten Texte zeige ich, zugleich mit Hilfe anderer Zeugnisse, aus Briefen, wie sich Schiller allmählich von dem Glauben an die Revolution wegentwickelt hat, wie das, was ich seine Entzeitlichung nenne, fortschritt. Als er den Wallenstein auf die Bühne brachte, den er selber bekennt, mehr mit dem Verstande als mit dem Herzen verfaßt zu haben, ist dieser Prozeß vollendet. Dennoch versteht sich von selbst, daß eine Seele, Schillers Seele, niemals aufgehört hat, über seine Zeit, also auch über politische Dinge, zu denken. Ein Freidenker ist er in dieser wie in jeder Hinsicht geblieben. Aber er wehrte sich dagegen, seine Ansichten und Wünsche unmittelbar in seinen Dichtungen niederzulegen. In der Tat läßt sich von jenen nur weniges mühsam aus diesen entziffern. Mit Bestimmtheit aber läßt sich sagen, daß er seine kosmopolitische – und das hieß damals zugleich: französische – Gesinnung mehr und mehr abgestreift, daß er, wenn so zu sagen erlaubt ist, sein national-deutsches Herz schließlich entdeckt hat. Um die Wende des Jahrhunderts 1800/01 scheint ihm der Wert des Deutschtums und der deutschen Nationalliteratur am lebhaftesten zum Bewußtsein gekommen zu sein. Es wirkt dann in die letzten Werke fort, die aber mehr wider seinen Willen als seinem Willen gemäß zu Heroldrufen des deutschen Patriotismus in den Befreiungskämpfen und in der ganzen politischen Leidensperiode, die darauf folgte, geworden sind. Da Schillers beharrender, wenn auch anfänglich kosmopolitischer, Liberalismus also nationale Farbe annahm, so kann man mit Grund sagen, daß er der dichterische Prophet des National-Liberalismus geworden ist. Und als solcher ist er, wenn auch der Name und die Partei noch nicht vorhanden waren, im Jahre 1859, als sein Säkularleben begann, verstanden und gefeiert worden.

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Horen: Die „Horen“ war die bedeutendste Zeitschrift der klassischen deutschen Literaturperiode, 1795–1797 als Monatsschrift von Schiller bei Cotta in Tübingen herausgegeben. Nach Schillers Plan sollte die Zeitschrift unter Ausschaltung aller religiösen und politischen Themen „der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung und der gelehrten Welt zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen“ (Schiller 1871w: 232) dienen. Zu den Mitarbeitern der „Horen“ gehörten neben Schiller auch Goethe, Herder, Fichte, Hölderlin, die beiden Humboldts, Voss und Schlegel. Säkularleben: [lat. von saeculum, svw. Jahrhundert] 1859 jährte sich der Geburtstag Schillers zum hundersten Male. Schiller galt zu dieser Zeit als Symbol nationaler Einheit. Im November 1859 wurden die Deutsche Schillerstiftung gegründet, ein Schillerpreis durch den späteren preußischen König und Deutschen Kaiser Wilhelm I. gestiftet und zahlreiche Schillerfeste veranstaltet.

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Heute stehen wir Schiller ferner, und eben dadurch stehen wir ihm objektiver, also auch kritischer gegenüber. Wir sehen – ich versuche in meiner Schrift es zu zeigen –, daß er als Dichter gerade im Verhältnis zu politischen Ideen zu tiefe Wandlungen durchgemacht hat, als daß man seinem poetischen Charakter eine irgendwie bestimmte politische Farbe zuschreiben dürfte. Mit mehr Recht und Grund, als der Nationalliberalismus den späteren, kann der Radikalismus und Sozialismus den früheren Schiller für sich in Anspruch nehmen und seinen Schiller nennen. Denn in der Tat steht der ganze und wirkliche Schiller diesem ursprünglichen doch näher als jenem.

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Es sei mir gestattet, zur Ergänzung der obigen Abhandlung noch einige der leitenden Gesichtspunkte, die mir dies Thema empfohlen haben, hervor​zuheben. Daß der Verbrecher nicht bloß Gegenstand eines poetischen, sondern auch eines wissenschaftlichen Interesses für unsern großen Schiller gewesen, und daß seine Dichtkunst bedeutende Anregungen davon empfangen habe, dieser Gedanke faßte in mir Wurzel, als ich, vor nicht vielen Jahren, zum ersten Male den Fiesko auf der Bühne sah. In der Gestalt des Mohren hat Schiller den „Jauner“ (wie er auf schwäbische Art damals schrieb) mit dem Detail und, man darf sagen, aus der Liebe eines kundigen Forschers gezeichnet. Es ist der hartgesottene Sünder, der „im Handwerk erhärtete Bube“, ohne Scham und Gewissen, aber mit den Eigenschaften ausgestattet, die den Bravo wie den Spitzel zu einem nützlichen, wohl gar unentbehrlichen Instrument der Polizei und des Politikers machen – für Geld zu allem lustig und zu allem fähig, ein Galgenvogel und Spaßvogel, der „dem Teufel seine Schwüre pünktlich hält“ und entzückt ist, daß man seiner Jau 1

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Schiller und das Verbrecherproblem erschien 1905 in Band VI (April-September) der Zeitschrift „Deutschland. Monatszeitschrift für die gesamte Kultur“ in zwei Teilen, wobei der erste Teil (S. 164–178) Wilhelm Schlüter, der zweite Teil (S. 178–190) Ferdinand Tönnies als Verfasser ausweist. In einer einleitenden Fußnote bemerkt Wilhelm Schlüter dazu: „Das Thema dieser Betrachtungen sowohl als die entscheidenden Orientierungen verdanke ich Herrn Professor Tönnies. Ich habe nur in der Form der Anordnung, in der Herausstellung des Gemeinsamen im Forschungsplan der drei ersten Dramen und des Zusammenhanges des Schiller’schen Determinismus mit den Schicksalsdramen Eigenes hinzugetan. Herrn Professor Tönnies verdanke ich auch die wissenschaftliche Klärung meines soziologischen Interesses überhaupt“. Der Gesamtbeitrag (S. 164–190) ist übertitelt mit „Schiller und das Verbrecherproblem. Von Ferdinand Tönnies und Wilhelm Schlüter.“ Die einzelnen Beiträge sind jeweils übertitelt mit „I. Von Wilhelm Schlüter.“ bzw. „II. Von Ferdinand Tönnies.“; hierzu siehe auch den Editorischen Bericht, S. 557–571. obigen Abhandlung: Tönnies bezieht sich sich auf den von Wilhelm Schlüter verfassten ersten Teil der gemeinsam Studie. Jauner: Vgl. Schiller 1868: 29 („Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“, I, 9) der „im Handwerk erhärtete Bube“: Vgl. Schiller 1867c: 363 (Selbstanzeige von „Die Räuber“). Bravo: [ital.] svw. Meuchelmörder, Räuber. „dem Teufel seine Schwüre pünktlich hält“: Tönnies variiert ein Zitat des Mohren, in

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nerparole ohne Handschrift traut. Er belehrt Fiesko, den „Weichling“,1 zu dessen Erstaunen, daß auch Schelmen Gesetze und Rangordnung erkennen: die unterste Spitzbubenzunft ist die der langen Finger, dann kommt die der „Spionen und Maschinen“, zu dritt die Meuter, Giftmischer u. dgl., endlich die „Extrapost der Hölle“, die Meuchelmörder. Hassan hat diese Skala durchlaufen, „sein Genie geilte frühzeitig über jedes Gehege“, er hat ausgelernt und fühlt sich der Meisterschaft nahe. Seine intime Verbindung mit der Prostitution ist charakteristisch; er hat Eingang bei einer eleganten Dirne, und ist gegen fünf Vierteljahr ihr „Zuführer“ gewesen. Er hat auch seine „schweren Jungen“, gleich jenem Berliner Oberspitzbuben, an der Hand. „Das hab’ ich Euch nie gesagt, daß ich unter der hiesigen Garnison meine Vögel habe, auf die ich zählen kann, wie auf meine Höllenfahrt.“ Bekanntlich hat der geworbene Söldling von je dem Diebe und Räuber ziemlich nahe gestanden, mancher war es gewesen, ehe er dem Kalbs 1 Die Ausdrücke in der Selbstrezension der Räuber (1782) beziehen sich offenbar auf das zu gleicher Zeit geplante „republikanische“ Trauerspiel.

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dem es um die Glaubwürdigkeit ehrlicher Leute und Gauner geht; vgl. Schillers „Fiesko“ (I, 9, 1868: 29): „... sie [die ehrlichen Leute] brechen ihre Schwüre dem lieben Herrgott; wir [die Gauner] halten sie pünktlich dem Teufel“. „Weichling“: Vgl. Schiller 1867c: 363; in dieser Selbstanzeige der „Räuber“ von 1782, auf die sich Tönnies in der Fußnote bezieht, formuliert Schiller, das Stück führe den Betrachter in eine außergewöhnliche „Republik“ (ebd.: S. 359). Maschinen: In der Ausdrucksweise der gewerbsmäßigen Falschspieler heißt „Maschine“ das System verabredeter Verständigungszeichen, wie Husten, Spielen an der Uhrkette, Art, die Zigarre zu halten. auch Schelmen ... „die Extrapost der Hölle“: Vgl. Schillers „Fiesko“ (I, 9, 1868: 30 f.). „sein Genie geilte frühzeitig über jedes Gehege“: In ebd. (I, 9): 30: „Mein Genie ...“. „ Zuführer“: Vgl. ebd. (II, 15): 71. „schweren Jungen“: Den Begriff dürfte Tönnies dem seinerzeit weit verbreiteten Buch „Die Verbrecherwelt von Berlin“ (Ω. ς. 1886: 111) entnommen haben, in der eine Hierarchie der „Diebeswelt“ der Reichshauptstadt entwickelt wird. Auch in seiner Strafrechtsreform (hier S. 61–118) hat Tönnies daraus ausführlich zitiert. Der anonyme Autor schreibt: „Damit sind wir zugleich zu den eigentlichen gewaltsamen, den schweren Diebstählen und gleichzeitig zu der Elite der Berliner Diebeswelt gelangt. Denn ein wirklicher schwerer Junge erachtet nur diese Art des Diebstahls seiner würdig und sieht mit einer Art von Missachtung auf seine minder thatkräftigen Kollegen herab“. jenem Berliner Oberspitzbuben: Tönnies bezieht sich auf den „Kommissionär“ Dickhoff aus Berlin, den er unter Hinweis auf das Buch von Ω. ς. in seiner Monographie über die „Strafrechtsreform“ (1905b: 47) vorstellt (vgl. hier S. 112). „... eine Höllenfahrt.“: Vgl. „Fiesko“ (I, 9, 1868: 91), die beiden folgenden Zitate ebd. (II, 15): 72 bzw. (V, 10).

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fell folgte, mancher wurde es, wenn er desertiert oder entlassen war. Das Verhältnis zum Alkohol, wie es bei Geistern dieser Art sich ausbildet, stellt bei unserm Mohren sich typisch dar. Ohne Trunkenbolde zu sein, sehen sie im Rausch den Gipfel des Genusses. „In ein Weinhaus zuerst ... ich muß meinen Magen karessieren, daß er mir bei meinen Beinen das Wort redt“ ruft jener in seinem regsten Diensteifer. „Schickt mich wenigstens besoffen in die Ewigkeit“ bittet er „schmeichelnd“, als seine Rolle ausgespielt ist und der Galgen ihm winkt. – Nachdem mir die Kennerschaft Schillers auf diesem Gebiete einmal aufgefallen war, habe ich auf die „Räuber“ einen bereicherten Blick zurückgewandt. Zwar halte ich es für ein Mißverständnis Minors, daß Schiller in Spiegelberg den jüdischen Gauner habe abbilden wollen, der allerdings im ganzen 18. Jahrhundert eine große Rolle in der Kriminalität und besonders in den Räuberbanden spielte; 2 treffend hat aber der genannte Gelehrte darauf hingewiesen, daß es Schiller offenbar gereizt habe, bekannte Stücke der Gauner und Strauchritter aus der reichen Literatur und Tradition in den Kniffen Spiegelbergs wiederzugeben, „wie er ja auch die Gaunerliedchen ... nicht erdichtet, sondern nur aufgegriffen hat“ (Sch. I 319). Auch daß das Räuberleben bei dem Dichter nicht bloß seine pathetische, sondern auch seine humoristische Seite habe, bemerkt er richtig (das. 317). (Entsprechenderweise soll ja die Physiognomie des Mohren „eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune“ sein.) Ich finde 2 Die Stelle von der „Vorhaut“ hat eine andere (unsaubere) Bedeutung, in der Schiller, wie so oft in den Jugendwerken, seine medizinischen Kenntnisse ausmünzt. Die bezeichnete Rolle scheint übrigens Minor nicht gehörig bekannt zu sein.

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Kalbsfell: D. i. die Trommel (des Militärs). Räuberbanden: Tönnies bezieht sich auf eine Textpassage bei Minor (1890: 1. Bd.: 322 f.). „...Gaunerliedchen ... nicht erdichtet, sondern nur aufgegriffen hat.“: Vgl. Minor 1890: 1. Bd., 319. bemerkt er richtig: Vgl. ebd.: 317: „Aber das Räuberleben hat bei Schiller nicht bloß seine pathetische, sondern auch seine humoristische Seite.“. „ eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune“: Vgl. Schillers „Fiesko“ („Personen des Stücks“, 1868: 7), dort: „Muley Hassan, Mohr von Tunis Ein konfiszierter Mohrenkopf. Die Physiognomie eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune.“. „Vorhaut“: In der zweiten Szene des ersten Aktes der „Räuber“, die Tönnies hier vor Augen hat, sagt Spiegelberg zu Karl Moor: „Sauf, Bruder, sauf – wie wärs, wenn wir Juden würden und das Königreich wieder aufs Tapet brächten?“ Und Moor antwortet: „Ah! Nun merk ich – nun merk ich – du willst die Vorhaut aus der Mode bringen, weil der Barbier die deinige schon hat?“ Worauf Spiegelberg entgegnet: „Daß dich, Bärenhäuter! Ich bin freilich wunderbarerweise schon voraus beschnitten.“ (Vgl. Schiller 1867a: 30 f.)

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aber, daß man unterscheiden muß zwischen der „Räuberromantik“, die Minor vorzugsweise kennzeichnet (mit vielem Material in den Anmerkungen S. 570), und dem, was mehr „realistisch“ ist und auf Beobachtung und Studium beruht. Die Romantik stammt aus Büchern, aus umlaufenden Anekdoten, aus Volks- und Knabenphantasien; die Beobachtung stammt zwar auch gutenteils aus Büchern, aber aus Büchern anderer Art, denen an Schilderung der Wirklichkeit gelegen ist; mag zum Teil auch erforscht und erfragt sein, setzt jedenfalls den Wirklichkeitssinn voraus, der seinem Wesen nach von Romantik und Dichtung fernabliegt, und doch zum echten Dichter nicht erst seit gestern gehört. Schiller war nun in dieser Hinsicht ohne Zweifel durch sein medizinisches Studium spezifisch präpariert. Die von Herrn Schlüter angezogenen Stellen sind dafür beweisend. Jene ursprünglichen Eingangsworte zum „Verbrecher aus Infamie“ enthalten ein ganzes wissenschaftliches Programm, das noch heute so unerfüllt ist, wie es damals war. Ich halte für ziemlich wahrscheinlich, daß Schiller selber vielleicht sogar schon vor Vollendung des „Ungeheuers“, wie er seine Räuber einmal nennt, Anstalten der Straf- oder Untersuchungshaft besucht hat. „Man trete in die Gefangenhäuser“, sagt er in jenem genialen „Versuch über den Zusammenhang“, „wo Unglückliche seit zehn und zwanzig Jahren im faulen Dampf ihres Unrats wie begraben liegen und kaum noch Kraft finden, von der Stelle zu gehen, und verkündige ihnen auf einmal Erlösung. Das einzige Wort wird jugendliche Kraft durch ihre Glieder gießen, die erstorbenen Augen werden Leben und Feuer funkeln.“ Sicher ist, daß er mit Hoven 1781 auf dem Hohenasperg gewesen ist und Zwar bezieht sich Minor (1890: 1. Bd. 570) unter dem Stichwort „Räuberromantik“ im Materialteil seiner Monographie sehr ausführlich auf den heiligen Krispin, auf Cartouche, den Banditen, auf Robin Hood, und andere Gestalten der Sagenwelt, im laufenden Text aber versichert er durchaus, dass Schiller dort, wo er die volle Energie seines Talentes entfaltet, dem Leben sowie besonderen Erlebnissen, also der Realität, mehr verdanke als literarischen und historischen Vorbildern (vgl. ebd.: 319). „Verbrecher aus Infamie“: Einem soziologischen Theoretiker wie Tönnies, für den Wesenwille und Kürwille zentrale Begriffe seiner Analysen sind, muss natürlich der folgende Satz aus Schillers „Verbrechen aus Infamie“ (1868f: 61) erhebliches Behagen bereiten: „... der feinere Menschenforscher, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit eigentlich rechnen darf ..., wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete ... für das sittliche Leben verarbeiten.“. „Ungeheuers“: Vgl. Schillers „Rheinische Thalia“ (1868d: 529), in der es heißt: „Ich meine die ‚Räuber‘.“. Die folgenden Zitate sind aus Schillers zweiter, 1780 eingereichten Dissertation (1867: 159 f.) Hoven: D. i. der Mediziner und Schulfreund Schillers, Friedrich Wilhelm von Hoven. Hohenasperg: Diese ehemalige Festung mit Wallgraben auf einem Berg in der Nähe von

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von Schubart umarmt wurde. Seine Seele war damals noch zum Überrinnen voll von Bitterkeit und Entrüstung über die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit, über die Niedertracht der Gutgesinnten, über die Abscheulichkeit der gesellschaftlichen Ordnungen und Konventionen. Und auf ausgesprochenste Art vermischt sich in der Seele des ungestümen Jünglings mit dem wissenschaftlichen Interesse für „merkwürdige Menschen und Handlungen“ daher auch für Verbrecher und Verbrechen, der humane Enthusiasmus. „Ein Bürger des Universums – so schreibt er 1784 – der jedes Menschengesicht in seine Familie aufnimmt und das Interesse des Ganzen mit Bruderliebe umfaßt, fühl’ ich mich aufgefordert, dem Menschen durch jede Dekoration des bürgerlichen Lebens zu folgen, in jedem Zirkel ihn aufzusuchen und, wenn ich mich des Bildes bedienen darf, die Magnetnadel an sein Herz hinzuhalten.“ Und es folgt die schon oben aus der Einladung zur „Rheinischen Thalia“ zitierte Stelle. „Menschlichkeit und Duldung fangen an der herrschende Geist unserer Zeit zu werden; ihre Strahlen sind bis in die Gerichtshöfe und noch weiter – in das Herz unserer Fürsten gedrungen,“ so sprach der junge Theaterdichter, schon zum herzogl. Weimarischen Rat avanciert, in der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft „am 26sten des Junius 1784“.3 3 „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ Schillers Schriften (Goedeke), 3. Band, S. 509 ff.

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Asperg war bis 1883 Staatsgefängnis, in dem unter anderem Jud Süß, Schubart, Friedrich List und Karl Hase festgehalten wurden. Schubart: Dieser Dichter, Musiker und respektlose Kritiker des Adels und der Geistlichkeit übte starken Einfluss auf Schiller aus. „ merkwürdige Menschen und Handlungen“: Vgl. Schillers „Rheinische Thalia“ (1868d: 530); dort auch das folgende Zitat. schon oben ... zitierte Stelle: Die Stelle findet sich bei Schlüter (Tönnies/Schlüter 1905: 177): „Neu gefundene Räder in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele – einzelne Phänomene, die sich in irgend eine merkwürdige Verbesserung oder Verschlimmerung auflösen, sind mir, ich gestehe es, wichtiger als die toten Schätze im Kabinett des Antikensammlers oder ein neu entdeckter Nachbar des Saturnus, dem doch der glückliche Finder seinen Namen sogleich in die Ewigkeit aufladet“. so sprach der junge Theaterdichter: Vgl. Schiller 1868c: 520 („Was kann eine gute stehende Bühne eigentlich wirken?“) „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“: D. i. „Eine Vorlesung, gehalten zu Mannheim in der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft am 26ten des Junius 1784, von F. Schiller, Mitglied dieser Gesellschaft, und herzogl. Weimarischem Rath“; später unter dem Titel „Die Schaubühne als eine moralische

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Den Bühnen gehöre ein bedeutender Anteil „an diesem göttlichen Werk“. „Sind sie es nicht, die den Menschen mit dem Menschen bekannt machten, und das geheime Räderwerk aufdeckten, nach welchem er handelt?“ Nicht nur machen sie uns bekannt mit Schicksalen der Menschheit, sie lehren uns auch „gerechter gegen den Unglücklichen seyn, und nachsichtsvoller über ihn richten“. „Denn nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir das Urteil über ihn aussprechen. Kein Verbrechen ist schändender als das Verbrechen des Diebes – aber mischen wir nicht alle eine Träne des Mitleids in unsern Verdammungsspruch, wenn wir uns in den schrecklichen Drang verlieren, worin Eduard Ruhberg die Tat vollbringt?“4 Erfüllt von der Idee, daß man den Verbrecher studieren müsse, um ihn gerechter – und milder zu beurteilen, ist nun eben jene Erzählung, zu der das Schicksal des berüchtigten Sonnenwirts die Folie gab (nach der nicht 4

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Bezieht sich auf Ifflands „Verbrecher aus Ehrsucht“ ein neues Schauspiel, dem der größere Dichter eben den Titel gegeben hatte (was Iffland durch Umtaufen der „Luise Millerin“ vergalt).

Anstalt betrachtet (vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der churfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahre 1784)“ (Schiller 1947). „an diesem göttlichen Werk‘: Vgl. ebd.: 520; dort auch die folgenden Zitate. Ruhberg: D. i. der tragische Held in Ifflands „Verbrechen [sic!] aus Ehrsucht“ (1784). Ifflands sicherer Theaterinstinkt war dafür verantwortlich, dass Schiller den ursprünglichen Titel des bürgerlichen Trauerspiels „Luise Millerin“ für die Aufführung im Nationaltheater Mannheim am 17. April 1784 in den zugkräftigeren Titel „Kabale und Liebe“ umbenannt hat. und milder zu beurteilen: „Gerechter gegen den Unglücklichen seyn, und nachsichtsvoller über ihn richten,“ hatte Schiller gefordert. „Dann nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir das Urteil über ihn aussprechen.“ (1868c: 520). Ausgehend von dieser Passage, spannt Tönnies den Bogen zu der „wahren Geschichte“ des „Verbrechers aus Infamie“. In den Vorbemerkungen zum eigentlichen Text der Geschichte formuliert Schiller: „Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären; warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgeben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing?“ Die „Leichenöffnung seines Lasters“ würde nicht nur „die Menschlichkeit“ unterrichten, sondern „auch die Gerechtigkeit“. Dabei schwebt ihm ein Ordnungssystem vor wie die Nomenklatur der Pflanzen des schwedischen Naturforschers Carl von Linné: „Wie für die übrigen Reiche der Natur“, so müsste „auch für das Menschengeschlecht ein Linnäus“ aufstehen, „welcher nach Trieben und Neigungen klassifizierte“ (1868 f). das Schicksal des berüchtigten Sonnenwirts: Das in der Erzählung des „Verbrechers aus Infamie“ bearbeitete tragische Motiv des „erhabenen Verbrechers“ basiert auf dem Schick-

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sehr glaubhaften Angabe des Professors Abel habe es schon zur Idee der „Räuber“ mitgewirkt). Mit einer Schärfe, die nur von dem späteren Epigramm auf die Tugend, die sich zu Tische setzt, „wenn sich das Laster erbricht“, übertroffen wird, finden wir hier die „satte Moral“ gegeißelt. Eine neue Behandlungsart der Geschichte will Schiller aus dem Studium der Ursachen „einer moralischen Erscheinung“ überhaupt, des Verbrechens insbesondere, ableiten: dieser Behandlungsart gehöre allein schon darum der Vorzug, „weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gefallne herunter blickt, weil sie den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen ... kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird“. 5 Neben der allgemeinen Sympathie des Verständnisses, der Nachsicht, des Mitleids erhebt sich aber die viel positivere der Bewunderung. „Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung“ – das geheime Spiel der Begehrungskraft „wird im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter“ (a. a. O. Verbrecher aus Infamie 1786). Dies schon ein abgeklärter Ausdruck der Gefühle und Gedanken, mit denen der Jüngling die Darstellung der Hel 5 Auch in diesem Zusammenhang ist eine markige und charakteristische Stelle des ersten Drucks später gestrichen worden!

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sal des schwäbischen Diebes und Straßenräubers Friedrich Schwan, des sog. Sonnenwirtes, dessen Geschichte Schiller von seinem Psychologie-Lehrer Jacob Friedrich Abel, dem er seinen „Fiesko“ widmete, mitgeteilt wurde. „wenn sich das Laster erbricht“: Das Epigramm aus „Shakespeares Schatten“ lautet: „Der Poet ist der Wirth und der letzte Actus die Zeche, | Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch“. – „Shakespeares Schatten“ ist die Zusammenfassung der teilweise geänderten Xenien 390 bis 412. Die beiden letzten Zeilen finden sich dort als Epigramm unter der Überschrift „Er“ (hierzu vgl. im Einzelnen (Schiller 1871x + y: 151; Schiller 1983: 307; Schiller 1991: 600). „satte Moral“: Als Zitat nicht nachgewiesen (ein Danismus?). „einer moralischen Erscheinung“: Vgl. Schiller 1868 f.: 63 („Verbrecher aus Infamie“); das folgende Zitat ebd.: 64. a. a. O: D. i. ebd.: 61. später gestrichen worden!: Diese Stelle lautet: „Wie manches Mädchen von feiner Erziehung würde seine Unschuld gerettet haben, wenn es früher gelernt hätte, seine gefallenen Schwestern in den Häusern der Freude minder lieblos zu richten! Wie manche Familie, von einem elenden Hirngespinst politischer Ehre zu Grund gerichtet, würde noch blühen, wenn sie den Baugefangenen, der seine Verschwendung zu büßen die Gassen säubert, um seine Lebensgeschichte hätte befragen wollen!“ (ebd.).

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den seines Stückes, wie er die Räuber selber noch 1782 nennt, geschaffen hatte. Aus rebellischen Gesinnungen war sie entsprungen. Von den merkwürdigen eigenen Kundgebungen, die mehr dem Publikum als ihm selber Rechenschaft zu legen bestimmt sind, gibt nur die erste Vorrede, noch in verwegenem und zuversichtlichem Ton, diese Stimmungen wieder. „Man trifft hier Bösewichter an, die Erstaunen abzwingen, ehrwürdige Missetäter, Ungeheuer mit Majestät; Geister, die das abscheuliche Laster reizet um der Größe willen, die ihm anhänget, um der Kraft willen, die es erfordert, um der Gefahren willen, die es begleiten ....“ „man wird meinen Mordbrenner bewundern, ja fast sogar lieben. Niemand wird ihn verabscheuen, jeder darf ihn bedauern“. Und doch wird schon hier, wo er noch dreist und frei, wie unter Kameraden gewohnt, sich ausläßt, dem Himmelstürmenden bange, es möge der Pöbel – Mistpantscher und Tressenröcke – wohl gar eine Apologie des Lasters in seinem Trauerspiel finden. Die Umarbeitung ging so weit, daß eine halb ironische Verleugnung des Grundgedankens daraus wurde, der doch aus dem Hippokrateischen Motto noch sichtbar hervorlugte. In dem Werke selber ist Karl Moor wesentlich Held, auch im moralischen Sinne. Die Welt steht auf dem Kopfe: der Räuberhauptmann ist der edle Mensch, sein Bruder, der Schloßherr, eine „Stütze der Gesellschaft“, ist der abscheuliche „Mißmensch“. Schiller getraute sich aber nicht, dies Paradoxon in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit vor dem Publikum zu verantworten. Auch vor sich selber nicht: er ist doch als Philosoph zu wohlerzogen, um nicht bei wachsender Besinnung einzuräumen, daß alle Hauptfiguren seines Stückes, mit Einschluß Karl Moors, „unmoralische Charaktere“ sind. Schon in der ersten Vorrede will er es durch die „Ökonomie“ des Schauspiels

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,Man trifft hier Bösewichter ... die es begleiten.‘: Vgl. Schillers erste unterdrückte Vorrede zu den ‚Räubern‘ (1867d: 5). Das folgende Zitat vgl. ebd.: 6. es möge der Pöbel: Vgl. ebd. Hippokrateischen Motto: Tönnies stellt einen zweifachen Bezug her, einmal auf „unsere gute Hippokrate“ im Text (vgl. ebd.), zum anderen auf das Motto, das Schiller dem Stück voranstellt: „Quae medicamenta non sanat, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat“ (lat.: Was die Arzneien nicht heilen, heilt das Messer. Was das Messer nicht heilt, heilt die Glut). ,Stütze der Gesellschaft‘: Der ironische Ausdruck dürfte auf Ibsens Schauspiel „Die Stützen der Gesellschaft“ (1877) zurückgehen. ,Mißmensch‘: Vgl. Schillers zweite Vorrede (1867e: 9). „unmoralische Charaktere“: Vgl. ebd.: 10 und Schiller 1867d: 5. ,Ökonomie‘ des Schauspiels: Vgl. ebd.: 5 u. 7 und Schiller 1867e: 8.

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und durch die allgemeinen Gesetze der Kunst, also aus der Ästhetik, rechtfertigen, daß er solche Charaktere von gewissen Seiten glänzen, ja oft von seiten des Geistes gewinnen lasse, was sie von seiten des Herzens verlieren. Aber er nimmt noch überwiegende Sympathie und auch einige (ästhetische) Bewunderung für seine Räuber überhaupt, nicht allein für den Hauptmann in Anspruch. Zugleich vermischt sich mit jener ursprünglichen Absicht der puren Kontrastierung eine allgemeine Hinweisung auf jene „glänzenden Seiten“ des Lasters, die sogar Franz zugute kommen soll; vermischt sich so mit jener, daß sie sie beinahe verdrängt. In der zweiten Vorrede wird wieder die moralische Tendenz in den Vordergrund geschoben, aber eine ganz andere als die ursprüngliche. „Wer sich die Zwecke vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen, und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen, und in seinem kolossalischen Geiste vor das Auge der Menschheit stellen“ .. Er will seiner Schrift „mit Recht einen Platz unter den moralischen Büchern versprechen“. Darum stellt er hier Franz in die vorderste Linie, als sei ihm wesentlich darum zu tun gewesen, diesen als abschreckendes Beispiel einer antimoralischen Philosophie vorzuführen, die „vollständige Mechanik seines Lastersystems auseinander zu gliedern“. Was er von den Geistern, die das Laster reizt um der Größe willen, gesagt hatte, wird hier auf Karl Moor gesammelt, den er als seltsamen Don Quixote verabscheuen und lieben, bewundern und bedauern will. Und doch kann er auch hier sich nicht enthalten, die Verallgemeinerung nahe zu legen, daß („vielleicht“) der große Bösewicht keinen so weiten Weg zum großen Rechtschaffenen habe als der kleine; denn die Moralität halte gleichen Gang mit den Kräften, und „je weiter die Fähigkeit, desto weiter und ungeheurer ihre Verirrung, desto imputabler ihre Verfälschung“ (so will er in etwas dunklen Worten dies begründen) und verweist auf Klopstocks Adramelech, der „in

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jene ,glänzenden Seiten‘: Vgl. ebd: 10 („Diese unmoralischen Karaktere, von denen vorhin gesprochen wurde, mußten von gewissen Seiten glänzen“) bzw. ders. 1867d: 5 („Diese unmoralische Karaktere mußten von gewissen Seiten glänzen“). „Wer sich den Zweck ... der Menschheit stellen“: Vgl. Schiller 1867e: 9; das folgende Zitat ebd.: 12. „vollständige Mechanik ... zu gliedern“: Ebd.: 9. auf Karl Moor gesammelt: Vgl. ebd.: 10. „vielleicht“: Ebd.: 11; das folgende Zitat ebd. imputabler: [lat.] svw. unbestrafbarer. Klopstocks Adramelech: Vgl. ebd.: 11: „Klopstocks Adramelech wekt in uns eine Empfindung, worinn Bewunderung in Abscheu schmilzt“; das folgende Zitat ebd. Siehe dazu

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uns eine Empfindung weckt, worin Bewunderung in Abscheu schmilzt“, auf Miltons Satan, auf Medea und Shakespeares Richard. Das ästhetische Wohlgefallen wird hier unmittelbar dem moralischen gleichgesetzt, und die moralische Absicht wird sogar auf dies Mittel verwiesen. („Wenn ich vor dem Tiger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne blendende Fleckenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tiger beim Tiger vermisse“.) – Wie ernst es aber dem jungen Dichter um den Gedanken war, daß Kraft und Größe auch im Bösen etwas Gutes an sich haben, ja als Anlage zum Guten gehören, bezeugt am besten jene Briefstelle (noch 1787), worin er von einem Manne spricht, der sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal noch in der Wirklichkeit, erheben werde, und das sei schlimm: „Ich kann keines Menschen Freund sein, der nicht die Fähigkeit zu einem von beiden oder zu beiden hat.“ „Der Geist des Dichters scheint sich überhaupt mehr zum Heroischen und Starken zu neigen als zum Weichen und Niedlichen. Er ist glücklich in vollen saturierten Empfindungen, gut in jedem höchsten Grade der Leidenschaft, und in keinem Mittelweg zu gebrauchen.“ So erkannte er sich selber in der ein Jahr nach den Vorreden geschriebenen anonymen Rezension des ihm selber schon problematisch werdenden „dramatischen Romans“. Hier kehrt er auch mit Liebe zu „seinem“ Räuber Moor zurück. Er will hier den Kunstgriffen und „Pinselstrichen“ nachspüren, womit der Dichter in das kühne Gemälde der sittlichen

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Klopstocks „Messias“ (2. Gesang) ([1884–1890]: 83): „Adramelech kam erst, ein Geist, boshafter als Satan. Und verdeckter“. Siehe ferner Milton 1667 u. Shakespeare 1597. jene Briefstelle: In dem Brief an Körner vom 29. 8. 1787 spricht Schiller von dem Jenaer Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold, einem Anhänger der Kantischen Philosophie, der einen starken Einfluss auf Schiller ausübte. Die Briefstelle, auf die Tönnies Bezug nimmt, lautet (Jonas 1892–96: 1. Bd., 399): „Er wird sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal noch in der Wirklichkeit erheben, und das ist schlimm“. Siehe auch das folgende Zitat ebd. „Der Geist des Dichters ... Mittelweg zu gebrauchen.“: Vgl. Zitat Schiller 1867c: 365 („Selbstanzeige“ der ‚Räuber‘). nach den Vorreden: Sowohl die (erste, unterdrückte) ‚Vorrede‘ als auch die ‚2. Vorrede‘ sind „geschrieben in der Ostermesse 1781“ (vgl. Schiller 1867d: 7 und 1867e: 13). anonymen Rezension: Die „Selbstanzeige“ der ‚Räuber‘ ist auf 1782 datiert (Schiller 1867c: 354). „dramatischen Romans“: Vgl. Schiller 1867d: 5. „ seinem“ Räuber Moor: Vgl. Schiller (1867d: 6): „... man wird meinen Mordbrenner bewundern, ja fast sogar lieben“. Ferner spricht Schiller von „meines Räubers Majestät“; an anderer Stelle (1867e: 10) von „der Person meiner schändlichsten Räuber“. „Pinselstrichen“: Vgl. Schiller 1867c: 359.

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Häßlichkeit einige „Menschlichkeit und Erhabenheit“ hineingebracht, und schließlich sogar durch eine einzige Erfindung („der Mordbrenner liebt und wird wieder geliebt“) den fürchterlichen Verbrecher mit tausend Fäden an unser Herz geknüpft habe. Der ursprüngliche Grundgedanke kommt hier wieder zur Geltung. Hier wird an Plutarchs erhabene Verbrecher und an Cervantes’ ehrwürdige Räuber nachdrücklich erinnert. Hier wird besonderes Gewicht darauf gelegt, daß Räuber Moor nicht Dieb aber Mörder, nicht Schurke aber Ungeheuer sei, daß die gräßlichsten seiner Verbrechen weniger die Wirkung bösartiger Leidenschaften als des zerrütteten Systems der guten seien, und der ganze Abschnitt läuft fast wider Willen des Verfassers in eine Verherrlichung des „großen Mannes“ (den ein unersättlicher Durst nach Verbesserung und eine rastlose Tätigkeit des Geistes vollende), des „erhabenen armen Sünders“ aus. Es hätte nicht geringen Reiz und Wert, der Entwickelung nachzugehen, worin sich Schillers ästhetische sowohl als moralische Gesichtspunkte in bezug auf Verbrecher und Bösewichte zwar bedeutend gewandelt, aber doch auch in erheblichen Stücken erhalten haben. Die Reflexionen, die an die Räuber angeknüpft waren, haben ihn lange begleitet. Man muß daraufhin die ästhetischen Abhandlungen lesen, die im ersten Bande der „Neuen Thalia“ (1792) erschienen. Aber noch im Jahre 1802 – wenn anders die damals zuerst gedruckten „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“ nicht viel älteren Ursprunges sind – beschäftigt ihn der Unterschied der Empfindungen, mit denen wir dem Dieb, von solchen womit wir dem Mörder gegenüberstehen. Hier ist ihm vorzüglich die Abweichung des moralischen Urteils von dem ästhetischen merkwürdig. „Stehlen z. B. ist etwas absolut Niedriges, und was auch unser Herz zur Entschuldigung eines Diebes vorbringen kann, wie sehr er auch durch den Drang der Umstände mag verleitet worden sein, so ist ihm ein unauslöschliches Brandmal aufgedrückt und ästhetisch bleibt er immer ein niedriger Gegenstand. Der Geschmack verzeiht hier noch weniger als die Moral, und sein Richter 1 5 11

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das kühne Gemälde der sittlichen Häßlichkeit: Vgl. ebd.: 359; das folgende Zitat ebd. Plutarchs erhabene Verbrecher: Vgl. die Passage ebd.: 357, 359 f. des „großen Mannes“: Vgl. ebd.: 360: „den großen Mann vollendet ein unersättlicher Durst nach Verbesserung, und eine rastlose Tätigkeit des Geists“, die folgende zitierte Passage ebd.: 361. die ästhetischen Abhandlungen: D i. „Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Ueber die tragische Kunst“ (Schiller 1871 u. 1871a). „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“: Vgl. Schiller 1871b.

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stuhl ist strenger, weil ein ästhetischer Gegenstand auch für alle Nebenideen verantwortlich ist, die auf seine Veranlassung in uns rege gemacht werden, dahingegen die moralische Beurteilung von allem Zufälligen abstrahiert. Ein Mensch, der stiehlt, würde demnach für jede poetische Darstellung ein höchst verwerfliches Objekt sein. Wird aber dieser Mensch zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch noch viel verwerflicher, aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen Grad brauchbarer. Derjenige, der sich durch eine Infamie erniedrigt, kann durch ein Verbrechen wieder in etwas erhöht und in unsere ästhetische Achtung restituiert werden.“ Als zweite Ursache dieses Unterschiedes (außer der schon angeführten) erscheint ihm, daß wir in der ästhetischen Beurteilung auf die Kraft, bei einer moralischen auf die Gesetzmäßigkeit sehen. „Ein Diebstahl aber zeigt eine kriechende, feige Gesinnung an; eine Mordtat hat wenigstens den Schein von Kraft, wenigs­ tens richtet sich der Grad unseres Interesses, das wir ästhetisch daran nehmen, nach dem Grad der Kraft, der dabei geäußert worden ist.“ Und zum Dritten meint er, werden wir bei einem schweren und schrecklichen Verbrechen von der Qualität desselben abgezogen, und auf seine furchtbaren Folgen aufmerksam gemacht. Die stärkere Gemütsbewegung unterdrücke alsdann die schwächere. Sogar dem Diebstahl kommt dies unter Umständen zugute, so daß der des jungen Ruhberg in Verbrechen aus Ehrsucht – wir erinnern uns der viel früheren Hinweisung auf dieselbe Gestalt – auf der Schaubühne nicht widrig, sondern wahrhaft tragisch wirke. Das angeregte Thema ist durch die gegebenen Erörterungen bei weitem nicht erschöpft. Schillers Interesse für Verbrechen und Verbrechertum, das sich in viele Einzelheiten, besonders auch seines Stiles, in allen Jugendwerken verfolgen ließe, hängt nicht allein mit seinen poetisch-dramatischen Bestrebungen, sondern, wie schon bemerkt, auch mit seinen historischen Studien nahe zusammen, und jene berühren sich bekanntlich wieder aufs engste mit diesen. Nach dem bürgerlichen Trauerspiel (Kabale und Liebe) beziehen sich – wie schon vorher Fiesko – fast alle dramatischen Ausführungen wie Entwürfe auf historische Gegenstände, stellen historische Per 9

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,Stehlen z. B. ... Achtung restituiert werden.‘: Vgl. ebd.: 210 f.; Tönnies hat einen in Klammer gesetzten Einschub im letzten Satz stillschweigend weggelassen. Der vollständige Satz lautet: Derjenige, der sich (ich rede hier immer nur von der ästhetischen Beurteilungsweise) durch eine Infamie erniedrigt, ...“. Das folgende Zitat vgl. ebd. bei einem schweren und schrecklichen Verbrechen ... alsdann die schwächere: Nahezu wörtlich aus ebd. übernommene Passage; so auch der folgende Satz (ebd.: 212). (Kabale und Liebe): Vgl. Schiller 1868b. Fiesko: Vgl. Schiller 1868.

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sonen in den Mittelpunkt. Darum sind die Sätze vorzüglich merkwürdig, mit denen Schiller im „Verbrecher aus Infamie“ vom Sujet des Verbrechers auf die „gewöhnliche Behandlungsart der Geschichte“ übergeht und eine neue anregen will. „Entweder der Leser muß warm werden oder der Held wie der Leser erkalten.“ Hier überwiegt noch der wissenschaftliche Denker, der psychologische Anatom, wie man ihn seiner Tendenz nach nennen darf, so sehr den Poeten, daß er sich für die letztere Alternative entscheidet! „An seinen (des Helden) Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen dieser Gedanken, als an den Folgen jener Taten. Man hat das Erdreich des Vesuv untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären, warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? .... Den Träumer, der das Wunderbare liebt, reizt eben das Seltsame und Abenteuerliche einer solchen Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern. Er sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele, und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten, und in diesen beiden findet er sie gewiß. Ihn überrascht es nun nicht mehr, in dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch den giftigen Schierling gedeihen zu sehen, Weisheit und Torheit, Laster und Tugend in einer Wiege beisammen zu finden.“ Die Erforschung der Motive eines Staatsmannes und die „Leichenöffnung des Lasters“, eines Räubers, erschien ihm als wesentlich gleichartige Aufgabe.6 Um weniges später (15. April 1786) schrieb er an Körner über „Deine und meine Lieb 6 Hier wäre noch zu betrachten, wie die Vermittelung einerseits in der „Geschichte des Betrugs und der Verirrungen der menschlichen Seele“ (wozu auch das herrliche Fragment des „Geistersehers“ einen Beitrag bilden sollte), anderseits in dem Interesse für Verschwörungen und Revolutionen, aber auch für die macchiavellistische Staatsklugheit wie die jesuitische Kirchenschlauheit gegeben war!

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„Verbrecher aus Infamie“: Vgl. Schiller 1868f. die „gewöhnliche Behandlungsart der Geschichte“: Vgl. ebd.: 62 „Entweder der Leser ... erkalten.“: Vgl. ebd.: 63, dort: „Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten“. Beachte auch das folgende Zitat ebd.: 63 f. die „Leichenöffnung des Lasters“: Vgl. ebd.: 64. schrieb er an Körner: Vgl. Jonas 1892–96: 1. Bd., 290. „Geschichte des Betrugs und der Verirrungen der menschlichen Seele“: Vgl. Schillers „Geisterseher“ (1868g: 196), dort: „... ein Beytrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes ...“.

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lingsmaterien von den Quellen der Handlungen, von der Menschenschätzung und Prüfung der moralischen Erscheinungen“, und er meint an sich selber, wie an Thomas Abbt (den er gerade las) eine Mischung von Spekulation und Feuer, Phantasie und Ingenium, Kälte und Wärme zu beobachten; er fühlt die Ideen und das Gefühl in sich „zusammengerinnen“ ... Also zu gleichen Teilen „Träumer“ und „Freund der Wahrheit“? Sein eigenes Urteil geht dahin, daß Abbt sich „mehr“ dem „scharfsinnigen Philosophen“, er, Schiller, dem Dichter, dem „sinnlichen Schwärmer“ mehr sich nähere. Aus den Ausdrücken selber hört man einen Ton des Bedauerns und der Selbstverachtung, die Schiller auch sonst nicht fremd war. Ich meine, daß von hier aus die ganze spätere Entwickelung seines Ge– nius verstanden werden muß. Allerdings bekam der Dichter oder doch der „Künstler“ immer mehr die Oberhand in ihm, und zwar zuerst gerade in seinen philosophischen Schriften und Lehrgedichten insofern, als die „ästhetische Erziehung des Menschen“ in den Vordergrund auch seines moralischen Interesses trat, und als der nüchtern-strenge Idealismus Kants seine Phantasie ebenso stark wie seinen Verstand in lebhafte Schwingungen setzte, beide im Gebiete des Schönen und Guten gleichsam miteinander versöhnend. Aber inzwischen hatte doch, während der Jahre historiographischer Arbeit, der Denker den Dichter beinahe überwältigt: je intensiver und objektiver Schillers Vertiefung in die Geschichte wurde, desto mehr wollte er bloß Denker und gar nicht Dichter sein, gemäß jener Anweisung, 3

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(den er gerade las): D. i. Abbt 1783, darin „Die Abhandlung vom Verdienste (Theil 1–2, 1. Bd.); Schiller schreibt (Jonas 1892–96: 1. Bd., 290): „... ich ... habe mir Abts Schrift vom Verdienste bei dir gehohlt ... Ich wünschte daß wir beide das Buch miteinander läsen ... Wenn ich mich selbst kenne und über mich urtheilen kann, so wäre unter allen Köpfen, die mir in der weitläufigen Schriftstellerischen Welt sind bekannt geworden Abt just derjenige, zu dem ich einige Verwandtschaft fühle“. „zusammengerinnen“: Vgl. ebd., dort aber: „Uebrigens auch diese Dunkelheit diese Anarchie der Ideen, welche, wie ich fast glaube, durch eine Zusammenrinnung der Ideen und des Gefühls, durch eine Ueberstürzung der Gedanken erzeugt wird, und die Du selbst schon bei mir gefunden hast, auch diese finde ich bei Abt, nur daß er sich mehr dem scharfsinnigen Philosophen ich hingegen mich dem Dichter dem sinnlichen Schwärmer mehr nähere“. „Träumer“ und „Freund der Wahrheit“: Vgl. Schiller 1868f: 63. sein eigenes Urteil geht dahin: Vgl. die folgenden zitierten Passagen im Brief an Körner (Jonas 1892–96: 1. Bd., 290). oder doch der „Künstler“: Tönnies bezieht sich wahrscheinlich auf die „Selbstanzeige“ der ‚Räuber‘; in ihr spricht Schiller von sich als dem „Dichter“ bzw. dem „Künstler“, der zugleich ein Arzt ist (Schiller 1867c: 372). die „ästhetische Erziehung des Menschen“: Vgl. Schiller 1871c.

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den historischen Tatmenschen wie einen Verbrecher zu studieren: die Wirkungen treten auf das deutlichste in dem Abstande hervor, der den „Dreißigjährigen Krieg“ vom „Abfall der Niederlande“ trennt. In jenem, dem späteren Werke sind nicht nur, wie Hoffmeister meint (2, 189), darum „die Fülle des warmen Gefühls und die poetische Rhetorik zurückgetreten“, weil sie mit der Sache nicht verträglich waren, sondern weil sie verschmäht wurden. Sehr treffend bemerkt aber derselbe Kritiker: „Diesen (Schillerschen) Scharfsinn behagt es, alle Spitzfindigkeiten der Arglist und Falschheit in allen Krümmungen bis zu ihren Quellen zu verfolgen; er gefällt sich, die feinsten Fäden des Eigennutzes bei Staatsnegoziationen aufzuspüren; ja, er hat seine Freude daran, diese ganze neue Staatskunst, deren Mutter die Unredlichkeit selbst ist, in ihren kalkuliertesten Anlagen durch die Kühnheit seiner Kombinationen noch zu überbieten. Wo Schiller an Handlungen, an Menschen irgend eine Blöße merkt – und welche entginge seinem Auge? –, betrachtet er sie so lange und so scharf, bis sie ihm ihre ganze Schuld aufdecken. Gemeine Motive regieren daher beinahe durchweg das Leben, welches er uns darstellt, und selbst die Besten handeln nicht ohne sie. Rein sittliche Beweggründe sind beinahe unerhört.“ Dies beruht zum Teil auf der Verbrecherpsychologie überhaupt, in die sich Schiller so eifrig hineingedacht hatte, zum Teil war es noch die besondere Nachwirkung jenes Rousseauschen Geistes, für den der kultivierte und raffinierte Egoismus der oberen sozialen Schichten, der handelnden Menschen in Gesellschaft, Staat und Kirche, viel mehr den Stempel des Bösen trägt, als die sinnlich-rohe Leidenschaft der großen Menge, aber auch als die begeisterte des idealistischen Rebellen, des Hochverräters, ja (unter Umständen) des Mörders. Je mehr Schiller später selber den Revolutionär und Kosmopoliten abstreifte, desto mehr wurden auch diese Schätzungen wieder anders. Daher geht in diesen Jahren des Überganges ein so tiefer Zwiespalt durch sein Wesen, der dann auch auf sonderbare Weise bei Wiederaufnahme seiner dramatischen Dichtung sich bemerklich macht, namentlich in seinem Ringen mit dem Stoffe des „Wallenstein“. Zuerst hat Wallenstein wie ein 3 3 4

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,Dreißigjährigen Krieg‘: Beachte Schillers „Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges“ (1869d). „Abfall der Niederlande“: Beachte Schillers „Geschichte des Abfalles der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“ (1872). Hoffmeister meint: D. i. Hoffmeisters „Schiller’s Leben, Geistesentwicklung und Werke im Zusammenhang“; dort jedoch: „Die Fülle des warmen Gefühls und die poetische Rhetorik mußten zurücktreten“; das folgende Zitat ebd.: 190. „Wallenstein“: D. i. Schiller 1872a.

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neuer Posa alle seine Sympathie. Dann macht er ihn „kalt“, ganz im Sinne seiner späteren historischen Ansicht. „Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht.“ „Die Leidenschaften, durch die er (Wallenstein) bewegt wird: Rachsucht und Ehrbegierde, sind von der kältesten Gattung“ (an Körner am 28. November 1796). „Es ist im Grunde eine Staatsaktion, und hat, in Rücksicht auf den poetischen Gebrauch, alle Unarten an sich, die eine politische Handlung nur haben kann.“ „Auf dem Wege, wo ich jetzt gehe, kann es leicht geschehen, daß mein Wallenstein durch eine gewisse Tro­ ckenheit der Manier sich von meinen vorhergehenden Stücken gar seltsam unterscheiden wird. Wenigstens habe ich mich bloß vor dem Extreme der Nüchternheit, nicht wie ehemals vor dem der Trunkenheit zu fürchten“ (daselbst Briefwechsel mit Körner 3, S. 395, 397). Unter dem Einflusse der Griechen, den Goethe beförderte, wuchs in ihm die Erkenntnis, daß die poetische Tragik nicht in der Persönlichkeit des handelnden Menschen und den in seinem Bewußtsein vorhandenen Umständen gelegen sei – wie etwa das, was auch den Verbrecher und historischen Helden zum Gegenstande von Mitleid und Furcht macht – sondern in einem unbewußten, geheimnisvollen Hintergrunde des Schicksals, wie beim König Ödipus, der wollend und doch unwollend getan hat, was er tat. Diese Ideen entfernten ihn zwar immer mehr von dem Pathos seiner Jugend, aber sie brachten ihn auch wieder zurück auf die düster eingehüllte Rolle, die das Verbrechen im bürgerlichen Leben spielt. Wie hätte ihn sonst das Thema der Polizei als einer realistischen Erinnys oder Nemesis fesseln können, an dem er so emsig gear-

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macht er ihn „kalt“: Vgl. Schiller 1868 f: 63: „Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten ... Dem Geschichtsschreiber bleibt nur die letztere [Methode] übrig ... Der Held muß kalt werden wie der Leser“. „Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht.“: Wallenstein in Schillers „Wallenstein“ (I, 4, 1872a: 217): „Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, Und die Gewohnheit nennt er seine Amme“. „ Die Leidenschaften ... kältesten Gattung“: Vgl. Jonas 1892–96: 121: „die Leidenschaften selbst, wodurch er bewegt wird, Rachsucht und Ehrbegierde, sind von der kältesten Gattung“; das folgende Zitat ebd.: 121. daselbst Briefwechsel: Vgl. ebd. 123. das Thema der Polizei: Vgl. Schillers „Die Polizey“ (1876a). Erinnys: [gr.] die Zürnende; gemeint sind die Erinnyen, die drei Furien-Schwestern, in der gr. Mythologie die Rächerinnen von Freveln, besonders von Bluttaten, zumal an Verwandten; die Nemesis dagegen, anfangs die Wahrerin des rechten Maßes und Feindin allzu großer Überheblichkeit (Hybris), wird erst später wie die Ersteren eine rächende Schicksals-Gottheit.

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beitet hat? „Über dem bunten Gewühl der mannigfaltigen Gestalten einer Pariser Welt“ sollte sie „gleich einem Wesen höherer Art emporschweben, dessen Blick ein unermeßliches Feld überschaut, und in die geheimsten Tiefen dringt, sowie für dessen Arm nichts unerreichbar ist“!7 Schiller war nicht der schlichte Sänger, „des Gottes voll“, der sich im Volksbewußtsein festgesetzt hat. Er besaß einen mannigfachen, unablässig ringenden Geist, der „manches, was beim Dichter unbewußt und freiwillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang“, der „von

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So Körner 1815. Man liest die Entwürfe einer tragischen und einer komischen Bearbeitung des Stoffes jetzt am besten bei Kettner, Schillers dramatischer Nachlaß 2. Band, Weimar 1885. Nach L. Stettenheims Dissertation, die Erich Schmidt angeregt hat, sind aus den Ansätzen zu dem Trauerspiel später die Pläne der „Kinder des Hauses“ entstanden. Erich Schmidt selber nennt den Entwurf der „Polizey“ „ein großes Bild des Pariser Nachtlebens mit kriminalistischen Accenten“, und knüpft daran die Frage: „Warum wollen wir diesem planvollen, so kalt und sicher arbeitenden Dramatiker immer wie einem gen Himmel fahrenden Propheten nachstarren ..?“ Charakteristiken. Erste Reihe S. 344.

dem bunten Gewühl ... unerreichbar ist“!: Das Zitat findet sich in der ‚Vorerinnerung‘ Körners zu Schillers Fragment „Die Polizey“, in dem von ihm hgg. Nachlass Schillers. Es lautet: „Ueber dem bunten Gewühl der mannigfaltigen Gestalten einer Pariser Welt sollte die Polizey, gleich einem Wesen höherer Art, emporschweben, dessen Blick ein unermessliches Feld überschaut, und in die geheimsten Tiefen dringt, so wie für dessen Arm nichts unerreichbar ist.“ (Schiller 1815: 419 ff.). Tönnies hat die Passage wohl der Dissertation Ludwig Stettenheims (1892: 2) entnommen. „des Gottes voll“: Die Passage aus Schillers ‚Die Kraniche des Ibykus‘ (1871l: 240) lautet: „Zum Kampf der Wagen und Gesänge, | Der auf Corinthus Landesenge | Der Griechen Stämme froh vereint, | Zog Ibykus, der Götterfreund. | Ihm schenkte des Gesanges Gabe, | Der Lieder süßen Mund Apoll; | So wandert er an leichtem Stabe | Aus Rhegium, des Gottes voll.“ „manches, was ... des Nachdenkens zwang“: Bei Goethe (1907: 443): „Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beym Dichter unbewußt und freywillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang, zog viele junge Leute auf seinem Weg mit fort, die aber eigentlich nur seine Sprache ihm nachlernen konnten“. Weimar 1885: Fehlerhafte Datierung, korrekt: 1895. Stettenheims Dissertation: Im Vorwort seiner Dissertation schreibt dieser: „Die Anregung zu der vorliegenden Arbeit verdanke ich meinem hochverehrten Lehrer Herrn Prof. Dr. Erich Schmidt in Berlin“. Die Arbeit fand zudem Unterstützung durch Prof. Minor in Wien, durch Prof. Kettner in Schulpforta und Dr. Jonas in Berlin. Die Dissertation des aus Hamburg stammenden Ludwig Stettenheim wurde an der Universität Rostock eingereicht. „Kinder des Hauses“: D. i. Schiller 1876. Charakteristiken: Vgl. Schmidt 1886: 344.

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Jugend auf die Höhen und Tiefen suchte“, wie „seine Einbildungskraft, seine dichterische Tätigkeit ihn ins Weite und Breite führten“. Immer aber – auch auf den Wegen, denen wir hier nachgespürt haben – erscheint er, um ein drittes Goethewort über Schiller anzuführen, „im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur“. Wer ihn tiefer erkennt, wird ihn um so mehr bewundern.

Jugend auf ... Breite führten“: Der Text über Schiller lautet vollständig: „Und einer solchen Schranke bedurfte der Dichter; sein außerordentlicher Geist suchte von Jugend auf die Höhen und Tiefen, seine Einbildungskraft, seine dichterische Tätigkeit, führten ihn in’s Weite und Breite, und so leidenschaftlich er auch hierbey verfuhr, konnte doch, bey längerer Erfahrung, seinem Scharfblick nicht entgehen, daß ihn diese Eigenschaften auf der Theaterbahn notwendig irre führen müssten“ (Goethe 1901: 87 bzw. ders. 1973: 111). „im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur“: In ‚Eckermanns Gesprächen mit Goethe‘ heißt es unter dem Datum des 11. 9. 1828: „Schiller erscheint uns hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur.“ (Eckermann 1832: 211 f.).

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Schillers politisches Vermächtnis „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat? Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl? Er muss dem Mächtigen, der ihn bezahlt, Um Brot und Stiefel seine Stimm’ verkaufen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen, Der Staat muss untergehn früh oder spät, Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“

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So spricht in der großen Reichstagsszene des Demetrius-Fragments der Fürst Leo Sapieha, der gegen die Anerkennung des falschen Zarevitsch sein Veto einlegt. Diese Verse gehören zu den beliebtesten Schiller-Zitaten, deren es ja eine große Menge gibt, und einzelne Reihen sogar zu den oft wiederholten „geflügelten Worten“, es ist zu verwundern, daß man sie noch nicht aus dem Munde eines Reichskanzlers vernommen hat. Und es pflegt beim Zitieren als von selbstverständlich vorausgesetzt zu werden, daß unseres berühmten Dichters eigene Ansicht in den markigen Worten sich ausspreche, daß sie also, da die Ausarbeitung dieser Demetrius-Szenen nicht lange vor seinem Ende geschah, gleichsam ein politisches Vermächtnis des großen Mannes darstellen. Eine flammende Anklage gegen die Demokratie! Eine Verurteilung des allgemeinen Stimmrechtes! Eine Vindikation aristokratischer Regierungsform! Schiller, der sonst wohl als Dichter der Freiheit und der Revolution gepriesene oder gescholtene, am Ziele seiner Laufbahn der Eideshelfer streng konservativer, ja reaktionärer Anschauungen! Daß diese Schlußfolgerung oft, von den Vertretern solcher Anschauungen freilich eher als von ihren Gegnern, gezogen wird, bedarf keiner

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Schillers politisches Vermächtnis erschien am 4. 5. 1905 in der Zeitschrift „Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik“, Heft 16, S. 751–754. Der Überschrift schließt sich der Zusatz an: „Von Prof. Dr. Ferdinand Tönnies, Kiel.“. „Was ist die Mehrheit ... Unverstand entscheidet.“: Vgl. Schillers „Demetrius“ (1876b: 456 f.). Vindikation: [lat.] svw. Inanspruchnahme; der Übereignungsanspruch des nichtbesitzenden Eigentümers einer Sache gegen deren tatsächlichen Besitzer.

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Nachweisung. Ich wette, daß sie uns in den Festschriften und Leitartikeln dieses Jahres nicht ganz selten begegnen wird. Und wer kann leugnen, daß sie einen starken Schein für sich hat, daß man in der Tat den Eindruck empfängt, der Dichter habe in jenen Worten sein eigenes Bekenntnis ausgesprochen? –  Wenigstens, daß er eine gewisse Sympathie hineingelegt und daß dieser Sympathie die glückliche Fassung ihre Wucht verdankt, ist um so mehr wahrscheinlich, da man weiß, wie starken Widerwillen Schiller aus dem Verlauf der französischen Revolution gegen alle wilde Volksbewegung gesogen hatte, daß er allerdings in seinen letzten Jahren den Aufruhr hasste und die Autorität verehrte. Nun ist freilich die Verbindung der Idee des Aufruhrs und der Anarchie mit der Idee von Majoritätsherrschaften ebenso unberechtigt und zufällig, wie die Gleichstellung von Majoritätsherrschaft mit Demokratie; aber da diese Gedankenassoziationen in so vielen Köpfen angetroffen werden, warum sollte nicht auch Schiller sie hegen, der als Poet mehr als andere für befugt dazu gelten mag? – Uebrigens möge man über die Wahrheit jener Verse denken, wie man will – ich glaube, daß man ihnen ein gut Stück Wahrheit zuerkennen darf, wobei denn freilich das Mittelstück, worin dem Besitzlosen der politische Gemeinsinn abgesprochen wird, für sich betrachtet werden muss – auch darin ist Wahrheit, aber mit der Frage der Majorität hat sie unmittelbar nichts zu tun. Daß aber die richtige Einsicht in der Regel nur bei sehr wenigen vorhanden ist, und daß dies auch in politischen Dingen gilt, ist so einleuchtend, daß man nicht nötig hat, aus der Fülle von bekannten Beispielen die bekanntesten herauszugreifen. Und gewiß ist es wünschenswert, daß den wenigen Einsichtigen so viel als möglich Einfluß und Ansehen zukomme – wenn man nur anzugeben wüßte, wie man ihnen Einfluß und Ansehen verschaffen könne, wenn einmal die leidige „Mehrheit“ ihnen entgegen ist? wie anders, als daß sie eben die Mehrheit für sich gewinnen und deren „Unsinn“ in guten Sinn zu verwandeln suchen? – Jedenfalls ist es sehr gewagt, die Tatsache, daß neue Erkenntnisse ganz regelmäßig auf den Widerstand der großen Mengen und aller derer stoßen, die in ihren Vorteilen durch neue Erkenntnisse sich gefährdet finden, diese Tatsache zu Gunsten einer bestimmten Staatsverfassung auszudeuten – als ob die wenigen, die in einer solchen gerade am Ruder sind, mit den Wenigen, die neue Erkenntnisse besitzen, sich deckten, oder als ob der Besitz auch die politische Einsicht gewährleistete . . . Sicherlich: Besitz und Bildung gehen zusammen, sie ziehen sich an; aber sie stoßen sich auch ab, das Verhält-

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nis zwischen ihnen ist durchaus unregelmäßig und sehr schwer berechenbar. Auf jeden Fall wäre es absurd, das Problem, den Einsichtigen und Fähigen die Herrschaft zu sichern, durch die Annahme lösen zu wollen, daß Einsicht und Fähigkeit wachsen mit der Größe des Vermögens oder des Einkommens. Doppelt absurd in einer Gesellschaft, wie die moderne Gesellschaft ist. Die Leute, die unsere Schillerworte am liebsten zitieren, meinen begreiflicherweise, daß sie die Wenigen sind, bei denen der Verstand wohne; man pflegt eben nicht zu erkennen, wie sehr man selber zur großen Menge gehört. Und jede kleine Minderheit, die sich zur Herrschaft für berufen hält, kann doch auf die Frage, wie sie ihren Willen feststellen und geltend machen wolle, nur antworten: in dem wir abstimmen, in dem wir also – unsere Mehrheit entscheiden lassen. Wollte man aber konsequent sein, und den Gedanken zu Gunsten der Herrschaft eines Einzigen verfolgen, so wird es noch schwerer, dem Prinzip der Wahl durch Mehrheiten zu entgehen; denn daß auf Vererbung des Verstandes nicht gerechnet werden kann, lehrt die Erfahrung mit allzu deutlicher Sprache. Wie immer man aber den Gedanken auffassen, ihn deuten oder wenden möge, man ist nicht berechtigt, ihn schlechtweg als Schillersche Meinung, als Schillers politisches Vermächtnis darzustellen. Seit dem „Wallenstein“ spricht Schiller überhaupt nicht mehr aus seinen Dramen, er ist ausschließlich beflissen, seine Personen sprechen zu lassen, wie er für angemessen hält, daß sie sprechen, er verbirgt sogar seine Sympathien, er verleugnet alle Tendenzen, er will nur seiner und Goethes Idee des reinen Kunstwerkes gerecht werden. Nur unter diesem Gesichtspunkte darf man auch die Aeußerungen begreifen, die er dem polnischen Fürsten in den Mund legt. Fast zum Ueberflusse ist uns aber des Dichters eigene Stellung zu diesen Worten in den Prosa-Notizen und Entwürfen erhalten, die bei Goedeke (Schillers sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Fünfzehnter Teil. Zweiter Band S. 355 ff.) als „beginnende Bearbeitung“ abgehoben sind. An einer Stelle heißt es hier: „Sapieha, der den Frieden mit Moskau abgeschlossen, will sein eigenes Werk behauptet wissen und spricht also gegen den Demetrius. Er spricht vortrefflich, als Staatsmann, als stolzer Pohle und Magnat.“ Als Schiller dies schrieb, mögen ihm schon die tönen-

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„beginnende Bearbeitung“: Vgl. ebd.: 355: [Beginnende Bearbeitung]. „Sapieha, der ... Magnat.“: Vgl. ebd.: 416.

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den, in der Tat „vortrefflichen“ Verse vorgeschwebt haben. Es folgt aber die Szene selber, in Prosa ausgeführt. Auch hier hält Sapieha zuerst seine lange Rede, wie er das Gewebe der Arglist zerreißen zu wollen erklärt. Dann folgt, nachdem die Abstimmung geschehen, sein Nein und der allgemeine Aufstand, wo auch der König vom Thron steigt, die Landboten zu den Säbeln greifen usw. Weiter aber, und an Stelle der berühmten Verse, sagt Sapieha nur noch: „Führe Du Deine Sache selbst, Meishek. Aber die Republik soll nicht Deine Sache ausfechten.“ Schiller fügt dann in Klammern hinzu: „Sapieha denkt oligarchisch und es ärgert ihn, daß die gemeinen Edelleute auf dem R-Tag das große Wort führen dürfen. In seinem Zorn lässt er sich seine Verachtung der Landboten und seinen Senatorstolz nur zu deutlich merken.“ Dazu an den Rand geschrieben: „Die Mehrheit ist der Un ...Das ist eine elende Verfassung, wo der Unverstand entscheidet, wo man die Stimmen zählt und nicht wägt.“ Und im Texte: „Die Bischöffe flehen ihn an, sich zu mäßigen“. – Man sieht, daß diese Anmerkungen für das Verständnis der Stelle wichtig sind. Offenbar liegt dem Dichter in erster Linie an der Charakteristik seines Sprechers als einer mächtigen, eigensinnigen, durch sein Interesse zum Widerstande geleiteten Persönlichkeit und schon daß er als ein Maßloser hingestellt wird, verbietet zu denken, daß Schiller sich selber mit ihr habe gleichsetzen, durch ihren Mund seine eigene Gesinnung habe kundgeben wollen. Vollends, wenn er ihm eine oligarchische Denkungsart zuschreibt: „oligarchisch“ ist kein Ausdruck der Billigung, des Lobes. Schiller war in der staatswissenschaftlichen Literatur hinlänglich bewandert, um zu wissen, daß dies Wort seit Aristoteles die Ausschreitung und gewissermaßen das Zerrbild der „Aristokratie“ bezeichnet. Wenn Schiller seine Sympathie hätte ausdrücken wollen, so hätte er sicherlich sich eines anderen Wortes bedient. – Ich habe in einer kleinen Schrift, die eben erscheint,1 den politischen Gedanken unseres Dichters eine eingehende Betrachtung gewidmet, die ich der Aufmerksamkeit des „lieben Lesers“ empfehle. Wenn man von einem politischen Vermächtnis Schillers reden will, so kann man am ehesten es in dem Glauben an die Zukunft Deutschlands, trotz des Zusammenbruchs des heiligen römischen Reiches, ausgeprägt finden. Daneben 1 „Schiller als Zeitbürger und Politiker“. Berlin 1905. Buchverlag der „Hilfe“.

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„vortrefflichen“ Verse: Vgl. ebd.: „Er spricht vortrefflich ...“. Du ... ausfechten.“: Vgl. dieses und das folgende Zitat ebd.: 431 f. R-Tag : Gemeint ist der Reichstag zu Krakau.

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aber – und nicht ohne Zusammenhang damit – ist Schiller einer Jugendgesinnung treu geblieben, die sich, wie manche Spuren zeigen, auch im „Demetrius“ kundgegeben hätte – das ist der entschiedene Haß des Despotismus, zumal in Sachen des Denkens, des Glaubens, der Meinungen. Dieser Haß verbindet die alte Vignette der Räuber „In tirannos“ mit dem Verse des Tell „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht“ –.

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„In tirannos“: Bevor Schiller an die Veröffentlichung der ‚Räuber‘ durch den Verleger Schwan ging, war zuvor schon eine „Zwote verbesserte Auflage“ bei Tobias Löffler (Schiller 1782) in Mannheim erschienen, die von Schiller verworfen und später ganz vergessen worden ist (eine erste Auflage war 1781 im Selbstverlag erschienen). In der Löfflerschen Ausgabe hatte der Verleger das Titelblatt mit einer Löwen-Vignette versehen und ihr die Worte „in Tirannos“ eingefügt. Dieses Motto, das mit den ‚Räubern‘ immer wieder verbunden wurde, war dem Autor damals höchst unangenehm, weil es an die Fehde Huttens gegen den württembergischen Herzog erinnerte und dem Drama einen unbeabsichtigten politischen Akzent gab. „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht“: Vgl. in Schillers „Wilhelm Tell“ im 2. Aufzug die naturrechtliche Begründung des eidgenössischen Staates auf dem Rütli (II, 2, 1872d: 328).

Die politische Wurmkrankheit Unter den Bergleuten des Ruhrkohlenreviers ist die Wurmkrankheit von neuem aufgetreten. So meldeten vor kurzem die Zeitungen. Um dieselbe Zeit ist auch wieder die Wurmkrankheit im preußischen Staatsleben aufgetreten, und zwar im Zusammenhange mit den Zuständen, die unter den Knappen der Kohlenbergwerke sich so scharf bemerklich gemacht haben. Die politische Wurmkrankheit hat folgende Symptome. Die Minister klagen über Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit. Sie haben sich Versäumnisse vorzuwerfen, ja Unterlassungssünden bedrücken ihre Seele. Sie sahen nicht in die Ferne, sie hielten es nicht für nötig, sie verschmähten die Teleskope wissenschaftlicher Erkenntnis. Das alltägliche Regieren geht auch so, mit gesunden Augen und gesundem Menschenverstande sieht man genug. So meinten sie.

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Die politische Wurmkrankheit erschien in Fraktur unter dem Pseudonym „Normannus“ in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1905, V. Jg., Nr. 4, zweites Maiheft, S. 132–136. Tönnies persifliert hier den preußischen Landtag vor dem Hintergrund einer aktuellen, ernst zu nehmenden parasitäre Seuche, von der die Bergarbeiter an der Ruhr befallen waren und deren Folgen mit zur Auslösung des großen Bergarbeiterstreiks von 1905 beigetragen hat (siehe dazu hier 258–268). Die Gefahr der sogenannten Hakenwurmkrankheit (Ancylostomiasis, auch Bergarbeiteranämie, Grubenwurm, Tunnelkrankheit) für Tunnel‑ und Grubenarbeiter erkannte man erstmals um 1880 während der Arbeiten am Gotthard-Tunnel. Noch um die nachfolgende Jahrhundertwende war sie in Kohlengruben weit verbreitet. Erst durch die hygienische Sanierung der Gruben und durchgreifende Wurmkuren, basierend auf Vorarbeiten Rudolf Virchows, konnte sie im Deutschen Reich praktisch ausgerottet werden. Inhaltlich siehe auch den Editorischen Bericht, S. 571 f. Zeitungen: Franz Mehring hat in der „Leipziger Volkszeitung“ (erste Beilage zu Nr. 14. vom 18. 11. 1905) das Wort von den „Grubenheloten, denen die Wurmkrankheit den Leib zerfrißt“, geprägt; sowohl im preußischen Landtag als auch im Reichstag wurde verschiedentlich Bezug darauf genommen. Da Mehring Chefredakteur der Zeitung war, erschienen seine Artikel meist anonym, so auch in diesem Fall. Ausführlich und abschließend befasste sich der Minister für Handel und Gewerbe, Theodor Adolf von Möller, in seiner Rede vom 20. 1. 1905 anlässlich des Bergarbeiterstreiks mit diesem Thema (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1905: 3924; Mehring 1905).

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Da bricht ein großes Unheil herein, eine furchtbare Überschwemmung, ein Massenausstand oder ein anderes erschütterndes Ereignis. Nun kommt die Erkenntnis. Gelegenheit macht Erkenntnis. Gelegenheit macht Versprechungen. Gelegenheit macht Gesetze. „Wir versprechen Euch ein Gesetz zu Eurem Schutze, zur dauernden Verbesserung Eurer Lage, zur legitimen Vertretung Eurer Wünsche und Forderungen, zur Hemmung der Willkür einer übermächtigen Unternehmerklasse“ – so etwa sprach die Ministerstimme mit etwas heiserem Klang zu den streikenden Bergleuten – und die Stimme fand Gehör, erweckte Hoffnung und Vertrauen. Die heisere Stimme gehört zu den Symptomen der politischen Wurmkrankheit. Sie rührt her von dem überlauten Sprechen, womit Minister das Gefühl ihrer Unsicherheit zwischen Krone und Volksvertretung zu übertäuben pflegen. Nur durch überlautes Sprechen können sie erwarten, Widerhall bei einem Volke zu finden, das tatsächlich durch die Krone noch mehr als durch die „Volksvertretung“ vertreten wird, aber in ungenügender Weise auch durch jene. Die Minister möchten nun gar zu gerne ihr Ge- und Verlegenheitsgesetz, ihr Notgesetz, auf eigene Faust machen, so rasch als möglich, nach Anwendung einer amtlichen bureaukratischen Schablone, mit der die „Verhältnisse“ geschwind auf Stempelpapier, Marke Reichsadler, abgeklatscht wurden. Aber o weh! Da ist die leidige Verfassung – „mit Zustimmung beider Häuser des Landtages“ gibt der König in Preußen Gesetze. Die Wurmkrankheit des preußischen Staatslebens zeigt sich nun weiter in folgendem. Die Minister werden von der Krone ernannt. Die Krone ist unverantwortlich, nicht nur schlechthin im staatsrechtlichen Sinne, sondern in einem hohen Grade auch im moralischen Sinne. Die Monarchischgesinnten in einem monarchischen Staate – und sie bilden ohne Zweifel in

2 Massenausstand: Massenstreik. 8 „Wir versprechen ... Unternehmerklasse“: Als Zitat nicht nachgewiesen; Tönnies verdichtet hier Aussagen, die sowohl von Bülow als auch von Möller sinngemäß vor dem Reichstag und dem preußischen Landtag mehrfach gemacht wurden; vgl. ebd. 10 Hoffnung und Vertrauen: Der am 16. Januar 1905 ausgerufene große Streik der Bergarbeiter an Rhein und Ruhr wurde daraufhin am 9. Februar 1905 abgebrochen. 2 3 „mit Zustimmung beider Häuser des Landtages“: Der preußische Landtag bestand aus dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus. Zur Zeit von Bülows waren die Konservativen im Herrenhaus fast unter sich und im Abgeordnetenhaus verfügten sie beinahe über die absolute Mehrheit. Dem König und den beiden Kammern stand die gesetzgebende Gewalt gemeinsam zu.

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Preußen die große Mehrheit – nehmen als Regel an, daß der Monarch das allgemeine Beste will, daß sein Interesse mit dem Interesse des Staates sich deckt, was tatsächlich in einem gewissen, wenn auch schwer bestimmbaren, Maße der Fall ist. Die Minister sind nicht bloß moralisch, sondern auch staatsrechtlich verantwortlich – formell dem Landtage, materiell ausschließlich der Krone. Denn die formelle Verantwortlichkeit hat keine wirkliche Bedeutung angesichts des Umstandes, daß der Landtag keinen Minister ab- oder einsetzen kann. Aber der Landtag muß den Gesetzentwürfen der Minister zustimmen, damit Gesetze daraus werden. Wenn der Landtag dies will, so ist alles wohlbestellt. Wenn er es aber nicht will? – Die Krone kann das Abgeordnetenhaus auflösen und Neuwahlen anordnen, die möglicherweise günstiger ausfallen; sie kann im Herrenhause die ihr willfährigen Potenzen aus eigener Machtvollkommenheit vermehren. Wo hat denn die Wurmkrankheit ihren Sitz? – Daß die Krone im Fall eines dauernden Konfliktes ohne verfassungsmäßige Mittel ist, daß sie sich tatsächlich genötigt gesehen hat, die Verfassung, nachdem sie kaum ein Dezennium zu Recht bestanden hatte, zu brechen, gehört zu den chronischen konstitutionellen Schwächen, es ist keine akute, einen typischen Verlauf nehmende Krankheit. Diese rührt nicht vom rechtlichen, sondern vom tatsächlichen Verhältnis zwischen Krone und Landtag her. Es sind wesentlich persönliche Beziehungen, in denen die Krankheit ihren Sitz hat. Bei weitem der größte Teil der Mitglieder des Herrenhauses, und ein sehr erheblicher Teil des auf Grund eines Wahlrechtes, das ein früherer Minister selbst als „plutokratisch“ bezeichnet hat, erwählten Hauses der Abgeordneten, sind im Sinne der Krone und der von ihr abhängigen

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keinen Minister: Das in der preußischen Verfassung ausgesprochene Prinzip der Ministerverantwortlichkeit war nicht näher definiert, und da das ursprünglich vorgesehene Ausführungsgesetz nie beschlossen wurde, konnten die Minister jederzeit erklären, dass sie nicht dem Parlament, sondern nur dem König verantwortlich seien. Ein von den Liberalen angestrebtes Ministerverantwortlichkeitsgesetz, das regierende Minister verfassungrechtlich zu überprüfen erlaubte, kam nicht zustande. dauernden Konfliktes: Der preußische Verfassungskonflikt von 1860 erfuhr in der Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten 1862 seine Zuspitzung. Nachdem das Parlament am 3. 9. 1866 auf eine Ahndung des Bismarckschen Verfassungsbruchs verzichtete („Indemnität“), wurde der Konflikt beendet.

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Ministerien „gut“. Gut – das Wort will viel sagen. Alter befestigter Grundbesitz, Majorate, Grafenkronen, Uradel. Große patriarchalisch beherrschte Industrie, Bergwerke. Nebenher auch anderer schwerer Reichtum, wenn von untadligem Stammbaum, oder wenn der semitische Ursprung durch „der Jahre heiligende Kraft“ gesühnt oder durch die „Bekehrung“ und den Brautschleier keusch verhüllt wurde. Erwünscht, wenn auch bei sonst ausreichendem Gewicht der Geldbeutel nicht unerläßlich, ist noch stattgehabter Dienst bei der Garde oder einem vornehmen Schulden machenden Kavallerieregiment, einem ebensolchen Studentenkorps, u. dgl. Zierat mehr. Diese also sind „gut“. Alle anderen Staatsbürger, also auch Volksvertreter, sind nicht ganz und gar „schlecht“, aber mehr oder weniger verdächtig. Sie werden mit scheelen Augen betrachtet. Sie dürfen niemals die Mehrheit in einem der beiden Häuser des Landtages gewinnen, geschweige in beiden. Im Herrenhause – dafür ist gesorgt. Im Hause der Abgeordneten besteht freilich die Gefahr, aber es wird von den Ministerien und ihren Unterbeamten ständig gearbeitet, daß sie sich nicht verwirkliche, und tatsächlich ist sie bei dem bestehenden Wahlrecht gering, zumal da ein Teil der Geächteten auch seinerseits einen anderen Teil für schlecht hält, für zu schlecht um mit ihn gemeinsame Sache zu machen; mehr geneigt, wie jener Teil ist, von einem hoffähigen Lackstiefel sich auf die Zehen treten zu lassen, als einer gar zu schwieligen Faust die eigene behandschuhte Hand zu reichen. Nun also – die Guten sind in der Mehrheit. Und darauf beruht nun die krankhafte ministerielle Wahnvorstellung, daß das Regieren mit einer solchen Mehrheit eine gar leichte und bequeme Sache sei. Ist es z. B. notwendig geworden, ein Ge- und Verlegenheitsgesetz zu geben, so rechnet dieser Wahn von vornherein mit der Zustimmung dieser sicheren Mehrheit der Guten. Aber die Guten haben nicht zum ersten Male bewiesen, daß sie recht unangenehm, ja ziemlich – böse werden können, wenn – nun, versteht sich, wenn ihnen die ministeriellen Gesetzentwürfe nicht passen. Sie, die die amtliche Handelsmarke der Gutgesinntheit, des Patriotismus, der Loyalität an der Stirne tragen, sie machen Opposition d. h. sie tun das, was sonst als das spezifische Merkmal der Schlechten gilt, d. h. eben in den Kreisen des Hofes und der Ministerien unablässig dafür erklärt wird. Wenn nun die politische Wurmkrankheit nicht wäre, so würde folgendes folgen. Die Minister würden denken: wenn die Guten das Schlechte tun, sollte es nicht vorkommen, sollte es sich nicht auf redliche Weise erreichen lassen, daß die Schlechten das Gute tun? Sollte es nicht politisch notwendig werden, nach einer Mehrheit derer, die wir für die Schlechten zu halten verpflichtet sind, sich umzusehen? ….

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Aber die Wurmkrankheit bewirkt, daß dieser Gedanke niemals gedacht wird. Der Wurm nämlich denkt anstatt der menschlichen Gehirne. Der Wurm denkt: „Ihr lieben und getreuen Guten, was ihr tut, das ist immer gut – niemals verdient es den gehässigen Namen der Opposition, niemals wird es geächtet und verfolgt werden, weder mit großen noch mit kleinen Mitteln, wie fortwährend die Opposition der Schlechten ohne Grund und Nachsicht verfolgt wird und verfolgt werden muß. Wenn die Schlechten Opposition machen, so wird die Regierung die Schlechten zerschmettern. Wenn ihr, die Guten, etwas tut, was dem ähnlich sieht, so .... gibt die Regierung nach. Die Regierung bittet um Entschuldigung, sie konnte es ja nicht voraussehen, sie kann eben nichts voraussehen, was kann sie dafür, die arme, zahme, immer das Beste wollende Regierung? – Dieser Zustand der Ohnmacht und Schwäche ist der normale Ausgang der Wurmkrankheit im preußischen Verfassungsleben. Ob sie heilbar ist? Wie es scheint, nur durch ziemlich radikale Mittel. Vielleicht aber kann wenigstens der häufigen Wiederkehr vorgebeugt werden auch durch ganz gelinde Mittel. Einstweilen möchte die Anwendung solcher Mittel am leichtesten tunlich, daher am meisten empfehlenswert sein. Die preußischen Minister werden von der Krone ernannt; sie sind nicht, wie in England, ein Ausschuß der Mehrheit des Hauses der Abgeordneten. Wohl. Aber niemand kann die Krone hindern, um der politischen Zweckmäßigkeit willen die Minister aus der Mehrheit, aus den Parteiführern zu wählen und zu ernennen. Sie würde dadurch erreichen, daß die Herren, die tatsächlich die Macht in den Fingern haben, auch die moralische und politische Verantwortung für die Ausübung der Macht übernehmen, und daß die Probe gemacht wird, ob sie diese Last zu tragen imstande sein werden. Die tiefere Ursache des häufigen Auftretens der politischen Wurmkrankheit in Preußen liegt in dem schlechten politischen Ernährungszustande der Ministerien. Die Minister sind im politischen Sinne kachektisch. Sie sind gar nicht Politiker, sondern sind Verwaltungsbeamte, Militärs, Hofgünstlinge und was weiß ich? – Hin und wieder freilich taucht eine Ausnahme auf. Ein politisierender Fabrikherr wird Minister. Es fügt sich, daß gerade die 4

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Ihr lieben und getreuen Guten: Im Erstdruck mit einem Anführungszeichen beginnend, jedoch ohne Abführungszeichen gesetzt; als Zitat auch nicht nachgewiesen; vgl. aber in Goethes „Faust II“ Vers 4728 das Kaiserwort: „Ich grüße die Getreuen, Lieben.“ kachektisch: [gr.] svw. im schlechten Zustand, hinfällig. ein politisierender Fabrikherr: Bei der Kabintettsumbildung 1901 erhielt der zum rechten Flügel der Nationalliberalen gehörende westdeutsche Großindustrielle Theodor Adolf

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traurige Rolle des Urhebers der Berggesetznovelle einem solchen Minister zugewiesen war. Einem ziemlich fähigen Politiker vielleicht – ein ziemlich fähiger Ministerpräsident steht ihm zur Seite. Aber der Ministerpräsident ist zugleich Reichskanzler – man tut ihm nicht Unrecht, wenn man sagt, daß er dieser zwiefachen Aufgabe nicht gewachsen ist. Der Handelsminister –? einzig in seiner Art, wie er ist, als dem Parlament entnommener Minister, geht er auf Stelzen anstatt auf seinen zwei Füßen und kann sich nicht mit der Freiheit bewegen, die nur dem, der eine feste und sichere Basis hat, die Kraft gibt, Hemmungen und Widerstände zu überwinden. Wenn die Krone wohlberaten wird, so wird man ihr raten, mit politischen Ministerien zu regieren, die in der Lage sind, wenigstens zu halten, was sie feierlich versprochen haben, und den guten Ruf der Regierung zu retten. Wenn die Parteiführer – was im gegenwärtigen Falle zu vermuten stünde – dennoch zu noch größerer Unzufriedenheit des Volkes regieren werden, als die gegenwärtigen Minister, so wird zu untersuchen sein, ob nicht die Fehler der Konstitution daran schuld sind – diese sind unter Umständen rascher und leichter zu heilen, als eine schleichende und schwer erkennbare politische Wurmkrankheit.

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Möller das Ministerium für Handel und Gewerbe, das auch für sozialpolitische Fragen zuständig war. Berggesetznovelle: Unter dem Eindruck des großen Streiks der Ruhrbergarbeiter kündigte die preußische Regierung am 27. Januar 1905 eine Novelle zum Berggesetz an, die die bestehenden Bestimmungen in einer Reihe von Fällen zugunsten der Arbeiter ändern sollte. Am 9. Februar wurde daraufhin der Streik abgebrochen. Die Novelle wurde am 26. Mai 1905 vom Abgeordnetenhaus verabschiedet. Eine grundsätzliche Verbesserung der Verhältnisse auf den Zechen fand jedoch nicht statt; siehe dazu auch hier S. 258–268. Reichskanzler: D. i. Fürst Bernhard Heinrich von Bülow (1900–1909). nicht gewachsen ist: In der 123. Sitzung des Reichstages vom 20. Januar 1905 äußerte sich von Bülow unter anderem: „Meine Herren, ich bin nicht nur in den Ausführungen des Herrn Vorredners, sondern auch in der bürgerlichen Presse, in Zeitungsausschnitten, die mir heute Morgen vorgelegt worden sind, Klagen begegnet über die angebliche Rat‑ und Machtlosigkeit des Staates“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1905: 3920). Der Handelsminister: Möller äußerte sich resignierend zur Vergeblichkeit seiner Initiativen: „Meine Herren, man hat mir vorgeworfen, ich hätte in den letzten Jahren still zugesehen, ich hätte die Bewegung, wie ich im Abgeordnetenhause selbst angesprochen hätte, seit langer Zeit kommen sehen, ich hätte längst einen explosiven Ausbruch erwartet und trotzdem nichts getan“ (vgl. ebd.: 3922).

Soziologische Literatur L’Année sociologique. Publiée sous la direction de Émile Durkheim professeur de sociologie à l’Université de Bordeaux, chargé de cours à la Faculté des lettres de Paris. 1ere année (1896/97) – 6me année (1901/2). Paris, Felix Alcan, Editeur. 1898–1903. Der systematische Verstand der Franzosen bewährt sich auch in der Geschicklichkeit, womit sie die Fluten der wissenschaftlichen Literatur zu stauen und in Röhren zu leiten unternehmen. Solche Röhren sind uns längst in Gestalt ihrer Jahresberichte bekannt geworden: wir haben die Année philosophique, die A. biologique, die A. psychologique – um nur die wichtigsten zu nennen1 –, und zu diesen ist nun die stattliche Reihe von Bänden hinzugekommen, die in ähnlicher Weise bestimmt sind, das ganze Gebiet der Soziologie zu überschauen und die gedruckten Ergebnisse eines Jahres in ihre Felder einzuordnen. Was hier unter dem barbarischen und doch schon unentbehr 1 Älter als alle diese, und wohl die älteste, ist die A. scientifique (seit 1857). Es gibt auch eine A. politique (seit 1874).

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Soziologische Literatur erschien als Besprechungsaufsatz im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1905k, Bd. 21, S. 237–247. Tönnies stellt dem deutschsprachigen Publikum die ersten sechs Jahrgänge der „L’Année Sociologique“ von 1896/97 bis 1901/02 vor. Der Rezension der exakt bibliographierten Bände ist als Überschrift vorangestellt: „Soziologische Literatur. Besprochen von Prof. Ferd. Tönnies, Eutin.“, „Ferd. Tönnies“ in Majuskeln. Der Kolumnentitel lautet „Ferdinand Tönnies, Soziologische Literatur.“. Hierzu siehe auch den Editorischen Bericht, S. 572 f. L’Année Sociologique: In Frankreich erschien als unabhängige periodische Publikation, die sehr eingehend alle mit der Soziologie zusammenhängenden Werke rezensierte, die ,Année Sociologique‘ von Émile Durkheim. Die ersten zehn Bände umfassten je zwei Jahre und enthielten auch Abhandlungen. Danach wurden je drei Jahre umgriffen und nur noch Besprechungen geboten, während Abhandlungen gesondert als „Collection des travaux de l’Année Sociologique“ erschienen. Tönnies äußerte sich immer wieder begeistert über diese „in ihrer Art bedeutsame Leistung“: „Diese französischen Jahresberichte sind bewunderungswürdig; die mathematisch und überhaupt logisch begabten Franzosen wissen durch Anordnung und organisierte Übersicht der literarischen Masse Herr zu werden“ (Tönnies 1926a: S. 209 f.). Vgl. dazu [2009] die deutsche „Soziologische Revue“.

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lich gewordenen Namen Soziologie verstanden wird, kann nicht zweifelhaft sein: er dient als Sammelname2 und soll alle Gedankenbildungen und Forschungen umfassen, die das soziale Leben zum gemeinsamen Gegenstande haben, wie weit sie auch sonst auseinanderliegen mögen. Wenn es unbequem scheint, daß der Begriff der Soziologie auch einen engeren Sinn in Anspruch nimmt, so sind doch ähnliche Unbequemheiten auch in anderen Gebieten der Terminologie der Wissenschaften anzutreffen: schlimmer, als daß es verschiedene Bedeutungen desselben Wortes gibt, ist es, daß zuweilen keine von mehreren zu allgemeiner Anerkennung durchdringt, weil es zu viele Geister gibt, die in sehr geringen Sachen ihre Unabhängigkeit und Eigenheit auf ängstlichste Weise wahren und zur Geltung bringen, nicht selten solche, die in bedeutenderen Angelegenheiten des Sinnes für Unabhängigkeit nur allzusehr ermangeln. Den weitaus größten Raum in jedem Bande nehmen die „Analysen“ ein, – Referate, wie wir sie, mit einem Worte, das auch nicht eben von schöner Bildung ist, nennen würden; im allgemeinen tritt hinter den Mitteilungen über den Inhalt der Schriften die Kritik zurück. Allgemein und vor allem einzelnen interessiert uns die Klassifikation, die diesen Berichten zugrunde gelegt ist. Sie ist in den Grundzügen durch alle sechs Jahrgänge hindurch festgehalten worden. Es sind 6–7 große Abteilungen gemacht und innerhalb dieser eine Reihe von Hauptthemen unterschieden. Die Abteilungen sind im 2 Der Herausgeber unterscheidet in seinem ersten Vorwort die im eigentlichen Sinne soziologische Literatur von der hier angesammelten als den Materialien, mit denen die Soziologie aufgebaut werden müsse. In gleicher Meinung habe ich von den Praecognita der Soziologie gesprochen. 1 barbarischen ... Namen Soziologie: „barbarisch“, weil „Soziologie“ ein lat.-gr. Mischwort ist (aus [lat.] socius, Gefährte, und [gr.] λὁγος, Logos, hier: Kunde). 24 Praecognita: [lat.-nlat.] svw. Vorauswissen zukünftiger Sachverhalte und Tatbestände. Im vorliegenden Fall handelt es sich allerdings um einen spezifischen tönniesschen Terminus: „Ich fasse alle ethnologischen, historischen und statistischen Tatsachen, also auch die darauf gerichteten Forschungen, als Praecognita der Soziologie, und meine, daß diese – als Theorie des sozialen Lebens der Menschheit – teils aus allgemeinen psychologischen Prämissen entwickelt werden, teils aus jenen höchst mannigfachen Daten sich aufbauen muß; weiterhin ist dann ihre Aufgabe, auf das gesamte empirische Material und dessen Verarbeitung maßgebend, kritisch, ordnend zurückzuwirken“. Und Tönnies beeilt sich hinzuzufügen, daß ihm „persönlich jede gründliche Untersuchung dieser und aller übrigen Praecognita sehr viel wichtiger ist als das meiste, was im Felde der Theorie, sei es mit hastigen Verallgemeinerungen oder mit vagen und oberflächlichen Begriffen, geräuschvollen und leichtfertigen Rezensenten-Beifalls sicher, geleistet wird“ (Tönnies 1929a: 283 f.).

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ersten Jahrgange folgende: 1. Allgemeine Soziologie. 2. Religiöse Soziologie. 3. Soziologie der Moral und des Rechtes. 4. Soziologie des Verbrechens. 5. Soziologie des wirtschaftlichen Lebens. 6. Verschiedenes. Vom zweiten Jahrgang ab ist die letzte Abteilung an die siebente Stelle gerückt und als sechste die „soziale Morphologie“ hineingeschoben. Diese Haupteinteilung scheint, da sie seitdem immer wiederholt worden ist, dem Leiter und den Autoren dieser Berichte sich bewährt zu haben. Ihren Charakter werden wir am besten erkennen, wenn wir die einzelnen Kapitel uns ansehen, in denen die Themata zusammengefaßt sind. Hier ist das Schema zum Teil wohl schon durch den Umstand verschoben worden, daß die wechselnden Jahre Verschiedenes hervorbringen und daher für einzelne Sondergebiete hin und wieder ein bibliographisches Vacat auftreten müßte. Immerhin ist die bloße Bibliographie von dem literarischen Teile unterschieden, und das Bestreben macht sich in jedem Jahrgange bemerklicher, in jedem dieser Abschnitte den Analysen ein Verzeichnis der außerdem zu dem Gegenstande erschienenen Schriften und Journalaufsätze anzuhängen. Ich werde darauf zurückkommen. Die Gesamteinteilung, die sich ergibt, dürfte am zweckmäßigsten in einem Tableau dargestellt werden, und ist im ersten Jahrgange folgende: 1. a) Philosophische Soziologie. b) Biologische Soziologie. c) Psychologische und spezifische Soziologie. a) Allgemeines, Philosophie, Methode. b) Primitive Religionen im allgemeinen. c) Häusliche Kulte. d) Vorstellungen und Bräuche in bezug auf die Toten. 2. e) Volkstümliche Kulte im allgemeinen und agrarische im besonderen. f) Rituelles. g) Mythen. h) Organisation des Gottesdienstes; Mönchstum.

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Vacat: [lat.]: svw. bleibt leer (Druckanweisung noch 2006). Gesamteinteilung: Eine modifizierte Gliederung findet sich bei Tönnies 1926a: 210, eingeleitet mit den Worten: „Da es sich bei der ‚Année Sociologique’ um eine in ihrer Art bedeutsame Leistung handelt, möge die Einteilung besprochener Werke und Abhandlungen hier kurz folgen, die zugleich einen Überblick über das gesamte Wissensgebiet [der Soziologie, Hg.] darbietet“.

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a) Allgemeine Theorien über Recht und Moral. b) Objektive Studien über die Sitten. c) Die Familie. d) Die Ehe. e) Die Strafe. f) Die soziale Organisation. g) Das Eigentumsrecht. h) Diverses.

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a) Moralstatistik b) Kriminalanthropologie

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5. a) Ökonomische Theorien

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A. Verbrechen und Rasse. B. Besondere Faktoren des Verbrechens. C. Spezielle Formen des Delikts. D. Das Rotwelsch (Argot). E. Diverse Fragen. A. Wert und Wertmaß. B. Sozialismus und ökonomische Wissenschaft. C. Eine neue Darstellung der Sozialökonomie. D. Diverses.

b) Die Berufsgruppierungen. c) Die Geschichte der Arbeit. d) Die Entwicklung des Handels. 6. a) Die Anthroposoziologie. b) Die Soziogeographie. c) Fragen der Demographie. Im zweiten Jahrgange:

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6. a) Allgemeine Morphologie. b) Soziale Masse und Dichtigkeit. c) Die städtischen Gruppen und ihre Entwicklung. d) Verschiedenes. Die Unterteilungen sind vielfach variiert und erweitert; besonders auch die des ökonomischen Schemas. So finden wir im sechsten Jahrgang folgende Einteilung dieses: a) Allgemeine Studien. b) Ökonomische Systeme. c) Wirtschaftsformen (Régimes de la production). d) Betriebsformen (Formes de

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la production).3 e) Elemente der Verteilung. f) Ökonomische Klassen. g) Berufsverbände. h) Wirkung des Staats auf das wirtschaftliche Leben – und zwar A. Handelspolitik. B. Soziale Gesetzgebung. i) Besondere Wirtschaften: Ackerbau, Industrie, Handel usw. Die Rubrik h war im fünften und den früheren Jahrgängen noch nicht vorhanden; ihre Einführung wird ausführlich gerechtfertigt. „Ohne Zweifel,“ heißt es, „wird die Beziehung des Staates zum wirtschaftlichen Leben an manchen Stellen durch anderweitig bestimmte Untersuchungen berührt; und ebenfalls ohne Zweifel zeigt sich die Wirksamkeit des Staates mit anderen Wirkungen und Gegenwirkungen vermischt und verbunden. Gleichwohl dürfte die bezeichnete Erscheinung eines besonderen und unmittelbaren Studiums wert sein. In den früheren Abschnitten (Wirtschafts- und Betriebsformen, Verteilung, ökonomische Klassen) werden die Dinge betrachtet gemäß den Kategorien einer allgemeinen ökonomischen Funktion: das ist in der Ordnung, denn es gibt Beziehungen, die der Wirtschaftsform der Unternehmung in der Industrie und derselben Wirtschaftsform in der Agrikultur, der Genossenschaft in der Industrie und der Genossenschaft im Handel, dem Großbetriebe in Agrikultur, Industrie und Handel, ebenso dem Arbeitslohn in allen drei Sphären gemeinsam sind usw. Ebenso werden in dem Abschnitt ‚spezielle Wirtschaftsarten‘ die Dinge gemäß der Verzweigung einer differenzierten wirtschaftlichen Tätigkeit betrachtet: es gibt in der Tat Merkmale, die dem Handel in der Gesamtheit seiner Bedingungen, solche die dem Ackerbau in der Gesamtheit seiner charakteristischen Elemente eigentümlich sind usf. Das Eingreifen des Gemeinwesens, oder der Versuch einer organisierten Gesellschaft, ihre Organisation oder ihre ökonomische Entwicklung zu modifizieren, betätigt sich oder kann sich betätigen in diesen verschiedenen Gebieten und kann unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten erwogen werden: die ‚Mittelstandspolitik‘ d. h. Maßregeln des Staats, die ins Werk gesetzt werden, um die industrielle Konzentration aufzuhalten, eine Politik, die sich zum Ziele setzt, das Kleingewerbe oder den Kleinhandel zu erhalten, alles was dahin gehört, hat seinen Platz (angesehen nicht auf die Zwe 3 In der ausführlichen Anzeige von Sombarts Kapitalismus, die in diesem Bande unter b (S. 464–483) enthalten ist (und meiner Ansicht nach vielmehr unter a gehört hätte), bringt F. Simiand, der Bedeutung des Sombartschen Werkes gerecht zu werden suchend, dessen Unterscheidung von Wirtschafts- und Betriebsformen mit seiner (Simiands) eigenen von Régimes und Formes in Parallele, die er im IV. und V. Bande dieser Année vorgeschlagen habe. 32

Sombarts Kapitalismus: D. i. „Der moderne Kapitalismus“ (1902).

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cke, sondern auf die Wirkungen, nicht auf die Absichten, sondern auf die ursächlichen Beziehungen, wie sie objektiv feststehen) in dem Abschnitt, der den Wirtschaftsformen gewidmet ist. Die Agrarpolitik ebenso in dem Abschnitt: spezielle Ökonomie des Ackerbaues; Maßnahmen des Staates, um den Arbeitslohn zu schützen oder sogar in gewissen Fällen zu fixieren, gehören in diesem Betracht unter ‚Arbeitslohn‘ usw. Aber gehen nicht diese verschiedenen Staatstätigkeiten aus von einer gemeinsamen Tätigkeit, deren soziologische Ursachen und Wirkungen dargelegt werden müssen? wenn sie wie angegeben stückweise studiert wird, kann sie da in ihrem ganzen Wesen sich enthüllen? Es handelt sich hier – wohlverstanden – nicht darum, diese Politik vom praktischen Gesichtspunkt zu systematisieren, sie zu ‚rechtfertigen‘ oder zu „beurteilen“. Gleichwie beim Studium aller anderen wirtschaftlichen Erscheinungen ist eine objektive Forschung, wie eine wissenschaftliche Untersuchung über die Verhältnisse von Ursache und Wirkung, die vorgestellte Aufgabe. Ist nicht die Gesamtheit dieser Erscheinungen, für sich betrachtet, geeignet, soziologische Beziehungen bloßzulegen die wir bis dahin noch nicht berührt hatten? . . Wir bringen unter diese Rubrik die Gruppe der Erscheinungen, die gewöhnlich als ‚soziale Gesetzgebung‘ oder ‚Arbeitergesetzgebung‘ erörtert werden. Abgesehen von ihren einzelnen Anwendungen ist die Verfassung des Ganzen, die korrespondierende Ermittlung seiner mannigfachen Zweige, die parallele Entfaltung dieses neuen ökonomischen Rechtes in den verschiedenen Gesellschaften unserer Zeit – jeder dieser Gegenstände ist eine wichtige und charakteristische Erscheinung, die ein besonderes Studium verlangt“ (p. 521–23). – Nachdem man über den Wortreichtum, der in der Übersetzung noch stark beschnitten ist, – leider ist er auch bei uns in derartigen Auseinandersetzungen üblich – hinweggekommen ist, wird man die vorgetragene Meinung wohl billigen können. Wenn aber zu gleicher Zeit begründet werden soll, daß manche Bücher unter verschiedenen Rubriken, also zwei- und mehrfach, besprochen werden, so finde ich dies doch nicht richtig. In allseitiger und gerechter Weise es zu tun wird schwerlich gelingen; es würde auch den Gesamtbericht zu stark belasten und die Benutzung unbequem machen. So wie es bisher geübt wurde, ist es offenbar von Zufällen abhängig, d. h. ist ziemlich beliebig geschehen und nicht geschehen. Die Einteilung der Literatur über Wirtschaftsleben in solche die das privatrechtliche (gesellschaftliche) und solche, die das öffentlichrechtliche (staatliche und gemeindliche) 24

(p. 521–23): Vgl. die „Introduction“ von Bourgin/Simiand 1903; der Einführung folgen zwei Beiträge über Handelspolitik und einer über Sozialgesetzgebung.

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Wirtschaftsleben zum Gegenstande hat, scheint mir ganz notwendig. Dagegen würde ich alles was nur die Geschichte des wirtschaftlichen Lebens angeht, ausscheiden und einer allgemeinen historischen Abteilung zuweisen. Dies führt mich auf eine Kritik des Grundschemas überhaupt. Sicherlich ist es ungemein schwierig, die Masse des sozialwissenschaftlichen Stoffes richtig und zweckmäßig zu ordnen: über die Richtigkeit einer Einteilung wird man lange vergebens streiten können; und wenn eine vorliegt, die sich praktisch einigermaßen bewährt, so wird man schon zufrieden sein dürfen. In dieser Hinsicht verdient nun, was in der Année geleistet worden, alles Lob. Sie ist ihres Stoffes mächtig geworden. Prinzipielle Bedenken habe ich freilich gegen die hier eingeführten Begriffe: „religiöse, juridische, ökonomische“ Soziologie – zu schweigen von der „kriminellen“, die auf ganz anderem Gesichtspunkte beruht, und von der ohne Zusammenhang angereihten „sozialen Morphologie“. Ich meine, wenn der Maßstab der soziologischen (oder sozialphilosophischen, sozialwissenschaftlichen, oder wie immer man sagen möge) Bedeutung an die Literatur jener Fächer angelegt wird – und es kann doch nicht die Meinung sein, die gesamte juristische oder die gesamte nationalökonomische Literatur Revue passieren zu lassen – so hat man alle Ursache, gleichsam auf den Baumstamm und die Wurzeln, die jenen Verzweigungen des sozialen Lebens gemeinsam sind, zuerst und vor allem zu achten, daher nicht nach dem Gesichtspunkt einer spezifischen Soziologie zu teilen, sondern den der allgemeinen stetig hindurchgehen zu lassen, und für die Hauptunterscheidung einen anderen Grund, der in das Wesen der allgemeinen Betrachtung nicht einschneidet, zu wählen. Als ein solcher Einteilungsgrund bietet sich, durch eine gegebene, wenn auch mit andern sich kreuzende Klassifikation, die Unterscheidung von sozialen Urzuständen, historischen Zuständen und gegenwärtigen KulturTatsachen dar. Wenn man die nächste Aufgabe ihrer bloßen Beschreibung ins Auge faßt, so liegt das Material für die erste Abteilung vorzugsweise in der Ethnographie, für die zweite in der Geschichte vor; alles was in die letzte gehört, würde ich unter dem Namen „Statistik“ zusammenfassen, wir sind am meisten in der Lage, auf die Beschreibung dieses Gebietes Maß und Zahl anzuwenden. Ich würde also eine sozialwissenschaftliche Literatur ethnographischen, historischen und statistischen Charakters unterscheiden. Innerhalb dieser Abteilungen wäre dann das wirtschaftliche Leben (dieses an erster Stelle), Recht, Religion, sittliches und geistiges Leben je für sich zu betrachten, und alles was über die bloße Beschreibung hinausgeht, wäre sozial-wissenschaftlich vorzugsweise bedeutsam. Nicht jeder Beitrag zur Wirtschafts- oder Rechtsgeschichte, aber jeder der zum Verständnisse

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beobachteter Veränderungen, d. i. zu ihrer begrifflichen Erfassung mithelfen würde, gehört zur Soziologie oder ist ihr wenigstens verwandt. Alles Allgemeine und rein Theoretische bliebe für sich und an der Spitze: die Beziehungen zur Psychologie und zu irgend einer anderen philosophischen Disziplin würden, soweit sie nicht ein besonderes Gebiet näher angehen, hier abgehandelt werden. Auch alle nationalökonomischen Theoreme, soweit sie einen allgemeinen, daher philosophischen und mithin auch soziologischen Charakter haben. Dagegen würde ich in eine besondere Abteilung alle Berührungen mit den Naturwissenschaften setzen und diese überhaupt an die zweite Stelle. Sachgemäß würde die ethnographische Soziologie unmittelbar an die Geographie und Anthropologie, die Ausläufer der Naturwissenschaften, die am nächsten die Soziologie angehen, sich anschließen. Ich bin der Meinung, daß so eine einfache und lichtvollere Einteilung sich ergeben würde. Vor allem käme die Statistik zu der ihr gebührenden Geltung. Ich bin beflissen, den alten Begriff der Statistik, den der „stillstehenden Geschichte“ wieder herzustellen, dem sich die Statistik in ihrem modernen, aber vagen Sinne, vollkommen einfügt, soweit sie sozialwissenschaftlichen Inhalt hat; möge man außerdem von der numerischen oder kalkulatorischen Methode als von der statistischen reden, jedenfalls gehört Statistik als Methode zur Logik und nicht zu irgend einem Gebiete der Wissenschaften, worin wir die Logik und mit ihr die wissenschaftlichen Methoden anwenden. Es hat sich nun freilich ein Sprechgebrauch herausgebildet, demzufolge Untersuchungen z. B. über die sittlichen Zustände des ehelichen Lebens in einem Lande nur dann statistisch genannt werden, wenn sie wesentlich aus Tabellen z. B. über Eheschließungen und Ehescheidungen bestehen. In der Tat sind diese Tabellen ein dringend erfordertes Element solcher Untersuchungen, aber das macht eine wissenschaftliche Untersuchung, die ihrer entbehrt, nicht ihrem Wesen nach verschieden von solchen, die sich ihrer bedienen. Man muß daher jenen Sprachgebrauch bekämpfen. Es kann auch der Verallgemeinerung und Vervollkommnung ‚statistischer‘ Methode nur zugute kommen, wenn alle Beschreibungen und Erforschungen sozialer Zustände (und ihrer Veränderungen) prinzipiell als Statistik begriffen werden. – Bei der Durkheimischen Klassifikation wird auch das, was heute als Statistik verstanden wird, verzettelt. Das Meiste fällt unter „Kriminalsoziologie und Moralstatistik“, eine Abteilung, die kein Recht auf ihr Dasein hat, wenn im übrigen die großen Zweige normaler Erscheinungen des sozialen Lebens als Recht, Sitte, Religion, Wirtschaft, zugrunde gelegt werden. Daneben ist die Bevölkerungsstatistik unter die „soziale Morphologie“ gezwungen; ein Buch über die Elemente der Statistik gerät in die erste Abteilung der „ökonomi-

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schen Soziologie“, Schriften über statistische Methodologie in die Abteilung „Diverses“ (dagegen würde eine Unterabteilung „Methodologie“ durchaus passenderweise jede große Gruppe – ethnographische, historische, statistische Soziologie – einleiten.) Wie bei diesen französischen Jahresberichten herkömmlich, gehen auch in diesem den Anzeigen und Referaten jedesmal 2–3 Abhandlungen voran, zumeist von den Herausgebern herrührend, unter denen neben Durkheim C. Bouglé, M. Mauß, H. Hubert, Simiand und Charmont hervortreten; ihnen gesellen sich auch einige Nicht-Franzosen, nämlich Simmel mit einer Übersetzung seiner Abhandlung „Die Selbsterhaltung der Gruppe“, Ratzel mit einem Resumé seiner politischen Geographie unter d. T. „Boden, Gesellschaft und Staat“, und der Holländer Steinmetz mit einer ebenfalls bemerkenswerten Arbeit „Klassifikation der sozialen Typen“. Die Franzosen behandeln zumeist ethnographische und historische Gegenstände, mit Vorwiegen der ersteren; so Durkheim den Totemismus, das Incestverbot und in Verbindung mit Mauß „ursprüngliche Formen der Klassifikation“ (ein Thema der Sozial-Psychologie), Bouglé das Kastenwesen; die des zweiten Bandes sind beide den religiösen Phänomenen gewidmet, nämlich ihrer Definition (Durkheim) und dem Wesen und der Funktion des Opfers (Hubert und Mauß). Auch die „Kriminologie“ (ein neuer barbarischer Terminus) ist durch Memoires originaux vertreten, nämlich von Durkheim (IV) über „zwei Gesetze der Entwicklung des Strafwesens“ und Richard (III) „Soziale Krisen und Kriminalität“. Werden endlich noch 2 Arbeiten ökonomisch-statistischen Inhaltes erwähnt, nämlich von Charmont (IV) „über die Ursachen der Vernichtung des korporativen Eigentums“ und von Simiand (V) über 7 9

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Durckheim: Korrekt: Durkheim; Mauß: korrekt Mauss. Nicht-Franzosen: Das sind Simmels „Comment les formes sociales se maintiennent“ (1898); Ratzels „Le Sol, la Société et l’État“ (1900) und Steinmetz’ „Classification des types sociaux et catalogue des peuples“ (1900). Die Franzosen: Beachte „Sur le totémisme“ (Durkheim 1902); „La prohibition de l’inceste et ses origines“ (1898); „De quelques formes primitives de classification.“ (Durkheim/ Mauss 1903); „Remarques sur le régime des castes“ (Bouglé 1901); „De la définition des phénomènes religieux“ (Durkheim 1899); „Essay sur la nature et la fonction du sacrifice“ (Hubert/Mauss 1899). barbarischer Terminius: [lat.] crimen, Verbrechen. Mémoires originaux [frz.]: Originalabhandlungen, Erstveröffentlichungen; das sind: Durkheims „Deux lois de l’évolution pénale“ (1901); Gastons „Les crises sociales et les conditions de la criminalité“ (1900); Charmonts „Note sur les causes d’extinction de la propriété corporative“ (1901) und Simiands „Étude sur le prix du carbon en France au XIXe siècle“ (1902).

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den Preis der Steinkohle in Frankreich während des 19. Jahrhunderts, so wäre die Liste erschöpft, wenn nicht in VI zu der Überschrift „Mem. Orig.“ hinzugefügt wäre „et revues générales“, und diese neue Gattung repräsentiert ein Aufsatz von Bouglé „Revue générale des théories récentes sur la division du travail“, der wie alle solche Übersichten durchaus willkommen zu heißen ist. Wenn diese General-Übersichten über einzelne Probleme oder einzelne Literaturgebiete allmählich über die Abhandlungen hinauswüchsen – die doch mit dem eigentlichen Zwecke des Jahrbuches kaum zusammenhängen – so würde ich darin keinen Schaden erblicken. Sie könnten auch einen chronographischen Charakter behalten oder annehmen, indem sie z. B. jedesmal auf 5 oder 10 Jahre erstreckt würden. Ich füge noch ein Wort über die bibliographischen Notizen hinzu, die den meisten Unterabteilungen der Referate angehängt sind. Sie haben von Anfang an im Plane gelegen, ohne daß aber ihre Abgrenzung gegen diese letzteren – die ‚Analyses‘ – in der Vorrede des leitenden Herausgebers bestimmt worden wäre. An Umfang sind sie im Verhältnis zu den Analyses verschieden, und während sie im ersten Jahrgange unter dem Titel „Notices“ teilweise zwischen die Analysen verstreut waren, sind sie später als „Indications bibliographiques“ ständig an den Schluß jedes Abschnittes gelegt worden (mit einer oder der anderen Ausnahme). Sie bestehen nicht immer aus nackten Titeln, sondern vielen solchen Titeln ist teils eine kurze Charakteristik, teils ein Urteil, in einem oder wenigen Sätzen ausgedrückt, zuweilen mit Allegierung einer Zeitschrift, der es entlehnt wurde, beigefügt; ja im 5. Jahrgange waren diese Charakteristiken und Urteile zum Teil wieder zu ganzen Anzeigen angewachsen, die sich nur durch Knappheit und kleinern Druck von den Analysen unterschieden; dagegen ist dann im VI. eine Reduktion auf bloße Titel erfolgt. Ein sicherer Plan scheint bisher nicht befolgt zu werden. In den Notizen, wie in den Analysen sind Artikel aus Zeitschriften den eigentlichen Büchern und Broschüren untermischt; auch dies scheint ziemlich planlos zu geschehen. Auf Vollständigkeit wird kein Anspruch

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et revues générales: [frz.] allgemeine Übersichten. „L’Année Sociologique“ zerfällt in zwei Teile. Die „Première Partie“ wurde bis zum fünften Jg. „Mémoires originaux“ überschrieben, danach „Mémoires originaux et revues générales“. Die „Deuxième Partie“ enthält die „Analyse“. Aufsatz von Bouglé: Bouglé 1903: 73–122. Indications bibliographiques: [frz.] bibliographische Hinweise. Allegierung: [lat.] svw. Anführung einer Belegstelle.

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gemacht, und nicht einmal das spezifisch Soziologische erfreut sich irgendwelches Vorzuges.4 Ich würde es für einen Gewinn halten, wenn das rein Bibliographische aus diesem Jahresberichte völlig ausgeschieden und besonderen, eben rein bibliographischen Organen überantwortet würde, wo es 4

Von meinen Beiträgen sind die „Jahresberichte über Erscheinungen der Soziologie“ im Archiv für systematische Philosophie, und z. B. auch der Artikel „Zur Einleitung in die Soziologie“ in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, ungenannt geblieben, was ich nicht auf Geringschätzung, sondern auf den Umstand zurückführe, daß diese Zeitschriften gewohnheitsmäßig außer Betrachtung bleiben. Von deutschen Zeitschriften, auf die Rücksicht genommen wird, steht voran – die „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“, was sie ohne Zweifel ihrem Titel verdankt (für deutsche Leser, denen diese Zeitschrift unbekannt sein möchte, bemerke ich, daß sie im Verlage von G. Reimer, von Prof. Julius Wolf geleitet, herauskommt und daß ihr Ursprung mit gewissen politischen Strömungen zusammenhängt; es sind aber neuerdings beachtenswerte ethnologische und statistische Arbeiten darin anzutreffen); daneben sind Schmollers Jahrbuch und die Tübinger Zeitschrift hin und wieder herangezogen; Brauns Archiv und die Conradschen Jahrbücher – in beiden wäre doch manches zu finden, was aus den Gesichtspunkten des Jahresberichtes wichtig genug sein dürfte – soviel ich sehe, gar nicht; ebenso sind die spezifisch sozialistischen Monats- und Wochenschriften unbekannt. Im ganzen muß die getroffene Auswahl als willkürlich, zufällig und unzulänglich bezeichnet werden. – Nicht ohne Interesse ist es, die Anteile der verschiedenen Sprachen – die sich ja keineswegs mit den Nationen decken – an den besprochenen und erwähnten literarischen Produkten zu vergleichen. Ich habe eine Auszählung im ersten und im sechsten Jahrgange vorgenommen, deren Ergebnisse folgende sind:

Erster Jahrgang: ( ) franz. ital. latein. deutsch engl. span. a) Analyses (122): 45 21 – 39 15 3 b) Notizen (232): 52 – 2 98 69 1 Sechster Jahrgang: a) Analyses (255): 80 34 1 94 43 5 b) bibliogr. Anzeigen (224): 74 3 1 119 27 –

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Man sieht, daß die Anzahl der ausführlichen Berichte sich mehr als verdoppelt hat, und dies ist hauptsächlich den deutschen und englischen Publikationen zugute gekommen; auch relativ ist deren Anteil gewachsen. Etwas anders verhält es sich mit den „Notizen“, deren Gesamtzahl etwas schwächer geworden ist; jedoch ist auch hier der deutsche Anteil absolut und relativ gewachsen. Ich vermute, daß dies wesentlich der sehr zunehmenden Vertrautheit französischer Gelehrter mit der deutschen Sprache und ihrer wissenschaftlichen Literatur zuzuschreiben ist. 12

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im Verlage von: Georg Andreas Reimer war für die Romantik das, was Cotta für die Klassik war. Sein Verlag ging 1897 an Walter de Gruyter.

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dann mit einer größeren Sorgfalt, und mit den drei Merkmalen ausgestattet werden sollte – zuverlässig, vollständig, übersichtlich –, die neulich hier mit Recht als Erfordernisse einer guten Bibliographie hervorgehoben wurden. Dabei wäre dann die Ordnung der in Zeitschriften erschienenen Artikel eine Hauptaufgabe, und hier könnte doch – wenn der Gesichtspunkt der Soziologie festgehalten wird – nicht ohne eine Auswahl verfahren werden, und diese mit dem Erfordernis der Vollständigkeit zu vereinen wäre überaus schwierig. Aber nicht unmöglich; denn es ist nicht einzusehen, warum nicht der Bibliograph mit wissenschaftlichem Urteil verfahren sollte: er kann zwar nicht alle Bücher und Artikel lesen, deren Titel er registriert, aber er wird, wenngleich nur durch viele und systematische Übung, den Sinn und die Absicht jeder literarischen Erscheinung rasch erkennen lernen, um mit sicherem Takte sagen zu können: dies muß aufgenommen werden, jenes nicht. Ich stimme ganz und gar mit Sombart überein, daß eine sowohl nach leitenden Gesichtspunkten, als, innerhalb jeder Disziplin, nach Materien geordnete Bibliographie für die heutige wissenschaftliche Arbeit dringend notwendig ist, und daß in diesem wissenschaftlichen Gebiete der arbeitsteilig-kooperative Großbetrieb organisiert werden sollte. Dem einzelnen Forscher in irgend einer Spezialität oder Generalität könnte dadurch ein sehr großes Quantum an Zeit und Mühe erspart werden; und wieviel von beidem wird er immer noch unfruchtbar verlieren! Um mit einem Worte auf die Année sociologique zurückzukommen, so weicht mein Gesamturteil nicht im geringsten ab von dem in diesen Blättern schon ausgesprochenen: ein ausgezeichnetes Jahrbuch! Wenn aber zugleich darauf hingewiesen wurde, daß es zu den Notes critiques – Sciences sociales – in enger Beziehung stehe, und diese „für die Bedürfnisse unserer Wissenschaft durchaus unzureichend“ genannt sind, so scheint darin ein Widerspruch zu liegen. Indessen, abgesehen davon, daß dort nur an Mangelhaftigkeit der Bibliographie gedacht ist, so wird das Urteil auch durch die Bemerkung erläutert, daß nicht alles, was die Notes bieten, „Sozialwissenschaft im deutschen Sinne ist“, daß sie überwiegend mit Dingen angefüllt sind, die „wir“ in einer sozialwissenschaftlichen Rundschau nicht suchen. Dem kann nun freilich entgegengehalten werden, daß „Sozialwissenschaft im

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Notes critiques – Sciences sociales: Zwischen 1900 und 1906, zunächst halbmonatlich, dann monatlich, mit dem Untertitel „Bulletin bibliographique“ erschienen. Hg. war Simiand, verlegt wurden sie von der „Société nouvelle de librairie et d’édition“ in Paris. Sie umfassten in drei Schwerpunkten die (1) Comptes-rendus critiques, (2) Indications bibliographiques, (3) Sommaires de périodiques.

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deutschen Sinne“ noch weniger ein fester Begriff ist, als Soziologie im – meinetwegen – französischen Sinne. Die Klassifikation und Terminologie der Wissenschaften liegt überhaupt völlig im argen. Nicht einmal das Verhältnis von Philosophie zu Wissenschaften bemüht man sich zu bestimmen, noch herrscht darüber irgendwie Übereinstimmung. Gegen die Anerkennung der Soziologie als eines notwendigen und wesentlichen Teiles der systematischen und materialen Philosophie – gleich Naturphilosophie (allgemeiner), Biologie, Psychologie – sträubt man sich in der deutschen akademischen Welt, ohne irgendwelchen vernünftigen oder auch nur historischen Grund; vorzugsweise wohl aus Unkenntnis und persönlichen Motiven. Sie wird aber ohne allen Zweifel, wie in anderen Ländern, so in dem unseren sich durchsetzen – wenn ich richtig schätze, und nicht allgemeine Entwicklungsstörungen eintreten, schon im Laufe von 2–3 Lustren – und dies wird dazu beitragen, Klarheit zu verbreiten. Man wird sich daran gewöhnen, die Namen der philosophischen Hauptfächer zugleich als Sammelnamen für die ihnen zugrunde liegenden und von ihnen befruchteten Wissenschaften zu verwenden; wenn auch in dieser Hinsicht anstatt von Naturphilosophie von allgemeiner Naturlehre, oder sogar von Metaphysik geredet werden mag. Ob der Name Sozialwissenschaft in „unserem“ Sinne dann noch nötig und berechtigt bleibt, will ich dahingestellt sein lassen; die Erörterung würde zu weit führen. Daß er irgendwie allgemeine Geltung hat, wird man nicht behaupten dürfen. Das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ hätte mit besserem Rechte „der Sozialwissenschaften“ heißen sollen, wenn nicht doch „der National- oder der politischen Ökonomie“ noch zutreffender gewesen wäre. Mit dem überlieferten Begriffe der Staatswissenschaften ist darin so gründlich aufgeräumt worden, wie es auf keine Weise gerechtfertigt werden kann, ja in der Tat innerlich unmöglich ist. Im Vorworte der ersten Ausgabe erklärten die Herausgeber, die wirtschaftlichen und sozialen Staatswissenschaften seien es, die den Inhalt des Handwörterbuchs bilden sollten. Darin war die Behauptung enthalten, daß es neben anderen Staatswissenschaften eine (oder mehrere?) solche gebe, der (oder denen?) das Prädikat „wirtschaftlich“ und eine (oder mehrere?) solche gebe, der (oder denen?) das Prädikat sozial zukomme. Die romanischen Nationen sind durch die Hilflosigkeit ihrer Sprachen in der fatalen Lage, Wissenschaften „wirtschaftlich“ oder „sozial“ zu nennen; geschieht dies bei uns, so heißt

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Lustren: Ein Zeitraum von je fünf Jahren nach dem alt-römischen Reinigungs‑ und Sühneopfer, das alle fünf Jahre stattfand.

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das den Sprachgeist beleidigen: nun gar von einer wirtschaftlichen oder sozialen „Staatwissenschaft“ zu reden ist aus sprachlichen wie aus logischen Gründen gleich verwerflich. Auf derselben Seite aber, auf der jenes geschieht, wird derselbe Begriff als „Staatswissenschaften im neueren und engeren Sinne“ bestimmt, und zugleich wollen die Herausgeber das Wort in dieser engeren Bedeutung nur gebraucht haben, um dem Werke einen kurzen und bequemen Titel zu geben. Ungeachtet des „nur“ berufen sie sich aber auch noch darauf, daß bei der Bezeichnung der – Lehrstühle der *Wirtschaftswissenschaften* in der neueren Zeit der Ausdruck Staatswissenschaften *auch amtlich* in dem in Rede stehenden Sinne angenommen worden sei!! Auf der folgenden Seite werden dann wieder „die Wirtschaftsund Sozialwissenschaften“ als Gegenstände des HW vorgestellt. Eine so autoritativ auftretende und dabei so lockere und durch Gründe der Bequemlichkeit gerechtfertigte Redeweise ist freilich nur geeignet, die bestehenden Verwirrungen und antilogischen Tendenzen zu verstärken. Eine Encyklopädie der Wissenschaften, die das soziale Leben der Menschheit betreffen, könnte dagegen im richtigen und heilsamen Sinne wirken. Darin wäre auch einmal die Frage zu erledigen, wie fern und in welcher Beschränkung die „Geschichte“ eine Wissenschaft zu heißen verdiene. Nach meiner Ansicht büßt sie, selbst nach ihrem herkömmlichen Betriebe, an ihrem Werte und ihrer Bedeutung nichts ein, wenn man den Begriff der Wissenschaft, wenigstens unmittelbar, nicht auf sie anwendet.

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HW: D. i. das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ das zwischen 1890 und 1929 in 114 (122) Lieferungen bzw. acht (neun) Bänden in Jena erschien.

Eugenik

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Eugenik: Der Text erschien zuerst im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] 1905, 29. Jg., S. 1089–1106 (Heft 3, S. 273–290) (Tönnies 1905l), wieder abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung. Jena: Fischer 1925, S. 334–349. Entsprechend den Editionsrichtlinien wurde dieser Text abgedruckt und erläutert im Band 15 der Tönnies-Gesamtausgabe (Tönnies 2000a: 455–476). Der Aufsatz ist Teil der Auseinandersetzung des Sozialwissenschaftlers Ferdinand Tönnies mit der zeitgenössischen Soziobiologie. Wie für Artikel in Schmollers Jahrbuch üblich, steht unter dem Titel ein Inhaltsverzeichnis: Galtons Stiftung und Vorträge S. 273 – Schallmayers Verdienst S. 274 – Galtons Leitgedanken S. 275 – Ehebeschränkungen und Tabus S. 276 – Studienplan S. 277 – Debatte und schriftliche Meinungsäußerungen S. 278 – Galtons Schlusswort S. 283 – Kritik S. 285.

Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung

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Es ist zumeist ein undankbares Geschäft, als ungerufener Schiedsrichter in einen heftigen Streit sich hineinzumischen. In dieser mißlichen Lage pflegt sich der Ethiker zu finden, der die innere Berechtigung, die Güte der Sache auf der einen und auf der anderen Seite gegen einander abwägen will. Ihm ist daran gelegen, den Streit zu schlichten; er ist Parteigänger des Friedens – hat doch ein einflußreicher deutscher Philosoph das gesamte sittliche Bewußtsein aus dem „Mißfallen am Streit“ ableiten wollen. Wenn er aber, um den Frieden herbeizuführen, die eine Seite zum Nachgeben veranlassen will, so wird ihn diese immer beschuldigen, der Bundesgenosse der anderen zu sein; und wirklich wird er, bei allem guten Willen unparteilich zu urteilen, doch oft nicht umhin können, alles Recht ausschließlich der einen Partei zuzuschreiben, wie denn ein bestellter Richter in Eigentums- oder Vertragsprozessen ganz regelmäßig in dieser Lage ist. Da ist nun der Klassenkampf – was hat die Ethik darin zu suchen? Die Kämpfenden werden sich die Einmischung verbitten. Es seien reine Machtfragen, werden sie ausrufen, um die es sich handele. Man solle den Kämpfen ihren ungehemmten Lauf lassen, Kämpfe seien heilsam, der Krieg Vater aller Dinge, der Stärkere als der lebensfähigere sei auch der zum Leben besser berechtigte usw. Der Natur der Sache nach sind es vorzugsweise diejenigen, die sich als die Stärkeren fühlen, welche so den Kampf preisen; sie

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Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung erschien in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1905, V. Jg., Nr. 14, zweites Oktoberheft, S. 537–543. Der Überschrift folgt und mit Sperrdruck des Namens der Zusatz „Von Ferdinand Tönnies (Eutin)“. Tönnies nutzte das Erscheinen des Buches „Massenstreik und Ethik“ von Rudolf Penzig, 1905, um sich intensiver mit der Thematik auseinander zu setzen. einflußreicher deutscher Philosoph: Tönnies bezieht sich auf Herbarts „Schriften zur praktischen Philosophie“ (1851: 45–53, 78–83). „ Mißfallen am Streit“: In seiner „Allgemeinen praktischen Philosophie“ spricht Herbart verschiedentlich davon, dass „der Streit missfällt“ (1851: 49), von der „Vermeidung des Streits“ (80) und, dass „die Neigung zum Streit“ zu besänftigen sei (81). Vater aller Dinge: Vgl. Anspielung auf Heraklit (Diels 1957: 27): „Der Krieg (oder: Der Streit) ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien“.

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fürchten, daß der Unparteiische dem Gegner, vielleicht gerade weil dieser der Schwächere, helfen werde, indem er ihm Recht gebe. Trotz der Geringschätzung ethischer Maßstäbe und Entscheidungen pflegen aber die Streitenden, auch in diesem Gebiete, einander die heftigsten sittlichen Vorwürfe zu machen. Sie beschuldigen einander, den Streit angefangen, in „frivoler“ Weise vom Zaun gebrochen zu haben, sie klagen, daß der Gegner mit vergifteten Waffen der Unwahrheit, der Verläumdung kämpfe, sie behaupten geradezu, daß gewisse Kampfmittel mit dem Charakter des Verbrechens behaftet seien. Da kann denn freilich, wer sich in wissenschaftlicher und philosophischer Absicht mit den ethischen Problemen beschäftigt, nicht wohl umhin, solche Behauptungen zu prüfen, er wird es sich nicht nehmen lassen, sein unbefangenes Urteil über den Wert entgegengesetzter Urteile geltend zu machen. Wenn wir also uns aufgefordert fühlen, die Idee des Massenstreiks vor ein ethisches Forum zu ziehen, so werden wir zunächst ein Gefühl des Schauders einem so ungeheuerlichen Gedanken gegenüber zu überwinden haben, um uns in Ruhe klar zu machen, um was es sich handelt. Unbestreitbar ist, daß Arbeiter das Recht haben, aus welcher Ursache, in welcher Absicht es auch sei, die Arbeit niederzulegen, daß sie kein förmliches Unrecht begehen, wenn und so lange sie nicht kontraktlich sich selbst gebunden haben. Aber die sittliche Frage ist damit keineswegs, wie manche wähnen, erledigt, das förmliche Unrecht kann sittlich gerechtfertigt oder wenigstens entschuldbar, das förmliche Recht kann sittlich schweres Unrecht sein – gerade daß wir in dem einen wie im anderen Sinne von Recht und Unrecht sprechen, ist die Quelle vieler Verwirrung. Es ist daher sehr dankenswert, wenn ein Autor, der mitten in der ethischen Bewegung, mitten in dem idealen Kampfe um eine nach allen Seiten hin unabhängige Ethik steht, die Frage nach der sittlichen Berechtigung des Massenstreiks zum Gegenstand einer monographischen Behandlung gemacht hat.1 Die Gesichtspunkte, nach denen diese Betrachtung sich richtet, lassen sich leicht erraten. Aller Streit der auf ein Zusammenwirken angewiese 1

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Massenstreik und Ethik von Dr. Rudolf Penzig. Neuer Frankfurter Verlag G. m. b. H. Frankfurt a. M. 1905.

„frivoler“: [lat.-frz.]: leichtfertig, bedenkenlos; zu Tönnies’ Zeiten auch ein Fachwort der Rechtssprache: unbegründet.

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nen Klassen ist von so schweren Übeln begleitet, daß man ihn zu dämpfen und zu schlichten beflissen sein muß, im Namen des Gemeinwohls. Die Anwendung eines Mittels, das dem Gegner, der zugleich Mitbürger ist und damit zugleich unzähligen unbeteiligten Mitbürgern schweren Schaden zuzufügen geeignet und bestimmt ist, wird unter allen Umständen eine höchst verantwortungsvolle Sache sein; und seine Verwerflichkeit wird um so schwerer ins Gewicht fallen, wenn der Schade, der davon ausgeht, auf diejenigen, die das Mittel anwenden, selber zurückfällt, wenn also der Gebrauch, der davon gemacht werden soll, auch als eine Unklugheit, vielleicht als eine Torheit sich darstellt. In diesem Sinne, auf entschiedenste Weise gefährlich ist jedenfalls die Idee des Massenstreiks. Als eine Torheit wäre er nicht unmittelbar unsittlich, aber mittelbar desto mehr; denn Törichte erweisen sich der sittlichen Freiheit, die ihnen zusteht, nicht würdig, weil ihres vernünftigen Gebrauches unfähig. Nur ganz ungewöhnliche Umstände können die Anwendung einer so schwer bedenklichen Waffe, wenn nicht rechtfertigen, so wenigstens entschuldigen. In jeder Hinsicht hat der Angegriffene, zu welchen Mitteln der Verteidigung er auch greifen möge, die Gunst des moralischen Urteiles für sich; im Notstande ist das Recht der Abwehr auch vor dem Strafrichter gewährleistet, eine Tat, die sonst Verbrechen wäre, ist rechtlich straflos und kann sittlich lobenswürdig sein. Die Drohung, einen bestimmten Angriff, den Versuch mir ein Gut zu nehmen, in bestimmter Weise beantworten zu wollen, kann nur ein Ausdruck für den Grad der Wertschätzung sein, die ich für dieses Gut empfinde; und wenn dieses Gut wirklich einen hohen sittlichen Wert für mich hat, so scheint sich gegen eine so nachdrückliche Warnung, es nicht antasten zu wollen, vom moralischen Standpunkte aus nichts einwenden zu lassen; möge etwa auch der Strafrichter sie als „Bedrohung mit einem Verbrechen“ zu verurteilen sich gemüssigt sehen. Befindet sich etwa in dieser Lage die Arbeiterklasse, wenn sie Grund hat zu befürchten, daß man ihr das politische Wahlrecht, das einzige Mittel, die staatsbürgerliche Freiheit und Gleichheit, deren Lasten man sie alle tragen läßt, auch einmal zum eigenen besten zu betätigen und zu genießen, nehmen will? Daß es sich hier für das Gefühl der Besitzer, und auch 28

„Bedrohung mit einem Verbrechen“: Tönnies bezieht sich auf § 241 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich (1881: 98): „Wer einen Anderen mit der Begehung eines Verbrechens bedroht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark bestraft.“

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in Wirklichkeit, um ein hohes sittliches Gut handelt, ist unanfechtbar. Daß in weiten Kreisen der Gedanke es zu rauben, gehegt und ganz und gar leicht genommen wird, wissen wir alle. Wenn jene Warnung nun dahin wirkt, diese Kreise etwas bedächtiger, vorsichtiger, gewissenhafter in hohen politischen Angelegenheiten zu machen, so ist sie nicht übel angebracht. Man kann und wird einwenden: die Drohung ist unausführbar; der Versuch sie auszuführen würde kläglich scheitern. Und also? also können wir es darauf ankommen lassen? also will man die Verantwortung für das unermeßliche Unheil, das ein solcher Versuch im Gefolge hätte, auf sich nehmen? Eine weise Staatsleitung wird sich wohl hüten, einen so furchtbaren Schlag gegen das Volk zu führen, auch wenn sie keinen Grund hat, mit einem so furchtbaren Gegenschlag zu rechnen; aber eine unweise mit ihren kurzsichtigen Beratern wird auch in diesem Stücke auf das Naturgesetz, das in den Verhältnissen der Menschen wie der Dinge zu einander waltet, mit der Nase gestoßen werden müssen. In diesen Erwägungen ist freilich keine sittliche Rechtfertigung des Massenstreiks enthalten. Vor allem kann ein offener oder latenter Kriegszustand zwischen Teilen eines staatlich verbundenen Volkes, oder zwischen Volk (oder einem großen Teile des Volkes) und Regierung niemals als ein normaler Zustand gelten. So wie der Streik innerhalb einer einzelnen Fabrik oder eines ganzen Gewerbes, je ausgebreiteter und dauernder er ist, um so mehr als ein Symptom ungesunder und unhaltbarer Verhältnisse gelten muß, so wäre ein Massenstreik von politischem Charakter ein Zeichen schwerster Erkrankung des sozialen Körpers. Schlimm genug, daß es dahin gekommen ist, daß ein so desperates Mittel des Klassenkampfes ernstlich ins Auge gefaßt wird! Wem ist die Schuld beizumessen? Soviel läßt sich mit Sicherheit sagen, daß im sittlichen Sinne von der oberen, der herrschenden, der unermeßlich bevorzugten Klasse mehr gefordert werden muß, daß von ihr der Gesamtzustand und damit auch ihr eigenes Verhältnis zur großen Menge, möge diese sonst irregeleitet und verführt werden oder nicht, unmittelbar abhängt, daß sie sich selbst verurteilt, wenn sie meint, durch Aufhebung eines verfassungsmäßigen Grundrechtes das doch einmal unerläßliche und unentbehrliche Zusammenleben und Zusammenwirken mit dieser großen Menge auch nur für sich erträglicher zu machen. Bei alledem ist die Abwehr eines solchen Angriffes durch Massenstreik schon darum zu widerraten, weil man allerdings mit ziemlicher Sicherheit voraussagen kann, daß sie mißlingen wird, und weil die ethischen Gründe gegen ein solches Kampf 2 5

desperates Mittel: [lat.] svw. verzweifeltes Mittel.

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mittel um so schwerer ins Gewicht fallen. Wenn es aber so steht, ist dann nicht auch die Drohung mit einem solchen Mittel verwerflich? ist sie nicht ein Spielen mit dem Feuer? Man wird diese Folgerung nicht abweisen können. Und die Frage, ob es nicht ethisch bessere Mittel gebe, an denen man sich genügen lassen sollte um frevelhafte Zettelungen gegen die Volksrechte zu bekämpfen, muß unter allen Umständen bejaht werden. Das beste Mittel zur Verteidigung des allgemeinen Wahlrechts ist das streng sachliche, in den Formen gemäßigte, in der Gesinnung würdige Auftreten und Handeln der auf Grund dieses Wahlrechtes gewählten Volksvertreter im Reichstage! Das wäre ein lebendiges Argument, und Argumente stehen unter allen Umständen sittlich höher als Drohungen! Anstatt dessen hören wir, daß von ungebildeten Fanatikern ein mehr „ruppiges“ Auftreten im Parlament gefordert und daß von einem Mitgliede des Reichstages ein solches geradezu versprochen wird! Wo ein solcher Tiefstand der Ethik begegnet, da kann man jedenfalls sagen, daß die ethisch zulässigen Kampfmittel erst erschöpft sein sollten, ehe man zu bedenklichen greift. Denn die Ethik ist letzten Endes immer Lebensweisheit. Ihre Verachtung und Verletzung rächt sich früher oder später, wenn auch nicht an den Personen, so doch an den Sachen, die durch diese Personen vertreten werden. Wir sind hier unseren eigenen Gedanken nachgegangen, die durch das Thema angeregt wurden. Man wird in der Schrift des Dr. Penzig wenn nicht dieselben so doch ähnliche Gesichtspunkte, zwar nicht im gleichen Zusammenhange, aber um so mehr zu einer gründlichen Erörterung verarbeitet, wiederfinden. Diese Erörterung beruht auf einer allgemeinen Kritik des Streiks und seiner Beziehungen zum Gemeinwohl, worauf sich die besondere Prüfung des Massenstreiks aufbaut: ob er unter die Kampfesmittel gerechnet werden dürfe, die bei einem das Endziel der sozialen Versöhnung nicht aus dem Auge verlierenden Klassenkampf als erlaubt und berechtigt gelten können? Diese Fragestellung ist trefflich; aber gegen die prinzipielle Auffassung des ethischen Urteils, die Penzig daran anknüpft, muß ich Einspruch erheben. Er meint, den Traum von einer absoluten, allgemein, immer und jederzeit gültigen Moral habe die Philosophie „zum Glück“ längst ausgeträumt (S. 20). Das Handeln einer Antigone, eines Tell, kurz aller Revolutionäre gegen die herrschende Denkweise (unsere religiö 33 3 4

(S. 20): Vgl. Penzig 1905: 29 [sic!]: „Den Traum von einer absoluten, allgemein, immer und jederzeit giltigen Moral hat die Philosophie zum Glück längst ausgeträumt“. aller Revolutionäre: Sophokles’ „Antigone“ gilt als Inbegriff des Widerstandes gegen unsittliche Staatsgewalt. Wilhelm Tell, die berühmteste Schweizer Sagenfigur, soll unter

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sen Heroen sämtlich eingeschlossen) sei tatsächlich unmoralisch gewesen. Die „Zeitmoral“ ist, wie es scheint, für unsern Autor der einzige ethische Maßstab, dessen er sich bedienen will, diese „unsere Moral“ lasse keinen Zweifel darüber, daß sie sowohl jede politische Aktion, die sich über die bestehenden Gesetze hinwegsetzt, verurteile, als auch aus der einseitigen Gesetzesverletzung der einen Partei keine Berechtigung zu gleichem Tun für andere herleiten lasse.2 Ich sage dagegen: die Handlungsweise einer Antigone, eines Tell, ob auch gegen das Gesetz und gegen die nach dem Gesetze gerichtete positive Moralität verstoßend, ist im höchsten Sinne moralisch. Die Ethik müßte abdanken, wenn sie nicht die Partei der ethisch erhabenen Persönlichkeiten zu vertreten wüßte. Immer und zu allen Zeiten, allgemein und notwendig, ist ein Handeln ethisch gerechtfertigt, das ein Mensch nach bestem Wissen und Gewissen, d. h. das er aus reinem idealem Motive unternimmt; wie sehr auch sein Gewissen, als seine Ansicht dessen was schön und gut sei, irren möge – in dem einen, dem formalen Stücke irrt es nicht, daß das gewissenhafteste Handeln immer das pflichtmäßige, daß es sittlich geboten, also unter 2

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Für Penzig ist auch jedes Zivilunrecht als solches unsittlich – so nennt er eine Arbeitsniederlegung ohne Einhalten der Kündigungsfrist „einzig aus Zweckmäßigkeitsrücksichten, nicht aber aus prinzipiellen Gründen straffrei, wenn auch sittlich verwerflich“ (S. 11). Ich sage dagegen: nicht unter allen Umständen ist der Kontraktbruch sittlich tadelnswert, wenn er auch unter allen Umständen einen zivilrechtlichen Anspruch der Geschädigten begründet. Man rechne z. B. daß eine Magd, der ihre hartherzige Herrschaft den Urlaub verweigert, stracks den Dienst verläßt, um ihre totkranke Mutter zu pflegen oder gar um einem Kinde das Leben zu retten. Zivil-Unrecht, kriminelles Unrecht und sittliches Unrecht sind drei getrennte Gebiete, wenn sie auch vielfach sich decken und einander immer nahe liegen.

der Gerichtslinde zu Altdorf dem Landvogt getrotzt haben. Die Tell-Sage wurde in den Jahren 1803 und 1804 von Schiller (1872d) dramatisiert. Die „Zeitmoral“: Penzig spielt „die kurzsichtigen Normen einer Zeitmoral“ gegen die „ungeschriebenen Gesetze einer sogenannten höheren Sittlichkeit“ aus, wie sie im Handeln einer Antigone oder eines Tell zum Tragen kommen. Aber er schränkt ein: Zwar seien unsere Sympathien jedesmal bei der „höheren Moral“, tatsächlich sei diese jedoch unmoralisch (1905: 28 f.). (S. 11): Vgl. ebd.: 11: „Ist so die Arbeitsniederlegung auch ohne Einhaltung der Kündigungsfrist einzig aus Zweckmäßigkeitsrücksichten, nicht aber aus prinzipiellen Gründen straffrei, wenn auch sittlich verwerflich, so muß doch von Seiten der Ethik die Koalitionsfreiheit, d. h. das Recht, Vereinigungen zu bilden zum Zweck der Erkämpfung besserer Arbeitsbedingungen, vorbehaltlos als sittliches Recht aller Arbeiter ohne Ausnahme anerkannt werden.“ (Hervorhebung durch Tönnies).

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allen Umständen erlaubt sei. Auch wenn es gesetzwidrig ist? – Auch wenn es gesetzwidrig ist; möge auch ein richtiges sittliches Urteil nur unter ganz ungewöhnlichen Umständen, viel seltener als ein mangelhaftes und unklares, mit den positiven Gesetzen in Konflikt geraten. Seinem Wesen nach bleibt der Satz: „man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“ auch für den wahr, der einen Gott im traditionellen Sinne nicht glaubt. Und die Mahnung: „ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte“ enthält einen Tiefsinn, der auch abgelöst von der christlichen Dogmatik dem Helden des selbständigen Gewissens zu Schutz und Trutze dienen mag. – Mithin könnte auch der Massenstreik, selbst wenn gesetzlich unter Strafe gestellt, eine sittliche Heldentat bedeuten? So unwahrscheinlich dies sein mag, die Idee ist unwiderleglich. Allerdings aber werden wir diejenigen, die für ein solches Heldentum sich begeistern, belehren müssen, wie viele auch sittliche Güter sie schädigen und gefährden, wenn sie für ein einzelnes sittliches Gut auf den Kampfplatz treten, wir werden die ruhige Überlegung und Besonnenheit überall fördern, auch wenn wir den Enthusiasmus anerkennen, ja unter Umständen bewundern müssen. Penzig gelangt am Schlusse seiner Ausführungen zu der Folgerung, daß zur Überwindung der Klassenkämpfe zuletzt nur Erziehung zu vernünftigem Denken und sittlichem Wollen dienen könne. Dem habe ich nichts hinzuzusetzen. In Anwendung auf die Idee des Massenstreiks kommt es auf dasselbe hinaus, was der berühmte Kritiker der politischen Ökonomie in der ersten Vorrede des Werkes über das „Kapital“ (1867) geschrieben hat: „In England ist der Umwälzungsprozeß mit Händen greifbar. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den Kontinent rückschlagen. Dort wird er sich in brutaleren oder humaneren Formen bewegen, je nach dem Entwickelungsgrad der Arbeiterklasse selbst. Von höheren Motiven abgesehen, gebietet also den jetzt herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich kontrolierbaren Hindernisse, welche die Entwickelung der Arbeiterklasse hemmen.“ (K. Marx, Das Kapital. Vierte Aufl. S. VIII.) In diesen prägnanten Worten ist ein großes und seinem Wesen nach friedliches Programm enthalten. Wir werden freilich vorziehen, auf die Einsicht in das 4 6 2 2 27

bleibt der Satz: Vgl.: Bibel (NT, Apostelgeschichte 5, 29): „Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“. die Mahnung: Vgl. ebd. (Der erste Brief des Paulus an die Korinther 7, 23); Hervorhebung durch Tönnies. der berühmte Kritiker: D. i. Karl Marx, vgl. folgend Marx 1947: 15; Hervorhebung durch Tönnies. ,höheren Motiven‘: Tönnies übernimmt diese Formulierung von Marx; vgl. ebd.

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wahre eigene Interesse nicht zu sicher zu rechnen, aber auch von „höheren Motiven“ nicht ganz abzusehen. Was sind aber die höheren Motive, wenn nicht ethische Motive? Und inwiefern könnte der höhere Entwickelungsgrad humanere Formen bedingen, wenn nicht Humanität die schönste Frucht der ethischen Bildung wäre?

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Verkehr und Transport Eine soziologische Skizze

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Verkehr und Transport: Der Text erschien erstmals in der Zeitschrift „Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustriertem Anzeiger für Kontor und Bureau“, Oktober 1905, 1. Jg., Heft 3 (Tönnies: 1905n: 50–53) (in Fechner 1992:50 irrtümlich: 1906, 2. Jg.). Er wurde wieder abgedruckt in den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Tönnies 1926: 18–24); eine erneute Veröffentlichung findet sich in TG 17. Siehe auch den Editorischen Bericht, S. 574.

Die Entwicklung der Technik Soziologische Skizze

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Die Entwicklung der Technik: Der Text erschien zuerst in der „Festgabe für Adolph Wagner zur siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages“. Leipzig: Winter’sche Buchhandlung (Tönnies 1905o: 127–148). Er wurde wieder abgedruckt in den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Tönnies 1926: 33–62); eine erneute Veröffentlichung findet sich entsprechend in TG 17.

Wie Schiller auf mich gewirkt hat

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Der Wirkungen, die wir von Schiller erfahren haben, gedenken, heißt für die meisten von uns: sich in seine Knabenjahre zurückversetzen, also in ein Lebensalter, das zum guten Teil der Torheit geweiht ist, und das uns leider allzuoft mit Eindrücken erfüllt, deren unser Geist nicht eigentlich Herr werden kann. Von Schillers Balladen habe ich früh bedeutende Wirkungen erfahren, die stärksten wohl von den „Kranichen“, deren Gegenstand mich eben so tief ergriff, wie der Rhythmus und das geheimnisvolle Auftreten der Erinyen. Das erzwungene Auswendiglernen war mir freilich immer ein Greuel und verleidete mir manche, zumal die weniger verstandenen Gedichte; so hatte ich eine Art von Haß auf den „Eisenhammer“, den Liebling von Schillers Freund Körner. Freundlich hat aber die „Glocke“ an mein Ohr geschlagen. Mein Vater, der keine erhebliche literarische Bildung besaß, sprach doch immer von Schiller mit einer gewissen Ehrfurcht, und legte großen Wert darauf, daß ich oder einer meiner Brüder das „Lied von der Glocke“ zu deklamieren vermöchte. Die Schilderung des Feuers hat das Knabenherz wohl am stärksten ergriffen. Manches blieb unverstanden, so muß ich zu meiner Unehre gestehen, daß ich bei „der Bräute Locken“ lange an das Verlockende gedacht habe, das nach einer dunklen Vorstellung, die mir innewohnte, zu einer Braut wohl gehören möge. In der Sekunda, in die ich, 1

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Wie Schiller auf mich gewirkt hat erschien in: Schiller im Urteil des 20. Jahrhunderts. Stimmen über Schillers Wirkung auf die Gegenwart. Eingeführt von Eugen Wolff. Jena: Costenoble 1905(p), S. 72–76, unter der Rubrik „Schiller’sche Jugendeindrücke“. Der Frakturtext endet mit der Zeile „Eutin. Prof. Dr. Ferdinand Tönnies.“ Aus Anlass des Schillerjahres 1905 war der Verlag von Hermann Costenoble an den Kieler Literaturhistoriker Wolff herangetreten mit der Bitte um „ein würdiges Denkmal für Schiller“, das „bleibenden, über die festlichen Tage hinaus währenden Wert“ haben sollte. Wolff veranlasste daraufhin „charakteristische Vertreter aller Schichten des Volkes“, die Frage, wie Schiller auf sie gewirkt habe, zu beantworten, unter anderem Bleibtreu, Bulthaupt, Esmarch, Feddersen, Jonas, Helene Lange, Naumann. Die 122 Antworten ordnete er thematisch 21 verschiedenen Rubriken zu: Schiller als politischer Erzieher, Schiller auf der Bühne, Schiller als Philosoph, Schiller und Goethe etc. Schillers Balladen: Beachte insbesondere „Die Kraniche des Ibykus“ (1871l), „Der Gang nach dem Eisenhammer“ (1871m) und „Das Lied von der Glocke“ (1871n). „der Bräute Locken“: Vgl. Schiller 1871n.

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kaum 12 Jahre alt, eintrat, lasen wir Schillersche Dramen mit einem sympathischen, ganz vom guten alten deutschen Idealismus, und somit von Schiller, erfüllten Lehrer (dem ich im Jahre 1901 im „Lotsen“ ein Denkmal gesetzt habe: „Otto Kallsen“). Ich erinnere mich besonders der Wärme, womit er uns den „Tell“ auslegte, und für die Schönheiten besonders des ersten Aktes eintrat, den Goethe „ein ganzes Stück und zwar ein fürtreffliches“, genannt habe. Wie aber alles, was aus uns selber kommt, uns doch lieber ist als was uns in irgend einer Weise abgenötigt wird, so erinnere ich mich auch noch inniger als an Schiller-Schulstunden und Schulaufsätze, an einen Leseklub, den ich mit einigen Kameraden – gleichfalls noch als Sekundaner – begründet hatte, und worin wir an Sonntag Nachmittagen die „Räuber“, „Fiesco“ und „Kabale und Liebe“, „Don Carlos“ mit verteilten Rollen lasen: da waren wir ganz dabei, zuweilen nicht ohne heftiges Toben und Tragieren. Ob die Beschäftigung mit diesen „Produkten genialer jugendlicher Ungeduld“ für unsere ungenialen Seelen förderlich gewesen ist, lasse ich dahingestellt. Ich erinnere mich aber, daß einige unter uns waren, die sonst an Sonntag-Nachmittagen schon heimlich in Wirtshäuser gingen und Bier tranken, und daß solche erklärten, das Schillerlesen sei doch schöner. – Wie viel stärker alles Spontane zu unserer Entwickelung dient, dafür ist mir auch 3

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ein Denkmal: Vgl. Tönnies 1901; Otto Kallsen war von 1864 bis 1887 Konrektor an der Husumer Gelehrtenschule. Tönnies schreibt, auf ihn gemünzt, dass erst der im Leben Erfahrene oft erkenne, was er an den Bildnern seiner Jugend besessen. Kallsen muss bei den Schülern sehr beliebt gewesen sein; sie huldigten ihm bei seinem Abschied von der Schule mit einem Fackelzug. „Tell“: Das Projekt „Wilhelm Tell. Schauspiel. Eine Ausgabe klassischer deutscher Dichtungen ‚mit kurzen Erläuterungen für Schule und Haus’“, das Karl Heinrich Keck, der Rektor der Husumer Gelehrtenschule (1870–1887), ins Leben rief, brachte als zweiten Teil „Schillers Wilhelm Tell. Von Prof. O. Kallsen“ ,... ein fürtreffliches‘: Vgl. Goethes Brief an Schiller vom 3. 1. 1804: „Das ist denn freylich kein erster Act, sondern ein ganzes Stück und zwar ein fürtreffliches, wozu ich von Herzen Glück wünsche und bald mehr zu sehen hoffe“ (Goethe 1895: 12). mit verteilten Rollen lasen: Im Text: laßen. Beachte die bibliographischen Angaben der genannten Schauspiele (Schiller 1867a, 1868 a und b, 1869 a und b). Tragieren: [gr.-nlat.]: svw. (eine Rolle) tragisch spielen. „Produkten ... jugendlicher Ungeduld“: So Heinrich Döhring, Friedrich von Schillers Leben, Weimar 1824, Kap. IV, S. XXX. Jedenfalls unterscheidet Tönnies einen „doppelten Schiller“, einen jugendlichen, „leidenschaftlich Wollenden“ und einen ganz „anderen Schiller, der uns in den Versen seiner letzten sieben Jahre entgegentritt ... wesentlich als ein Denkender.“ Für Tönnies beendet der erste „seinen Siegeslauf um 1790, als der Dichter das 30. Lebensjahr vollendet hat; der andere beginnt ihn etwa sieben Jahre nachher, mit dem Balladenjahr ...“ (vgl. Tönnies 1905a; hier S. 13).

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interessant zu bemerken, daß die Interpretation Schillerscher philosophischer Gedichte in der Prima (durch einen anderen Lehrer, dem ich innerlich ferner stand) auf mich nur mittelmäßig gewirkt hat; bei weitem am besten gefiel mir der „Spaziergang“. Aber erschüttert wurde ich, als mein eigener Lesegeist auf die „Philosophischen Briefe“ geriet – es mag wohl mit einer Krisis meines jugendlichen Denkens zusammengehangen haben, ich war schon im 12. Lebensjahre an meinem Kinderglauben irre geworden, und fand mich dann – etwa im 16. – ohne Halt, da packte mich, was Julius Raphael schreibt, als Ausdruck meines eigenen Leidens, und zugleich als Ahnung von etwas Höherem. Was über „Liebe“ und ganz besonders was über „Aufopferung“ darin steht, hat mich damals mächtig ergriffen.1 „Denke 1

Um dieselbe Zeit gewann ich für alles Lyrische und Romantische den Maßstab und, wie ich glaube, den Geschmack durch Theodor Storm, der mich die Schönheiten der Schil-

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einen anderen Lehrer: Nach den Archivunterlagen des Husumer Hermann-Tast-Gymnasiums handelt es sich um den auf Gidionsen folgenden Schulleiter Dr. Karl Heinrich Keck. Im Sommerhalbjahr 1870 unterrichtete Gidionsen Deutsch in der Prima („Klopstock’sche Oden, Göthe’s Iphigenie und Hermann und Dorothea gelesen. Literarische Erläuterungen. 4 Aufsätze“), im Winterhalbjahr 1870/71 Keck („Lyrische Gedichte Schiller’s gelesen, namentlich die für seine Entwicklung charakteristischen. Literarische Erläuterungen. Sechs Aufsätze. Freie Vorträge“); vgl. o. V. 1871: 28. „Spaziergang“: D. i. Schillers „Der Spaziergang“ (1871h). „Philosophischen Briefe“: In ihrer überlieferten Gestalt sind diese letztendlich ein Produkt des Beisammenlebens Schillers und Körners in Dresden. In der „Vorerinnerung“ heißt es: „Einige Freunde ... haben sich zu dem Entwurfe verbunden, einige Revolutionen und Epochen des Denkens, einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft in dem Gemälde zweier Jünglinge von ungleichen Charakteren zu entwickeln und in Form eines Briefwechsels der Welt vorzulegen“ (Schiller 1868e: 32). Die Gestalt des Jünglings „Raphael“ als Briefpartner des „Julius“ (d. i. Schiller) geht auf einen ursprünglich von Schiller geplanten Roman zurück. Später übernahm Körner die Rolle des skeptisch-kritisch-materialistischen Antipoden des Julius, doch dürfte der erste Brief Raphaels ganz von Schiller selbst stammen, während der zweite von Körner verfasst ist (vgl. Körner 1881: 39–66 und Schiller 1868h). darin steht: Die Abschnitte über „Liebe“ (S. 45–48) und „Aufopferung“ (S. 48–49) finden sich in dem Fragment „Theosophie des Julius“ (S. 40–55), das Julius einem seiner Briefe an Raphael beifügt (vgl. Schiller 1868e: 31–60). Die von Tönnies zitierte folgende Passage ist den Ausführungen über „Aufopferung“ (ebd.: 48–49) entnommen. Theodor Storm: Der Lyriker und Novellist war literarischer Ziehvater des späteren Soziologen, der ab dem 16. Lebensjahr sein Adlatus war, wie Storm ihn nannte. Zur Wahlverwandtschaft zwischen dem älteren Dichter und dem jüngeren Adlatus vgl. Bond 1995, Carstens 2008 und Fechner 1985. Tönnies veranlasste später, dass Storm das Ehrenbürgerrecht der Stadt Husum verliehen wurde und hielt auch die Rede zur Enthüllung des Stormdenkmals (siehe auch Tönnies 1917 bzw. TG 10).

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dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlechte auf entfernte Jahrhunderte wohl tut – setze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur erwiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt. Denke dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblicke des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Laß in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung emporsteigen – laß in dunkler Ahnung vorübergehen an ihm alle Glückliche, die er schaffen soll – laß die Gegenwart und die Zukunft zugleich in seinem Geist sich zusammendrängen – und nun beantworte dir, bedarf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?“ – Bald ist aber bei mir, wie bei manchen anderen, Goethe in den Vordergrund getreten und hat Schiller verdunkelt. Schon unser Rektor Gidionsen, mein erster Primalehrer, war ein Kenner und geistvoller Interpret Goethes. Im Laufe der Jahre bin ich aber, hauptsächlich gerade durch Goethes Vermittelung, auf Schiller zurückgekommen. Seine Bewunderung für Schillers gewaltiges Genie war so aufrichtig wie lebhaft. Je mehr ich dessen inne wurde, desto mehr habe ich mich meines geringen Verständnisses lerschen Gedichte „die Schlacht“, „das Siegesfest“, „der Graf von Habsburg“ erkennen lehrte, die er nebst mehreren andern in sein „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“ aufnahm, dessen Druckkorrektur ich 1870 besorgen durfte. 8 14

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Glückliche: sic! mein erster Primalehrer: Als die Husumer Gelehrtenschule mit dem Ende der dänischen Herrschaft 1864 neu begründet wurde, übernahm der oldenburgische Hofrat Wilhelm Gidionsen das Amt des Rektors. Schillerschen Gedichte: Das sind in Storm (1870: 59–61, 64–69 und 69–73) „Die Schlacht“, „Das Siegesfest“ und „Der Graf von Habsburg“ (Schiller 1867a-c). aufnahm: In der dritten Auflage des ‚Hausbuchs‘ von 1875, der ersten illustrierten Ausgabe, sind die Schiller’schen Gedichte nicht mehr enthalten. Storm schreibt dazu im Vorwort: „... nur ist diesmal, da deren Werke sich in fast allen Händen befinden, auf eine Auswahl aus den Gedichten Goethe’s und Schiller’s Verzicht geleistet, um dadurch für weniger Bekanntes Platz zu finden“ (Storm 1875: X). dessen Druckkorrektur: Nachdem Storms Sohn Ernst, der seinem Vater bei der Korrektur geholfen hatte, zu studieren anfing, hatte dessen Freund, Ferdinand Tönnies, dieses Amt übernommen und am ‚Hausbuch‘ als „Korrektor“ mitgearbeitet, „obgleich ich wohl kaum schon wußte, was eine Korrektur sei.“ Selbstkritisch merkt Tönnies weiterhin an: „Storm setzte vielleicht zu großes Vertrauen in die Sorgfalt des Primaners, einige Satzfehler, die stehen blieben, bekümmerten ihn nachher ...“ (Tönnies 1917: 48, 51). Als sie sich später seltener sahen, beklagte Storm sich darüber. Er nannte Tönnies dann, nach einem Grimmschen Märchen, einem der wenigen plattdeutschen, „Ferenand ungetrü“ (ebd.: 56).

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Wie Schiller auf mich gewirkt hat

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für Schiller geschämt. Die Verse „beim Anblick von Schillers Schädel“ sind mir in reiferen Jahren ein Lieblingspoem geworden; ich weiß es noch heute beinahe ganz auswendig. Mächtig hatte aber Schiller immer auf mich gewirkt von den Brettern, auf denen die Kunst Thaliens uns ebenso edle, wie gemeine, ja niedrige Genüsse zu bieten vermag. Und zu den edelsten, die ich erfahren habe, zähle ich die Aufführungen Schillerscher Dramen, auch jener wilden und herben Jugenddramen, 2 vorzüglich aber doch des „Wallenstein“ – würde uns doch 2

Was R. Weltrich im 1. Buch Kap. 5 seines Schiller über eine Münchener Darstellung der Räuber durch die Meininger 1883 schreibt, ist mir aus der Seele gesprochen (ich glaube sogar, daß ich derselben Aufführung, wenigstens einer gleichen um dieselbe Zeit beigewohnt habe). „Denn alle Stücke Schillers gewinnen auf dem Theater“, sagt derselbe Biograph in dieser ausgezeichneten ästhetisch-kritischen Betrachtung über die „Räuber“.

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„beim Anblick von Schillers Schädel“: Vgl. Goethe 1890a: 93 f.; dem Zitat liegt folgende Geschichte zugrunde: Am 16. 12. 1827 wurden die Gebeine Schillers umgebettet. Zur Reinigung kam sein Schädel in Goethes Haus. In dieser Zeit entstand das von Tönnies erwähnte Gedicht. Es erschien erstmals 1829 ohne Überschrift. Die Nachlassherausgeber Riemer und Eckermann, denen die Entstehungszeit bekannt war, gaben ihm von sich aus den Namen „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“. Goethe (1908: 122) spricht im Zusammenhang mit diesem Gedicht in einem Brief an Zelter vom 24. 10. 1827 von den „Reliquien Schillers“. E. v. d. Hellen nahm das zum Anlass, in der Jubiläums-Ausgabe (1902), die Überschrift „Schillers Reliquien“ zu bilden. Durch die Eckermann-Riemersche Überschrift war das Gedicht jedoch inzwischen zu einem Gedicht auf Schillers Schädel geworden. Thaliens: Thalia, gr. Thaleia („die Blühende“), ist die Muse der heiteren Dichtkunst, besonders der Komödie, seit dem 18. Jahrhundert Repräsentantin des Schauspiels überhaupt; aber auch eine von Schiller herausgegebene und größtenteils von ihm selbst geschriebene Zeitschrift, zuerst als „Rheinische Thalia“ (1785), dann bis 1791 als „Thalia“, schließlich 1792/93 als „Neue Thalia“. „Wallenstein“: Vgl. Schiller 1872a (darin: „Wallensteins Lager“, S. 3 ff; „Die Piccolomini“, S. 61 ff; „Wallensteins Tod“, S. 201 ff); ferner „Wilhelm Tell“ (Schiller 1872d), „Die Jungfrau von Orleans“ (1870) und „Maria Stuart“ (1872). seines Schiller: D. i. „Friedrich Schiller. Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke. Unter kritischem Nachweis der biographischen Quellen“. Erster Band. Stuttgart 1899. die Meininger: D. i. die Truppe des Hoftheaters in Meiningen; sie wurde auf Gastspielreisen durch vorzügliches Ensemblespiel und historische Ausstattung vorbildlich; künstlerischer Leiter des Meininger Hoftheaters war der Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, der „Theater-Herzog“. Die entsprechende Äußerung findet sich bei Weltrich 1899: 372. „... gewinnen auf dem Theater“: vgl. ebd.: 371.

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einmal der ganze Wallenstein an einem festlichen Tage gegeben: Morgens das Lager, Nachmittags die Piccolomini, Abends der Tod! – des „Tell“, der „Jungfrau“ und „Maria Stuart“. So wohlbekannt mir diese Werke waren, so ist die Darstellung auf der Bühne doch jedesmal ein Erlebnis für mich gewesen. Zu einem tieferen Studium Schillers und seiner geistigen Entwickelung, die uns ein Können und ein Wollen im imposantesten Wetteifer zeigt, bin ich erst in diesem Winter, und zwar aus dem Anlasse des zu begehenden Säkulargedächtnisses gekommen. Ich habe dabei tief empfunden, was mein berühmter Landsmann Hebbel am 30. September 1845 in sein Tagebuch schrieb: „Um gegen den großen Schillerschen Geist nicht ungerecht zu werden und den Eindruck der Übersättigung nicht mit dem des Ekels zu verwechseln, ist es für einen Deutschen, der an und durch Schiller aufwächst, notwendig, seine Werke Jahre lang liegen zu lassen und sie dann wieder vorzunehmen.“ Dies habe er getan und sei so auf den Geisterseher gekommen, dessen gewaltige Komposition er hervorhebt. Hebbel, der Schillern als Dichter und Denker so ähnlich war, wie ein Dithmarscher einem Schwaben sein kann, und der bei Gelegenheit der Schillerfeier 1859 schrieb, er habe auf ihn in der Jugend gewirkt wie kein anderer. Mir haben Schillers Werke, und besonders auch seine Briefe, in diesen letzten Monaten Weihestunden bereitet. Höhere doch als sie dem Knaben zu Teil werden konnten. Und dies, obgleich ich mich mehr mit dem Wirklichkeitssinn als mit dem Idealismus des Dichters beschäftigt habe, von

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Säkulargedächtnisses: 1905 jährte sich der Todestag Schillers zum hundertsten Male. Im Rahmen dieses Schiller-Jahres erschien bei Cotta die Säkularausgabe der Werke Schillers in 16 Bänden in der letztwillig von Schiller selbst bestimmten Anordnung der Texte, hgg. von E. von der Hellen u. a. in sein Tagebuch schrieb: Vgl. Hebbel 1905: 64 f. Geisterseher: Vgl. Schiller 1868g; das ist eine der wenigen Erzählungen Schillers. Sie hat das Interesse von Tönnies gefunden, weil sie „ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes“ sei (s. o., S. 311). 1859: 1859 jährte sich der Geburtstag Schillers zum hundersten Male. Schiller galt zu dieser Zeit als Symbol nationaler Einheit (vgl. Wolff 1905: XIX ff.). Auch Wolff bezieht sich in seiner Einleitung auf die Aussage Hebbels, „daß Schiller in der Jugend auf ihn gewirkt hat wie kein anderer“ (ebd.: XXIII). Durchaus möglich ist, dass der Verlag eine Vorform dieser Einleitung als Anschreiben seiner Umfrage beigelegt hatte. seine Briefe: Tönnies stand seinerzeit vor allem die Ausgabe von Jonas (1892–96) zur Verfügung; gelegentlich zitierte er auch nach Michelsen 1876. Wirklichkeitssinn: Es sind vor allem zwei Themenbereiche, die Tönnies’ Interesse finden: zum einen die gesellschaftlichen Ursachen und ethischen Implikationen menschli-

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dem man sich so oft unrichtige Vorstellungen gemacht hat. Auch in jenem ist der echte Idealismus enthalten.

cher Kriminalität so, wie Schiller sie in einigen seiner Werke zur Darstellung bringt (vgl. Tönnies/Schlüter 1905, hier S. 299–316); zum anderen ist er darum bemüht, einen aktuellen Zeitbezug zu Schillers „politischem Vermächtnis“ herzustellen (vgl. Tönnies 1905a und 1905i, hier S. 3–60 bzw. S. 317–321), oft in polemischer Auseinandersetzung mit jenen konservativen Zeitströmungen, die den Dichter für ihre Zwecke zu vereinnahmen suchten.

[On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy] The destination and task of sociology to become the centre or the goal towards which all the special social sciences should be directed has been very well brought out in both papers. But the second one lays, in particular, stress upon the just perception, that the purport and significance of science generally, and consequently of the social sciences also – or as it is expressed “the interaction of the sciences and the arts” – is to be examined in a science of civilisation, and that from this point of view also the special social sciences are in principle subordinated to sociology. This almost coincides with my own notion, and I fully endorse what is said in the two last paragraphs of the second paper. But I should wish to qualify the evolutionist, by what may be called the dissolutionist principle, for, with respect to everything existing – therefore with respect to contemporary civilisation also – we have as much reason to consider the decay as the growth, the descending as the ascending part of its life and development. On the other hand, I should strictly discriminate and disjoin the practical aspect of ideals from the theoretical investigation of the problems; and I even suggest that the former might be left (to the benefit of the scientific character of sociology) to the ethical and poli 1

[On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy]: Der Text (Tönnies 1905q; im Original ohne Überschrift) stellt einen Diskussionsbeitrag zu zwei Arbeitspapieren dar, die von Émile Durkheim und Victor V. Branford anlässlich eines Treffens der Sociological Society am 20. 6. 1904 in London vorgelegt worden waren. Die Gesellschaft war im November 1903 gegründet worden und hatte im darauf folgenden Jahr vier Arbeitstreffen durchgeführt. Die vorgelegten Papiere, die mündlichen Diskussionsbeiträge sowie die eingesandten schriftlichen Kommentare, unter anderem von Paul Barth, LévyBruhl, Bertrand Russell, Ludwig Stein und Sebald Rudolf Steinmetz, sind abgedruckt im ersten Jahrgang der Sociological Papers, London (MacMillan & Co.), 1905, Jg. 1, S. 195–257, unter dem Titel „Sociology: Its Scope and Definition“. Sie sind mit einem einheitlichen Kolumnentitel „On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy“ versehen. Der Beitrag von Tönnies findet sich auf den Seiten 250–251. Dem Text voran steht in Kapitälchen „From Professor Tönnies“ und darunter in Klammern kursiviert „Professor of Philosophy, University of Kiel“; siehe dazu auch den Editorischen Bericht, S. 575–577.

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tical philosopher, who again will leave the practice itself – realisation of ideals – to educators and statesmen. But, however so much I agree with the general tenor of both papers, I dissent from them in this, viz., that I put a very great weight upon the mission of sociology, not only to receive from the special social sciences, but to give them from its own store. Philosophy has the same relation to sciences generally, which sociology has to the social sciences. There is a part of first principles which ought to be more than merely methodical. It ought to be an inquiry into the ideas – a working out of the notions of social matter and motion – or of the realities that underlie all social evolution. These are, in the first instance, what I call social entities, the various modes and forms of human association, including as well a rowing or walking club as colleges and universities, trades unions and monastic orders as well as church and state, archaic gentes and tribes as well as mediæval guilds. The thorough investigation of these forms – which I refer to a communist and a socialist type respectively, apart from what these words mean, if ideal forms are concerned only – I say, this preliminary investigation is the proper work of pure sociology, which, by fulfilling this task, will forge a key for the understanding of history.

[Public Comments on the Movement]

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[Public Comments on the Movement]: Der Text erschien zuerst ohne Überschrift in den Sociological Papers, London (MacMillan) 1905, Jg. 1, S. 287–288 (Tönnies 1905r), im „Appendix“. Unter dem Titel „Public Comments on the Movement“ sind dort von der Redaktion zusammengestellte Textauszüge aus unterschiedlichen Publikationsorganen versammelt, die sich mit der am 20. 11. 1903 in London gegründeten „Sociological Society“ befassen, unter anderem aus der „Westminster Gazette“ vom 19. 4. 1904, dem „Daily Chronicle“ vom 19. 4. 1904 und der „Academy“ vom 1. 11. 1904. Dem Text voran steht „Professor Tönnies, in Schmollers Jahrbuch (1904):“ Es handelt sich hierbei um eine stark gekürzte, nahezu wörtliche Übersetzung seines in „Schmollers Jb.“, 1904, 28. Jg., 2, S. 305–308 (S. 743–746), erschienenen Artikels „Die Soziologische Gesellschaft in London“ (Tönnies 1904a), wieder abgedruckt in Tönnies’ „Soziologische Studien und Kritiken“ (1925: 330–333). Entsprechend den Editionsrichtlinien ist dieser deutsche Originaltext abgedruckt und erläutert in TG 15 (S. 449–454). Gekürzt wurde die englische Fassung um zwei längere Passagen, deren Inhalt den Lesern der „Sociological Papers“ bekannt gewesen sein dürfte: zum einen um die Teilnehmer und Resultate der Gründungsinitiativen („Es scheint aber, daß Spencer ... Auch der Kontinent und die Vereinigten Staaten sind vertreten.“, S. 306–307), zum anderen um einen Auszug aus dem Programm der Gesellschaft („Die Londoner soziologische Gesellschaft ... der Politiker und der Geistliche.“, S. 307–308). Siehe dazu den Editorischen Bericht, S. 577.

[Anglo-German Relations]

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Sir, – The letters which some of our leading men of letters, scholars, and artists have written to you and your contemporaries may be said to express the sentiments which have long been entertained by the German Universities, as well as by many private circles, with respect to the lamentable misunderstandings which have recently been gaining ground between the people of England and the German empire. I feel sure that a great many other persons in this country, who, like myself, more than once enjoyed British hospitality, and are ardent admirers of your great nation, have long been suffering under the pressure of a growing political estrangement, perceiving keenly, as we do, the unnatural attitude of two realms towards each other, which seem to be destined by Providence to mutual assistance and friendship. I am perfectly aware – as I suppose any historical or sociological student is – that the interests of art, science, and general literature, and the sentiments connected with these interests, are of little consequence to what is sometimes called “high” politics. Frederick of Prussia, to be sure, was not

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[Anglo-German Relations]: Dieser Leserbrief von Ferdinand Tönnies To the Editor of the Times erschien in: The Times, London, Freitag, 26. 1. 1906(b), S. 15. Die Überschrift stammt offensichtlich von der Redaktion. Die auf derselben Seite abgedruckten Leserzuschriften sind in ähnlicher Weise betitelt, so dass ein einheitliches Schriftbild gewahrt ist. Der Brief endet mit den Worten „I am, Sir, yours faithfully,“ darunter in Versalien „Ferdinand Tönnies.“, danach recte „The University, Kiel, Germany, Jan. 17.“ Siehe auch den Editorischen Bericht, S. 577–579. the pressure of a growing political estrangement: England hatte sich gegen den Ausbau der deutschen Flotte gewandt, die nicht als Schutz deutscher Welthandelsinteressen, sondern als Bedrohung Englands betrachtet wurde. Die Flottenrivalität der beiden Staaten wurde noch zusätzlich durch chauvinistische Pressekampagnen auf beiden Seiten angeheizt. Die von Großbritannien und Frankreich 1904 vereinbarte Entente cordiale wurde unter Einbeziehung Rußlands 1906 zur Tripel-Entente erweitert und als weltpolitische Wendung Englands gegen die deutsche Flottenmacht interpretiert („Einkreisung“). England reagierte auf die beschleunigte deutsche Flottenaufrüstung schließlich mit dem Bau schneller und gepanzerter Großkampfschiffe der „Dreadnought“-Klasse. Dieser Rüstungswettlauf (Flottengesetze von 1906 und 1908) wurde auf beiden Seiten von vehementen antibritischen bzw. antideutschen Pressekampagnen begleitet. Frederick of Prussia: D. i. der preußische König Friedrich II., der Große, der ein großer Bewunderer der Kultur und Philosophie der frz. Aufklärung war.

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hostile to French civilization when he fought the battle of Rossbach, and Napoleon, the conqueror of the Fatherland, was an admirer of Goethe. If the interests of true culture were deciding, no war would be possible any more. It is the natural duty of statesmen who deal in foreign affairs to guard their countries against hurt and against snares, which might be either laid or intended by its neighbours or other opponents, and consequently to watch their movements with unceasing attention. And it seems inevitable that, even if a politician is conscious of his own harmless designs as well as of those of his nation, he cannot help looking upon those of his antagonist or competitor with suspicion and mistrust. I fear it cannot be denied that a deep gulf of mutual mistrust and jealousy has for some time been open between our two countries. It is true that these feelings are cherished mostly by the less cultured part of the upper strata of society in both, and especially by persons who are either naturally (that is to say, intellectually) unable, or who never took any pains, to acquire a tolerably intimate knowledge of the character of a foreign nation and to put themselves mentally into their places who belong to it. It is in great part for this reason, I believe, that so many censures and reproaches, either baseless or ill-founded, are habitually pronounced by Germans against the English and by Englishmen against Germans. Among those unkind criticisms, the one I hear most frequently objected against the foreign policy of the United Kingdom is that it is said to be entirely dictated by egoistic motives, and does not at all regard the just claims which other nations may have for a consideration of their rights and interests. But I believe – and my usual reply is – that the same may be said with equal justice of the foreign policy of either the French, the Germans, the Russians, or the United States. An ethical standard, observed in the inter-

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battle of Rossbach: Im Siebenjährigen Krieg schlug Friedrich II. am 5. 11. 1757 bei Roßbach in wenigen Stunden eine Armee von Franzosen und Reichstruppen. Dadurch errang er in Deutschland große Volkstümlichkeit und hieß seitdem „der große Friedrich“. the conqueror of the Fatherland: Der am 12. 7. 1806 unter Napoleons Protektorat gebildete Rheinbund führte zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, worauf hin Franz II. am 6. 8. 1806 die römische Kaiserkrone niederlegte. Nur die Fürsprache des russischen Zaren Alexander I. sicherte die weitere Existenz Preußens. Allerdings war die Großmachtstellung des friderizianischen Staates bis zum Wiener Kongress 1815 erst einmal vernichtet. admirer of Goethe: Im Rahmen des Erfurter Fürstentages 1808 gewährte der frz. Kaiser dem Dichter des ‚Werther‘ wie dem Politiker eine mehrstündige Audienz.

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course of States – apart from a conventional and often insufficient respect paid to international law – is a sad desideratum, as philosophers and philanthropists have often accentuated, and there is a poor prospect as yet of this condition of things being radically improved, though this would mean a most important step in the direction of human and truly humane civilization. The only way in which some progress of that kind may now be expected seems to be shown by the growth of intelligence with respect to the common interests of all nations, and, therefore, is a development of an enlightened self-interest on the part of rules. And what I wish to emphasize is that, apart from all intellectual and aesthetic sympathies, the most elementary insight into their true advantages ought to teach the British, as well as the German, nation to maintain European peace, as any serious disturbance of it, whatever be the immediate issue, will be apt to bring ruin upon both of these nations in their common struggle against the growing competition of America and of Asia; even if this struggle, as may reasonably be hoped, will continue to be a peaceful one.

Zum Verständnis des politischen Parteiwesens Es scheint nach richtiger Logik immer zwei wesentliche oder Hauptparteien in bezug auf öffentliche Angelegenheiten geben zu müssen: eine die den vorhandenen Zustand seinen Prinzipien und seinem Charakter nach bejaht, und eine die ihn verneint. Jene will „die bestehende Ordnung“ erhalten, diese will sie verändern. Wenn die eine richtig die konservative genannt wird, so müßte die andere die mutative heißen; so gebräuchlich wie der erste, so ungebräuchlich ist jedoch der zweite Ausdruck. Da Veränderungen, wenn sie die Grundlagen bestehender Ordnung treffen, mit einem naheliegenden Gleichnisse „Umwälzungen“ genannt werden, und da für politische Umwälzungen das Wort „Revolution“ sich eingebürgert hat, so würde die Logik allenfalls erlauben, für mutativ „revolutionär“ einzusetzen; und wenn es tatsächlich mehr als zwei Parteien gibt, so wäre jede beliebige Anzahl nach diesem Gesichtspunkte zu klassifizieren, und es würden also die beiden Gruppen sich gegenüberstehen: die konservativen und die revolutionären Parteien; versteht sich aber, daß jede von beiden Seiten möglicherweise nur durch eine Partei vertreten sein kann, wenn auch die andere Gruppe viele in sich enthält. So dürfte man wohl sagen, daß im heutigen Rußland der einen konservativen Partei, die das „bewährte“ Herrschaftssystem der Autokratie erhalten will, viele revolutionäre Parteien gegenüberstehen, die in dem einen Stücke miteinander einig sind, daß sie es stürzen und zerstören wollen. Umgekehrterweise stehen im heutigen Deutschen Reiche der einen revolutionären Partei, nämlich der Sozialdemokratie, alle übrigen als „Ordnungs“- d. h. als konservative Parteien gegenüber. Die Begriffe „konservativ“ und „revolutionär“ müssen also immer relativ verstanden werden, nämlich in Beziehung zu bestimmten einzelnen, wenn nicht zu sämtlichen Stücken eines gegebenen politischen Zustandes. Von vornherein ist es viel wahrscheinlicher, daß eine „Umsturzpartei“ nur einiges, vielleicht vieles, 1

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Zum Verständnis des politischen Parteiwesens erschien in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1906(c), 5. Jg., Nr. 19, 1. Januarheft, S. 752–759. Auf die Überschrift folgt „Von Ferdinand Tönnies (Eutin).“. Autokratie: [gr.] svw. Selbstherrschaft; Regierungsform, bei der die Staatsgewalt unumschränkt (monarchisch, cäsaristisch oder diktatorisch) in der Hand eines einzelnen Herrschers liegt.

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als daß sie „alles“ umstürzen will; und wenn schon der Ausdruck „umstürzen“ einen Vorwurf enthält, so wird dieser Vorwurf noch erheblich verstärkt durch die Anklage, daß der verhaßte Gegner eben „alles“ umstürzen wolle. Diesen verstärkten Vorwurf werden daher immer die „staatserhaltenden“ Parteien, ob sie auch außerdem sich „konservativ“ nennen oder nicht, gegen jede Partei wenden, die an den Fundamenten bestehender Ordnung zu „rütteln“ sich unterfängt, und in diesem Sinne wurde er im 16. und 17. Jahrhundert ebenso von Katholiken gegen Protestanten, wie in der ersten Hälfte des 19. von Konservativen gegen Liberale, wie heute von Konservativen und Liberalen gegen Sozialisten gerichtet. Die Gleichsetzung von „Revolution“ und „Umsturz“ entspricht im allgemeinen der unklaren Meinung derer, die bestimmte einzelne Neuerungen, auf die gerade der „revolutionäre“ Wille gerichtet ist, nicht wollen; vollends derer, die vor Aufruhr und Empörung der Massen entweder selber in gerechter Furcht sind, oder ein Interesse daran haben, solche Furcht wach zu erhalten; also wird sie auch von der Meinung ganz unabhängig und geschieht in bewußter Absicht, um den Kredit derer, die eine Veränderung befürworten, zu schwächen. Daß eine politische Umwälzung friedlich und in gesetzlichen Formen sich vollziehen kann, dafür hat eben jetzt Norwegen ein glänzendes Beispiel gegeben, das nur Leute, die in bezug auf Geschichte vergeßlich sind, für einzig und unerhört halten; denn auch die Revolution, die von den Engländern als „ihre“ Revolution schlechthin, betrachtet wird – was wir die englische Revolution, oder die erste zu nennen pflegen, heißt bei ihnen regelmäßig die puritanische Rebellion oder einfach der Bürgerkrieg – auch jene

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politische Umwälzung: Norwegen, seit 1814 mit Schweden in Personalunion verbunden, sagte sich 1905 davon los, nachdem ein vom Storting, dem norweg. Parlament, angenommenes Gesetz zur Errichtung eigener norwegischer Konsulate vom König nicht genehmigt wurde. Als daraufhin Oskar II. das Rücktrittsgesuch der Regierung ablehnte, löste das Storting durch Beschluss vom 17. 6. 1905 die Union auf. Eine Volksabstimmung bestätigte am 13. 8. diese Entscheidung, und Oskar II. dankte als König von Norwegen ab. Nachdem eine zweite Volksabstimmung am 12./13. 11. 1905 eine große Mehrheit für die Monarchie ergeben hatte, wählte das Storting den dän. Prinzen Karl zum König, der als Hakon VII. den Thron bestieg. Bürgerkrieg: Der Versuch des die Katholiken begünstigenden Königs Karl I., die Häupter der puritanischen Opposition im Parlament zu verhaften, führte 1642–1649 zum Bürgerkrieg in England. Die Opposition, geführt von Oliver Cromwell, forderte Glaubensfreiheit und Volkssouveränität, setzte den König ab und ließ ihn 1649 hinrichten. Großbritannien wurde unter Vermeidung des Namens „Republik“ zum Commonwealth erklärt und Cromwell Lordprotektor.

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„ruhmvolle“ (glorious) Revolution, wie das Ereignis von 1688 in der liberalen Überlieferung heißt, nahm einen durchaus friedlichen Verlauf, wenn auch geringere Unruhen in ihrem Gefolge nicht fehlten, und größere Bewegungen später sich anschlossen; im allgemeinen wird ja ein friedlicher Verlauf natürlich, ja notwendig sein, wenn ein starker Volkswille nicht mehr auf nennenswerten Widerstand stößt, wenn er mit anderem Worte mächtig genug geworden ist. Wissenschaftlich, d. i. begrifflich gedacht, ist aber die Entgegensetzung: konservativ–revolutionär auch dann noch Mißverständnissen ausgesetzt, wenn revolutionär einfach in dem Sinne aufgefaßt wird, den ich mit einem eigenen Worte als „mutativ“ ausprägen wollte. Denn, wenn wir uns nur an das Schema: Erhaltung–Veränderung halten, so ist zunächst klar, daß der auf Veränderung ausgehende Wille ebensowohl Veränderungen im Auge haben kann, die einen schon gewesenen Zustand wiederherstellen, als solche, die einen noch nie dagewesenen ins Leben rufen sollen. Man kann die bestehende Ordnung in dem Sinne verwünschen und verneinen, daß man eine solche, die bisher nur in der Idee („im Kopfe“) vorhanden ist, an die Stelle setzen will, aber auch in dem Sinne, daß man eine schon dagewesene und insbesondere eine solche, die von der bestehenden zerstört und ersetzt worden ist, neu zu beleben wünscht; ebenso, wenn es sich um einzelne Stücke einer solchen Ordnung oder Verfassung handelt. Wenn man es für selbstverständlich zu halten pflegt, daß eine Revolution oder Staatsumwälzung nur in dem ersteren Sinne gewollt und geplant werde, so beruht dies teils auf einer vorschnellen Verallgemeinerung, teils auf einem Mißverständnis. Tatsächlich haben die bedeutenden Revolutionen, der vorwiegenden Absicht und Gesinnung nach, die sie erfüllte, einen „retrospektiven“ Charakter1 gehabt. Sie wollen z. B. den rechtmäßigen Zustand der Verfassung und der Gesetze, den Könige „umgestürzt“ hatten oder umzustürzen im Begriff 1

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Wie der ausgezeichnete polnische Soziologe von Krausz sich ausdrückt, der das Thema z. B. in einer Abhandlung des 1. Bandes der Annales de l’Institut international de sociologie (Paris 1895) behandelt hat. (glorious) Revolution: Der wegen seiner Rekatholisierungsbestrebungen angefeindete Jakob II. regierte Großbritannien seit 1685, er flüchtete am 11. 12. 1688; sein Nachfolger wurde am 13. 2. 1689 Wilhelm III. (von Oranien), der die fortan als Grundgesetz respektierte Bill of Rights unterzeichnete. Damit war die unblutig verlaufene „glorreiche Revolution“ abgeschlossen. (Paris 1895): Vgl. Krausz 1895: 283, der in diesem Zusammenhang von einem „Gesetz der revolutionären Rückschau“, einem „Loi de la rétrospection révolutionnaire“ spricht.

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standen, wiederherstellen – oder erhalten, wie es im zweiten Falle heißen müßte: die Revolutionäre wären also unter Umständen die wirklich Konservativen – so kann man in der Tat sagen, daß das berühmte „lange Parlament“ (1640–1649) in seinem Kerne eine konservative Reichsversammlung war, entschlossen, das gemeine Recht gegen die Angriffe der absolutistischen Fürstengewalt mit allen Mitteln, auch mit den Waffen, zu schützen. Sie wurde dann freilich revolutionär und rebellisch, eben durch Anwendung gewaltsamer Mittel, und war es jedenfalls immer, vom Könige und dessen Partei aus gesehen, gleichwie diese den Verfechtern des althergebrachten Rechtszustandes als revolutionär erschienen. Gewissermaßen stand also Revolution gegen Revolution, wenn auch der ursprüngliche Sachverhalt allmählich in Vergessenheit geriet. Aber auch jede „Restauration“ ist ja ihrem Wesen nach, nämlich der bestehenden Ordnung oder Verfassung gegenüber, ebensowohl ein „Umsturz“, zumal wenn die Mittel der Gewalt dabei angewandt werden, wie eine Revolution in dem Sinne, wie sie gewöhnlich verstanden wird. Es ist nur durch den Gang der tatsächlichen Entwickelung bedingt, daß in neuerer Zeit mit dem Begriffe der Revolution sich die Vorstellung einer Staatsveränderung verknüpft hat, die in der Richtung dieser Entwickelung fortschreiten will, die also, obschon sie die bestehende Ordnung verneint, die vorherrschend ausgesprochene Richtung, eben der Entwickelung, bejaht. Dem strengen Begriffe nach müßten auch die Tendenzen, die den bestehenden Rechtszustand in entgegengesetzter Richtung verändern wollen, revolutionär oder wenigstens mutativ (antikonservativ) heißen; sie nennen sich aber am liebsten gerade „konservativ“, wenn auch das, was sie angeblich konservieren wollen, längst nicht mehr besteht, und wenn sie auch das, was wirklich zu Recht besteht, mehr hassen als lieben, also nicht zu erhalten, sondern zu zerstören wünschen. – Das Wort „Restauration“ hat für mehrere kurze historische Episoden anerkannte Geltung; in Verbindung mit Parteinamen ist es niemals gebraucht worden. Hingegen ein anderes, sinnähnliches und gleichfalls die Silbe Re- enthaltendes Wort ist ein vielbeliebter Vorwurf gegen Bestrebungen der sich konservativ nennenden, oder doch gegen schon eingeführte sowohl als gegen erst geplante Neuerungen feindseligen Parteien: das Wort „Reaktion“. Dem Worte „Revolution“ hängt ein Odium an; aber das Odium des Wortes Reaktion scheint stärker zu sein; 4

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„lange Parlament“: Das im Gegensatz zum „kurzen Parlament“, das im April 1640 begann und im Mai aufgelöst wurde, von Karl I. im folgenden November einberufene „lange“ Parlament, das die königliche Macht bestritt, tagte bis 1660. feindseligen Parteien: sic!

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denn während das Bekenntnis zu jenem nicht unbedingt vermieden wird, so ist hingegen noch keine Partei bereit gewesen, „reaktionär“ zu heißen, so stark es ohne Zweifel manche sind und gewesen sind. Wenn eine Revolution als gewaltsamer Verfassungsbruch, vom Volke aus, gedacht wird, so steht ihr als das eigentlich reaktionäre Verfahren der „Staatsstreich“ gegenüber; indessen gibt es ebensowohl chronische und langsam verlaufende Staatsstreiche wie chronische und allmähliche Revolutionen, wenn auch jene nicht so (nämlich Staatsstreiche) genannt zu werden pflegen. Um alle Verquickung mit Vorwürfen und Mißverständnissen zu vermeiden, könnte man vielleicht am schicklichsten die Parteien einteilen in Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunfts-Parteien, so daß die zunächst am natürlichsten scheinende Zweiteilung nach dem Schema: Erhaltung–Veränderung, hier wie so oft durch die tiefere Dreiteilung ersetzt würde. Denn es ist unverkennbar, daß die Parteirichtungen mit einem inneren Verhältnis zur Geschichte – um es so am kürzesten auszudrücken – intim zusammenhängen. Man nimmt Partei für die Vergangenheit: in Anwendung auf den historischen Verlauf, in dem wir mitten inne stehen, heißt das rund und schön: für das „Mittelalter“; oder man erklärt sich für das gegenwärtige Zeitalter, das wir als die „Neuzeit“ zu unterscheiden pflegen; oder endlich man ist weder mit der einen noch mit der anderen Zeit einverstanden, sondern sieht nur im „Zukunftstaat“, in der nur vorgestellten Gesellschaftsordnung das Heil. Im großen und ganzen betrachtet, ist der erste Standpunkt der der konservativen und reaktionären Parteirichtungen, der zweite der des Liberalismus, der dritte des Sozialismus. Wenn wir aber die wirklichen Parteien, wie sie bei uns im Deutschen Reiche sich darstellen, auf diese Merkmale prüfen, so ist unzweifelhaft nur, daß das Zentrum ganz und gar Vergangenheitsund daß die Sozialdemokratie ganz und gar Zukunfts-Partei ist, während etwas schwieriger für die übrigen großen Parteien, also gerade für diejenigen, deren Gegensätze und Kämpfe historisch die erheblichste Rolle gespielt haben, die Bestimmung sich treffen läßt. Solange noch die bedeutendsten Forderungen des Liberalismus unerfüllt waren, so lange konnten wohl die Konservativen als Gegenwarts-, die Liberalen als Zukunfts-Partei gelten. Teilweise ist dies auch noch das Verhältnis; je mehr aber und in dem Maße als die Politik liberal geworden ist, sind die Liberalen zur Gegenwarts-, die Konservativen zur Vergangenheits-Partei geworden. Aber protestantische Konservative können doch nicht für das Mittelalter schwärmen, und wenn sie die Neuzeit verdammen, so müssen sie doch wohl zugunsten des Protestantismus eine Ausnahme machen? – Viel näher muß es für sie liegen, den königlichen Absolutismus für das beste politische System zu erklären, und

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in einer Vergangenheit, die diesen zur Blüte brachte, ihr Ideal zu erblicken, also gewissermaßen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, nebst der „vormärzlichen“ Zeit des 19. ihr „Mittelalter“ zu machen, d. h. an diese Epoche ihre romantischen Gefühle und ihre Sehnsucht zu hängen. Aber gerade dieser „aufgeklärte Despotismus“ war ja seiner innersten Tendenz und seinen bedeutendsten Lebensäußerungen nach – liberal, er wirkte als revolutionäre Macht gegen alle Überlieferungen des Feudalismus, er setzte ein Beamtenregiment an die Stelle der „gottgewollten“ Herrschaft des Adels und Klerus, er beförderte und begünstigte Industrie, Handel, Verkehr und die Städte – kurz, er tat alles, was die bürgerliche Revolution auch tat, er machte es ihr teils vor, teils nach. Und doch? Und doch ist der Adel – speziell in Preußen – schließlich nicht schlecht dabei gefahren; er wurde vom Kutscherbock hinabgeworfen, aber nur um den Platz des Groom wieder zugewiesen zu erhalten, und als der oberste und eleganteste Bediente das Vorrecht zu genießen, der Dame „Majestät“ den Schlag zu öffnen und die Schleppe zu tragen. Dies ausschließliche Vorrecht, nebst den Vorteilen, die daran hängen, zu erhalten, das ist in der Tat der praktische Tiefsinn des Wortes „konservativ“ geworden, noch stärker betont als „altkonservativ“. Denn daß die altkonservative Partei nichts als Adelspartei ist, bedarf kaum eines besonderen Hinweises. Wie Adel und Bürgertum standen lange und stehen noch heute in mancher Beziehung Konservative und Liberale einander gegenüber. Und also wie Land und Stadt? weisen nicht die Anschauungen, Sitten und Interessen des Landes immer in die Vergangenheit, während das gegenwärtige und moderne Leben in den Städten pulsiert? Und doch fühlt sich gerade der Bauer, gerade auf Grund seines spezifischen Gegensatzes gegen den Adel, der Bauer als rationeller Landwirt, der freie Mann auf eigenem Grund und Boden, viel eher zur Gegenwarts- als zur Vergangenheits-Partei hingezogen; so daß die Konservativen sich als „Bund der Landwirte“, d. h. als reine Berufsinter 2 13 2 2 28

,vormärzlichen‘ Zeit: Als Vormärz wird die der dt. Märzrevolution von 1848 vorausgehende Zeit von ca. 1830 bis 1848 bezeichnet. Groom: [engl.] Reitknecht, Stallknecht. ? weisen: sic! „Bund der Landwirte“: Der Bund der Landwirte (BdL), ein 1893 in Berlin gegründeter politischer Interessenverband, in dem, im Gegensatz zu den Bauernvereinen, vor allem der größere Grundbesitz Ost‑ und Mitteldeutschlands vertreten war, sah seine Hauptaufgabe in der Einflussnahme auf Parlament und Gesetzgebung, weniger in der wirtschaftlichen Förderung seiner Mitglieder. Er trat zunächst selbst als politische Partei auf, errang jedoch nur wenige Mandate. In der Folgezeit verpflichtete er Kandidaten der Rechtsparteien, insbesondere der Konservativen, auf sein Programm. 1899 trug er zum Scheitern der Kanalvorlage (Mittellandkanal) bei. Der BdL ging 1921 im Reichslandbund auf.

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essen-Partei vermummen müssen, um die Bauern in ihr Gefolge zu ziehen. Auf der anderen Seite ist gerade der selbständige Handwerker, seinem Wesen nach vorzugsweise Städter, durch seinen Gegensatz gegen den Handel und seinen verzweifelten Kampf gegen den Kapitalismus und die Fabrik, natürlicher „Lobredner der gewesenen Zeit“, also natürlicher Bundesgenosse des Adels. Die Erklärung der Parteibestrebungen und Parteikämpfe aus dem wirtschaftlichen Leben und den Gegensätzen seiner Interessen ist sicherlich die allein stichhaltige; aber ihre Kraft beziehen die Partei-Programme und -Glaubensbekenntnisse zum guten Teile eben daraus, daß sie jene Ursprünge verhüllen, indem sie auf allgemein-menschliche Interessen religiöser oder sonst ideeller Natur sich aufbauen. Und zu diesem Idealismus gehört es, daß keine Partei, die auf das Gemüt des Volkes einen starken Einfluß übt, sich leicht als reine Gegenwarts-Partei vorstellen wird; denn zum „Ideale haben“ gehört es, die Gegenwart zu kritisieren, und ihr entweder aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft entgegenzuhalten, „wie es eigentlich sein sollte“. Daher wird die „konservative“ Denkungsart immer stark zur Vergangenheits-Partei hin gravitieren, die liberale, sobald sie etwas radikale Färbung annimmt, zur Zukunftspartei hinneigen; wie sehr auch jene den Papismus verabscheuen und das „Evangelium“ hochhalten mögen, wie sehr diese den Sozialismus verurteilen mögen. Gibt es denn keine Parteien – bei uns im Deutschen Reiche –, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Gegenwart stehen, die das Gefühl der Sattheit und Zufriedenheit repräsentieren, breit und behaglich ihrer Plätze am oberen Ende der Tafel sicher? – Es gibt ihrer allerdings, und es ist bezeichnend und bedeutungsvoll, daß sie ein Gemisch von konservativem und liberalem Charakter, man könnte auch sagen, ohne ihnen zu nahe zu treten, ein charakterloses Amalgam darstellen: – da ist zuerst die eigentliche Partei des hohen Beamtentums, die Regierungspartei κατ’ εξοχήν, auch Botschafterpartei genannt: die „frei-konservative“ wie sie in Preußen sich nennt. Latifundienbesitz, Zuckerrübe, Bergwerk, schwere Eisenindustrie, sind ihre sozialen Wurzeln. Sie ist die Partei der vollkommensten Verschmelzung des – zum großen Teil jüngeren – Adels mit dem emporgekommenen, amtlich anerkannten Bürgertum, die Partei der eigentlichen „Bourgeoisie“ als der sozial und politisch mächtigen Klasse. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, aber dem Materialismus der Urproduktion ein wenig ferner, dem 19 28 30

Papismus: [nlat., Lutherzeit]: (abwertend) Papsttum. κατ’ εξοχήν: [gr.] svw. schlechthin. Latifundienbesitz: [lat.] svw. sehr großer, in einer Hand vereinigter Grundbesitz.

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„brotlosen“ Geiste der idealistischen Bildung ein wenig näher, steht die nationalliberale Partei. In der Geschichte der nationalliberalen Partei spiegelt sich die seitherige Geschichte des neuen deutschen Reiches. Sie war die Partei der deutschen Einheit unter preußischer Hegemonie, und zugleich die Partei des siegreich gewordenen Liberalismus – aber der Liberalismus stand in der zweiten Hälfte des Wortes, er hat sich mehr und mehr als bloßer Anhang erwiesen, und ein großes Stück davon ist, äußerlich wie innerlich, abgefallen. So bleibt eine rein nationalistische Partei übrig, und es ist kurios zu bemerken, wie sich unter ihren Wortführern Vertreter einer „alldeutschen“ Politik einfinden, die freilich heute noch ebenso entschieden von den regierenden Potenzen abgestoßen werden, wie vor 40 Jahren die geistigen Häupter des kleindeutschen „Gothaismus“, aus dem die nationalliberale Partei erwuchs, sie ausgeschieden hätten. Und gleichzeitig ist in dieser Partei der Gedanke, dessen Idealismus sie einst emporhob, der Gedanke der Reichseinheit, gegenüber dem föderalistischen Charakter, den die Einzelstaaten und als Partei das Zentrum dem Reiche erhalten wollen, ermattet und erlahmt, weil sie überhaupt jeder Initiative bar geworden, lediglich den wechselnden Regierungen sich anschmiegt. So ist sie die Partei des prinzipiellen Stillstandes – es gehört zu den modernen Regierungskünsten, diesem prinzipiellen Stillstande den Schein einer unablässigen Reformtätigkeit zu verleihen – geworden, die eigentliche konservative Partei, wie auch die freikonservative Nachbarpartei mehr als die altkonservative, die Partei der schalen Gegenwart, also im Wortsinne die konservative ist. Obgleich aber die nationalliberale Partei fortwährend, wenn auch nur im Gefolge der freikonservativen, der Regierung – soweit diese im Reiche von altkonservativmilitaristischen Hofeinflüssen sich frei zu halten vermag – am nächsten steht, so hat sie doch längst aufgehört, die maßgebende und von der Volksvertretung aus herrschende Partei zu sein. Diese Rolle ist ganz und gar der reinen 12

Häupter des kleindeutschen „Gothaismus“: Die meist zu den Erbkaiserlichen gehörenden („kleindeutschen“) Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung lehnten eine Aufnahme Gesamtösterreichs mit seinen nichtdeutschen Teilen aus nationalen Beweggründen ab und erstrebten die Schaffung eines vorläufig kleindeutschen Bundesstaates mit dem preußischen König als erblichem Kaiser. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 unternahmen die Gothaer den Versuch, eine Vereinigung der deutschen Fürsten unter preußischer Führung herbei zu führen, die im weiteren Bund mit dem habsburgischen Gesamtstaat stehen sollte. Hierzu tagte vom 20. 3. bis 29. 4. 1850 in Erfurt das Unionsparlament, das die von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Reichsverfassung im konservativen Sinn änderte. Diese wesentlich von Radowitz bestimmte Politik scheiterte am Widerstand Österreichs. In der Punktation von Olmütz musste Preußen die Unionspolitik preisgeben.

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Vergangenheits-Partei, dem Zentrum, zugefallen. Um diese Rolle zu spielen, muß das Zentrum in einigem Maße auch Gegenwarts-Partei, ja ZukunftsPartei sein, und der Umstand, daß es noch – eben wegen seines kirchlichen Charakters – in den (ihrer Klassenlage nach) einander entgegengesetzten Volksschichten, in agrikolen, wie in industriellen, in kapitalistischen, wie in proletarischen, seine Wurzeln hat, erleichtert ihm diese Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit. Das Zentrum ist groß und stark geworden, aber auch geblieben, auf Grund der bestehenden Reichsverfassung; daher ist es konservativ und Gegenwarts-Partei in einem Punkte, den gerade die Konservativen am meisten beflissen sind, „nach rückwärts“ zu revidieren, nämlich in bezug auf das allgemeine Wahlrecht. Auch die Freikonservativen sind in diesem Stücke entschieden reaktionär, und von den Nationalliberalen, wenn sie auch weniger offen mit solcher Umsturzgesinnung sich hervorwagen, ohne Zweifel die große Mehrheit. Und in bezug darauf ist gerade die reine Zukunfts-Partei am meisten Gegenwarts-Partei, also – konservativ; der Umstand, daß sie darin mit ihrem extremen Widerpart, der reinen Vergangenheits-Partei, zusammentrifft, macht es um so wahrscheinlicher, daß dieses Stück politischer Gegenwart die natürliche Arena darstellt, auf der die Parteikämpfe am ehesten einen normalen und friedlichen Verlauf nehmen werden.

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Wenn die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung „beim Worte genommen“ oder, was ungefähr dasselbe sagt, äußerlich und in roher Weise verstanden wird, so ergibt sich aus ihr unabweisbar die Folgerung, daß innerhalb der zivilisierten Welt England jetzt das Land der Revolution sein muß. Denn England ist der ausgesprochenste Industriestaat, die Scheidung des ganzen Volkes in Kapitalisten und Lohnarbeiter ist dort am weitesten vorgeschritten, das soziale Problem ist auf des Messers Schneide gestellt. Man könnte dagegen einwenden, Großbritannien sei zwar noch Gebieter auf dem Weltmarkt, aber seine Herrschaft sei bedroht, seine Volksklassen seien an dieser Herrschaft gemeinsam interessiert, ihre Scheidungen und Zwiste seien naturgemäß eben dadurch in den Hintergrund getreten. Aber in dem Menschenalter von 1860 bis 1890 war doch die britische Industrie noch kaum angefochten durch große und drohende Konkurrenz – und doch war ihre Arbeiterklasse nicht revolutionär, nicht sozialistisch, vielmehr waren die Massen stumm und die führenden Gruppen richteten sich behaglicher in dieser Fabrikwelt ein, sie wußten einen steigenden Anteil an dem Gesamtprodukt des Landes auf friedlich-gesetzmäßigem Wege sich zu erobern. Die Gegensätze, auch innerhalb der rein ökonomischen Sphäre, verloren an Schärfe, die öffentliche Meinung, d. h. die bürgerliche Meinung, erwarb ein Verständnis für die besonderen Angelegenheiten der Arbeiterklasse, für Gewerkschaften (Trade Unions) und Genossenschaften (Cooperative Societies), in denen sich ihr wirtschaftlicher Trieb in einer Weise betätigte, die ihre Kraft und Macht allmählich steigern mußte. 1

Vor der Niederlage der Moskauer Barrikadenkämpfer geschrieben.

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Revolution? erschien in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1906(d), V. Jg., Nr. 20, 2. Januarheft, S. 785–790, Fraktur. Der Überschrift folgt der Zusatz „Von Normannus“, dem von Ferdinand Tönnies häufig genutzten Pseudonym. Moskauer Barrikadenkämpfer: Am 7. (20.) Dezember 1905 proklamierten die Moskauer Bolschewiki den politischen Generalstreik. Schon in den ersten Tagen beteiligten sich über 150.000 Arbeiter. Am 10. (23.) Dezember wurde der Streik zum bewaffneten Aufstand. Nach neun Tagen gewannen Polizei und Armee die Oberhand, weil der Aufstand auf Moskau beschränkt blieb und sich nicht, wie erhofft, zur gesamtrussischen Bewegung ausweitete.

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Friedrich Engels sagte um 1890 voraus, daß das Ende der britischen Monopolstellung kommen und daß mit diesem Ende England auch „wieder“ Sozialismus haben werde. Er hielt also die „Verbürgerung“ der oberen Schichten des englischen Proletariates gerade für bedingt durch jene temporäre Epoche des höchsten Glanzes, und erwartete die Entfaltung neuer, nämlich der dem Proletariat natürlichen Gesinnungen von einer Verschlechterung der äußeren Gesamtlage, unter der die arbeitende Klasse notwendigerweise am unmittelbarsten und am schärfsten zu leiden haben werde. Die Prophezeiung hat sich in einigem Maße als zutreffend erwiesen. Die im Jahre 1900 erfolgte Gründung des ständigen Komitees für parlamentarische Arbeitervertretung ist ein bedeutender Erfolg des sozialistischen Gedankens, in dessen Dienst sie auf bewußte Weise sich stellt – aber bedeutet Sozialismus hier Revolution? revolutionäre Methoden? Gibt es jemanden, der das Herannahen einer Revolution und etwa die Proklamierung einer sozialdemokratischen Republik von Großbritannien erwartet? erhofft oder befürchtet? – Freilich, im Laufe eines Jahrzehntes können große Veränderungen eintreten, aber unmittelbar? Nirgendwo kann man ruhiger in die unmittelbare Zunkunft blicken als in England. Nirgendwo hat sich die besitzende herrschende Klasse so sehr daran gewöhnt, den Fortschritt des

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„wieder“ Sozialismus haben werde: Tönnies bezieht sich auf einen Artikel von Engels, der bereits im Juni 1885 in Heft 6 der „Neuen Zeit“ unter dem Titel „England 1845 und 1885“ erschienen war. Diesen Artikel übernahm Engels dann später wörtlich in das Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1892). In dieser Fassung („um 1890“) dürfte Tönnies von ihm Kenntnis erhalten haben. Das hier zitierte „wieder“ bezieht sich bei Engels auf den „Owenismus“. Die entsprechende Textpassage lautet: „Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grade teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt; die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend ihr Teil. Und das ist der Grund, warum seit dem Aussterben des Owenismus es in England keinen Sozialismus gegeben hat. Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein – die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslands. Und das ist der Grund, warum es in England wieder Sozialismus geben wird.“ (Engels 1957: 647.) im Jahre 1900: Die „Zweite Internationale“ schuf auf ihrem Pariser Kongress 1900 die institutionellen und technischen Instrumente für eine engere Zusammenarbeit ihrer Mitgliedsorganisationen. Ein internationales Sekretariat, ein Internationales Sozialistisches Büro und ein Interparlamentarisches Komitee wurden eingerichtet. Sitz des Sekretariats war Brüssel, sein erster Präsident Emile Vandervelde. Das Büro bestand aus je zwei Vertretern jeder Mitgliedspartei.

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Arbeiters, auch in politischer, selbständiger Betätigung, als eine unvermeidliche Folge der gesamten sozialen und politischen Lage, die unaufhaltsam zu Neubildungen drängt, anzusehen, wie in diesem Lande, das seinen Stolz darein setzt, ein „freies“ Land zu heißen. Die Revolution hat ihre Zelte in einem anderen Lande aufgeschlagen. Rußland ist in volkswirtschaftlicher und politischer Hinsicht Gegenpol von Großbritannien. Eine Empörung gegen das durch und durch verdorbene, mit abscheulichen Mitteln wirkende Regime ist dort im Gange und hat erhebliche, wenn auch zunächst nur scheinbare Erfolge gewonnen. Wir sehen gespannt dem ferneren Verlaufe entgegen. Daß eine Modifikation des zarischen Absolutismus dauernd sich durchsetzen wird, ist sehr wahrscheinlich, am wahrscheinlichsten vielleicht eine solche im Sinne des Scheinkonstitutionalismus, eines baumwollenen Hemdes um den in seiner Nacktheit unerträglich gewordenen Körper der Despotie. Aber man wird sogar die politische Lüge willkommen heißen, wenn sie die schreiendsten Mißbräuche dieser Verwaltung zu töten vermag – und das darf mit einigem Grunde erwartet werden. Dem gewaltigen Erdbeben, das jetzt im russischen Reiche wütet, werden neue Erdbeben folgen. Wird Europa, wird das Deutsche Reich schließlich mehr Nutzen oder mehr Schaden davon haben? Man wird verschieden darüber denken, je nachdem man mehr der Hoffnung oder mehr der Besorgnis offen ist. Einen verhängnisvollen Einfluß hat der Zarismus und mit ihm die russische Nachbarschaft jahrzehntelang auf Preußen und also auf das neue Deutsche Reich ausgeübt. Die preußische Reaktion sah mit Bewunderung und Verehrung auf die russische Autokratie, an ihrem Felsen sah sie um die Mitte des Jahrhunderts die europäische Freiheitsbewegung scheitern, jener preußische König, der die Kaiserkrone von Vertretern des deutschen Volkes nicht empfangen mochte, fühlte und betrachtete sich als Vasallen des Kaisers aller Reußen; und die Tradition hat auch in die besseren Tage Wilhelms des Ersten und Bismarcks fortgewirkt: sie glaubten dem Zaren zu Dank verpflichtet zu sein, weil er so gnädig war, dem deutschen Heere, das nach Frankreich ins Feld zog, nicht in den Rücken zu fallen. Bismarck war sonst bekanntlich nicht dafür, den Gefühlen (und gar moralischen Empfindungen!) in der Politik Spielraum zu lassen. Einen verhängnisvollen Einfluß hat in jüngster Zeit der Antizarismus und durch ihn die russische Nachbarschaft auf unsere Arbeiterbewegung

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nicht empfangen mochte: Nämlich vom Paulskirchenparlament von 1848.

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und ihre politische Organisation ausgeübt. „Was die Russen können, das können wir auch.“ Straßenkundgebungen, Massenstreiks, sind mit einem Schlage populär geworden, die neue Methode der Revolution scheint erfunden zu sein. Man ist des trockenen Tons nun satt –  Hemmen läßt sich diese Bewegung nicht – am wenigsten durch nüchterne Kritik und wohlgemeinte Ratschläge. Aber da auch im geistigen Leben keine Kraft ganz verloren geht, so wird auch ein Ruf zur Besinnung nicht ohne alle Wirkung verhallen. D. Friedrich Naumann hat offenbar Recht, wenn er in einem Artikel der „Hilfe“ (Nr. 52) meint, es sei eine liberale Kundgebung, wenn in Dresden die Sozialdemokraten vor das Haus des Herrn von Metzsch ziehen, „denn sie verlangen nichts Sozialistisches, sondern nur genau dasselbe, was im Jahre 1848 die liberalen Volksaufläufe in Leipzig und Dresden forderten“. Aber warum jetzt? warum erst jetzt? mußten unsere Sozialdemokraten „Liberalismus“ von den Russen lernen? mußten sie sich diese zum Muster nehmen? ist es blinde Nachahmung, Wirkung politischer Infektion, was sie auf die Straße führt? oder wähnen sie, durch die Erschütterung des Zarentums seien auch unsere Regierungssysteme so geschwächt, daß sie jedem Drucke nachgeben werden? Wie tief sind sie dann in die Bahn des Irrtums geraten! Wissen sie nicht mehr, daß es ein altes Bismarcksches Rezept ist, das die Kurpfuscher der „Hamburger Nachrichten“ allwöchentlich noch aufs neue verschreiben, man müsse die Massen auf die Straße bringen, um der sozialdemokratischen Bewegung Herr zu werden? Wird nicht der sichere Triumph, den die bestehende Staatsordnung über aufrührerische Arbeiter-

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D. Friedrich Naumann: D(r). theol. Friedrich Naumann, ein lib. Sozialpolitiker, war Herausgeber der Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst „Die Hilfe“, in der Tönnies auch publizierte. Der besagte Artikel „Zum Jahresschluss“ erschien am 31. 12. 1905, S. 2. Herrn von Metzsch: D. i. der sächs. Staatsminister Gf. Karl Georg Levin von MetzschReichenbach. Naumann bezieht sich auf die großen Wahlrechtskundgebungen am 16. 12. 1905 in Dresden. Die „Dresdner Nachrichten“ (Nr. 349 vom 17. 12. 1905, S. 2) brachten dazu folgende Meldung: „Im Anschluß an verschiedene gestern abend hier stattgefundene sozialdemokratische Volksversammlungen kam es wieder zu lebhaften WahlrechtsDemonstrationen auf der Straße ... Die Menge in der Stärke von über 1.000 Personen zog ... vor die Wohnung des Herrn Staatsministers v. Metzsch ... hier aber trat ihnen die Polizei mit einem starken Aufgebot von Mannschaften entgegen ... Es ist dabei zu ernsten Zusammenstößen gekommen ...“. „Hamburger Nachrichten“: 1792 als „Wöchentliche gemeinnützige Nachrichten von und für Hamburg“ gegründet, 1849 in „Hamburger Nachrichten“ umbenannt, stand sie als nationale Tageszeitung seit 1890 Bismarck bisweilen als Sprachrohr zur Verfügung.

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massen feiern würde, mittelbar auch den Sieg der Reaktion in Rußland herbeiführen helfen? Wird nicht die gesamte europäische Arbeiterbewegung einen Schlag empfangen, unter dem sie wenigstens ein Jahrzehnt lang zu leiden haben wird? Warum müssen unsere Arbeiter und ihre Führer erst jetzt sich darauf besinnen, daß sie mit dem allgemeinen Reichswahlrecht nur ein sehr begrenztes Quantum politischen Rechtes und mit ein paar Dutzend Vertretern im Reichstage nur ein Minimum von politischer Macht besitzen? Haben ihnen nicht 15 Jahre seit dem Erlöschen des Sozialistengesetzes zur Verfügung gestanden, nach Erweiterung und Vermehrung dieser Rechte zu streben? haben sie davon Gebrauch gemacht? müssen es denn gleich lärmende, gefährliche Straßenkundgebungen sein, und wird man dadurch seine Wünsche empfehlen? Ich bin der Meinung, wenn in Preußen, Jahr für Jahr, ein Sturm von Petitionen an den Landtag und an den König erginge, in denen die Abschaffung des Dreiklassen-Wahlrechtes verlangt würde; wenn eine massenhafte Literatur in Flugschriften die Bedeutung der Sache jedem Landarbeiter und jedem Gassenkehrer verständlich machte und ans Herz legte; wenn im Reichstag jede Gelegenheit wahrgenommen würde, die Verfassungen der Einzelstaaten – und nicht bloß diejenige der beiden Mecklenburg – zu kritisieren; wenn endlich diese Agitationen durch eine alljährliche internationale Kundgebung für Erweiterung der politischen Bildung und der politischen Rechte unterstützt würden, die weit unmittelbarer wichtig und viel aussichtsvoller wäre als die verunglückte Maifeier für den Achtstundentag, der doch nur auf dem Wege der Gesetzgebung sich erkämpfen ließe – ich behaupte, wenn diese Elemente und Faktoren durch ein halbes Menschenalter 1

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Reaktion in Rußland: Tönnies hatte seinen Artikel vor dem Moskauer Generalstreik geschrieben. Offensichtlich bezog er sich auf die Ereignisse um den ‚Petersburger Blutsonntag‘. Am 4. (17.) Januar 1905 hatten 12.000 Arbeiter der Putilow-Werke in St. Petersburg aus Protest gegen willkürliche Entlassungen ihre Arbeit niedergelegt. Andere Betriebe schlossen sich an. Am 8. (12.) Januar streikten bereits 150.000 Arbeiter. Als die Petersburger Arbeiter dem Zaren Nikolaus II. am 9. (22.) Januar 1905 eine Bittschrift überreichen wollten, hatte er auf die Demonstranten schießen lassen. 1.000 Männer, Frauen und Kinder waren dabei getötet, mehr als 5.000 verwundet worden. Der Blutsonntag löste im ganzen Land eine revolutionäre Bewegung aus, die schließlich auf die Armee, in erster Linie auf die Flotte übergriff. Einen Höhepunkt erreichte die revolutionäre Bewegung im Oktober. Die Streikbewegung griff von Moskau auf andere Industriezentren über. Petitionen: Bis in das 19. Jahrhundert besaßen die Landstände ein Petitionsrecht gegenüber dem Herrscher. Die landständischen Vertretungen machten die Bewilligung von Geldern oft von der Erfüllung einer bestimmten Petition, besonders auf Erlass von Gesetzen, abhängig.

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in stetiger, ruhig eindringlicher Weise wirksam gewesen wären, so würde jetzt der Gedanke lächerlich und verwerflich erscheinen, daß das deutsche Proletariat die Methoden des russischen nachahmen sollte. Wilde und unklare Vorstellungen von einem plötzlichen großen Siege „der“ Revolution haben wieder einmal in leidenschaftlich gestimmten und erbitterten Seelen die Oberhand gewonnen, entfachen wohl auch einen begeisterten Glauben schwärmerischer oder auch (hie und da) von hohem Idealismus erfüllter Gemüter. Merkwürdigerweise spukt die RevolutionsRomantik am heftigsten gerade in Köpfen, deren Träger den Idealismus sonst verspotten, die von ethischen und ästhetischen Motiven zur Bekämpfung der bestehenden sozialen Zustände nichts wissen wollen, die sich rühmen die echten Schüler des Karl Marx, die puren wissenschaftlichen Sozialisten zu sein. Vielleicht können sie das Vorbild von Marx selber für sich ins Gefecht führen, obgleich der berufenste Interpret, gewiß im Sinne des früher verstorbenen Freundes, vor seinem Ende die schärfste Absage allen solchen Ideen und Wahnhoffnungen gegeben hat: Friedrich Engels in der berühmten Vorrede zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“. Mag sein, trotzdem, daß Marx persönlich mehr an seinen Jugenderinnerungen und an den Reizen des Verschwörerwesens gehangen hat, als an den nüchternen Konsequenzen seiner

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die echten Schüler: Tönnies dürfte sich auf die „deutsche Linke“ innerhalb der Sozialdemokratie um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin und Julian Marchlewski und die damalige ‚Generalstreikdebatte‘ beziehen. Zetkin hatte auf dem Parteitag in Jena im September 1905 gesagt: „Wenn die Reaktion russisch mit uns reden will, dann wird auch das Proletariat russisch antworten können. Die Voraussetzung dafür ist das geklärte und tief gewurzelte Bewußtsein seiner revolutionären Macht, der aus reifer Erkenntnis geborene zielklare Wille, diese Macht durchzusetzen, die Hingabe an die Überzeugung, welche kein Opfer scheut“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1905: 325). „Klassenkämpfen in Frankreich“: „Die Geschichte“, so resümiert Engels [1960], habe „die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet, und das ist ein Punkt, der bei dieser Gelegenheit näher untersucht zu werden verdient.“ Es folgt dann über mehrere Seiten hinweg eine ausführliche Begründung für die von Tönnies ins Feld geführte Absage an unrealistische „Ideen und Wahnhoffnungen“. Karl Marx’ Studie „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ erschien als Artikelserie mit der Überschrift „1848 bis 1849“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue“ (Hamburg 1850). 1895 gab Engels die Arbeit erneut heraus und versah sie mit einer Einleitung.

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eigenen Erkenntnis und Wissenschaft.2 Diese Konsequenzen sind darum doch unausweichlich und werden ihre Wahrheit auch denen, die sie nicht verstehen, fühlbar machen. In ihnen ist aber enthalten, daß die Revolutionen in agrarischen Ländern wie Norwegen und Rußland für die Frage der zukünftigen sozialen und politischen Gestaltung Europas unendlich wenig bedeuten, im Vergleich mit den Evolutionen in hochindustriellen Ländern wie England und Deutschland; daß die auf dem internationalen Kongreß zu Paris 1889 geäußerte Prophezeiung: „Die revolutionäre Bewegung wird in Rußland siegen als eine Arbeiterbewegung oder sie wird nicht siegen“, eine Prophezeiung, die sich nach dem Weihnachts-Manifest des Brüsseler sozialistischen Bureaus im Jahre 1905 „bewahrheitet“ haben soll, nur in dem Sinne sich bewahrheiten kann, daß jene Bewegung eben nicht siegen wird, – denn es wäre alle historische Regelmäßigkeit, auf deren Entdeckung 2

Die Frage wird aufs neue erörtert in der eben erschienenen 5. Auflage (die in Wahrheit ein ganz neues Buch darstellt) von W. Sombart´s „Sozialismus und soziale Bewegung“ (Jena, Gustav Fischer) S. 65–70. Das inhaltreiche Werkchen tritt auch sonst gerade zur guten Stunde wieder auf die Bahn.

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Kongreß zu Paris 1889: Am 14. Juli 1889, dem 100. Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, versammelten sich rund 370 Delegierte der Arbeiterbewegung aus 20 Ländern in Paris. Es waren zwei konkurrierende Kongresse nach Paris einberufen worden. Einerseits hatten die am sofort „Möglichen“ orientierten „Possibilisten“ unter Alexandre Millerand auf Veranlassung des Trades Union Congress vor allem Gewerkschaften eingeladen, andererseits tagte ein Gegenkongress, den die aufs Ganze gehenden Guesdisten veranstalteten. Eine Einigung über die Zusammenlegung der beiden Konferenzen wurde nicht erreicht. Den von den marxistischen Anhängern Jules Guesdes initiierten Kongress besuchten Vertreter aller großen Gruppierungen der europäischen Arbeiterbewegung und Delegierte aus den USA und Argentinien. Aus ihm ging die „Zweite Internationale“ hervor. eine Prophezeiung: Tönnies bezieht sich hier offensichtlich auf einen längeren Artikel im „Vorwärts“ (o. V. 1905), den die Redaktion mit folgenden Worten einleitet: „Die Revolution in Rußland. Eine internationale Kundgebung am 22. Januar. Das internationale sozialistische Bureau teilt uns den folgenden Aufruf mit: An die Arbeiter aller Länder! ...“. Die Passage lautet vollständig: „Die Geschichte dieses Jahres 1905 hat der Welt den Wert des russischen Sozialismus klargelegt. Sie hat die auf dem internationalen Kongreß zu Paris 1889 geäußerte Prophezeiung bewahrheitet: ‚Die revolutionäre Bewegung wird in Rußland siegen als eine Arbeiterbewegung oder sie wird überhaupt nicht siegen.‘“. Sitz des Internationalen Sozialistischen Büros war Brüssel; es bestand aus je zwei Vertretern der Mitgliedsparteien der „Zweiten Internationale“. Es vermittelte in den Debatten zwischen den Gruppen und einzelnen Parteien und internationalisierte deren innere Auseinandersetzungen. Insofern war es ein Spiegelbild der Entwicklung jener Parteien, die ihm angehörten. Aus Deutschland gehörten dem Büro zum Zeitpunkt des Aufrufs August Bebel und Paul Singer an.

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gerade der historische Materialismus sich so viel zu gute tut, auf den Kopf gestellt, wenn in einem Lande, dessen große Masse noch in ursprünglichem Dorfkommunismus und fatalistischem Aberglauben seine Scholle hütet, zuerst der „Sozialismus siegen“, wohl gar eine Diktatur des Proletariats etabliert werden sollte, wie doch jenes Manifest allen Ernstes in Aussicht zu nehmen scheint, wenn es diesen Sieg an einen „monate-, vielleicht jahrelang fortgesetzten Kampf“ anknüpfen will. Man wird im Gegenteil für sehr wahrscheinlich erklären dürfen: auf welche Weise auch die Ruhe im russischen Reiche wiederhergestellt werden möge, das Proletariat wird die Zeche zu bezahlen haben. In auffallendem, logischem Kontraste zu der gerade den Marxisten so teueren Revolutionsideologie – die uns psychologisch nur allzu begreiflich ist – steht die kühle Gleichgültigkeit, mit der von eben dieser Seite ein Ereignis wie der Sturz des toryistisch-unionistischen Ministeriums in England und die Bildung des liberalen Kabinets aufgenommen wird, dessen Mitglied John Burns, der anerkannte Führer der politischen Arbeiterbewegung in Großbritannien, geworden ist. Freilich, es gibt auch drüben eine kleine Sekte von Marxisten strikter Observanz, denen John Burns einfach als Verräter an den einzig wahren Prinzipien und an der heiligen Sache gilt, Leute, die für nüchterne praktische Politik kein Organ besitzen und die sittlichen Vorwürfe um so mehr vor sich her schleudern, je weniger sie glauben, daß die Ethik in der Politik zu bedeuten habe. Dieselben Leute, auch in Deutschland und Frankreich, die den Minister Millerand nicht deshalb verleugneten, weil er als Minister sich der sittlichen und politischen Aufgabe, die ihm als solchem gestellt war, nicht gewachsen zeigte, sondern weil er einem „bürgerlichen“ 16

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John Burns: John Elliot Burns, brit. Arbeiterführer, hochgebildeter Autodidakt, leitete erfolgreich den Dockarbeiterstreik 1889. Er war der erste Arbeiter in England, der Minister wurde. 1892 ins Unterhaus gewählt, blieb er auch nach der Gründung der Labour Party bei den Liberalen. Im Dezember 1905 wurde das konservative („toryistisch-unionistische“) Kabinett Balfour durch das liberale Kabinett Campbell-Bannerman abgelöst, in dem Burns das Amt der Lokalverwaltung übernahm. Aus der alten Partei der Tories hatte sich im 19. Jahrhundert die moderne Konservative Partei entwickelt, der sich 1886 die Unionisten anschlossen, jene Liberalen, die sich von Gladstone losgesagt hatten, weil er Irland die erstrebte Selbstständigkeit („home rule“) gewähren wollte. Aus ihrem historischen Gegenspieler, der alten Partei der Whigs, war zwischenzeitlich die moderne Liberale Partei hervorgegangen. Millerand: Alexandre Millerand war als erster Sozialist Minister, und zwar der Regierung Waldeck-Rousseau (1899–1904); er wurde 1905 aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen und später konservativer Politiker der Rechten, Ministerpräsident und Präsident der Republik.

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Gesamtministerium überhaupt angehörte, ein „Sündenfall“, dem nach diesen politischen Theologen notwendigerweise eine totale Verstockung des Herzens und ein Versinken im Sündenschlamm folgen mußte. Die Wahrheit ist, daß ein politischer Fortschritt der Arbeiterklasse in einem normalen, daher gesunden und lebensfähigen Entwicklungsprozeß nur durch ihre zunehmende Vertretung in den Parlamenten – dies wird von den Marxisten anerkannt, aber auch in diesem Sinne ist viel zu wenig von ihnen getan worden – und durch ihr allmähliches Eindringen in die Regierungs- und Verwaltungskörper sich vollziehen kann; dies perhorreszieren die getreuen Marxisten und werden es so lange perhorreszieren, bis der eherne Gang der Ereignisse sie eines besseren belehren wird.

Das Vagieren Soziologische Skizze

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Das Vagieren: Der Text erschien erstmals in der Zeitschrift „Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustrirtem Anzeiger für Kontor und Bureau“, Februar 1906, 1. Jg., Heft 5 (Tönnies 1906f: 99–103; in: Fechner 1992: 50 irrtümlich: 1906, 2. Jg.). Er wurde wieder abgedruckt in den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Tönnies 1926: 24–33), eine erneute Veröffentlichung findet sich in TG 17; siehe auch den Editorischen Bericht zu „Verkehr und Transport“, S. 574.

Die nordamerikanische Nation1 Teil I

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Die nordamerikanische Nation ist das Volk der Vereinigten Staaten. Geographisch und genau müßte man auch die britischen Nordamerikaner und sogar die spanischen Mexikaner dazu rechnen, aber sogar die Worte „Ame1

Dieser anspruchslose Aufsatz ist aus einem Vortrage erwachsen, der vor einem gemischten Kreise von Zuhörern am 15. März 1905 gehalten wurde. Er beruhte auf Eindrücken und Gedanken, die dem Verfasser durch einen Besuch in den Vereinigten Staaten, veranlaßt durch die Einladung, die er zum internationalen Gelehrtenkongreß in St. Louis erhalten hatte, angeregt wurden. Ich habe absichtlich unterlassen, auf die umfangreiche und interessante Literatur, die neuerdings in deutscher Sprache über Amerika publiziert worden ist, Bezug zu nehmen; sie war mir bei der Abfassung nur zu einem geringen Teil bekannt: namentlich habe ich von dem interessanten und geistreichen Werke Münsterbergs, einer Apologie des Amerikanismus, die unmittelbar in einen Panegyrikus übergeht, erst, nachdem jener Vortrag gehalten wurde, eingehende Kenntnis genommen.

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Die nordamerikanische Nation (bei Fechner 1992: 48 und Brenke 1936: 388 fehlerhaft „Die nordamerikanische Union“ betitelt) erschien in zwei Teilen in: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur, Bd. VII, Oktober 1905 – März 1906, Teil I, S. 407–417, Teil II, S. 573–588. (Fraktur). Teil I untergliedert sich in zwei, Teil II in fünf Abschnitte. Teil II beginnt mit Abschnitt IV (und nicht mit Abschnitt III), obwohl Teil I mit Abschnitt II endet. Der Überschrift folgt „Von Ferdinand Tönnies“. Aus den im Tönnies-Nachlass vorhandenen Korrekturfahnen geht hervor, dass der ursprünglich auf Abschnitt I unmittelbar und irrtümlich folgende Abschnitt III für den Druck in Abschnitt II umbenannt, ein offensichtlicher Fehler also behoben wurde. Dabei wurde jedoch übersehen, den Teil II nun mit Abschnitt III (statt des ursprünglichen IV) beginnen zu lassen. Dieser Fehler wurde für die vorliegende Ausgabe korrigiert, so dass der gesamte Artikel nunmehr mit Abschnitt VII (und nicht wie ursprünglich mit Abschnitt VIII) endet. am 15. März 1905: Um welchen Vortrag genau es sich gehandelt hat, konnte nicht ermittelt werden; siehe auch den Editorischen Bericht, S. 580 f. Gelehrtenkongreß: Gemeint ist der „Internationale Kongreß aller Künste und Wissenschaften“, der vom 19. bis 25. September 1904 in St. Louis stattfand. geistreichen Werke: D.  i. „Die Amerikaner“ (1904); Münsterberg war als einer der Vizepräsidenten des Kongresses in St. Louis für die Werbung der deutschen Teilnehmer zuständig. Panegyrikus: [gr.] svw. allgemeine Lobrede (ursprünglich Vortrag, der in einer religiösen Festversammlung, der Panegyris, gehalten wurde).



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rika“ und „Amerikaner“ pflegen in der gewöhnlichen Rede ausschließlich auf die große „Union“ des Nordens bezogen zu werden: so überwältigend ist der Eindruck ihrer Macht und Bedeutung. Eine Nation ist eine Einheit. Sie will eine Einheit sein, als eine Einheit sich behaupten. Darum ist ihr die politische Gestalt ein wesentliches Merkmal und wird verlangt, erstrebt da, wo sie mangelt. Aber eben dieses Streben zeigt, daß sie auch ohne solche Einheit vorhanden sein kann. Sie kann als bloße Tatsache vorhanden sein; die Tatsache ist die Stammesverwandtschaft und der darauf zumeist, wenigstens zum Teil, beruhende Zusammenhang durch den Gebrauch der gleichen Sprache, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gibt; wenn auch nicht immer der nationalen. Denn diese Tatsache ist doch das bloße Substrat einer Nationalität; ihr Wesen empfängt sie erst durch ein gemeinsames, ein nationales Bewußtsein. Und dies Bewußtsein kann sich doch auch wieder völlig ablösen von jener natürlichen Grundlage, es kann sich frei darüber erheben. Die Teilnahme, der Genuß und die Mitförderung einer nationalen Kultur machen auch den Blutsfremden, wenn er es will, zu einem Träger des nationalen Bewußtseins. Man darf solche Nationen, die wesentlich durch ein nationales Bewußtsein bestehen, künstliche oder konstruierte Nationen nennen; die nordamerikanische ist der Typus einer künstlichen Nation. Sie steht in höherem Grade als die natürlichen Nationen im Verhältnis der Abhängigkeit zu der politischen Verfassung, die sie zusammenhält, obgleich diese den ausgeprägten Charakter eines föderativen Gebildes trägt – nach außen hin ist die politische Einheit geschlossen. Die Vereinigten Staaten sind zwar in erster Linie ein „Staatenbund“, wie es auch das Deutsche Reich der Form nach ist, aber sie stellen zugleich einen einheitlichen Staat, ein „Reich“ dar, im Repräsentantenhaus und in der Würde des Präsidenten sich ausdrückend, wie der Bund im Senat (dem Bundesrat) – eben diese Doppelnatur kann das Wort „Bundesstaat“ bezeichnen und sollte füglich nichts anderes bezeichnen.

I. Die Nordamerikaner wollen eine Nation sein. Die Worte „Nation“ und „national“ sind Ausdrücke, die sie überall mit besonderer Vorliebe auf sich anwenden. Sie d. h. die Denkenden unter ihnen haben ein starkes nationales Bewußtsein. Und zwar dies, unangesehen ihrer Abstammung, ihrer Herkunft. Nicht als ob ihnen diese gleichgültig wäre. Das Interesse für genealogische Studien, für die eigenen Vorfahren, ist sogar ganz besonders leb-

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haft in den V. St. Aber es ist, ob auch oft bestimmt durch Selbstbewußtsein und Eitelkeit, ob auch Veranlassung gebend zu besonderer Genugtuung, wenn etwa einer auf die ersten Ansiedler in Virginien seinen Stammbaum zurückleiten kann, und durch diese auf eine Adels- oder Patrizierfamilie Groß-Britanniens – es ist doch ein rein historisches Interesse, ein Interesse für kuriose Tatsachen der Vergangenheit, es hat nur einen sehr schwachen Einfluß auf das gegenwärtige Leben des Amerikaners; auf seine soziale Stellung, seine Ansprüche, seine Denkungsart gar keinen. Welcher Herkunft auch immer, ob von Schotten oder Iren, von Engländern oder Deutschen, von Schweden oder Böhmen, von Holländern oder Franzosen, ja ob von Juden oder Türken abstammend, er fühlt und weiß sich vor allem als Amerikaner – auch abgesehen von dem Ansehen nach außen hin, hat dies eine einigende Bedeutung, die des gemeinsamen Staatsbürgertums, der aktiven Teilnahme an den Rechten eines freien Landes, der großen 45 freie Staaten in sich befassenden Republik. Der Stolz, amerikanischer Bürger zu sein, wird allgemein als ein gerechter, ja notwendiger Stolz empfunden, während der Stolz, etwa von der Seitenlinie eines englischen Marquis abzustammen, leicht mit einer Färbung von Lächerlichkeit behaftet erscheint. Der Emporkömmling gilt mehr als der Herabkömmling – das ist in der Ordnung, wenn auch das Emporkommen sehr oft der Preis eines mit rauhem Geist und schwieligem Gewissen durchgeführten Wettstrebens ist. Die ganze Nation ist ja Emporkömmling, aber sie besteht nicht aus Emporkömmlingen, so wenig als aus Herabkömmlingen; die Rechtschaffenen und Tüchtigen dürften doch ihren Kern bilden, die auch von Rechtschaffenen und Tüchtigen abstammen. In Wahrheit sind ja, wenn auch in sehr verschiedener Stärke, fast alle aufzählbaren Nationen der alten Welt in der neuen vertreten. Amerika ist ein großer Mischkessel oder ein Kochtopf, in den die mannigfachsten Elemente zusammengeworfen werden und – man muß doch sagen – im großen und ganzen sich wunderbar gut vertragen; dies zum guten Teil ohne Zweifel dank der Stärke des amerikanischen National- und Bürgerbewußtseins. Durch die weite Entfernung vom Heimatlande, durch die Gewöhnung an das neue Land, an neue Sitten und Lebensbedingungen, durch das Gedeihen darin, und vollends durch das Geboren- und Erzogenwerden einer jüngeren Generation in dieser den Eltern etwa noch fremden Umgebung werden die Wurzeln, die in das Ursprungsvolk zurückreichen, zwar nicht immer abgeschnitten, aber doch allgemach kürzer und dünner, sie werden zuletzt unwahrnehmbar und nicht mehr empfunden, sie bleiben nur wie ein Schatten in der Erinnerung.

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So ist die amerikanische Nation eine neue, eine junge Nation auf neuem, auf jungem Boden: in diesem Boden, einem gewaltigen, fortwährend vergrößerten Gebiet, reich an mineralischen Schätzen, von mächtigen Strömen befruchtet, hat sie die Wurzeln ihrer Kraft; in der Beziehung dazu als zu ihrem Eigentum hat sie das Bewußtsein ihrer Einheit und Zusammengehörigkeit. Ein ferneres Element der Einheit ist die angelsächsische Wurzel, die stark genug gewesen ist, um der gesamten Kultur des Landes ihr Gepräge zu geben. Es ist nicht nur die Sprache, die Amerika von England entlehnt hat, nicht nur die Sitte des täglichen Lebens, nicht nur die religiösen Formen, Kirchen und Sekten, die weit überwiegend den englisch-schottischen Typus zeigen und auch ihre Herkunft davon ableiten: sondern auch die gesamte höhere Bildung ist britisch im Kerne, wenn auch eine starke deutsche Legierung sich nicht verkennen läßt und wenn auch namentlich auf den Universitäten der indirekte deutsche Einfluß höchst bedeutend gewesen ist und noch ist. Es sind neuerdings Preise gesetzt worden auf eine Schilderung dieser deutschen Elemente in der Kultur der V. St.; glückliche Lösungen dieser Aufgabe werden zur Stärkung des Deutschtums beitragen können. Numerisch ist die deutsche Abstammung bekanntlich in sehr bedeutendem Maße an der Bevölkerung der V. St. beteiligt, wenn auch dieses Maß begreiflicherweise von Deutschen, die drüben ansässig sind, überschätzt wird. 2 Und doch ist die Einheit der nordamerikanischen Nation besonders merkwürdig durch die ungeheuren Gegensätze, die sie in sich trägt. Den stärksten dieser Gegensätze hat sie noch nicht zu überwinden vermocht, und sie wird noch viel darunter zu leiden haben. Es ist ein Gegensatz, der uns auch in Europa in mannigfachen Gestalten bekannt ist, aber nirgends in so scharfer Ausprägung vorkommt: der Gegensatz der Rasse. Die Neger und was zu ihnen gehört, sind ein Pfahl im Fleische des Volkes der V. St.; wenigstens werden sie so empfunden. Sie sind zugleich eine lebendige Erinnerung an die große Zwietracht und den Bürgerkrieg, der gegen Ende des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts eine schwere Krisis über die junge Nation gebracht hat. Der Abschluß dieser Krisis ist insofern endgültig gewesen, als die damals mächtigen Staaten des Südens ihre alte Bedeutung nicht 2

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Vgl. Richard Böckhs Anzeige von Emil Mannhardt „Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten im Jahre 1900 und deren germanische Grundlage.“ (Aus den deutsch-amerikanischen Geschichtsblättern, III 1903.) „Deutsche Erde“, 1904, S. 63.

Böckhs: Tönnies studierte nach seiner Promotion bei Richard Böckh, „dem trefflichen Statistiker und Menschen“ (Tönnies 1922: 213), in Berlin.

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wiedererlangt haben; auch insofern, als selbst die Plantagenherren dieser Südstaaten kaum mehr ernstlich an Wiedereinführung des Sklavenstandes zu denken wagen. Anderseits ist nicht nur in diesen Staaten, wo die Neger am dichtesten angesessen sind, sondern überall bei den Weißen, wenn auch in verschiedener Stärke und Art, die Abneigung vorhanden, Konsequenzen und Wohltaten der allgemeinen menschlichen Freiheit und Gleichheit auch dem Neger und Negerabkömmling zugute kommen zu lassen! Am schärfsten macht sich dies geltend in bezug auf politische Rechte: die Südstaaten haben neuerdings das Wahlrecht an verschiedene Bedingungen geknüpft, die zum Ziele haben, die Schwarzen davon auszuschließen. Im Norden wird dies zwar empfunden und getadelt als Umgehung des berühmten 14. Amendements zur Verfassung der Union, aber es wird doch nicht für zweckmäßig gehalten, ausdrücklich durch die Bundesgesetzgebung dagegen einzuschreiten. Man anerkennt die Schwierigkeit, in der sich jene Staaten befinden, wo die Schwarzen einen so großen Bestandteil der Bevölkerung – in einigen nahezu, in zweien sogar mehr als die Hälfte – ausmachen. Die soziale Stellung des Negers ist auch in den Staaten, wo man ihn im Genusse seiner politischen Rechte läßt, zumeist eng, schwierig und gedrückt, und in gewisser Weise ist dies noch mehr im Norden als im Süden der Fall. Hier, wo sich vielfach noch das alte halbfamiliäre Abhängigkeitsverhältnis erhalten hat, verkehrt man mit dem Schwarzen stets als mit einem untergeordneten Wesen, aber nicht selten vertraulich, ja man scheut Intimität mit ihm nicht, sofern nur seine Stellung als Diener unverkennbar bleibt; ganz gewöhnlich ist es, durch schwarze Ammen die weißen Säuglinge ernähren zu lassen. Um so ängstlicher ist man beflissen, jeden Schein zu vermeiden, als ob man den Farbigen als seinesgleichen gelten ließe; daher will man nicht mit ihm am Tische sitzen, nicht im gleichen Eisenbahnwagen mit ihm

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14. Amendement: Dieser Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten von 1868 sollte wie die Verfassungszusätze 13 und 15 (1865 bzw. 1870) im Anschluss an den Bürgerkrieg vor allem die Gleichbehandlung der farbigen Bevölkerung durch Aufhebung der Sklaverei und Gewährung des Wahlrechts herbeiführen. Er diente als Instrument der „Nationalisierung“ der bundesweiten Vereinheitlichung der Grundrechte und trug damit wesentlich zu einer Schwächung des föderalen Prinzips und der police power der Einzelstaaten über ihre Bürger bei. Im ersten Absatz dieses Zusatzartikels wurde den Organen der Einzelstaaten verboten, ihre Bürger willkürlich oder ungleich zu behandeln; diese wurden somit unter den Schutz der Bundesorgane gestellt. Die entscheidende Passage lautet: „Kein Staat darf irgend jemanden ohne ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz [without due process of law] Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen oder irgend jemanden innerhalb seines Hoheitsbereiches den gleichen Schutz durch das Gesetz versagen.“

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fahren. Im Norden geht man diesem Schein gar nicht aus dem Wege; man steht eben grundsätzlich auf dem Boden der Gleichheit; aber die Antipathie ist wahrscheinlich erheblich stärker, das Verhältnis bleibt immer kühl und oberflächlich, gleichgültig und geschäftlich; so wie im allgemeinen auch bei uns das Verhältnis der oberen zu den unteren sozialen Schichten ist. Dort wird der Weiße auch den Schwarzen, der ihm etwa an Bildung überlegen ist, im besten Falle mit dieser Herablassung behandeln. Und sogar die Arbeiterverbände schließen Schwarze von ihrer Mitgliedschaft aus, was freilich insofern keine große praktische Bedeutung hat, als ihre Teilnahme an der großindustriellen und Fabrikarbeit gering ist; sie gelten als weder geschickt noch geneigt dazu. Trotzdem spielen sie zuweilen als Streikbrecher keine unbedeutende Rolle. Die Mehrzahl, und besonders dort, wo sie am zahlreichsten sind, besteht aber aus Landarbeitern und kleinen Pacht-Farmern, auch aus Handwerkern in den Landstädten; außerdem sind in allen Städten, zumal den Großstädten, die Neger in Mengen an allen Arten persönlicher Dienstleistungen beteiligt: als Kellner, Eisenbahnbedienstete, Stiefelputzer usw. Dabei muß man aber stets sich erinnern, daß unter den Farbigen, wie sie am häufigsten genannt werden, sehr viele Mischlinge sich befinden; wie groß deren Anteil an der Gesamtmenge sein mag, ist wohl niemals untersucht worden, es scheint aber, daß die Mischlinge im allgemeinen sich als intelligenter erweisen und zu den Predigern, Lehrern, selbständigen Handwerkern und Geschäftsleuten, die zusammen doch eine erkleckliche Minderheit der „Rasse“ bilden, das bedeutendste Kontingent stellen. Auch Booker T. Washington, der sich durch seine erfolgreiche Tätigkeit als Begründer und Leiter einer Volkshochschule (wie wir sie vielleicht am passendsten nennen würden) für Farbige, in Tuskegee, Alabama, und durch seine glänzende Rednergabe zu einem der berühmtesten Männer in Amerika gemacht hat, ist ein Mulatte; er hat in anziehender Weise den Gang seiner Entwicklung, der seinem Charakter wie seinem Talente alle Ehre macht, in einem Buche dargestellt, das den Titel führt: „Up from slavery“ (es ist auch in deutscher Übersetzung erschienen). Er hat einen großen Einfluß auf seine Leute, und diesem Einfluß haben wohl die Weißen es in einigem Maße mit zu verdanken, daß die Farbigen im allgemeinen sich ruhig in ihr Schicksal ergeben, die sozialen Demütigungen und die politischen Beeinträchtigungen ohne nennenswerten Widerstand sich gefallen lassen. Denn dies entspricht seinen Grundsätzen, seinem Programm; er wehrt alle weit-

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„Up from slavery“: Vgl. Washington 1901.

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Die Farbigen sind das Element in der nordamerikanischen Nation, das nicht aus eigenem Willen sich zu ihr gesellt hat. Das Interesse des weißen Geschäftsmanns hat sie importiert; zur Entstehung und Ausdehnung des Reichtums haben sie zuerst mächtig beigetragen, zu einer Zeit, als der freiwillige weiße Einwanderer noch in der Lage war, sich auf eigenem Grund und Boden selbständig zu machen, als ein System der Lohnarbeit daher nur in sehr engen Grenzen möglich war. Seitdem hat dieses sich entwickelt, teils – und zwar vorzugsweise auf dem Lande – indem aus dem Sklaven einfach ein Tagelöh-

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„Souls of black folk“: Vgl. DuBois 1903.

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ner geworden ist, oft in einem Verhältnis tatsächlicher Abhängigkeit, das von der Sklaverei nicht wesentlich verschieden ist; teils – und vorzugsweise in den großen Städten – indem eine freie industrielle Arbeiterklasse ganz wie in Europa, aber durchweg mit höherem Lohne und höheren Lebensansprüchen sich gebildet hat. Die Frage des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit ist im Laufe des letzten Menschenalters an die Stelle der Sklavenfrage und neben die Rassenfrage getreten. Aber auch bei der Sklaverei handelt es sich um ein System der Massenarbeit, und auch in einem System freier Lohnarbeit kann ein Volk von fremder Rasse die Schwierigkeiten eines geordneten und für das Gemeinwohl günstigen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit vermehren. Dem Unternehmer und Fabrikherrn liegt, auch wenn er unfreie Arbeiter als Eigentum erwerben weder will noch darf, an wohlfeiler Arbeitskraft; freilich auch an brauchbarer; und das Interesse an der Brauchbarkeit stößt oft mit dem Interesse an Wohlfeilheit zusammen. Jedenfalls haben für ihn im ganzen die Menschen niederer Rasse und überhaupt in ihrem Bildungsstande minder entwickelte Arbeiter den Vorzug, daß sie anspruchsloser, genügsamer, also billiger sind; auch weil sie nicht so leicht sich koalieren; sofern also der Wert der Billigkeit für ihn maßgebend ist, so wird er sie heranzuziehen suchen und, wenn nötig, importieren, am liebsten unter vorausbestimmten kontraktlichen Bedingungen, die der Freiheit des Arbeiters, besonders seiner Bewegungsfreiheit, bedeutende Fesseln anlegen, so daß in der Praxis ein solches System der Unfreiheit wieder auf charakteristische Weise sich nähern kann: man denke an den Kuli-Import in Transvaal. Nun aber wird das Interesse aller schon vorhandenen Arbeiter gegen solchen Import um so stärker sich wehren, je mehr es eben um Konkurrenten sich dabei handelt die durch niedrigere Lebenshaltung unterbieten, also den Arbeitslohn, den Preis der Arbeitskraft, drücken. Dies war in ausgesprochenster Weise der Fall bei den Einwanderern aus China, und der politische Einfluß der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten hat ein Verbot oder doch eine dem Verbot fast gleichkommende Einschränkung dieser Zufuhr durch Bundesgesetz zu erwirken vermocht. Die öffentliche Meinung, die an den Sitten der Chinesen – es handelte sich hauptsächlich um Kalifornien und seine Goldbergwerke – Anstoß nahm, ging hier, wie es ja nicht ganz selten der Fall ist, mit dem Interesse der Arbeiterklasse Hand in Hand. Und die Macht der öffentlichen Meinung ist groß in diesem Lande, wo die Zeitung noch weit mehr als bei uns das geistige tägliche Brot darstellt. Aber diese Meinung ist auch sehr wetterwendisch, und ob sie auf die Dauer dem Interesse, das der „Arbeitgeber“, also der Kapita-

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list überhaupt, an der Einführung billiger ausländischer Arbeitskraft hat, Widerstand leisten wird, kann man mit Grund bezweifeln. Sehr viel ist von der „unerwünschten Einwanderung“ (undesirable immigration) die Rede, und der größte Teil der während der letzten 10 Jahre mit unseren Riesendampfern des Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie beförderten Auswanderer wird dazu gerechnet, seitdem die Auswanderung von Deutschen und Skandinaviern fortwährend ab-, die von Italienern, Polen, Ungarn, Rumänen, Russen, kurz von Bewohnern des südlichen und des östlichen Europa fortwährend zugenommen hat.3 Daß sie aber zugenommen hat und immer mehr zunimmt, und daß diese Einwanderer zumeist in den Großstädten drüben sich einnisten und ihr Brot finden, ist ein Beweis dafür, daß ein starkes Bedürfnis nach ihnen vorhanden ist, tatsächlich ein Bedürfnis zumeist nach ungelernter oder niedrig qualifizierter Arbeit, abgesehen davon, daß z. B. der Italiener ebenso wie in Deutschland und anderswo, so auch in New York, Boston, Chicago, vielfach als Obsthändler, als Orgeldreher u. dgl. seinen dürftigen Erwerb genießt, auch als Schuhputzer dem Neger Konkurrenz macht, eine Berufsart, von deren Bedeutung jenseits des Meeres wir uns freilich keine Vorstellung machen, ehe wir die dort herrschenden Gewohnheiten kennen lernen. Indessen ist der Oberitaliener auch als geschickter, fleißiger und nüchterner Erdarbeiter, Bahn- und Brückenarbeiter dort wie bei uns beliebt, und ohne Zweifel ist es diese Arbeitsgelegenheit, die größere Mengen heranzieht. Am reinsten großstädtisch dürfte von allen diesen Einwanderern das gerade unter den osteuropäischen stark vertretene jüdische Element sein, das dort wie überall im Handel seinen Beruf sucht; die großen Massen finden aber dazu wenig Gelegenheit und sind zu arm, um empor zu kommen; sie fristen als schlecht bezahlte Hausindustrielle, Schneider und Schneiderinnen, ihr Leben in New York und Boston, wie im Ostende von London. Bedenke man, daß in New York mehr als 600 000 Juden gezählt werden, die ein großes Stadtviertel allein bewohnen, ihre Zeitungen teils in hebräischer, teils in „jiddisch-daitscher“ Sprache drucken lassen, ebenso ihre eigenen Theater haben, in denen dieses häßliche Kauderwelsch gesprochen wird; in Boston ist dasselbe der Fall und noch in anderen Städten. Durch Reinlichkeit zeichnet ein großer Teil dieses jüdischen Proletariats so wenig 3

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Nach dem neuesten Bericht (über die Einwanderung 1904/5) steht Österreich-Ungarn, das am Ende der 70er Jahre noch keine 10 000 Personen jährlich durch überseeische Auswanderung überhaupt abgab, obenan mit 275 693 Ankömmlingen in den V. St., dann folgt Italien, das in dem ganzen Jahrzehnt 1871/80 mit nur 55 759 Köpfen beteiligt war, in dem einen Jahre mit 221 479, ganz entsprechend Rußland, das in jenem Jahrzehnt noch etwas schwächer teilnahm, mit 187 879.

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wie das chinesische sich aus; im übrigen aber scheint es nicht, daß jenes erheblichen Anstoß erregt, von einer Judenfrage ist in den V. St. wenig oder gar nicht die Rede. Der Amerikanismus erzieht auch den Juden in Sachen des äußeren Lebens, des Komforts und also auch der Sauberkeit. An geistigem und sittlichem Leben ist oft auch in dem elendesten Juden ein nicht gering zu schätzender Fonds vorhanden. Seine Nüchternheit und Besonnenheit, sein lebhafter Familiensinn erleichtern ihm den Aufstieg. Das Judentum fühlt sich in ausgesprochener Weise wohl in den Vereinigten Staaten. Drei Momente wirken dahin zusammen, seine Lage erwünschter zu machen, als sie im allgemeinen noch in Europa ist. Erstens: Der Rassenunterschied, wie er bei uns unrichtigerweise genannt wird, zwischen Semiten und „Ariern“ wird völlig verdunkelt durch die viel stärkeren und wirklichen Rassenunterschiede, die den Kaukasier dem Neger, nebenher auch dem gelben Manne und etwa dem Mongolen gegenüberstellen. Zweitens: Die völlige Freiheit der Religionsübung, der Umstand, daß es keine Art von Staatskirche gibt und daß das Bekenntnis auch in der Gesellschaft als reine Privatsache betrachtet und behandelt wird, kommt auch dem mosaischen Bekenntnis zugute. Dazu kommt, daß, wie in England, dies Bekenntnis von den alttestamentlich gesinnten Christen immer mit einer Art von Ehrfurcht und Pietät betrachtet wird. Drittens: Der ausgeprägte Erwerbstrieb und Geldsinn des Juden wird innerhalb einer Nation weniger bemerkt und weniger als lästig empfunden, wo diese Tendenzen noch mehr zur allgemeinen, für selbstverständlich geltenden Regel geworden sind, als es auch im modernen Europa der Fall ist; die Meinung, daß der Jude ihm darin überlegen sei, wohl gar durch seine angeborenen Eigenschaften einen Vorsprung im Wettrennen um den Dollar habe, wird man beim Yankee selten antreffen. Auch ist dazu kaum Grund vorhanden, wenn auch im oft so gewinnreichen Geld-, Bank- und Börsengeschäft der Jude dort wie bei uns hervorragt, wozu seine internationalen Verbindungen – seine natürliche Universalität –, seine Sprachkenntnisse und sein spekulierender Sinn ihn vorzugsweise befähigen. Übrigens ist auch in den gelehrten Berufen der Jude deutscher Abstammung stark vertreten, besonders an den Hochschulen.

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Nun findet man aber immer häufiger, in der Literatur und sonst beim denkenden Amerikaner, daß er die Entwickelung seines wirtschaftlichen Lebens, den immer mächtiger sich entfaltenden Kommerzialismus und Industrialismus mit einigem Unbehagen beobachtet und auf Grund dieser Beobachtungen schweren Sorgen um die Zukunft seines Landes und Volkes sich hingibt. Oberflächliche Geister – dort wie überall bei weitem die Mehrheit – schwimmen freilich in Genuß und Behagen, sie verkünden laut den Triumph ihrer Demokratie; sie rühmen sich, auf allen Gebieten des modernen Lebens das größte zu besitzen, das die Welt je gesehen habe: sei es nun das 87 Meter hohe Plätteisengebäude in New York, sei es der Umfang ihrer größten Lokomotiven oder der Reichtum des Herrn Rockefeller und die Prachtpaläste der 5. Avenue. Aber lauter und vernehmlicher werden die Stimmen derer, die die Frage aufwerfen, ob denn diese Dinge wirkliche und echte Kultur sind, die der ungeheuren Übel und Gefahren einer schrankenlosen Entfaltung der Kapitalmacht sich bewußt werden. Vor allem ist der Trust, d. h. die Vereinigung ganzer Industriezweige unter gemeinsame, einheitliche Verwaltung, wodurch an Stelle der Konkurrenz das Monopol tritt, eine immer gewaltiger sich entwickelnde Erscheinung, die in weiten Kreisen schwere Bedenken veranlaßt, Unwillen und Widerstand wach ruft, theoretisch-kritische Untersuchungen anregt, die das gesamte soziale System in Frage stellen. Der Erfolg des gegenwärtigen Präsidenten der Republik, bei seiner Wiederwahl, wäre nicht so groß gewesen, wie er war, wenn nicht zu dem persönlichen Ansehen des Herrn Roosevelt die populäre Meinung sich gesellt hätte, daß er die Trusts bekämpfen werde, obgleich er der wesentlich großindustriellen republikanischen Partei angehört und deren Kandidat war. Tatsächlich konkurriert die Macht der Trusts stark mit der Macht der Regierung, und 2 13

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III: Im Original fälschlich: IV. Folgend die fehlerhafte Zählung korrigiert. Rockefeller: John Davison Rockefeller gründete den „Standard Oil Trust“, der 95% des Raffineriegeschäfts der USA kontrollierte, die Universität von Chicago und die Rockefeller-Stiftung. Er galt zu seiner Zeit als reichster Mann der Welt. Roosevelt: Theodore Roosevelt, der 26. Präsident der USA (1901–1909), verstärkte die öffentliche Kontrolle über die großen Wirtschaftsunternehmen („Teddy the Trust-Buster“) und den Arbeitsschutz (Square Deal), Friedens-Nobelpreis 1906.

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die Aussprüche des höchsten Gerichtshofes, die einem Trust nach dem anderen das gesetzliche Recht aberkennen, erweisen sich als wirkungslos, da jene dem Buchstaben des Gesetzes entweder sich anpassen oder ihn umgehen, wenn nicht gar frech übertreten. Zu dem Gefühle der Ohnmacht gegenüber den Dollar-Tyrannen, die auch wohl die Erzräuber und Plünderer des Landes – und zwar nicht etwa in Arbeiterzeitungen allein – genannt werden, gesellt sich oft die Anwandlung eines moralischen und ästhetischen Widerwillens gegen das protzenhafte Wesen, gegen die häßliche und kindische Reklame, gegen die Exzesse des Genusses, ein Gefühl der Scham, wenn man die alten europäischen Stätten einer stilleren, tieferen und echteren Kultur kennen lernt.

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IV. Die großen Schwierigkeiten und Widersprüche, von denen die gesamte moderne Zivilisation erfüllt ist, treten innerhalb der nordamerikanischen Nation auf eine besonders deutliche und scharfe Weise zutage. Die stärksten Kontraste sind schon in ihrem Wesen, in ihrer Entstehung angelegt, und zwar nicht allein durch die Völkermischung, durch das Zusammenleben heterogener Rassen auf demselben Boden. Vielmehr sind es die eigentümlichen Lebensbedingungen der zu rascher Blüte entfalteten Kolonien, aus denen diese Kontraste in so auffallender, wenn auch selten hinlänglich gewürdigter Weise hervortreten. Das kolonisatorische Leben, ausgehend von reifen, schon in städtischer Kultur emporgewachsenen Völkern, bedeutet in nicht geringem Maße immer, was solchen Völkern so oft als notwendig zu ihrer Genesung – von kranken Zuständen oder von den Übeln des Alters – gepredigt wird: die Rückkehr zur Natur. Nicht nur die vorwiegende Beschäftigung mit dem Ackerbau, noch mehr mit der Viehzucht, die auf weiten Flächen leicht eine nomadische Lebensweise zur Folge hat, sondern sogar das Vorwiegen noch älterer Formen des Nahrungsgewinnes: Fischerei, Jagd und nicht zum wenigsten Krieg, Raub, und Formen des Tauschhandels, die oft der Beraubung des unwissenden, leicht geblendeten Eingeborenen ziemlich ähnlich sehen – das sind die Elemente, auf die der Kolonist in einem neuen Lande, auf dem Boden der Steppe, des Urwaldes immer wieder gestellt ist. Das große Gebiet der Vereinigten Staaten enthält und reproduziert noch heute, wenn gleich friedlich geordnete Zustände durchaus vorwalten, diese Elemente der Ursprünglichkeit. Aber von diesen aus, die im 16. und 17. Jahrhundert noch fast allein gegeben waren, haben sich zunächst in den alten Kolonien, die am

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4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit vom englischen Mutterlande proklamierten, schon während des 18. Jahrhunderts einige bedeutende Hafen- und Handelsstädte entwickelt, im 19. hat eine Zunahme der Städte überhaupt, der großen und größten Städte besonders stattgefunden, die dort während einer kurzen Zeitspanne alle jene Probleme der physischen und moralischen Gesundheit, der Erziehung, der sozialen Politik hat erwachsen lassen, die uns in Europa so bedeutend und zum Teil furchtbar geworden sind. Die nordöstliche Ecke der Vereinigten Staaten ist in der Tat ein kleines Europa in diesem ungeheuren Leibe. Noch besteht in dieser Hinsicht der alte Gegensatz zwischen Nordstaaten und den Südstaaten, die weit mehr einen ländlichen Charakter behalten haben, wie sich dieser schon durch die geringere Dichtigkeit der Bevölkerung zu erkennen gibt. Aber viel stärker in dieser Hinsicht und mit Bezug auf alles, was daraus folgt, ist mehr und mehr der Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen geworden. Der Westen ist gleichsam das Amerika Amerikas. Freilich ist das ein sehr allgemeiner und unbestimmter Sinn, worin hier der Westen dem Osten gegenübergestellt wird, aber es ist der Sinn des allgemeinen Sprachgebrauchs. Die im engeren und offiziellen Sinne als Weststaaten unterschiedenen Gebiete tragen freilich die Merkmale, die im allgemeinen den Westen bezeichnen, in besonders ausgeprägter Weise an sich: unter ihnen ragt nur Kalifornien, dessen Bewohner in der Tat Wert darauf legen, nicht zum Westen gerechnet zu werden (sie wollen Pacific-Staat heißen), durch eine etwas dichtere Bevölkerung, zugleich durch ältere und mehr befestigte Kultur, hervor, die aber doch auch bislang nur 4 Einwohner auf 1 qkm trägt; mehr und mehr wächst Kolorado, als Goldland neben Kalifornien, und auch sonst mit mineralischen Schätzen reich ausgestattet, empor; das gesamte Gebiet dieser Weststaaten, die immer größere Volksmengen an sich ziehen, umfaßt mehr als ein Viertel der Gesamtfläche der Vereinigten Staaten, wobei sogar die Territorien, darunter das unwirtliche Alaska mit mehr als 1½ Millionen qkm, eingerechnet sind. Chicago, das doch noch in erreichbarer Ferne von New York (wir hören von einem neuen Expreßzuge, der die Strecke in 11½ Stunden durchläuft) und von den übrigen alten Hauptstädten liegt, das von der Mitte aus gerechnet mehr nach Osten geneigt ist, wird doch nicht selten die Hauptstadt des Westens genannt. Wenn nun der gesamte Westen als vergleichungsweise ländlich und dünn bevölkert erscheint, so sticht freilich diese junge Riesenstadt, die mehr und mehr mit New York in kühnen Wettbewerb tritt, um so schärfer dagegen ab. Wie der Westen das Amerika Amerikas, so ist Chicago die am meisten typische amerikanische Großstadt; man kann sagen, die typische moderne Stadt überhaupt. Und doch ist sie die Großstadt der Landwirtschaft, d. h. des Handels und der

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Industrien, die sich unmittelbar an die Landwirtschaft anschließen oder ihr dienen. Da ist zuerst der Weizen- und der Maismarkt; die in Chicago aufgesammelten und in Riesenspeichern „sichtbaren“ Vorräte bedingen die Preise auf dem Weltmarkt, also indirekt auch den Preis unseres täglichen Brotes. Da sind die unermeßlichen Exportschlächtereien der Union Stockyards mit dem Massenbetriebe und Maschinenbetriebe der Tötung von Tieren; wir lesen im Baedeker, daß der jährliche Auftrieb auf 3–4 Mill. Stück Rindvieh, 7–8 Mill. Schweine, 3–4 Mill. Schafe und 100 000 Pferde, mit einem Gesamtwerte von 300 Mill. Dollars sich beläuft und daß die Versandhäuser gegen 25 000 Arbeiter beschäftigen. Ungeheure Holzplätze schließen sich an – die „größten der Welt“ wie wir hören – (und es von so manchen anderen Gegenständen in den Vereinigten Staaten hören: in der Tat ist ja an erstaunlichen Dingen kein Mangel). Auch die Industrie Chicagos dient vorzugsweise den Bedürfnissen des Ackerbaues; die Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen der Deering Forester Co., in einen Trust zusammengeballt, wie es sich schon von selbst versteht, deckt ja auch den Bedarf in unseren Gegenden zum größten Teile, da wir leider mit den Amerikanern in dieser Technik noch nicht mit Erfolg wetteifern; für die ungeheuren Massen von Vieh oder vielmehr geschlachtetem Fleisch, Getreide usw., die Land und Stadt von hier exportieren, sind aber auch riesige Verkehrsmittel notwendig. Kein Wunder, daß die Herstellung von Eisenbahnwagen und Lokomotiven in und um Chicago eine gewaltige Ausdehnung hat; dies gilt von Chicago wie von St. Louis, wie überhaupt diese westlichen Zentren manche Ähnlichkeit miteinander haben – Chicago ist ihnen Muster und Vorbild. Eine eigentlich landwirtschaftliche Industrie ist ja auch die Verarbeitung von Hopfen und Gerste, die in Milwaukee ihren Hauptsitz hat, die Bierbrauerei ist hier das vorherrschende Gewerbe, und deutsche Techniker und Arbeiter sind vorzugsweise in ihr tätig – Milwaukee ist wohl die am meisten deutsche unter den großen Städten der Union. Aber auch unter den ca. 2 Millionen Einwohnern Chicagos ist beinahe der dritte Teil von deutscher Herkunft. Die Völkermischung, die ja überhaupt das Merkmal der nordamerikanischen Nation ist, und die wir anderseits in schwächerem Grade auch in unseren europäischen Großstädten beobachten können, tritt in diesen, wie Pilze aus der Erde emporschießenden Metropolen des Westens so stark, wie sonst nirgendwo, hervor. In Chicago drängen sich fast alle Nationen durcheinander, aber im Unterschiede von vielen östlichen Großstädten, unter denen z. B. Baltimore ca. 16 % Farbige zählt, Washington beinahe ein Drittel seiner Einwohnerschaft, ist Chicago und sind überhaupt diese westlichen Großstädte vorwiegend europäische oder, genauer zu reden, „weiße“ Orte; in Chicago bilden die Neger nur etwa

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1 bis 2 % der Bevölkerung, außer ihnen verschwinden noch die paar Tausend Abkömmlinge Chinas und Japans in der Masse. Alles was die Großstadt äußerlich kennzeichnet: Lärm und Qualm und Staub und Dunst, das ist in Chicago reichlich vorhanden. Der Eindruck, den der Fremde empfängt, ist eher abstoßend als anmutend – trotz der großen Parks und der parkartig angelegten Straßen an den Ufern des Michigansees, trotz der vielen imposanten Gebäude, unter denen die der Universität von Chicago, abgelegen von der lauten Stadt, sich auszeichnen. Die Vorherrschaft des Geschäftes ist in der schärfsten Weise ausgeprägt. Eben darum ist Chicago eine so durchaus moderne Stadt. Die amerikanische Nation unterscheidet sich überhaupt ja durch ihre Lösung von der Tradition, durch ihren Mangel an Geschichte von älteren, mehr natürlichen, allmählich gewachsenen Nationen. Und es versteht sich, daß dieser Charakter den Westen, das Amerika Amerikas, ganz besonders kennzeichnet. Eine Stadt wie Chicago, die vor 100 Jahren noch nicht als Dorf existierte, vor 50 Jahren noch ein Landstädtchen mit hölzernen Blockhäusern war, hat kaum eine Geschichte außer dem großen Brande von 1871, der sie vernichtete, so daß das heutige Chicago in einem Menschenalter aus dem Boden gezaubert ist. Hier ist europäische Kultur, aber abgeschnitten von den Wurzeln des alten historischen Grundes, die uns mit der Gotik, und weiter zurück mit Rom und Hellas, mit Ägypten und dem Orient verbinden; Amerika habe es „besser“, meinte Goethe im Unmut einmal, als unser Kontinent, der alte: damals strahlte der neue noch im Morgenrote der Kindheit! Gewiß, in mancher Hinsicht, und für die Erreichung praktischer unmittelbarer Ziele auch heute noch „besser“; es ist nicht gehemmt und belastet durch die Überlieferung, durch die zähen Reste innerlich abgestorbener Lebens- und Herrschaftsformen, es kann sich freier bewegen. Aber Amerika hat es auch „schlechter“, denn an der Tradition hängt auch die Poesie und die Schönheit, hängen alle Reize einer sinnig und in Muße, mit langsam schaffender Phantasie ausgebildeten Kultur; es ist das künstlerische Wesen, das in treuer Überlieferung beruht und ohne solche schwer gedeiht, das auch aus einfacheren Zuständen, aus dem naiven Volksglauben, aus tiefgewurzelter Sitte seine kräftigste Nahrung zieht. Wenn wir denn in den Vereinigten Staaten, wie in allen jungen Ländern, gar viel in dieser Hinsicht vermissen, so sollte doch unsere Selbsterkenntnis uns belehren, daß mit allen solchen Merkmalen einer auf das Äußere, auf den 21

meinte Goethe: „Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent der alte“, schrieb Goethe (1893: 137) mit der Begründung, „Dich stört nicht im Innern | Zu lebendiger Zeit | Unnützes Erinnern | Und vergeblicher Streit“.

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Nutzen und nebenher auf den Schein und Schimmer abzielenden Lebensgestaltung die amerikanische Nation in Bahnen wandelt, nach denen auch bei uns die Entwickelung am stärksten hinstrebt. Die Glorifikation der Technik und zum guten Teil ihre Ausbreitung auf Kosten der Kunst und des Schönheitssinnes schwirrt auch bei uns in den Lüften; auch wir rühmen uns, daß die Welt im Zeichen des Verkehrs steht, auch unsere Großstädte sind arm an ästhetischen Eindrücken, auch sie werfen und würfeln die Menschen aus allen Weltgegenden zusammen, auch sie zeigen ein rapides, an Wasserköpfe erinnerndes Wachstum, wenn auch kaum je im Maßstabe von Chicago oder Denver (Kolorado); auch sie lassen den Menschen wenig zur Ruhe und gar nicht zu sich selber kommen; auch in ihnen verschlingt der Tag den Tag in fieberhafter Hast, auch bei uns verliert man über dem Jagen nach Erwerb und Genuß die Gründe, um derentwillen es sich verlohnt, zu erwerben und zu genießen. Wenn er also von Chicago abgestoßen wird, so sage sich der Europäer: „De te fabula narratur“ und bekenne, daß er sich im Spiegel erblickt. Und es ist fürwahr müßig, über diese Dinge zu klagen und zu jammern; sie sind ein unabwendbares Schicksal, sie bedeuten einen notwendigen Prozeß in der Lebensgeschichte der modernen Menschheit; wir können vernünftigerweise nur danach streben, das Beste daraus zu machen, die Probleme, die uns damit aufgegeben werden, am rechten Ende anzufassen, die Erkenntnis zu verbreiten, daß geistige und sittliche Güter höheren Wert haben als materielle Genüsse, als Pracht und Komfort, daß ein Gran von Kunst kostbarer ist als ein Pfund von Dekoration, daß Gesundheit und Schönheit die besten Mittel sind, das Leben zu erheitern und zu erhellen, und daß das soziale Leben auf eine neue Basis gestellt werden muß, wenn es nicht der Zerrüttung anheim fallen soll, auf die Basis des Friedens anstatt der Basis des Kampfes, auf die Basis der gemeinschaftlichen Arbeit anstatt der des Gewinnes und der Ausbeutung, auf die Basis der Liebe und des Gemeinsinnes anstatt der des Hasses und der Abgunst. – Unerfüllbare Ideale, wird man einwenden! – Freilich! gehört es doch zum Wesen des Ideales, daß es unerfüllbar ist – und hält man auf anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit es darum für töricht, sich ein Ideal gegenwärtig zu halten, in der Richtung dieses Ideales zu streben? Ist nicht alle Kunstübung, wenigstens so lange als sie gesund ist, von unerfüllbaren Idealen begeistert? – Und nun muß zum Ruhme des Amerikaners gesagt werden, daß er, d. h., daß der einsichtige und tiefer gebildete Amerikaner

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„De te fabula narratur“: [lat.] frei nach Horaz (Satiren, I, 1, 69; 1985: 69 f.): „Von dir wird die Geschichte erzählt“ („von dir ist die Rede“).

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keine Angst vor Idealen hat, und daß die Unermeßlichkeit der Aufgabe seinen Mut und seine Energie am meisten reizt, daß er sozusagen nichts für unmöglich hält. Sicherlich macht sich das zunächst und am meisten in bezug auf technische Projekte und Pläne geltend; man denke an den Riesenplan, aus Chicago eine Seestadt zu machen, einen Plan, dessen Ausführung vielleicht in einem Jahrzehnte vollendet sein wird. Auch dies gewaltige Machen auf allen Gebieten bezeichnet ja überhaupt den modernen Geist, der drüben, auf dem freien Terrain, nur noch viel mehr als in Europa ins Große, Hohe und Weite strebt; und daß er allmählich lernen werde, auch in bezug auf die sozialen und moralischen Formen des Zusammenlebens sich diese großen hohen und weiten Aufgaben zu stellen und mit kühner Entschlossenheit daran zu arbeiten, das ist eine Hoffnung, die uns, wenn wir die Denkungsart des „jungen Amerika“ kennen lernen, nicht ganz bodenlos erscheinen kann. Freilich sind auch manche Übel viel kolossaler dort, mit denen die Idealisten zu kämpfen haben. Die Korruptionen der Parteipolitik kennen wir glücklicherweise in solchem Umfange nicht entfernt, wie sie dort das Leben vergiften und, namentlich in den Städten zum Schaden einer gesunden Verwaltung grassieren. Die Bundesverwaltung ist am reinsten, die munizipale Verwaltung ist am schmutzigsten – so ungefähr hat der bedeutende Kenner Amerikas, der Schotte James Bryce4 , die Dinge charakterisiert. So viele Mängel auch bei uns in diesen Dingen zutage treten, so können doch ohne Zweifel an englischen und deutschen Stadtverwaltungen die Amerikaner sich ein Muster nehmen, und die ernsten Leute unter ihnen bemühen sich, es zu tun, sie erkennen die Ungesundheit, die Unhaltbarkeit ihrer Zustände auf diesem Gebiete.



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Mitglied des neuen englischen Kabinetts (Zusatz im Januar 1906).

Kenner Amerikas: Das „Gilded Age“ der Vereinigten Staaten fand in dem Briten Bryce mit seinem mehrbändigen Werk „The American Commonwealth“ (1888) einen europäischen Chronisten wie das Zeitalter Jacksons in dem Franzosen Tocqueville einen gefunden hatte. Diesen Bezug zu Tocqueville stellt Bryce in der Einleitung zu seinem monumentalen Werk selbst her. In systematischer Reihenfolge beschrieb er Arbeitsweise und Arbeitsstil der Bundesbehörden, des Präsidenten, des Kongresses, der Gerichte, der Staatsregierungen und Gemeindeverwaltungen. Er setzte sich mit dem Parteiensystem, mit der öffentlichen Meinung, mit geistigen und religiösen Kräften und Strömungen und mit der jüngeren geschichtlichen Entwicklung auseinander. Bestechlichkeit, Zweckentfremdung öffentlicher Gelder, Machenschaften politischer Bosse und Parteimaschinen gehörten für Bryce zu den „häßlichsten Zügen“ der amerikanischen Politik.

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V. Ich sprach von den ungeheuren Kontrasten, die das amerikanische Leben gezeitigt hat und immer neu hervorbringt.5 Ich dachte dabei zunächst nur an äußere Erscheinungen, an den Abstand zwischen dem dünn bevölkerten Lande und der Anhäufung von Volksmengen in den Städten, an den Gegensatz der ursprünglichsten und der höchst entwickelten Zustände, an die überall verstreuten weißen Holzhäuser auf der einen, die ganz eisernen Riesengebäude auf der anderen Seite, worin dieser Gegensatz vielleicht am auffallendsten wahrnehmbar wird; ich dachte auch an den Kontrast zwischen der bürgerlichen Gleichheit, worin alle Institutionen des Landes basieren, die den ursprünglichen Zuständen mit wenig entwickelten Unterschieden des Vermögens und der Lebenshaltung entspricht – und der tatsächlichen Herrschaft eines märchenhaften Reichtums, der sich immer höher über die Menge des Volkes erhebt, sich immer mehr Kräfte dienstbar macht, immer mehr gleichgültig gegen das Gemeinwohl wird und durch sinnlosen, geistlosen Luxus die Sitten und die Seelen verdirbt. Aber eben diese letzte Ansicht legt einen anderen Kontrast nahe. Daß es eine Klasse der Reichen in Amerika gibt, die in ungeheuerlicher Weise dieser Beschreibung entsprechen, ist unverkennbar und unleugbar; aber eine Gruppe steht ihr gegenüber, – oder ist in ihr enthalten – die sich von den Reichen anderer Nationen in sehr merklicher Weise durch eine Freigebigkeit auszeichnet, die den höchsten und edelsten Bestrebungen, den Instituten für Kunst und Wissenschaft zugewandt ist und einen Teil der Schuld abzutragen beflissen ist, die immer in der maßlosen Anhäufung des Geldes dem Volke und Lande gegenüber kontrahiert wird, das die Gelegenheiten dazu gegeben, den Boden und die Arbeit dargeboten hat, woraus es gesogen wurde. Wenn auch diese private Dotierung z. B. der Universitäten im Vergleiche zur Dotierung aus öffentlichen Mitteln keineswegs ohne Schäden und Gefahren ist und



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Erst, nachdem ich dies lange erwogen hatte, ist mir bekannt geworden, daß auch anderen dies aufgefallen ist. Von dem Buche eines Engländers „The Land of Contrasts“ habe ich freilich nicht mehr als den Titel gesehen. Auch O. Graf Moltke in seinem vorzugsweise nationalökonomischen Reisebericht „Nord-Amerika“, Berlin 1903, bemerkt S. 1 „Schreiende Kontraste überall“.

„The Land of Contrasts“: Vgl. Muirhead 1898. „Schreiende Kontraste überall“: Bei Moltke (1903: 1): „Schreiende Kontraste überall – und doch ein gemeinsamer Zug in Jedem und Jeden“.

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schon zu schweren Konflikten geführt hat, worin übrigens der Unabhängigkeitssinn und die Gewissenhaftigkeit amerikanischer Gelehrten mehrmals eine scharfe Probe bestanden hat, so muß man nichtsdestoweniger die Leistungen anerkennen und das Land bewundern, wo die Ehre, die damit eingelegt wird, die gesellschaftliche Geltung, die durch sie, mehr als durch den Besitz der Reichtümer unmittelbar, erworben wird, ebenso schwer als Form der Belohnung wiegt und als Beweggrund mitwirkt, wie anderswo der in Form von Titeln und Orden für Leistungen, die oft verhältnismäßig viel geringer sind, von Regierungen und Staatsoberhäuptern gespendete Lohn. Gewiß hatte Roosevelt recht, wenn er vor kurzem, wie in Zeitungen berichtet wird, unbefangen genug war, zu sagen (auf dem Konvent der National Educational Association in Asbury-Park), es sei viel wichtiger, daß die Herren Millionäre ihre Geschäfte auf anständiger Basis führten, als daß sie die Überschüsse ihres Einkommens zu wohltätigen Zwecken verwendeten. Es wäre aber schade, wenn die Herren den einen Teil dieser Moral beherzigten (daß nämlich keine Stiftungen den Makel der Herkunft eines Vermögens zu tilgen vermögen), daraus folgernd, daß also die Stiftungen oder doch viele solche, unterbleiben können, ohne daß der andere Teil (daß man nämlich nur auf anständige Art Geld erwerben soll) in ihren Herzen irgendwelche Folgen hätte, außer daß er als „unpraktisch“ bedauert oder – belächelt würde. Viel reinere Freuden noch gewährt ein anderer Kontrast, den wir an dem Gesamtcharakter der nordamerikanischen Nation wahrnehmen, ich meine den Kontrast zwischen den Eigenschaften des Alters und denen der Jugend. Man wird in der nüchternen Verständigkeit, der prosaischen trockenen Berechnung, der Liebe zum Erwerb und zum Gelde, in dem Zurücktreten der Phantasie und der künstlerischen Tendenzen die Merkmale des reiferen Alters erkennen, die der amerikanischen mit den alten Nationen gemeinsam sind und von diesen herstammen, aus denen sie sich zusammensetzt und immer erneuert; und unleugbar treten sie auf dem kolonialen Boden reiner, schärfer und stärker hervor. Aber daneben bringen doch die neuen Lebensbedingungen einige entgegengesetzte Eigenschaften in die Höhe, die wenigstens häufiger vorkommen, als man erwartet, und die den

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National Educational Association: In den USA gab es zwei bundesweite Lehrerorganisationen: die National Education Association (NEA) und die American Federation of Teachers (AFT). Die ältere und größere der beiden Organisationen ist die NEA. Sie wurde 1857 gegründet; in ihr waren noch 2002 75% aller Lehrer an öffentlichen Elementary und Secondary Schools Mitglied.

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Amerikaner, nicht ganz im Sinne unserer alten Kultur, als einen modernen Menschen erscheinen lassen: eine gewisse Jugendfrische und Heiterkeit nämlich, eine, mit dem kenntnisreichen Baedeker zu reden, „eigentümlich vertrauensvolle, unternehmende, kühne Stimmung, von der sich die Nordamerikaner tragen lassen“. Diese Stimmungen und ein glückliches Temperament gehören so zum Grundton des geselligen Lebens, daß der Europäer sich daran erfrischen kann und davon angesteckt wird. (Auch aus diesem Gesichtspunkte ist eine Reise nach den Vereinigten Staaten zu empfehlen.) Unleugbar sind es mehr Eigenschaften des Land- als des Stadtlebens, die uns in dieser humorvollen Gemütsverfassung, in diesem heiteren Selbstvertrauen entgegentreten.

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VI. Und trotz ihrer hochgetriebenen städtischen Zivilisation zeichnet ja eben dies die Vereinigten Staaten aus, daß noch die überwiegende Menge ihrer Bewohner auf dem Lande lebt und ländlichen Beschäftigungen obliegt; daß diese selber vom Geiste des Handels und der Spekulation erfüllt sind, mag uns unsympathisch berühren, obschon die heutige Volkswirtschaft es auch für unsere Landwirte immer mehr notwendig macht; aber wir dürfen nicht übersehen, daß damit auch ein höheres Bildungsniveau nahe zusammenhängt und eine sehr allgemeine Hochschätzung der Bildung; wie immer man darüber urteilen mag, gewiß ist es, daß dies Elemente sind, die den Fortschritt tragen. Der am Herkommen haftende, in unserm vielgefeierten Sinne „historische“ Bauer fehlt in keinem europäischen Lande so vollständig, wie er in Nordamerika fehlt, wo wir ja alles „Historische“ vermissen. Er fehlt mit der Form der Ansiedlung, die bei uns spezifisch mit ihm verbunden ist: dem Dorfe. Überall zerstreute Einzelfarmen; und der Farmer, ob auf eigenem oder gepachtetem Boden, ist seinem Wesen nach wirtschaftlicher Unternehmer. Indem er sich unmittelbar aus dem „Settler“, der den Boden urbar macht, entwickelt, überspringt hier die soziale Evolution eine Kluft von Jahrtausenden in wenigen Jahren oder doch Jahrzehnten; dazu ist der Übergang vom Extreme zum Extrem so viel leichter und rascher als 3

mit Baedeker zu reden: Laut Auskunft des Baedeker-Verlages vom 29. 10. 1998 könne das Zitat nur aus der englischen Ausgabe des Baedeker „United States“ (zuerst 1893) stammen; eine deutsche Ausgabe davon habe es nie gegeben. Das Zitat konnte jedoch auch im Verlagsarchiv nicht ermittelt werden.

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diejenigen Veränderungen sind, die gewissermaßen eine Rückverwandelung bedeuten. Denn ebenso gleichgültig wie der Ansiedler, der gleich einem Nomaden von Stätte zu Stätte zieht, verhält sich der reine Unternehmer wieder zum „heiligen“ heimischen Boden, der nichts als ein Mittel und Werkzeug für ihn ist, er nutzt ihn aus, beutet ihn aus für seinen Zweck, für den Ertrag und den Gewinn. Bekannt und einleuchtend genug sind die Gefahren des „Raubbaus“, und daß hier wie an so vielen Stellen das Interesse der Zukunft mit dem der Gegenwart, das der Gattung mit dem der Individuen kollidiert. Aber für den bei weitem größten Teil des amerikanischen enormen Gebietes sind diese Gefahren in unendlich weiter Ferne; man kann es sich einstweilen leisten, rein im Gegenwärtigen zu leben und es zu genießen. Die Landwirtschaft ist trotz ihrer hohen Technik, trotz der so ausgedehnten und bei der Teuerung menschlicher Arbeitskraft um so mehr notwendigen Anwendung von Maschinen noch in hohem Maße extensiv – um so mehr versteht sich, je weiter man in den wilden Westen geht; denn in den Neuengland-Staaten, um die Großstädte herum, steht ihr eine besonders hohe intensive Wirtschaft gegenüber: Anwendung von Kunstdünger, Molkereien, Gemüse- und Obstbau – die freilich mehr und mehr auch extensiv betrieben werden, der Obstbau bekanntlich auch für den Export nach Europa – charakterisieren diese schon relativ alte Wirtschaft; dicht daneben freilich, d. h. in entlegeneren Gegenden dieser alten Staaten, gibt es auch verlassene, ausgesogene Farmen, die nur noch zu einer kümmerlichen Viehzucht brauchbar sind. Wenn Europa einen Kopf und Verstand hätte, um seine Agrarfragen zu lösen, so würde es seinen alten Kulturboden für alle feineren Spezialitäten des Ackerbaus reservieren und ausbilden (– bei ausgebreitetem Wohnen der Volksmenge wird auch ein immer größerer Teil für Häuser und Gärten in Anspruch genommen werden – die Wohnungsfrage berührt sich mit der Agrarfrage in mehr als einem Punkte); dagegen würde es den noch jungen Boden Rußlands, der Türkei und anderer Gegenden ebenso wie den erschöpften Griechenlands, Süditaliens und Spaniens planmäßig, also auf vorsichtigere und differenziertere Art einer amerikanischen Bearbeitung unterwerfen, die für die Gesamtheit seiner Bewohner das Material einer reichlichen (also „billigen“) Brotkorn- und Fleischernährung hergeben müßte. – Aber Europa ist an seine „Geschichte“ in tragischer Weise gebunden, und hat, ach! nur allzuviele Köpfe und Sinne. Freilich, auch die Vereinigten Staaten beginnen ihre Agrarfrage zu empfinden. Die Schutzzollpolitik kommt dort ausschließlich der Industrie zugute. Die Landwirtschaft ist ja in der Lage, ihrer nicht zu bedürfen. Aber um so mehr muß sie die üblen Wirkungen tragen: die Verteuerung aller industriel-

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len Erzeugnisse des Bedarfs und des Luxus; und für den Betrieb selber ist der Bedarf des Eisens bekanntlich sehr groß, und dieser vorzüglich hat von alters her die Vertreter planmäßig geführter Landwirtschaft dem freien Handel geneigt gemacht. Da ist es nun freilich eine glückliche Fügung, die aus einer Konsequenz der Situation entsprungen ist, daß Amerika selber die landwirtschaftlichen Maschinen besser als ein europäisches Land herstellt, wie es auch selber die wichtigsten erfunden und fortwährend verbessert hat, so daß bis jetzt von einer Konkurrenz des Auslandes nicht die Rede ist. Wird aber dies so bleiben? Wird nicht der zunehmende Export solcher Maschinen die Preise innerhalb der Vereinigten Staaten auf eine schwer erträgliche Höhe hinauftreiben, da auch die innere Konkurrenz durch Vertrustung völlig aufgehoben ist? Naturgemäß hat schon jetzt der Kampf gegen die Trusts seinen Hauptsitz in den agrarischen Staaten; aber der notwendige Zusammenhang der Trustmonopole mit der Tarifpolitik scheint noch nicht der allgemeineren Erkenntnis aufgegangen zu sein. Gute Ernten, die noch mehr als in anderen Ländern drüben die allgemeine Prosperität bedingen, haben in den letzten Jahren den seit 1902/03 drohenden Zusammenbruch der industriellen Hochkonjunktur aufgehalten; sie haben auch bei der Präsidentenwahl sehr stark zugunsten des Helden Roosevelt mitgewirkt; das Gefühl des grenzenlosen Glückes und Gedeihens hatte unüberwindliche Stärke, aber so sehr auch der Amerikaner ohnehin in solchen Gefühlen zu schwelgen neigt, so ist es doch, soweit es durch gelingende Spekulationen, glänzende Geschäfte, steigende Löhne bedingt ist, seiner Natur nach eine temporäre Erscheinung, „das menschliche Geschlecht ist viel zu schwach, in ungewohnter Höhe nicht zu schwindeln“;6 der Schwindel führt zu Falle, die Luftgebäude stürzen mit Krach – die Perioden des 6

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Der Kapitalismus hat sicherlich noch in keinem Lande einen so unsoliden, schwindelhaften Charakter angenommen, wie er in den Vereinigten Staaten offenkundig ist. Eingeständlichermaßen lassen die Gründer der Trusts das Publikum ernorme Summen für Aktien bezahlen, die einen ganz imaginären Wert haben: die Börsenspekulation wird in der Überkapitalisierung vorweggenommen. Im Jahre 1899 wurden neue industrielle Unternehmungen im nominellen Werte von 3593 Millionen Dollars gegründet; davon waren, wie die Gründer dessen kein Hehl hatten, 2354 Millionen spekulativ („simply water“): Noyes in The Economical Review 1905 I. „das menschliche Geschlecht ... nicht zu schwindeln“: Bei Goethe 1889a: 16 („Iphigenie auf Tauris“): „Das sterbliche Geschlecht ist viel zu schwach | In ungewohnter Höhe nicht zu schwindeln“. „simply water“: Fehlerhafte Quellenangabe, der Artikel basiert auf einer Vorlesung, die Alexander Dana Noyes im November 1904 an der Harvard University gehalten

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Auf und Ab, der Flut und Ebbe sind drüben etwas andere als in Europa, sie sind von den Bewegungen der europäischen Volkswirtschaften relativ unabhängig, sie haben ihre eigene Gesetzmäßigkeit, und, wie gesagt, die Ernten gehören zu den ausschlaggebenden Momenten, weit mehr als in Europa; auch der Ausfall der europäischen Ernten wirkt nach drüben hin mächtig zurück; denn je weniger Europa bedarf, desto mehr häuft sich in Amerika der Überfluß und drückt die Preise. Eine minder günstige oder gar ungünstige Mais- und Weizenernte wird in diesem Jahre (1905) oder in einem der kommenden, zumal wenn zusammentreffend mit reichlichen europäischen Ernten, gleichzeitig die Industrit und die Landwirtschaft der Staaten in eine Erschütterung versetzen, von der sie binnen eines Jahrzehntes sich nicht erholen werden. Und dann kann es nicht fehlen, daß Farmer und Arbeiterklasse gemeinsam gegen den Tarif zum Sturme blasen werden. Die inneren Erregungen des nordamerikanischen Volkes nehmen keinen sanften und leisen Verlauf. Eine urwüchsige Roheit und Wildheit tritt nicht selten darin zutage. Sie macht sich Freiheit und Gleichheit zunutze; sie rebelliert gegen den Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Menschen, die ihre Träger sind, um so heftiger, da das Volk nicht nötig hat, einen geborenen oder gekorenen Herrn über sich anzuerkennen. Während die politische Arbeiterbewegung noch in ziemlich geringen, meist durch den Idealismus deutscher Einwanderer hineingetragenen Anfängen steckt, ist die ökonomische Organisation der Arbeiterklasse stark und während des letzten Jahrzehntes immer mächtiger geworden. Zu Gewalttaten und förmlichen Gefechten führen die Riesenstreiks drüben häufiger als irgendwo; im sozialdemokratisch „verseuchten“ Deutschen Reich bekanntlich fast gar nicht. Der Generalausstand der Fleischpacker in Chicago ist noch in frischem Anden-

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hat. Er findet sich im „Quarterly Journal of Economics“ unter „II. Inflated Capitalization, and the Mania of Speculation in 1901“, dort (Noyes 1905: 192): „In the first three months of 1899 new industrial companies, with the total capitalization of no less than $ 1,586,000,000, were incorporated in this country. During the full year 1899 the total rose to $ 3,593,000,000, of which respectable sum $ 2,354,000,000 was the common stock, which by frank confession of promoters, then and afterward, was simply ‘water’“. Anders als die Industriekapitalisten zogen die Finanzkapitalisten ihre Profite aus fremden, bereits bestehenden Betrieben. So wurden z. B. billige Aktien gekauft, untereinander gehandelt, bis die Preise wieder stiegen, und dann endgültig verkauft. Um Cornelius Vanderbilt daran zu hindern, sich in ihre Eisenbahngeschäfte einzumischen, gaben die drei sog. „Räuberbarone“ unter anderem für zehn Millionen Dollar wertlose Aktien der Erie-Gesellschaft aus („simply water“). Industrit: Korrekt: Industrie.

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ken; schon hat sich ein nicht viel geringerer der Kutscher und Fuhrleute daran angeschlossen, der dieselbe Weltstadt erschütterte. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Gegensätze und Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit mildere Formen annehmen werden, wenn einmal für lange Dauer wirtschaftlich schlechte Zeiten über die Union hereinbrechen.

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VII. Das Volk der Vereinigten Staaten würde sich der Verbesserung seiner inneren Zustände mit viel größerem Eifer zuwenden, wenn nicht zugleich mit seinem Eintritt in eine großindustrielle Epoche eine ungeheure Wandlung seiner Interessen und Gesinnungen sich vollzogen hätte: die Ideen des Ruhmes, der Macht, des Imperialismus sind ihm zu Kopf gestiegen und haben das Gros der Nation in einen Zustand des Rausches versetzt. Eine so junge Nation hat besondere Ursache, an dem Wenigen ihrer Tradition festzuhalten, und zu ihrer besten Tradition gehört das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker und der Achtung davor. Die Eroberung und gewaltsame Behauptung der Philippinen ist ein Bruch dieses Prinzips. Die Vereinigten Staaten haben eine verhängnisvolle Bahn damit betreten. Gewiß: in notwendiger Konsequenz der Entwickelung, die sie während des letzten halben Jahrhunderts genommen hatten. Aber diese Entwickelung selber ist voller Übel und Gefahren. Freilich auch hier müssen wir nicht klagen und schelten, sondern deuten und verstehen. Eroberungspolitik wirkt zersetzend auf eine Nation zurück, die nicht um einen sehr festen Kern kristallisiert und nicht gleichsam von Jugend auf darin geübt ist, wozu eine aristokratische Staatsverfassung, wenn nicht Vorbedingung, so doch ein wesentliches Hilfsmittel: Militarismus und Disziplin bedingen einander gegenseitig. Die Vereinigten Staaten sind keine Einheit, die sehr heftigen Erschütterungen dauernd gewachsen sein wird. Vielleicht wird eine Zeit kommen, da der Westen erklären wird, an den kostspieligen Liebhabereien der Oststaaten nicht mehr teilhaben zu wollen. Vielleicht wird innerhalb der Oststaaten selber die Masse des Volkes Rückkehr zu den Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung mit Ungestüm verlangen. Das Anschwellen der inneren Probleme – der Agrarfrage dort, der Arbeiterfrage hier – wird mächtig in diesen Richtungen sich geltend machen. Beide konzentrieren sich um den Kampf gegen die Plutokratie, die das gesamte wirtschaftliche Leben mit den ehernen Reifen ihrer Trusts umschlungen hat. Die Volksmassen, die der produktiven Tätigkeit – in Ackerbau, Bergbau, Industrie und geistiger

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Arbeit – obliegen, werden mehr und mehr als notwendig erkennen, einen übergewaltigen Gegentrust zu bilden, wozu ihnen die politische Verfassung die Handhaben bietet. Sie können sich die Verstärkung der Zentralgewalt nach außen hin gefallen lassen, so lange als sie dazu hilft, eben diese Zentralgewalt nach innen zu verstärken. Denn die Aufgaben des heutigen Staates können die Einzelstaaten nicht erfüllen. Der Gesamtstaat wird wenigstens die bindenden Richtlinien dafür vorschreiben müssen. Die nationale Verfassung wird in einem Sinne interpretiert und amendiert werden müssen, die den tatsächlichen Verhältnissen gerecht wird und der Kapitalübermacht zugunsten der bürgerlichen Gleichheit begegnet. Noch fehlt es in den meisten Einzelstaaten an den elementaren Bestimmungen zum Schutze der Arbeit. Wo solche durchgeführt werden, erklärt das Bundesgericht sie für verfassungswidrig. Wenn der Präsident der Republik mit seinem Kabinett überwiegend die Interessen der Plutokratie nach außen hin vertritt, so wird das souveräne Repräsentantenhaus berufen sein, den Willen der arbeitenden Nation auszubilden und ins Gefecht zu führen. Bis jetzt ist dieses Haus nicht viel mehr als eine Börse. Das Schwergewicht des politischen Denkens und Wollens liegt noch im Senat, dem föderalistischen Körper, aber eines durchaus veralteten, durch tiefeingenistete Korruption vielfach angefressenen Denkens und Wollens. Die Neugestaltung des „Hauses“ – wie die Volkskammer (das Vertreterhaus) kurz genannt zu werden pflegt – wird dem nationalen Bewußtsein erst einen tieferen politischen Inhalt geben. Als einen nächsten und wichtigsten Gegenstand wird es die Notwendigkeit erkennen, nationales Eigentum zu schaffen. Die Nationalisierung – wir sagen „Verstaatlichung“ – der Bergwerke, der Eisenbahnen, der Telegraphen und Telephone wird sogar von der Federation of Labor7, so wenig diese sonst in Sozialismus „macht“, gefordert; sie hat alle zu tieferer Einsicht fortgeschrittenen Nationalökonomen und Soziologen auf ihrer Seite. Ferner wird dies nationale Reformparlament wenigstens die Richtlinien für 7

Sie vertritt die große Masse der amerikanischen Gewerkschaften, wird von dem „konservativen“ Mr. Gompers geleitet, in ihrem Vorstand sitzen zu 9/10 antisozialistische Gewerkschaftsführer: Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Proletariats, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1905, S. 228.

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Federation of Labor: D. i. die „American Federation of Labor“ (AFL), ein 1886 gegründeter gewerkschaftlicher Dachverband; seit 1955 mit dem Congress of Industrial Organizations (CIO) zu einem Bund zusammengeschlossen (AFL-CIO). Samuel Gompers, ihr damaliger Präsident, war ein Anhänger des Berufsgruppenprinzips und Gegner sozialistischer Ideen in der Gewerkschaftsbewegung; siehe dazu Sombart 1905a: 228.



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eine allgemeine Arbeiterschutzgesetzgebung, auch wenn deren Einzelheiten den „Staaten“ vorbehalten bleiben, festlegen müssen. Und unter den ferneren großen Aufgaben, die einem solchen Reichstage gestellt wären, sei nur noch die Reinigung des Augiasstalles hervorgehoben: der durch und durch unsauberen Munizipalverwaltung muß ein Ende gemacht werden. „Die Schande der Städte“ ist ein vielgelesenes Buch betitelt, das diese Greuel, man kann nicht sagen enthüllt, denn sie waren einzeln alle bekannt, aber zusammenstellt und im Zusammenhange schildert. Und eine andere weniger sensationelle Schrift sei hier auch erwähnt, die mit großem Ernst und praktischem Sinne das große Problem wie die Demokratie sich retten könne vor der Korruption, erörtert. 8 Auf dem Grunde genauer Sachkenntnis werden die einzelnen notorischen Übel und die vorgeschlagenen Heilmittel durchgenommen. „Diese Heilmittel sind in letzter Instanz alle bedingt durch eine Umwandelung unserer ethischen Grundsätze.“ Aber es müsse doch begonnen werden mit kleinen und spezifischen Reformen. Über die Ansätze von Reformbewegungen und Programmen gibt das Buch am Schlusse Bericht. In weiten Kreisen hat ein „Munizipalprogramm“ Aufmerksamkeit auf sich 8

Delos F. Wilcox The american city: a problem in democracy. New York, Macmillan 1904 (The citizens library of economics, politics and sociology).

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Augiasstalles: Augias (gr. Augeias) war ein mythischer König von Elis, berühmt durch seinen Herdenreichtum. Den Auftrag, den Stall, in dem der Mist sich seit Jahren aufgehäuft hatte, an einem Tage zu reinigen, erfüllte Herakles, indem er einen Fluss hindurch leitete. ,Die Schande der Städte‘: D. i. eine zuerst als Artikelserie erschienene Darstellung über die erschütternden Lebensverhältnisse und betrügerischen Korruptionsgeschäfte in den Städten der USA, die den „muckraker“, d. h. Mistharker, Lincoln Steffens über Nacht berühmt gemacht hatte: „The shame of the Cities“ erschien 1904 als Buch. Steffens, der zeitweilige Chefredakteur von McClure’s, einem führenden „muckraking magazine“, deckte die Korruptheit der Verwaltungsapparate in den wichtigsten Großstädten der USA schonungslos auf und trug dazu bei, den Weg für politische Reformen in den USA zu ebnen. „Munizipalprogramm“: In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerung der USA verdoppelt, jedoch wuchs die Stadtbevölkerung gleichzeitig um das Siebenfache. Auf Grund zumeist äußerst mangelhafter Infrastrukturen warf das Wachstum der Städte eine Unmenge von Problemen auf. Die Städte bildeten einen ausgezeichneten Nährboden für Armut, Sittenlosigkeit und Korruption. Es gab kaum eine größere amerik. Stadt, die nicht mit politischer Korruption zu kämpfen hatte. Aus den vielen reformerischen Splittergruppen in den Städten, die sich aus dem akademischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich rekrutierten, entwickelte sich um die Jahrhundertwende eine Bewegung mit nationaler Stoßkraft. Tönnies verweist in diesem Zusammenhang auf die zwei



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gezogen, das von einem Siebener-Komitee unter Leitung und auf Anregung des Neuyorker Professors (Columbia Universtiy) Frank D. Goodnow nach zweijährigem Studium des Gegenstandes entworfen und publiziert worden ist. Dies Programm besteht aus zwei Teilen: Zum ersten sind eine Reihe von Zusätzen (amendments) zur Bundesverfassung vorgeschlagen, die zur Aufnahme unter die Grundgesetze der Einzelstaaten geeignet seien. Diejenigen Reformen die nach Ansicht des Komitees vor den Launen der einzelstaatlichen gesetzgebenden Körper sicher gestellt werden müssen, sollen den Grundzügen nach in diesen Verfassungsparagraphen enthalten sein. (Dies ist ganz in dem Sinne, auf den unsere eigene Betrachtung hingelenkt hat.) Zum anderen wird eine Art von allgemeiner Städte- und Fleckenordnung in Anregung gebracht, die geeignet sein soll, von den einzelstaatlichen Gesetzgebungen angenommen zu werden, um jene Verfassungsreformen zu ergänzen und durchzuführen. (Hier wird an europäische, insbesondere deutsche Vorbilder gedacht.) Wird der amerikanische Bürger sich stark und einsichtig genug zeigen, diese Reformen in Angriff zu nehmen? Nach der Ansicht unseres Gewährsmannes hängt die Zukunft der amerikanischen Demokratie davon ab. In der Tat ist es ein Stück Zukunft der Menschheit, das auf dem Spiele steht. Denn die nordamerikanische Nation stellt einen Teil Menschheit dar, der seiner Zahl und seiner Beschaffenheit nach eine unermeßliche, unabsehbare Entwicklung in sich trägt. Und dies ist die unendliche Aufgabe, die der Menschheit immer dringender gestellt wird: daß sie lerne, sich selbst zu beherrschen. Es ist im Grunde auch die „soziale Frage“.

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Programmatiken der „Munizipalisten“. Im Wesentlichen ging es dabei zunächst um die Einrichtung einer weniger korrupten, dafür leistungsfähigen Kommunalverwaltung. Der nächste Schritt galt häufig der städtebaulichen Verbesserung, der Sanierung der Slums, der Vereinheitlichung der Bebauung der einzelnen Straßenzüge, der Einrichtung öffentlicher Gebäude und Parks. Ein weiteres Ziel der städtischen Reformbewegung war es, größere Kontrolle über die städtische Versorgung zu gewinnen, durch Einsetzung von Aufsichtskommissionen oder durch Überführung der städtischen Versorgungsunternehmen in öffentliches Eigentum. Frank D. Goodnow: D. i. Frank Johnson (sic!) Goodnow. zweijährigen … publiziert: Vom Hg. korrigiert, ursprünglich: „weijährigen“ bzw. „publizier“.

Jena und die Humanität Dem Säkulargedächtnis Schillers folgt das Säkulargedächtnis des alten friderizianischen Preußens – ein Todesjahr auch dies, Todesjahr eines berühmten Staates und Heeres, wie jenes eines berühmten Dichters und Denkers. Und – merkwürdig genug – die Stätten beider Ereignisse liegen nicht fern voneinander. Auch an inneren Beziehungen zwischen ihnen fehlt es nicht ganz. Bei Jena-Auerstädt siegte die Revolution. Der Geist der Revolution hatte den Genius Schillers emporgebracht. Er war ein Mitbürger der französischen Republik. Als er starb, hatte er den Glauben an die überlieferten politischen Ordnungen freilich wiedergewonnen. Das alte Reich sah er noch der Vernichtung entgegenwanken. Aber er ahnte nicht, daß ein Jahr nach seinem Tode auch der preußische Staat, der auf den Trümmern dieses Reiches groß geworden war, zusammenbrechen würde. Ein Schicksal von unermeßlicher, widerspruchsvoller, verwickelter Bedeutung. Darf man wagen, es ein Unglück zu nennen? Vor den großen Tragödien der Geschichte muß unser Bedauern und Klagen verstummen, indem wir die inneren, sittlichen Notwendigkeiten erkennen. Gewiß, es war eine furchtbare Niederlage, ein schweres Verhängnis; aber sogar im Leben des Einzelnen wird die bitterste Trübsal oft zu einer heilsamen Krisis. Es ist ein bedenkliches Merkmal unserer Zeit, daß die Blicke und Gedanken der Personen, die ihre Stimme am lautesten vernehmbar machen, mehr an dem Unglück von Jena haften, als an der „Wiedergeburt“, an der Erneue 1

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Jena und die Humanität erschien in: Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 1906, 1. Jg., Nr. 17, 3. Mai, S. 673–679. Der Überschrift folgt: Von Ferdinand Tönnies. Sakulärgedächtnis Schillers: 1905 hatte sich zum hundersten Male der Todestag Schillers gejährt, Anlass zahlreicher Gedächtnisfeiern und Festlichkeiten. friderizianischen Preußens: Napoléon I. hatte am 14. 10. 1806 in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt das mit Russland verbündete Preußen besiegt. Dass Preußen „auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen eingeschlafen sei“, ist eine zum Gemeinplatz gewordene polemische Meinung aus jenen Tagen, welche aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Zusammenbruchs des preußischen Staates Gegenstand zahlreicher Stellungnahmen, Polemiken und Kolportagen war. Hierauf bezieht sich Tönnies und macht deutlich, dass der im späten 18. Jahrhundert in Europa als vorbildlich bewunderte Staat des so genannten „aufgeklärten Absolutismus“ sich der revolutioniären Moderne gegenüber als zur Reform unfähig erwiesen hatte.

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rung Preußens, die von jenem Tage her ihren Ausgang nahm. Bedenklich – bezeichnend. Denn es war das adlige Preußen, das zerschmettert wurde, es war das bürgerliche Preußen, das sich erhob. Die Erhebung geschah mit unverhohlener Annahme der Prinzipien, die vorher in Frankreich gesiegt hatten, eine entschlossene radikale Reform suchte hier in Frieden zu verwirklichen, was jenseits des Rheines die gewaltsame Revolution vorgebildet hatte. Sollten heute die Kreise, die in Preußen und im Deutschen Reiche die maßgebenden sind, altbackener und neugebackener Adel, Linien- und Reserveoffiziere, die zu solchen kostbaren Prädikaten als zu ihrem Ideale emporblicken, lieber bei der bürgerlichen Geburtsstunde als bei der adligen Todesstunde verweilen? Nein! Sie sind gebannt durch die Anschauung des gewaltigen Fingers, der das Mene mene tekel upharsin an die Mauer zeichnete, ihr Blick ruht auf der Richtstätte, die einer grausigen Vollstreckung Schauplatz war. Und ihre bange Frage forscht nach den Gründen, den Ursachen – nach der Schuld. War es etwa ihre eigene Schuld? Die Schuld ihres Geistes oder Ungeistes, ihrer Beschränktheit, ihrer eigennützigen, selbstsüchtigen Gesinnung? Schuld der Fehler oder Mängel, der Verfehlungen und Irrtümer ihres Standes? Welche Selbsterkenntnis würde aus solchem Bekenntnis hervorleuchten! Welche Anerkennung von Tatsachen, die nur allzu offenkundig sind, die von Geschichtschreibern, auch von solchen, die sonst ihre eigenen konservativen, königstreuesten Gesinnungen hoch leuchten lassen, anerkannt wurden, die auf den ehernen Füßen der Wahrheit stehen! – „Die wahre Ursache (der Niederlage) lag ... in der falsch geleiteten Erziehung und Vorbereitung für den Krieg, und in dem unheilvollen Einflusse des Zeitgeistes, in dem Zuge nach Ruhe und Genuß, in der seichten Humanität, die das Kriegerische verwarf und in der Leidenschaft nur Roheit und Mangel an philosophischer Bildung sah.“ So hat nach einer Zeitung, die mit entschiedener Vorliebe für alle Arten von Seichtigkeit eine ebenso entschiedene Abneigung gegen alle Arten von Humanität verbindet (die „Hamburger Nachrichten“ sind gemeint) der kommandierende General des I. Armeekorps, Herr Freiherr v. d. Goltz, vor kurzem bedeu 13 24

Mene mene tekel upharsin: [aramäisch] svw. gezählt, gewogen und zu leicht befunden, vgl. Bibel (Altes Testament, Buch Daniel, Kap. 5, Vers 25). „Die wahre Ursache ... Bildung sah“: Vgl. Goltz (1906: 1): „Die wahren Ursachen lagen in einer falsch geleiteten Erziehung und Vorbereitung für den Krieg und in dem unheilvollen Einflusse des Zeitgeistes ... Und dazu kam der im Aufklärungszeitalter liegende Zug nach Ruhe und Genuß, die seichte Humanität, die das Kriegerische verwarf und in der Leidenschaft nur Rohheit und Mangel an philosophischer Bildung sah!“

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tungsvoll sich ausgesprochen. Ohne Zweifel eine ebenso zeitgemäße wie korrekte und schneidige Ansicht. Etwas deutlicher ausgedrückt könnte sie auch folgendermaßen lauten: Die eigentliche Schuld an der Niederlage des preußischen Heeres trugen die Philosophen und Poeten, Leute wie Kant, Herder, Lessing, Goethe, Schiller, Fichte und die übrigen Verkünder jenes neuen Evangeliums der Vernunft und Humanität. War es nicht der Geist des Unglaubens, der in ihnen lebendig war, und ist nicht die Frömmigkeit, das schlichte Gottvertrauen die schönste Zierde des Soldaten, die allein zum Siege führen kann, wie wir so oft vernommen haben? – Gewiß – hätte nur der feste alte Lutherglaube noch geherrscht in deutschen Landen, friedlich zusammenwirkend mit dem altkirchlich-katholischen Glauben (wenn sie einander gleich in christlicher Liebe, mit Sanftmut und Duldung ein wenig anfechten mochten), einmütig wie beide waren in Verbrennung von Hexen, in Befürwortung der Folter und des Galgens, in schonungsloser Verfolgung der Ketzerei und des Unglaubens, in musterhaftem, streng sittlichem Lebenswandel ihrer Geistlichkeit, sowie der Fürsten und des Adels, die sich nach den Vorschriften und dem Beispiel jener richteten .... ja dann wäre alles anders gekommen – dann ... Kurz, so wie es im siebenzehnten Jahrhundert war in Deutschland, als noch Papismus, Luthertum und Kalvinismus in schöner Eintracht den christlichen Glauben pflegten – um über das bischen 30jährigen Bürgerkrieg schonend hinwegzusehen –, so hätte es bleiben sollen. Das achtzehnte Jahrhundert war ja das Jahrhundert der Aufklärung, der Neologie, des Unglaubens und der Humanität, die das geheiligte Herkommen der Hexenprozesse, der Folter, der Leibes- und Lebensstrafen mit dreister Neuerungssucht bekämpfte – das achtzehnte Jahrhundert trägt die Schuld an Jena, in törichter Einfalt schwärmte es für den ewigen Frieden, da es in der kriegerischen Leidenschaft „nur Roheit und Mangel an philosophischer Bildung sah“. Die Tiefe dieser Betrachtung kann nur richtig gedeutet werden, wenn man sie dahin versteht, daß die seichte Humanität auch das preußische Heer jener Zeit angefressen hatte. „Die im Jahre 1806 in der Armee gebräuchlichen Strafen, Spießruten, Stockschläge, Hiebe mit kleinen mit Draht bezogenen Röhrchen, stammten

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Papismus: [nlat., Lutherzeit]: (abwertend) Papsttum. Neologie: [gr.] hier die aufklärerische Richtung der evangelischen Theologie des 18. Jahrhunderts, die die kirchliche Überlieferung historisch deutete, ohne die Offenbarung selbst zu leugnen. „nur Roheit ... sah“: Vgl. Goltz 1906.

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aus einem früheren Zeitalter her, und standen mit den später entwickelten Sitten und Meinungen in einem schneidenden Widerspruch, der dadurch noch erhöht wurde, daß die Zivilgesetzgebung bereits den größten Teil ähnlicher in ihrem Bereich abgeschafft und die Anwendung der beibehaltenen jedesmal von einem richterlichen Ausspruch abhängig gemacht hatte. Bei dem Militär dagegen war, mit Ausnahme der Spießruten, die körperliche Züchtigung größtenteils der Willkür, der Laune und dem Ermessen des jedesmaligen Befehlshabers anheim gestellt; es konnte einmal ein Diebstahl mit 40 Schlägen, und eine Anzugsunordnung mit 50 bestraft werden. Rücksichtslos züchtigte man den Soldaten auf öffentlichen Plätzen, ja zuweilen reizte die Zahl der Zuschauer den Dünkel eines eitlen Anführers zu einem Mißbrauch des ihm verliehenen Strafrechtes“ ... (viele Offiziere verabscheuten diese gewaltsame Mißhandlung ihrer Untergebenen), „aber sie bildeten keineswegs die entscheidende Mehrheit, die im Gegenteil Gewaltmittel und Willkür als ein wohlerworbenes Recht, als das Palladium des Kriegslebens verehrte.“ (Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Erster Teil [Leipzig 1889] S. 209 f.) Der also schrieb, ein Mann, der mit lebendigem Sinn und Gedanken die Katastrophe und ihre Vorgeschichte erlebt hatte, war offenbar nicht der Meinung, daß zu viel Humanität an dem Unheil jenes Jahres schuld gewesen sei. Bekanntlich war es einer der ersten Schritte der Militärreorganisationskommission, an deren Spitze Scharnhorst stand, das barbarische Strafensystem abzuschaffen, und Boyen, nachher selber Mitglied dieser Kommission, schrieb im Jahre 1808 einen kleinen Aufsatz „Über die Einführung der neuen Kriegsartikel“ für eine ostpreußische Wochenschrift „Der Volksfreund“.1 „Laßt uns den Zeitgeist achten“, heißt es darin, „der zwar nicht im Sturmschritt nach dem Wunsche schwärmerischer Enthusiasten die Menschheit treibt, der aber selbst im Gewühle des Krieges den Sinn für Humanität, mit jedem Jahrhundert fortschreitend, ausbildet! Laßt uns eine Regierung segnen, die mit weiser, uns manchen Sturm ersparender Vorsicht die unvertilgbare Würde des Menschen in jedem Staatsbürger ehrt!“ Allerdings urteilt auch Boyen, dessen Gestalt im Laufe des letzten Menschenalters immer leuchtender als die eines bedeutenden und vortrefflichen

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Sie ist in dem Memoirenwerke als Beilage VIII zum ersten Bande abgedruckt.

2 5 „ über die Einführung der neuen Kriegsartikel“: Vgl. Boyen 1889: 476–480 (Anlage VIII.

Über die neuen Kriegs-Artikel); das folgende Zitat ebd.: 478.

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Mannes hervorgetreten ist, 2 die preußische Armee sei im Jahre 1806 nicht mehr ein eigentliches Kriegesheer gewesen (das. S. 218); sie habe „den Krieg als ihr Ziel aus den Augen verloren, sich nur mit Exerzierspielereien beschäftigt und mit jedem Friedensjahre immer mehr, freilich ohne es zu ahnen, in moralischer Hinsicht von der glorreichen Bahn der Väter sich entfernt, in taktischer Hinsicht ihre Umbildung nach den Bedürfnissen der Zeit verabsäumt.“ Boyen weiß aber von einer anderen Ursache zu berichten, die wenigstens den Hauptmann und Kompagniechef bei der Infanterie, zumal den verheirateten (und das seien die meisten gewesen) „nur mit Schrecken“ an den Kriegsfall denken ließ; sie lag in einem sehr materiellen, allzu menschlichen Verhältnisse seiner ökonomischen Lage; er war auf Nebenverdienst angewiesen und fand diesen in der ihm herkömmlicher Weise überlassenen Ausstattung seiner Leute mit den „kleinen“ Montierungsstücken, die ihm, wie Boyen sagt, „durch unwürdige Plackereyen“ gestattete, sein jährliches Einkommen mit Einschluß des baren Gehaltes wohl auf 1500 bis 2000 Taler zu bringen, „das fiel aber alles weg, sobald es zum Kriege kam; alsdann blieben dem Hauptmann nur 800 Taler Gehalt übrig, von denen er bestimmt noch zur Beschaffung der alsdann teueren kleinen Montierungsstücke zuschießen mußte“ (S. 208). Ohne Zweifel eine recht „materialistische“ Ansicht „der Geschichte“! Gewiß ist für Unkundige und Gedankenlose die Erklärung viel einleuchtender, die „den Zug nach Ruhe und Genuß“ schuld sein läßt, wenn unter Berufssoldaten eine Abneigung gegen Krieg vorhanden war. Übrigens wäre es historisch durchaus irrig, zu meinen, daß die preußische Armee von 1806 widerwillig ins Feld gezogen sei. Das Gegenteil ist wahr; es herrschte eine durchaus kriegslustige Stimmung, und diese wirkte mächtig mit, den unbesonnenen Entschluß zu einem Kriege herbeizuführen, der dem siegreichen Imperator keineswegs willkommen war. „Es war wirklich so weit gekommen, daß das Militär selbst begriff, es sei eine unnütze

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Es war ein Ausspruch Kaiser Wilhelms des Ersten (1871), daß Boyens Verdienste um die Wiederherstellung „leider oft und viel verkannt worden“ seien.

„den Krieg: Zitatbeginn durch Hg. markiert; vgl. bei Boyen (1889: 218): „... daß im Jahre 1806 die Preußische Armee nicht mehr ein eigentliches Kriegs-Heer war; ... Die Armee hatte den Krieg als ihr Ziel aus den Augen verloren, sich nur mit Exerzier-Spielereyen beschäftigt und mit jedem Friedens-Jahr sich immer mehr, freylich ohne es zu ahnen, in Moralischer Hinsicht von der Glorreichen Bahn der Väter entfernt, in Taktischer Hinsicht ihre Umbildung nach den Bedürfnissen der Zeit verabsäumt“. „den Zug nach Ruhe und Genuß“: Vgl. Goltz 1906. „leider oft und viel verkannt worden“: Vgl. ebd.: III.

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Bürde für den Staat, es müsse einmal wieder zeigen, weshalb es vorhanden sei; deshalb wünschte die Armee den Krieg,“ so berichtet ein Zeitgenosse (Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs des Zweiten. Erster Band. 1807. S. 220). Die jüngeren Offiziere begrüßten die kriegverheißenden Befehle des 9. August „mit wahrem Enthusiasmus“. Gardeoffiziere wetzten ihre Säbel an den Steintreppen des Hauses, das der französische Gesandte bewohnte (Lehmann, Scharnhorst I S. 397 f.). Wenn man über die kläglich-feige Gesinnung klagt, die in jener Prüfungszeit den preußischen Namen schändete, so denkt man vor allem an die Übergabe der Festungen, die den Niederlagen folgte. Und es ist wohl reichlicher Grund vorhanden für die Ansicht, daß ein großer Teil des Offizierkorps in Genußsucht und Lastern versunken war, wenn auch von den bitteren Darstellungen, die unter dem unmittelbaren Eindrucke des furchtbaren Mißgeschickes gegeben wurden, einiges abzuziehen sein möchte. „Die häufigen Exzesse,“ heißt es in den „Vertrauten Briefen“ (das. S. 219), „deren sich ganz vorzüglich die Offiziere der Garnison in Berlin schuldig machten; die Studentenstreiche der königlichen Haustruppen ... und so viele Knabenstreiche, deren sich die preußischen Offiziere im vorigen Jahre (1805) in Sachsen schuldig machten; der Übermut, den sie in den Provinzen in ihren Friedensgarnisonen allenthalben zeigten, wo sie mit den anderen Ständen zusammenkamen; ihr unerhörter Müßiggang, ihre Spielsucht, ihr Mangel an allen Kenntnissen, ihre geübte Lasterhaftigkeit, ihre Verschwendung und Schuldenlast, alles dies, was notorisch ist, worüber nur eine Stimme war, begründete das Verderben dieser Stütze des Staats.“ Auch der vorsichtige Boyen erzählt u. a., es seien oft Streitigkeiten zwischen dem Zivil und Militär bekannt geworden, in denen die Offiziere nicht so streng, als sie es verdient, bestraft, hin und wieder sogar durch parteiische Vorgesetzte beschützt waren: „dies erzeugte viel böses Blut in der Nation, ein langer Friede und die dem Kriegerstande mangelnde Gelegenheit, sich durch eigene Taten der Achtung ihrer Mitbürger würdig zu machen, gab dem Ehrenvor-

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„Es war wirklich... Armee den Krieg“: Der anonyme Verfasser ist der preußische Beamte Friedrich von Cölln. Er kam wegen der seit 1806 in meist anonymen Schriften geäußerten Kritik der preußischen Staatsverwaltung 1808 auf die Festung Glatz, von wo er 1810 entfloh. 1811 kehrte er nach Preußen zurück und arbeitete unter Hardenberg. Tönnies nennt fehlerhaft die Seite 220, richtig ist Seite 178 (vgl. Cölln 1807). „mit wahrem Enthusiasmus“: Vgl. Lehmann 1886: 1. Bd., 397. S. 219: Vgl. Cölln 1807: 178 (sic!).

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zuge der Krieger einen einseitigen Standpunkt und unterwarf sie heftigem Tadel“ (a. a. O. S. 214). Und Gneisenau urteilte im Jahre 1807, nichts habe mehr zur Entnervung und Entartung der Völker, über die man klage, beigetragen, „als die stehenden Heere, die den kriegerischen Geist der Völker und ihren Gemeinsinn zerstörten“ (Pertz, Gneisenau I S. 320). Heute weiß man das alles viel besser. Die Untugenden des Soldaten-, insbesondere des Offizierstandes, haben – so scheint man zu meinen – in einem gläubigen Zeitalter, unter frommen Oberbefehlshabern, keinen – oder doch weit geringeren – Spielraum zu ihrer Entfaltung. Generäle wie Leutnants jenes Zeitalters hatten zu gierig aus dem Becher der Philosophie getrunken, sie hatten das Gift der naturalistischen Humanität in sich gesogen, da mußte es natürlich an der rechten soldatischen Leidenschaft, die ihren sanften Sitten als Roheit erscheinen mochte, gebrechen. Sie waren eben sittige, empfindsame, verzärtelte Kinder ihres Jahrhunderts. Der echte rauhe Krieger darf nicht an einem Übermaß moralischer Empfindungen kränkeln; waren diese im Offizierkorps jener Zeit vertreten? so muß man den Zeitgeist dafür verantwortlich machen. Waren die Herren sittenlos, wüst, übermütig? so muß man den Zeitgeist natürlich erst recht dafür verantwortlich machen. Der echte rauhe Krieger ist ein Cato gegen die Lockungen der Sinnlichkeit und „materialistischen“ Üppigkeit. – Von solcher Weisheit werden wir in diesem Gedächtnisjahre noch gar manches zu hören bekommen. Die ihr zugrunde liegende Betrachtung scheitert an ihrer inneren Unwahrheit, an ihrem Widerspruch zu feststehenden, regelmäßigen, gesetzmäßigen Tatsachen nicht. Sie schmeichelt gangbaren und fördersamen Meinungen, sie entspricht der Oberflächlichkeit eines psychologischen Denkens, das über die Zusammenhänge des menschlichen Seelenlebens um so dreister urteilt, je weniger es auch nur von den Schwierigkeiten, diese richtig zu erkennen, eine leise Ahnung hat. In der Tat gehört die Sicherheit, mit der die Gemütsverfassungen und moralischen Neigungen auf die Weltanschauungen der Menschen zurückgeführt, mit der aus dieser umgekehrt Grundsätze und Betätigungen der Lebensführung abgeleitet werden, zu den Tummelplätzen philosophischer Unwissenheit. Wahrheit ist, daß die Menschen von schwachem Charakter, von frivoler Denkungsart, die den Lebensgenuß als Lebensaufgabe betrachten, meistens so wenig um Philosophie als um Religion sich 5 19

Gneisenau I: D. i. “Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau“ (Pertz 1864). ein Cato: Anspielung auf des Römers stete Wiederholung „ceterum censeo Karthaginem esse delendam“ (Karthago muss zerstört werden).

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Jena und die Humanität

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bekümmern, immer aber noch eher mit dieser als mit jener auf gutem Fuße leben und wenigstens mehr von ihr zu wissen pflegen. Mit Bigoterie hat noch keine Art von Schändlichkeit, keine Niedertracht oder Lasterhaftigkeit sich als unverträglich jemals erwiesen. Auch nicht mit Freigeisterei? – Vielleicht ist dem so. Aber die Grenze des Lächerlichen wird überschritten, wenn man den Geist unserer klassischen Literatur für das Betragen einer Klasse haftbar machen will, die wahrscheinlich unter allen Deutschen jener Zeit am wenigsten von ihm berührt war. Nicht in den Junkern, die jene Schmach verschuldet haben, sondern in den Männern, die ihr System umstürzen, denen es gelang, wieder gut zu machen, was jene verdorben hatten, lebte der Geist Kants und Schillers, der Geist der Humanität!

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Bigoterie: Bigotterie, Frömmelei.

Die Diäten-Vorlage Man stelle sich vor, eine patrimoniale Herrschaft, wie sie heute noch in beiden Mecklenburg besteht, werde in einen wirklichen Staat umgewandelt, und eine konstituierende Versammlung entwerfe die Verfassung nach dem allbeliebten „konstitutionellen“ Schema, das ja, wie die Meinung lange gewesen ist und hie und da wohl auch jetzt noch angenommen wird, die Vorzüge der drei Hauptstaatsformen in sich vereinigt. Aber die Versammlung sei beflissen, mit den umfassenden Rechten auch die Pflichten des Monarchen etwas schärfer und strenger zu bestimmen, als es in den bekannteren Verfassungen, auch in solchen, die nicht, wie die preußische, „oktroyiert“ worden sind (und sich also als bloße freiwillige Einräumungen des Monarchen, gleichsam als seine Gnadengeschenke darstellen) zu geschehen pflegt. Sie mögen ihm also auflegen, nicht nur die Kammer persönlich zu eröffnen und zu schließen, sondern auch den Sitzungen eines „Staatsrates“, der für gewisse bedeutsame Angelegenheiten die Haltung des Chefs der Exekutive durch Gutachten beeinflussen soll, in monatlichen Sitzungen zu präsidieren. Auch werde ihm zur Pflicht gemacht, mindestens 200 Tage des Jahres an dem Sitze der Zentralregierung sich aufzuhalten und im Falle einer mehr als vierwöchentlichen Abwesenheit im Auslande für eine gesetzliche

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Die Diäten-Vorlage erschien zuerst in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1906, 6. Jg., Nr. 4, 2. Maiheft, S. 135–138, Fraktur (Tönnies 1906h). Der Überschrift folgt der Zusatz „Von Ferdinand Tönnies (Eutin).“. Der tagespolitische Hintergrund des Aufsatzes war eine Forderung, die mit Ausnahme der Konservativen alle Parteien im Reichstag erhoben hatten: die Einführung von Diäten. Ab 1906 erhielten die Abgeordneten eine jährliche Entschädigung von 3.000 Mark. Das war nicht wenig und wertete die Parlamentarier ebenso auf wie den Reichstag insgesamt (siehe dazu Rauh 1973: 253 ff.). patrimoniale: [lat.] väterlich, ererbt. Im römischen Recht bezeichnet das Patrimonium ein väterliches Erbgut. Das Patrimonialprinzip diente der Rechtfertigung der an das Grundeigentum geknüpften Hoheitsrechte der Gutsherren. beiden Mecklenburg: Das sind die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. „oktroyiert“: [lat.-frz.]: aufgedrängt, eigenmächtig erlassen, z. B. ein Gesetz kraft landesherrlicher Machtvollkommenheit ohne die verfassungsgemäße Zustimmung der Landesvertretung erlassen. Die preußische Verfassung vom 5. 12. 1848 war eine oktroyierte Verfassung, ebenso die österreichische vom 4. 3. 1849.

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Stellvertretung zu sorgen. Nun wird auch eine Summe aus den Staatseinkünften für den standesgemäßen Unterhalt des Fürsten und seines Hofes als „Zivil-Liste“ festgesetzt. Die radikale Versammlung beschränkt diese auf den Betrag, der ihr auszureichen scheint, will aber bei dieser Gelegenheit dem Staatsoberhaupt seine obgenannten Pflichten einschärfen und entwirft zu diesem Behufe folgende Paragraphen: Wenn der Monarch versäumt, Session des Landtages in Person zu eröffnen oder zu schließen, so geschieht ein Abzug von der Zivil-Liste in Höhe von x (z. B. 20 000) Mark. Wenn der Monarch mehr als 165 (in Schaltjahren 166) Tage von dem Sitze der Zentralregierung abwesend ist, so geschieht für jeden Tag seiner Abwesenheit eine Kürzung der Zivil-Liste um x (sage 5000) Mark. Und so für andere Fälle. Was würde man über solche gesetzliche Bestimmungen urteilen? Würde man nicht mit Recht sagen, sie seien unwürdig des Ranges und der Stellung, die dem Fürsten zuerkannt werden sollten, kleinlich und geizig, auch unzweckmäßig, wenn sie dazu dienen sollen, einen Mann, der etwa seinen vornehmen Passionen ergeben, zum Schuldenmachen geneigt sei und ökonomische Rücksichten spießbürgerlich finde, zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Pflichten anzuhalten –? Es handle sich – würde man in entschiedenster Weise geltend machen – um Ehren- und Anstandspflichten, die in ihrer Würde durch so äußerliche, pedantische Auffassung herabgesetzt würden, deren Mißachtung und Verletzung das Ansehen des Trägers höchster Staatsgewalt schädigen, wenn häufig und dauernd, seine Stellung untergraben, Haß und Verachtung auf ihn ziehen, möglicherweise auch die gleichberechtigten Faktoren der Gesetzgebung zu außerordentlichen Maßregeln veranlassen werde, um der öffentlichen Meinung Genüge zu tun. Seinem Wesen nach gleichartig mit einem solchen Gesetze zur Kontrolle des Monarchen ist der Gesetzentwurf über Verleihung von Diäten, in Wahrheit zur Kontrolle der Mitglieder des deutschen Reichstages. Der große Unterschied zwischen diesem und dem vorgestellten Falle ist nur der, daß der Monarch, selbst wenn er wahnsinnig ist und handelt, sehr

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Session: [lat.]: Sitzung, Sitzungszeit, Sitzungsdauer. Bis 1918 bezeichnete die Session im dt. Staatsrecht den Zeitraum, in dem das Parlament bis zur „Schließung“ tätig war. Die in einer Session nicht beendeten parlamentarischen Arbeiten mussten in der neuen Sitzungsperiode wieder von vorn begonnen werden (Diskontinuität). Die Immunität eines Abgeordneten wurde zwischen zwei Sessionen unterbrochen.

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schwer aus seiner überragenden Stellung entfernt werden kann, während ein pflichtvergessener Abgeordneter ziemlich leicht zum Verzicht auf sein Mandat durch den Unwillen seines Wahlkreises oder seiner Parteigenossen genötigt werden kann, sonst aber auf einfache Art dadurch bestraft wird, daß man ihn nicht wiederwählt, daß sogar die eigene Partei seine Kandidatur aufgibt – schlimmsten Falles dauert mithin das Unheil und öffentliche Ärgernis nur wenige Jahre. Bisher ist die Nachlässigkeit der Mitglieder unseres Reichstages, wie Graf Posadowsky jetzt mit der ihn auszeichnenden Sincerität anerkannt hat, entschuldbar gewesen, es war eben nicht jedem zuzumuten, auf eigene Kosten Berlinische Luft zu atmen! Die verbündeten Regierungen selber haben die chronische Beschlußunfähigkeit des Reichstages mehr und mehr als eine Kalamität empfunden. Um ihr abzuhelfen, haben sie ihren Widerstand gegen Gewährung von Diäten aufgegeben. Aber nein – sie wollen nun auch gleich „stets mit einem beschlußfähigen Reichstage rechnen können“ und mißtrauisch, daß die Diäten als solche die Gewähr dafür nicht geben möchten, haben sie gleich um zwiefache und dreifache Garantien sich bemüht. Sie haben dabei vielleicht nicht bedacht, wie wenig Garantien der Reichstag dafür besitzt, daß der Reichskanzler und der Bundesrat ihm gegenüber ihre Pflicht erfüllen, nicht etwa ohne zwingenden Grund ihn vertagen oder auflösen, oder gar trotz verfassungsmäßiger Notwendigkeit ihn nicht einberufen, und nachher einfach um Entschuldigung (Indemnität) bitten, was am Ende ein Abgeordneter, der bei einer namentlichen Abstimmung gefehlt hat, auch noch fertig bringt. Wofür, wenn die Frage erlaubt ist, werden denn der Herr Reichskanzler und die Herren Mitglieder des Bundesrats bezahlt? – Der moderne Parlamentarismus ist gewiß keine ideale Einrichtung, und es würde gewiß lebhafter an seiner Verbesserung und Hebung gearbeitet werden, wenn nicht die politische Theorie, noch mehr als die Praxis, in eine Art von Erstarrung gefallen wäre. Garantien für die moralische und politi-

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Graf Posadowsky: Arthus Graf von Posadowsky-Wehner war seit 1897 Staatssekretär des Reichsamts des Inneren und zugleich Stellvertreter des Reichskanzlers und preußischer Staatsminister (bis 1907). Die sozial‑ und wirtschaftspolitischen Reformen dieses Jahrzehnts tragen seine Handschrift. Sincerität: [frz.] Aufrichtigkeit, Echtheit. Kalamität: [lat.] svw. schlimme Verlegenheit, missliche Lage. Indemnität: [lat.] Nichtahndung, Schadlosigkeit, nachträgliche Billigung eines Regierungsaktes, den das Parlament zuvor (als verfassungswidrig) abgelehnt hat.

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sche Unabhängigkeit des Parlamentariers, seine Integrität und Ehrenhaftigkeit in jedem Sinne, wären nur eine der Vorbedingungen für eine gedeihlichere Entfaltung der gesetzgeberischen Funktionen. So müßte kein direkter Reichs- oder Staatsbeamter, aber auch kein Mitglied des Aufsichtsrats oder der Direktion einer Erwerbsgesellschaft für den Reichstag wählbar sein. Dies wären Minimalforderungen, die noch erheblich verfeinert und erweitert werden könnten. „Diäten“, sagt Dahlmann (Politik S. 170), „verbürgen dem Volke, daß seine Wahlkammer dem bürgerlichen Verdienst auch ohne das Geleit des Reichtums offen steht.“ Sie verbürgen aber nicht, daß das Ehrenamt des Abgeordneten – was es trotz gewährter Entschädigung bleibt und bleiben soll – nicht von minder ehrenhaften Menschen gesucht und ausgebeutet werde für persönliche Zwecke, die mit den Zwecken des Gemeinwohles nichts zu tun haben, ihm vielleicht sogar in der offenbarsten Weise zuwiderlaufen. Unsere politische Bildung ist so unentwickelt, daß nirgendwo ein lebhaftes Bewußtsein von der Absurdität und Unsittlichkeit eines solchen Gebahrens angetroffen wird, so lange die Sache nicht bis zum offenen Skandale gedeiht, was wir in Deutschland glücklicherweise noch vermieden haben. Aber nicht nur in der Ordnung gefunden, sondern ausdrücklich verlangt pflegt von den Mitgliedern des Reichstages zu werden, daß sie für die Sonderinteressen ihres Wahlkreises sich engagieren, obwohl dies dem Buchstaben und Geist der Reichsverfassung schlechthin entgegen ist. Bei alledem dürfen wir uns noch rühmen, einen hohen Begriff von der Staatstätigkeit, von der Gesetzgebung und darum auch von der Würde der Gesetzgeber zu haben, wie wenig auch gar manche Personen diesem Begriffe entsprechen mögen. Graf Posadowsky, der überhaupt bei all seinem redlichen Willen wieder einmal eine etwas ungeschickte Hand bewährt hat, verwies auf das Beispiel der Staatslegislaturen in Nord-Amerika. Wir können sehr viel von den Amerikanern lernen, aber an ihrer Auffassung der Politik und politischen Geschäfte wollen wir uns kein Beispiel nehmen. „Der Staat interessiert nicht mehr die Bürger wie einst“, sagt Bryce in seinem 45. Kapitel gerade in bezug auf die Einzelstaaten und „Die Hauptlektion, 8

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(Politik, S. 170): Vgl. Dahlmann (1835: 170, § 187): „Sie verbürgen dem Volke, daß seine Wahlkammer dem bürgerlichen Verdienst auch ohne das Geleit des Reichthums offen steht.“ Dahlmann war seinerzeit Sekretär der schleswig-holsteinischen Stände, Wortführer der „Göttinger Sieben“, Verfechter der kleindeutschen Lösung und Begründer der preußischen Schule der Historiographie. 45. Kapitel: Vgl. Bryce 1888: 189 (3. ed., 562 f.): „But it does not interest its citizens as it once did“, und weiter, ohne Hervorhebung (S. 190 f.; 3. ed., S. 564): „The chief lesson

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die das Studium der lasterhafteren unter ihnen lehrt, ist, daß Macht nicht notwendigerweise den Sinn für Verantwortung in ihrem Gefolge hat.“ Die Diäten-Vorlage wird in dem Maße Bedeutung für die Würde des Reichstages gewinnen, als sie das Gefühl der politischen Verantwortung zu schärfen geeignet ist. Dafür wird aber am günstigsten sein, wenn sie mit dem Geiste des Vertrauens in persönliche Ehrenhaftigkeit erfüllt wird. Ein fester Betrag für jeden Sitzungstag jedem Abgeordneten, der darauf Anspruch macht – gibt es Abgeordnete, die darauf Anspruch machen, obgleich sie die Sitzung versäumten oder darin geschlafen oder während namentlicher Abstimmungen geschmaust haben – wohl, so kann eine solche öffentliche Selbstcharakteristik von Personen, die gleichzeitig Anspruch auf öffentliches Vertrauen und Ansehen machen, nur erwünscht sein. Wenn der Abgeordnete sich nicht schämt, so wird doch der Wahlkreis sich seiner schämen. Dagegen wäre es nur billig, wenn 1. Nichtresidenten, also solche, die außerhalb der Hauptstadt und ihrer Umgebung wohnen, eine höhere Entschädigung erhielten; wenn 2. denen, die in Kommissionen arbeiten, eine besondere Entschädigung gewährt würde. Und so ließen noch gar manche angemessene Einzelheiten sich festsetzen. Der Entwurf, so wie er ist, taugt nichts. Durch den grotesken Eingriff in das Recht des Reichstages, seine Geschäftsordnung durch eigenen Willen festzusetzen – ein Recht, das er bestehen läßt und bestehen lassen muß –, stellt er sich sogar als verfassungswidrig dar und hätte ohne Kommissionsberatung von der Schwelle zurückgewiesen werden sollen.

which a study of the more vicious among the State legislatures teaches, is that power does not necessarily bring responsibility in its train“.

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Das Wandern Soziologische Skizze

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Das Wandern: Der Text erschien erstmals in der Zeitschrift „Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustrirtem Anzeiger für Kontor und Bureau“, Mai 1906, 2. Jg. (Tönnies 1906i: 6–9). Er wurde wieder abgedruckt in den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Tönnies 1926: 1–9); sie erscheint somit in TG 17; siehe auch den Editorischen Bericht zu „Verkehr und Transport“, S. 574.

Das Reisen Soziologische Skizze

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Das Reisen: Der Text erschien erstmals in der Zeitschrift „Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustrirtem Anzeiger für Kontor und Bureau“, Juli 1906, 2. Jg. (Tönnies 1906j: 31–35). Er wurde wieder abgedruckt in den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Tönnies 1926: 9–18); sie erscheint in TG 17; siehe auch den Editorischen Bericht zu „Verkehr und Transport“, S. 574.

Politische Stimmungen und Richtungen in England

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Kein Besucher, der eine gehörige Zeit in diesem Inselreiche verweilt, wird sich leicht dem Eindrucke der Größe und Kraft des englischen Wesens entziehen können, Deutsche, die unbefangen zu sehen und zu urteilen vermögen, habe ich immer von diesem Eindruck erfüllt, nicht selten davon überwältigt gefunden. Es ist die konzentrierte Stärke und die wenig durchbrochene Kontinuität des historischen Lebens, was dieser Nation und ihrer Hauptstadt einen so imposanten Charakter verleiht. Wieder und wieder wird man davon ergriffen und meint man etwas von der unverwüstlichen Frische zu empfinden, die diesem stolzen Volke eigen ist; auch wenn man nicht mehr geneigt ist – wie unsere Urgroßväter es waren – seine politische Erbweisheit schlechthin zu bewundern. Ich habe dieses Land zuerst vor 28 Jahren aus eigener Anschauung kennen gelernt und später oft von neuem besucht. Es ist mir vertraut geworden. In diesem Jahre bin ich gekommen, um einem Kongreß beizuwohnen, den das internationale Institut für Soziologie (das in Paris seinen Sitz hat) hierher nach London berufen hatte (3.-6. Juli), auf die Einladung der vor 3 Jahren begründeten englischen soziologischen Gesellschaft, deren erster Präsident der gegenwärtige Minister für Irland, James Bryce, gewesen ist. In der Tatsache dieses Kongresses ist etwas enthalten, was für die Veränderungen bezeichnend ist, die in diesen 3 Jahrzehnten das „alte“ England an 1

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Politische Stimmungen und Richtungen in England erschien zuerst in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1906, 6. Jg., Nr. 9, 1. Augustheft, S. 337–343 (Tönnies 1906k). Der Überschrift folgt der Zusatz „Von Ferdinand Tönnies.“. Institut für Soziologie: Das von frz. Sozialwissenschaftlern 1893 gegründete „Institut International de Sociologie“ ist die älteste kontinuierlich existierende Soziologenvereinigung. Im Gegensatz zur größeren „International Sociological Association“ wurde man beim ‚Institut‘ nur auf Einladung Mitglied. Tönnies war seit 1894 Mitglied, ab 1899 Vizepräsident. Er hat ausführlich über den Gründungskongress des ‚Institut‘ in der Wochenschrift „Die Zeit“ (27. 10. 1894) berichtet; erneut in seinen „Soziologischen Studien und Kritiken. Erste Sammlung“ (1925: 127–132, jetzt in TG 15: 197–204). englischen soziologischen Gesellschaft: Sie wurde am 20. November 1903 gegründet. Tönnies war korrespondierendes Mitglied. Wiederholt hat er über sie berichtet, ausführlich in Schmollers Jb. (Tönnies 1904a), gekürzt in den von Francis Galton herausgegebenen „Sociological Papers“ (Tönnies 1905r: 287–288); siehe dazu hier S. 362.

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seinem Leibe und in seiner Seele erfahren hat. Die englische Bildung ist zusehends internationaler geworden. Besonders merkbar ist dies an dem außerordentlichen Wachstum der Bekanntschaft mit unserer deutschen Sprache und Literatur, sogar mit unseren sozialen und politischen Zuständen. Lange vorher reiste der reiche und wohlhabende Engländer viel auf dem Kontinent; er sah sich die Merkwürdigkeiten an, genoß Klima und Landschaft, und, in seine Heimat zurückgekehrt, durfte er sich dem angenehmen Bewußtsein hingeben, daß der wahre „Komfort“ im Auslande wenig bekannt und kaum für schweres Geld zu haben sei. Wenn er auch manches mitbrachte und gelernt hatte (auch „ein bischen französisch“), so blieb er doch in seinem Fühlen und Denken ganz derselbe, der er gewesen war; das Ausländische konnte ihm nicht unter die Haut dringen. Heute ist das viel anders geworden. Nicht wenige Männer begegnen uns, die als Knaben deutsche Schulen besucht, als Jünglinge zu den Füßen deutscher Professoren gesessen haben. Auch in Frankreich und Italien sind manche nicht bloß auf flüchtiger Reise, sondern zu dauerndem Aufenthalt gewesen. Das junge England ist nicht mehr so selbstgenügsam, es beginnt ein europäisches Bewußtsein zu erwerben und zu dessen Ausbildung mitzuwirken. Dies junge England hat den Kampf der letzten Parlamentswahlen so glänzend geführt und gewonnen. Es hat, wie man sich wohl ausdrückt, „die erste demokratische Regierung“ konstituiert, die je in diesem Lande war, es ist sich seiner großen Ziele bewußt, als solcher, die nicht diesem Lande allein, sondern die dem ganzen Europa gestellt sind, das endlich zur Erkenntnis gelangen muß, daß nur eine planmäßige Anwendung wissenschaftlichen Denkens auf Gesetzgebung und Regierung den unermeßlichen Übeln zu wehren vermag, die sich im Gefolge unserer technischen Fortschritte überall angehäuft haben und ihrer ferneren Vermehrung sicher sind. Es ist nicht eine Änderung der Regierungsform, mit ihren unvermeidlichen Stürmen, Verwilderungen, Reaktionen, wonach der radikale, aber vernünftige Reformer sich sehnt. Diese Form steht in der Hauptsache fest. Das Haus der Gemeinen, das den nationalen Willen ausdrückt, ist die souveräne

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Parlamentswahlen: Im Dezember 1905 war das Kabinett Balfour zurück getreten, denn die Unterhauswahl von Januar 1906 hatte, nach einem Jahrzehnt konservativer Regierungen, zu einem überwältigenden Sieg der liberalen Partei mit Henry Campbell-Bannerman geführt, die sich einem sozialpolitisch aufgeschlossenen New Liberalism verpflichtet fühlte. Haus der Gemeinen: Das brit. Parlament ist ein Zweikammerparlament. Die Mitglieder des Oberhauses (House of Lords) werden nicht gewählt, sondern ernannt, bzw. die Mit-

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Körperschaft. Der König, der nominelle „Souverän“, kann am wenigsten einen Zweifel darüber hegen, er müßte denn von Geistesschwäche befallen werden, wovon der gegenwärtig regierende Fürst sicherlich weit entfernt ist. Das allgemeine Wahlrecht ist im Prinzip etabliert, wenn auch nicht völlig durchgeführt: nicht unwahrscheinlich ist, daß bald das Proportionalsystem hineingefügt wird – ob auch die Frauen politische Mündigkeit erwerben sollen, ist eine Frage, die gerade in jüngster Zeit zu turbulenten Erörterungen geführt hat; daß die Anerkennung ihres Rechtes eine unvermeidliche Konsequenz der sozialen Entwickelung und der politischen Gleichheit ist, die man auf die Dauer so wenig wie die bürgerlich-rechtliche der Frau verweigern könne, wird von ganz besonnenen und nüchternen Leuten anerkannt. Hingegen sehen solche keinen Gewinn in der Beseitigung der Monarchie, wie sie sich hier als eine mehr zu nützen als zu schaden fähige Institution entwickelt habe. Wenn auch der erbliche Charakter dieser Würde schwerlich in zureichender Weise begründet und gerechtfertigt werden könne, so läßt man doch gelten, daß er manche Vorzüge für sich hat, und will jedenfalls gern einer späten Nachwelt die Sorge überlassen, etwaigen Unzuträglichkeiten, die sich ergeben möchten, abzuhelfen; mit Recht betrachtet man es als einen glücklichen Fall – trotz des Schadens eines langen Kronprinzentums –, daß der gegenwärtige Herrscher in gereiftem Alter seinen Thron bestiegen hat. Trotz aller üblen Nachrede, die dem Prinzen von Wales nicht erspart wurde, ist man mit König Eduard recht zufrieden. – Etwas anders sind die vorherrschenden Stimmungen gegen das Haus der Lords, der „erblichen

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gliedschaft im Oberhaus, die Peers-Würde, wird ererbt. Die klassischen Parlamentsaufgaben – Gesetzgebung, Wahl der Regierungschefs, Kontrolle der Regierung und öffentliche Thematisierung politischer Probleme als Forum der Nation – fallen in den Zuständigkeitsbereich des von der Exekutive dominierten Unterhauses (House of Commons). Bis weit in das 19. Jahrhundert setzte sich das Parlament fast ausschließlich aus Adligen zusammen. Im Oberhaus saß die aristocracy; im Unterhaus saßen Angehörige der gentry. gegenwärtig regierende Fürst: D. i. Eduard VII. aus dem Hause Windsor (damals: Sachsen-Coburg-Gotha), König von 1901–1910. im Prinzip etabliert: Erst 1918, durch den Representation of the People Act, wurden alle erwachsenen Männer wahlberechtigt. Die traditionelle Verbindung von Wahlrecht und Eigentum war dadurch aufgehoben. Zugleich erhielten Frauen, die älter als 30 Jahre waren, das Wahlrecht. 1928 wurden auch erwachsene Frauen unter 30 Jahren wahlberechtigt. Das Schwergewicht des politischen Systems hatte sich endgültig vom Land auf die Stadt verlagert. Stimmungen gegen das Haus der Lords: Die Eingriffsmöglichkeiten des House of Lords wurden erst durch den Parliament Act von 1911, den die liberale Regierung Asquith wegen der Blocktaktik des Oberhauses bei wichtigen Gesetzgebungsmaßnahmen durchsetzte, erheblich eingeschränkt.

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Gesetzgeber“ beschaffen. Schon vor 20 Jahren hörte ich einen angesehenen Mann, der etwa auf dem Standpunkt unserer Nationalliberalen stand (er trennte sich damals von Gladstone und ging mit den liberalen Unionisten), sagen: „Wir könnten uns ohne sie behelfen“ („We can do without them“). Und so denkt wohl heute im allgemeinen die junge Welt, die in der Politik „auf hoher See“ fährt. Eben in diesem Augenblicke erinnert man sich mit Unbehagen daran, daß das neue Unterrichtsgesetz mit seinen Bestimmungen zugunsten der freien Kirchen und eines prinzipiell unkonfessionellen Religionsunterrichts, nachdem es alle Klippen des Unterhauses passiert haben wird, von jener starren ständischen Kammer zu Falle gebracht werden kann, und man bereitet sich auf die Frage vor, wie dieser Hemmung werde zu begegnen sein. – Durch einen „Peersschub“? Die Regierung kann ja so viele Barone kreieren, wie ihr beliebt, und hat schon einen kleinen Anfang damit gemacht; aber die Tory-Majorität im Oberhause ist so stark, daß es kaum angehen würde, so viele zuverlässige Männer zu finden, die jene kostspielige Ehre auf sich zu nehmen bereit wären, eine Ehre, die gerade politisch Ehrgeizigen nicht erwünscht sein kann; denn sie sind dadurch für immer von der maßgebenden Körperschaft (den Commons) ausgeschlossen – so daß die Erhebung wie eine Strafe und Kaltstellung wirken kann. Reform des Oberhauses steht seit lange auf der Tagesordnung; einer der einflußreichsten liberalen Peers, Lord Rosebery, ist dafür eingetreten; die gegenwärtige Regierung ist radikaler als er, die meisten ihrer Mitglieder würden die Abschaffung

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Gladstone: William Ewart Gladstone wurde am 1. 2. 1886 für knapp 6 Monate zum dritten Mal brit. Premierminister, 1892–1894 dann erneut. liberalen Unionisten: D. i. der rechte Flügel der Liberalen unter Lord Hartington, der sich 1866 von Gladstone lossagte, weil dieser Irland die innenpolitische Selbständigkeit (home rule) gewähren wollte und sich mit den Konservativen verband. Zu diesen Liberalen Unionisten gehörte auch ein Teil der Radikalen unter dem ehemaligen Kolonialminister Joseph Chamberlain. Sie verschmolzen 1912 mit den Konservativen zu einer Partei. „Peersschub“: Die Liberalen sahen sich trotz des großen Wahlerfolgs bei der Verwirklichung ihres Gesetzgebungsprogramms durch die Opposition des ganz überwiegend aus konservativen Peers gebildeten House of Lords behindert. Ein „Peers-Schub“, also die gleichzeitige Ernennung einer größeren Anzahl von Peers, war ein Mittel zur Veränderung der Mehrheitsverhältnisse. Die Drohung damit führte 1911 unter Georg V. schließlich zum Parliament Act (s. o.). Tory-Majorität: Die Tories waren ursprünglich die Gegner des „Langen Parlaments“ und der Republik, dann die königstreue Hofpartei. Ihr Kern war der kleine Landadel. Die Parlamentsreform von 1832 bewirkte die Überführung der Tories in die konservative Partei.

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jenes „Areopags“ (wenn man die Lords dafür nehmen will) keineswegs für ein Unglück halten. Und doch, es ist nichts dergleichen auf der Tagesordnung. Es hat sich eine praktische Übereinstimmung gebildet, daß alle, auch die tiefgehendsten Reformen bessere Chancen des Gelingens und der Dauer haben, wenn an den Formen der Verfassung nicht gerührt wird, wenn sie auf dem Wege des hergebrachten Staatsrechtes ins Leben treten. Aber auf Reformen hin, auf soziale Reformen, ist das neue Parlament gewählt. Liberale und Arbeiterpartei sind Hand in Hand gegangen. Der alte Sozialdemokrat John Burns hat das wichtige Amt des Präsidenten der Kommunalverwaltung inne. Zwar verleugnen ihn seine ehemaligen Genossen; aber die Masse der Arbeiter weiß, daß sein Herz für sie schlägt, sein Kopf für sie denkt. Auch hinter den meisten liberalen Abgeordneten steht die geschlossene Phalanx der Gewerkschaften. Die Besteuerung des Grund und Bodens nach seinem wirklichen und reinen Werte, wovon die „Bodenreformer“ hier wie bei uns so große Wirkungen erwarten, ist als ein Stück des liberalen Programmes auch vom gegenwärtigen Premierminister anerkannt. Es darf erwartet werden, daß diese hochbedeutsame Frage im Laufe der nächsten Jahre zu heftigen Kämpfen führen wird. Ein Memorandum liegt vor mir (es hat noch privaten Charakter), das die Grundzüge eines Gesetzentwurfes enthält, der bestimmt ist, eine staatliche Grundsteuer, in Höhe von 1 d auf 1 £ (= ca. 0,8 %), im vereinigten Königreich einzuführen. Da die Grundrente eines Jahres auf ungefähr 200 Millionen Pfund geschätzt wird, eine Summe, die auf der Basis von 4 % kapitalisiert, den Betrag von 5 Milliarden Pfund Sterling (= 102 Milliarden Mark) ergeben würde, so wird ein Steuerertrag von über 20 Millionen Pfund von dieser einschneidenden Maßregel erwartet. Ihre Notwendigkeit wird hauptsächlich begründet durch die Tatsache, daß die ärmeren Gemeinden und Bezirke zu schwer belastet sind mit Kommunalsteuern, unter denen die Armenlasten am empfindlichsten drücken, und daß ein Ausgleich notwendig ist, wie er schon jetzt durch fortgesetzte Beihilfen aus der Staatskasse in unzulänglicher Weise geleistet werde. Der Ertrag der Grundsteuer soll in erster Linie an die Stelle dieser Beihilfen treten, um nicht mehr bloß gelegentlich zu wirken, sondern prinzipiell der Erfüllung von Aufgaben zu dienen, die zwar noch kommunaler Verwaltung unterstehen, in Wirklichkeit aber staatlicher Natur seien, als Unterrichtswesen, Armenwesen, Landstraßen erster Klasse. Der Ertrag würde aber ausreichen, um darüber hinaus die Kom 1

Areopags: Anspielung auf einen Hügel in Athen westlich der Akropolis, auf dem der nach ihm benannte Alte Rat, das höchste Gericht der antiken Polis Athen, tagte.

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munalsteuern allgemein zu erleichtern, namentlich die Gebäudesteuer und diejenige, wodurch Melioration des Bodens (improvements) belastet wird. Ja, die Meinung ist, es werde sich noch ein Teil des Ertrages für die Altersversorgung der Arbeiter (old age pensions), die seit Jahrzehnten in den Lüften schwebt, verwerten lassen. Der Plan hat große innere Schwierigkeiten, besonders die Frage, von wem die Steuer erhoben werden solle: vom Eigentümer oder vom Pächter resp. Mieter. Der Entwurf will sie direkt vom Eigentümer erheben, weil die bestimmte Absicht ist, ihn und ihn allein zu treffen; besonders (versteht sich) den Spekulanten, der jetzt sein Land liegen läßt und nur für den Wert, den es als Ackerland hat, Kommunalsteuern zahlt, die noch dazu durch ein Gesetz der letzten Regierung eine Reduktion auf die Hälfte erfahren haben. Aber es gibt keine Grundbücher in England, außer für den Besitzwechsel der letzten Jahrzehnte, und es wird oft kaum möglich sein, den wahren Eigentümer zu entdecken. Der Entwurf ist mit einem Schema verbunden, das die Anlage einer Art von allgemeinem Grundbuch erleichtern soll. Eine fernere Schwierigkeit liegt aber darin, daß regelmäßig alle Pacht- und Mietkontrakte die Klausel enthalten, alle Staats- und Kommunalsteuern seien vom Pächter resp. Mieter zu tragen. Der Entwurf will für das Übergangsstadium der Dauer bestehender Kontrakte dem Eigentümer ein Recht geben, wenigstens den Teil der Steuer, der dem Interesse des Pächters oder Mieters entsprechen möchte, auf diesen abzuwälzen. Offenbar ist dies ein sehr schwacher Punkt des Entwurfes, der für die fernere Zukunft alle solche Abwälzung unmöglich zu machen gedenkt. Ohne solche Übergangsmaßregel aber läge ein noch viel schwererer Eingriff in erworbene Rechte vor. Die eine wie die andere Alternative wird schroffem Widerstande begegnen. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken –.“ Indessen, selbst wenn erst nach 20 bis 30 Jahren, nachdem in dieser Zwischenzeit mehr zwingendes Recht für alle Pacht- und Mietsverträge geschaffen worden, eine Steuer wie die geplante Grundsteuer ins Leben treten sollte, so würde sie unermeßliche Bedeutung gewinnen können. Sie würde so etwas wie eine „Lastabschüttelung“, wie man einst die Gesetzgebung des Solon nannte, in sich tragen, die Befreiung der Nation von den

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„leicht beieinander wohnen die Gedanken –.“: Wallenstein in Schillers „Wallensteins Tod“ (II,2 1872a: 243): „Leicht bey einander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“. Solon: Der athenische Staatsmann vermittelte erfolgreich in den sozialen und politischen Kämpfen zwischen dem Adel und den in Schuldknechtschaft geratenen Bauern (‚solonische

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Privilegien einer sehr kleinen Minderheit, die das Privateigentum in seiner monopolistischen Form am schärfsten als Ausartung einer ehemals so viel allgemeineren und daher wohltätiger wirkenden Institution erkennen läßt. Gerade in diesen drei Reichen – England, Schottland und Irland – ist dies, nachdem von einem unabhängigen Bauernstand nur geringe Reste geblieben sind, in einer handgreiflichen und unmittelbar zu den Gefühlen sprechenden Weise der Fall. (Die Peers, ungefähr 600 insgesamt, haben weit über 1/5 des gesamten Landes inne, ca. 7400 Personen sind Eigentümer der Hälfte, während die andere Hälfte auf nicht viel mehr als 300 000 verteilt ist.) In Deutschland wird öfters von den Anhängern unseres verdienst- und erfolgreichen Herrn Damaschke geltend gemacht, die Ursache, weshalb die Sozialdemokratie keinen breiten Boden unter den britischen Arbeitern finde, liege daran, daß diese durchweg Anhänger der Lehren Henry Georges, d. h. der Nationalisierung des Grund und Bodens seien. Dies ist nun freilich nicht ganz richtig. Die Arbeiter als Masse sind hier noch weniger als bei uns in der Lage, sich viel mit Theorien abzugeben. Die es aber tun, werden sich nicht lange, zumal in bezug auf die Eigentumsfrage, mit einer Lösung begnügen, die ihnen leicht dargestellt werden kann als mit dem Charakter der Halbheit und damit zugleich der Ungerechtigkeit gegen eine Klasse von Eigentümern zugunsten der anderen behaftet. Daß der Zins vom Darlehn, der Dividendenprofit von der Aktie mehr Recht auf Dasein haben als die Rente vom Grund und Boden, wird denen nicht leicht einleuchten, die sich unmittelbarer, nämlich in ihrer eigenen Funktion als Produzenten, wo es sich darum handelt, zu erwerben, nicht auszugeben (was für die Vorstellung immer sekundär bleibt), ich sage die unmittelbarer sich der ersteren als der letzteren Form des arbeitslosen Einkommens gegenübergestellt finden. Die Bewegung gegen die Grundrente hat ihre Wurzel im Schoße der „Mittelklasse“, wie sich das Bürgertum in England zu nennen pflegt, und zwar in dem am meisten gebildeten Teile. Diese finden im allgemeinen keinen Grund, in die Richtigkeit des kapitalistischen Systems als eines ganzen starke Zweifel zu setzen, oder glauben wenigstens, daß ein anderes System

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Reformen‘ 595/94 v. Chr.). „Die Lastabschüttelung“ (gr. σεισάχϑεια, Seisachtheia) war in diesem Zusammenhang von ihm veranlasster allgemeiner gesetzlicher Schuldenerlass. Damaschke: Adolf Damaschke war Führer der dt. Bodenreformbewegung und suchte unter dem Einfluss Henry Georges die soziale Not durch Beschränkung (nicht durch Aufhebung) des privaten Bodeneigentums zu überwinden. Henry George: Der einflussreiche amerik. Volkswirt forderte die Aufhebung des privaten Grundeigentums bzw. die Besteuerung der Grundrente.

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praktisch undurchführbar sei, daß dem Kapital die Funktion Arbeit zu organisieren und zu dirigieren notwendig zukomme; daß die Chancen des Verlustes denen des Gewinnes immer gegenüberstehen, und daß ohne das Risiko des Unternehmers kein Fortschritt möglich sei. Aber ihnen erscheint im Gegensatze zum tätigen, oft sich aufreibenden Geschäftsmann die Klasse der Grundbesitzer als eine schlechthin müßige Klasse, der alle tätigen Klassen, Farmer und Tagelöhner, Fabrikanten und Fabrikarbeiter einen ungeheuerlichen und beständig, wenn auch mit Unterbrechungen, anwachsenden Tribut zu zahlen genötigt seien. Schon weil die Bewegung eine wesentlich städtische ist, richtet sie sich vorzugsweise gegen das städtische Bodeneigentum, an dem auch das „unverdiente Wachstum“ der Rente am deutlichsten und am drückendsten sich fühlbar macht. Die Schwierigkeit, einen eigenen häuslichen Herd – mit bequemer bürgerlicher Ausstattung nach englischen Gewohnheiten – zu begründen, ist, auch für den gutbezahlten Mann zwischen 30 und 40 Jahren, enorm, zumal in einer Stadt wie London, und doch ist dies schon ein recht verspätetes Heiratsalter. Immer weiter in die Peripherie hinausgedrängt werden die Wohnungen; um so mehr, da die Sitte in eigenen Häusern zu wohnen, mit achtungswerter Zähigkeit festgehalten wird; und wo die Grundrente nicht unmittelbar unter dem Drucke sich verdichtender Bevölkerung steigt, da steigt sie wegen der landschaftlichen Schönheit und anderer Annehmlichkeiten, die sie gerade für die Zahlungsfähigeren erwünschter machen. Sie steigt unter allen Umständen mit fortschreitender Volkswirtschaft; das Angebot des Bodenraumes steht seiner Natur nach immer in einem bestimmten Verhältnis zur Intensität des Gebrauches und ist in diesem Verhältnis notwendigerweise begrenzt: der Bodenbesitz ist und wirkt monopolistisch. Monopol bedeutet Zwang – es ist der Geist der bürgerlichen Freiheit, der sich dagegen empört. Und auf alle Fälle wird durch die Energie, womit der fortgeschrittene Liberalismus in Großbritannien sich für die Bodenreform engagiert hat, sein Zusammengehen mit der Arbeiterpartei außerordentlich erleichtert. Der Arbeiter bemerkt, daß der Bürger die sozialen Übel auch auf sich lastend fühlt, und daß er sie an dem Punkt anzugreifen entschlossen ist, wo ihr Kern liegt, nämlich beim Privateigentum an einem der wesentlichsten Mittel der Produktion und der produktiven und unproduktivem Konsumtion, an der eigentlichen Grundbedingung des Lebens (im Englischen wird Wohnen und Leben mit dem gleichen Worte bezeichnet!), die – so wird laut verkündet – wie die Luft und das Licht frei sein sollte für jedermanns Gebrauch!

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Die Engländer sind gewohnt, ihre Probleme mit Energie anzufassen und mit Zähigkeit festzuhalten, bis zu einer Durchführung, die den öffentlichen Geist im großen und ganzen zufriedenstellt. Nicht wenig läßt sich zugunsten der Erwartung sagen, daß sie auch mit den Problemen der sozialen Frage, je mehr sie in das Denken des Volkes eindringen, nachhaltiger und bewußter so verfahren werden, als andere Nationen. Mit einer Fabrikgesetzgebung in großem Stile haben sie inmitten der Herrschaft des sog. Manchestertums ein Vorbild für Europa gegeben. Sie beruhte noch ganz auf dem alten Gegensatze innerhalb der besitzenden und herrschenden Klassen, der durch die Parteinahmen Tory und Whig bezeichnet wurde. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit hat sich sehr langsam an die Stelle geschoben, und dieser Vorgang ist noch unvollendet; so stark auch seine ökonomische Bedeutung lange gewesen ist, seine politische Entfaltung ist noch in den Anfängen. Unabhängig denkende Politiker und Philosophen erkennen aber mehr und mehr, daß das Schicksal der Nation an das fernere Aufsteigen der Arbeiterklasse geknüpft ist; daß der soziale Ausgleich die unweigerliche Konsequenz, weil die latente Voraussetzung, der bürgerlichen und politischen Gleichheit sein wird, und daß die Idee dieser Gleichheit unwiderruflich ist.

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Fabrikgesetzgebung: Tönnies zielt auf die zwischen 1833 und 1872 erlassenen Factory Acts, auf den „Factory Acts Extension Act“ und „Workshops’ Act“ sowie auf deren Kodifikation im „Factory and Workshop Act“ von 1878. Manchestertum: D. i. jene Richtung des wirtschaftlichen Liberalismus, die für unbedingten Freihandel und schrankenlose Wirtschaftsfreiheit eintrat. Der Name geht auf die Stadt Manchester zurück, deren Handelskammer mit der von Richard Cobden und John Bright geführten Manchesterpartei, gestützt auf die Anti-Corn-Law League, 1838 bis 1846 erfolgreich gegen die Getreidezölle kämpfte. Die Manchesterpartei ging 1859 mit der liberalen Partei eine dauernde Verbindung ein. Whig: Die Whigs vertraten in der „Glorreichen Revolution“ von 1688/89 erfolgreich das Widerstandsrecht gegen monarchische Willkür, brachten 1714 mit Georg I. das Haus Hannover auf den britischen Thron und stellten danach für lange Zeit den Premierminister. Aus den Whigs um Charles James Fox entwickelte sich später die moderne britische Liberale Partei. Die Whigs, die ihre Unterstützung vornehmlich bei einer Gruppe großer Landbesitzer, beim Handel und in freikirchlichen Kreisen fanden, standen für die Rechte und Machtansprüche des Parlaments, die Tories für die Rechte der Krone. Nach der endgültigen Lösung der dynastischen Thronfolge zugunsten der Hannoveraner verloren die Gegensätze zwischen Whigs und Tories allmählich einen großen Teil ihrer früheren Bedeutung.

Moralische Gedanken eines Weltmanns Es sind die Narren und die Schurken, welche machen, daß die Räder der Welt sich drehen. Sie sind die Welt. Die wenigen, die Verstand oder Ehrlichkeit besitzen, wandeln vereinzelt ihre Straße, sind aber niemals herdenweise anzutreffen.

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Wenn man die Menge der Regeln und Vorschriften ansieht, die da gegeben worden sind, so kann man auf den Gedanken kommen, es gebe nichts Verkehrtes in der Welt; und wenn man auf die Menge der Verkehrtheiten blickt, so wird man umgekehrt in Versuchung kommen, zu denken, es gebe keine Regeln und Vorschriften. ***

Ein Mensch, der die Welt versteht, muß ihrer müde sein; und wer sie nicht versteht, sollte ebensowenig nicht mit ihr zufrieden sein.

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Moralische Gedanken eines Weltmanns erschienen in: Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 20. 9. 1906, 1. Jg., Nr. 37, S. 1445, Fraktur. Die Überschrift wird im Original ergänzt durch den Zusatz „Aus dem Englischen. Von Ferdinand Tönnies.“ In dem von Else Brenke erstellten „Schriftenverzeichnis“ (Brenke 1936: 388) ist der Text, wie auch andere von Tönnies übersetzte Texte, namentlich aufgeführt. Die drei Aphorismen sind in etwas abgewandelter Form Bestandteil der 1910 von Tönnies herausgegebenen und übersetzten Schrift „Charakterbild eines Königs“ des Marquis von Halifax (Tönnies 1910). Es sind die Narren: Die Passage lautet bei Tönnies (1910: 79): „Die Narren und die Schurken sind es, die die Räder der Welt sich drehen machen. Sie sind die Welt; die wenigen die Verstand oder Ehrgefühl besitzen, schleichen vereinzelt einher, sie kommen in Herden nicht vor.“. Wenn man die Menge: Die Passage lautet bei Tönnies (1910: 77): „Wenn man an all die Regeln denkt, die aufgestellt werden, so wird man meinen, es gebe keine Fehler in der Welt, und wenn man auf die Fehler hinsieht, da gibt es so viele, dass man in Versuchung sein wird zu denken, es gebe keine Regeln.“. ebensowenig nicht: Offensichtlich handelt es sich bei dem zusätzlich verneinenden „nicht“ um einen Druckfehler oder um ein sprachliches Missgeschick. Vom Sinn her konterkariert es die ursprüngliche Aussage. In dem Exemplar des Tönnies-Nachlasses der SHLB, ist das Wort „nicht“ mit Bleistift gestrichen. Es scheint laut Mitteilung des Nachlassverwalters Jürgen Zander eine Korrektur von Tönnies selbst zu sein. Die Passage lautet bei Tönnies entsprechend (1910: 78): „...; und wer sie nicht versteht, sollte eben deswegen kein Gefallen an ihr finden“.

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Die politischen Parteien im Deutschen Reiche Sozialwissenschaftliche Studie I.

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Im alten Deutschen Reiche und auch im Deutschen Bunde gab es keine organisierten politischen Parteien, aber zur Zeit des letzteren hatten wenigstens in den Einzelstaaten sich solche gebildet, und wenn auch von eigentlichen Parteikämpfen nur in diesen, so kann doch von Kämpfen zwischen konservativen und liberalen Prinzipien auch im Gesamtgebiete des alten Deutschlands die Rede sein. Diese Kämpfe erfüllten hauptsächlich die zwei Drittel des 19. Jahrhunderts – zwei Menschenalter –, die der Neubegründung des Reiches vorausgingen. Die Literatur und die Presse waren die Hauptschauplätze des Streites; zugleich waren diese geistigen Waffen die hauptsäch 1

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Die politischen Parteien im Deutschen Reiche. Sozialwissenschaftliche Studie erschien in: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur, Band IX, Oktober 1906 – März 1907, S. 127–148 (Fraktur) (Tönnies 1906m). Auf die Überschrift folgt „Von Ferdinand Tönnies.“. Zwei Jahre zuvor hatte Tönnies (1904b) für einen englischsprachigen Leserkreis in „The Independent Review“ die Abhandlung „Political Parties in Germany“ publiziert. Obwohl es zwischen beiden Arbeiten thematische Überschneidungen gibt, sind sie nicht identisch. Deutschen Reiche: „Deutsches Reich“ war der amtliche Name des dt. Staates zwischen 1871 und 1945; das alte deutsche Reich (911–1806) als Nachfolger des Frankenreichs wurde nach 900 als regnum Theotonicorum bezeichnet, seit 962 als imperium, seit dem 12. Jh. mit dem Zusatz „sacrum“ (heilig) und seit dem 15. Jh. als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (Sacrum Romanum Imperium Nationis Germanicae). Es beginnt 911 mit Konrad I. von Franken und endet 1806 in den Napoleonischen Kriegen durch Verzicht Franz I. von Österreich auf die römische Kaiserkrone. Der Deutsche Bund war ein auf dem Wiener Kongress durch einen in die Schlussakte des Wiener Kongresses integrierten Rahmenvertrag, der Bundesakte vom 8. 6. 1815, gegründeter Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten zu einem Staatenbund. Er zerbrach 1866 am österr.-preuß. Konflikt („Deutscher Krieg“). Neubegründung des Reiches: Der nach dem Deutschen Krieg von 1866 an Stelle des Deutschen Bundes unter Ausschaltung Österreichs durch Bismarck geschaffene Norddeutsche Bund erhielt durch Reichstagsbeschluss vom 9. 12. 1870 den Namen Deutsches Reich. Am 18. 1. 1871 wurde im Schloss zu Versailles König Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser proklamiert und damit die eigentliche Reichsgründung als ein Bund der deutschen Fürsten und Freien Hansestädte vollzogen.

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lichsten Kampfmittel der liberalen Richtungen, weshalb sie auch in deren Gebrauch stark behindert wurden durch die dem Einflusse ihrer Gegner unterstehenden Regierungen. Abschaffung der Zensur, Freiheit der Presse standen daher lange an der Spitze der unerfüllten liberalen Forderungen. Was aber der Partei noch mehr fehlte – außer in einer revolutionären Episode –, das war die Tribüne des Parlaments, die natürliche Arena des Kampfes politischer Meinungen und Wollungen. Sie mangelte der Nation, dieser Mangel reflektierte sich aber bei weitem am stärksten in den Gefühlen des Nationalbürgertums, das als solches allmählich ein festeres gemeinsames Bewußtsein erwarb. Insbesondere aber fehlte das Parlament den beiden führenden Staaten Preußen und Österreich; in den meisten kleinen Staaten war das Verlangen nach einer (geschriebenen) „Verfassung“ und einer dadurch garantierten Volksvertretung früher gestillt worden, wenn auch zumeist in einer Art, die den Ideen und Wünschen des Liberalismus nicht genügen konnte, da sie zumeist noch im ständischen Wesen beruhte. Der Kampf um die Verfassung stand folglich im Mittelpunkte des liberalen Programms. Die liberalen Parteien der einzelnen Staaten vereinigten sich aber – mit geringen Ausnahmen – in dem Streben nach nationaler Einheit, wenn auch über deren Art und über die Wege zum Ziele die Meinungen weit auseinandergingen. Die konservativen Parteien und die meisten Regierungen waren ebenso der nationalen Einheit, die ihnen als demokratische und revolutionäre Neuerung erschien, wie dem Verlangen nach politischer Freiheit entgegen. In der Lösung dieser Konflikte wiederholte sich eine Komplikation, der man historisch nicht selten begegnet. Das Programm der progressiven Richtung wurde von der konservativen Richtung, zum Teil um ihrer Selbsterhaltung willen, ausgeführt. Allerdings ist dies nur durch die Kreuzungen, die innerhalb der politischen Richtungen selber statthaben, möglich. Der Preußische Staat, der als absolutistisch und militaristisch von der progressiven Richtung gehaßt wurde, weil und insofern sie liberal war, also infolge ihres historischen, nicht infolge ihres begrifflichen Charakters, war selber ein durchaus progressives Gebilde, das nur in unablässigem Streit gegen Überlieferungen und historisch geheiligte Mächte sein Wachstum und, nach

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Abschaffung der Zensur: Das aufgrund der Beschlüsse der Karlsbader Ministerkonferenzen erlassene Bundes-Preßgesetz von 1819 ordnete eine Vorzensur für Zeitungen, Zeitschriften und Bücher von weniger als 320 Seiten an, um einer oppositionellen Presse vorzubeugen und die Opposition zu schwächen. fehlte das Parlament: Die von Friedrich Wilhelm III. versprochene Verfassungsreform unterblieb.

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tiefem Fall, seine Wiederherstellung gefunden hatte. Eben darum konnte die konservative Partei in Preußen, die in einigen Hinsichten – in bezug auf den Militarismus – eben diesen progressiven Charakter am schärfsten repräsentierte, im übrigen dem Absolutismus, für den die „liberale“ Bureaukratie, d. h. die Regierung durch Beamte, anstatt durch Adel und Klerus, wesentlich ist – keineswegs unbedingt ergeben sein. Der Adel, der in den Provinzen „ständische Vertretung“ (seit 1815 allgemein) besaß, mußte eine preußisch-nationale Vertretung nicht nur gutheißen, sondern wünschen, wenn er seine Macht sich darin sicherte, wie es dann besonders durch Bildung einer Ersten Kammer geschah. Aber auch für die Minorität in der Zweiten Kammer war der Parlamentarismus schon der einzig gangbare Weg, die zeitgemäße, notwendige Methode, um einen Staatsmann aus der Mitte des „Junkertums“ emporzuheben und zu stützen, der bei rein absolutistischer Regierung schwerlich sich gegen die schwankende Gesinnung des Monarchen und gegen den Widerstand der Demokratie sowohl als der Bureaukratie lange in der Macht erhalten hätte. Die nationale Einheit unter Preußens Hegemonie mit Ausschluß Österreichs erschien den Scharfliberalen – der demokratisch-großdeutschen Richtung – als „reaktionär“. Sie war aber doch einer der längst bekannten Wege zur Verwirklichung des liberal-nationalen Programms, und zwar, wie sich herausstellte, der Weg des verhältnismäßig kleinsten Kraftmaßes und des stärksten Zuges, der letzten Endes immer beschritten wird.

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nach tiefem Fall: Tönnies spielt auf den totalen Zusammenbruch Preußens unter Friedrich Wilhelm III. im Verlauf der Napoleonischen Kriege an (1806). Nur die Fürsprache des russischen Zaren Alexander I. verhinderte, dass Preußen aufhörte zu existieren; vgl. unten S. 489 bzw. Tönnies 1906g). Ersten Kammer: In Preußen war die erste Kammer, das Herrenhaus, nach der (1849 revidierten) „oktroyierten“ Verfassung vom 5. 12. 1848 im Wesentlichen der königlichen Familie und dem Adel vorbehalten. Für die zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, war in Preußen 1849 ein auf das Steueraufkommen gründendes Dreiklassenwahlrecht festgelegt worden. 1849 hatten die am höchsten Besteuerten einen Anteil von 4,7 % an der Gesamtbevölkerung. Die zweite Klasse hatte 12,6%, während in der dritten Klasse, der 82,6% der Bevölkerung angehörten, auch nicht mehr Wahlmänner aufgestellt werden konnten als in jeder der beiden anderen Klassen. Dieses Wahlgesetz war bis 1918 gültig. „Junkertum“: Das war der grundbesitzende ostelbische Adel Preußens; die ihm überlassene Führung des Heeres im Offizierskorps und die Besetzung wichtiger Ämter in der Verwaltung war die Entschädigung des Staates für das historische Opfer an politischer Selbständigkeit, vor allem unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. In den Auseinandersetzungen des Vormärz wurde vom deutschen Liberalismus das Schlagwort vom „Junkertum“ geprägt.

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II. So war es denn die gemäßigt liberale („Gothaer“), die national-liberale Richtung, die in das vom konservativen Preußen neugebaute Reichshaus siegreich einzog. Sie war die eigentliche Reichs-Partei, und hätte diesen Namen sich nicht nehmen lassen sollen. Denn sie bildete sich oder vielmehr war da als die Partei der Bejahung des neuen politischen Zustandes in allen seinen Teilen. Durchaus liberal war sie zunächst geblieben in sozialer Hinsicht, und auch dies entsprach den Lebensbedingungen des Reiches, das auf die Einheit seines Wirtschaftsgebietes, daher auf ökonomische Freiheit und Gleichheit sich stützen mußte. Dagegen war sie in formalpolitischer Hinsicht dem Konservatismus insofern näher gekommen, als sie die Zentralgewalt des Reiches, mithin auch die preußische, um der äußeren Machtstellung und Sicherheit willen in den Vordergrund rücken mußte; wenn auch mit dem Bestreben, „konstitutionelle Garantien“ dabei zu erhalten. So lange nun als auch die „verbündeten Regierungen“ oder vielmehr der ihre Einheit und Energie repräsentierende Reichskanzler (als „Reichsregierung“) den sozialen Liberalismus seinerseits bejahte, so war die nationalliberale Partei – abgesehen von ihren Vorbehalten und soweit sie sonst mit sich einig war – auch die Partei der Reichsregierung. Diese ihre maßgebende sichere Stellung tritt in den ersten Jahren des neuen Reiches durch zwei Erscheinungen hervor: 1. durch die Zahl der gültigen Stimmen, die sie im Verhältnis zu allen abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt:

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1871 (in Tausenden) 1176,6 von 4126,7 = 28,5 % 1874 ( „ ) 1542,6 „ 5190,3 = 29,9 %, 2. dadurch, daß sich, rechts konservativer, links liberaler Herkunft, Gruppen um sie sammeln, auf die sie eine wesentlich attrahierende Kraft ausübt, so daß sich Splitter von beiden Seiten ihr anschließen und ganze Gruppen, wie die anfänglich konkurrierende „liberale Reichspartei“, in ihr verschwinden. Es bleiben noch 1877 (in Tausenden gültiger Stimmen) links die Fortschrittspartei mit 417,8 von 5401,0 rechts die (neue) Reichspartei „ 426,6 „ „ indessen die nationalliberale „ 1604,3 „ „

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(„Gothaer“): Siehe Erläuterung S. 373.

= 7,7 % = 7,9 % = 29,7 %

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auf ihrer Höhe bleibt; während sie jedoch mit der Anzahl der schließlich gewählten Abgeordneten 1874 schon ihren Gipfel erreicht hatte (155). Die Grundlage der nationalliberalen Partei wurde und wird dargestellt durch diejenigen sozialen Schichten und diejenigen Territorien, die das stärkste Bedürfnis nach der nationalen Einigung empfanden und einen ausgesprochenen Gegensatz zwischen ländlichen und städtischen Interessen teils nicht kannten, teils durch gemeinsame Wünsche der Förderung von Handel und Verkehr ausglichen, teils endlich durch das Überwiegen der großen Industrie verdunkelten. Auf der Basis des protestantischen, liberalen, preußisch-deutschen Patriotismus findet sich mit diesen Interessen ein großer Teil der gelehrten Beamtenschaft mit Einschluß der freier gerichteten Geistlichen zusammen, so daß man sagen darf, die Grundelemente dieser Partei sind: 1. der vermögende Mann, jedoch abgesehen vom großen Grundbesitzer; 2. der gebildete Mann (im modernen Sinne); 3. folglich besonders der vermögende und gebildete Mann. Die Partei entwickelt sich am meisten ungehemmt da, wo eben wegen schwachen Interessenkampfes der formalpolitische und damit der ideelle Charakter sich reiner entfalten kann, daher gerade da, wo er in dieser Beziehung auf seine Antithese trifft, nämlich auf speziell antipreußische oder auf partikularistische oder endlich auf katholisch-altdeutsche Tendenzen stoßend, wenngleich diese letzteren nicht leicht unverhüllt sich so zeigen werden, daß sie den Widerspruch und die Kritik der neu-nationalen Richtung als berechtigt anerkennen müßten. Am günstigsten sind zum Teil aus diesen, zum Teil aus den angegebenen ökonomischen Ursachen – die sich guten Teiles reduzieren lassen auf das Prävalieren entweder der großen Industrie oder eines wirtschaftlich entwickelten, daher an Handel und Schiffahrt interessierten, gebildeten Bauerntums – die neuen preußischen Provinzen, wie Hannover und SchleswigHolstein, wo jene formal-politischen Gegensätze überwiegen, und zugleich gerade die bezeichneten Schichten des Bauerntums in Harmonie mit den vermögenden und gebildeten Einwohnern der Städte, die zum größten Teile gut situierte Landstädte sind, den bestehenden staatsrechtlichen Zustand, insbesondere auch die monarchische Prärogative mit ihrer militärischen, die Sicherheit des Eigentums gewährleistenden Ausrüstung, teils gefühlsmäßig, teils aus dem Bewußtsein ihres Interesses bejahen. Ähnlich verhalten

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Prävalieren: [lat.]: svw. vorherrschen, vorwiegen, sehr stark sein. Prärogative: [lat.]: Vorrecht, insbesondere des Herrschers bei der Auflösung des Parlaments, dem Erlass von Gesetzen. Begnadigung etc.

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sich die Provinz Sachsen und mehrere kleine norddeutsche Staaten. Dazu kommen dann Gebiete mit modernem Handels- und Bildungs-Charakter in Süddeutschland: namentlich Baden und die Pfalz, das bayerische Mittelfranken und das altprotestantische wie das reichsstädtische Württemberg, wo (in Süddeutschland) überall der Nationalliberalismus hauptsächlich den Gegensatz gegen verbundenen Partikularismus und Katholizismus bezeichnet; Handels- und Bildungsstädte wie Leipzig; endlich Gebiete mit prävalierender Großindustrie, deren Interessen so wesentlich antipartikularistisch sind, im Königreich Sachsen, in Westfalen und am Niederrhein. Abgesehen von Partien Mecklenburgs (wo ebenfalls die obengenannten Faktoren konkurrieren) und von dem Lande nördlich von der Elbe ist die Partei schlechthin westelbisch. Dem alten Preußen ist sie, was die Reichstagswahlen angeht, abgesehen von Minoritäten im bäuerlich-bürgerlichen Regierungsbezirk Liegnitz, beinahe fremd. Hier nehmen ihre Stelle noch zum großen Teile als städtische Minderheiten, aber auch als großstädtische Mehrheiten teils die fortschrittliche Partei, teils andere liberale Gruppen ein, die allerdings während des ersten Dezenniums des Reiches zur nationalliberalen Partei gehörten (weil damals noch der reine Liberalismus ein hinlänglich starkes Element in ihr ausmachte), dann aber zunächst aus handelspolitischen Beweggründen, übrigens aber, weil in ihnen die Opposition gegen die spezifisch-preußische Herrschaft des Großgrundbesitztums weit lebhafter war, nach links hin gravitiert haben. Schon vor dieser „Sezession“ aber hatte jener Prozentsatz der Blütezeit (= ca. 30 %, siehe oben), der 1877 stabil geblieben war, in den Auflösungs-Neuwahlen von 1878, wo die Proskription der Sozialdemokratie auch den Liberalismus beider Schattierungen beeinträchtigte – sogar diesen in bezug auf die neuen Reichsinstitutionen so wesentlich konservativen Nationalliberalismus! – auf 25,8 sich vermindert; nach der Sezession sank er 1881 auf 14,6, um dann mit den reichspatriotischen Stimmungen wieder zu steigen: 1884 auf 17,6 und besonders 1887 auf 22,2 %. Seitdem ist das Verhältnis bis 1898 stetig gesunken, nämlich 1890 auf 16,3, 1893 auf 12,9, 1898 auf 12,5 %, dagegen 1903 um ein geringes wieder gestiegen (auf 13,8 %). 17

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ersten Dezennium: Von 1871 bis 1881 war die Nationalliberale Partei die stärkste Partei im Reichstag. Sie war während des Kulturkampfes die parlamentarische Hauptstütze Bismarcks. Nach dem Zerwürfnis mit ihm über den Schutzzoll trat 1879 eine entschieden schutzzöllnerische Gruppe aus. 1880 traten darüber hinaus noch 28 Abgeordnete des linken, freihändlerischen Flügels der Nationalliberalen aus, die „Sezessionisten“, die sich 1884 mit der Fortschrittspartei zur Deutschfreisinnigen Partei vereinigten. Proskription: [lat.] svw. Ächtung (durch öffentlichen Anschlag) politischer Gegner.

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Ihre charakteristische Gegnerschaft, ihren Antipoden, hatte die nationalliberale Partei im Reiche von Anfang her an der Partei des Zentrums, die man füglich als die Partei des alten Deutschlands, wie jene als die des neuen Deutschlands, bezeichnen kann. Beide sind sich darin ähnlich, daß sie relativ indifferent gegen konservative und liberale Prinzipien sind, aber aus verschiedenen Ursachen sind sie es. Das Zentrum als Partei des geeinigten Widerstandes der Kirche vereinigt jene Tendenzen äußerlich, als unentwickelte, in sich. Der Nationalliberalismus hat sie in sich verschmolzen, ganz wie der moderne preußische Staat und das moderne Deutsche Reich selber. Er bleibt deshalb wesentlich eine progressive Partei, eben als Partei des Staates, wie das Zentrum wesentlich (im Begriffssinne) eine konservative Partei ist, eben als Partei der Kirche. Die beiden Gegenparte haben aber noch eine ihrer Basen gemein, wenn sie auch sehr verschieden beschaffen bei ihnen sind: was nämlich für die besten Gegenden des Nationalliberalismus, das gilt für das Zentrum generell: daß ihnen – was die maßgebenden Schichten angeht – lokal unentwickelte soziale Gegensätze oder vielmehr der Mangel der Entwicklung solcher Gegensätze in wesentlich bäuerlichen, zumal großbäuerlichen oder handels- und halbindustriell-bäuerlichen Distrikten zugrunde liegt. Dieser Zustand hat in den Zentrumsgegenden mehr eine süddeutsch-altkulturliche, in den nationalliberalen Gegenden eine norddeutsch-neukulturliche Färbung. Man darf ferner sagen, daß für das Zentrum ebenso die alte in Kunst und Religion, wie für den Nationalliberalismus die moderne in Wissenschaft und Philosophie wurzelnde Bildung charakteristisch ist. Dadurch beherrscht jenes überwiegend gerade solche Städte, die zu den ältesten Kulturträgern in Deutschland gehören; und dies sind zum Teil auch Städte mit hochentwickelter Großindustrie. Der gemeinsame politische Charakter des Zentrums ist im Ursprunge der Partikularismus oder wenigstens eine dem alten Preußen entgegengerichtete Tendenz, die in Westfalen und im Rheinlande sich stark erhalten hat; auch der polnische Teil von Schlesien hat noch daran teil. Gegenüber dem konservativ-polizeistaatlichen Sinne des ostelbischen Großgrundbesitzes sind diese politischen Velleitäten liberal zu nennen, wie denn einige Größen des preußischen Abgeordnetenhauses, die sich bis dahin Altliberale genannt hatten, unmittelbar Führer des Zentrums wurden. Die bäuerlich-kirchlich-ständische Wider-

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Velleitäten: [lat.-frz.] svw. kraftloses Wünschen.

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standsneigung gegen den modernen Staat begegnet und vermischt sich hier, wie oft, mit der modernen individualistisch-national und großstadtbürgerlichen Gesinnung. In bezug auf das Reich als staatsrechtliches Faktum ist die Politik des Zentrums ebenso notwendigerweise föderalistisch, wie die der nationalliberalen Partei unitarisch. Denn einen Staat bejahen (resp. verneinen), heißt seine wesentliche Einheit bejahen (resp. verneinen). Daher gehören zu den Anhängseln des Zentrums die dem modernen Preußen widerstrebenden Elemente, auch protestantische, wie die hannöverschen Partikularisten („Welfen“), namentlich aber die nationalpolnischen und sogar die klerikalen Vertreter des Reichslandes Elsaß-Lothringen, für die zwar der katholische Charakter des Zentrums zunächst bestimmend sein dürfte, die aber doch auch Sympathien für ihre landschaftlichen Interessen bei ihm erwarten. Eben in dem katholischen Charakter, wenigstens sobald er die römisch-ultramontane Farbe hat, liegt ein notwendiger Widerspruch gegen das auf die Reformation und auf die Revolution aufgebaute neue Deutsche Reich, das seinem Wesen nach mehr ist, als ein Bund der in ihm enthaltenen Einzelstaaten, nämlich selber ein Staat, und zwar ein Staat, der nicht mehr, wie jene älteren Gebilde insgesamt, eine organische Verbindung mit irgendwelchem Kultuswesen, geschweige mit einer Konfession eingegangen ist oder einzugehen nötig hat.

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IV. Wenn im ersten Jahrzehnte des Reiches die kompakte Masse und die Gedankenrichtung des Nationalliberalismus so stark waren, daß sie nach rechts und nach links attrahierend wirkten, so liegt darin ausgesprochen, daß der alte Gegensatz der konservativen und liberalen Denkungsart verblaßt war, und dies offenbar durch die Leuchtkraft der liberalen Elemente im Nationalliberalismus, der das neue Reich, und vielleicht noch mehr sein Vorläufer, der Norddeutsche Bund, in einer Gesetzgebung entsprachen, die bestimmt war, die wirtschaftlichen Kräfte der Nation zu entfesseln, und 9

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(„Welfen“): Bezeichnung für die Anhänger der Deutsch-Hannoverschen Partei, die nach der Einverleibung Hannovers in Preußen (1866) gegründet worden war und die Wiederherstellung des Königreichs Hannover unter der welfischen Dynastie anstrebte. Im Reichstag war sie seit 1871, zuletzt allerdings nur noch durch einen Abgeordneten, vertreten. römisch-ultramontane Farbe: Im 18. Jhdt. galt als ultramontan, wer sich katholisch engagierte und als papstfreundlich verstand (ultra montes [lat.]: jenseits der Berge, der Alpen). Im Gefolge des sich verschärfenden „Kulturkampfes“ unter Bismarck wurde „ultramontan“ ein Synonym für undeutsch, antipatriotisch, bigott, reichsfeindlich.

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dieser setzten auch die Konservativen nur noch einen schwachen Widerstand entgegen. Ihren ganz speziellen Ausdruck fand aber jener Ausgleich in der Bildung einer „freikonservativen“ Partei, wie sich in Preußen die „Deutsche Reichspartei“ nannte. Sie kann definiert werden als der Nationalliberalismus, wie ihn altpreußische konservative Elemente verstanden, daher mit stärkerer Betonung der monarchisch-ministeriellen Autorität einerseits, des großen und befestigten Kapitalismus, daher auch des groß kapitalistisch betriebenen Landwirtschafts- und landwirtschaftlichen Industriebetriebes andererseits. In dieser Partei finden sich daher der Latifundienbesitz, die Zuckerindustrie, Berg- und Hüttenwerke und solche Elemente des größeren Grundbesitzes zusammen, die mit der wissenschaftlichen Bildung und dem „Zeitgeist“ mehr Fühlung gewonnen haben als die pastoral-altkonservativen: in jeder Hinsicht moderner und regierungsfähiger als diese. Der Regierungsfähigkeit entspricht auch die Neigung, in privatrechtlichen Verhältnissen eine Herrschaft auszuüben, die, obgleich dem Wesen des freien Arbeitsvertrages, auf den das ganze industrielle System aufgebaut ist, widersprechend, den Versuch einer Übertragung altfeudalistischer Prinzipien in die Arbeiterbataillone des Fabriksystems darstellt: typisch dafür das „patriarchalische“ Regiment des Hüttenbesitzers Freiherrn von Stumm, der zu den Leitern dieser freikonservativen oder Reichspartei gehörte und auch außerhalb der Parlamentshäuser einen tiefreichenden politischen Einfluß auszuüben verstanden hat. V.

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Vergleichen wir mit diesem rechten den ursprünglichen anderen Flügel, so hat dieser, der Rest der alten Fortschrittspartei (diese war ganz eigentlich die Mutter des Nationalliberalismus), mit jenem gemein, daß auch er eine überwiegend altpreußische Partei darstellt, und zwar hauptsächlich die der Großstädte, bei deren Bürgern der nationale Stimmungsaufschwung das Mißtrauen und die Abneigung gegen eine militaristische und von konservativen Monarchismus getragene Regierung nicht überwunden hatte. Als wirksames Ingrediens kommt dazu ein protestantischer Reflex der rheinischen, namentlich aber der westfälischen Widerstandsneigung gegen das 19

das „patriarchalische“ Regiment: Karl-Ferdinand Freiherr von Stumm(-Halberg), Großindustrieller, Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, übte zwischen 1893/94 und 1897/98 einen so starken Einfluss auf die preuß.-dt. Politik aus, dass der Begriff „Ära Stumm“ geprägt wurde.

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„Mußpreußentum“. Dazu kommen dann altpreußische Bauernelemente, auch in den kleineren Städten nachwirkend, bei denen der Haß gegen den Adel und gegen die militärisch-polizeiliche Tradition des preußischen Staates unvergessen glimmt. Anschließen sich ähnliche Elemente aus den übrigen deutschen Ländern, besonders der alte Liberalismus der thüringischen Kleinstaaten, der zwar durchaus national, zugleich aber kleinbürgerlich-radikal, beim preußisch-militärischen Gepräge des neuen Reiches die Kosten scheut, übrigens auch zu einer entschiedener antikonservativen Denkungsart durch überlieferte religiös-kirchliche Freisinnigkeit gestimmt wird, die sich im Nationalliberalismus zu einem konventionellen Geltenlassen und Indifferentismus abgeschwächt hat. Auch sonst macht diese eins der Fermente des Fortschrittsliberalismus aus, wenn sie auch in Süddeutschland mit dem Nationalliberalismus sich besser verträgt. Der Fortschrittsliberalismus hatte endlich im Süden wie im Norden noch erheblichen Anhang in alten freien Städten, wie Nürnberg und Hamburg, Bremen, denen vorzugsweise am wirtschaftlichen Liberalismus gelegen war, und bei denen die nationale Staatsgesinnung mit einem Zuge zum Kosmopolitismus, dem alten Erbteil der deutschen Bildung, legiert auftritt. Diesem Zuge entspricht auch die Teilnahme des Judentums an diesem entschiedenen Liberalismus, die freilich im oft angezogenen ersten Jahrzehnte des Reiches auch vom Nationalliberalismus noch umschlossen wurde; was eins seiner unterscheidenden Merkmale von der sonst nahe verwandten „freikonservativen“ Nachbarpartei ausmachte. Damit hängt denn auch die „Sezession“ des linken Flügels im Jahre 1880 zusammen. Sie war Symptom des begonnenen, noch heute (1906) sich fortsetzenden Zersetzungsprozesses der Parteien durch ökonomisch-politische Motive. Zunächst und vor allem durch die Handelspolitik. Die einmütige Richtung auf den Freihandel war im Zusammenhange mit der nationalen Gestaltung des Wirtschaftsgebietes eine der Haupttendenzen, worin Konservativismus und Liberalismus erloschen waren. Sogar die altkonservative, im Reiche außerhalb Preußens nur vom Königreich Sachsen und (aus lutherisch-kirchlichen Gründen) von Mittelfranken, endlich von Mecklenburg her sekundierte Richtung war in Konsequenz ihres traditionellen Interesses für billiges Eisen freihändlerisch. In diese temporäre Einigkeit legte die schwere Handelskrise, die 1873 einsetzte, von 1875 ab sich heftig steigerte, sowie die zunehmende Einfuhr überseeischen Getreides Bresche. 1

,Mußpreußentum‘: Das waren erzwungene Preußen, ein Name, den die Rheinländer sich lange Zeit selbst gaben (vgl. Tönnies 1904b: 573 f.).

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Als protektionistisch disponiert konnte bis dahin nur das Zentrum – als überhaupt die Kontrapartei – gelten, gemäß seinen überwiegend antiliberalen wirtschaftlichen Grundsätzen, denen die in ihm sich vertretenden wirtschaftlichen Stände teils wie in Bayern das noch in alten Erwerbsverhältnissen steckende Bauerntum durch Haß gegen Handel und Wucher, teils wie die Weinbauern und Kleinindustriellen, darunter viel altes zünftiges Handwerk, durch direkt bewußtes Interesse Nahrung gaben. Die Krisis ließ diesen ökonomisch-politischen Fluß, der inzwischen fast verseicht war, über seine Ufer treten. Aus dem Arsenal der Arbeiterbewegung wurden die Geschosse entlehnt, die gegen das Prinzip des „laissez faire, laissez aller“, gegen das Manchestertum geschleudert wurden. Von 1876–78 vollendete sich der Umschwung, der zugleich einen Sieg des Zentrums bedeutete, symptomatisch illustriert durch das Niederlegen der Speere „auf dem Fechtboden“ des „Kulturkampfs“, von seiten der Reichsregierung. Das Zentrum blieb geschlossen und in den Hauptsachen einig. Wenn es auch, genau wie der Nationalliberalismus, sein Maximum an relativer Stimmenzahl im Jahre 1874 erreicht hatte mit 27,9 %, so ist doch die Verminderung verhältnismäßig gering und mehrmals unterbrochen gewesen; freilich bleibt die Tendenz zur Abnahme unverkennbar, und der Prozentsatz war im Jahre 1898 mit 18,7 % nicht mehr weit von dem Minimum des Jahres 1871 mit 17,6, dem sogleich durch die Entfachung des preußischen Kulturkampfes, jenes Maximum folgte.1 Der Antipode des 1

Im Jahre 1903 ist freilich der Prozentsatz wieder ein wenig gestiegen (auf 19,1 %), aber diese Steigerung, die in der absoluten Ziffer nicht weniger als 425 000 Stimmen beträgt, ist wesentlich künstlich herbeigeführt worden durch Aufstellung von Zählkandidaten in

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„laissez faire, laissez aller“: [frz.] svw. „lasst nur machen, lasst nur geschehen“ ist das Schlagwort des wirtschaftlichen Liberalismus, insbesondere des 19. Jhs. Manchestertum: Siehe dazu oben, S. 435. „Kulturkampfs“: Der Kulturkampf war eine von Bismarck leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und dem Katholizismus, der von 1872 bis 1887 andauerte und im wesentlichen mit dem Rückzug des Staates endete. Virchow, an sich ein scharfer Gegner Bismarcks, formulierte 1873 (vgl. Büchmann 1959: 261 f.) in einem von ihm verfassten Wahlprogramm dieses Mal jedoch in Übereinstimmung mit Bismarck die Notwendigkeit, „die Regierung in einem Kampfe zu unterstützen, der mit jedem Tag mehr den Charakter eines großen Kulturkampfes der Menschheit annimmt“. Virchow hielt sich für den Schöpfer des Ausdrucks. Zweifellos wurde er durch ihn zu einem geflügelten Wort. Er erscheint aber schon 1840 in der Freiburger „Zeitschrift für Theologie“ und in einem 1858 geschriebenen Aufsatz Ferdinand Lassalles über „Gotthold Ephraim Lessing“.



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Zentrums zersplitterte, wie gesagt, im Jahre 1880, nachdem seine Einigkeit den Beginn der schutzzöllnerischen Ära, in 1878 noch durch Proklamation des Grundsatzes der Grundsatzlosigkeit in wirtschaftlichen Fragen überlebt hatte. Obschon aus anderen Ursachen die alte Gruppierung der Parteien im wesentlichen sich erhielt, so gibt es doch seitdem in bezug auf die Handelspolitik einen neuen Gegensatz konservativer und progressiver Richtungen: jene geführt vom Zentrum, das zugleich die auseinandergehenden Elemente innerhalb des Protektionismus ebenso vermittelt, wie bisher der Nationalliberalismus diejenigen innerhalb des Nationalismus und des Liberalismus; diese (die progressiven Richtungen) fanden sich zunächst – da die Sozialdemokratie parlamentarisch noch wenig in Betracht kam, auch der Handelspolitik noch unentschieden oder indifferent gegenüberstand – als „deutsch-freisinnige Partei“ von 1884–1893 zusammen. Der für das neue Reich charakteristische Kontrast des Nationalliberalismus und des Zentrums hatte sich also um die Mitte seines ersten Menschenalters verwischt; die halberloschene Aktenschrift Liberal v. Konservativ war wieder aufgelebt, nur mit dem sehr erheblichen Unterschiede, daß das konservative Heer nunmehr geführt wurde von ultramontan und antipreußisch engagierten Führern. Damit war der Nationalliberalismus geistig getötet. Da die handelspolitisch antiliberale Politik eine ausgesprochene Majorität hatte, so bedeutete das Zusammengehen mit ihr zugleich eine Niederlage der preußischen Führung im Bunde der Regierungen. Denn diese hatte sich damit ihrem deklarierten Gegner innerhalb des deutschen Volkes wenn nicht unterworfen, so doch insoweit genähert, daß sie von nun an in diesem Gegner ihre Stütze suchen mußte.

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VI. Die „deutsch-freisinnige Partei“ von 1884 hat sich nicht als geeignete Form, um den Liberalismus neu zusammenzufassen, bewährt. Die Fusion vermochte nicht, die Abnahme ihrer relativen Stimmenzahl zu verhindern oder auch nur zu hemmen. Während Sezession und Fortschritt zusammen 1881 noch 21,2 % der gültigen Stimmen repräsentierten, so die neue Partei 1884 nur noch 17,6 %, und die Unpopularität ihrer Haltung gegenüber den militärischen Bedürfnissen des Reiches dokumentierte sich durch fer-

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allen Wahlkreisen, wo sonst die ultramontanen Wähler als geringfügige Minorität entweder gar nicht oder (am liebsten) für den Kandidaten der freisinnigen Volkspartei stimmten, welch letztere in entsprechender Weise an Stimmenzahl verloren hat.

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nere Abnahme auf 12,9 %. Dann folgte, trotz des schweren Schlages, den die Partei durch ein Unglück erlitt, das ein Unglück für die Nation war, ein Wachstum auf 16,0 % (1890), aber nach der Scheidung erhielten die getrennten Gruppen zusammen nur noch 12,0 %, nämlich die kleinere, bei der der wirtschaftliche Liberalismus vorwiegt, 3,3 %, die größere, mit stärkerem, formalpolitischem Charakter, 8,7 %. Und diese Verminderung hat sich 1898 fortgesetzt bis auf 2,5 % und 7,2 %, zusammen also nur noch 9,7 % der abgegebenen gültigen Stimmen. 1903 zeigt sich die erste Gruppe stabil im Verhältnis (die absolute Zahl der gültigen Stimmen ist von 195 700 auf 243 000 gewachsen), die zweite ist absolut und relativ weiter gesunken (von 558 300 auf 538 200, relativ auf 5,6 %). Für den Liberalismus als progressives Prinzip war es eine Lebensfrage, die industrielle Arbeiterklasse so lange als möglich in seinem Gefolge zu behalten; wenn nicht die gesamte, so doch einen möglichst großen Teil. Daß er dies nicht nur auf die Dauer nicht vermocht hat – was unter allen Umständen sehr schwierig gewesen wäre –, sondern schon sehr bald, schon bald nach Gründung des Deutschen Reiches, an der die Söhne jener Klasse in Reih und Glied mitgeholfen hatten, hat aufgeben müssen, ist zum Teil ohne Zweifel mangelhaften Qualitäten seiner Führer zuzuschreiben, zum Teil – und darauf führen auch diese Mängel zurück – der ungenügenden politischen Schulung der Nation. Die starke und rapide Entwicklung einer besonderen, vom Liberalismus weit abrückenden Arbeiterpartei ist zur guten Hälfte erst eine Folge der Zersetzung und zunehmenden Ohnmacht des Liberalismus gewesen. Anderseits hätte diese nicht so stark fortschreiten können, wenn die liberalen Parteien, aus denen längst – wenn jene ein hinreichend starkes politisches Bewußtsein gehabt hätten – die liberale Partei des Reiches hätte werden müssen, einen starken Rückhalt in den sich mühsam emporringenden Massen des Proletariats behalten, ihren Einfluß sich hier zu befestigen und auszudehnen gewußt hätten. Aber noch im Jahre 1878 konnten beide liberale Parteien als Gegner jeder positiven „Sozialpolitik“ mit Fug erachtet werden. Auf dem Dogma festsitzend, daß eine Besserung der Arbeiterzustände – die im Laufe der 70er Jahre, zuerst

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ein Unglück für die Nation: Der Tod des „90-Tage-Kaisers“ Friedrich III. 1888, von dem das liberale Bürgertum viel erhofft hatte. Durch den frühen Tod des erst am 9. März 1888 inthronisierten Kaisers Friedrich III. am 15. Juni 1888, wurden die Hoffnungen zunichte, er werde den Staat nach englischem Vorbild in eine parlamentarische Demokratie umwandeln.

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unter den desultorischen Wirkungen eines zu schwindelnder Höhe entwickelten ungesunden industriellen Aufschwunges, sodann einer schweren, lähmenden Handelskrise, sich zusehends verschlimmerten – nur durch Selbsthilfe erreicht werden könne und dürfe, daß alle Staatshilfe verwerflich sei, hatten diese Parteien doch nichts getan, um die Arbeiterselbsthilfe zu fördern oder zu organisieren; nichts oder doch so wenig, daß die schwache Entwicklung dieser Organisationen auf einen Fehler in der inneren Anlage deutlich hinwies. Die Entstehung des Vereins für Sozialpolitik, dessen wissenschaftliche Urheber zum größten Teile politisch Liberale waren und bleiben wollten, schon im Jahre 1872 hätte füglich die liberalen Politiker, von denen sogar einer der einflußreichsten und bedeutendsten tätig an dem Vereine teilnahm, auf die Wege weisen sollen, die sie mit aller Energie und Klarheit betreten mußten. Anstatt dessen wurde mit dem mißfälligen Namen des Kathedersozialismus ein verwerfendes Urteil über diese Richtung gefällt, anstatt dessen erfolgte, den ökonomischen Interessen der Großindustrie zuliebe, die Bekehrung zum Schutzzoll bei dem größeren Teile der Nationalliberalen, eine Bekehrung, der die Führer der Partei, wenn rein politische Motive stark genug gewesen wären, sich so stark widersetzt haben würden, daß sie die Bekehrten in das konservative Lager hinübergedrängt hätten, anstatt die Ausscheidung der Freihändler zu veranlassen. Die künstliche Förderung der ohnehin unter so glücklichen Chancen sich entwickelnden Großindustrie, die mit dem Nachlassen der Handelskrisis (welches Nachlassen sogar durch die hohen Zölle verzögert wurde) auch bei Erhaltung der freihändlerischen Richtung einen erneuten Aufschwung nehmen mußte; die dadurch Begünstigte, ohnehin in viel zu 1 8

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desultorischen: [lat.] svw. abspringend. Vereins für Sozialpolitik: Der 1872 vor allem auf Initiative Gustav Schmollers gegründete Verein für Socialpolitik setzte sich aus Wirtschaftswissenschaftlern und Praktikern des Wirtschaftslebens zusammen, um wirtschaftliche und soziale Fragen einer wissenschaftlichen Klärung und praktischen Lösung zuzuführen. Er wurde 1936 aufgelöst; nach 1945 neu begründet besteht er noch jetzt [2009]. Kathedersozialismus: 1872 veröffentlichte der nationalliberale Publizist, zugleich MdR, Heinrich Bernhard Oppenheim eine Schrift mit dem Titel „Der Kathedersozialismus“, insbesondere als Reaktion auf Schmollers „Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jahrhundert“, die im Gegensatz zur klassischen Nationalökonomie um des Gemeinwohl willen staatlich regulierende Eingriffe verlangte. Der Name „Kathedersozialismus“ wurde bald allgemein verwendet, war sachlich aber nicht ganz zutreffend, da die Kathedersozialisten weniger Sozialisten als Sozialreformer waren und den Marxismus bekämpften. Die Kathedersozialisten bildeten den Kern des Vereins für Socialpolitik: Adolph Wagner, Gustav Schmoller und Lujo Brentano.

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raschem Tempo vor sich gehende Vermehrung der Einwohnerschaften der Großstädte und aller industriellen Zentren; die zur Kompensation für den Grundbesitz notwendig gewordene Einführung von Getreidezöllen, die ihre Steigerung wie von selber bedingen, wenn einmal der Grundsatz gilt, daß auch der schlecht wirtschaftende Landwirt auf angemessene Preise für seine Produkte, auch der verschuldete Grundbesitzer um seiner Standesgewohnheiten willen Anspruch auf ungeschmälerten Rentenbezug habe; die gleichzeitig über die Arbeiterpartei, den liberalen Prinzipien und Traditionen entgegen, verhängte harte Verfolgung ihrer Schriften und Worte, die das „Irren“ wieder nach altem kirchlichen Vorbilde zur Todsünde machte und die Irrenden um so fester zusammenschmiedete; die immer zunehmende Entfernung und Entfremdung der reich gewordenen „Bourgeoisie“ in Lebensgewohnheiten und Anschauungen vom Volke, verschärft durch die Adoption eines militärischen Befehlshabertons und Gebarens in Privatverhältnissen, eines Gebarens, das mehr an die Traditionen des Heeres vor Scharnhorst und Boyen als an die der Landwehr von 1813 erinnerte; endlich, als ein charakteristisches Symptom, die Hinwendung der studierenden Jugend, die ehemals, 50 Jahre lang, unter schweren Opfern und Verfolgungen, für den Liberalismus gefochten hatte, zu einer unbestimmbaren Parteirichtung, die in dunklen antisemitischen Gefühlen und in allgemeiner politischer Müdigkeit ihre stärksten Wurzeln hatte – alle diese Momente bedingten die vollständige Einbuße jedes Einflusses der durch die gesamte neuere Entwicklung so hoch emporgehobenen Klasse des gebildeten Bürgertums auf die ihr in natürlichen, sozusagen häuslichen Beziehungen so nahestehende, auf ihre Hilfe, Belehrung, ihr Verständnis angewiesene, nach Teilnahme an den Kulturgütern, ebenso wie nach besserer materieller Lebenshaltung verlangende Arbeiterschaft. Sicherlich liegen die Ursachen dieser Erscheinung noch an anderen Stellen des gesellschaftlichen und politischen Zustandes in dem so plötzlich zusammengeschweißten

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Scharnhorst: Der preuß. General Gerhard Johann David Scharnhorst gilt als Erneuerer des preuß. Militärwesens und Vorbereiter der allgemeinen Wehrpflicht. Hermann von Boyen, preuß. Generalfeldmarschall, war ebenfalls Heeresreformer; siehe auch Tönnies 1906g, oben S. 415. Landwehr von 1813: In Preußen wurde am 17. 3. 1813 eine Landwehr-Verordnung erlassen, die alle nicht dem stehenden Heere angehörenden Männer vom 17. bis zum 40. Lebensjahr erfasste. Das Wehrgesetz vom 3. 9. 1814 ließ neben dem aktiven Heer die Landwehr als selbständiges milizartiges Gebilde bestehen. Durch diese Erneuerung des preuß. Heereswesens wurde ein „Volk in Waffen“ geschaffen und die Befreiung Preußens von der frz. Vorherrschaft vorbereitet.

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Deutschen Reiche; es trugen persönliche Eigenschaften des Staatsmannes dazu bei, der zu seiner Lenkung in den ersten beiden Dezennien berufen war. Dennoch darf man sagen: ein wirklich energischer, gut geführter, klar sehender Liberalismus hätte sich die Chancen, die politische Führung im Deutschen Reiche gegen das Zentrum zu behaupten, nicht so völlig entgehen lassen. So wie die Dinge sich gestaltet haben, konnte auch das an sich sehr bedeutende Werk der Versicherungsgesetze, das, unter dem Drucke der sozialdemokratischen Agitation und Entwicklung, äußerlich den Anregungen freikonservativer Magnaten verdankt wurde und aus der Initiative der kaiserlichen Regierung (wie sie in diesem Falle genannt werden kann) hervorging, nicht mehr in dem bezeichneten Sinne wirksam werden. Eine Regierung, der die nationalliberale Partei zu liberal war und die sich auf das Zentrum zu stützen anfing, hatte notwendigerweise ihren Kredit bei den so lange im Geiste des Liberalismus erzogenen Massen verloren.

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Die Sozialdemokratie ist eine scharf progressive, gegen alle nationalen und politischen Traditionen teils gleichgültige, teils feindselige Partei der unbedingten Neuerung, d. h. sie befürwortet und befördert praktisch zunächst die Einfügung der industriellen Arbeiterschaft in ihre gegebene soziale Lage und dadurch in die bestehende Gesellschaft, so heftig sie theoretisch diese

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des Staatsmannes: D. i. Bismarck. Versicherungsgesetze: In einer kaiserlichen Botschaft wurde am 17. 11. 1881 im Reichstag ein sozialpolitisches Programm angekündigt. Die Einführung der Sozialversicherung wurde notwendig, da durch die zunehmende Industrialisierung vormalige Versorgungsnetze unzureichend geworden waren und die Armenhilfe den finanziell überforderten Geburtsgemeinden oblag. In einem ersten Gesetz wurde im Juni 1883 die Krankenversicherung der Arbeiter geregelt. Am 27. Juni 1884 folgte das Gesetz über die Unfallversicherung. Abgeschlossen wurde das Gesetzeswerk am 22. 6. 1889 mit der Alters- und Invaliditätsversicherung. nicht ... wirksam werden: Obwohl das Deutsche Reich mit dieser Sozialgesetzgebung allen anderen Staaten der Welt voranschritt und lange Zeit Vorbild gewesen ist, wurde die Wirkung, die Bismarck sich mit dieser Gesetzgebung erhofft hatte, nämlich die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen und sie der Sozialdemokratie zu entfremden, nicht erreicht. Die Solidarität der Arbeiter führte trotz des bis 1890 immer wieder verlängerten Sozialistengesetzes zu einem stetigen Anwachsen der Partei. Sie wurde mit etwa 20% der Wählerstimmen 1890 zur relativ stärksten deutschen Partei, was sich jedoch wegen des Dreiklassenwahlrechts in Preußen nicht im gleichen Maße auf die Zahl der Mandate auswirkte.

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verneinen mag: sie erstrebt zu diesem Behufe die Ausbildung eines entschiedenen Bewußtseins dieser Lage und der daraus entspringenden Solidarität ihrer Interessen, die Ausnutzung der Vorteile, die diese Lage ihr darbietet; sie faßt aber weiterhin die Gewinnung politischer Macht ins Auge, mit dem ausgesprochenen Endziele, im Besitze der politischen Macht die gesellschaftlichen Besitz- und Rechtsverhältnisse ihren Interessen und Theoremen gemäß umzugestalten. Sie hält sich wissenschaftlich und moralisch für berechtigt, dieses Endziel zu erstreben, weil dem wissenschaftlich erkennbaren notwendigen Gange der ökonomischen Entwickelung gemäß eine solche Umgestaltung immer mehr im allgemeinen Interesse, dem zuletzt nur noch das Interesse einer unbedeutenden Minderheit von Grundbesitzern und Kapitalisten entgegenstehe, erforderlich werde; weil die Produktion selber, durch den Stand der Technik, schon sozialisiert sei, da die Schaffung der Werte wesentlich durch die Kooperation und durch die Arbeit mit den vom Kapitalisten nicht erfundenen, aber angeeigneten Arbeitsmitteln zustande komme. Wir machen uns nicht anheischig, hier zu prüfen, ob und wiefern diese Ansicht haltbar sei. Für die kritische Beleuchtung der Parteirichtungen genügt es, festzustellen, daß diesem auf Umgestaltung abzielenden Wollen gegenüber alle übrigen Parteien als konservativ zu bezeichnen sind 2 , wenn auch sehr mehr oder weniger und mit sehr verschiedenen Akzenten. In bezug auf die bestehende „Gesellschaftsordnung“ und deren rechtliche Fundierung sind eigentlich und streng konservativ im Grunde nur – die Liberalen, daher die ausgesprochen Liberalen am meisten; und nun kann man zweifeln, ob die „liberale Vereinigung“ oder die „freisinnige Volkspartei“ den sozialistischen Modifikationen der Gesellschaftsordnung – nur solche, diese aber auch stark, kommen unmittelbar in Frage – schärfer widerspreche; denn beide haben sich einer überwältigenden Volksströmung und öffentlichen Meinung gegenüber, die weit jenseits der Grenzen sozialdemokratischer Parteigedanken solche Modifikationen ungestüm verlangt, eine gewisse Reserve auferlegen müssen. Prinzipiell stand vor kurzem noch die liberale Vereinigung am reinsten auf dem Standpunkte des sozialökonomischen Liberalismus: sie hat ihren kraftvollen Anhang in Seehandelsstädten und in Kreisen des Bankkapitals, woraus allerdings auch folgt, daß dieser Anhang praktisch durch die gesetzlichen Einschränkungen des freien Arbeitsvertrages verhältnismäßig wenig getroffen wird; auch hat sich ein beträchtlicher Teil der alten ideologischen Gefolgschaft des Nationallibe 2

Dies schon richtig ausgeführt von H. v. Scheel „Die sozialpolitischen Parteien“ (1871).

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ralismus – der „deutschen Bildung“ – an diese Seite gehalten (man erinnere sich, daß Theodor Mommsen eines ihrer Häupter war), der aus humanen Gründen die Hebung der Arbeiterklasse befürwortet und es mit einer strikten Observanz des ökonomischen Liberalismus nicht allzu genau nimmt. Daher auf dieser Seite eine gewisse Tendenz zur Duldung der Sozialdemokratie als einer „radikalen Arbeiterpartei“ bedeutsam hervortritt, und neuerdings sogar ein „Zusammengehen“ mit ihr zur Bekämpfung und Überwindung der „Reaktion“ energisch befürwortet wird; was freilich ein Maß politischer Einsicht und Energie voraussetzt, das bei der mehr zum Dienen als zum Herrschen gestimmten deutschen bürgerlichen Klasse nicht vermutet werden darf. Die „freisinnige Volkspartei“ betont ihrem Wesen und ihrer Vergangenheit gemäß stärker die formalpolitischen Merkmale des Liberalismus; sie verleugnet zwar die sozialpolitischen keineswegs, aber sie, oder vielmehr schon die preußische Fortschrittspartei, von der sie in direkter Linie abstammt, hat sich doch gewisser Velleitäten nicht erwehren können (und konnte es nicht wollen), die, wenn auch gar nicht zum politischen, so doch zum gesellschaftlichen Sozialismus eine gewisse Neigung unverkennbar kundtun. Das Gewerkvereins- und das Genossenschaftswesen sind Modifikationen der Gesellschaftsordnung, die von innen heraus erfolgen, aber doch auf der Voraussetzung ihrer Korrekturbedürftigkeit sich aufbauen und teils den Zweck haben, die freie Konkurrenz durch Assoziation zu beschränken, teils mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, wie sie aus dem „natürlichen“ Prozeß des Erwerbtriebes und Tausches hervorgeht, zu interferieren. So wird denn auch innerhalb der Partei der kleine Rest von Arbeiteranhang, den sie noch hat, leicht zu einem störenden Element. Nur die Diktatur des jüngst hingeschiedenen Parteiführers, der viele Niederlagen ihre Energie nicht genommen hatten, vermochte noch die programmatische Forderung einer vorsichtigen sozialen Reformpolitik, auf die jener Anhang drängt, abzuwehren – theoretisch; denn praktisch läßt sich die Negation längst nicht mehr durchführen. Der süddeutsche, altselbständige Flügel dieses radikalen Liberalismus steht auch dem politischen Sozialismus erheblich näher und ist ihm im Laufe der Entwickelung immer näher gekommen. Diese süddeutsche Volkspartei ist dadurch zunächst 27

Parteiführers: D. i. Eugen Richter, der seit 1867 als Linksliberaler dem Reichstag, seit 1869 auch dem preuß. Abgeordnetenhaus angehörte. Er war der einflussreichste Führer der Fortschrittspartei, seit 1884 der Deutschfreisinnigen, seit 1893 der Freisinnigen Volkspartei.

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gewachsen von 1,2 % im Jahre 1887 auf 2,2 % 1893, dann freilich wieder vermindert auf 1,4 % 1898 und sogar auf 0,9 % 1903. Offenbar, und wie leicht nachzuweisen, ist diese Abnahme durch steigende Konkurrenz der Sozialdemokratie bewirkt worden. Die glänzende Entwickelung dieser Partei im Deutschen Reiche ist bekannt, sie möge hier, wie die der übrigen Hauptparteien, in den Verhältnissen der abgegebenen gültigen Stimmen zu deren Gesamtzahl ausgedrückt werden. Dieser Prozentsatz war 1871 nur 2,9, erhob sich 1874 auf 6,7 und 1877 auf 9,1, sank 1878 auf 7,6, 1881 weiter auf 6,1 (die Senkungen waren Folgen zuerst des drohenden, sodann des in Kraft getretenen Ausnahmegesetzes), um 1884 wieder auf 9,7, 1887 auf 10,1 und 1890 auf 19,7 zu steigen; nach diesem großen Sprunge ist der Fortschritt weniger stark, aber stetig gewesen: zu 23,3 1893, 27,1 1898 und 31,7 1903. Gesetzt, daß diese Entwicklung in diesem Tempo ruhig fortgehe und weder Auflösungswahlen noch Verfassungsänderungen dazwischen treten, so würde im Jahre 1918 die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen auf Kandidaten dieser Partei fallen, was freilich, bei bestehender Einteilung der Wahlkreise, noch bei weitem nicht eine Mehrheit der gewählten Abgeordneten bedeutet. VIII.

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Nun berührt sich aber notwendigerweise in der Kritik des wirtschaftlichen Liberalismus, nachdem einmal der Zweifel Platz gegriffen hat, alles, was gegenüber dem Liberalismus konservativ war und zum guten Teil seinen altererbten Einfluß auf die preußische Regierung, dadurch also auf die Reichsgesetzgebung besitzt und geltend macht. Bezeichnend dafür ist die Ankündigung der Sozialreform als einer Art des „praktischen Christentums“ gewesen, eine Formel, die den Historiker wie eine Neurezeption des kanonischen Rechtes anmutet, wie sie denn in keiner programmatischen Äußerung der Zentrumspartei zu wirtschaftlichen Fragen fehlen darf; wo sie freilich im Grunde eine prinzipielle Negation des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems bedeutet. Der Rumpf des Nationalliberalismus aber war, schon durch die gesellschaftliche Stellung seiner Elemente, mehr aber noch durch die Zollpolitik, teils reine Regierungspartei, teils – und eben dadurch – der linke Flügel des protestantischen (mehr oder weniger gouvernementalen) Konservativismus geworden; mithin gegenüber dem sozialkonservativen Charakter des Liberalismus kritisch und progressiv, mindestens indifferent. (Es ist hier gleichgültig, ob einige diesen „konservativen Sozialismus“ oder „Staatssozialismus“ oder wie immer die Richtung genannt

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werde, vielmehr als regressiv bezeichnen wollen; in dem Epitheton „progressiv“ soll kein Werturteil enthalten sein; wie denn überhaupt in dieser objektiven Darstellung Werturteile unterdrückt werden.) Nun hat anderseits der Sozialismus, sofern er mit politisch-demokratischen Ideen, also mit radikalstem Liberalismus assoziiert ist, notwendigerweise seinen schärfsten Feind an der politischen konservativen Partei, namentlich an der preußisch-altkonservativen, im Reiche deutsch-konservativen Richtung, die sich rühmen kann, mit keinem Liberalismus legiert zu sein, und eine ihrer Stützen an der protestantischen Orthodoxie besitzt, mit einigem Rechte also die „evangelische Ausgabe“ des Zentrums genannt wird. Im übrigen steht diese Partei mit ehernen Füßen dem militärischen Monarchismus zur Seite. Daher spannt sich an das Verhältnis zur Monarchie und zum Heere der stärkste Gegensatz zwischen dieser altaristokratischen und jener neudemokratischen Partei. Je mehr in der öffentlichen Meinung und mehr oder minder in allen Parteien, – denn vollends das Zentrum steht gerade in dieser Hinsicht, in der Negation des ökonomischen Liberalismus, im Zentrum – die Verteidigung der Gesellschaftsordnung, wenn auch formell leidlich aufrecht erhalten, ja vielleicht stärker betont, praktisch sich abschwächt; um so mehr muß, auch von der öffentlichen Meinung getragen, die Verteidigung der Staatsordnung alle Kräfte zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie um sich sammeln, mit anderen Worten, innerhalb der akatholischen Parteien muß die deutschkonservative sich ebenso heben, wie die national-liberale gesunken ist. Dies Verhältnis kommt genau zum Ausdruck in der relativen Stimmenzahl. Die deutschkonservative Partei sinkt auf ein Minimum mit 7,0 im Jahre 1874, wo die national-liberale ihren Zenit erreicht. Jene steigt dann 1877, während diese stationär bleibt, schon auf 9,8 %, während gleichzeitig Fortschrittspartei und Zentrum sinken. Jene wächst ferner, nunmehr auch auf Kosten des Nationalliberalismus, 1878 (Auflösungswahlen) auf 13,0 %. In diesem Jahre ist aber der Aufstieg der Regierungspartei noch viel stärker, weil es sich lediglich um unbedingte Unterstützung der Bismarckschen Regierung – auch zugunsten der Industriezölle – handelte, der die Reichspartei immer am nächsten stand. Erst im Jahre 1881 kommt die Entwickelung der deutschkonservativen Richtung rein zum Ausdruck, mit Wachstum auf 16,3, bei gleichzeitigem starken Abfall aller „weiter links“ stehenden Parteien. Die deutschkonservative Partei hatte aber damit ihr Maximum erreicht. Die relative Ziffer 1 2 2

Epitheton: [gr.] Hinzugefügtes, svw. Beiwort. akatholischen: nicht katholischen

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ist zuerst gesunken, dann stabil geblieben, einmal (1893) wieder gestiegen, zuletzt gesunken auf 11,1% (1898) und weiter auf ca. 10 % (1903). Die wirtschaftlichen Interessenkämpfe sind zu mächtig und zu laut geworden. Sie haben auch auf diese Partei stark zersetzend gewirkt. Einmal hat der Antisemitismus, mit dem sie selber die stärkste Sympathie durch Tradition und Gefühle hat, ihr Abbruch getan. Die ausgesprochen antisemitisch-politischen Richtungen haben zum größten Teile einen stark demokratischen, sogar demokratisch-sozialistischen Beigeschmack, wenigstens in der Theorie. Ihre gesellschaftlichen Wurzeln sind freilich mannigfach und verworren. Die stärkste besteht in einem erheblichen Teile des Bauernstandes in den neuen preußischen Provinzen, der sich gegen den z. B. in Hessen tief eingewurzelten Wucher dadurch wehren will, vielleicht auch gleichzeitig seiner Abneigung gegen den preußischen Eroberer einen verhüllten Ausdruck gibt. Dazu kommen großstädtische Elemente, sehr verstreut, die teils denselben Beweggrund haben (Kleinbürger, namentlich Handwerker), teils unter dem Drucke der Konkurrenz des größeren Kapitals im Handelsgewerbe leiden (Krämer usw.), teils endlich unter diesem Schilde eine Arbeiterbewegung der Handlungskommis und anderer, für die Sozialdemokratie sich zu gut haltender oder ihre Gefährlichkeit scheuender, den Liberalismus aber eben als „jüdisch“ und „kapitalistisch“ perhorreszierender Elemente. Eine naheverwandte neue Parteigruppe ist die der „Christlich-Sozialen“, die zugleich sich, so lange, bis sie wegen ihrer, wenn auch oberflächlichen Berührungen mit der Sozialdemokratie zurückgestoßen wird, nahe an die Altkonservativen hält, wenngleich nicht, ohne auch mit den ihr innerlich noch fremderen Neukonservativen („Reichspartei“) Fühlung zu suchen. Ihre hauptsächliche Bedeutung hat die Gruppe dadurch, daß sie vielfach eine gewisse Scheidung des protestantischen Pfarrers von seinem rechten Arme, dem Gutsherrn (dem „Squire“) bedeutet, also von dem historischen, insbesondere preußisch-historischen Baume des Konservativismus zugunsten einer gewissen Anlehnung an die Bedürfnisse der unteren Klasse abblättert. Viel schlimmer aber als alle diese Abblätterungen trifft diesen Baum die neue Tendenz zu rein wirtschaftlicher Parteiung; sie frißt an seiner Wurzel. Der „Bund der Landwirte“ will allerdings, seinem Vorgehen nach, keine politische Partei sein. Er tritt aber nicht allein agitatorisch als eine solche auf, sondern beteiligt sich direkt an den Wahlen zum deutschen Reichstage. Er hat der Natur der Sache nach, da die Lage des größeren Grundbe 20 33

perhorreszierender: [lat.] verabscheuender. Bund der Landwirte : Siehe dazu oben, S. 371.

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sitzes sachlichen und persönlichen Schwierigkeiten unterliegt, unter diesem Stamme der konservativen Partei seinen Hauptanhang und nimmt dadurch diesem seinen Charakter, der Wahrung staatlicher Tradition und Autorität zu dienen. Wenn man auch Grund hat, solche Charaktere immer für Hüllen von sozialen und zuletzt von wirtschaftlichen Interessen zu halten, so werden dadurch ihr Wert und ihre Bedeutung nicht geringer. Denn wenige menschliche Angelegenheiten verdienen es, und können es vertragen, ohne Hülle gesehen zu werden. Die antisemitischen und christlich-sozialen Gruppen spielen auch zusammengenommen nur eine unbedeutende Rolle bei den Reichstagswahlen. Sie nahmen einen nennenswerten Aufschwung zwischen 1890 und 1893, offenbar unter dem populären Eindrucke, daß der neue Kaiser einer ähnlichen (sozialreformerischen) Richtung huldige, von 0,6 auf 3,4 %, erhoben sich noch um ein Geringes 1898 – auf 3,6 –, um 1903 wieder auf 2,5 zu fallen. Der bayerische Bauernbund und der Bund der Landwirte zusammen brachten 1898 auch 3,2 % auf und fielen gleichfalls auf 2,4 %. Auch in der Konkurrenz der Parteien sind es nicht die Kleinbetriebe, denen Fortuna sich gewogen zeigt.

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IX. Dies Schicksal hat auch die interessante kleine Gruppe erfahren, die unter dem Namen der Nationalsozialen bekannt geworden ist. Ursprünglich als die „jüngeren Christlich-Sozialen“ vom konservativen Gefolge abgebröckelt, hatten sie sich 1896 zuerst als Verein, später allzukühn als besondere Partei etabliert. Geist und Wille eines Mannes, der zu den wenigen politischen Köpfen gerechnet werden muß, die bisher aus dem preußisch-deutschen Reich hervorgegangen sind, gaben dieser Schar von Offizieren ohne Mannschaft, wie man sie treffend benannt hat, ihr Dasein und ihren Wert. Sie hat es aber nicht über 30 300 Stimmen bei den Reichstagswahlen 1903 gebracht. Ihr Programm war nicht, wie man nach dem Namen vermuten

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als Verein: Der Nationalsoziale Verein war eine 1896 gegründete politische Vereinigung unter Führung von Friedrich Naumann, Paul Göhre und Rudolph Sohm, die für ein demokratisches und soziales Kaisertum eintrat. 1903 löste sie sich auf. In der von Naumann hgg. ‚Nationalen Wochenschrift‘ „Die Hilfe“ veröffentlichte Tönnies „Schiller als Zeitbürger“, siehe oben, S. 295–298. eines Mannes: D. i. Friedrich Naumann, der sich 1903 nach dem Scheitern einer eigenen Parteibildung der Freisinnigen Vereinigung anschloss.

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könnte, einfach das eines „nationalen Sozialismus“, sondern sie definierte das Nationale im Sinne einer entschiedenen imperialistischen Machtpolitik, insbesondere zugunsten jeder Flottenvermehrung, indem sie diese Politik als im demokratischen Interesse geboten bezeichnete, und das demokratische Interesse bestimmte nach den Daseins- und Lebensbedürfnissen einer auf die Blüte der Exportindustrien angewiesenen Arbeiterschaft, deren natürliche Vermehrung das Deutsche Reich nur durch solche Mittel tragen könne. Mit Abstoßung aller weitergehenden und spezifisch sozialistischen Gedanken wird das „Soziale“ in die allseitige Hebung der Arbeiterklasse gesetzt, deren gesteigerte Konsumfähigkeit auch dem inneren Warenabsatz, insbesondere der heimischen Viehzucht und damit auch der Vermehrung bäuerlicher Wirtschaften, im Gegensatze zum Großgrundbesitze, zugute kommen müsse. Praktisch wurde dies Programm mehr und mehr eine zeitgemäße Auffrischung des nationalen Liberalismus, wenn auch nicht des Nationalliberalismus, von dem er sich nicht nur durch die Sympathie mit der wirtschaftlichen Seite der Arbeiterbewegung, sondern auch durch entschieden freihändlerische Tendenzen unterscheidet. So ist die Gruppe denn aufgegangen (nicht untergegangen) in der „liberalen Vereinigung“, deren Elemente ursprünglich aus Nationalliberalen bestanden hatten. Sie ist mit dieser Partei zusammengetroffen in der Erkenntnis, daß dem Liberalismus im Deutschen Reiche vor allem anderen Selbsterkenntnis, d. h. Einsicht in die Ursachen seiner Schwäche und seines Rückganges, not tue und ferner, daß ihm seine natürliche Aufgabe darin gestellt sei, sich zu einigen, um die Herrschaft des mit dem Zentrum verbündeten Konservatismus zu brechen oder wenigstens zu schwächen. Diese Aufgabe gebiete ferner, nicht nur die noch innerhalb des Nationalliberalismus vorhandenen liberalen Elemente zu attrahieren, sondern vor allem auch mit der Sozialdemokratie, trotz getrennten Marschierens und theoretischen Gegensatzes, an allen Punkten vereint zu schlagen, wo es praktisch durch gemeinsame Interessen geboten sei.

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„liberalen Vereinigung“: D. i. die Gruppe der nationalliberalen Sezessionisten im Reichstag 1880 bis 1884, s. o., S. 442.

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X. Für die Zukunft des deutschen politischen Lebens, und somit der Parteiverhältnisse selber, wird die fernere Entwickelung der beiden zahlreichsten Parteien, die zugleich in ihrer geistigen Verfassung am weitesten voneinander abstehen, voraussichtlich die größte Tragweite haben: die der sozialdemokratischen Partei und die des Zentrums. Gegen jene bereiten seit lange die einflußreichsten Kreise einen Schlag vor, durch den sie das fernere Wachstum und den zunehmenden Einfluß im Reichstag hemmen wollen: am meisten Aussicht unter mancherlei Vorschlägen dürfte die von Bismarcks Autorität gestützte Ersetzung der geheimen durch öffentliche Abstimmung bei den Wahlen zum Deutschen Reichstage haben. Die Reaktion in diesem Sinne wird noch aufgehalten: einmal durch die Persönlichkeit des gegenwärtigen Reichskanzlers, der als besonnener Staatsmann die Gefahren einer so tiefgehenden Verfassungsänderung klar erkennen dürfte, und zum andern eben durch das Zentrum, das in dem bestehenden Wahlrecht die Wurzel seiner politischen Organisation und Macht zu würdigen und zu schätzen weiß. Es sprechen freilich manche Anzeichen dafür, daß diese Widerstände nicht von absoluter Dauer sein werden. Auch kann man mit ziemlicher Sicherheit dem Zentrum die Prognose stellen, daß die Zahl seiner Anhänger zunächst noch allmählich, aber unter dem Einflusse irgend welcher wahrscheinlichen Ereignisse, die im Schoße der Zukunft liegen, auch einmal rasch und stark sich vermindern wird. Aber die große innere Lebenskraft, welche diese Partei bisher durch immer erneute Anpassungen an schwankende Regierungsmaximen und an die weit voneinander abweichenden Bedürfnisse der von ihr repräsentierten Volksschichten bewahrt hat, wird sie wenigstens auf Jahrzehnte hinaus als einen überlegenen politischen Machtfaktor erhalten und ihren Einfluß um so sicherer vertiefen, je mehr sie der Verantwortung, die von dem eigentlichen Regieren unablösbar ist, überhoben bleibt. Was aber die voraussichtliche Entwickelung der Sozialdemokratie betrifft, so läßt sich diese mit einem Worte nur dahin vorausbestimmen, daß sie dadurch bedingt sein wird, ob die zukünftigen Regierungsmaximen im Reiche und in den Staaten wesentlich konservativ, d. h. in diesem Falle polizeistaatlich, bleiben oder wesentlich liberal, d. h. rechtsstaatlich und staatsbürgerlich werden. Denn das Verlangen nach solcher Regierungsweise macht wenigs-

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gegenwärtigen Reichskanzlers: D. i. Fürst Bernhard Heinrich von Bülow, der zwischen 1900 und 1909 amtierte.

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tens ¾ der Substanz des wirklichen politischen Bewußtseins der Arbeiterklasse aus: sie will die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, deren Lasten sie in jeder Beziehung fühlen muß, auch nach den für sie günstigeren Seiten hin entwickeln; ein Verlangen, dessen logisches und ethisches Gewicht nicht verkannt werden kann. Ihre sozialistische Richtung trifft mit den eigenen Bedürfnissen eines Staates zusammen, der sich vor den überwuchernden Einflüssen der Plutokratie zu schützen genötigt ist, im konzentrierten Kapitalismus eine mächtige Nebenregierung heranwachsen sehend, die er eifersüchtig zu bewachen alle Ursache hat. Ein Staatsmann, der über den Parteien stehend regieren will, mag in Wille und Gesinnung dem Proletariat noch so fern stehen; die Erkenntnis wird ihn mit dieser Klasse, die intensiv und extensiv fortwährend, solange die volkswirtschaftliche Entwickelung in gleichen Bahnen bleibt, an Bedeutung zunehmen muß, notwendigerweise immer näher zusammenrücken.

Condorcet „Barnave kennt und Brissot die Geschichte, Condor­cet, Mirabeau und Petion auch“ heißt es in den Eingangsstrophen von Byrons Don Juan, die Goethe übersetzt hat. Ja, die Geschichte redet von ihm, aber nicht viel und nicht genug; zumal in unseren deutschen Werken über die große Revolution kommt er nicht zu der ihm angemessenen Geltung. Und doch war er einer ihrer größten, wenigstens einer ihrer besten Männer, ein Mann, den in ihrem Strudel verschlungen zu haben, der Schreckenszeit in einem Grade, wie kaum eine andere ihrer Taten, zur Unehre gereicht. Er war der Typus des Denkers und Forschers, der vom Geiste des 18. Jahrhunderts erfüllt, an die Menschheit glaubte, die Menschheit liebte, für die Menschheit hoffte – ein Ritter ohne Furcht und Tadel, ein Mann von idealer Gesinnung ... kein fremder, kein unlauterer Beweggrund bestimmte sein politisches Handeln, dem er mit einem Eifer sich hingab, den man, auch abgesehen von dem traurigen Ausgange, zu bedauern sich gestimmt fühlt, wenn man erwägt, daß es ein wissenschaftlicher Geist von erstem Range war, der sich darin verzehrte. 1

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Condorcet erschien in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 1906, 6. Jg., Nr.17, 1. Dezemberheft, S. 689–694 (Fraktur). Der Überschrift folgt der Zusatz „Von Ferdinand Tönnies (Eutin).“. Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet war ein frz. Mathematiker, Politiker, Philosoph und Schriftsteller, zunächst Anhänger Dantons, dann der Gironde; er starb am Tage nach seiner Verhaftung, wahrscheinlich durch Gift. Barnave: D. i. der frz. Politiker und Anführer des Clubs der Feuillants, Antoine Pierre Joseph Marie Barnave; Jacques Pierre Brissot, der nach dem Sansculotten-Aufstand 1793 hingerichtet wurde, war Führer der Brissotins (Girondisten); Honoré Gabriel de Riqueti Graf von Mirabeau war Präsident der Nationalversammlung; Jérôme Pétion de Villeneuve war Deputierter des Dritten Standes in den Generalständen, Girondist, Mitglied des Jakobinerclubs, Bürgermeister von Paris und Präsident des Nationalkonvents, er starb 1794 vermutlich durch Suizid. Byrons Don Juan: Des engl. Dichters gewaltiges Fragment „Don Juan“ (Byron 1821) ist weniger eine Darstellung der Liebesabenteuer des historischen Don Juan als eine groß angelegte Zeitsatire. Goethe hat Byron im zweiten Teil des „Faust“ in der Gestalt des Euphorion ein Denkmal gesetzt. Der Vers, auf den Tönnies sich bezieht, ist von Goethe (1890b: 197 f.) sehr frei übersetzt. In der dritten von fünf Strophen beginnt er so, wie hier von Tönnies zitiert, allerdings ohne Hervorhebung.

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Kaum 30 Jahre alt (geboren 1743) galt er für einen der zehn ersten „Geometer“ Europas, wenige Jahre nachher wurde er Mitglied der Akademie, für die Enzyklopädie hat er viele Artikel geschrieben, er war der hochgeschätzte Freund Voltaires und Turgots, sein Ruhm war fest begründet, als die stürmischen Tage anbrachen, an die wir gerade heute, wo im Osten von uns, wie damals im Westen, die Banner der politischen Freiheit entfaltet werden, so lebhaft uns erinnert fühlen ... Aber nicht von dem Mathematiker, sondern von dem Denker über die Geschichte der Menschheit, ist der Glanz ausgegangen, der noch heute, wenn auch nicht vielen bekannt, den Namen Condorcets umstrahlt. Freilich hat das merkwürdige Büchlein „Versuch eines Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes“ sehr deutliche Mängel; aber es wurde geschrieben von einem Gerichteten, Verlassenen, den eine edle Frau vor den Blicken seiner Verfolger in Schutz genommen hatte; ohne Hilfsmittel, frei aus dem Gedächtnis, hastig, fast atemlos, aber mit leuchtender Stirn, hat dieser Märtyrer des freien Geistes sein Glaubensbekenntnis verfaßt, „zwei Schritte vom Schaffot“ wie Louis Blanc sich ausdrückt (Histoire de la rev. franc. t. x. p. 418). Nur mit Bewunderung und Rührung kann man das Schlußkapitel (er nennt es „die 10. Epoche“) lesen, worin er die zukünftigen Fortschritte des Menschengeschlechtes zeichnen will. „Erscheinen also wird der Tag, wo die Sonne nur noch freie Menschen und solche, die keinen anderen Herrn über sich anerkennen als ihre Vernunft, auf der Erde bescheinen wird; wo die Tyrannen und die Sklaven, die Priester und ihre törichten oder heuchlerischen Werkzeuge nur noch in der Geschichte und auf den Bühnen

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Büchlein: Vgl. Condorcet 1796 (zuerst: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris 1778/79). „zwei Schritte vom Schafott“: Vgl. Blanc (1847–1862: Bd. 10, 418): „Condorcet l’écrivît, ce livre qui respire une sérénité sublime, à deux pas de l’échafaud“. Schlußkapitel: Offensichtlich erfolgte die Übersetzung des folgenden Zitats durch Tönnies selbst. Die einzige deutschsprachige Ausgabe, die ihm seinerzeit zur Verfügung stehen konnte, war die 1796 von Posselt (vgl. dort S. 285) herausgegebene. Dieser Text weicht aber gravierend von dem bei Tönnies wiedergegebenen ab; siehe Condorcet (1971: 259): „Il arrivera donc, ce moment où le soleil n’éclairera plus sur la terre que des hommes libres, ne reconnaissant d’autre maître que leur raison; où les tyrans et les esclaves, les prêtres et leurs stupides ou hypocrites instruments n’existeront plus que dans l’histoire et sur les théâtres; où l’on ne s’en occupera plus que pour plaindre leurs victimes et leurs dupes; pour s’entretenir, par l’horreur de leurs excès, dans une utile vigilance; pour savoir reconnaître et étouffer, sous le poids de la raison, les premiers germes de la superstition et de la tyrannie, si jamais ils osaient reparaître“. Vgl. auch die neuere, sorgfältige Edition von Wilhelm Alff (Condorcet 1963: 198 f.).

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existieren werden; wo man sich nur noch mit ihnen beschäftigen wird, um ihre Opfer zu beklagen, um sich durch den Schauder vor ihren Exzessen in einer heilsamen Wachsamkeit zu halten, um es zu verstehen, die ersten Keime des Aberglaubens und der Tyrannei, wenn sie jemals wagen sollten, wieder zu erscheinen, rechtzeitig zu erkennen und unter dem Gewichte der Vernunft zu ersticken.“ Man kann sich nicht verhehlen, daß sein Eifer und Haß eine Tinktur von Fanatismus hat, aber es ist jener Fanatismus, der ein Reflex des gegnerischen Fanatismus ist, zurückgestrahlt von einer Seele, die erfüllt ist von der Anschauung des Wahren und Guten. Nur im Schattenrisse zeichnet Condorcet die kommenden Fortschritte der Wissenschaft und der Technik; das 19. Jahrhundert ist über seine Erwartungen weit hinausgeschritten. Aber seine Hoffnungen setzt er in die Verminderung der Ungleichheiten zwischen den Menschen, und zwar vorzugsweise der Ungleichheit des Vermögens: das 19. Jahrhundert hätte ihn nicht nur enttäuscht, sondern vielleicht ihn, wie so manchen, an der Vernunft und Aufklärung verzweifeln lassen. Und doch ist für eine große sozialpolitische Neuerung das Programm bei ihm anzutreffen: für die allgemeine Altersversicherung – deren Idee er aus seinem Prinzip, daß man die Rechnung (den „Calcul“), insbesondere die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die sozialen und politischen Probleme anwenden solle, mit sicherer Kühnheit entwickelt. Auch sein anderer Lieblingsgedanke ist wenigstens wieder aufgelebt, der Gedanke einer Universalsprache; und Paris macht aufs neue als die Hauptstadt der „Welt“, durch die Propaganda dieses Gedankens, sich geltend; wiederum hat dort ein tüchtiger junger Philosoph (L. Couturat) mit Hingebung sich ihm gewidmet. Und klingt es nicht modern genug, wenn auf einer seiner letzten Seiten Condorcet ausruft: „Niemand kann doch wohl daran zweifeln, daß die Fortschritte der erhaltenden Medizin (wir würden sagen „der Hygiene“), der Gebrauch gesünderer Nahrungsmittel und Wohnungen, eine Lebens-

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Condorcet ausruft: Vgl. Condorcet (1971: 281): „Cette loi s’étend à l’espèce humaine, et personne ne doutera sans doute, que les progrès dans la médecine conservatrice, l’usage d’aliments et de logements plus sains, une manière de vivre qui développerait les forces par l’exercice, sans les détruire par des excès; qu’enfin, la destruction des deux causes les plus actives de dégradation, la misère et la trop grande richesse, ne doivent prolonger, pour les hommes, la durée de la vie commune, leur assurer une santé constante, une constitution plus robuste“. Vgl. auch Condorcet 1976: 219 bzw. 1796: 320 f.). Beachte folgendes Zitat bei Condorcet (1971: 283 f., vgl. ders. 1976: 221 f. bzw. 1796: 324 f.): „Et combien ce tableau de l’espèce humaine, affranchie de toutes ces chaînes, soustraite à l’empire du hasard, comme à celui des ennemis de ses progrès, et marchant d’un pas ferme et sûr dans

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weise, welche die Kräfte entwickeln würde durch Übung, ohne sie durch Übermaß des Gebrauches zu zerstören; daß endlich die Vernichtung der beiden wirksamsten Ursachen der Erniedrigung: des Elendes nämlich und des zu großen Reichtums, – daß diese Fortschritte die mittlere Lebensdauer der Menschen verlängern, ihnen eine dauerhaftere Gesundheit, eine kräftigere Leibesverfassung sichern werden?!“ – Nur im Schlußabsatze des Werkes bemerkt man, daß der weitschauende Mann auch an sich selber denkt – aber wie? „so gewährt dieses Gemälde der Menschheit, wie sie sich befreit von allen ihren Ketten, der Herrschaft des Zufalles gleichwie derjenigen der Feinde ihres Fortschrittes sich entzieht, mit festem und sicherem Schritte in der Bahn der Wahrheit, der Tugend und des Glückes wandelt, gewährt es dem Philosophen einen Anblick, der ihn tröstet angesichts der Irrtümer, der Verbrechen, der Ungerechtigkeiten, von denen die Erde noch befleckt wird, denen er gar oft zum Opfer wird. In der Anschauung dieses Gemäldes empfängt er den Preis seiner Bemühungen um die Fortschritte der Vernunft, um die Verteidigung der Freiheit ... sie ist ihm eine Zuflucht, wohin der Gedanke an seine Verfolger ihn nicht verfolgen kann; wo er, im Gedanken zusammenlebend mit dem Menschen, der in die Rechte wie in die Würde seiner Natur wiedereingesetzt ist, des anderen Menschen vergessen kann, den die Habsucht, die Furcht oder der Neid plagen und korrumpieren; dort lebt er in Wahrheit unter seinesgleichen, in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu schaffen gewußt hat, das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verschönt.“ Kaum war die Tinte getrocknet, mit der Condorcet diese Schlußworte geschrieben hatte, da war es um seine Sicherheit geschehen. Er erwählte den Tod eines Stoikers; lange schon hatte er ein von seinem Schwager, dem

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la route de la vérité, de la vertu et du bonheur, présente au philosophe un spectacle qui le console des erreurs, des crimes, des injustices dont la terre est encore souillée, et dont il est souvent la victime! C’est dans la contemplation de ce tableau qu’il reçoit le prix de ses efforts pour le progrès de la raison, pour la défense de la liberté. ... Cette contemplation est pour lui un asile, où le souvenir de ses persécuteurs ne peut le poursuivre; où, vivant par la pensée avec l’homme rétabli dans les droits comme dans la dignité de sa nature, il oublie celui que l’avidité, la crainte ou l’envie tourmentent et corrompent; c’est là qu’il existe véritablement avec ses semblables, dans une élysée que sa raison a su se créer, et que son amour pour l’humanité embellit des plus pures jouissances“. erwählte den Tod: Condorcet soll an einer „apoplexie sanguine“ (Schlaganfall) gestorben sein. Alengry (1904: 331 f.) verweist auf die Aussage von Condorcet, er werde sterben wie Sokrates und Sidney („Je périrai comme Socrate et Sidney“, um resigniert festzustellen: „On en est réduit aux conjectures“; bei Louis Blanc (1847–1862: Bd. 10, 420) findet sich die Vermutung, er sei hungers gestorben.

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berühmten Cabanis, bereitetes Gift bei sich getragen, „um in jeder Eventualität alleiniger Herr seiner Person zu bleiben“. Acht Monate lang hatte ihn die brave Frau Vernet (die heroisch erklärte: „der Konvent kann euch den Schutz des Gesetzes nehmen, aber er hat nicht die Macht, den der Humanität euch zu rauben“) verborgen gehalten; er verließ das Haus, weil er ihr Leben durch sich gefährdet wußte. Als Flüchtling, verraten, verhaftet, ist er am dritten Tage im Gefängnis tot gefunden worden (29. März 1794). „Welch seltsames Schicksal hatte dieser Condorcet! Erzogen von einer Mutter, die fromm war bis zum Aberglauben, Neffe eines Bischofs und Jesuitenschüler zu Reims und zu Paris, wurde er ein streitbarer Freidenker. Geboren in einer adligen und soldatischen Familie, bestimmt für den Waffenberuf, gab er vielmehr den gelehrten Studien sich hin. Genialer Mathematiker und Akademiker, wählt er die Laufbahn des Journalisten und Volks-

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Cabanis: D. i. Pierre Jean George Cabanis, der auch Leibarzt von Mirabeau war. ,um in jeder Eventualität ... zu bleiben‘: Vgl. Alengry (1904: 326): „Quelques jours avant la dénonciation de Chabot, Condorcet ne s’était pas fait illusion sur le sort qui l’attendait: dès le 30 juin 1793, à minuit, se trouvant à Auteuil avec Jean de Bry, son collègue du département de l’Aisne, il partagea avec cet ami fidèle un poison qu’il conservait sur lui ‘pour demeurer en tout événement seul maître de sa personne’. Ce poison, formé d’opium combiné avec le stramonium, avait été préparé par Cabanis qui fréquentait assidûment chez Condorcet et devait épouser plus tard (14 mai 1796) la sœur de Mme Condorcet“. Frau Vernet: Nach anderen Quellen versteckte Marie-Rose Vernet Condorcet fünf Monate lang in ihrem Haus in der Rue Servandoni 15 in Paris. Entscheidend ist, ob die Zeitspanne seit dem Zeitpunkt der Anklage (3. 10. 1793) gerechnet wird oder nach der Dauer des Aufenthalts. Siehe zum Zitat Alengry (1904: 330): „Condorcet avait dit à Mme Vernet: ‘Vous êtes hors la loi puisque vous me cachez. Si je reste, c’est votre mort.’ L’héroïéque femme répondit: ‘La Convention, Monsieur, a le droit de mettre hors la loi. Elle n’a pas le pouvoir de mettre hors de l’humanité. Vous resterez.’“. Bei Blanc, auf den Tönnies sich ebenfalls bezieht, lautet das Zitat etwas anders (1847–1862: Bd. 10: 417): „Après la catastrophe du 31 octobre, tremblant pour sa protectrice, il voulut quitter son asile. ‘Je suis hors la loi; je ne puis pas rester’, dit-il à Madame Vernet. Mais elle: ‘La Convention, Monsieur, a le droit de mettre hors la loi; elle n’a pas le pouvoir de mettre hors de l’humanité’“. „Welch seltsames Schicksal: Vgl. das Zitat bei Alengry (1904: VII f.): „Quelle singulière destinée que celle de Condorcet! Élevé par une mère pieuse jusqu’ à la superstition, neveu d’un évêque et élève des jésuites à Reims et à Paris, il devient un libre penseur militant. Né dans une famille noble et militaire, et destiné à la carrière des armes, il choisit celle de l’étude. Mathématicien de génie et académicien, il se fait journaliste et député. Timide et de complexion délicate, il se jette dans la mêlée politique et prend part, soit qu’il les réfléchisse, soit qu’il les dirige, à tous les événements, à toutes les décisions législatives importantes de la grande époque (1789–93). Gentilhomme et marquis, il se met à la tête du parti républicain. ... Vie féconde en contrastes, admirable toutefois par son unité, son désintéressement et son dévouement à la chose publique!“

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vertreters. Schüchtern und von zarter Leibesbeschaffenheit, wirft er sich in das politische Getümmel und nimmt, teils betrachtend, teils leitend, an allen Ereignissen, an allen den wichtigen Entscheidungen der Gesetzgebung in der großen Epoche (1789–93) seinen Anteil. Edelmann und Marquis, stellt er sich an die Spitze der republikanischen Partei ... Ein Leben, reich an Kontrasten, gleichwohl bewunderungswürdig durch seine Einheit, seine Uninteressiertheit und seine Hingebung an das Gemeinwohl ...“ So lesen wir in der Vorrede des großen Werkes, das neuerdings der Fleiß und die Begeisterung eines trefflichen Gelehrten dem Manne gewidmet hat, den er als eine der edelsten Zierden seiner Nation darstellt1 und den wir als eine Zierde der Menschheit liebgewinnen müssen. Aus diesem Buche lernen wir erst das öffentliche Leben Condorcets in seinem großen und weiten Umfange kennen. Dies öffentliche Leben trat mit seiner fruchtbaren theoretischen Arbeit über Staats- und Verfassungsrecht und über das soziale Leben in beständige Wechselwirkung. Schon ehe die Generalstände berufen waren, hatte er durch eine Reihe von Flugschriften als Anwalt der Toleranz und Gegner der Jesuiten, als Vertreter des physiokratischen Systemes der Volkswirtschaft, als Bewunderer der amerikanischen Revolution, tiefen Einfluß auf die öffentliche Meinung gewonnen. Schon überlegte und pflegte er den Gedanken, durch eine „Erklärung der Menschenrechte“ dem Despotismus Trotz zu bieten; schon verkündete er, daß der dritte Stand die Nation repräsentiere, und daß das königliche Haus sowohl als die privilegierten Stände nur aus dem Willen der Nation ihren Rang und ihre Funktionen abzuleiten hätten; schon nahm er für diesen Willen das Recht, sich selber Gesetze zu geben, in Anspruch. Während der Konstituante saß Condorcet im Pariser Gemeinderat, dessen Tätigkeit nicht geringen Einfluß auf jene übte: in seinem Namen protestierte Condorcet gegen den Wahlzensus und nahm an allen großen Fragen publizistischen Anteil, die damals verhandelt und so rasch entschieden wurden; auch den Frauen will er die Menschenrechte, darum auch politische Rechte 1

Condorcet. Guide de la révolution française. Théoricien du droit constitutionel et précurseur de la science sociale. Par Franck Alengry, Docteur en droit etc. Paris 1904. XXIII und 891 Seiten.

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Konstituante: Am 17. 6. 1789 erklärten sich die in Versailles versammelten Generalstände zur Verfassunggebenden Nationalversammlung (La Constituante). Sie wurde nach dem Tod des Marquis de Mirabeau 1791 durch die Gesetzgebende Versammlung (Assemblée nationale législative) ersetzt.

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gönnen. Bald steht er an der Spitze der republikanischen Bewegung und wird Abgeordneter, wird der bewunderte Führer der gesetzgebenden Versammlung, die am 1. Oktober 1791 zusammentrat. Sein Ansehen stieg rasch; fünf Departements wählten ihn in den Konvent, als dessen Mitglied er sogleich auch Schriftführer, Vizepräsident und Referent der Verfassungskommission wurde; die erste republikanische Verfassung, die in Frankreich geschrieben und beraten wurde, hat er redigiert. Groß ist sein Verhalten im Prozesse des Königs; mit seinem Freunde Paine will er den König, aber nicht den Menschen vernichten. Er protestiert dagegen, daß der Konvent, eine legislative Versammlung, sich zum Ankläger und Richter in einer Person aufwerfe. Er bekennt sich als prinzipiellen Gegner der Todesstrafe. An dem crimen immortale inexpiabile, wie Kant die Hinrichtung des Königs nannte, sind Condorcet und Paine, die Herolde der Menschenrechte, nicht mitschuldig. Nachdem sie beschlossen war, plädierten sie für den Aufschub der Exekution. In die Kämpfe zwischen Berg und Gironde wurde Condorcet verflochten; er stand dieser näher, blieb aber innerlich und äußerlich von ihr unabhängig. Daß die Niederlage der Gironde, von der sich Condorcet durch seine antiföderalistischen Grundsätze scharf unterschied, ihn mit in den Abgrund zog, schreibt Alengry der ritterlichen Haltung zu, die er dieser Partei gegenüber bewahrt habe. Es war das tragische Verhängnis jener wildgenialischen Versammlung (des Nationalkonvents), daß sie solche Männer nicht ertragen konnte. Der anziehenden Darstellung, die uns Alengry 4

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Konvent: Im September 1792 wurde die Gesetzgebende Versammlung durch den aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Nationalkonvent (Convention nationale) abgelöst, der sich wiederum nach Annahme einer Direktorialverfassung im Oktober 1795 auflöste. des Königs: D. i. der am 21. 9. 1792 abgesetzte und am 21. 1. 1793 hingerichtete Ludwig XVI. mit seinem Freunde: Der amerik. Politiker u. Publizist Thomas Paine war seit 1792 frz. Staatsbürger und Anhänger der Girondisten. crimen immortale inexpiabile: [lat.] svw. das unsühnbare, unvergebbare Verbrechen. Die Textstelle, auf die sich Tönnies bezieht, lautet (Kant 1797: 177, § 49, Fußnote): „Es wird als Verbrechen, was ewig bleibt, und nie ausgetilgt werden kann (crimen, immortale, inexpiabile), angesehen, ...“. Berg und Gironde: Das sind die „Bergpartei“ (Montagnards), die radikalste Gruppe im Konvent (1792–1795), benannt nach ihren Sitzen auf den höher gelegenen Bänken (führende Montagnards waren Danton, Marat, Robbespierre) und die Partei des liberalen Bürgertums der Provinzen in der Revolutionszeit, benannt nach dem Départment Gironde, aus dem ihre Führer Vergniaud, Guadet, Gensonné stammten. Mit Brissot, Roland, Condorcet zusammen waren sie die auf Vollendung der Revolution drängende Gruppe in der Nationalversammlung von 1791. Der Aufstand der Sansculotten Anfang Juni 1793 führte zur Verhaftung (Condorcet) und Hinrichtung (Brissot) führender Girondisten.

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von diesen Kämpfen und Erregungen gibt, muß der politisch und psychologisch interessierte Leser mit Spannung folgen. In der ersten Hälfte seines Buches schildert uns der sympathische Autor Condorcet als Philosophen des Staatsrechtes und als soziologischen Denker. Saint-Simon sowohl als Comte haben ihn ihren „geistigen Vater“ genannt. Es wäre ein besonderer Aufsatz nötig, um auch nur die Umrisse zu zeichnen, in denen hier Condorcet, ähnlich wie Kant, als ein Vermittler zwischen dem 18. und den – zwar tieferen, aber auch mit vielen Nebelschleiern umgebenen – progressiven Ideen des 19. Jahrhunderts erscheint. In Wahrheit ist dies auch das Merkwürdigste an der historischen Rolle Condorcets, daß er in die Revolution hineinragt als ebenbürtiger und selbständiger Vertreter einer Ideenwelt, die solange befruchtend auf die Geister gewirkt hatte, ohne daß sonst einer ihrer Urheber die Ereignisse erlebte, in denen sie in Taten sich übersetzte. Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Helvetius, Holbach, d’Alembert, Quesnay, Turgot, Diderot, die ganze Korona der Philosophen und Enzyklopädisten, war dahin. Condorcet allein, unter denen, die in ihrem Geiste stritten und wirkten, hat als Denker hohen Rang. Ein Kind seines Zeitalters hat er an dessen Schwächen und Irrtümern Anteil. Und doch erstreckt sich seine Bedeutung über die Jahrhunderte hinaus. Mit Bewunderung und mit Ehrfurcht sollte die Nachwelt seiner gedenken. Er stellt den französischen Geist von dessen schönster Seite dar: die Schärfe des Denkens verbunden mit dem Enthusiasmus des Gemütes. Wenn wir Deutsche – so viele von uns, als wir die sittliche und geistige Kultur über nationalen Ehrgeiz und patriotische Eitelkeiten stellen – heute den Franzosen von gleicher Gesinnung so gern und herzlich die Hand reichen, so tun wir es im Geiste Condorcets, eines Weltbürgers in des Wortes höchster Bedeutung. Kein Zufall ist es, daß gerade das junge Frankreich dieser Tage, des anbrechenden 20. Jahrhunderts, sein Andenken wieder aufleben heißt. Dies junge Frankreich hat eine große europäische Aufgabe zu erfüllen, und ist sich dieser edlen Bestimmung bewußt. Seine beste Überlieferung wird wieder lebendig. 16

Enzyklopädisten: Im engeren Sinne waren die Gründer, Herausgeber und Mitarbeiter der „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ um Denis Diderot, im weiteren Sinn die Anhänger der in der Enzyklopädie vertretenen philosophischen Anschauungen des 18. Jahrhunderts. Hauptmitarbeiter Diderots waren D’Alembert (Mathematik), Rousseau (Musik), Voltaire und Condillac (Philosophie), Montesquieu, Marmontel (Literaturkritik), Baron Holbach (Naturwissenschaften), Turgot (Volkswirtschaft). Tönnies nennt ferner Helvétius (Philosophie) und Quesnay (Volkswirtschaft, Naturrechtsphilosophie).

[Bedürfen wir des Pfarrers noch?] Ihrem wesentlichen Inhalte nach bejahe ich Ihre Frage. Ich bejahe sie in Erkenntnis und Anerkennung der Macht der Tradition und des historischen Bewußtseins. Eben dadurch ist das Amt des Pfarrers immer noch ein dankbares, sein Beruf ein vornehmer Beruf. Wie in jedem Amte, in jeder Berufstätigkeit wird alles Entscheidende immer an der Persönlichkeit hängen, an ihrer Echtheit und Wahrhaftigkeit, ihrer Volksfreundlichkeit und Treue. Und hierin wird immer gelten, daß optimum quidque rarissimum. Eine ungeheure Erschwerung der Berufsfreudigkeit und damit auch der selbständigen Bedeutung des Pfarrers in der modernen Kulturwelt liegt, wie sich von selbst versteht, in der Verpflichtung auf ein Bekenntnis und in der Aufsicht eines Kirchenregimentes über die Richtigkeit des Glaubens. Es ist sehr viel Grund, zu befürchten, daß besonders innerhalb der protestantischen Kirchen, wo tatsächlich der Unglaube in bezug auf alles Dogmatische herrschend geworden ist, gerade die für den Beruf sonst tüchtigsten, also innerlich berufensten Persönlichkeiten, seit lange schon durch jene äußeren Bedingungen und oft durch Gewissensbedenken sich abhalten lassen, dem an sich so edlen Berufe sich zu widmen. Die Theologie ist notorischerweise

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[Bedürfen wir des Pfarrers noch?]: Ende 1905 richtete Theodor Kappstein „an eine erhebliche Zahl von Gelehrten und Künstlern, sowie von anderen hervorragenden Damen und Herren der leitenden Kreise in Deutschland“ eine „Rundfrage, deren Thema lautete: Hat der Pfarrer in der modernen Kulturwelt noch eine selbständige Bedeutung?‘ (Kappstein 1906: 1). Hintergrund der Umfrage war die veränderte Rolle des Geistlichen in der Gesellschaft, der Wandel in Status und Funktion. Von den eingegangenen Antworten erschienen in alphabetischer Reihenfolge abgedruckt 51, ohne Titel, aber mit laufender Nummer versehen, in dem Band „Bedürfen wir des Pfarrers noch? Ergebnis einer Rundfrage, eingeleitet und zusammengestellt von Theodor Kappstein“. Berlin und Leipzig: Hüpeden & Merzyn 1906. Dieser Band ist zugleich Heft 1/2 der „Ersten Serie“ einer Buchreihe mit dem Titel „Das moderne Christentum“, hgg. von Theodor Kappstein. Die Antwort von Ferdinand Tönnies (Seite 154–155) erscheint unter Ziffer 44 und wird vom Herausgeber mit folgenden Worten eingeleitet: „Professor Dr. Ferdinand Tönnies (Eutin), der verdiente Kulturessayist, schreibt:“. Hierzu siehe auch den Editorischen Bericht in diesem Bande, S. 599–601. Ihre Frage: Theodor Kappstein war seinerzeit Dozent für Religionswissenschaft an der Freien Hochschule Berlin (vgl. Hausrath 1912). optimum quidque rarissimum: [lat.] svw. das Beste was zugleich das Seltenste (ist).

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[Bedürfen wir des Pfarrers noch?]

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längst zu einem Brotstudium in dem Sinne herabgesunken, daß die Silbe Brot in diesem Worte mit großen Buchstaben geschrieben wird. Das Brot besiegt ganz regelmäßig das Gewissen. Wir müssen unbedingte Gewissensfreiheit und volle Gemeindefreiheit erstreben, um die selbständige Bedeutung des Pfarrers, die sonst rasch sinken und untergehen muß, zu retten, oder wo sie schon verloren gegangen ist, wiederherzustellen.

[Discussion on “Restrictions in Marriage” and on “Studies in National Eugenics”] I fully agree with the scope and aims of Mr. Galton’s “Eugenics”, and consequently with the essence of the two papers proposed. But with respect to details, I have certain objections and illustrations, which I now try to explain. 1. There can be no doubt but the three kinds of accomplishments are desirable in mankind; physical, mental and moral ability. Surely the three, or as Mr. Galton classifies them, constitution – which I understand to imply moral character – physique and intellect, are not independent variables, but if they to a large extent are correlate, on the other hand they also tend to exclude each other, strong intellect being very often connected with a delicate health as well as with poor moral qualities, and vice versa. Now the

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[Discussion on “Restrictions in Marriage” and on “Studies in National Eugenics”]: Am 14. 2. 1905 hielt Francis Galton zwei Vorträge vor der Sociological Society in London: „Restrictions in Marriage“ und „Studies in National Eugenics“. Hierzu gab es mündliche Diskussionsbeiträge, schriftliche Mitteilungen und ergänzende Anmerkungen in‑ und ausländischer Wissenschaftler, die von Francis Galton in einer abschließenden Replik gewürdigt wurden. Das Ganze ist unter dem Titel „Eugenics“ abgedruckt in den „Sociological Papers“, Volume II, London: Macmillan 1906, S. 1–51, mit einer anschließenden weiteren Abhandlung aus der Feder Galtons zum Thema „Eugenics as a Factor in Religion“ (Galton 1906). „Discussion“, „Written Communications“, „Contributory Notes“ und „Mr. Galton’s Reply“ sind mit dem einheitlichen Kolumnentitel „Discussion on Restrictions in Marriage and on Studies and National Eugenics“ versehen. Der Beitrag von Ferdinand Tönnies erscheint unter der Rubrik „Written Communications“ (Tönnies 1906p: 40–42) und ist in Majuskeln überschrieben: „From Professor Tönnies“, darunter kursiv und in Klammern „Professor of Philosophy in the University of Kiel“. Tönnies selbst nimmt ausführlich Bezug auf die in den „Sociological Papers“ dokumentierte Diskussion und seinen eigenen Beitrag in dem 1905 erstmals publizierten Essay „Eugenik“ (Tönnies 1905l). Mr. Galton’s: Der brit. Naturforscher Sir Francis Galton erwog die Möglichkeit einer Verbesserung des Menschengeschlechts durch Lenkung der Auslese und legte wichtige Grundsteine für die Humangenetik und Genetik. Tönnies befasste sich insbesondere mit den soziologischen Aspekten und Implikationen seines Werkes, immer wieder auch im Zusammenhang und in Auseinandersetzung mit „den Ideen unseres Landsmannes Dr. Schallmayer“. the two papers: Tönnies bezieht sich auf die o. g. zwei Vorträge Galtons, die ihm in schriftlicher Form vorlagen. Siehe dazu auch Tönnies 1905l.

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great question, as it appears to me, will be, whether Eugenics is to favour one kind of these excellencies at the cost of another one, or of both the other, and which should be preferred under any circumstances. 2. Under existing social conditions it would mean a cruelty to raise the average intellectual capacity of a nation to that of its better moiety of the present day. For it would render people so much more conscious of the dissonance between the hopeless monotony of their toil and the lack of recreation, poorness of comfort, narrowness of prospects, under which they are even now suffering severely, notwithstanding the dullness of the great multitude. 3. The rise of intellectual qualities also involves, under given conditions, a danger of further decay of moral feeling, nay, of sympathetic affections generally. Town life already produces a race of cunning rascals. Temptations are very strong, indeed, to outrun competitors by reckless astuteness and remorseless tricks. Intelligence promotes egotism and pleasure-seeking, very much in contradiction to the interests of the race. 4. A strong physique seems to be correlate with some portions of our moral nature, but not with all. Refinement of moral feeling and tact are more of an intellectual nature, and again combine more easily with a weak frame and less bodily power. 5. I endorse what Mr. Galton shows – that marriage selection is very largely conditioned by motives based on religious and social consideration; and I accept, as a grand principle, the conclusion that the same class of motives may, in time to come, direct mankind to disfavour unsuitable marriages, so as to make at least some kinds of them impossible or highly improbable, and this would mean an enormous benefit to all concerned, and to the race in general. But I very much doubt if a sufficient unanimity may be produced upon the question – which marriages are unsuitable? 6. Of course this unanimity may be promoted by a sufficient study of the effects of heredity. This is the proper and most prominent task of Eugenics, as Mr. Galton luminously points out in his six topics to be taken in hand under the Research Fellowship. Highly though I appreciate the importance of this kind of investigation, to which my own attention has been directed at a very early date, I am apt to believe, however, that the practical outcome of them will not be considerable. Our present knowledge, scanty and incoherent as it is, still suffices already to make certain marriages, which are especially favoured by social convention, by religion and by custom, appear to sober-thinking men, highly unsuitable. Science is not likely to gain an influence equivalent to, or even outweighing, those influences that

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further or restrain particular classes of marriage. On the other hand the voice of Reason, notably with respect to hygienic as well as moral considerations, is often represented by parents in contradiction to inclinations or even passions of their offspring (especially daughters); and the prevailing individualistic tendencies of the present age, greatly in favour of individual choice and of the natural right of Love, mostly, or at least very often, dumb that voice of Reason and render it more and more powerless. Eugenics has to contend against the two fronts: against the mariage de convenance on the one side, the mariage de passion on the other. 7. But this applies chiefly to the upper strata of society, where a certain influence of scientific results may be presumed on principle with greater likelihood than among the multitude. Mr. Galton wishes the national importance of Eugenics to be introduced into the national conscience like a new religion. I do not believe that this will be possible, unless the conditions of every day existence were entirely revolutionised beforehand. The function of Religion has always been to give immediate relief to pressing discomforts, and to connect it with hopeful prospects of an individual life to come. This life of the race is a subject entirely foreign to popular feelings, and will continue to be so, unless the mass should be exempt from daily toil and care, to a degree which we are unable to realise at present. 8. However, the first and main point is to secure the general intellectual acceptance of Eugenics as a hopeful and most important study. I willingly and respectfully give my fullest sympathy and approval to this claim. I have tried to express my sentiments here as evoked by the two most interesting papers. I have been obliged to do so in great haste, and consequently, as I am aware, in very bad English, for which I must apologise.

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mariage de convenance: [frz.] Konvenienzehe, Heirat aus Standesrücksichten; die mariage de passion ist dagegen die Heirat aus Leidenschaft, aus Liebe.

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III. Rezensionen

Carl Peters, England und die Engländer 2. unveränd. Aufl. 6.–10. Tausend. VII, 284 S., gr. 8°. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, [19]05. 5

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Ein Buch von diesem Umfange über ein großes Land und seine Bewohner „im allgemeinen“ wird schwerlich wissenschaftliche Ansprüche im eigentlichen Sinne erheben. Man würde aber irren, wenn man das vorliegende nicht höher schätzte, als eine gewöhnliche Reisebeschreibung. Der Verfasser, seit 10 Jahren in England wohnhaft, hat sich aus Beobachtung wie aus Büchern gründlich unterrichtet, und, was wenigstens ebenso viel wert ist, er bringt die Fähigkeit des Urteils mit. Sein Absehen ist vor allem darauf gerichtet, das Urteil über England zu berichtigen. Vorwaltender Gedanke, daß man nur, wenn man erkannt habe, auf welchen Grundlagen das Erwerbsleben einer Nation beruht, im stande sei, ihr bürgerliches Leben, ihre Kultur und ihre Politik zu verstehen. Darum steht das Kapitel über die City, und mehr noch das sich anschließende über den englischen „Volkshaushalt“ im Mittelpunkte der Schrift. Und dies letztere Kapitel ist von der Ansicht beherrscht, daß das heutige Eng-

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Peters: Die Rezension „Peters, Carl. England und die Engländer“ erschien zuerst in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, Hg. Hermann Beck, 1. Jg., 2. Heft, Februar, Cöthen: Dünnhaupt 1905(s), S. 80–82; bei Fechner (1992: 50) ist fälschlich Böhmert in Dresden als Verlag und 1906 als Erscheinungsjahr angegeben. Die Endzeile lautet: „Ferdinand Tönnies, Eutin. Die erste Auflage der besprochenen Monographie erschien 1904. Der Verfasser entwarf unter dem Eindruck der engl. Weltpolitik gleichartige Pläne für Deutschland, gründete die Gesellschaft für deutsche Kolonisation, erwarb, von Bismarck nicht unterstützt, das Kernland des späteren Deutsch-Ostafrikas, wurde später Reichskommissar für das Kilimandscharo-Gebiet und durch blutige Maßnahmen berüchtigt. Vorwaltender Gedanke: Vgl. Peters 1905: 67: „Wenn man eine Nation kennen lernen will, so muß man vor allem klar erfassen, auf welchen Grundlagen ihr Erwerbsleben beruht; oder, in der Alltagssprache ausgedrückt, wovon die Leute leben. Nur wenn man dies übersehen kann, ist man imstande, ihr bürgerliches Leben, ihre Kultur und ihre Politik zu verstehen“. Kapitel über die City: Vgl. ebd.: 43–66. „Volkshaushalt“: Vgl. ebd.: 67–69.

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Rezensionen

land sich auf einer Übergangsstufe vom Industrialismus zum „Kapitalismus“ befinde. Nachdem wir gewohnt geworden sind – mit gutem Grunde – die ganze moderne Volkswirtschaft als Kapitalismus zu verstehen, muß die Terminologie befremden; aber was gemeint ist kann nicht zweifelhaft sein. Man könnte etwa dafür einsetzen: vom industriellen zum absoluten Kapitalismus – und wahr ist, daß eine starke Tendenz aller hoch entwickelten Volkswirtschaften damit bezeichnet wird; wobei man freilich eingedenk sein möge, daß der auswärtige Handel immer dem absoluten Kapitalismus näher steht als die kapitalistische Produktion (wenigstens inländische) und daß die Ausbeutung überseeischer Kolonien nicht von gestern ist. Holland ist der Typus eines hochkapitalistischen Landes, das hochkapitalistisch geworden ist, ohne durch den industriellen Kapitalismus hindurchgegangen zu sein, und ihm eiferte England im 17. und 18. Jahrh. auf bewußteste Weise nach. Eine Volkswirtschaft von dieser Art hat freilich den bedeutenden Vorteil, daß sie nicht durch Industrie eine unermeßliche Vermehrung besitzloser Menschen herbeigeführt und gleichzeitig ihre Basis (die Erzeugung von Lebensmitteln für diese Menschen) zerstört hat. Dafür aber gewinnt die industrielle Nation an Reichtum und Macht einen ungeheuren Vorsprung und übernimmt auch im auswärtigen Handel die Führung. Es ist ohne Zweifel richtig, daß es für die englische Politik im 20. Jahrhundert um die beiden Probleme: die dauernde Vorherrschaft zur See und die Erhaltung der britischen Industrie gegen Mitbewerb des Auslandes sich handelt (S. 99). Das Schluß-Kapitel „die Briten und ihr Weltreich“ beschäftigt sich demgemäß mit den Chamberlainschen Plänen. Verfasser meint, die Vorteile dieser imperialistischen Politik für die 1

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Übergangsstufe: Vgl. ebd.: 68: „Man wird den Volkshaushalt dieses Landes am deutlichsten als eine Übergangsstufe aus dem Industrialismus in den Kapitalismus kennzeichnen können“. (S. 99): Vgl. ebd.: 99: „Diese beiden Probleme: die dauernde Vorherrschaft zur See und die Erhaltung der britischen Industrie gegen den Mitbewerb des Auslandes, bilden den Kern der Aufgaben, mit denen die englische Politik im 20. Jahrhundert zu tun haben wird“. Das Schluß-Kapitel: D. i. „Die Briten und ihr Weltreich“, vgl. ebd.: 253–278. Chamberlainschen Plänen: Als Kolonialminister machte Joseph Chamberlain sein Amt zur Zentralstelle des britischen Imperiums. Sein politisches Ziel war eine enge Zusammenarbeit des Britischen Reiches mit den USA und Deutschland. Die Unterwerfung des Sudan, die Ausschließung Frankreichs aus ihm, die Einverleibung der Burenrepubliken und der Zusammenschluss der australischen Kolonien sind durch ihn herbeigeführt bzw. gefördert worden. Peters diskutiert die „Chamberlainbewegung“, von den politischen Gegnern auch als „Jingo-Richtung“ denunziert, die das Ziel eines „einheitlichen größerbritischen Reiches“, ein „größeres Britannien“ verfolgte, vor allem hinsichtlich „zweier realer Merkmale: es muß ein einheitliches Wirtschaftsgebiet darstellen und eine gemeinsame Heeresverfassung haben“ (vgl. ebd.: 265, aber auch bereits 115 ff.).

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englische „Rasse“ im ganzen, und für Groß-Britannien im besonderen, seien so klar, daß die Nation sicherlich sie über kurz oder lang annehmen werde, und keine Macht werde die angelsächsische Welt daran hindern können, „sich organisch als Bundesstaat über diesen Planeten hin zusammenzufassen“ (S. 272). Das deutsche Reich werde, so wenig als Rußland, es können, die Vereinigten Staaten nicht einmal es wollen; wahrscheinlicher sei sogar, daß diese später in föderativer Weise dem großen britischen Reiche sich anschließen würden. Europa sei darauf angewiesen, sich selber zollpolitisch zusammenzuschließen, und dies könne nur von Deutschland durchgeführt werden, müsse in der Tat das praktische Ziel der deutschen Staatskunst werden (S. 214). Noch seien freilich beide Teile – man bemerke, wie hier die angelsächsische Welt zum vereinigten Europa in Gegensatz gestellt wird – nicht am Abschluß ihres Weges, „wo sie im Kampf auf Leben und Tod zusammenstoßen müssen“. Daß die zollpolitische Zusammenfassung 24

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Verfasser meint: Vgl. ebd.: 272 f: „Es mag sein, daß die Chamberlainsche Politik bei den nächsten Wahlen unterliegt; aber ihre Vorteile für die englische Rasse im ganzen und für Großbritannien im besonderen sind so klar, daß die Nation sie sicherlich über kurz oder lang annehmen wird. Wenn aber die angelsächsische Welt selbst entschlossen ist, sich organisch als ein Bundesstaat über diesen Planeten hin zusammenzufassen, so ist nicht abzusehen, welche Macht sie daran hindern könnte. Etwa das deutsche Reich, welches eingekeilt ist zwischen Frankreich und Rußland und seinem ganzen Charakter nach defensiv und kontinental ist? Oder die Vereinigten Staaten von Nordamerika, welche selbst stolz darauf sind, zur englischen Rasse zu gehören, und deren politischer, wie wirtschaftlicher Ehrgeiz in der Monopolisierung Südamerikas volle Befriedigung finden wird? Es ist wahrscheinlicher, daß die Nordamerikaner sich noch einmal in föderativer Weise dem größeren britischen Reich anschließen werden. Oder endlich Rußland, welches nirgends den Zugang zum offenen Meer finden kann und das seine großen Revolutionen, welche der Westen durchmachte, alle noch vor sich hat? Eine ernste Gefahr für die Konsolidierung des Britenreiches von außen gibt es meiner Ansicht nach nicht“. (S. 214): Korrekt: 274; vgl. ebd.: „Gegenüber der drohenden Verwirklichung der angelsächsischen Konförderation wird Europa schließlich nur die eigene zollpolitische Zusammenschließung übrig bleiben. Einigt sich die Welt über See unter englischer Führung, so kann nur die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa unserem alten Erdteil sein Übergewicht erhalten. Das ‚Vereinigte Europa‘ allerdings würde politisch und wirtschaftlich für alle Jahrtausende die Führung in der Menschheit zu behaupten vermögen. Eine solche Kombination kann nur von Deutschland durchgeführt werden, und dazu müßte sie vor allem das praktische Ziel der deutschen Staatskunst werden“. ,wo sie ... zusammenstoßen müssen: Vgl. ebd.: 275: „Doch noch ist die Welt für solche letzten Gegensätze nicht reif; noch befinden sich beide Teile nicht am Abschluß ihres Weges, wo sie im Kampf auf Leben und Tod zusammenstoßen müssen, sondern noch schlängeln sich die beiden einzelnen Wege scheinbar ohne eigentliche Beziehung aufeinander hin, und der Kollisionspunkt ist der Menge nicht erkennbar“. die zollpolitische Zusammenfassung: Zur Stärkung der wirtschaftlichen Verbundenheit

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und Abschließung der beiden Erdgebiete gegen einander die notwendige Folge eines solchen Kampfes in ihrem Schoße trage, ist demnach dem Verfasser selbstverständlich. Bewiesen hat er es nicht; warum könnten nicht andere Folgen gedacht werden? Sei es, daß die beiden friedlich einander die Wage hielten, oder daß das Bedürfnis des Friedens, wenn nicht unmittelbar das Bedürfnis des Freihandels resp. des Zusammenschlusses gegen Dritte, schließlich auch den Fall dieser letzten Zollschranken herbeiführen, eben dadurch aber den Weltfrieden und etwa gar die Weltrepublik – wenn auch in Beschränkung auf den weißen Teil der Menschheit – anbahnen würde? Die Phantasie hat freie Bahn. – Völlig einverstanden können wir aber mit den Sätzen uns erklären, in denen das Buch ausklingt, daß wie die Dinge heute liegen, Deutschland und England noch viel von einander lernen können, und daß wir die große geschichtliche Schöpfung der Engländer mit tiefer Bewunderung anschauen müssen. Wer mit englischen Dingen, sozialen und politischen, vertraut ist, wird aus dem Büchlein nichts Erhebliches lernen können. Der DurchschnittsGebildete, zumal in Preußen-Ostelbien und in Süd-Deutschland, ist das aber nicht, und ein solcher wird gar viel daraus lernen können. Da es dem Verfasser ausgesprochenermaßen (S. VII) darum zu tun ist, der Tendenz, England zu unterschätzen, entgegenzuwirken, und zwar durch die hier herausgehobenen Kapitel, so geht man wohl nicht fehl, wenn man die mehr im Plaudertone gehaltenen übrigen Kapitel – über das Land, London, die

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des Britischen Reiches führte Chamberlain seit 1902 einen großen Feldzug für ein imperialistisches Schutzzollprogramm (Tariff Reform) und trat 1903 sogar aus der Regierung aus, um ungehindert dafür werben zu können. mit den Sätzen: Vgl. ebd.: 275: „Wie die Dinge heute liegen, können Deutschland und England noch viel von einander lernen. Großbritannien ist für uns das klassische Vorbild in der Herausbildung der freien Individualität und der auf sie begründeten Schaffung neuer Gemeinwesen über See; Deutschland ist für die Briten das Muster in allen staatlichen Organisationen, insbesondere für Heer und Schule“. der Tendenz ... entgegenzuwirken: Vgl. ebd.: VI f.: „Es fällt mir bei meinen häufigen Besuchen in Deutschland auf, daß sich dort die Neigung zu einer gewissen Geringschätzung der Engländer in den letzten Jahren verstärkt hat. Dies beruht zum guten Teil auf Unkenntnis und entspricht nicht ganz unsern nationalen Interessen. Sicherlich ist es schädlich für Völker, ihre Mitbewerber im internationalen Wettkampf zu überschätzen, aber es ist noch gefährlicher, sie zu unterschätzen. Das Klügste ist immer, Faktoren, mit denen man zu rechnen hat, genau als das einzusetzen, was sie in Wirklichkeit sind. Deshalb glaube ich der deutschen Sache einen Dienst erwiesen zu haben, wenn es mir gelungen ist, das England von heute deutlich zu schildern so, wie es ist“. übrigen Kapitel: Vgl. ebd: „Das Land“ (1–12), „London und die Themse“ (13–42), „Poli-

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Themse, über Politik und Presse, Heer und Flotte, Erziehung, Volksleben, Gesellschaft – für eine Zukost hält, dazu bestimmt, das etwas schwerere Gericht dem allgemeinen Leser schmackhaft zu machen. In der Tat ist es großenteils recht unterhaltende Lektüre, wenn auch manches Unwesentliche hervorgehoben, manches mitgeteilt wird, was auch im Baedeker, im Konversations-Lexikon, oder in den alten Reisebeschreibungen, z. B. des trefflichen Kohl, zu finden ist, und endlich es auch an ungehörigen Verallgemeinerungen, an kleinen Irrtümern und Ungenauigkeiten nicht mangelt. So wird S. 105 von den verschiedenen Peers im House of Lords gesprochen, dann folgt der Satz: „Die Anzahl der Lords im Jahre 1903 war 592 Peers und 14 Peeresses, ,aus eigenem Recht‘“, wonach es scheint, als solle gesagt werden, auch die Peeresses hätten im Oberhause ihren Sitz. Chamberlain den Hort des Konservativismus zu nennen (S. 111) ist zum mindesten unge-

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tik und Presse“ (100–140), „Heer und Flotte“ (141–167), „Englische Erziehung“ (168– 193), „Englisches Volksleben“ (194–217), „Die englische Gesellschaft“ (218–252). des trefflichen Kohl: Im Besitz von Tönnies befand sich unter anderem Heinrich Kohls Beschreibung „Die geographische Lage der Hauptstädte Europas“ von 1874, die er noch 1935 im „Geist der Neuzeit“ zitiert (TG 22, Tönnies 1998: 160). folgt der Satz: Vgl. Peters 1905: 105 : „Das House of Lords besteht aus ‚Peers‘, welche ihre Sitze haben 1. nach Erbrecht, 2. durch Ernennung seitens der Krone, 3. durch ihr Amt (englische Bischöfe), 4. durch Wahl auf Lebenszeit (irische Peers), 5. durch Wahl für eine Legislaturperiode (schottische Peers). Die Anzahl der Lords im Jahre 1903 war 592 Peers und 14 Peeresses ‚aus eigenem Recht‘“. – Als Peer, abgeleitet von Pair, werden in Großbritannien die Mitglieder des hohen Adels (nobility) bezeichnet, im Gegensatz zum niederen Adel (gentry), ursprünglich kraft Lehnsbesitzes (by tenure), dann auch kraft königlicher Berufung ins Parlament (by writ). Die Peers bilden als eigener Stand seit der Teilung des Parlaments Anfang des 14. Jahrhunderts das Oberhaus (House of Lords). Sie führen den Titel „Lord“. Entsprechend der Zeit der Verleihung der Peerswürde werden unterschieden Peers of England (aus der Zeit vor 1707), Peers of Great Britain (1707– 1801) und Peers of the United Kingdom (seit 1801). Die Peerswürde (Peerage) ist erblich in direkter männlicher Linie, ausnahmsweise in weiblicher und Nebenlinie. Seit 1958 können außerdem Peers auf Lebenszeit (Life Peers) ernannt werden. Mit dem Erreichen des 21. Lebensjahres erwirbt der erbliche Peer das Recht auf Sitz und Stimme im Oberhaus. Seit dem Peerage Act von 1963 gilt dies auch für weibliche Peers (Peeresses). Hort des Konservativismus: Vgl. Peters 1905: 111: „In England sehen wir Staatsmänner und Parlamentarier ganz gemütlich ihre Anschauungen und Parteien öffentlich wechseln. Mr. Gladstone begann als Konservativer und wurde der Abgott des Liberalismus, Mr. Chamberlain war ursprünglich Republikaner und Radikaler und ist heute der Hort des Konservativismus“. – Chamberlain, zuvor erfolgreicher Fabrikant und fortschrittlicher Bürgermeister von Birmingham, wurde 1876 liberaler Abgeordneter. Erst sein heftiger Kampf gegen Gladstones irische Home-Rule-Politik führte 1886 zur Spaltung der liberalen Partei, zur Niederlage Gladstones und zum Übertritt Chamberlains ins konservative

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nau. Seinen politischen Radikalismus hat er nie verleugnet. Ebenso halte ich für unrichtig, was zweimal wiederholt wird (S. 119 u. 267) daß Chamberlain „plötzlich“ das schutzzöllnerische Banner erhoben und bis dahin für einen Hauptvertreter des Freihandels gegolten habe. Seine Pläne für „Imperial Federation“ auf Basis der zollpolitischen Einigung sind viel älter, und jedermann wußte, daß seine Politik als Kolonialminister dadurch bestimmt war. Es werde nur an die Kongresse von 1896 u. 1897 erinnert, deren Herr Peters keine Erwähnung tut. Überhaupt wäre mit einer gründlichen Darstellung der ganzen Imperialismus- und Zollfrage Groß- und Größer-Britanniens dem wissenschaftlichen Interesse mehr gedient als mit allem was hier dargeboten wird.

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Lager. Bis zur Abspaltung der Unionisten von der liberalen Partei galt er als der prominenteste Führer der radicals, der einstmals mit Parolen wie „Who toil not neither do they spin“ das britische Establishment verunsichert hatte. halte ich für unrichtig: Vgl. ebd.: 119: „Als Mr. Chamberlain, welcher bis dahin für einen Hauptvertreter des Freihandels gegolten hatte, im Mai 1903 plötzlich das schutzzöllnerische Banner erhob, verursachte er eine allgemeine Verwirrung in der parlamentarischen Situation, genau wie dies der Fall gewesen war, als Mr. Gladstone im Jahr 1886 die irische Homerule-Frage in den Kampf der Parteien geworfen hatte“. Und ebd.: 267: „Mr. Chamberlain, der ein besonderes staatsmännisches Talent hat, zu wittern, welch ein Ideenkreis gerade in der Luft liegt, wandelte sich zuliebe für solches Ideal, wie wir gesehen haben, im Jahr 1903 aus einem der Anhänger der Manchesterschule in einen Tarifreformer um“. „Imperial Federation“: Am 30. 6. 1902 griff Chamberlain anlässlich der Eröffnung der britischen Kolonialkonferenz den Gedanken eines „imperialen Zollvereins“ wieder auf, der bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts formuliert worden war. Von Teilen der konservativen Partei ist seit der Schutzzoll-Agitation Chamberlains zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Jahrzehnte lang versucht worden, eine engere Verbindung des Empire in Form eines „imperialen Zollvereins“ herzustellen. Allerdings brachten die Wahlen von 1906, kurz bevor ein Schlaganfall Chamberlains politische Laufbahn beendete, den Freihändlern einen überwältigenden Sieg. Kongresse 1896 und 1897: Tönnies verweist wahrscheinlich auf die seit 1887 stattfindenden britischen Kolonialkonferenzen (Colonial Conferences), seit 1907 als Reichskonferenzen (Imperial Conferences) weitergeführt. Dann müsste es allerdings 1894 statt 1896 heißen.

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Herbert Spencer, Eine Autobiographie Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Ludwig und Helene Stein. I. Nebst einer Einführung in die Philosophie und Soziologie Herbert Spencers von Dr. Ludwig Stein. (Memoiren-Bibliothek. II. Serie Band 7.) LII und 339 p. gr. 8°. Stuttgart, Robert Lutz, [19]05.

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Herbert Spencer wollte in seiner Autobiographie eine „Naturgeschichte seiner selbst“ geben. Er hat dies ausgeführt in der umständlichen Breite, mit der Masse von Details, wie auch für seine philosophischen Werke charakteristisch ist. Das Buch ist für den Kenner dieser Werke, und besonders für den, der daraus hohe Achtung für die außerordentliche Persönlichkeit gewonnen hat, die aus ihnen spricht, in hohem Grade interessant, wenn auch keineswegs in allen Teilen gleichmäßig. Die „autorisierte deutsche Ausgabe“ ist nicht das Werk selber; in der Einleitung wird bekannt, daß es ganz bedeutend verkürzt, wie der Unternehmer der Übersetzung sich ausdrückt, von ... Weitläufigkeiten u. dgl. „gesäubert“ ist. In der Tat würde der richtige Titel lauten „Auszüge aus Herbert Spencers Autobiographie“. Dem 1

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Spencer, Herbert: Die Rezension „Spencer, Herbert. Eine Autobiographie“ erschien zuerst in der Rubrik „II. Geschichte der sozialen Wissenschaften; Biographien“ in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, Hg. Hermann Beck, 2. Jg., Heft 3, März, Cöthen: Dünnhaupt 1906, S. 137–139 (Tönnies 1906q); bei Fechner (1992: 50) ist fälschlich der Dresdener Verleger Böhmert, der erst ab 1908 die ‚Kritischen Blätter‘ verlegte, angegeben. Die redaktionelle Fußzeile lautet: „Ferdinand Tönnies, Eutin.“ Tönnies rezensiert nur „I.“, d. h. den ersten Band. Der später im selben Jahr erschienene zweite Band lag ihm zum Zeitpunkt der Rezension offensichtlich nicht vor, ein Sachverhalt, der mit der in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek unter der Signatur Cb54.82 (vgl. Zander 1980) archivierten Liste der Bücher, die in Tönnies’ Besitz waren, überein stimmt, wonach Tönnies lediglich über den ersten der beiden AutobiographieBände verfügte. Autobiographie : Vgl. Spencer 1904 u. 1905. „Naturgeschichte seiner selbst“: Vgl. Spencer 1905: XLI: „Eine Naturgeschichte meiner selbst schien mir zu den Büchern, die zu schreiben die Hauptbeschäftigung meines Lebens war, eine nützliche Ergänzung zu sein. In den folgenden Kapiteln habe ich es versucht, eine solche Naturgeschichte niederzuschreiben“. Details, wie auch: Lies: Details, wie sie auch. ,gesäubert‘: Vgl. Stein 1904: XI f.: „Aber es schien mir mehr noch in seinem Interesse, als in dem aller anderen zu liegen, daß die deutsche Ausgabe von mit Recht beanstande-

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Umfange nach entspricht eine Seite des Originals ungefähr einer Seite dieser Ausgabe. Aber aus den 513 Seiten des ersten Bandes von jenem (ohne die Anhänge) sind hier 339 Seiten geworden. Das Buch ist also auf 2/3 seines Inhaltes zusammengestrichen worden. Wenn ich Spencer richtig beurteile, so hätte er selber gegen diese Verstümmelung seines Werkes in heftigster Weise protestiert. Da aber, wie behauptet wird (S. XI), die Testamentsvollstrecker ihre Zustimmung gegeben haben, so mag auch eingeräumt werden, daß den meisten deutschen Lesern im Prinzip mehr mit einer solchen als mit einer vollständigen Ausgabe gedient ist. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem bedeutenden Manne ist sie, wie sich von selbst versteht, wertlos. Auf jeden Fall wäre die Pflicht der Herausgeber gewesen, auch auf dem Titelblatt das Verhältnis dieses unechten zu dem echten Werke zu erkennen zu geben. Was aber die Auswahl betrifft, so will ich annehmen, ohne es im einzelnen geprüft zu haben, daß sie weggelassen hat, was wirklich für die zu billigenden Gesichtspunkte, nach denen sie sich gerichtet haben will, von keiner oder minderer Bedeutung ist. Am meisten Widerspruch muß es erregen, daß auch aus den vom Autor vollständig mitgeteilten Briefen ganze Absätze herausgeschnitten sind, ohne daß diese Amputationen auch nur durch irgendwelche Zeichen angedeutet wären. – Die Übersetzung ist im ganzen und großen dem Stile nach nicht ungefällig, wenn auch keineswegs frei von Härten. Daß sie stellenweise sehr frei ist, folgt aus dem ganzen Charakter der Bearbeitung. Ob sie da, wo es für das sachliche Verständnis von Bedeutung, richtig und genau genug? Ich muß dies leider für nicht wenige Stellen – und ich habe nur Stichproben machen können – verneinen. In der (wie alles stark verkürzten) Charakteristik, die Spencer von seiner Mutter gibt, faßt er sein Urteil dahin zusammen: „she was of ordinary intelligence and of high moral nature“ – bei Stein (p. 17): „meine Mutter war eine Frau von geistiger Durchschnittsbegabung, aber von durchaus achtungswerten Charaktereigenschaften“. Für Spencers Ansicht vom Menschen ist es ganz

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ten Weitläufigkeiten, unnötigen Briefen und störenden Wiederholungen gesäubert wird“. Stein bezieht sich auf eine „höhnische, geradezu blasphemische“ Kritik der Autobiographie Spencers, die der Pariser Philosophieprofessor Teodor de Wyzewa in der Revue des deux Mondes, wo er als Kritiker ausländischer Literatur tätig war, vorgetragen hatte. ihre Zustimmung gegeben haben: Vgl. ebd.: XI: „Alles dieses mußte vorgebracht werden, um die Kürzungen zu rechtfertigen, die ich im Interesse des deutschen Lesepublikums und im Einverständnis mit dem Verleger und den Trustees vorgenommen habe“. Die Trustees waren Auberon Herbert, H. Charlton Bastian und David Duncan. Personen fehlen im Register sein Urteil: Vgl. Spencer 1904: 60.

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wesentlich, daß er moralische Qualitäten höher schätzt als intellektuelle; er will seiner Mutter ein glänzendes Zeugnis geben, indem er sagt: „sie war von gewöhnlichem Verstande, von hohem sittlichem Wesen“; der Ausdruck der Übersetzung verflacht diesen Gedanken gänzlich. Ähnliches ist oft anzutreffen. Von einem Oheim schreibt Sp. (bei Stein): „Von der orthodoxen Wesleyanischen Kirche wendete er sich aus trivialen Gründen ab.“ Dies ist falsch; „for trivial reasons“ heißt „aus unbedeutenden“ oder „unwesentlichen Gründen“. Über den Vater seines Vaters schreibt Spencer – nun kommt schon viel Ärgeres (von mir übersetzt) –: „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß religiöse Beängstigungen etwas mit seiner chronischen Melancholie zu tun hatten; es mag aber sein, daß diese nur seiner durch körperliche Erschöpfung verursachten Depression eine bestimmte Gestalt gaben“. Bei Stein heißt es (p. 6): ... „nicht unwahrscheinlich, daß seine beständige Melancholie auf religiöse ,Skrupel‘ und die ,daraus folgende‘ sich oft hochgradig steigernde ,Erregung‘ zurückging.“ Hier ist nicht nur die Erregung hinzugedichtet, sondern die an der Stelle gegebene Ableitung des Geisteszustandes aus der leiblichen Verfassung des Mannes ist verschüttet. Diese ist aber wesentlich für das Verständnis des folgenden Satzes (wiederum von mir übersetzt): „Sein reiferes Lebensalter war in Kriegszeiten gefallen, als die Steuern hoch und die Lebensmittel teuer waren; und die Ernährung einer großen Familie von den Einkünften aus einer Privatschule ... hatte schwer auf ihm gelastet.“ Daher (ist zu verstehen) seine konstitutionelle Erschöpfung. Bei Stein sind 2 Sätze daraus gemacht: „Er war in Kriegszeiten ,aufgewachsen‘, und, ,was er da gesehen‘, ,drückte ihn zeitlebens und erschwerte ihm die Mög-

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schreibt Sp. (bei Stein): Vgl. Spencer 1905: 8. Wesleyanischen Kirche: Die aus der anglikanischen Kirche hervorgegangene Erweckungsbewegung wurde von den Brüdern John und Charles Wesley und von George Whitefield begründet; ihre Mitglieder wurden wegen ihres methodisch geordneten frommen Lebens (ursprünglich spöttisch) Methodisten genannt. „for trivial reasons“: Vgl. Spencer 1904: 25. (von mir übersetzt): Bei Spencer (1905: 17) lautet die Passage: „Not improbably religious fears had something to do with his chronic melancholy; or perhaps these merely gave a definite form to the depression caused by constitutional exhaustion“. Bei Stein heißt es: Dort ohne Hervorhebung. (wiederum von mir übersetzt): Bei Spencer (1904: 17): „His nature life had been passed during war time, when taxes were heavy and the necessaries of life dear, and the rearing of a large family on the proceeds of a school, augmented to but a small extent by the returns from his little property at Kirk-Ireton, had been a heavy burden upon him“. Bei Stein sind 2 Sätze: Bei Stein (105: 6) ohne Hervorhebung.

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lichkeit‘, eine große Familie zu ernähren. ,Außerdem übernahm er freiwillig‘ die Bürde eines Schullehrers ...“ Freie Übersetzung lasse ich mir, wie gesagt, gern gefallen. Dies ist aber keine Übersetzung mehr, sondern eine willkürliche Umdeutung, die nicht scharf genug gerügt werden kann. Ähnliche Verunstaltungen des Textes, außer vielen Ungenauigkeiten, sind nicht wenige anzutreffen, wenn auch – soviel ich sehe – kaum eine so arge. Die Übersetzung kann – ganz abgesehen von der willkürlichen Behandlung der Vorlage – nicht als zuverlässig bezeichnet werden. Auch die 39 Seiten lange Einleitung gibt zu erheblichen Ausstellungen Anlaß. So, wenn es heißt (p. XVIII ff.): „In Spinozas Weltanschauung kommt der antike Stoizismus, in der Spencers der ,pyrrhonische Skeptizismus‘, zu voller Ausprägung.“ Spencer und pyrrhonischer Skeptizismus! Sapienti, d. h., dem, der die Geschichte der Philosophie kennt, genügt es. Ebenso, wenn Stahl „der gehaltvollste Interpret Hegels“ (p. XXXIV) genannt wird: Stahl, jener Typus des philosophischen Strebers, der aus tendenziösestem Anti-Rationalismus sein Gewerbe machend, Schellings System feiert als in doppelter Weise bestimmt, die Welt vom Rationalismus zu heilen, nämlich, außer durch seinen eigenen Inhalt, dadurch, daß es „den

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die 39 Seiten lange Einleitung: Exakt sind es 35 Seiten, da sie erst mit Seite V beginnt. (p. XVIII ff.): Zitatbeginn durch Hg. markiert; vgl. Stein (1905: XVIII f.): „Spinoza bildet den Abschluß der Weltanschauung des Seins, Spencer die Vollendung der Weltanschauung des Geschehens ... Für Spinoza ist das Sein, für Spencer das Tun, das Geschehen, der Prozeß ewig; dort Ontologismus, hier Evolutionismus; dort Pantheismus, hier Pandynamismus ... In Spinozas Weltanschauung kommt der antike Stoizismus, in der Spencers der pyrrhonische Skeptizismus zu voller Ausprägung“. pyrrhonische Skeptizismus: Pyrrhon von Elis begründete die erste skeptische Schule („Pyrrhonische Schule“), nach der von zwei einander widersprechenden Sätzen keiner besser begründet werden könne als der entgegengesetzte, so dass eine völlige Enthaltung von Urteilen notwendig sei. Sapienti: Eigentlich: (dictum) sapienti sat (est)! [lat.] svw. Für den Kundigen ist genug gesagt! Stahl: D. i. der Rechtsphilosoph und Politiker Friedrich Julius Stahl, Wortführer der Hochkonservativen („Fraktion Stahl“), Verfechter des „monarchischen Prinzips“, Mitglied der preuß. Ersten Kammer, des späteren Herrenhauses des preuß. Landtages, mit großem Einfluss auf die Politik Friedrich Wilhelms IV. Stahl, dem Tönnies ebenso wenig Sympathie entgegenbrachte wie dem Soziologen Stein, war ein Gegner des rationalistischnaturrechtlichen Denkens; siehe auch Grosser 1963: 10–22, 30–45. (p. XXXIV): Vgl. Stein 1905: XXXIV: „Von hier aus führt ein direkter Weg zu jenem politischen Konservatismus, den der gehaltvollste Interpret Hegels, der Rechtsphilosoph Stahl, mit seiner Begründung der ‚kleinen, aber mächtigen Partei‘ in Wirklichkeit gegangen ist“.

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Rationalismus in dem System Hegels auf seine höchste Stufe hinauftrieb“. (Philosophie des Rechts, 1. Band (1830), p. 319. Vgl. p. 270, 279.) – Noch eine Stelle darf nicht ohne Geißel vorbeigelassen werden (p. XXVIII): „Als sein Freund und wissenschaftlicher Beirat John Stuart Mill die Bodenverstaatlichungsbewegung mit dem ihm eigenen heiligen Begeisterungsfeuer anfachte, da wurde der junge Spencer mit enthusiastischem Überschwang fortgerissen.“ Spencer äußerte sich ohne allen Enthusiasmus oder Überschwang zu Gunsten der „Nationalisierung“ des Grund und Bodens in seinem ersten Buche „Social Statics“, das 1850 erschien; Mill lernte er erst 1857 persönlich kennen. Mill hat sich noch in den letzten Auflagen seiner „politischen Ökonomie“ äußerst vorsichtig über das Privateigentum an Grund und Boden ausgesprochen, und ist erst gegen Ende seines Lebens († 1870) entschieden zu Gunsten einer Aktion zum Behuf der Enteignung der großen Grundbesitzer, besonders der irischen, aufgetreten. „Heiliges 1

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,den Rationalismus ... auf seine höchste Stufe hinauftrieb‘: Vgl. Stahl 1830: 279 (Hervorhebung von Tönnies): „Das System Schellings war in doppelter Weise bestimmt, die Welt vom Rationalismus zu heilen: einmal dadurch, daß es selbst die Keime lebendiger, geschichtlicher Anschauung immer mehr entfaltete; dann aber, indem es den Rationalismus in dem System Hegels auf seine höchste Stufe hinauf trieb“. Die weiteren Passagen, auf die Tönnies Bezug nimmt, lauten: „Mit Hegel hat der Rationalismus sein Aeußerstes erreicht. Er hat fürs erste blos das Denken noch als Prinzip, ja als einzige Realität übrig; keine jenseits desselben anerkannte wirkliche Welt wie Kant, nicht das denkende Subjekt wie Fichte, und nicht die ursprünglich reelle Natur des absoluten wie Schelling“. Zum Verweis auf ebd.: 270: „Hält man auf dem Standpunkte des frühern Schelling’schen Systems daran fest, so muß man unvermeidlich zum Standpunkte Hegels gelangen“. Die von Tönnies inkriminierte Passage findet sich in der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1847, in der Stahl sich entschieden von Schelling abgrenzt, nicht mehr, ebenfalls nicht in den weiteren Auflagen. „Social Statics“: „Social Statics, or, The conditions essential to human happiness specified, and the first of them developed“ erschien nicht 1850, wie häufig in der Literatur, auch von Spencer selbst 1891 im Vorwort zum vierten Teil der „Principles of Ethics / Ethik des sozialen Lebens: Gerechtigkeit“ angegeben wird, sondern 1851 (vgl. Kellermann 1976: 160 u. 466 f.). In seiner Autobiographie berichtet Spencer (1904: 215–228) ausführlich über die Zweifel, die er in der Frage hatte, welchen Titel er seinem ersten Buch geben solle: Social Statics, A System of Social and Political Morality, Demostatics, A System of Equity Synthetically Developed? Gegen den Titel Social Statics, für den er sich letztlich entschied, sprach ursprünglich die mögliche Verwechslung mit Social Statistics. Privateigentum an Grund und Boden: Der engl. Philosoph u. Ökonom John Stuart Mill empfahl die Hinwegsteuerung der Grundrente aus Bodeneigentum mittels einer Wertzuwachsabgabe (1848: 5. Buch, 2. Kap.). Die von ihm 1870 ins Leben gerufene „Land Tenure Reform Association“ zerfiel bald nach seinem Tod. († 1870): Hier ist die von Mill 1870 gegründete „Land Tenure Reform Association“ mit seinem Todesdatum (1873) verwechselt worden.

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Begeisterungsfeuer“ hat ihn niemals charakterisiert, sondern redliche und gediegene Besonnenheit. – Ein Gesamturteil über das vorliegende literarische Produkt kann nur dahin gehen, daß es die starken Spuren einer eilfertigen Herstellung trägt.

Emile Thouverez, Herbert Spencer (Science et Religion. Etudes pour le temps présent. Les grands philosophes.) 63 S. 16°. Paris, Bond & Cie. [19]05. 5

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Auch dies Büchlein gibt einen Auszug der Autobiographie, und zwar des ganzen Werkes, aber in viel knapperer Form und ohne andere Ansprüche zu machen. Die Mitteilungen werden ergänzt für die kurze Periode, die jenseits der Lebensbeschreibung liegt; diese geht in der Hauptsache nur bis 1882, behandelt aber noch die folgenden 10 Jahre kursorisch. Der französische Autor gibt einen sorgfältigen Bericht, hier und da mit einer Andeutung von Kritik. Der religionsfreundliche Charakter, der offenbar die Sammlung dieser kleinen Monographien ausprägen will, macht sich kaum in der vorliegenden bemerklich.

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Thouverez: Die Rezension von „Thouverez, Emile. Herbert Spencer“ erschien zuerst in der Rubrik „XVI. Philosophische Disziplinen“ in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, Hg. Hermann Beck, 1. Jg., 3. Heft, März, Cöthen: Dünnhaupt 1905, S. 167. Die Endzeile lautet: „Ferdinand Tönnies, Eutin.“ (vgl. Tönnies 1905t). Die ersten drei Jahrgänge (1905–1907) der ‚Kritischen Blätter‘ hatten den Untertitel „Bibliographisch-kritisches Zentralorgan“ und erschienen bei Dünnhaupt in Köthen. Von 1908–1912 führte die Zeitschrift den Untertitel „Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften. Bibliographisches Zentralorgan“ und erschien bei Boehmert in Dresden. Auszug der Autobiographie: Herbert Spencer wollte in seiner Autobiographie eine „Naturgeschichte seiner selbst“ geben. Das „Auch“ bezieht sich wohl auf das ebenfalls in den ‚Kritischen Blättern’, und zwar sehr ausführlich und äußerst kritisch rezensierte Werk „Spencer, Herbert. Eine Autobiographie“ (Spencer 1905), vgl. Tönnies 1906q, hier S. 483–488.

Franz Eulenburg, Gesellschaft und Natur Akademische Antrittsrede (S.-A. aus dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“.) Tübingen, 1905. Mohr. (42 S. Gr. 8.). Der Inhalt der Rede ist zunächst hauptsächlich gegen die Windelband-Rickertsche Wissenschaftslehre gerichtet. Der Begriff von Wirklichkeitswissenschaften sei ein Unding, „weil wir es eben stets nur mit unsern einseitigen Abbildern von der Wirklichkeit zu tun haben“. Die Wirklichkeit müsse immer vollständiger, vielseitiger sein als die Betrachtung innerhalb einer einzelnen Wissenschaft. Auch der Begriff „Gesellschaft“ schließe die Beziehungen zur Natur nicht aus. Ferner könne jede Wissenschaft sich auf Beschreibung von Besonderheiten richten, aber auch jede könne Gesetzeswissenschaft werden und allgemeine Begriffe bilden. So lassen sich auch soziale Gesetze aufstel 1

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Eulenburg: Die Rezension „Eulenburg, Franz. Gesellschaft und Natur“ erschien zuerst in: Literarisches Zentralblatt. Kritisches Zentralblatt für die gesamte Wissenschaft (Begründer E. Zarncke), 57. Jg., Nr. 23, 2. Juni, Weimar: Wagner & Sohn 1906, Sp. 786–787 (bei Fechner 1992: 50 f. ist irrtümlich der 2. April als Erscheinungsdatum und die Heftnummer 13/14 ausgewiesen). Der Beitrag ist am Schluss mit „–ιε–“ (gr.: iota epsilon) gezeichnet; nach Else Brenke (1936: 389), einer ehemaligen Mitarbeiterin des Rezensenten, bediente sich Tönnies verschiedentlich dieses anonymisierenden Kürzels. Die in der SHLB (Signatur xt: 209 Nr 4) vorhandene Fahne der Rezension weist Korrekturen Tönnies’ auf, die in der Veröffentlichung ausgeführt sind. Die Seiten 5–41 des von Tönnies rezensierten Sonderdrucks entsprechen den Seiten 519–555 im XXI. Band des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, Tübingen: J. C. B. Mohr 1905. die Windelband-Rickertsche Wissenschaftslehre: Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert gelten als Begründer der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, der die Natur‑ und Geisteswissenschaften als „nomothetische“ und „idiographische“ Wissenschaften klassifizierte. Tönnies sympathisiert weitgehend mit dem Eulenburg-Text, weil er alle Wissenschaft als „empiristisch“ begreift (vgl. Tönnies 1922: 229) und einen Dualismus von „erklärenden“ und „verstehenden“, „nomothetischen“ und „idiographischen“ bzw. „Natur‑„ und „Kulturwissenschaften“ ablehnte (vgl. Bickel 1987: 63 f.). „weil wir es ... zu tun haben“: Vgl. Eulenburg (1905: 13 bzw. 527): „Der Begriff ist ein Unding, weil wir es eben stets nur mit unseren einseitigen Abbildern von der Wirklichkeit zu tun haben, weil die Aufgabe der Wissenschaft immer nur ist, bestimmte Vorstellungen in einer Form zu bearbeiten, so daß sie in der anschaulichen Vorstellung des anderen als deren Abbild wieder erzeugt werden können“.

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len. Sie haben die Bedeutung, 1) eines ökonomischen, 2) eines heuristischen Prinzipes, sie geben 3) eine wenigstens vorläufige Erklärung. Es handelt sich nicht um Uebertragung und Entlehnung. Es gibt drei Gruppen wirklicher Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft: 1) die Ausgedehntheit im Raum, 2) die Abhängigkeit der Technik von natürlichen Bedingungen, 3) die Bedingungen der Biologie und Physiologie. – Zuletzt werden einige Probleme aus dem dritten dieser Bedingtheitsgebiete einer besonderen Analyse unterworfen, namentlich das Bevölkerungsproblem (das Malthus-Gesetz sei unhaltbar), sodann die „Degeneration“ (der Statistiker müsse sagen: non liquet), die soziale Auslese – beruht sie in natürlicher Auslese? auch inbezug auf diese wichtige Frage laufen unwissenschaftliche Verallgemeinerungen um. Gestreift wird noch die Lehre vom „geborenen Verbrecher“ und zuletzt die physiologische Seite der Arbeit, als von ihrem psychologischen Moment untrennbar. Bei all diesen Problemen steht die Beeinflussung gesellschaftlichen Seins und gesellschaftlicher Zusammenhänge durch „Natur“ in Frage. Und doch geht man dabei durchaus nicht aus dem Bereich der Sozialwissenschaft heraus. Uebertragung von Formeln und Erklärungsversuchen der Biologie auf die Sozialphänomene dient nicht zu deren Erklärung. Die Biologie ist selbst noch hypothetisch und unfertig. Gleichwohl darf man ihre Annahmen als Hilfsprinzipien verwerten. Das Erkennen ist sich Selbstzweck; aber auch die Einsicht in Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft kann Fingerzeige geben für die Praxis, z. B. in der Sozialhygiene. Anerkannt wird, daß die Versuche einer biologischen Soziologie als Reaktion gegen die nicht minder einseitige Abschließung der Sozial- von den Naturwissenschaften „jedenfalls bedeutsam und beachtenswert“ seien. – Die kleine Schrift, deren Inhalt hier 8

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das Malthus-Gesetz: Der engl. Sozialforscher Thomas Robert Malthus formulierte in seinem äußerst umstrittenen Bevölkerungsgesetz, dass die natürliche Vermehrung der Menschen in geometrischer Progression erfolge, während die Nahrungsmittelmenge infolge abnehmenden Bodenertrages nur in arithmetischer Reihe anwachse. non liquet: [lat.] svw. es ist nicht klar. Lehre vom „geborenen Verbrecher“: Mit dieser äußerst umstrittenen kriminalanthropologischen Lehre regte der Turiner Arzt Cesare Lombroso die systematische Ursachenforschung des Verbrechens an. Seine Lehre besagt, dass bestimmte Menschen zum Verbrecher bestimmt und an auffälligen körperlichen Merkmalen erkennbar seien, wie fliehender Stirn, Missbildung der Ohren u. ä. Siehe zu Lombroso insbesondere Tönnies’ Rezensionen von 1891(a) und 1893a (TG 1 u. TG 3). „jedenfalls bedeutsam und beachtenswert“: Eulenburg argumentiert hier gegen den Rickert-Stammlerschen Wissenschaftsdualismus (1905: 38 f. bzw. 552 f.), d.h. gegen den Heidelberger (Windelband, Rickert) einerseits, den Marburger Neukantianismus (Cassirer, Stammler) andererseits.

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in Kürze skizziert wurde (die Rede ist durch ziemlich viele Anmerkungen, zumeist literarische Hinweise enthaltend, erläutert) zeichnet sich durch Knappheit und Bündigkeit vor gar manchen wort- und seitenreichen Büchern aus; ebenso hebt sich die wissenschaftliche Gesinnung des Verfassers durch Besonnenheit und Strenge von der immer mehr um sich greifenden Fahrigkeit ehrgeiziger Theoriefabrikanten ab. Ref. stimmt in allen Hauptsachen mit dem Verf. überein; wenn sich auch von selbst versteht, daß über die großen Themata, die hier auf wenigen Seiten kenntnisreich erörtert werden, noch viel zu sagen übrig bleibt. Die Rede macht den Eindruck eines Programms; und erfreulich ist, daß in der ersten Anmerkung eine größere Schrift „Vorfragen der Sozialphilosophie“ angekündigt wird.

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angekündigt wird: Diese „größere Schrift“ ist nicht zu Stande gekommen.

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H. G. Wells, Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen Deutsche, vom Autor genehmigte Uebertragung von Felix Paul Greve. Minden i. W., 1905. Bruns. (XI, 384 S. 8.).

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Man wird das Buch vielleicht am besten aus einer gelegentlichen Anmerkung verstehen, daß es geschrieben sei, „um zu provocieren“. Nüchterne und doch verwegene Phantasmen erfüllen es. Ein vielfältig unterrichteter, geistreicher Mann ist mit Recht davon durchdrungen, daß die Konsequenzen der ungeheuren Umwälzung in allen Lebensbedingungen, die uns das 19. Jahrhundert gebracht hat, noch unabsehbar sind, und erwartet mit gutem Grunde, daß viele und sehr bedeutende im Laufe dieses neuen Säkulums sich vollziehen werden. Diese Konsequenzen erblickt er teils in weiteren Fortschritten der Technik, teils in den Wirkungen dieser (und der neuen Bedingungen überhaupt) auf das soziale Leben, teils endlich in den Folgen, die sich auf das politische, militärische, pädagogische und andere Gebiete erstrecken werden. Die Schwäche der Argumentationen besteht darin, daß der strenge kritische Gesichtspunkt des Beobachtens und Erwägens wahrscheinlicher Entwicklungen nicht festgehalten wird, sondern auf unmerkliche

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Wells: Die Rezension „Wells, H. G. Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen“ erschien zuerst in: Literarisches Zentralblatt. Kritisches Zentralblatt für die gesamte Wissenschaft (Begründer E. Zarncke), 57. Jg., Weimar: Wagner & Sohn 1906(s), S. 930–931. Die engl. Originalausgabe des Buches erschien 1901 unter dem Titel „Anticipations of the relation of the mechanical and scientific progress upon human life and thought“. Der Beitrag ist am Schluss mit „–ιε–“ (gr.: iota epsilon) gezeichnet. Dieses anonymisierenden Kürzels bediente sich Tönnies lt. seiner ehemaligen Mitarbeiterin Else Brenke (1936: 389). Auf die im Druck nicht berücksichtigten handschriftlichen Fahnenkorrekturen von Tönnies (vgl. in der SHLB die Signatur: xt209: Nr 6) wird unten verwiesen. „um zu provocieren“: Vgl. Wells (1905: 329): „... ein Buch wie diese ‚Ausblicke‘ ... ist geschrieben, um zu provozieren“. geistreicher Mann: Der engl. Schriftsteller Herbert George Wells war zeitweise Mitglied der Fabian Society; er schilderte in Form von Science-Fiction-Romanen sozialpolitische Probleme einer aus den Fugen geratenen Welt. Säkulums: [lat.] Jahrhundert.

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Art in die Utopie, also in die Vorstellung von Lieblingsideen und Wünschen des Verf.s übergeht. So ist es besonders in den beiden letzten Kapiteln, wo „die weitere Synthese“ und „Glaube, Moral und Staatspolitik der Neuen Republik“ dargestellt sind. Diese Republik ist so wenig als die des Plato eine Demokratie, sondern wird von „Spezialisten“ geleitet, einem Stande, dessen Elemente in den wissenschaftlich gebildeten Technikern, Aerzten und anderen Fachmännern unserer Zeit gefunden werden. Die Regierung der neuen Republik soll ziemlich radikal nach allen Richtungen verfahren; besonders wird sie mit Tötungen kaltblütig vorgehen; „nur der sollte leben dürfen, der tauglich ist, frei in einem geordneten Weltstaat zu leben“. Und nicht nur der Tod soll „einfach und logisch“ angefaßt werden, sondern auch die Geburt. Daher Maßregeln zur Umwandlung der sexuellen Moralität, Wirkung auf Euthanasie der Schwachen „und Sinnlichen“ (S. 371) durch Verhinderung ihrer Fortpflanzung. Gleich anderen Reformen, die in diesem Gebiete jetzt so heftig sich geltend machen, denkt der Verf. sich das alles ziemlich leicht. Seine Kritik ist scharf und hart. Etwas von Nietzschem Geiste ist darin. Und wie es zu geschehen pflegt, richtet sie sich mit besonderer Strenge, ja mit Bitterkeiten, gegen die eigene Nation. Am meisten sind ihm die Franzosen sympathisch. – Die Uebersetzung haben wir nicht mit dem Originale vergleichen können. Wir finden zwar, daß sie manche Anglicismen enthält, haben aber den Eindruck, daß der Uebersetzer die englische Sprache wirk 2 4 5

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in den beiden letzten Kapiteln: Das sind „VIII. Die weitere Synthese“ ( S. 296 ff.) und „IX. Glaube, Moral und Staatspolitik der Neuen Republik“ ( S. 336 ff.). als die des Plato: Anspielung auf Platons Entwurf eines Paradigmas vom Staat. „Spezialisten“: Hierbei handelt es sich um „eine große, beginnende Masse mehr oder weniger befähigter Menschen, die mehr oder minder bewußt damit beschäftigt sind, die wachsende Menge wissenschaftlicher Erkenntnis auf die allgemeinen Bedürfnisse anzuwenden,“ eine der vier „sozialen Hauptelemente der kommenden Zeit“ (Wells 1905: 120). „nur der sollte ... leben“: Vgl. ebd.: 363: „Der Gedanke, daß nur der sollte leben dürfen, der tauglich ist, frei in einem geordneten Weltstaat zu leben, läuft der Anwendung von Abschreckungsstrafen völlig zuwider“. (S. 371): Vgl. ebd.: 364: „Und der Menschentypus, den ich mir als in den kommenden Jahren emportauchend denke, wird nicht nur den Tod einfach und logisch anfassen, sondern auch die Geburt“. Und weiter: „Dies – diese Euthanasie der Schwachen und Sinnlichen ist möglich“ (ebd.: 371). Reformen: In der Fahne von Tönnies korrigiert: Reformern. von Nietzschem Geiste: In seiner Nietzsche-Monographie setzt sich Tönnies (1897) kritisch mit Nietzsches Fortschrittsoptimismus und dem Thema der Heraufkunft eines neuen Menschen auseinander (siehe auch TG 4). In der Fahne von Tönnies korrigiert: Nietzschenems Geist.

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H. G. Wells, Ausblicke auf die Folgen

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lich kennt, was man von wenigen Uebersetzern aus dem Englischen sagen kann. Die Ausstattung des jedenfalls interessanten und anregenden Buches ist lobenswert.

J. H. W. Stuckenberg, Sociology – The Science of Human Society

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Stuckenberg: Die Rezension „Stuckenberg, J. H. W. Sociology“ erschien zuerst in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Schmollers Jb) 1906(t), 30. Jg., S. 1705–1707 (Heft 4, S. 395–397), wieder abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken. Dritte Sammlung. Jena: Fischer 1929, S. 338–341 (Tönnies 1929: 338–341). Entsprechend den Editionsrichtlinien findet sich dieser Text in TG 19.

Othmar Spann, Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie 1. Bd.: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffes der modernen Soziologie

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Tübinger Inaug.-Dissert. [S.-A. aus der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft”. Jahrg. 1903–05.] Tübingen, H. Laupp jr., 1905. 150 S. 8°.

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Der erste Artikel dieses Buches kommt auf etwas umschweifigem Wege zu dem Ergebnisse, „der Begriff der Gesellschaft“ sei „das eigenartige Problem einer selbständigen Wissenschaft, die Soziologie oder Theorie der Gesellschaft“ (S. 13). In dieser Frage stecke „die Annahme irgend welcher selbständiger Beschreibbarkeit des Gesellschaftlichen als solchen“ (S. 17). Die Eigenart des Sozialen könne entweder in einer eigenartigen Beschaffenheit der Kausalzusammenhänge, die den Gegenstand der Sozialwissenschaft bilden, beschlossen gedacht werden .. „oder so, daß jene Eigenart als eine Eigenart unserer Erkenntnisweise vermutet wird“ (S. 19); jene sei die realistische, diese die erkenntnistheoretische Auffassung. Diese letztere wird zunächst erörtert und der Kritik der Theoreme ihres „Schöpfers“ Stammler ist beinahe der dritte Teil der Schrift (S. 26–68) gewidmet; angehängt werden noch einige Seiten über Jhering und das Verhältnis Stammlers zu ihm. Jene Kritik kommt zu dem Schlusse, daß die „grundsätzlichen positiven Ergebnisse Stammlers fast durchgängig als unhaltbar“ sich darstellen. Als Urhe-

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Spann: Diese Rezension erschien zuerst in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft (Hg. P. Hinneberg), 27. Jg., Nr. 45, 10. November, Leipzig: Teubner 1906, Sp. 2839–2842 (Tönnies 1906u). Die Schlusszeile lautet: „Eutin. Ferdinand Tönnies.“. Die rezensierte Dissertation ist aufgegangen in der 1907 in Dresden erschienenen Monographie „Wirtschaft und Gesellschaft. Eine dogmenkritische Untersuchung“, und zwar, wie der Autor schreibt, „mit wesentlichen Kürzungen“ (vgl. Spann 1974: 1). „das eigenartige Problem ... der Gesellschaft“: Bei Spann (1905: 13) ist die Passage hervorgehoben; ebenfalls die folgend zitierte. (S. 19): Vgl. ebd.: 19: „oder so, dass jene Eigenart als eine Eigenart unserer Erkenntnisweise vermutet wird.“ kommt zu dem Schlusse: Vgl. ebd. 67.

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ber einer „realistischen Lösung“ wird dann Simmel behandelt, der sich vor anderen dadurch auszeichne, daß bei ihm allein eine zureichende erkenntnistheoretische Entwicklung und Nutzanwendung vorhanden sei. Simmels Grundthese sei, daß es nur für die Elemente, aber nicht für den Komplex Gesetze geben könne; um trotz dieser unhaltbaren metaphysischen These (1), eine Gesellschaftswissenschaft zu ermöglichen, werde (2) die durchgängige Wechselwirkung aller Teile zu Hilfe genommen; da aber dies Kriterium sich als unbrauchbar erweise, so werde (3) eine einheitliche Wirkung von Komplexen innerhalb umfassenderer Komplexe zum wahren Kriterium erhoben (S. 86 ff. 96 ff.). Diese „Thesen“ seien teils in Widerspruch, teils in unklaren Verhältnissen zu einander, die zweite und dritte seien undefiniert eingeführt, ihre Verwendung oder Ableitung „metaphysisch“. Die nähere Bestimmung des Gesellschaftlichen als der Wechselwirkung psychischer Einheiten (S. 98 ff.) sei auch materiell unzulänglich und schwankend, und könne auch ihrem Sinne nach kein „selbst einen Sozialbegriff konstituierendes Element“ darstellen. Simmels Lösung des Problems, heißt es schließlich (S. 114) sei (nur, wie man verstehen muß) negativ, in dem Sinne, daß die Existenz eines selbständig beschreibbaren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges oder Kollektivums geleugnet werde. – Der 4. Artikel trägt die Überschrift „Der materiale Gesellschaftsbegriff“. Der Einfluß, den der formale Gesellschaftsbegriff unmittelbar auf den materialen ausübe, sei so beschaffen, daß die materiale Theorie, wenn die prinzipielle Erscheinung der Gesellschaft schlechthin als ein psychischer Zusammenhang zwischen Individuen erklärt werde, sehr von der speziellen Auffassung von der Natur dieses Zusammenhanges abhänge: ob er als vorwiegend logisch, vernunftgemäß konstruiert, oder als triebmäßig „oder doch durch den ganzen Menschen mit seinen Leidenschaften und Trieben, seinem Egoismus und seinem Idealismus vermittelt“ gedacht werde (S. 118). Als die Hauptleistungen der speziellen Theorien der Gesellschaft (zugleich als die „bedeutendsten Leistungen“) sollen die Lehren Schäffles und Diltheys erörtert werden. Schäffles Entwurf enthalte trotz seiner Mängel „eine wahrhaft großartige Anschauung von der Gesellschaft, ihrem Werden, ihrer Differenzierung und dem

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„selbst einen Sozialbegriff konstituierendes Element“: Vgl. ebd.: 103: „Diese Bestimmung kann ihrem Sinne nach kein selbst einen Sozialbegriff konstituierendes Element bedeuten“. (S. 118): Vgl. ebd.: 118: „... oder er kann als ein triebmässig oder doch durch den ganzen Menschen mit seinen Leidenschaften und Trieben, seinem Egoismus und seinem Idealismus vermittelter gedacht werden“.

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Othmar Spann, Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft

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funktionellen Zusammenspiel ihrer Teile“ (S. 136); er stelle die weitaus beste diesbezügliche (!) Leistung der Soziologie dar. Der Schwerpunkt des Diltheyschen materialen Gesellschaftsbegriffes liege zunächst in der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Systemen der Kultur und äußeren Organisation der Gesellschaft, als „frei aufeinander bezogenes Tun“ und als „konstante Beziehungen“ in der Form von Leistungen des Gesamtwillens (S. 144). Dagegen sei einzuwenden, daß das Moment des Zwanges („das im Falle verbandlicher Setzung eines Imperativs augenscheinlicher hervortritt als bei freier Wechselbeziehung“) keinen grundsätzlichen Unterschied begründen könne. Der Begriff des Kultursystems bedürfe überhaupt der Revision. – Nach dem Schlußwort (S. 149) will die Kritik implicite dargetan haben, daß das Problem zuvörderst überhaupt erst daraufhin untersucht werden müsse, inwiefern und warum es Problem ist; was sich wohl schon vorher hätte wissen lassen und jedenfalls vorher einer Prüfung wert gewesen wäre. Die „Eigenarten“ hätten sich dann vielleicht teilweise als ziemlich fremdartig herausgestellt. Als Zeugnis ernster und emsiger Arbeit ist die kleine Schrift lobenswert. Man empfindet, daß eine resolute Bemühung, über die Probleme, wie der Verf. sie sich vorgestellt hat, zu begründetem Urteil zu gelangen, zugrunde liegt. Daß diese sogenannten Probleme die Bedeutung haben, die er ihnen zuschreibt, leugne ich. Sein Denken steckt noch tief in Worten, ist daher in wesentlichen Stücken unklar geblieben. Was über den Unterschied eines formalen und eines materialen Gesellschaftsbegriffes gesagt wird, soll durch diese Charakteristik besonders getroffen werden; also alles, was davon abhängt, und das ist die ganze Gliederung der Artikel. Die Gewandtheit und Sicherheit eines noch jugendlichen Autors im Hantieren mit scheinbaren Distinktionen und großartigen Worten hat für mich immer etwas Unheimliches, da hinter ihr regelmäßig das einfache sachliche Verständnis, das Anfassen der Wirklichkeit zurückbleibt. Im gegenwärtigen Falle habe ich gleichwohl den Eindruck, daß die Fähigkeit, sich der eigentlichen wissenschaftlichen Aufgaben zu bemächtigen, nicht gering ist, und daß sich 7 9 19

(S. 144): Vgl. dieses indirekte Zitat ebd.: 144. Die zitierten Passagen sind Äußerungen, die Spann von Dilthey übernommen hat. „das im Falle ... freier Wechselbeziehung“: Vgl. ebd.: 145. der Verf.: Othmar Spann, österreichischer Philosoph, Nationalökonom und Soziologe, vertrat eine organisch-ganzheitliche Philosophie und Staatsauffassung mit gesellschaftspolitischer Wendung gegen Individualismus und Kollektivismus (Universalismus). In seiner Lehre vom „wahren Staat“ forderte er eine Neuordnung der Gesellschaft auf berufsständischer Grundlage. Beachte auch seine Kritik an Tönnies (Spann 1930).

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wiederum die Gefährlichkeit des Messerwetzens, womit jemand methodologische Untersuchungen verglichen hat, bewährt. Solche Untersuchungen suchen allzusehr mit Eifer da, wo oft nichts oder wenig verborgen ist; für den wenigstens nicht, der die Augen offen hält. – Die einzelnen Kritiken mögen für manchen Leser förderlich sein. Am meisten objektiven Wert kann ich derjenigen, die gegen Stammler gerichtet ist, einräumen. Stammler vertritt mit Scharfsinn und Energie das Recht einer einseitigen Betrachtung des sozialen Lebens unter dem Gesichtspunkte dessen, was er äußere Regelung nennt, und der Zweckmäßigkeit solcher Regelung. Seine Lehre, daß durch diese legislatorisch-juridisch-ethische Ansicht die Erforschung der Kausalitäten im menschlichen Zusammenleben ausgeschlossen oder auch nur eingeschränkt werde, ist innerlich durchaus unmöglich und hat nicht die Wichtigkeit, die ihr gemeinhin zugeschrieben wird. Ich habe daher an der Kritik, die hier so großen Raum einnimmt, vorzugsweise auszusetzen, daß diese destruktive Meinung zu schwer genommen wird. Aber der Wein, der unter der Etikette „Erkenntnistheorie“ an den Markt kommt, findet heute immer die willigsten Nehmer, auch solche, die sich daran berauschen.

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Editorischer Bericht Erster Teil: Allgemeines Im Band 7 der Tönnies-Gesamtausgabe finden sich alle veröffentlichten Texte von Ferdinand Tönnies aus den Jahren 1905 und 1906 (Monographien, Schriften, Rezensionen). Darunter befinden sich auch einige Texte, die unter den Pseudonymen „Julia von Egge-Weichling“ und „Normannus“ bzw. anonym unter dem Kürzel „-LE-“ erschienen sind. Des Decknamens „Normannus“ hat sich Tönnies zwischen 1895 bis 1913 des öfteren bedient, vor allem für Artikel in der Frankfurter Halbmonatsschrift „Das Freie Wort“. Das Pseudonym „Julia von Egge-Weichling“ benutzte er nur einmal – aus gegebenem Anlass (hierzu siehe die Erläuterung im zweiten Teile des Editorischen Berichtes). Das Kürzel „-LE-“ hat er zweimal verwendet im Rahmen zweier Buchbesprechungen für das in Weimar erscheinende „Literarische Zentralblatt“. Ausgehend vom Werkverzeichnis Brenkes (1936) und Fechners (1992) wurde noch einmal systematisch nach weiteren Veröffentlichungen gesucht, insbesondere im Zeitschriftenbereich. Einige Angaben in den Werkverzeichnissen konnten korrigiert bzw. ergänzt werden. Zudem konnte ein bislang nicht erfasster Artikel ermittelt werden („Schiller und der Genius seiner Zeit“). Weitere Funde, vor allem in Tageszeitungen, sind immer noch möglich. Alle edierten Texte wurden im Original überprüft, wobei sich das Textumfeld als äußerst aufschlussreich erwies, insbesondere bei jenen, die auf tagespolitische Ereignisse Bezug nehmen. Die für das Verständnis notwendigen Hintergründe werden dem Leser, der Leserin in der gebotenen Kürze erläutert, zum einen in den laufenden Anmerkungen zu den Texten, zum anderen etwas ausführlicher im zweiten Teil des Editorischen Berichtes. Die Titel jener Schriften, die in späteren Sammelwerken oder in überarbeiteter „letzter“ Fassung erschienen sind, werden im Inhaltsverzeichnis dieses Bandes kursiviert aufgeführt. Die Leserschaft wird auf die entsprechenden Bände der Tönnies-Gesamtausgabe verwiesen, in denen diese Schriften enthalten sind. Nicht-authentische Schriften und nicht-autorisierte Diskussionsbeiträge, mitunterzeichnete Aufrufe, Vereinsverlautbarungen, Einladungen, Preisausschreiben etc. bleiben grundsätzlich unberücksichtigt. In Zweifelsfällen

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beurteilten die Bandherausgeber die Autorisation, in Rücksprache mit dem Herausgeberkollegium der Tönnies-Gesamtausgabe und dem Wissenschaftlichen Beirat der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft. Entsprechende Hinweise finden sich im zweiten Teil des Editorischen Berichts. Druckvarianten werden mitgeteilt, andere Varianten sparsam, nach editorischem Urteil. Unberücksichtigt bleiben ferner Übersetzungen in fremde Sprachen, sofern sie nicht von Tönnies selbst angefertigt oder autorisiert worden sind oder wenn der Text auch in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Im letztgenannten Fall wird der Titel der Übersetzung im Inhaltsverzeichnis kursiviert aufgeführt und auf den jeweiligen Band der Tönnies-Gesamtausgabe verwiesen, in dem der deutschsprachige Text zum Abdruck gelangt. Authentische fremdsprachliche Texte werden im zweiten Teil des Editorischen Bericht in deutscher Sprache wiedergegeben. Dieser Band ist wie alle anderen Bände der Tönnies-Gesamtausgabe chronologisch aufgebaut. Es werden jedoch drei Abteilungen gebildet: „I. Monographien“ – „II. Schriften“ – „III. Rezensionen“, innerhalb derer die Texte wieder chronologisch geordnet sind. Der Unterschied der Abteilungen ist formaler Natur: „Schriften“ sind alle Texte, die weder „Monographien“ noch „Rezensionen“ sind. „Rezensionen“ sind alle Buchbesprechungen, die keinen eigenen Titel aufweisen. Titel, die nicht von Tönnies stammen, stehen in eckiger Klammer. Auch die interne Gliederung der Werke in den Abteilungen ist chronologisch. Bei vieldeutiger Quellenlage beurteilten die Bandherausgeber in Rücksprache mit dem Herausgeberkollegium die bandinterne Reihenfolge. Bei den erfahrungsgemäß oft variierten tatsächlichen Erscheinungsdaten von Zeitschriften hielten wir uns, soweit sie in Erfahrung zu bringen waren, an das offizielle Datum. Hin und wieder gab es Differenzen zu den in der „Bibliographie der Sozialwissenschaften“ genannten Daten. Bei Artikeln, die in Fortsetzungen über mehrere Folgen einer Zeitschrift hinweg publiziert wurden, nahmen wir das Ersterscheinungsdatum als Grundlage, ausgehend von der Überlegung, dass der Artikel schon fertiggestellt war und lediglich aus redaktionellen Gründen eine Aufteilung erfolgte. Schwierigkeiten ergaben sich bei Zeitschriften, die nur noch in halbjahresweiser Bindung einsehbar sind, weil die „Bibliographie der Sozialwissenschaften“ ab 1906 keine Zusammenstellung der einzelnen Monatsbibliographien mehr enthält. In einigen Fällen ließ sich die Reihenfolge dadurch rekonstruieren, dass Tönnies in später publizierten Artikeln Bezug auf jene nahm, die ihnen vorausgingen. Probleme bereitete ebenfalls die Einordnung der Monographie „Strafrechtsreform“. In der „Bibliographie der Sozialwissenschaften“ für das Jahr 1905 ist ihr Erscheinen einmal

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angegeben für den Zeitraum Mai bis Juni (S. 1190), also vor oder zeitgleich mit der Monographie „Schiller als Zeitbürger und Politiker“ (S. 1149), zum anderen für den Monat September (S. 1286). Möglich ist, dass sie für Mai oder Juni angekündigt war, dann tatsächlich aber erst im September herausgekommen ist. Ein Inhaltsverzeichnis nach Sachgebieten findet sich auf den Seiten IX-XI. Ein solches Verzeichnis nach dem Pertinenzprinzip war vom Herausgeberkollegium zwar nicht zwingend vorgeschrieben, erschien uns jedoch als sinnvoll, vermag der Benutzer, die Benutzerin so doch gewisse Rückschlüsse auf Schwerpunkte im Schaffensprozess von Tönnies sowohl inhaltlicher als auch zeitlicher Art zu ziehen. Auch sind inhaltliche Querverbindungen, die Tönnies immer wieder über ganz unterschiedliche Textsorten hinweg hergestellt hat, leichter nachvollziehbar, Querverbindungen etwa zwischen der 1905 anstehenden Strafrechtsreform, Schillers „soziologischem“ Interesse am Verbrechen und aktuellen politischen Zeitläufen. Mehrfachnennungen erwiesen sich dabei in einigen wenigen Fällen als sinnvoll. Grundsätzlich wird der Originaltext ohne editorische Eingriffe wiedergegeben. Orthographie und Interpunktion folgen den historischen Vorlagen. Doch sind folgende Ausnahmen dabei zu beachten: (1) Fehlende Überschriften in der Abt. II („Schriften“) wurden neu gebildet und in eckige Klammern gesetzt. (2) Am Zeilenende wird, sofern nötig, auch der edierte Text nach der Rechtschreibreform vom 1. August 1998 getrennt. (3) Der redaktionell in den Referenztexten gelegentlich gesetzte Punkt nach Überschriften wurde grundsätzlich fortgelassen, auch bei Tabellen. (4) Eindeutige, zweifelsfreie Druckfehler wurden in der Regel stillschweigend korrigiert. In Zweifelsfällen wurde in den Text jedoch nicht eingegriffen, statt dessen am Seitenende ein entsprechender Hinweis gegeben. (5) Hervorhebungen unterschiedlichen Typs (Sperrungen, Fettdruck, Kapitälchen etc.) wurden durchgängig kursiviert. Wo im Text etwas doppelt hervorgehoben ist, etwa durch Sperrung und Fettdruck, ist dies in einer editorischen Fußnote vermerkt. Kennzeichnungen durch Asterisken bleiben erhalten. Fremdwörter, die in Frakturtexten in Antiqua gesetzt sind, gelten nicht als hervorgehoben, erscheinen hier also recte. Analog gilt dort, wo in Texten in Antiqua alle Fremdwörter kursiv gesetzt sind und die Hervorhebung sonst durch Sperrung geschieht, dass diese Fremdwörter hier recte gesetzt sind. Die Satzgewohnheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts tradierten noch die Praxis des Satzes in der Fraktur, Fremdsprachiges in einer anderen Schrifttype zu setzen. (6) Findet sich im Text eine hochgestellte Zahl, so liegt eine Original-Fußnote von Tönnies vor. Eine solche Note wird innerhalb eines

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jeden Textes mit hochgestellter Ordnungszahl neu durchgezählt und auf derselben Seite am Fuß des Originaltextes wiedergegeben. Editorische Noten zur Texterläuterung finden sich ebenfalls auf der betreffenden Seite, jedoch durch einen Halbstrich abgesondert ganz unten. Sie sind doppelt markiert: durch eine tiefer gestellte Zeilenzahl sowie durch ein kursives Lemma, das heißt, durch ein sinnvolles Textbruchstück, bezogen auf die der Erläuterung bedürftige Stelle. Die Zeilenzahlen finden sich, je die fünfte, stets am Innenrand. Sie zählen Überschriften und OriginalFußnoten, nicht aber Leerzeilen mit. Die editorischen Anmerkungen geben Aufschluss über folgende Sachverhalte: (1) Bei jedem Text wird zunächst die Quellenangabe sowie eine kurze Notiz zum Überlieferungskontext mitgeteilt. Komplexere Zusammenhänge werden, sofern nötig, im zweiten Teil des Editorischen Berichts erläutert. (2) Druckvarianten zu anderen relevanten Textfassungen werden, ggf. auszugsweise, hier gleichfalls abgedruckt bzw. mitgeteilt. Ebenso finden sich hier umfangreiche Varianten und Übersetzungen von fremdsprachlichen Originaltexten ins Deutsche. Hierauf wird in den editorischen Fußnoten jeweils verwiesen. (3) Begriffe und Zusammenhänge zeitgeschichtlicher und tagespolitischer Art, die heute nicht mehr geläufig sind, werden erklärt, eine Notwendigkeit, die insbesondere dann gegeben ist, wenn Tönnies mit Polemiken in tagespolitisches Geschehen eingreift. Bei Personennamen wird der Leser, die Leserin, wenn eine Erläuterung nicht schon am Seitenende sinnvoll ist, auf das Personenverzeichnis verwiesen. (4) Die Quellen, die Tönnies zitiert, und solche, die darüber hinaus ermittelt werden konnten, sind nachgewiesen und überprüft. Dort, wo es bei Tönnies keine Abweichungen vom zitierten Text gab, bleibt es beim Nachweis. Abweichungen hingegen werden mitgeteilt. Grundsätzlich wurde dabei die von Tönnies benutzte Ausgabe herangezogen. War sie nicht zu ermitteln, haben wir eine wahrscheinliche Quelle zugrunde gelegt. Die Tönnies eigene, nicht immer stete Terminologie wird nur in Ausnahmefällen erörtert. Der Leser, die Leserin konsultiere ihn selbst oder die Sekundärliteratur und beachte auch das Sachregister. Zitiert Tönnies aus fremdsprachigen Quellen und übersetzte selbst, so gilt seine Übersetzung als Abweichung und das fremdsprachige Original ist in der editorischen Fußnote wiedergegeben. (5) Die Kolumnentitel auf den Seiten mit Tönnies-Texten dienen der Orientierung des Lesers, der Leserin und sind editorischer Zusatz.

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Zweiter Teil: Zu den einzelnen Texten Schiller als Zeitbürger und Politiker (Tönnies 1905a, hier S. 3–60) 1905, im Schiller-Jahr, zum 100. Todestag des Dichters, explodiert die Literatur zu Leben und Werk des Klassikers deutscher Dichtung unter allen nur denkbaren Themenstellungen. Naturgemäß ist auch Tönnies damit befasst, aus eigenem Interesse und durch Auftragsarbeiten. Studien, die er aus eigenem Interesse unternimmt, befassen sich mit zwei Schwerpunkten, einem eher soziologischen und einem mehr politischen. Zum einen beschäftigt er sich mit den gesellschaftlichen Ursachen und ethischen Implikationen menschlicher Kriminalität so, wie Schiller sie in seinem Werk zur Darstellung bringt. Akribisch vergleicht er unterschiedliche Entwürfe und Fassungen der „Räuber“, des „Fiesko“, der „Kabale und Liebe“, des „Demetrius“. Aber nicht nur die Dramen, auch die Erzählung des „Verbrechers aus verlorener Ehre“ und das Romanfragment „Der Geisterseher“ interessieren ihn als einen „Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes“. Er zieht Briefe Schillers heran, setzt sie in Bezug zu einzelnen Lebensphasen des Dichters. Ermöglicht wird es ihm dadurch, dass die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Schillers abgeschlossen ist und der Briefwechsel ebenfalls in einer kritischen Gesamtausgabe vorliegt. Zum anderen versucht Tönnies, einen aktuellen Zeitbezug zu Schillers „politischem Vermächtnis“ herzustellen, oft in polemischer Auseinandersetzung mit jenen konservativen Zeitströmungen, die den Dichter für ihre Zwecke zu vereinnahmen suchen. Immer aber liest er die Texte des Dichters mit den Augen des Soziologen, ist am Inhalt interessiert, der zur Darstellung gelangt, nicht an der Form, in der das geschieht.

Strafrechtsreform (Tönnies 1905b, hier S. 61–118) 1905 fand in Hamburg der 10. Kongress der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (I.K.V.) statt. Das immer stärker werdende Bedürfnis nach Schutz vor dem Verbrecher war eines der zentralen Themen. Der Sicherungsgedanke begann seit der Jahrhundertwende immer stärker Einfluss auf Politik und Recht zu nehmen. Das galt insbesondere für die deutsche Landesgruppe der I.K.V. aufgrund der 1902 durch die Regierung in Angriff

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genommenen Reform des Strafrechts. Sie stellte ab 1906 nahezu ihr einziges Thema dar. Das geltende Strafrecht des Deutschen Reiches stammte aus dem Jahr 1871. Seinem sachlichen Inhalt nach war es jedoch wesentlich älter. Es stimmte fast wörtlich mit dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870 überein, und dieses hatte wiederum in allen wesentlichen Punkten die Vorschriften des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 übernommen. Die annähernd 30 Novellen, die das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 im Laufe der Jahre abänderten, insbesondere auch die Revision von 1876, hatten es nicht tiefgreifend umgestaltet. In den beinahe drei Jahrzehnten der Geltung des Gesetzbuches von 1871 hatten sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ebenso wie die ethischen Anschauungen derart geändert, dass die Notwendigkeit einer Reform immer offensichtlicher wurde. Am 16. Juli 1902 ergriff der Staatssekretär des Reichsjustizamtes Dr. Nieberding die Initiative durch die Berufung eines freien wissenschaftlichen Komitees von acht Professoren, von denen drei (von Birkmeyer, Wach und Kahl) die klassische, drei (von Liszt, von Lilienthal und Seuffert) die soziologische Schule und zwei (von Calker und Frank) eine vermittelnde Richtung vertraten. Seuffert starb noch vor dem Zusammentritt des Komitees und wurde durch von Hippel ersetzt. Ein Problem, das sich zu Anfang der Reformarbeiten ergab, war das der Reihenfolge, in der reformiert werden sollte. Auf dem Deutschen Juristentag 1902 hatte man beschlossen, zuerst das materielle Strafrecht und danach das Prozessrecht zu reformieren. Das Reichsjustizamt wollte zunächst die Strafprozessreform in Angriff nehmen. Die deutsche Landesgruppe der I.K.V. wollte demgegenüber die Neuordnung des Strafrechts, des Strafprozesses und des Strafvollzugs von einheitlichen Gesichtspunkten ausgehend zum Abschluss bringen. Sie setzte einen Ausschuss ein „mit dem Auftrage, durch neue selbständige Erhebungen die Grundlagen für eine durchgreifende Reform der Strafprozessordnung zu schaffen“ (I.K.V. 1889–1914: Bd. XIV, S. 310). In die Kommission der I.K.V. wurden gewählt: Aschrott, Adickes, von Liszt, von Lilienthal, Mittermaier, Rosenfeld, Rosenberg, Feisenberger und Heinemann. Nach langem Hin und Her, Vorentwurf, Gegenentwurf, Vermittlungsvorschläge, trat am 5. Juli 1912 eine Novellierung des Strafgesetzes in Kraft. Neben erheblichen Milderungen des geltenden Rechts brachte die Novelle auch manche Verschärfung. Die Neuerungen waren von modernem, sozialem Geiste getragen. Rücksichtnahme auf die wirtschaftlich Schwachen, Schutz der Jugendlichen und Wehrlosen zeigten das neue Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Volk. Auch kriminalpolitisch brachte es Fortschritte. Die Befugnisse des Richters bei der

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Bemessung der Strafe waren erheblich erweitert worden, besonders durch die Zulassung von Geldstrafen anstelle der Freiheitsstrafen. Die Beachtung des Motivs und der Gesinnung des Täters – „aus Not“, „boshaft“ – wurde dem Richter durch die Novelle zur Pflicht gemacht. Vor allem darin wurde die Novelle zur Repräsentantin moderner Ideen der I.K.V. und fand daher in ihren Reihen kaum Kritik (I.K.V. 1889–1914: Bd. XIX, S. 593 ff.). Schon damals aber war klar, dass es bei dieser einen Novelle bleiben und dass ihr bald ein völlig neues Strafgesetzbuch folgen müsse. Jedoch bewirkte der Ausbruch des ersten Weltkrieges dann nicht nur die Unterbrechung der Reformarbeiten, sondern zog mit den folgenden politischen und sozialen Umwälzungen fürs erste auch das Scheitern einer umfassenderen kodifikatorischen Reform nach sich. – Ausführlicheres, auch zu Programm und Gründungsväter der I.K.V., sowie weitere Hintergrundinformationen zur Auseinandersetzung zwischen „klassischer“ und moderner „soziologischer“ Schule der Rechtsreformer finden sich in der Monographie von Elisabeth Bellmann (1994: 3–31, 79–146). Die I.K.V. wurde am 17. September 1888 in Brüssel gegründet. Am 1. Januar 1889 nahm sie offiziell ihre Tätigkeit auf. Bereits sehr früh gehörte ihr Ferdinand Tönnies als Mitglied an. Ihre Aktivitäten sind dokumentiert in den „Mitteilungen der I.K.V.“, die als Organ der Vereinigung von den regelmäßig an verschiedenen Orten Europas durchgeführten Kongressen berichteten und die zunächst als Beilage der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“, ab 1904 getrennt davon, erschienen. 1933 löste sich die I.K.V. auf. Tönnies selbst beschäftigte sich schon seit längerem und intensiv mit kriminologischen Fragen. Darüber geben nicht nur seine Schriften in den Jahren 1905 und 1906 Auskunft, die auf den ersten Blick ganz andere Themen zu behandeln scheinen, etwa seine Arbeiten über Schiller, sondern ganz grundsätzliche Erörterungen der sozialen Problematik des Verbrechens, seiner Hintergründe und Folgen, so zum Beispiel der Aufsatz „Die Verhütung des Verbrechens“ (1891: 217–237) oder „Das Verbrechen als soziale Erscheinung“ (1895: 329–344). Tönnies’ umfangreiche „Verbrecherstudien“ fanden erst spät ihren publizistischen Niederschlag, in den Schriften der zwanziger und dreißiger Jahre. Aufschlussreich ist auch der von Cornelius Bickel und Rolf Fechner herausgegebene Briefwechsel zwischen Tönnies und dem dänischen Philosophen Høffding (1989), unter anderem zu Fragen der Herkunft und des Verbleibs von Verbrechern in Schleswig-Holstein. In Dänemark stand eine radikale Reform der Strafgesetzgebung bevor. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde der XII. Kongress der I.K.V. 1913 nach

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Kopenhagen vergeben und vom dänischen Justizminister Zahle, der als Ehrenpräsident fungierte, eröffnet. Die Bedeutung des Kongresses für die dänische Öffentlichkeit wurde durch ein Telegramm des Königs unterstrichen, in dem es unter anderem hieß: „Je vous prie d’exprimer au Congrès (...) mes vœux pour la réussite de ses travaux d’une si haute importance pour le progrès et la justice“ (I.K.V.: Bd. XX, S. 400).

Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht (Tönnies 1906, hier S. 119–250) 1896 lobte die Engländerin Victoria Lady Welby einen nach ihr benannten „Welby Prize“ aus zu dem Thema „The causes of the present obscurity and confusion in psychological and philosophical terminology, and the directions in which we may hope for efficient practical remedy“ mit folgender Aufgabenstellung: „The donor of the prize that general regard be had to the classification of the various modes in witch a word or other sign may be said to possess ‚meaning‘, and to correspondence differences of method in the conveyance or interpretation of ‚meaning‘ The committee of award will consider the practical utility of the work submittes to them as of primary importance.“ (Welby 1896a). Nachdem bis zum Einsendeschluss am 1. Januar 1898 dem „committee of award“, dem die englischen Psychologen Titchener und Sully, der französische Psychologe Boirac und der deutsche Kognitionspsychologe Külpe sowie der englische Philosoph und Psychologe Stout angehörten, nur zwei nicht als preiswürdig erachtete Essays vorlagen, schien die Preisvergabe zu scheitern. H. Walter Schmitz, der die Geschichte des Welby-Preises erforschte, schilderte, dass das Jurymitglied Stout im Juli 1898 von Külpe dann ein doch noch rechtzeitig eingegangenes Manuskript erhalten hatte, welches er an Lady Welby weitergab mit der Bemerkung, dass Külpe „was much impressed by its merits: and after carefully reading it through, I entirely agree with him. It is an excellent paper, full of good matter, well written, and to the point. It certainly fully deserves the prize.“ (Jul. 23rd 1898, zit. nach Schmitz 1985: 74). Am 26. August 1898 teilte Stout Lady Welby die einstimmige Entscheidung der Jury mit, und es wurde von Bosanquet die englische Übersetzung des Textes angefertigt, die Stout kritisch durchsah und mit einer editorischen Note versah: „The Welby Prize of £50 was awarded to this admirable essay

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by Dr. Ferdinand Tönnies of Hamburg (Editor, G. F. S.).“ (ebd.). Diese Fassung erschien in drei Teilen, wobei die ersten beiden Teile die editorische Note Stouts enthielten, mit eigenen Überschriften und einem Vorwort in der Zeitschrift ‚Mind‘ 1899. Tönnies wurde erst spät auf die Preisfrage aufmerksam, so dass er keine zwei Monate für die Abfassung der Schrift zur Verfügung hatte: „Sahst Du vor einem Jahre in den philosophischen Journalen die Ausschreibung eines englischen Preises – Welby Price von 50 £ für eine Arbeit über philosophische und psychologische Terminologie?“ schrieb er am 15. Oktober 1898 seinem Freund Friedrich Paulsen: „Diesen Preis habe ich gewonnen – zu meiner Überraschung, da ich entschieden zu wenig Zeit darauf verwandt hatte, ich fing eigentlich erst Mitte November damit an und ultimo Dezember musste sie abgeliefert werden. Dieser kleine Sieg hat dazu beigetragen, meine Gedanken an Philosophie wieder zu ermutigen“ (Klose 1961: 334). Da Tönnies bereits in seinem Hauptwerk von 1887, „Gemeinschaft und Gesellschaft“, seine soziologische Erkenntnistheorie skizzierte, war die Preisschrift, auch in seiner eigenen Ansicht, eine Art Erläuterung seiner erkenntnistheoretischen Reflexionen: „so zu sagen eine Tochter jenes Werkes (vgl. hier S. 130). Frank Osterkamp bezeichnet sie als „wahre Angel im Werk von Ferdinand Tönnies“ (2005: 380), mit der er seine sprachphilosophischen Überlegungen von 1887 in eine „umfassende geltungslogische Zeichentheorie“ einbettete und mit einer „systematischen Geschichte der philosophischen Terminologie“ seit dem 17. Jahrhundert verband (ebd.: 379). Jedoch war damit Tönnies’ Bemühen um eine wissenschaftliche Philosophie, waren seine sprach- und symboltheoretischen Erwägungen im Kontext seiner Willenstheorie um die Jahrhundertwende noch nicht beendet. „Die Tatsache des Wollens“ (Tönnies 1982), ursprünglich 1899 für die Preisaufgabe der Jakob-Frohschammer Stiftung der Maximilians-Universität München eingereicht, und das „Wollen in der Sprache“ (Tönnies 1982a) markieren weitere Etappen seiner symboltheoretischen Überlegungen, die schließlich 1931 in der „Einführung in die Soziologie“ (§ 33) ihren Abschluss finden. Bereits früh drängte Tönnies’ Freund Friedrich Paulsen auf eine überarbeitete deutsche Fassung des Textes (Brief vom 23. 11. 1899): „Deine ‚philosophische Terminologie‘ musst Du deutsch herausgeben oder vielleicht erweiternd überarbeiten: es ist eine solche Fülle von historischen und sachlichen Fragen darin berührt, dass Du für ihre Ausführung den doppelten Boden brauchst. Ich finde den Aufsatz in hohem Maße suggestiv, vor allem auch den Gedanken des social will, der sich in der Sprache manifestiert“

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(Klose 1961: 344) und insistierte später (ebd.: 349, Brief vom 10. 11. 1900): „Dies wogende Meer von Begriffen und Namen, wie es die Soziologie und Geschichtsphilosophie darstellt erregt Empfindungen, die der Seekrankheit vorhergehen. Jeder macht sich formale und materiale Begriffe und Bezeichnungen, wie es den Tatsachen, die er gerade sieht, oder den Konstruktionsbedürfnissen, die er gerade fühlt, vielleicht auch den Wunsch rhetorischer Wirkungen am meisten entsprechend scheint. So kommt ein vielstimmiger, aber misstönender Chor zusammen, den man Soziologie nennt“. Dennoch dauerte es bis zum Herbst 1906 ehe die deutsche Fassung vorlag. Paulsen (ebd.: 404, Brief vom 16. 10. 1906) kommentiert: „Herzlichen Dank für Dein altes und zugleich neues Buch: es freut mich, dass es aus der englischen Gefangenschaft jetzt in die Freiheit gekommen ist. Ich fing von hinten zu lesen an: die ‚Idee‘ einer einheitlich befestigten Terminologie ist gewiß aufgegeben, wie die ‚vollkommene Republik’; aber der Weg dorthin ist wohl hier wie dort unendlich; gerade in der Philosophie wird das ‚Freimeistertum‘ nie aufhören, soll es auch nicht; und solche Freimeister werden sich immer herausnehmen, die Begriffe und die Wörter einzuprägen, aus innerem Bedürfnis, aber auch um andere in ihren Bannkreis zu zwingen. Was kümmern die sich um Feststellungen einer ‚Akademie’? sie niederzutreten ist ihnen an sich Genuß“. Tönnies hatte die Preisschrift jedoch kaum überarbeitet, nahm kaum Rücksicht auf die insbesondere durch seine Lösungsvorschläge der Einführung einer internationalen Wissenschaftssprache und einer internationalen geisteswissenschaftlichen Akademie ausgelösten Diskussionen. Eine neue „Vorrede“ und drei Anhänge ergänzen die ursprüngliche Fassung. Der erste stellt eine Zusammenfassung aus dem Jahre 1900 dar, die unter dem Titel „Terminologische Anstöße“ auf Veranlassung Oskar Vogts als Resümee erschienen ist (Tönnies 1901c, TG 5). Er unterscheidet sich von dem hier auf den Seiten 233–240 abgedruckten 1. Additamentum nur unwesentlich. Der dem Text vorangestellte Absatz (S. 233) fehlt in „Terminologische Anstösse“ ebenso wie die Fußnoten 10 auf S. 238 und 14 auf S. 240 f. Auf das folgende Ende der „Anstösse“ (S. 128–130) verzichtete Tönnies 1906: Mir waren diese Vorarbeiten – ausser dem Buche Eucken’s – unbekannt geblieben, als ich im gleichen Jahre (1897) auf die – wie ich erst später erfuhr, von Lady Welby gestellte – Preisaufgabe stiess, die eine Erörterung der Ursachen bestehender „Unklarheit und Verworrenheit in der philosophischen und psychologischen Terminologie“ und Angabe der Richtungen, in denen Abhülfe gesucht werden dürfe, verlangte. Ein internationaler

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Gerichtshof, in dem Deutschland durch Prof. Külpe, England durch Sully und Stout vertreten wurde, war dafür eingesetzt. Die Erläuterung legte Werth darauf, dass eine Classification der verschiedenen Arten, in denen ein Wort oder anderes Zeichen Bedeutung haben kann, vorgetragen werde. Demnach habe ich im ersten Theile meiner Arbeit1 (die durch einstimmiges Votum den Preis erhielt) über Zeichen im allgemeinen und Worte insonderheit ausführlich gehandelt; im zweiten die sachlichen und historischen Ursachen des bestehenden Zustandes, und im dritten die Richtungen erörtert, in denen eine Verbesserung erwartet werden darf. Am Schlusse habe ich darauf hingewiesen, dass der zunehmende internationale Character aller Wissenschaften das Bedürfnis einer allgemein giltigen Terminologie immer lebhafter ins Bewusstsein rufen werde und dass nur aus dem Bedürfniss heraus Suchen und Finden der richtigen Mittel entspringen könne. Schon werde durch diejenigen Zeitschriften, die in mehreren Ländern gelesen werden, und durch internationale Congresse mancher Keim zu einer universalen Verständigung gelegt. Diese werde aber nur gedeihen können vermöge einer gemeinsamen Sprache, einer Weltsprache; der Terminologie freilich könne daneben auch durch graphische Darstellungen geholfen werden. Als Weltsprache empfehle sich immer noch am meisten, die nie ganz als solche ausgestorben, im wissenschaftlichen Gebrauche noch vor 200 Jahren in Uebung war, das Neu-Lateinische; da es auch immer noch, durch seine unbegrenzte Fähigkeit, griechische Wortformen sich anzupassen, die technische und wissenschaftliche Terminologie beherrsche. Um aber mit solchen Mitteln Erfolge zu haben, dazu sei nicht allein Wille und Fähigkeit, sondern Autorität nothwendig. „In jeder Hinsicht weist die wissenschaftliche Arbeit unserer Zeit, weisen besonders die ungeheueren Aufgaben des Sammelns, Registrirens, Verallgemeinerns, auf Berathung, Zusammenwirken, Organisation. Die gegebene Form der Körperschaft ist die Academie. Was die nationalen Academien einst für die Naturwissenschaften leisten sollten, und in nicht geringem Maasse geleistet haben, das sollte einer internationalen Academie für die Geisteswissenschaften zu leisten aufgegeben werden. Jene gründeten sich auf die materiellen und practischen Interessen von Staatsmännern und Bürgern, für Entwicklung und Handel und Industrie; Handel, Industrie und Wissenschaft haben die grossen politischen Körper zusammengeknüpft, in denen die Nationen einander jetzt, zum guten Theil in Eifersucht und Feindschaft, gegenüberstehen. Die interna Sie ist in englischer Übersetzung, die von Mrs. Bosanquet mit grosser Sorgfalt angefertigt wurde, im „Mind“ (July und Oktober 1899, Januar 1900) gedruckt worden.

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tionale Academie muss, durch die Fülle und den Reichthum ihres Lebens, von jenen, die von ihrem Ursprunge her etwas Todtes und Mechanisches an sich haben, ebenso sich abheben, wie eine moderne Weltstadt von den starren und regulären Fürstenstädten des achtzehnten Jahrhunderts sich abhebt. Jene (die nationalen Academien) waren Erzeugnisse des monarchischen Absolutismus und des militärischen Geistes, diese (die internationale Academie) soll als Schöpfung eines demokratischen Relativismus (den man auch als Communismus bestimmen mag) und des Geistes friedlicher Arbeit betrachtet werden. Ihre Idee gründet sich auf die idealen practischen Interessen der Erziehung des Menschengeschlechts und des Weltbütrgerthums: Interessen, die darauf ausgehen müssen, Psychologie und Sociologie zum Range der leitenden Organe in einem moralischen Körper zu erheben, dem sich die civilisirten Nationen freiwillig als Mitglieder unterordnen werden. Nun liegt diese Idee – wie kaum ein denkender Sociologe leugnen dürfte – sozusagen in der Luft unseres Zeitalters. Sie ist die Oberstimme zu allen Instrumenten, die im ökonomischen, im politischen und geistigen Leben unseres Jahrhunderts gespielt werden. An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts darf sie vielleicht den Ton angeben in diesem Concerte.“ – Wie fern und wie bald aber es einer solchen Academie gelingen würde, Autorität zu gewinnen, und gesetzgeberisch für philosophische Terminologie sich geltend zu machen, das wäre gewiss durch ihre Leistungen, also durch die Zweckmässigkeit ihrer Vorschläge am meisten bedingt. Helfen wird aber dazu auch die Verbreitung der Einsicht in die Natur des Problems, in die Nothwendigkeit einer inneren Einigung (des einzelnen Denkers mit sich selber und mit anderen Denkern) über die nothwendigen und nützlichen Begriffe, einer äusseren Einigung über die schicklichsten und zur allgemeinen Geltung tauglichsten Namen, die solchen Begriffen beizulegen wären. Solche Einsicht zu befördern ist auch diese kleine Erörterung bestimmt gewesen; dabei wäre zunächst am meisten erwünscht, wenn sie Erörterungen von anderer Seite hervorrufen würde. Im zweiten und dritten Additamentum setzte Tönnies sich mit den zeichentheoretischen Auffassungen Victoria Welbys auseinander. Dabei ging er zuerst auf die Würdigung seiner „Terminologie“ durch Lady Welby ein. Diese Entgegnung ist Bestandteil deren Beitrags „Notes on the ‚Welby Prize Essay’“ in der Zeitschrift Mind (1901: 205–209) (vgl. Tönnies 1901b und die dt. Fassung hier S. 241–247):

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The writer of the Welby Prize Essay is very grateful to the author of these Notes (who is at the same time the donor of the prize) for having so carefully examined the Essay, and for enlarging its purport by supplementary comments and some well-considered objections. V. W. goes straight into the practical side of the subject. The critic’s leading thought is emancipation from traditional forms of expression, no longer adequate to the very purpose for which they are destined. The general aspect of this idea did not seem to me to be an immediate object of the question of philosophical and psychological terminology. But I fully recognise that it may be represented in this way. The transition from the need for improving the technical idiom of thinking to the more general need for improving the language of conversation and literature is indeed an inevitable one, as long as the former is considered as a part of a given empirical and ‚living‘ language. The language of chemistry, however, may keep free from all influences of common talk; for as common talk derives all its chemical knowledge and expressions from the science of chemistry, it gives very little, it receives almost all. Not so with psychology and metaphysics. Ordinary speech of educated people and general literature is full of psychological and metaphysical notions, not (at least consciously not) drawn from any system of philosophy, but claiming to be foundet in nature or in common sense or – in language itself. Therefore, as long as philosophical language is not sharply marked off from general language – as long, in other words, as a writer uses words of this general language indifferently, as if they were sure to be rightly understood by any one know­ing the language – so long the confusions and obscurities of this general language will go on to creep into the very systems of philosophy. And consequently if you appeal to philosophers to express themselves more strictly, more unmistakably, this appeal will fall short of success, unless a general rule be accepted to express themselves in all things whatever more strictly, more unmistakably, less ambiguously. It would, therefore, be an excellent object for a special research – more sociological than either psychological (that is referring to individual psychology) or linguistic in its purport – to inquire into the sources of lax and careless ways of speaking and of ensuing constant or frequent misunderstandings. In this place there may be said so much as this: All sorts of misunderstanding, whether intended by the speaker or no, if lasting and operating in people’s minds, are symptoms of a deep-rooted corruption of social life.

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„Et la pale famine et la peste effroyable N’egalent point les maux et les troubles divers Que les mal-entendus sement dans l’univers.» – (Boursault).                                                                    And, like everything hurtful, it is made worse by the intent to do harm, viz., by using words and phrases with a view of „concealing one’s thoughts“ or at least with a wish and hope, that they (the words) will be understood so as to have a certain effect desired, although the speaker owns but a different sense and keeps himself free from all „responsibility“ whatever (as in this case is very properly said). As a matter of course, any attempt at improving language presupposes that we are determined to make ourselves understood and to understand each other, as perfectly as possible. Therefore it is only the misunderstandings, involuntary on either side, with which we are concerned. And here it is most justly and meritoriously emphasised by V. W. that very much might be done and ought to be done in order to avoid misunderstandings, (1) by developing and organising all modes of expression, (2) by training ourselves and particularly by training youth to the careful interpretation of these modes, for distinguishing the different sorts of sense, meaning and significance, for evading the dangers hidden in all imagery and rhetorical figure. I confess that I had not realised, ere I became acquainted with V. W.’s fervent aspirations, what a wide area here opens itself to educational improvement. I also consider it to be a solid enrichment of my discussion on the validity of meaning, what V. W. points out as to the power of context1 and of leading words2 over the meaning of many words, that have „but a certain core of meaning from which indeed its variations in value must start“. 3 And it is true, what my critic says, that written language as it is (and perhaps English more than other) lacks nearly all the help for making ‚sense‘ understood which spoken language possesses, and that here is a wide field for improvement. The critic passes by the question of punctuation, which was originally an instrument – rather a poor one indeed – for indicating the way a writer wished his sentences to be read. How little has been done to develop this instrument from its infant state! Even the application of this 3 1 2

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weak instrument is far from being regulated; it is by custom different in different languages; so that in order to read a foreign language correctly, although we need not learn, at least if it is a language of western civilisation, a new alphabet, we must learn a new punctuation, unless we are willing to forego its use altogether, as probably most people do. All this, however, concerns the meaning of sentences, periods, or as V. W. says, of context, and but indirectly the meaning of words. The critic returns to this theme (p. 8). As to the legislative action of science, I wished to describe the ideal of it, not the reality, which however, in some at least of the natural sciences, for example in astronomy and chemistry, comes near to what may be considered as a model. As to synonyms, I believe, it may be sadly confirmed from German experience, that „we are on all sides allowing this treasure to run to waste“.1 Especially as exaggerated and ill-advised aversion to „foreign words“ tends to expel these, and together with them the specialised meanings attached to those expressions, without substituting or forming indigenous words equally fit for carrying the associations needed. I fully appreciate the elevated presage as to the Power and Significance of Word, indicated on page 194. But in dealing with the „Analogy of Money“ I did not mean to defend the use of an image; 2 and I am, no less than the critic, aware of the mistake it would be to „define language figuratively“3 by that analogy. I only wished to point out, that among the many social symbols, consensual and conventional, all of which are very much dissimilar from words, are inferior to and even dependent upon them, there are some, and those playing a most important part in empirical civilisation, which have certain characteris­ tic traits in common with words, and are well calculated to illustrate the essence and power of different forms of social will. These are the tokens of economical value, that is, of value in exchange. Like words themselves, they bear, in an eminent sense of the word, a social character. As words go from brain to brain, so tokens of exchange-value (money, its predecessors and its substitutes), go from hand to hand – carrying a meaning with themselves, besides what they „are“ – that is, requiring to be interpreted intellectually beyond what they appear to the senses – and, of course, this meaning signifies a reference to „brain action“ (that is to reasoning) as well in the case 3 1 2

P. 193. P. 194. Ibid.

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of money as in the case of words. This, indeed, I ought to have definitely stated, and in this respect I am grateful again to my critic for pointing to a defect of my exposition. The analogy certainly does not ‚hold good‘1 except in some general features, which perhaps might be styled ‚external‘, though this figure itself, as V. W. has so well reminded us, is very misleading. But if the critic maintains universally, „that you cannot alter the value of money by underlining it or printing it in capitals,“2 I still venture to find some analogy to this in the endorsement of bills, which indeed heightens their value in that commercial circle where they have their ‚currency‘ – though, to be sure, hoc simile, also claudicat. Perhaps it would be safer still to compare underlining to a special warrant of one who pays money, that his coins are genuine or that they are full weight; this will not enhance their value absolutely, but (possibly) it will to the person who accepts them. I ask pardon if I do not think the objection stringent, that the ‚metaphor‘ cannot be reconciled with other ones, which the critic deems to be ‚truer‘. 3 I should not describe metaphors as more or less ‚true‘‚ but as more or less illustrative and thereby useful. Furthermore, an analogy does not mean the same as a metaphor. The critic himself distinguishes what I may be allowed to explain by an example. If I say this word has lost its currency, I evidently employ a metaphor, implying as little real analogy 4 as if I speak of the stream of life, or of the tooth of time. A real analogy means, if I am not mistaken, that there is more than one point of likeness, that there is a likeness in the relation of several characters to each other, as in a „proportion“ of mathematicians. And this I venture to uphold, there does exist between words as signs of sense and coins or other signs of value-in-exchange. A danger certainly is annexed to all analogies as well as to metaphors, if they are not properly understood (metaphors of course are more easily understood). But the critic clearly shows that he has understood excellently well, by the concluding sentences. 5 And I may add, that „philosophy or science or indeed any serious writing“6 can hardly be intended to convince or instruct ordinary readers,7 who, as a rule, so thoroughly despise P. 195. Ibid. 3 Ibid. 4 „Really analogous,“ p. 196. 5 P. 196. 6 Ibid. 7 Ibid.

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all this sort of „learned cant,“ and who indeed, as Plato warned pupils untrained in geometry, avoid „my humble roof“. For, as the same Plato (in the Republic) so well says, no science or doctrine is able to inculcate itself into minds that are not seriously willing to receive, that is first of all, to understand it. And is not this motto the very core of what my generous critic himself is aiming at? With respect to part II., I am discovering many valuable suggestions in the ‚Notes‘‚ tending to develop my own views upon the subjects of the „evil and its remedy,“ which I had only hesitatingly put forth. In particular, I am grateful to the critic for averting to the „too common confusion between seperation and distinction“.1 As to the term „real“2 there certainly will be no objection against reserving it for the ‚physical‘ world, as soon as there is a universal agreement that the ‚Real‘ is not the only ‚Existent‘ or even ‚Being‘. Everything here would be setted, if only authorities were recognised and laws were kept. Part III. leads me to the concluding remarks, which only give me much pleasure by the free and full assent and appreciation my delineation of a remedy has found with so able a critic. I also agree that what I have styled an Academy, perhaps would be called more properly an „International Council of Reference,“ if this name were not too long. A Council certainly it ought to be; it would have no coercive power; it would not work except by arguments and reasons. But the need of a universal language I consider to be imperative; this same need is very much felt at present by the existing national academies and learned societies, and it has been very remarkable to me, that only a year after I had written my essay (and before it was printed) a Conference of those Academies should have taken place, with a view of settling the question of restoring Latin to its ancient position as the idiom of the Republic of the Learned. I do not share the fear „that its reintroduction might tend to create worse evils than even those which it was meant to cure“; 3 for it would be more flexible than any living language and might very well counteract „the present tendency to use only archaic figures of speech“; 4 and as to the danger signalised by the critic, that „it would fasten yet more firmly than at pre-

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sent the fetters of the formalist,“1 why should not „the greatest vigilance be exercised“ to meet the danger? Dieser Entgegnung fügte Welby noch folgenden Bemerkungen an: „By the kind of the Editor, I venture briefly to acknowledge with gratitude the understanding sympathy with my aims, the too generous appreciation and the valuable criticism of my work, in the foregoing Note by Dr. Tönnies. I may perhaps be allowed to add that I fully accept the explanation which he gives of the use of the ‚money‘ analogy in describing certain aspects of language, and that I admit that I ought to have spoken of metaphor as valid or legitimate or apposite or relevant rather than a ‚true‘ correspondent in character. I ought also perhaps to say that while I have purposely confined my Notes to the view taken by Dr. Tönnies (as by M. Michael Bréal and others) of the remedy to be applied to the present confused state of philosophical terminology, my own view is that any effort made by this generation to raise the general linguistic level must fail, unless it takes the educative form.“ (Welby 1901: 209). Da die englische Fassung von 1899 in den Überschriften gegenüber der „Übersicht“ des deutschen Textes von 1906 abweicht, sind hier die den drei Teilen vorab gestellten entsprechenden Passagen wieder gegeben.

Philosophical Terminology (I). By Dr. Ferdinand Tönnies. (Translated by Mrs. B. Bosanquet). Contents of Article I. Signs 11–11. Natural signs. 12–21. Artificial signs – signs through will. 29–39. Customs and legislation – custom in language and legislation in language. 40. Science and language. 41–47. The social will of others in language. 48–53. Compact – connexion of convention – legislation – science. 54–55. Analogy of money. 56–60. Classification of the forms of the social will – methods of communication and explanation. 61. Sciences as form of the social will.



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Philosophical Terminology (II.) By Dr. Ferdinand Tönnies. (Translated by Mrs. B. Bosanquet). Contents of Article II. II. Causes of state. 68–68. 1, general causes-three arguments – referred to the forms of the social wills. 69–71. 2, historical causes. 72–78. 3, hindrances from the differences of thought – reflex of the history of philosophy – criticism of the mechanical rationalism – new concepts. 79. Conflict of terminologies. 80–81. Application to the doctrine of the will. II. [ebd.: 467]

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Philosophical Terminology (III. Conclusion) By Dr. Ferdinand Tönnies. (Translated by Mrs. B. Bosanquet). Contents of Article III. 84–84. Additional causes – hindrances. 85. Philosophy in higher education and in public life.

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III. Prospects of remedies. 86–91. International character of science – tendencies towards it. 92–96. Idea of an international academy. [ebd.: 47] Die Nummerierung der thematischen Übersicht der englischen und der deutschen Fassung ist jedoch nicht identisch, auch sind gelegentlich deutsche Begriffe wie „Sprachgebrauch“, „Volksgewohnheit“ „Herkommen“,

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„Brauch“ oder „herkömmlicher Sprachgebrauch“ beibehalten und das englische Äquivalent in Klammern hinzugefügt worden. Im Tönnies-Nachlass in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek ist kein Werkmanuskript nachgewiesen. Die Briefe der ehemaligen Hofdame der englischen Königin Victoria aus den Jahren 1898 bis 1912 sind nur als Kopien vorhanden, da der Sohn Charles Welby die Rückgabe der Brief erbat. Die Preisschrift stiftete jedoch „später eine persönliche Bekanntschaft mit der Stifterin Victoria Lady Welby, einer vornehmen alten Dame“, die Tönnies „auf einem Landsitz in Schottland (1901) und mehrmals in ihrem Wohnort Harrow (on the hill)“ besuchte. „Sie war eine geistvolle und gute Frau, rastlos in ihrem Streben zu lernen, zu schaffen, zu helfen, erfüllt von der Überzeugung, daß alles darauf ankomme, die Wahrheit der Dreieinigkeit von sense, meaning and significance (Sinn, Bedeutung, Hochsinn habe ich zu übersetzen vorgeschlagen) in der Sprache, aber auch im Sein, zu begreifen. Sie war in ihrer Jugend Hofdame der Queen, ihrer Patin, gewesen. In England hatte ich auch vorher manche mir wertvolle Verbindungen angeknüpft und unterhalten“ (Tönnies 1922: 221). Die „Terminologie“ blieb in Tönnies’ Augen „fast unbeachtet“ (ebd.), die Idee einer Internationalen Akademie, um deren Institutionalisierung sich Lady Welby vergeblich bemühte, wie Schmitz darlegt (1985: 85), fand dagegen mehr Widerhall. Paulsen sah sie, wie die meisten, skeptisch: „Aber die Besserung durch eine internationale Akademie? Ich glaube nicht daran; der Weg, auf den die Geschichte der Wissenschaft weist, ist ein anderer: der einzelne, ein herrschender Geist, macht Begriffe und Namen und zwingt die andern in seinen Gedanken und Wörtern zu denken, bis ein stärkerer kommt und neue Münzen schafft mit seinem Gepräge. Akademien, Kommissionen Sitzungen, Abstimmungen – die Herren Diels, Dilthey u. s. f. als bestellte Agrimensoren und Grenzsteinsetzer der Philosophie: mir graut vor dem Gedanken“ (Brief vom 10. 11. 1900, Klose 1961: 349). Auch der Vorschlag, das Neulateinische als internationales Verständigungsmittel einzuführen, fand ambivalente Zustimmung. Paul Barth sah neben „der Erörterung der Vielgestaltigkeit der Terminologie der modernen Psychologen“ den wesentlichen Verdienst des Buches im Hinweis, dem Englischen als internationaler Geschäftssprache das Lateinische als internationale Sprache der Wissenschaft beizufügen (Barth 1907: 371). Da aber andererseits „die Ursachen, die das Lateinische als Gelehrtensprache verdrängt haben, fortdauernd wirksam genug sein werden“, würden sie seine Wiedereinführung zu verhindern (Messer 1907: 601). Der Rezension von A. Messer begegnete Tönnies darüber hinaus mit einer klarstellenden Entgegnung:

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In seiner Besprechung meiner Philosophischen Terminologie usw. in Nr. 10, Sp. 599 schreibt Herr Messer: „Schlimm ist, daß schon in grundlegenden Definitionen eine Reihe von Sätzen ‚als ausgemachte Wahrheiten‘ vorgetragen werden, die sehr anfechtbar sind“. Den Kern meines Buches bildet das Urteil, daß Definitionen ihrem Wesen nach niemals Wahrheiten sind, geschweige denn ausgemachte Wahrheiten sein können, sondern Satzungen, Gesetze, Verabredungen, kurz etwas Gewolltes sind. Ich gestatte Herrn Messer gern, dies Urteil falsch, ja sinnlos, töricht, albern zu finden und zu nennen, aber ich gestatte ihm nicht, mir unterzuschieben, daß ich Definitionen als Wahrheiten vortrage, wodurch er sich eines Verfahrens schuldig macht, zu dessen Charakteristik ich selber meine Zuflucht zu ‚wackrer heimatlicher Grobheit‘ nehmen müßte, wenn .. – Herr M. meint, meine Definition von ‚Zeichen‘ sei zu weit, weil er einen Herrn, bei dessen Anblick er an einen Hund denke, ‚deshalb noch nicht‘ ein Zeichen des Hundes nenne. Der Physiker definiert Wärme als eine Art der Energie, die in verschiedenen Mengen allen Aggregatzuständen der Körper gemein sei, z. B. der festen, der flüssigen und der gasförmigen Form des Wassers. Für Herrn M. ist diese Definition zu weit. Wenn er Eis anfaßt, so nennt er die Eigenschaft des Wassers nicht Wärme, sondern im Gegenteil Kälte. – Von gleichem Werte sind die übrigen Reflexionen des Herrn Messer. Ferdinand Tönnies Die Wirkung der „Terminologie“ scheint sehr beeinträchtigt worden zu sein durch die Schwierigkeit der Lektüre, die wesentlich zu erleichtern sei, „wenn öfter statt eines Pronomens ein Nomen eingesetzt wäre, und wenn mit mehr Konsequenz theoretische Aufstellungen durch Beispiele illustriert worden wären“ (Keller 1907: 139). Noch 1909 bemängelt ein Rezensent die Behandlung des Gegenstandes, die „die notwendige Klarheit und insbesondere die der logischen Anordnung folgende Uebersichtlichkeit vermissen“ lässt und „ein eintönig fortlaufendes Ganzes darstellt“ (Wunderle 1909: 79). Den Tenor der Rezensionen nach Erscheinen des Buches drückte wohl Wilhelm Ostwald am treffendsten aus: Tönnies „hat sich aus äußeren Gründen veranlaßt gesehen, die englisch veröffentlichte Arbeit nunmehr auch deutsch herauszugeben. Des Dankes der Beteiligten mag er gewiß sein, denn es handelt sich um eine fundamentale Angelegenheit aller Wissenschafts-

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lehre und um eines der wichtigsten Werkzeuge menschlicher Geistesarbeit. Allerdings findet der willige Leser in der Schrift mehr eine Zusammenstellung geistreicher und förderlicher Betrachtungen, als eine übersichtlich geordnete Vorarbeit ...“ (W. O. 1908: S. 187 f.). Noch 1971 registrierte Eduard G. Jacoby, dass die Bedeutung der „Terminologie“ „so gut wie unbekannt“ und dabei „für das Verständnis von Tönnies’ soziologischer Erkenntnistheorie schwer zu überschätzen“ sei. Er machte darauf aufmerksam, dass zwischen „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887 und der Preisschrift von 1899 Tönnies’ Kritik an Hobbes aus dem Jahre 1896 (vgl. das 2. Kap. „Logik“) erschien und eine erkenntnistheoretische Aufarbeitung der Problematik vorbereitete. Entgegen Tönnies’ Einschätzung, sah H. Walter Schmitz eine positive Aufnahme der Preisschrift (vgl. Schmitz 1985: 85), was sich nicht nur an der brieflichen Anerkennung Lalandes, Couterats oder Euckens zeigte (siehe dazu den Briefbestand in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Signatur Cb 54.56)1, sondern auch an die schon 1902 erfolgte Übersetzung der Abhandlung in das Japanische (vgl. Shinobu 1902). In neuerer Zeit zeigte insbesondere Schmitz (1985) auf, dass die „bedeutendste Wirkung und zugleich die nachhaltigste .. die Preisschrift auf die Entwicklung im Wiener Kreis“ ausübte – eine Wirkung, die gleich „Gemeinschaft und Gesellschaft“ gleichsam unterirdisch vonstatten ging (siehe dazu auch ders. 1985a). Zu dieser Aussage gelangte er auch mittels einer Analyse der Werke Otto Neuraths und Rudolf Carnaps (vgl. Schmitz 1985: 86 ff.). Während Neurath dabei „hin und wider en passant“ den Namen Tönnies als Autor von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ erwähnte ohne dessen Vorarbeit entsprechend zu würdigen, haben andere Vertreter des Wiener Kreises offenbar ganz stillschweigend von der Preisschrift profitiert.

Die Sozialdemokratie in Küche und Keller (Tönnies 1905c, hier S. 254–257) Laut Else Brenke, der ehemaligen Mitarbeiterin von Tönnies, verbirgt sich hinter dem Pseudonym „Julia von Egge-Weichling“, eine ironisierende Ver­ 1 Beachte in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek auch die Briefe von Carnap (einer von 1925), Neurath (83 ab 1903), Gertrud Neurath (5 von 1904–1907), Anna Neurath (1 von 1909), Stout (2 von 1899–1900), Eucken (13), Lalande (3) von 1900–1931), Couturat (15 von 1901–1906); ferner Briefkopien Tönnies’ aus dem Welby-Nachlass).

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ballhornung des wirklichen Familiennamens „Pflugk-Harttung“, tatsächlich Ferdinand Tönnies (Brenke 1936; vgl. ferner Fechner 1992: 45 f., 157). Tönnies wählte dieses nur einmal benutzte Pseudonym offensichtlich spontan, aus aktuellem Anlaß, zum einen um den inhaltlichen Kontrast zu dem Aufsatz, auf den er sich in ironisierender Weise bezieht, deutlich zu machen, zum anderen, um den Namen des konservativen Autors jenes Aufsatzes (PflugkHarttung) paraphrasierend zu verballhornen. Die vorliegende Glosse ist ein schönes Beispiel für jene glänzende Polemik, derer sich Tönnies des öfteren bediente, um gegen reaktionäres Gedankengut und Gehabe zu agieren. Um diese Ironisierung nachvollziehbar zu machen, folgt der Referenztext:

Die Sozialdemokratie in Kunst und Literatur Von Julius von Pflugk-Harttung Die Geschichte Europas hat eine Reihe gewaltiger Ereignisse zu verzeichnen, welche den bisherigen Entwickelungsgang der Kulturwelt aus ihren Bahnen schleuderte und neue eröffnete. Da erschienen die Kelten und unterjochten die Hauptgebiete des westlichen und mittleren Erdteils, das Griechentum erblühte an der wärmenden Sonne des Südens und umstrahlte weithin die Küsten des Mittelmeeres, dann kamen die Legionen und Liktoren der Römer und gründeten das erste europäische Weltreich. Als dasselbe in seiner Überfülle zerfiel, wurde es angegreist die Beute der jugendstarken Germanen, welche auf dem kosmopolitischen Untergrunde germanische Nationalstaaten errichteten. Bald umgarnte auch sie der romanische Zauber, während daheim das Deutschtum erstarkte. Aber Germanen und Romanen sollte die Zukunft nicht allein gehören, sie mußten diese mit den slavischen Völkern teilen, denen sich Ungarn und Türken beigesellten. Die Welt duldet keinen Stillstand; je mehr die großen Völkerverschiebungen aufhörten, desto deutlicher traten geistige Wandlungen ein. Aus dem Römertume erhob sich die römische Kirche und begann ihren Vernichtungskampf gegen das germanische Staatswesen. Sie siegte; aber im Siege erging es ihr, wie ihrem weltlichen Vorfahr: sie verlor an Gehalt und Herrscherberechtigung. Da erhoben sich die Geister gegen sie in gedoppelter Richtung: das Laientum vollzog seine Rache in der romanischen Renaissance, die Kirche in der germanischen Reformation. Überall wurden die Schranken durchbrochen, ein unruhiger Drang erfaßte das Menschengeschlecht: der Seeweg nach Indien und Amerika wurde entdeckt, die gesamte Erde umsegelt, das überseeische Kolonialwesen begann. An die Stelle der religiösen Interessen

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traten politische und soziale, zunächst noch mit Vorwiegen der politischen, die sich schließlich im unumschränkten Königstume gipfelten. Wieder war man auf ein Übermaß gediehen, die große französische Revolution bereitete ihr gewaltsam ein Ende. Und als die Reaktion das Haupt erhob, kamen das Sturmjahr 1848 und das waffengewaltige Preußen, welches sich und damit dem Deutschen Reiche seinen Platz an der Sonne erkämpfte. Seitdem beginnen die politischen Bestrebungen vielfach abzuflauen und die sozialen sich vorzuschieben. Dieselben sind uralt; sie äußerten sich schon in den Helotenkriegen der Griechen, in den gracchischen Unruhen und Sklavenaufständen der Römer, im mittelalterlichen Ketzertume, in der französischen Jacquerie, in den deutschen Bauernkriegen, in der englischen Literatur, in den Bestrebungen Babeufs zur Zeit der großen Revolution, bis sie neuerdings die Gemüter in ungeahntem Umfange erfassen. So leben wir, geschichtlich betrachtet, also in einem Übergange von der politischen zu einer stark sozialen Zeit, in einer allmählichen Wandlung, in einem geistigen Ringen der Kulturmenschheit. Zwar trat die französische Revolution unvergleichlich heftiger in die Erscheinung, gleichwie ein verheerender Gewittersturm, aber eben ihre Gewaltsamkeit machte sie kurzlebig und bereitete der napoleonischen Militärherrschaft den Boden. Während der Ursprung der französischen Umwälzung und der von 1848 in den Mittelklassen, im Bürgerstande wurzelte, handelt es sich jetzt durchaus um eine Bewegung von unten nach oben, und zwar fast auf allen Gebieten. Wollte man früher politische Freiheit und Gleichheit, so verlangt man jetzt Freiheit und Gleichheit eigentlich überall. Und doch hat schon die französische Revolution bewiesen, daß sich nur eines der Güter erwerben läßt, daß beide nebeneinander sich ausschließen. Je größer die Freiheit, desto stärker die Ungleichheit, je weiter verbreitet die Gleichheit, umsomehr weicht die Freiheit zurück. Es beruht dies auf den Gesetzen der Natur, die starke und schwache, kluge und dumme Einzelwesen schuf. In der Freiheit schwingen sich unaufhaltsam die Klugen und Starken empor, und bewirken dadurch sachgemäß wieder Ungleichheit. Will man die Gleichheit, so muß man die Klugen und Starken niederdrücken, denn die Dummen und Schwachen lassen sich nicht mehr erheben, als die ihnen innewohnende Kraft erlaubt, d. h. in weiterer Folge, man muß sich zur Gewalt, zur Unfreiheit bekennen. Eine politische Strömung wird immer zur Freiheit drängen, eine soziale zur Gleichheit; bei den unendlichen Wechselbeziehungen des Lebens wird aber keine rein in die Erscheinung zu treten vermögen. Das haben wir auch jetzt. Unsere Entwickelung ist gewissermaßen eine Geltendmachung des Ich in der Massenwirkung, des Massen-Ich, es ist die unverblümte Ausprä-

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gung der materiellen Selbstsucht, welche das Gewordene und Überlieferte zu zertrümmern und Ersatz nach Massenvernunftgrundsätzen zu schaffen sucht. Am deutlichsten tritt dies naturgemäß hervor, wo es am unmittelbarsten wirkt; auf dem Gebiete des Erwerbslebens, im Kampfe um das tägliche Brot. Da haben wir auf der einen Seite das historisch gewordene ungesunde Gewächs des Kapitalismus, des Einzelreichtums, auf der anderen die Masse der Besitzlosen, dort die Einzel‑, hier die Massenmacht, dort gewissermaßen die Freiheit, hier die Gleichheit. Was Wunder, daß die Gleichheit einer Freiheit den Krieg erklärt, die sie vielfach ausnutzt und niederhält. Ihre Vertretung findet dieses Bestreben bekanntlich in der Sozialdemokratie; sie ist die stärkste, die meist hervortretende Erscheinung einer großen Gesamtbewegung, eines gewaltigen Dranges nach Veränderung und Umwälzung. Also wohl bemerkt, die Sozialdemokratie ist nicht die soziale Umwälzung an sich, sondern nur ein Bestandteil derselben, freilich der augenfälligste. Will man jene kennzeichnen, so mag man ihr auch den bestbezeichnenden Namen beilegen. Dieser Drang nach Umwälzung, sagen wir diese Sozialdemokratie des Daseins, findet sich allüberall. Wir haben sie in der Frauenbewegung, dem Wettkampfe des Weibes mit dem Manne, in den „Naturärzten“ der Medizin, deren Auftreten eine vollkommene Umwälzung der Krankenbehandlung bewirkt hat, denn früher gehörte zum Krankenbette eine Medizinflasche mit langem Zettel „alle Stunde ein Eßlöffel voll“, jetzt heißt es: alle drei Stunden eine Packung; wir haben sie ferner im Vegetarianismus, in der Philosophie eines Schopenhauer und Nietzsche, haben sie in der Geschichte durch Betonung der Kultur‑ und Wirtschaftsentwickelung, im Rechtsempfinden durch das Entschuldigen und Leichtnehmen mancher Vergehen und Verbrechen; wir begegnen ihr selbst bis zu gewissen Grade in Handel und Gewerbe durch das Aufkommen von Großbasaren, die tatsächlich eine durchaus demokratische Tendenz verraten und auf solcher emporgebaut sind, selbst Aktiengesellschaften und Trusts lassen sich hierher zählen. Vor allem aber begegnen wir ihr in Kunst und Literatur, in den naturalistischen Erzählungen und Dramen, in der Malerei der „Jungen“, in der malerischen Auffassung der Plastik, in dem modernen Kunstgewerbestil, ja bis hinab zum Reformkleide der Damen. Dies alles sind nur Sonderäußerungen einer umfassenden Gesamtbewegung, sämtlich gewissermaßen nur Spiegelungen der Sozialdemokratie. Bleiben wir bei Kunst und Literatur, so muß man billigerweise eingestehen, daß die sozialdemokratische Richtung zwar vielerlei Bewegung, aber wenig wirklich erfreuliche Erscheinungen, keine wahren Werte geschaffen hat. Es beruht dies wesentlich auf der Abkehr von dem bisherigen künst-

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lerischen Ziele, auf der Vernachlässigung des Schönen und dessen Ersatz durch andere Dinge. Beim Reformkostüme der Damen sah man auf das Praktische, das Bequeme mehr als auf das Kleidsame. Die Folge war ein unschönes Gewand, an dem man unendlich herumgedoktert hat, und über das man doch schon zur Tagesordnung gegangen ist. Schön erscheint es nur bei schönen, gut gewachsenen jungen Mädchen, und die sind eben an sich schon schön. Auch der moderne Kunstgewerbestil gibt zu denken. In der romanischen Kunst entsprachen die Rundbogen den breiten Raumverhältnissen, dem beruhigten, gesättigten, religiösen Gemüte; in der Gotik die himmelanstrebenden Spitzbogen, die schmalen, gestreckten Flächen und Figuren, dem Ringen nach oben, nach dem Göttlichen, wie es in der Zerknirschung der Mönche (compunctio), den Geißelbrüderschaften und den Kreuzzügen zutage trat. In der Renaissance begegnen wir einem Neubeleben der Antike mit ihrem unerschöpflichen Formenreichtume, ihrem feinen Gefühle für Harmonie und Schönheit bei überquellender Lebenskraft und Lebenslust; im Rokoko gehören die eleganten, gepuderten und bezopften Salonschäferinnen zu den zierlichen Schnörkeln, zu der Vorliebe für abgetönte helle Farben und Gold; im Empirestile der langweilige Prunk zum Soldatenkaisertume. Und nun der moderne Stil? Auch er entsprang einem Bedürfnisse: man wollte heraus aus dem verwaschenen Eklektizismus, der die Folge vom Sturze des Kaiserreichs war. Verschiedene Umstände wirken für seine Entstehung zusammen. Die historische Richtung begann von der Naturwissenschaft zurückgedrängt zu werden; Unruhe und Effekthascherei, ein Suchen nach etwas anderem, nach Besonderem begann sich der Menschen zu bemächtigen; die Technik stieg auf eine Höhe, wie sie in solchem Umfange kein Zeitalter gesehen hat; und dazu kam die Dampfkraft, welche die fernsten Fernen gewissermaßen nahe rückte. Unter diesen trat Japan in den Vordergrund: japanische Bedürfnisse, japanische Erzeugnisse, japanische Kunst. Die Japaner sind unmittelbare Naturalisten und besitzen deshalb keinen Stil in unserem Sinne. Doch ihre unmittelbare Wiedergabe der Natur gelangte nach Europa und erregte zunächst Aufmerksamkeit in England. Man begann sie dort kunstwerblich zu benutzen und sie zu einem Stile auszugestalten, der sich dann von jenseits des Kanals nach Deutschland verbreitete. Die Grundlage dieses Stils ist das Pflanzenornament und der lange Strich bezw. das Band. Die Pflanze wird in ihren mannigfachsten Teilen benutzt, als Stengel, Blatt, Knospe, Blume und Frucht samt deren Zerlegungen; der lange Strich als Band: gerade, gebogen, gekrümmt und gewunden, wesentlich in seiner Wirkung auf der Fläche. Mitbestimmend waren die Erfordernisse der

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Technik für Massenherstellung, je nach dem zu verarbeitenden Materiale, als da sind Glas, Porzellan, Steingut, Metall, Holz und dergleichen. So ist der moderne Stil ein künstlerisches und gewerbliches Kunsterzeugnis, ein bewußtes Ergebnis schöpferischer Köpfe mit bestimmter Anlehnung und Entlehnung und zugleich ein teilweises Ergebnis des Bedürfnisses, des Geistes der Zeit. Die Mode verlangte nach Neuem, und man verstand, es zu erfinden. Aus diesen Tatsachen erklärt sich auch die vielfache Unfertigkeit des modernen Stils, sein Mangel an Abklärung, seine Subjektivität. Als echtes Kind seiner Zeit kennzeichnet ihn ein Haschen nach Effekt, nach Gegensätzen; er gipfelt gewissermaßen in der Disharmonie. So erhebt sich auf breitem Fuße ein dünner Schaft, der einen schweren bauchigen Pokal trägt, oder eine Wand wird unten mit dichtem Pflanzen‑ und Bandschmuck überladen, oben bleibt sie kahl und weiß und auch die Decke fast unverziert. In Entwurf und Anlage handelt es sich um einen Flächenstil, er ist schwer, bisweilen fast plump, grob oder geradezu etwas roh; man könnte zierlich sein, aber man will es nicht. Manche Äußerungen erinnern an die verfallene, schwere Renaissance des Dreißigjährigen Krieges, also an eine schönheitsdürftige, ernste Zeit; andere wieder an den Völkerwanderungsstil, der seine schönste Weiterbildung bei den Angelsachsen und Irländern fand. Aber während dieser ein phantastisches Gepräge und einen ungemeinen Sinn für Feinheit und Harmonie zeigt, ist der moderne Stil nüchtern, mehr ein Geschöpf des Gedankens und der Handfertigkeit, als ein emporquellendes Empfinden in bestimmter Richtung. Die früheren Stile beherrschten das gesamte kunstgewerbliche Dasein, der jetzige hingegen erscheint als bloße Kunstübung in gewisser Richtung, die nur zu viele bewundern, weil sie ihnen immer wieder vorgeführt und als modern gepriesen wird. Mit dem allen soll nicht gesagt sein, daß er nicht bisweilen hervorragend schöne Leistungen, zumal hübsche Schmuck‑ und Ziergegenstände, aufzuweisen hat; im Gegenteile, das ist der Fall, doch wo es geschieht, wird er sich bis zu gewissen Grade ungetreu, kehrte er zu den urewigen Gesetzen der Schönheit und Harmonie oder doch zur gefälligen Wahrheit zurück. Bei der Unfertigkeit des Ganzen kann nicht auffallen, daß man bisher noch keine Bezeichnung dafür gefunden hat; wir möchten deshalb nach einem Hauptzuge das Wort „Effektstil“ vorschlagen. In den älteren Kunstepochen entsprachen sich Stil und bildende Künste. Im Gedankengange war das anfänglich auch jetzt der Fall, Stil und bildende Kunst griffen zurück auf die Natur, freilich jede auf ihre Art. In der Entwickelung aber trennten sie sich dann, bald mehr, bald weniger: die bil-

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dende Kunst arbeitete nach ungeschminkter Wahrheit, der Stil jedoch kam damit nicht aus, er setzt sie seiner selbst wegen oft beiseite: er verbiegt und verzerrt, zerreißt und erweitert, überlädt und entbehrt; er wollte eben nicht bloß Wahrheit sein, sondern bewußt: ein besonderer Stil. Gehen wir zur Malerei der „Jungen“ über. In ihren Stoffen zeigt sie eine Neigung zum Alltäglichen der unteren Klassen und der reizlosen Natur: es ist die Kunst des Ich in der Masse. In der Farbe hatte man anfangs eine Vorliebe für Grau, in den Umrissen eine solche für Verschwommenheit. Man malte möglichst unbestimmt und grau in grau, das graue Elend, den Katzenjammer nervös abgenutzter Menschen: schmutzige Wege, Regenstimmung, hart arbeitende, ungenügend genährte, dürftig gekleidete Männer und Frauen, pflügende Pferde, Fabrikräume und dergleichen mehr. Man nannte diese Kunst Hellichtmalerei, obwohl sie nicht selten mehr Nebel als Licht zu enthalten schien. Dann erweiterte sich der Blick, sowohl in den Stoffen als auch in der Farbengebung. Jetzt malt man grün in grün, blau in blau, rot in rot. Der ganze Grundgedanke der neuen Malerei ist ein Irrtum. Während die Kunst bisher nach Schönheit strebte, wie die Wissenschaft nach Wahrheit, so will die Kunst jetzt wahr, ungeschminkt wahr sein, sie pfuscht also der Wissenschaft ins Handwerk, wird selber wissenschaftlich; namentlich in der Kleinbeobachtung. Da das Leben nun unendlich mannigfaltig ist, so erscheint auch die Malerei reich an Stoffen; aber es ist ein Reichtum durch Verstand, durch Gedankenblässe, nicht durch Phantasie und Gemüt. Und dabei ist sie noch nicht einmal immer wahr, sondern glaubt es nur zu sein, es ist bisweilen eine gesuchte, angequälte, unwahre Wahrheit, – und diese nur zu oft in häßlicher Form. Wie die Malerei überhaupt wissenschaftlich geworden ist, ohne daß sie selber es merkte, so ist sie auch in Wettbewerb mit einem Erzeugnisse der Wissenschaft getreten: mit der Photographie. Diese strebt nach reiner Wahrheit wie die Malerei, da sie aber tot und mechanisch arbeitet, so sieht sie naturgemäß weit schärfer und genauer als das menschliche Auge, nur daß sie bisher noch der Farbe ermangelt. Nun hat sich der Photographie ein stetes Streben nach Vervollkommnung bemächtigt mit der Folge, daß die jetzige gute Photographie die Natur in das Künstlerische überträgt, wogegen die Malerei leicht zu einer bloßen, rohen Wiedergabe des Geschauten wird. Die Photographie strebt nach oben, die Malerei oft nach unten; sie sucht Effekte mit rohen Mitteln. Es ist deshalb auch eine leidige Tatsache, daß manche künstlerisch gehaltene Photographie erfreulicher ist als ein gesucht naturalistisches Bild. Unfraglich wurde die Malerei durch die moderne Richtung bereichert im Stoffe sowohl,

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wie in der Technik, doch ihre Erzeugnisse in voller Ausbildung wirken nicht selten geradezu abstoßend und verraten eine trostlose Gedanken‑, Erfindungs‑ und Empfindungsarmut. Wo sie wirklich Gutes schuf, verfiel sie unbewußt in den Fehler der Schönheit. Das Beste leistete sie auf dem Gebiete der Farbenstimmung, also auf dem eigentlich stilwidrigen Untergrunde der Harmonie. Dieselbe Neigung für das Gewöhnliche, das Gemeine, das Elend, selbst für den Schmutz kennzeichnet die moderne erzählende Literatur. Auf die Zeit eines Schiller und Goethe, welche ihr Ideal in der Antike und einer Durchgeistigung der Natur fand, folgte die Romantik mit ihrer Überschwenglichkeit, ihren phantastischen Ausgeburten, ihrer Schwächlichkeit der Charaktere: auf die Zeit der großen Revolution folgte eben die Zeit der Reaktion in der Politik, im Denk‑ und Empfindungsgetriebe. Aber die Reaktion zerbröckelte vor neuen Mächten; Manchestertum und Realismus kamen empor, und im Realismus eine bestimmte Richtung, mit der uns namentlich die Russen und Skandinavier beglückt haben, und die dann in dem Franzosen Zola ihren bedeutendsten Vertreter fand. Sie ist die Ausgeburt eines reizlosen, unendlich eintönigen Landes und krankhafter Menschen unter der Knute der Despotie, oder eine solche langer, dunkler Winternächte, Nebel‑ und Regentage, großartiger, aber ernster, fast freudloser Natur, die dann der Franzose mit seiner scharfen romanischen Beobachtungsgabe, seinem französischen Erzählertalente und Esprit vergeistigt hat. Aber das ändert nichts an der Sache: es ist die erzählende Kunst in der Masse, die Sozialdemokratie in der Literatur. Da pflegt man sich innerhalb der unteren Volksschichten zu bewegen: in der Küche, im Verkaufsladen, in der Kneipe, im Viehstalle, auf dem Kornacker, unter Entgleisten und Verbrechern, unter Leuten, denen man im Leben sorgfältig aus dem Wege gehen würde, und nicht bloß ihres schmierigen Rockes wegen. Sie samt ihrem dürftigen Tun und Treiben werden uns vorgeführt in erbaulicher Breite. Man liest und weiß nicht, ob man sich für die Schilderungen interessieren soll oder ob man von ihnen angeödet, angeekelt wird. Da geschieht nichts Großes, nichts Gewaltiges, da kochen keine Leidenschaften in mächtigen Pulsschlägen, nichts, nichts was den Menschen erwärmt, versöhnt, erhebt; nein im Gegenteile, er wird niedergezogen, niedergezerrt in Plattheit, Alltäglichkeit, in Schnaps und Liederlichkeit. Wie vorher die Malerei, so ist auch dies wesentlich eine Kunst des Niederganges, des Verstandes, der Beobachtungstechnik, es ist literarische Photographie. Kein Schwung, keine Phantasie, keine klare, folgerichtige, packende Handlung, kein Durchbruch plötzlichen Hasses, verzehrende Liebesglut, keine Einzelgröße, keine packende Gewalt. Die Dinge

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kriechen dahin, bald hier, bald dort, wie sie gerade kommen, wie der Dichter sie braucht. Psychologische, soziale Probleme und Episoden fesseln ihn mehr als die Unmittelbarkeit der Ereignisse, als die Kraft der Handlung. So kann es denn nicht wundernehmen, wenn die höchste Kunst: wenn das moderne Drama, ein gleiches Gepräge zeigt. Gerade sie wurzelt mitten in der Menschheit und pflegt ihr treuester Spiegel zu sein. Der Hauptvertreter der deutschen Bühne ist augenblicklich Gerhart Hauptmann. Als Moderner bewegt er sich in Gegensätzen, auf dem Gebiete des Märchens und auf dem bekannten sozialen Boden, unter Dienstmägden, Fuhrleuten, Land‑ und Fabrikarbeitern, verschlagenen Schmugglern und hungernden, sich erbrechenden Webern. Um die Täuschung noch stärker zu machen, läßt er seine Leute im Dialekte reden. Des Lebens ganzer Jammer packt einen an, wenn man für schweres Geld einen engen Parkettplatz ergattert hat. Hier sitzend sehen wir Hauptmanns „Rose Bernd“. Es ist das Werk eines ernsten Mannes, es ist ein Drama mit sittlichem Kerne, der sich gut zur dramatischen Behandlung eignet: jener Fluch der bösen Tat, welche fortzeugend Böses gebiert. Aber dieser sittliche Kern erscheint in roher, bisweilen geradezu gemeiner Schale. Der Inhalt ist so, daß man ihn in anständiger Gesellschaft kaum schildern kann. Ich bitte deshalb auch um Entschuldigung, wenn ich unanständig werde; die Tausende und Abertausende mögen mich rechtfertigen, welche sich die Dinge haben vormimen lassen. Also: erste Szene: eine verlobte Braut hat eben mit einem verheirateten Manne den geschlechtlichen Akt unter einem Christuskreuze am Sonntagmorgen vollzogen, als alle Welt in der Kirche ist. Sie kommt erregt und mit geröteten Wangen links hinter Büschen hervor und läßt scheue Blicke nach allen Seiten schweifen, bemüht, einen ihrer blonden Zöpfe, der aufgegangen ist, schnell wieder zu flechten. Gleich darauf erscheint auch ihr Liebhaber; wahrscheinlich hat er erst seine Beinkleider hinter den Kulissen in Ordnung gebracht, um wenigstens äußerlich anständig vor dem Publikum zu erscheinen. Warum das Stück nicht 10 Minuten früher in den Büschen beginnt, bleibt dramatisch unklar. Nachdem also beiderseits das Gelüste befriedigt worden, erklärt die Braut (Rose Bernd): „Nimmehr a so, wie jetzt,“ von nun an, will sie ihrem Verlobten Treue bewahren. Dem Liebhaber paßt das natürlich nicht. Kaum ist er fort, kommt ein Lokomobilmaschinist geradeswegs aus der Kirche, ein Mann von schlechtem Rufe, dem er alsbald alle Ehre macht, indem er dem Mädchen erklärt, er kenne ihr Techtelmechtel und werde es ruchbar machen, wenn sie sich ihm nicht auch hingebe. Dieselbe Rose, welche eben noch „nimmehr a so!“ meinte,

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sinkt halb hin und wird halb genommen, natürlich auch hinter der Bühne, aber immerhin so, daß die Folgen nicht ausbleiben, denn: 1. hält der Lump nicht seinen Mund, und 2. kommt das Mädchen in „andere Umstände“. Im letzten Akte sieht man die Wirkung dieser zwei Folgen: Gericht, Gendarm und Kindbettwehen. Ein befreundeter Arbeiter hat die Rose hinter einer Weide aufgelesen, wo sie sich wie ein Wurm krümmte. Um diesen Genuß dem Publikum nicht vorzuenthalten, macht sie auf der Bühne einige verdächtige Bauchtanzbewegungen. Wenn die Rose nun einfach machte, was jedes Weib in gleicher Lage täte, einfach sagte, was geschehen, so wäre das Stück zu Ende, ja freilich das Stück, aber nicht der Dichter, der noch einen vollen Akt gebraucht. Deshalb verläßt Rose die Bühne und kommt erst wieder, als der Dichter nun auch mit ihrem Vater und ihrem Bräutigam fertig ist, um allgemein bekannt zu machen, daß sie bei der Weide geboren und gemordet habe. Mit Recht renommiert sie: „Da seid ihr de reenst’n kleen’ Kinder dagegen,“ wie gesagt mit Recht, denn Kinder können die Männer bisher mit dem besten Willen nicht bekommen, das ist eines der wenigen Dinge, die das Weib vor dem Manne voraus hat. Alles klappt, selbst der Gendarm ist da. Überblicken wir das Geschilderte, so erkennen wir jenes Grau in Grau, dieselbe Vorliebe für das Unreinliche, ja für das Gemeine, wie teilweis in der Malerei, freilich weitaus widerwärtiger, weil es sich um lebende Gestalten, um stärkere Vorspiegelung der Wirklichkeit handelt. Daß solche Dinge vorkommen, vorkommen können, wie Hauptmann sie schildert, ist selbstverständlich; es fragt sich nur, ob sie in solcher Form sich für ein Kunstwerk eignen, was ein Drama denn doch gewissermaßen sein soll. Der Liebe Leid und Lust ist ein uralter Dichterstoff, aber mit gleich brutaler Roheit wie hier hat es sich nicht einmal in den rohesten Zeiten der Literatur, in der des 30jährigen Krieges an das Tageslicht gewagt. Früher forderte die Technik des Dramas einen Umschlag im dritten Akte, eine Wirkung, welche den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen zermalmt. Diese Technik beruhte auf der Beobachtung von zwei Jahrtausenden. Natürlich werfen die Modernen solchen Plunder in die Rumpelkammer; ihre Stücke wollen den Effekt, und zwar den der Einzelszene, und ihre Handlung ist nicht dramatisch, sondern novellistisch: sie schreitet fort, wie in einer Erzählung. Mit dem besten Willen kann man einer Heldin kein Mitgefühl weihen, welche zwar erzählt, wie sie sich ihr Leben lang abgerackert habe, welche dies auch am Sonntagmorgen tut, dabei das Angenehme aber mit dem Nützlichen lachend verbindet. In Wirklichkeit ist Rose ein haltloses, verschlossenes, rohes Frauenzimmer, mit einem star-

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ken Anstriche von Verlogenheit. Aus dem Ganzen blickt ein bedeutender Geist und scharfe Beobachtung, es ist eine in seiner Art beachtenswerte Leistung, aber widerwärtig ist der Geist und noch viel widerwärtiger die sogenannte Kunst. Nirgends hat man ein reines Empfinden, man wird im Hirn zermartert, die Nerven werden gewaltsam stimuliert, man erduldet geradezu eine Art geistigen Masochismus. Überreizt dankt man Gott, wenn man den gepolsterten Marterstuhl verlassen kann, und lechzend eilt man zu einem guten Glase Bier bei Siechen, um schleunigst den ganzen Dreck hinunter zu spülen. Und wenn es noch wahr wäre, was man erduldet hat. Auch das nicht einmal. Das Stück beruht auf einer unmöglichen Voraussetzung. Rose Bernd wird schwanger, Rose Bernd lebt in einem Dorfe, überall beobachtet und vielfach bemunkelt, – und doch weiß das ganze Dorf nicht, was mit ihr los ist! Verändert sich denn eine Schwangere nicht in Gestalt, Gesicht und Gang, in der äußeren und seelischen Erscheinung, – und das sollten die neidischen Klatschbasen eines Dorfes nicht bemerken? Monatelang nicht? Ja freilich, wenn sie das auf der Bühne wüßten, was ihnen in Wirklichkeit die Spatzen vom Dache zwitscherten, dann könnte Hauptmann sein Stück nicht schreiben, und das deutsche Theater nicht seine Kasse dadurch füllen. Jahrtausende hat die Kulturmenschheit an einem unsichtbaren Bande gewoben, welches geistig höher stehende Menschen kennzeichnet: es ist der gute Geschmack, die verfeinerte Sittlichkeit. Dies wird dreist verleugnet und die Menschheit aus der Höhe, die sie mühsam erklommen hat, hinabgezerrt in die Tiefe. Die Masse war immer roh und ungebildet und wird es ewig bleiben; jene Kunst, die in der Masse wurzelt, kann deshalb nicht anders sein als sie. Eine Zeit, eine Kunst des Massen-Ich ist eben naturgemäß roh. Mag man es in der Technik des Könnens, in der von Malerei und Drama noch so weit gebracht haben; wie öde, wie unsäglich öde bleibt alles im Gemüte, in der unmittelbaren Tatkraft der Leidenschaft. Die unteren Klassen streben nach oben, wie die Pflanze zur Sonne, die oberen Klassen hingegen gefallen sich im Hinabsteigen. Zeiten mit dieser Eigenschaft hat es schon früher gegeben, und sie boten stets den Beweis der Überkultur, der Dekadence. Das zeigt sich im spätrömischen Reiche mit seinen Satiren, Acker‑ und Landschaftsgedichten, das zeigt sich im Rokoko mit seinen adeligen Schäfern und Schäferinnen, dem begegnen wir heutzutage wieder in unseren dramatischen, Fuhrleuten, Leinewebern und schwangeren Bräuten. Von diesen drei Abschnitten steht die Jetztzeit unfraglich am tiefsten. Der sozialdemokratische Massenzug hat unser gesamtes Dasein vergiftet und verwüstet. So stolz wir uns brüsten: die Geschichte wird richten.

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Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier (Tönnies 1905d, hier S. 258–267)

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Im Dezember 1904 legten 1600 Bergarbeiter der Zeche „Bruchstraße“ im Ruhrgebiet die Arbeit nieder. Sie protestierten gegen eine geplante Verlängerung der Schichtzeit und zwangen Hugo Stinnes, den Besitzer der Zeche, die Anordnung zurückzunehmen. Am 23. Dezember 1904 wurde auf der Zeche „Bruchstraße“ eine erneute Verlängerung der Seilfahrt ab 1. Februar 1905 angekündigt. Daraufhin beschloss die überwiegende Mehrheit der Zechenbelegschaft am 7. Januar 1905 in einer geheimen Abstimmung den Streik. Einen Tag später traten auch die Bergarbeiter der Zeche „Herkules“ in den Ausstand. Den unmittelbaren Anlass hierzu bildeten die Vorgänge auf der Zeche „Bruchstraße“ sowie die Maßregelung ihrer Knappschaftsältesten durch die Zechenverwaltung. Rasch griff die Bewegung weiter um sich. Obwohl die Führer der vier Bergarbeiterorganisationen im Ruhrgebiet (der Verband deutscher Bergarbeiter, der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter, der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein deutscher Bergarbeiter und die polnische Berufsvereinigung) am 8. Januar den Beschluss fassten, einen allgemeinen Streik im Ruhrgebiet unter allen Umständen zu verhindern und den Ausstand auf die Zechen „Bruchstraße“ und „Herkules“ zu begrenzen, fanden überall im Ruhrgebiet Versammlungen statt, in denen die Bergarbeiter den allgemeinen Streik forderten und gegen die Politik der Gewerkschaftsführung protestierten. In den folgenden Tagen schlossen sich Zehntausende von Bergleuten dem Ausstand an. Die Gewerkschaftsführung sah sich gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Tönnies weist auf diesen Sachverhalt ausdrücklich hin. Am 16. Januar 1905, als bereits über 100.000 Bergleute die Arbeit niedergelegt hatten, beschloss die Delegiertenkonferenz der Ruhrarbeiter die Proklamierung des Streiks. Bis zum 19. Januar 1905 stieg die Zahl der Streikenden auf rund 217.500, das heißt, auf 78 Prozent der Gesamtbelegschaft. Ein besonderes Merkmal des Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905 war die Aktionseinheit der sozialdemokratischen, der christlichen, der Hirsch-Dunckerschen und der parteilosen Arbeiter, der Deutschen und der Polen. Die Forderungen waren sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur: Verbot von Sonntags- und Überschichten, Beseitigung des Wagennullens, das heißt, der Nichtanrechnung geförderter Wagen, wenn die Kohle unrein ist bzw. die Wagen nicht voll beladen sind, Festsetzen von Minimallöhnen, Wahl von Grubenkontrolleuren, Beseitigung der Strafmaßnahmen, Errichtung eines Arbeiterausschusses zur Regelung von Beschwerden, Missständen, Lohndifferenzen und zur Mitverwaltung

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der Unterstützungskassen, Einführung des Achtstundentags sowie Anerkennung der Arbeiterorganisationen durch die Unternehmer. In ganz Deutschland und im benachbarten Ausland fanden Solidaritätsstreiks und Sympathiekundgebungen statt. Am 27. Januar kündigte die preußische Regierung eine Novelle zum Berggesetz an. Daraufhin setzte die Gewerkschaftsführung am 9. Februar auf einer Delegiertenkonferenz die Beendigung des Streiks durch, obwohl viele Arbeiter die Fortführung des Streiks bis zur Erfüllung der gestellten Forderungen wünschten. Tatsächlich flaute der Streik nur sehr langsam ab. Zu groß war die Empörung unter den Bergarbeitern. Am 10. Februar, einen Tag nach dem Beschluss, den Ausstand zu beenden, streikten noch mehr als 180 000 Bergarbeiter, am 11. Februar waren es noch fast 100 000. Zwei Tage später befanden sich noch immer 36 416 Bergleute im Ausstand, am 14. Februar waren es 17 562 und am 15. Februar 10 933. Erst am 20. Februar 1905, elf Tage nach dem offiziellen Streikabbruch, nahmen die letzten Bergleute die Arbeit wieder auf (vgl. Fricke 1955). In seinem Artikel setzt Tönnies verschiedentlich in Anführungsstriche und lässt so als direktes Zitat erscheinen, was in Wirklichkeit eine durch ihn vorgenommene sinngemäße Verdichtung von Aussagen der von ihm zitierten Personen ist. Dies betrifft im wesentlichen Äußerungen des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers von Bülow einerseits, des Ministers von Möller andererseits, Äußerungen, die sie sowohl vor dem Reichstag als auch vor dem preußischen Landtag abgegeben haben. Solche inhaltlich sinngemäßen Verdichtungen finden sich ebenfalls in den Aufsätzen „Glückauf!“ und „Die politische Wurmkrankheit“.

The Present Problems of Social Structure (Tönnies 1905f, hier S. 269–287) Der Vortrag, den Tönnies am 21. September 1904 in St. Louis (USA) gehalten hat, wurde zweimal publiziert, einmal im American Journal of Sociology (1905), zum anderen in den Congress-Proceedings (1906). In den „Soziologischen Studien und Kritiken. Erste Sammlung“ (1925: 368) kommt Tönnies im Abschnitt XVII über „Das Wesen der Soziologie“ auf sein Amerika-Referat zurück, nennt als Titel aber irrtümlich „The problems of social structure“ statt „The present problems of social structure“. Er schreibt wörtlich: „Der vorliegende Gedankengang stimmt teilweise überein mit einem Vortrage, den der Verfasser am 21. September 1904 im allgemeinen wissenschaftlichen Kongreß zu St. Louis (...) in englischer Sprache gehalten hat (...). Wo

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die gegenwärtige Darstellung von jener abweicht, da ist mir daran gelegen, die frühere teils zu erweitern, teils zu berichtigen. Die eine wie die andere sind bestimmt, die Theoreme der Schrift ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ (...) zu befestigen und auszubauen“. Die Beiträge zum Congress of Arts and Science umfassen acht Bände. Volume V beinhaltet die Beiträge des Department of Biology, bestehend aus 11 sections, des Department of Anthropology, bestehend aus 3 sections, des Department of Psychology, bestehend aus 4 sections sowie des Department of Sociology, bestehend aus Section A (Social Structure) and Section B (Social Psychology). Die Sektion A tagte am 21. September 1904 in Halle 15 unter dem Vorsitz von Frederick W. Moore (Nashville). Sprecher waren Gustav Ratzenhofer (Wien), Ferdinand Tönnies (Kiel) und Lester F. Ward (Washington). Der Beitrag von Tönnies ist überschrieben mit „The Present Problems of Social Structure“, darunter ebenfalls in Majuskeln „By Ferdinand Tönnies“. Es folgt in Klammern der ausführliche Hinweis: „Ferdinand J. Tönnies, Privat-docent and Professor, Kiel University. b. Riep, Oldenswort Parish, Schleswig-Holstein, Germany, July 26, 1855. Ph.D. 1877; Professor, 1891. Member of International Institute of Sociology; Society of Social Politics; corresponding member of Sociological Society, London. Author of Community and Society; Hobbe‘s Life and Doctrines; The Nietzsche Cult; Schiller as a Citizen; and a large number of articles and papers in German and foreign periodicals, philosophical, sociologic, economic, and general“. Der Text lautet deutsch: Die gegenwärtige Problematik der sozialen Struktur 1

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Die Problematik der sozialen Struktur stellt sich derzeit recht verworren dar. In einem früheren Stadium soziologischen Denkens wurden große Erwartungen an die Interpretation sozialer Phänomene mittels biologischer Analogien geknüpft, d. h. an die sogenannte organizistische Gesellschaftstheorie. Von diesen Erwartungen läßt sich nun behaupten, daß sie enttäuscht wurden. Von der organizistischen Theorie hat man nahezu vollständig Abstand genommen. Dennoch werden auch die schärfsten Kritiker dieser Theorie zugeben, daß einiges an ihr wahr ist, obwohl sie anscheinend nicht genau erklären können, worin diese Wahrheit liegt. 1



Vortrag, gehalten auf dem Congress of Arts and Science, Abteilung Soziologie, St. Louis, September 1904.

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Zufälligerweise starben die drei bemerkenswertesten Vertreter der genannten Theorie – der Russe Paul von Lilienfeld, ein Mann von hohem gesellschaftlichen Ansehen, der Deutsche Albert Schäffle, ein hochgeschätzter Nationalökonom und der Engländer Herbert Spencer, dessen Ruhm keiner Erläuterung bedarf – alle im Jahre 1903 in hohem Alter, die beiden letztgenannten im Dezember. Die Soziologie ist diesen Männern sehr zu Dank verpflichtet, weil sie nach Comte die ersten waren, zumindest in Europa, die in großen Zügen eine Theorie des sozialen Lebens aufstellten. Von ihren Werken, besonders jedoch vom Werk Schäffles und Spencers, gehen fruchtbare Impulse und Anregungen aus, was auch über ihren Tod hinaus der Fall sein wird. Dennoch glaube ich, vorhersagen zu können, daß man schon bald allgemein zu der Überzeugung gelangen wird, daß die Fundamente ihrer Theorien nicht solide genug gelegt wurden, um jene kühn errichteten Gedankengebilde dauerhaft zu tragen. Schon seit langer Zeit vertrete ich entschieden die Meinung, daß diese Autoren ebenso wie fast alle ihre Nachfolger und Kritiker dadurch in ihrer Arbeit behindert werden, daß sie zu dem Gegenstand ihrer Untersuchungen nur sehr unklare Vorstellungen haben – ein Gegenstand, den sie für gewöhnlich sehr unbestimmt „Gesellschaft“ nennen, oder, wie Schäffle sich ausdrückt, „den sozialen Körper“. Unklare Vorstellungen lassen sich stets auf fehlendes analytisches Denken zurückführen, d. h. darauf, daß keine exakten Unterscheidungen getroffen werden. Ich glaube und behaupte, daß drei unterschiedliche Konzeptionen, die sich alle auf das soziale Leben im weitesten Sinne beziehen, nicht ausreichend oder gar nicht voneinander getrennt bzw. nicht einmal als unterschiedlich erkannt werden, und zwar die biologische, psychologische und soziologische im, wie ich es nenne, ausschließlichen Sinne – nur der Gegenstand der dritten Konzeption ist, verglichen mit den Gegenständen anderer Wissenschaften und Fachgebieten der Philosophie, vollkommen neu. Meines Erachtens liegt die Hauptaufgabe für uns philosophische Soziologen darin, von dieser letztgenannten Konzeption und anderen damit verbundenen ein System sozialer Struktur abzuleiten, das die verschiedenen Vorstellungen von kollektiven Wesenheiten in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Verbindung enthält. Ich bin fest davon überzeugt, daß uns ein solches System einen besseren und tieferen Einblick in die allgemeine Evolution der Gesellschaft als die Lebensbahn dieser kollektiven Wesenheiten sowie auch in ihre einzelnen historischen Phasen gewähren wird. So zeigen sich Gedeihen und Verfall höherer Zivilisationen am deutlichsten zum einen in den das Dasein jener kollektiven Wesenheiten voraussetzenden Kämpfen

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zwischen den einzelnen Wesenheiten und den Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, zum anderen in den Kämpfen unter den verschiedenen Wesenheiten – zu nennen sind hier z. B. die Kämpfe zwischen Kirche und Reich, zwischen Kirche und Städten, zwischen Kirche und Staat, zwischen Kirche und anderen Korporationen, zwischen dem souveränen Staat und feudalen Gemeinschaften sowie sich herausbildenden Schichten und Ständen oder zwischen einzelnen Staaten und einem Bundesstaat. I

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Wenn wir von einem Haus, einem Dorf oder einer Stadt sprechen, stellen wir uns zunächst spontan ein sichtbares Gebäude oder eine größere oder kleinere Ansammlung von Gebäuden vor, denken jedoch schnell auch an die sichtbaren Inhalte dieser Gebäude, so z. B. an Zimmer, Kellerräume, die entsprechenden Möbel und auch an Wege und Straßen, wenn es sich um eine Gebäudegruppe handelt. Die Worte „Haus“, „Dorf“ und „Stadt“ werden jedoch in einer anderen Bedeutung verwendet, wenn wir die besonderen Inhalte von Gebäuden im Sinn haben, die wir Bewohner nennen, vor allem die menschlichen Bewohner. In vielen Sprachen sieht man die Menschen nicht nur als die Bewohner von Gebäuden, sondern setzt sie mit diesen gleich. So sagen wir z. B. „das ganze Haus“ oder „das ganze Dorf“ und beziehen uns damit auf eine Gruppe von Personen, deren Vorstellung eng mit der Vorstellung von ihrer gewöhnlichen Behausung verknüpft ist. In unseren Gedanken sind sie eins mit ihrem Heim. Allerdings haben wir dabei noch immer eine sichtbare Gruppe von Individuen im Sinn, die sich jedoch in eine unsichtbare wandelt, wenn man sie sich als eine mehrere Generationen überdauernde Gruppe vorstellt. Jetzt betrachten wir das Haus als identisch mit einer Familie oder gar mit einem Klan. Auf die gleiche Weise stellt man sich eine Dorfgemeinschaft oder Stadtgemeinde als ein kollektives Wesen vor, das in gewisser (und bedeutender), wenn auch nicht in jeder Hinsicht im Wesen gleichbleibt, obwohl ein Wechsel der Materie stattfindet, d. h. unaufhörlich werden alte Teile – Menschen, die sterben, – ausgeschieden, während frische Elemente – neugeborene Kinder – hinzukommen. Hier ist die Analogie zu den grundlegenden Eigenschaften eines Organismus offensichtlich. Auch pflanzliche und tierische Organismen werden nur von den zu einer bestimmten Zeit jeweils sichtbaren Elementen repräsentiert, und das Gesetz des Lebens besteht darin, daß immer mehr Teile bleiben als ausgeschieden und reproduziert werden und daß die reproduzierten nach und nach die freien Räume füllen, wäh-

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rend die Beziehungen der Teile – z.B. das Zusammenwirken von Zellen als Geweben oder von Geweben als Organen – keine großen Änderungen erfahren. Die Übertragung biologischer Vorstellungen auf das soziale Leben des Menschen, wie sie organizistische Theorien oder Methoden vorsehen, ist daher nicht grundsätzlich zurückzuweisen. Tatsächlich können wir jede Gemeinschaft dieser Art, die sich selbst erhält, indem sie ihre Teile aufnimmt, als lebendes Ganzes oder lebende Einheit betrachten. Diese Betrachtungsweise ist um einiges plausibler, wenn die Erneuerung auf rein biologischem Wege stattfindet, wie es in der Tat bei der menschlichen Familie und unserer Ansicht nach – da eine Familie sich zu einem gewissen Zeitpunkt aufsplittert – mehr noch bei bestimmten größeren Gruppen der Fall ist, z.B. bei einem Stamm, einer Nation oder einer Rasse. In diese Sichtweise spielt nun die Frage mit herein, ob man von einer Gleichheit der Natur oder, wie wir normalerweise sagen, des Blutes auszugehen hat, die bei Inzucht gegeben sein müßte. Diese Art von Selbsterhaltung einer Gruppe ist am wenigsten zu erwarten, je kleiner die Gruppe ist, und unter Züchtern ist es wohlbekannt, daß eine Herde nur gedeiht, wenn man nicht zu lange die Zuchttiere einer Züchtung heranzieht, sondern die Rasse von Zeit zu Zeit zur Auffrischung des Blutes durch Vermischen mit Tieren aus einem anderen Bestand kreuzt. Dies ist es auf jeden Fall, was ich einen rein biologischen Aspekt kollektiven menschlichen Lebens nennen würde, insoweit als sich die Konzeption auf das reine Dasein einer menschlichen Gruppe beschränkt, die sich selbst am Leben erhält. Dieser Aspekt reicht jedoch nicht aus, wenn wir lokale soziale Einheiten betrachten, die sich teils auf die beschriebene, teils jedoch auf andere Art und Weise am Leben erhalten. Im Bezug auf diese Einheiten denken wir nicht nur an einen natürlichen Stoffwechsel, wie er durch das Geborenwerden und Sterben der Individuen, die den Körper bilden, bewirkt wird, sondern wir führen uns auch das Kommen und Gehen lebender Männer, Frauen und Kinder vor Augen, das wie die Geburten und Todesfälle ein Wachstum oder einen Rückgang der ganzen Masse verursachen kann und auch verursachen muss, sofern sich Zu‑ und Abwanderung nicht die Waage halten. Wir haben daher Grund zu der Annahme, dass zu verschiedenen Zeiten weniger eine biologische Gleichheit des Einwohnerbestandes als vielmehr eine bleibende Verbindung zwischen einem Raum (dem Ort, hier im Sinne von Platz, Stelle), oder genauer gesagt einem Stück Land, und einer bestimmten Gruppe von Menschen besteht, die an diesem Ort wohnen und miteinander in Beziehung stehen, auch wenn sich der Ort mit

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zunehmender Anzahl seiner Bewohner ausdehnt und auch wenn sich unter diesen Bewohnern kein direkter Nachkomme derjenigen mehr findet, die diesen Ort vor sagen wir hundert Jahren besiedelt haben. Wir können jedoch davon ausgehen, dass in der Regel zumindest ein bestimmter Kern von direkten Nachkommen über viele Generationen hinweg am Leben bleibt, was um so wahrscheinlicher ist, wenn wir dabei einen großen Ort, eine ganze Region oder gar ein Land vor Augen haben. Dennoch sollten wir dies nicht als conditio sine qua non dafür erachten, ein Dorf oder eine Stadt als dasselbe Dorf bzw. dieselbe Stadt anzuerkennen, denn es ist hierbei von viel größerer Bedeutung, dass sich der Kern des Ortes, der Siedlung, über all die Jahre hinweg erhalten hat. Da nun Ort und Region, Luft und Klima einen großen Einfluss auf die Intelligenz und das Gefühl der Bewohner ausüben und da in dieser Hinsicht keine einschneidenden Veränderungen zu erwarten sind, es sei denn, dass sich sowohl der Geist als auch die äußeren Bedingungen der Neuankömmlinge vollkommen vom Geist und den äußeren Bedingungen der älteren Strata unterscheiden, können wir die Identität eines Ortes, soweit sie auf der sozialen Verbindung von Menschen und einem Stück Land beruht, als eine psychologische Identität erachten und diesen Aspekt des sozialen Lebens einen psychologischen Aspekt nennen. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieser psychologische Aspekt stark von dem biologischen abhängt und grundsätzlich eng mit diesem verwoben ist. Dennoch ist es auch ohne größere Überlegung zu erkennen, dass beide Aspekte in gewissem Maße auch voneinander getrennt und unabhängig voneinander sind. Der Gegenstand der Sozialpsychologie ist ein anderer als der Gegenstand der Sozialbiologie, obwohl sich beide in vielen Punkten berühren und beide über die ihnen hier gegebene Grundlage hinaus sowohl auf tierische als auch auf menschliche Gesellschaften angewandt werden können. II

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Keine der oben genannten Konzeptionen einer fortwährenden Einheit oder eines ebensolchen Ganzen impliziert, dass die wesentliche Eigenschaft der Einheit von ihren Angehörigen wahrgenommen und erkannt wird und noch weniger, dass andere, Außenstehende, sie erkennen. Hiermit spreche ich die dritte und in diesem Rahmen wichtigste Idee an – ich beziehe mich auf das, was ich Korporation zu nennen beabsichtige. Unter diesen Begriff fallen alle sozialen Einheiten, die das folgende gemeinsame Merkmal aufweisen: Die Daseinsform der Einheit oder des Ganzen ist auf das Bewusstsein

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seines Daseins gegründet, und Einheit oder Ganzes bewahren sich folglich dadurch, dass die Konzeption von ihrer Wirklichkeit von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, was nur durch absichtliches Lehren geschehen kann und gemeinhin durch Tradition erfolgt. Dies setzt offenkundig menschliche Vernunft und menschlichen Willen voraus, wodurch eine scharfe Trennungslinie zwischen dieser dritten Konzeption und jeder Art tierischer, dem Menschen unterlegener Gesellschaft gezogen wird. Wir wollen uns nun näher mit dieser Konzeption befassen. In den meisten, wenn auch nicht in allen Fällen ist es die Konzeption von einer Einheit, die sich von dem Aggregat der Angehörigen unterscheidet, es ist die Idee eines psychischen oder moralischen Körpers, der wie ein einzelner Mensch wollen und handeln kann, die Idee eines Selbst oder einer Person. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine künstliche oder fiktive Person. Sie vertritt wie schon die beiden vorhergehenden Konzeptionen eine sich durch den Wechsel ihrer Teile erhaltende Einheit, aber diese in der Vielzahl fortbestehende Einheit und Identität sind weder biologischer noch direkt psychologischer Natur, sondern sie müssen dagegen als ausdrücklich soziologisch erachtet werden. Während die psychologische Konzeption das soziale Bewusstsein oder der soziale Geist ist, ist die soziologische deren Produkt – verstehen können wir sie nur, indem wir in die menschliche Seele blicken und Gedanken und Willen wahrnehmen, die nicht nur eine gemeinsame Strömung und gemeinsame Richtung aufweisen, sondern Schöpfer einer gemeinsamen Arbeit sind. Die Idee eines willens‑ und handlungsfähigen Körpers, wie er oben angesprochen wurde, ist jedoch nicht immer und nicht zwingend in der Vorstellung von einer soziologischen Einheit impliziert. Es gibt eine Konzeption, die ihr vorausgeht, so wie das Protoplasma dem individuellen Körper vorausgeht, und zwar handelt es sich hier um die allgemeine Idee einer Gesellschaft (oder einer Gemeinschaft, falls einmal auf diese wichtige Unterscheidung hingewiesen werden soll), die sich nur in einem Punkt von unserer zweiten Idee, nämlich der der psychologischen Einheit unterscheidet: Die Idee dieser Einheit ist auf gewisse Weise in den Köpfen der Menschen gegenwärtig, die fühlen oder wissen, dass sie selbst zu dieser Einheit gehören. Diese Konzeption ist von weitreichender Bedeutung, da sie die Grundlage für alle Konzeptionen einer sozialen im Gegensatz zu einer politischen Korporation darstellt. Sie umfasst daher vor allem jene Bereiche des sozialen Lebens, die mehr oder weniger unabhängig von politischer Organisation sind und in denen die ökonomische Tätigkeit des Menschen die größte Rolle spielt, eingeschlossen sind hier sowohl das häusliche Leben

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als auch auf rein kommerziellem Interesse beruhende internationale Beziehungen. Es ist praktisch ohne Auswirkungen, ob diese allgemeine Idee als eine psychologische oder soziologische angesehen wird, es sei denn, wir betrachten genau solche Menschen, die die Konzeption von ihrem sozialen Dasein bewusst aufrechterhalten und sie von anderen Ideen trennen, vor allem wenn die Konzeption der Idee einer politischen Korporation gegenübergestellt wird und es sich hierbei um die bedeutendste politische Korporation handelt – den Staat. Eben in diesen wechselnden Beziehungen zum Staat wurde die Idee der eigentlichen Gesellschaft – auch wenn dabei ihr subjektiver Charakter nicht erkannt wurde – vor ungefähr 50 Jahren von einigen deutschen Theoretikern entwickelt, vor allem von Lorenz Stein, Rudolph Gneist und Robert Mohl, die alle in stärkerem oder schwächerem Maße unter dem Einfluss Hegels standen und sahen, dass Hegel in seiner „Rechtsphilosophie“ unter den folgenden drei Stichpunkten die Theorie vom menschlichen korporativen Dasein aufstellte: die Familie als „These“, die bürgerliche Gesellschaft als „Antithese“ und der Staat als „Synthese“ der ersten beiden. Obwohl ich jedoch dieser allgemeinen Vorstellung von Gesellschaft im Nebeneinander und im Gegensatz zum Staat oder zur politischen Gesellschaft selbst große Bedeutung beimesse, halte ich es noch immer für einen wichtigeren Bestandteil einer Theorie der sozialen Struktur, die Natur und Ursachen dessen zu erforschen, was man, vom jetzigen Standpunkt aus gesehen, echte Korporationen nennen kann – Korporationen also, die als ebenso willens – und handlungsfähig gelten wie ein mit Vernunft und Selbstbewusstsein ausgestattetes einzelnes Individuum. Hier stellt sich die Frage, wie man sich eine „moralische Person“ als mit diesen Gaben versehen vorzustellen hat. Dies ist ohne Zweifel unmöglich, wenn nicht ein einzelnes Individuum oder mehrere gemeinsam im Namen jenes fiktiven Wesens wollen und handeln. Und um dieses Wollen und Handeln eines Individuums als von der eigenen Individualität getrennt erkennen zu können, muss das Wollen und Handeln im Namen des fiktiven Wesens anhand bestimmter Zeichen vom Wollen und Handeln im Namen des Individuums auseinander zuhalten sein; beide Formen von Wollen und Handeln müssen formal unterschieden werden. Erforderlich ist ein stillschweigendes oder ausdrückliches Einverständnis, eine Art Abkommen oder Konvention darüber, dass nur derart unterschiedenes Wollen und Handeln als Wollen und Handeln der genannten moralischen Person, die von einem oder von mehreren Individuen vertreten werden soll, erachtet wird. Diese Frage der auf gegenseitiger

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Zustimmung oder Konvention beruhenden Merkmale und Zeichen, durch die ein Ding, ob physisch oder moralisch, als ein Ding erkannt wird und durch die sein Wert (oder die Bestimmung, wofür es gut ist) von seinem Dasein (oder der Bestimmung, was es ist) unterschieden wird, durchdringt das gesamte soziale Leben und den gesamten sozialen Geist und kann als deren Geheimnis bezeichnet werden. Es ist klar, dass leicht bestimmte Zeichen festgelegt oder erfunden werden können, mit deren Hilfe sich Willen und Handlungen eines Individuums als repräsentativ erkennen und entsprechend von anderen unterscheiden lassen. Was geschieht aber nun, wenn es nicht nur ein Individuum, sondern mehrere gibt, die nur zu bestimmten Gelegenheiten gemeinsam wollen und handeln und von denen man nicht erwarten kann, dass sie ihre Meinungen in Einklang bringen, sobald sie ihre moralische Person zu vertreten haben? Es ist allgemein bekannt, dass diese sich als Versammlung oder als Ganzes konstituieren müssen, das durch seine Konstitution in die Lage versetzt wird zu beraten und, vor allem, Beschlüsse zu fassen und zu handeln. Durch ihren Willen oder durch den Willen einer anderen Person muss festgelegt werden, (1) unter welchen Bedingungen und in Bezug auf welche Gegenstände ihre Beschlüsse als Willenserklärungen des eigenen Körpers angesehen werden und (2) unter welchen Bedingungen und in Bezug auf welche Gegenstände Willenserklärungen dieses Körpers als Willenserklärungen der vertretenen moralischen Person gelten. Wir schlagen daher die Konstitution einer Einheit aus einer Vielheit als vierten Typus und als zwingende Konsequenz des dritten vor, wenn nicht die moralische Person ausschließlich von einem einzelnen Mann oder einer einzelnen Frau als natürlicher Person vertreten wird. Die vielen konstituieren sich als ein Körper oder „werden zu einem Körper konstituiert“, der gerade in jenen Beziehungen soweit wie möglich einer natürlichen Person ähnelt, die für die Vorstellung von einer Person wesentlich sind. Also ist auch dieser Körper eine Einheit, aber eine Einheit, der a priori die Bestimmung für einen festgelegten Zweck zugeschrieben wird, d. h. die Vertretung einer moralischen Person – des dritten oder soziologischen Typus von Einheit. Der Unterschied zu diesem dritten Typus liegt ausschließlich in eben dieser Beziehung, die augenscheinlich der moralischen Person selbst nicht innewohnen kann, er liegt darin, dass der vierte Typus infolge dieser Beziehung neben der ihm eigenen Idee ein sichtbares Dasein hat, während die vertretene moralische Person außerhalb des Rahmens der ihr eigenen Idee nichts ist. Wir können daher bei einer von einem Körper vertretenen moralischen Person zwischen fünf Daseinsformen unterscheiden: (1)

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das ideelle Dasein im Denken der Angehörigen, (2) das ideelle Dasein des konstituierten Körpers, der die moralische Person vertritt und sowohl im Denken der diesen Körper zusammensetzenden natürlichen Personen vorhanden ist als auch im Denken der Angehörigen der Korporation im allgemeinen, (3) das sichtbare Dasein dieses Körpers, dargestellt von der Versammlung von natürlichen Personen, die unter der Wahrung bestimmter Formen wollen und handeln, (4) das intelligible Dasein dieser Versammlung, das dadurch bedingt ist, dass diejenigen, die die Versammlung von außen oder theoretisch wahrnehmen, von ihrer Konstitution und Bedeutung wissen, und (5) das intelligible Dasein der vertretenen moralischen Person oder des vertretenen Körpers, das von dem Wissen um die Beziehung zwischen dieser Korporation und dem vertretenden Körper abhängt, welches in erster Linie Schlüsse auf die Struktur der Korporation und in zweiter Linie auf die des vertretenden Körpers zulässt. Unter dem sichtbaren Dasein einer Versammlung ist zu verstehen, dass Angehörige als versammelt sichtbar sind. Die Versammlung kann jedoch nur von einem denkenden Beobachter, der weiß, was jene Formen bedeuten, der ihre Bedeutung „realisiert“, der die Versammlung „denkt“, als Körper wahrgenommen werden. Natürlich kann neben der Vertretung auch eine Korporation sowohl von Außenstehenden als auch von den Angehörigen nur geistig wahrgenommen werden. Hier handelt es sich um verschiedene Arten der Wahrnehmung (hier als ideelles und intelligibles Dasein unterschieden): Die Angehörigen nehmen die Korporation direkt als ein Produkt ihres eigenen Willens wahr und daher in gewisser Weise als ihr Eigentum (ein Ding, das ihnen gehört), während Außenstehende sie nur indirekt dadurch wahrnehmen, dass sie die vertretende Person oder den vertretenden Körper kennen – hier handelt es sich nur um eine Wahrnehmung von außen, solange sie nicht durch das Wissen um die besondere Daseinsform der Korporation, d. h. um ihre Konstitution und um die Beziehungen zwischen Angehörigen und Ganzem und Ganzem und Angehörigen ergänzt wird. Gerade in dieser Hinsicht bestehen zwischen den verschiedenen Arten von Korporationen große Unterschiede. Zunächst kommt es darauf an, ob sich die Individuen als Gründer oder Stifter oder zumindest als repräsentative ideelle Gründer ihrer Korporation fühlen und verstehen. Ziehen wir ein einleuchtendes Beispiel heran, und stellen wir uns einmal vor, dass ein Mann und eine Frau die Ehe schließen (die Frage der kirchlichen oder staatlichen Vorschriften, um solch einer Ehe öffentliche Gültigkeit zu verleihen, lassen wir außer acht) und eine Familie gründen. Die aus

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dieser Verbindung hervorgehenden und in dieser Familie aufwachsenden Kinder können sich, solange sie von ihren Eltern abhängig sind, nicht mit Recht als Gründer und Stifter der Familie fühlen und verstehen. Sie haben jedoch immer bewusster am Familienleben teil und übernehmen vielleicht eines Tages anstelle ihrer Mutter oder ihres Vaters innerlich und äußerlich die Vertretung dieses Ganzen. Sie können lernen, sich selbst als Träger der Persönlichkeit dieses ideellen Wesens zu fühlen und zu verstehen, indem sie sozusagen die Rolle des Gründers und Stifters spielen, den sie überleben können und dem normalen Lauf der Dinge nach auch überleben werden, und sie halten vielleicht die Identität der Familie über den Tod der Eltern hinaus aufrecht. Sie können sogar dann die Kontinuität dieser identischen Familie bewahren, wenn neue Familien aus ihr hervorgegangen sind, gleichgültig ob diese sich als Angehörige der ursprünglichen Familie betrachten oder nicht. Die Aussage, dass die Familie existiert, ist zumindest für jene wahr, die sie sich wahr wünschen und die entsprechend handeln, ja sie schaffen die Familie kraft ihres Denkens und Wollens sogar neu, so wie es ursprünglich durch die Willen der beiden ersten Personen geschah. Eine andere Frage ist, ob das Dasein dieser Korporation von anderen, die vielleicht mit deren Angehörigen in Beziehung stehen oder einfach objektive theoretische Beobachter sind, erkannt und anerkannt wird. Die Beziehungen der Individuen zu der ideellen Wesenheit, die sie denken und wollen – egal ob sie ihre realen oder nur ihre vertretenden Gründer sind – unterscheiden sich jedoch noch in einem weiteren Punkt grundlegend: (1) Die Individuen können die von ihnen real oder ideell geschaffene Korporation als ein Ding betrachten, das um seiner selbst willen, als Zweck in sich existiert, auch wenn es zur gleichen Zeit Mittel für andere Zwecke ist, oder (2) sie können die Korporation als bloßes Werkzeug ansehen, als reines Instrument zur Durchsetzung privater Zwecke, die sie entweder von Natur aus gemein haben, oder die sich zufällig in einem gewissen Punkt überschneiden. Die erste Möglichkeit fällt drastischer aus, wenn die Individuen die soziale Wesenheit als real existierend betrachten und vor allem, wenn sie ihre Korporation als lebendiges Wesen ansehen, denn ein reales Ding und vor allem ein lebendiges Ding hat immer eigene Eigenschaften. Ein lebendiges Ding hat sogar eine Art eigenen Willen, und man darf es sich nicht als beliebig verfügbar, teilbar, anwendbar und anpassbar, als ein Mittel für jeden Zweck vorstellen, wie es unserem Bild von reiner Materie entspräche, wie sie nur in unserer Vorstellung existiert. Ein Ding, das nur über ein nominelles Dasein verfügt, wäre demnach nichts als eine Masse

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solch imaginärer Materie, über die wir frei verfügen können, die keinen Widerstand leistet, die Material ist und somit potentiell all das, was man daraus herstellen, formen oder bauen kann (wirkliche Materie kann und wird dieser Vorstellung natürlich mehr oder weniger entsprechen). Allerdings ist es nicht das gleiche, ob man an ein ideelles Ding als ideelles Ding oder als imaginäre Materie denkt. Hat man jedoch ein bestimmtes Ziel, und verfolgt man bestimmte Absichten, so ist man aufgrund einer psychologischen Notwendigkeit gezwungen, Widerstände zu brechen und Dinge wie auch Willen seinem eigenen Willen zu unterwerfen. Man tendiert dazu, alle Dinge gleichzumachen, als seien sie Wachs in der Hand, und ihre Eigenschaften und Willen zu beseitigen oder zu unterdrücken, um auf diese Weise soweit wie möglich nichts als ein totes, eigenschaftsloses Häufchen Atome zurückzulassen, ein Etwas, von dem imaginäre Materie der Prototyp ist. Dieses auflösende und revolutionäre Prinzip ist natürlich nur als Tendenz immer aktiv, aber diese Aktivität zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens, vor allem in der modernen Gesellschaft, und prägt einen Großteil der Beziehungen, die zwischen Individuen untereinander und auch zwischen Individuen und ihren Korporationen bestehen. Solange die Menschen die Gesellschaft, d. h. ihren Klan oder ihre Polis, ihre Kirche oder ihr Commonwealth als real und als tatsächlich existent betrachten, ja solange sie die Gesellschaft sogar als lebendig ansehen, als mystischen Körper, als übernatürliche Person, solange werden sie sich nicht als ihr Herr und Meister fühlen und wahrscheinlich nicht versuchen, sie als bloßes Werkzeug, als Maschine zur Durchsetzung ihrer Interessen zu benutzen. Sie werden der Gesellschaft eher ehrfürchtig und demütig gegenüberstehen als sie als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen zu betrachten und sich überlegen zu fühlen. Diese Einstellung führt dazu, dass sie sogar vergessen, die Gesellschaft gegründet zu haben (auch wenn sie in der Regel nur die ideellen Gründer sind), sie fühlen und verstehen sich nicht als die Schöpfer, sondern als Geschöpfe ihrer Korporationen. Der gleiche Prozess zeigt sich in der Entwicklung des gewöhnlichen Verhaltens der Menschen ihren Göttern gegenüber, überhaupt steht die genannte Art des Denkens und Fühlens immer in enger Beziehung zu religiösem Denken und Fühlen oder stimmt sogar wesentlich mit ihm überein. Wie die Götter selbst, denen die „cité antique“ mit ihren Tempeln und Heiligtümern so oft gewidmet war, gilt auch die Stadt oder Korporation als übernatürliches, ewiges Wesen, dessen Dasein folglich nicht nur als real, sondern auch als eminent angesehen wird. Alle Gefühle dieser Art führen bis zu einem gewissen Grad natürlich

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leicht dazu, dass die Bildung eines Bewusstseins für individuelle Interessen oder, wie gemeinhin mit einem Unterton moralischen Vorwurfs gesagt wird, die Bildung eines Egoismus gehemmt wird. Tatsächlich sorgen gerade reifendes Bewusstsein und reifendes Denken dafür, dass die Überlegung sich gegen das Gefühl durchsetzt. Diese Reifungsprozesse zeigen sich zum einen in den Gedanken, die die Menschen sich über ihre persönlichen Interessen machen, darin, dass sie Einsatz und Erlös gegeneinander abwägen, zum anderen in ähnlichen Überlegungen bezüglich gemeinsamer Interessen oder Geschäfte, denen sich jemand aus beliebigen Motiven, egoistischer oder nicht egoistischer Natur, widmet, und drittens offenbart sich der genannte Prozess in der objektiven Auseinandersetzung mit der Natur und den Ursachen der Dinge und Ereignisse sowie des Glücks und des sozialen Daseins des Menschen, die wir wissenschaftlich oder philosophisch nennen. Alle Überlegung ist in erster Linie analytisch. Ich habe bereits von dem auflösenden Prinzip gesprochen, das dem Verfolgen eigener Interessen – charakteristischstes Beispiel hierfür ist die Jagd nach Profit – zugrunde liegt. Die Wissenschaft vertritt den gleichen individualistischen Standpunkt, oder zumindest ist das die vorherrschende Tendenz. Es ist der Nominalismus, der die Wissenschaft durchdringt und sich, mit dem Streben nach Eindeutigkeit, Klarheit und mathematischem Denken eng verknüpft, allen unklaren und dunklen Konzeptionen entgegenstellt. Dieser Nominalismus dringt auch in die angenommenen kollektiven Wirklichkeiten (übernatürlich oder nicht) des Menschen ein und erklärt sie für nichtig und irreal, falls individuelle und reale Menschen nicht darin übereingekommen sind, solch ein künstliches Wesen zu schaffen, es zu konstruieren und geistig zu errichten. Wissen und Kritik stellen sich Glauben und Intuition in dieser wie auch in vielerlei anderer Hinsicht entgegen und versuchen, ihren Platz einzunehmen. Zu wissen, wie eine Kirche oder ein Staat geschaffen werden, heißt, den dem menschlichen Gefühl und Intellekt offenbar so naturgegebenen Glauben an ihr übernatürliches Wesen und Dasein zu verlieren. Im Gegensatz und im Widerspruch zu den Gesetzen und Bindungen des Brauchtums wie auch den Gesetzen und Bindungen der Religion, die mit Brauchtum so eng verknüpft ist und sich so homolog zu diesem verhält, ist der Geist der Wissenschaft gleichzeitig der Geist der Freiheit und des individualistischen Durchsetzungsvermögens. Das logische Denken, dem die Gesetze und Bindungen des Brauchtums so unnatürlich und irrational erscheinen, fragt immer: Wofür sind Kirche oder Staat gut? Tragen sie zum Wohlstand derer bei, auf die zu binden oder zu regieren sie einen Anspruch erheben? Ist es vernünftig, dass sich Menschen

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dem Despotismus jener Gesetze und der sie sanktionierenden Überzeugungen unterordnen? Die klassische Antwort auf diese Fragen gab auf überraschende Art und Weise Thomas Hobbes, den Comte den Vater der revolutionären Philosophie nannte. Laut Hobbes gibt es ein Reich der Dunkelheit und des Elends, gegründet auf Aberglauben und falscher Philosophie, dies ist die Kirche, und es gibt oder könnte ein Reich des Lichtes und des Glückes geben, das sich auf das Wissen darum gründet, was richtig und was falsch ist. Angesprochen ist hier die Kenntnis der von der Vernunft und der Erfahrung vorgeschriebenen Naturgesetze, um individuelle feindliche und kriegerische Impulse durch kollektiven Willen und kollektive Stärke kontrollieren zu können. Dieses Reich ist der wahre Staat, d. h. die Idee und das Modell seiner rein rationalen Struktur, gleichgültig ob er schon irgendwo existiert oder nicht. Die Hobbesschen Grundsätze sind das ausgefeilteste und in sich schlüssigste System jener als Naturrecht bekannten Lehre, die seit jeher eine Staatstheorie mit einschloss. Von dieser Lehre hat man beinah vollständig Abstand genommen, insbesondere in Deutschland, wo sie vor allem in dem der Französischen Revolution vorausgehenden Jahrhundert, als sogar Könige und absolutistische Staatsmänner zu ihren offenen Anhängern zählten, von großer Bedeutung war. Nach dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde die Lehre angefochten, und man ließ von ihr ab – eine Tatsache, die in eindeutigem Zusammenhang mit der politischen Reaktion und Restauration steht, welche auf die Stürme der Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons in Europa folgten. Es gibt heutzutage kaum noch eine liberale Schule, die es wagt, sich offen zu der vielverhöhnten Theorie eines Gesellschaftsvertrages zu bekennen. Ich glaube, dass dies in den Vereinigten Staaten etwas anders ist. Soweit ich weiß, ist diese Theorie, d. h. die einer individualistischen Konstruktion der Gesellschaft und des Staates, noch immer die üblicherweise in diesem Land angewandte Methode zur Ableitung der normalen Beziehungen zwischen Staat oder Gesellschaft auf der einen und den Individuen auf der anderen Seite; denn wie keiner weiteren Ausführung bedarf, muss die Annahme eines tatsächlichen Vertrages im historischen Sinne in keiner Weise als grundlegender Bestandteil der Theorie betrachtet werden. Dennoch war die naheliegende Kritik dieses Pseudo‑Bestandteiles das schlagkräftigste Argument gegen die ganze Theorie, die in der letzten Zeit nur selten intelligente und gerechte Wertschätzung erfuhr. Im Gegensatz dazu erfreut sich neben wiederauflebenden theologischen Interpretationen die junge Lehre von der Gesellschaft oder dem Staat als Organismus seit kurzem großen Zuspruchs. Die Ursprünge dieser Lehre reichen

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natürlich weit zurück. Im sogenannten Mittelalter, um die Völker des Altertums ganz beiseite zu lassen, ging sie der Vertragstheorie voraus, die sie in jüngerer Zeit ergänzte. Sie war mit den in jenen Tagen so weithin anerkannten theologischen Vorstellungen und religiösen Idealen verbunden, auch wenn sie nicht von diesen abhing. Die Lehre von Thomas von Aquino oder Dante enthält jedoch eine Theorie des universalen Staates, d. h. des Reichs, nicht eine Theorie der Gesellschaft. Die Konzeption von einer Gesellschaft hatte sich zu der Zeit noch nicht herausgebildet; denn wir können sicher sagen, dass ein Bewusstsein für sie nicht existierte. Dieser traditionelle Organizismus, angewandt auch auf die Kirche, auf diesen mystischen Körper, als dessen Kopf man sich Jesus Christus vorstellte, ist in der letzten Zeit auf die Gesellschaft übertragen worden, nachdem er als politische Lehre an neuer Autorität gewonnen hatte. Die Konzeption von einer Gesellschaft im Unterschied zu politischen oder religiösen Körpern ist jedoch viel vager und unbestimmter. Entweder ist sie unter dem oben beschriebenen biologischen oder psychologischen Aspekt des kollektiven Lebens zu betrachten, in welchem Fall die organizistischen Analogien greifen, die ganze Betrachtung jedoch nicht eigentlich soziologisch ist, oder sie ist soziologisch zu sehen und deutet in diesem Fall weniger als jede andere Korporation auf die Idee dessen hin, was wir Organisation nennen können. Jedermann weiß, dass eine lebendige Kontroverse um die neue organizistische Theorie entbrannt ist, wie sie von Herrn Spencer und anderen vertreten wird, hauptsächlich unter den Soziologen um das Institut International in Paris, wo der kürzlich verstorbene M. Tarde eine so entscheidende Rolle spielte. M. Tarde gehörte zu den führendsten Gegnern der ungenauen Analogien des Organizismus, und ich kann dem Großteil seiner auf dem dritten soziologischen Kongress von 1897 ausgeführten Argumentation nur vorbehaltlos zustimmen. Ich darf sogar mit Stolz von mir behaupten, einige dieser Argumente schon vorher in einer nur der kleinen Leserschaft der Philosophischen Monatshefte (1888) bekannt gewordenen Abhandlung über Spencers soziologische Arbeit dargelegt zu haben. Ich habe dort stärker als M. Tarde besonderes Augenmerk auf den grundlegenden Unterschied gelegt, der zwischen einer physiologischen Arbeitsteilung und der Teilung besteht, die eines der Hauptphänomene der Gesellschaft ist. In der Abhandlung heißt es: Wenn wir es Arbeitsteilung nennen, dass England Baumwollwaren herstellt, in China Tee angebaut wird und beide Länder ihre Erzeugnisse austauschen, dann ging hier keine gemeinsame Arbeit oder gemeinsame Funktion voraus, die dann aufgeteilt wurde, so wie es beim Organismus der Fall ist. Uns ist aus der Geschichte keine

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Gesellschaftsform bekannt, in der China und England ein Ganzes waren und in harmonischem Miteinander am Spinnrad und auf der Teeplantage arbeiteten. Ganz im Gegenteil hat jedes Land seine eigene historische Entwicklung genommen, bis sie sich in dem gemeinsamen Wunsch nach Tauschhandel getroffen haben. Selbst diese Erwägung impliziert, dass die Länder selbst miteinander in Geschäftsbeziehungen stehen und Handel treiben, was jedoch im Hinblick auf ein Land wie China kaum mehr als eine façon de parler ist. Hier kann man einwenden, dass sich leichter eine Analogie herleiten lässt, wenn wir uns einen einfachen Haushalt vorstellen. Dort ist die Arbeit tatsächlich eine gemeinsame, die im Kreis der Angehörigen der Gemeinschaft erledigt wird, während sie in einem späteren Stadium unter mehreren Familien aufgeteilt wird: Die einen bestellen das Land, andere werden Krieger oder Priester, wieder andere sind als Handwerker und Händler tätig. Auf eben diese Weise kann man sich eine Dorfgemeinschaft, ja auch eine unabhängige Stadtgemeinde wie die der altertümlichen oder mittelalterlichen Städte oder gar ein ganzes Gebiet mit einer Stadt als Zentrum durchaus als einen realen Haushalt vorstellen, dessen Einzelhaushalte organische Teile bilden. Sie stünden demnach im Kontrast zur modernen Gesellschaft, welche angemessenerweise eher als ein bloßes Aggregat individueller Haushalte betrachtet wird, wobei jeder einzelne dieser Haushalte seine eigenen Interessen verfolgt, vielleicht auf Kosten aller anderen. Dies ist mein Einwand, und dieser Standpunkt ist in meiner Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft enthalten. Ich spreche hier den Dualismus der in vielerlei Hinsicht heute noch existierenden primitiven ökonomischen Bedingung auf der einen und der kommerziellen oder kapitalistischen Gesellschaft auf der anderen Seite an, deren Keime in jeder Form dessen, was abstrakt Kommunismus genannt werden kann, auffindbar sind. Es ist im Sinne des erstgenannten Aspektes, dass man sogar von der modernen politischen Ökonomie als Nationalökonomie sprechen kann. Aber selbst wenn dies als zulässig gilt, trifft die Analogie zum Organismus doch nur sehr unbestimmt zu. Wo ist der eine „soziale Körper“, der Organe und Glieder entwickelt und zunächst einem einzelnen Haushalt oder einer Dorfgemeinschaft gleicht, später jedoch zu einer komplexen Gesamtheit von Landgütern, Stadtgemeinden und Großstädten heranwächst, von denen einige für den Export, andere für den Inlandsbedarf produzieren? Hat England diese Entwicklung genommen? Oder sind es England und Wales? Oder muss man auch Schottland und sogar das bedauernswerte, eroberte Irland mit einschließen? Je mehr wir den bewundernswerten in dieser Richtung von Spencer

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unternommenen Versuch verfolgen, den organizistischen Standpunkt als Arbeitshypothese einzusetzen, desto mehr gewinnen wir die Überzeugung, dass der wahre Einblick in die Bahnen, in denen die soziale Evolution verläuft, durch diese Methode der biologischen Analogien eher gehindert als gefördert wird.

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III Aber habe ich nicht gesagt, dass die biologische Konzeption des sozialen Lebens wahre Ansätze enthält? Allerdings habe ich das getan und sage es noch einmal, falls wir von einer Gruppe als lebendem Ganzen sprechen, wo „Leben“ in seinem wahren Sinn verstanden wird, nämlich biologisch. Von diesem Standpunkt aus können wir, da der berühmte Begriff „physiologische Arbeitsteilung“ aus dem ökonomischen Zusammenhang entliehen wird, umgekehrt physiologische Begriffe auf das von außen betrachtete soziale Leben anwenden. Wir können im Bezug auf eine Nation oder Gesellschaft oder sogar im Bezug auf die Menschheit im ganzen von Organen und Funktionen sprechen. Im metaphorischen Sinne können wir die zivilisierten Nationen das „Gehirn“ der Menschheit nennen und z. B. sagen, dass sich die Vereinigten Staaten innerhalb der letzten vierzig Jahre zu einer unabhängigen Region der Hirnrinde entwickelt haben. Wenn ich mich nicht täusche, sprach erst kürzlich der Präsident der Vereinigten Staaten von den Eisenbahnlinien als den Arterien, durch die das Blut des Handels zirkuliert. Die Anschaulichkeit dieser Metapher wird nicht dadurch gemindert, dass verschiedene Theoretiker sich in mehr als übertragenem Sinne auf Geld oder Guthaben als auf die soziale Flüssigkeit bezogen haben, in die alle Waren gewechselt werden und die wiederum das soziale Gehirn und die sozialen Muskeln nährt, d. h. die geistige und körperliche Arbeit verrichtenden Frauen und Männer – infolge dieser Analogie würden die Banken mit ihrem Austausch von Briefen, Rechnungen und Schecks eher Arterien und Venen ähneln als die Eisenbahnen. Es wäre natürlich ein leichtes, weitere Vergleiche dieser Art anzubringen, die soziologische Untersuchungen wie diese als Gegenstand der Rhetorik und der Dichtung erscheinen ließen, nicht jedoch der Wissenschaft. Enthält nicht wenigstens der Vergleich von einer Korporation und einem lebendigen Körper in anderer, in philosophischer Hinsicht einen wahren Ansatz? Dem jetzigen Standpunkt entsprechend kann das überhaupt nur dann der Fall sein, wenn eine Korporation als organisches Ganzes gedacht und empfunden wird, von dem sich die Angehörigen derart für abhän-

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gig halten, dass sie ihre individuelle Existenz als dem Leben des Ganzen unterworfen betrachten. Die Frage, ob eine Gesellschaft tatsächlich ein Organismus ist, muss von der Frage getrennt werden, ob es Gesellschaften gibt, deren Beziehungen zu ihren Angehörigen dergestalt sind, dass sie auf solche Gedanken und Gefühle bei den Angehörigen schließen lassen. Wir sind uns durchaus bewusst, dass soziale Systeme, die von einigen herausragenden Autoren „Urgesellschaften“ („ancient societies“) genannt worden sind, dieses charakteristische Merkmal tatsächlich aufwiesen. Warum ist dann nicht die moderne Gesellschaft und vor allem der moderne Staat in diesem besonderen Sinne ein Organismus? Ich glaube in der Tat, dass es guten Grund gibt, der Theorie zu widersprechen, wenn sie auf die oben genannten kollektiven Wesen, wie sie sich heute darbieten, angewendet wird. Wie jedermann weiß, leben wir in einem individualistischen Zeitalter und suchen die Gesellschaft des anderen nur um des Vorteils willen, der uns daraus entsteht, d. h. wir handeln dabei in vergleichsweise geringem Maße aus gefühlsbedingten Gründen und in relativ hohem Maße aus bewusster Überlegung heraus. Das ist es, was uns auch den Staat als geeignetes Instrument dafür betrachten lässt, unsere persönlichen Interessen oder die Interessen durchzusetzen, die wir mit einigen oder mit allen unserer Mitbürger teilen, – mehr als Organismus, der ideell vor uns existierte, der sein eigenes Leben lebt und einen Anspruch darauf hat, dass wir ihm zu seinem Wohl unser Leben und unser Eigentum opfern. Es stimmt, dass wir in außergewöhnlichen Zeiten dieser Anschauung entsprechend handeln, aber dann sprechen wir weniger von Gesellschaft und von Staat als vielmehr von der Vaterschaft der Gesellschaft und des Staates, die das fordert, was wir unseren Patriotismus nennen. In den Augenblicken öffentlicher Gefahr sprudelt vom Grunde unserer Seele ein Gefühl der Brüderlichkeit und Kameradschaft empor, das in normalen Zeiten unter Landsleuten so betrüblich selten ist wie unter Fremden. Dieses Gefühl, das muß hier klargestellt werden, gleicht eher einer Gefühlsregung als einer langlebigen, bleibenden Empfindung. Man darf nicht davon ausgehen, daß unsere normalen Beziehungen zu unseren gegenwärtigen Gesellschaften und Staaten diesen außergewöhnlichen Maßstäben entsprächen. Sie sind eher ruhiger und berechnender Natur, so sehr die Menschen auch mit ihrem Patriotismus prahlen mögen. Wir betrachten den Staat, so wie er von der Regierung vertreten wird, als eine Person, die mit uns eher in einem vertraglichen denn in einem gefühlsmäßigen Verhältnis steht. Diese Sichtweise ist in verschiedenen Ländern, unter verschiedenen Umständen und unter der Beteiligung verschiedener Individuen sicherlich

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in unterschiedlichem Maße entwickelt. Es ist jedoch die Sichtweise, die von den fortgeschrittendsten und bewusstesten Angehörigen der modernen Gesellschaften vertreten wird, von jenen mächtigen Individuen, die sich als Herren ihrer sozialen Beziehungen empfinden. Gesellschaften und Staaten sind in erster Linie Einrichtungen zum friedlichem Erwerb und zum Schutz von Eigentum. Wir müssen daher die Besitzenden betrachten, wenn wir die vorherrschenden und immer umfassenderen Konzeptionen von Gesellschaft und Staat erforschen wollen. Nun, es besteht kein Zweifel daran, dass sie weder die Gesellschaft noch den Staat als Vertreter jener frühen Gemeinschaft ansehen, die stets als ursprüngliche Eigentümerin des Bodens und aller Bodenschätze betrachtet wurde, denn das würde bedeuten, dass ihr Privateigentum nur auf einem abgeleiteten Recht beruhte – abgeleitet vom Recht und Gesetz des öffentlichen Eigentums. Sie denken und glauben jedoch genau das Gegenteil: Der Staat hat nur durch ihre Erlaubnis und Beiträge einen abgeleiteten Anspruch auf Eigentum, er soll als ihr Beauftragter handeln. Genau diese Sichtweise entspricht den Tatsachen. Der moderne Staat (es sind in keiner Weise immer die jüngsten Staaten, die die charakteristischsten Vertreter des modernen Typus sind) hat nur wenig oder gar keine Macht über das Eigentum. Wie schon bei früheren Gelegenheiten kann ich auch hier nicht umhin, einige Sätze des herausragenden amerikanischen Soziologen Lewis Morgan zu zitieren, in denen er seine Überlegungen zur modernen im Gegensatz zur „Urgesellschaft“ („ancient society“) zusammenfasst: „Seit dem Eintritt der Zivilisation ist das Wachsthum des Reichthums so ungeheuer geworden, seine Formen so verschiedenartig, seine Anwendung so umfassend, und seine Verwaltung so geschickt im Interesse der Eigenthümer, daß dieser Reichthum, dem Volk gegenüber, eine nicht zu bewältigende Macht geworden ist. Der Menschengeist steht rathlos und gebannt da vor seiner eigenen Schöpfung.“ Morgan hält es für wahr, dass „die Zeit kommen (wird), wo die menschliche Vernunft erstarken wird zur Herrschaft über den Reichthum, wo sie feststellen wird sowohl das Verhältniß des Staates zu dem Eigenthum, das er schützt, wie die Grenzen der Rechte der Eigenthümer“. Der Autor lehnt damit ab zu akzeptieren, dass die reine Anhäufung von Eigentum („mere property career“) das endgültige Schicksal der Menschheit sei. Auch wenn dieser Ausblick in eine ferne Zukunft meines Wissens verfasst wurde, bevor die ersten großen Trusts gegründet wurden und bevor

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irgendjemand in diesen Staaten die von der großen Macht geballten Kapitals ausgehende Gefahr zu erkennen schien, berührt er die hier behandelte Frage nicht unmittelbar. Es ist das aktuelle und reale Verhältnis zwischen Staat und Individuen, das am deutlichsten in dem Mangel an Macht über Eigentum zum Ausdruck kommt (um mit Morgan zu sprechen) oder mit anderen Worten in der unterwürfigen Position, die die Regierungen in nahezu allen Ländern gegenüber den besitzenden Klassen innehaben. Ich sage nicht, dass dies anders sein sollte, selbst wenn ich das vielleicht denke, „je ne propose rien, j‘expose“. Ich spreche diesen Punkt ausschließlich als theoretische Frage an. Ich bin jedoch nicht bereit zu leugnen, dass hierin auch das große praktische Problem der gesellschaftlichen Struktur liegt, d. h. darin, den Staat auf einem neuen, breiteren Fundament neu zu errichten, ihn durch gemeinsame und natürliche Anstrengung zu einem realen und unabhängigen Wesen zu machen, zu einem Zweck in sich, einem gemeinsamen Vermögen, das nicht so sehr zum Wohle einer Minderheit oder Mehrheit oder auch zum Wohle aller Bürger verwaltet wird als vielmehr im Interesse seiner eigenen, immerwährenden Belange, die die Belange einer unendlichen Zahl von zukünftigen Generationen – die Belange der Rasse – mit einschließen sollten. Es ist nicht zu übersehen, dass zur Zeit einige Bemühungen in diese Richtung tendieren, aber ich glaube, dass sie zum Teil mehr Schein als Wirklichkeit sind. Wir sollten zugeben, dass es sich um ein sehr schwerwiegendes Problem handelt. Ich für meinen Teil bin mir absolut nicht sicher, ob unsere großartige Konstitution ihre Schwierigkeiten überwinden wird und ob, selbst wenn die Intelligenz in ausreichendem Maße zunimmt, genügend moralische Kraft vorhanden sein wird, um auf wahrhaft rationale Art und Weise die soziale Frage als eine Frage der sozialen Struktur zu lösen. Ich möchte die Aussage an dieser Stelle noch einmal in einigen Thesen zusammenfassen: (1) Der Gegenstand der eigentlichen soziologischen Theorie im Gegensatz zur biologischen oder psychologischen, auch wenn diese niemals so eng damit verbundenen sein werden, ist die in den meisten Fällen von einem konstituierten Körper vertretene Korporation. (2) Religiöser Glaube lässt einige der wichtigsten Korporationen als reale, organische, mystische und sogar übernatürliche Wesen erscheinen. Philosophische Kritik tut recht daran, aufzudecken und zu erklären, daß es sich bei allen um Schöpfungen des Menschen handelt und dass sie nur insoweit existieren, als daß menschlicher Intellekt und menschlicher Wille in ihnen verkörpert sind.

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(3) Die wissenschaftliche Philosophie geht jedoch über den Nominalismus hinaus. Das Dasein einer Korporation ist zwar fiktiv, aber dennoch manchmal mehr als nominell. Das entscheidende Kriterium ist, ob die Korporation als reines Werkzeug oder reine Maschine ohne eigenes Leben betrachtet und empfunden wird oder als etwas Organisches, das seinen kommenden und gehenden Angehörigen überlegen ist. Die wahre Natur dieser Konzeption lässt sich nur von den Tatsachen ablesen. (4) Tatsächlich liegt es meistens in der Natur einer modernen Gesellschaft oder eines modernen Staates, einer individualistischen und nominalistischen Konzeption und einem ebensolchen Standpunkt zu entsprechen. Dies zeigt sich deutlich in dem Verhältnis von öffentlicher Macht und privatem Eigentum. (5) Dieses Verhältnis und das davon abhängende kann sich im Laufe der Zeit wesentlich verändern. Ein organisches Commonwealth kann entstehen, das zwar nicht durch eine religiöse Idee sanktioniert wird und keine übernatürliche Würde für sich in Anspruch nimmt, aber doch als Produkt menschlicher Vernunft und bewusssten Willens in höherem Sinne für real erachtet werden kann als diese Produkte, solange sie als reine, den Interessen und Zielen der privaten Individuen dienende Instrumente betrachtet werden. Schiller als Zeitbürger (Tönnies 1905h, hier S. 295–298) Bei dem Text „Schiller als Zeitbürger“ handelt es sich im Prinzip um eine Selbstanzeige und Kurzzusammenfassung der Monographie „Schiller als Zeitbürger und Politiker“. Im Text wird zugleich Bezug genommen auf den kurz zuvor in derselben Wochenschrift erschienenen Essay „Schiller und der Genius seiner Zeit“. Bei diesem handelt es sich um die geringfügig gekürzte Einleitung der erwähnten Monographie. Die zahlreichen Druckfehler, die der Essay „Schiller und der Genius seiner Zeit“ enthält, sind in einer Anmerkung, die dem späteren Aufsatz „Schiller als Zeitbürger“ beigefügt ist, berichtigt. Sie lautet: Anmerkung zu dem Aufsatz in Nr. 15. In dem Motto ist statt „Herrscher“ „Hausvater“ zu lesen. Im 3. Absatz, Zeile 7, sollen die Anführungszeichen fehlen. Im 4. Absatze, Zeile 4: statt „in Gegnerschaft“ „der Gegnerschaft“; daselbst Zeile 9: statt „an ihr“ „vor ihr“; daselbst Zeile 19: statt „wirtschaftlichen“ „wissenschaftlichen“; Zeile 21: statt „war“ „wird“; Zeile 24: statt „eine Vernunft“ „jene Vernunft“.

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Schiller und das Verbrecherproblem (Tönnies 1905u, hier S. 299–316) 1905 erschien in der Zeitschrift „Deutschland“ ein 27 Seiten umfassender Essay mit dem Titel „Schiller und das Verbrecherproblem“. Als gemeinsame Autoren sind „Ferdinand Tönnies und Wilhelm Schlüter“ ausgewiesen. Der Artikel zerfällt in zwei Teile. Der erste, mit „I.“ bezeichnet und von Wilhelm Schlüter verfasst, geht von Seite 164 bis 178, der zweite, mit „II.“ überschrieben und aus der Feder von Ferdinand Tönnies stammend, umfasst die Seiten 178 bis 190. Da Wilhelm Schlüter sich mit der in dieser Abhandlung behandelten Thematik sonst nicht beschäftigt hat, ist davon auszugehen, dass der von ihm zu verantwortende Teil des Essays im wesentlichen Gedankengänge des Ferdinand Tönnies paraphrasiert, die dieser in langen gemeinsamen Gesprächen entwickelt hat. Zwei Gründe sprechen für eine solche (starke) Vermutung. Zum einen hat Tönnies sich ein Leben lang mit dem „Verbrecherproblem“ sowohl aus soziologischer und kriminologischer Sicht beschäftigt als auch, insbesondere im Schillerjahr 1905, immer wieder Bezüge hergestellt zwischen dieser Thematik und dem Leben und Werk Friedrich Schillers. Zum anderen weist Wilhelm Schlüter selbst darauf hin, dass er sowohl „das Thema dieser Betrachtungen“ als auch „die entscheidenden Orientierungen“ Herrn Professor Tönnies verdanke. Er „habe nur in der Form der Anordnung, in der Herausstellung des Gemeinsamen im Forschungsplan der drei ersten Dramen und des Zusammenhanges des Schillerschen Determinismus mit den Schicksalsdramen Eigenes hinzugetan“ (Tönnies/Schlüter 1905: 164). Aus diesem Grund und weil die Schlütersche Abhandlung zugleich eine Hinführung zum zweiten Teil darstellt, hat sich eine Wiedergabe der zentralen Passagen seines Textes an dieser Stelle empfohlen. Friedrich Wilhelm Martin Schlüter (1873–1935), der sich als Schriftsteller, sofern er nicht die Pseudonyme „Pico“ oder „Samitasa“ bevorzugte, stets nur Willy Schlüter nannte, war längere Zeit sowohl Schüler als auch Gehilfe und Sekretär des Kieler Privatdozenten Tönnies: „Das neue Jahrhundert führte mich nach Eutin, wo ich Haus und Garten erwarb (...). Als Amanuensis war mir hier mehrere Jahre lang Willy Schlüter ein treuer Gefährte“ (Tönnies 1922: 221a). Schlüter schreibt später: „1903 wurde ich Privatsekretär des Soziologen Professor Dr. Ferdinand Tönnies, damals wohnhaft in Eutin“ (vgl. Weißleder 1923: 100). Bestätigt wird dies durch einen Brief, den Tönnies am 9. 11. 1903 an Friedrich Paulsen richtet: „Ich arbeite mit Eifer und mit Hilfe eines Amanuensis, des Schriftstellers W. Schlüter, der

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sich hier in Eutin angesiedelt hat, an der Förderung meiner ‚Verbrechen‘. Außerdem freilich an diversem anderen Kram“ (Klose u. a. 1961: 372). In Eutin hatte Tönnies seine „Verbrecherstudien“ wieder aufgenommen, die er in der Hamburger Zeit hatte unterbrechen müssen (Tönnies 1922a: 220). Das Leben und Werk Wilhelm Schlüters, dieses Abenteurers des Geistes, Metaphysikers, Musikers und Propheten wird eindringlich beschrieben in dem sorgfältig recherchierten und materialreichen Aufsatz von Christoph Knüppel (1998 f.): Vom Anarchisten zum deutschen Tatdenker. Der Lebensweg Willy Schlüters und seine Freundschaft mit Ferdinand Tönnies. Schlüter vertritt und begründet zu Beginn seines Beitrages über „Schiller und das Verbrecherproblem“ die Auffassung, dass es notwendig sei, eine bislang verkannte Seite im Schaffen Schillers deutlicher hervorzuheben: das Interesse des Dichters an „den rätselvollen Erscheinungen der Verbrechen und jener Leidenschaften, die in ihrem Überschwange das Pathologische und Kriminelle streifen“, „Ausschnitte der Menschenwelt“, die Schillers Geist beschäftigt und den Arzt in ihm nicht unberührt gelassen haben. Nicht nur als Dramatiker, sondern als Philosoph, als Forscher, als Denker sei Schiller sowohl dem sozialen Ursprung als auch der Naturbedingtheit der Seelenprozesse bis auf die Wurzeln nachgegangen und dabei zu Gesichtspunkten gelangt, „die heute in der Zeit der Soziologie und Statistik noch der Beachtung wert sind“ (Tönnies/Schlüter 105: 164 f.). Er schreibt: „Verfolgen wir zunächst die ersten wissenschaftlichen Versuche des Dichters. Von diesen spürte schon die leider nur unvollendet auf uns gekommene, vom Herzoge Karl und seinen Beratern nicht als druckreif angesehene ‚Philosophie der Physiologie‘ dem Zusammenhange zwischen Leib und Seele nach. Und zwar geschah es mit dem ganzen Eifer der Hoffnung, ‚Entdeckungen machen zu können, die seinen Vorgängern entschlüpft wären, oder daß es ihm gelingen würde, die in so großer Menge zerstreuten Einzelheiten auf wenige allgemeine Resultate zurückzuführen‘ (Streicher, Schillers Flucht. S. 17/18). Besonders die letzte Hoffnung ist für den wissenschaftlichen Zug in Schillers Geiste bezeichnend. Zwar verliert er sich in seinem ersten Versuche zuletzt ganz in bodenlose Metaphysik. Doch eben – und dies liegt in der Richtung unseres Themas – um die deterministischen Konsequenzen der ihm in erster Linie durch Garves Ferguson-Übersetzung vermittelten Assoziationspsychologie zu überwinden. Das Problem des Ursprungs des Verbrechens ist hier zwar nicht direkt berührt, aber doch insoweit angebahnt, als die Ursachen verfolgt werden, die ‚den Weisesten zum lächterlichsten Toren, den Denker zum Einfaltspinsel, den Sanftmütigsten zu einer Furie umkehren‘.“ (ebd.: 165).

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Schlüter befindet sich hier völlig in Übereinstimmung mit Tönnies, der in seinen Studien zu Schiller von zwei bzw. drei ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien bzw. „Richtungen“ im Schaffen des Dichters ausgeht. Schlüter spricht in seinem Essay denn auch alsbald von „einem ganz anderen Schiller“, der uns mit der zweiten Fassung seiner Dissertation entgegentrete: „In ein intimeres Verhältnis zu diesem Phänomen trat Schiller in seiner erfolgreicheren Dissertation ‚Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen‘. Man spürt hier förmlich den Ruck seines Denkens, dessen Erstarkung mit einer steigenden Hebung seines ganzen Wesens Hand in Hand ging, deren erste Spuren zwar schon in das Jahr 1777 fallen, wo er das kraftvolle Gedicht ‚der Eroberer‘ abfaßte. Ein ganz anderer Schiller tritt aber nun vor uns hin. Der Schwung seines Denkens kehrt sich nun auch gegen die Träumereien seiner eigenen Metaphysik: er blickt den Lebensgesetzen ohne Scheu ins Angesicht. Man kann über die Ursachen dieser Wandlung nur mutmaßen und ahnen. Ob ihm Rousseau den neuen Anstoß gab? Oder riß ihn das Bekanntwerden mit den Helden Plutarchs so gewaltig empor? Wir wissen nicht, wann zuerst und wieweit Rousseau auf Schiller gewirkt hat. Daß schon der Karlsschüler ihn kennen lernte, steht allerdings fest. Auch bemerkt Minor mit Recht: ‚Rousseau beherrschte seine Zeit so mächtig, daß sich auch die Gegner seinem Bann nicht entziehen konnten und selbst diejenigen, welche seine Schriften nicht gelesen hatten, seine Gedanken mit der Luft und der geistigen Nahrung alltäglich in sich aufnahmen.‘ – Um den Gestalten Plutarchs eine eindrucksvolle Wirkung zu geben, war Schillers Lehrer Drück gerade der rechte Mann. Seine Schilderungen verrieten eine tief persönliche Anteilnahme, und er war, ohne ein Hehl daraus zu machen, von den politischen Idealen der Griechen und Römer beseelt. Der Hauch also, der die Heroen der Renaissance erweckte, umschwebte seine Worte. Und seine Zuhörer fühlten sich in Fesseln geschlagen und waren jung! So finden wir den Plutarch in den Händen Karl Moors, wie denn auch Schiller, als er die Akademie verließ, gleich diesen Charakterologen sich anschaffte, so teuer auch die Übersetzung, die er erlangen konnte (von Schirach, Leipzig 1776–79, 7 Bände) war. Für unsere Betrachtung fällt es auch ins Gewicht, daß, wie Boas mitteilt, Schiller Plutarch gerade darum zum Liebling erkoren hat, ‚weil er ihm hohe Charaktere zeigte und die innersten Triebfedern ihrer Handlungen enthüllte.‘ Auch der ‚erhabene Verbrecher‘ – dessen Idee Schiller bald so lebhaft beschäftigte und zuerst in Karl Moor sich ihm verkörperte, fehlt unter den Plutarchschen Gestalten nicht“ (ebd.: 166).

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Schlüter weist darauf hin und hebt hervor, dass Schiller, ganz im Gegensatz zu Goethe, der eher den Makrokosmos und das Menschenherz im Blick hatte, sich, gleichsam soziologisch und psychologisch, an den empirischen Fakten des Mikrokosmos orientierte, an medizinischen ebenso wie an historischen. Eben darin würden sich „Goetheblick“ und „Schillerblick“ unterscheiden: „Der Einfluß des großen Moralphilosophen und Chäronea ging unter allen Umständen tief. Und Plutarch und Rousseau zusammengenommen – das ist fürwahr des Zündstoffs genug für eine geistige Revolution. Doch wirkten auch noch andere Faktoren zur strafferen Geisteshaltung mit. So ohne Zweifel auch der Umstand , daß er seinen in Selbstmordgelüsten dahinsiechenden Kollegen Grammont ärztlich zu beobachten hatte. Die Verpflichtung zu wissenschaftlicher Kritik vor einem ‚Hypochondristen‘, wie der Dichter den jungen Eleven im ersten Rapport charakterisierte, vor einem ‚bedauernswürdigen Opfer der genauen Sympathie zwischen dem Unterleib und der Seele‘: das war keine schlechte Schule für die Schärfung des Urteils. Und dann darf man hier auch den allbeliebten Lehrer Abel wohl nicht vergessen. Er hielt sich viel auf dem Grenzgebiet zwischen Psychologie und Physiologie auf – wie überhaupt die Popularphilosophie der Zeit – und wußte daher seinen Schülern manches zu erzählen, was, wenn zunächst vielleicht noch nicht genügend gewürdigt, doch mit der Zeit, still nachwirkend den wissenschaftlichen Sinn nachhaltig vertiefen mußte. So als Beispiel einer irre geleiteten Kraft sowohl als auch einer pathologischen Erscheinung die Geschichte des schwäbischen Räubers Schwan, den sein Vater als Amtmann mit gefangen genommen hatte und das Schicksal der zweiten Frau dieses Räubers (siehe Minor. Schiller I S. 204/5.) Da er zur Erklärung solcher Fälle auch den Zustand des Gehirns herbeizog, so rückte, wie wir auch von anderen Zöglingen der Karlsschule wissen, die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele schon durch seinen Einfluß in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Denkens. (...)“ (ebd.: 166 f.). „Schillers eigene Schrift – sie mag nun ihre kräftigsten Impulse von welcher Seite immer empfangen haben – hebt sich vor allem dadurch hervor, daß sie mit besonderer Energie sich der Erscheinung des Verbrechens zuwendet. Der übermütige junge Philosoph kann es sich nicht versagen, mit feiner Ironie seine eigenen, noch nicht erschienenen Räuber unter der Flagge ‚Life of Moor. Tragedy by Krake‘ zu zitieren. Die Gewissenskämpfe eines Verbrechers scheinen ihm die beste Beleuchtung für die Wirkung geistiger Schmerzen zu gewähren. Doch hierbei bleibt er nicht stehn. ‚Zerrüttungen im Körper‘ so wagt er zu behaupten, ‚können auch das ganze System der

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moralischen Empfindungen in Unordnung bringen, und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen. Ein durch Wollüste ruinierter Mensch wird leichter zu Extremis gebracht werden können, als der, der seinen Körper gesund erhält. Dies eben ist ein abscheulicher Kunstgriff derer, die die Jugend verderben, und jener Banditenwerber (nämlich Spiegelberg; d. Hg.) muß den Menschen genau gekannt haben, wenn er sagt: Man muß Leib und Seele verderben. Katilina war ein Wollüstling, ehe er ein Mordbrenner wurde, und Doria hatte sich gewaltig geirrt, wenn er den wollüstigen Fiesko nicht fürchten zu dürfen glaubte. Überhaupt beobachtet man, daß die Bösartigkeit der Seele gar oft in kranken Körpern wohnt‘ (§ 19). Hier spürt man den echten Schiller der Räuber, die mit und aus dieser Dissertation erwuchsen, den Philosophen, der ein Recht hat, sich solidarisch mit Rousseau zu fühlen, eins auch mit Spinoza, dem ‚umgerissenen Eichbaum‘, wie er ihn nennt, der in die vulkanischen Eruptionen, die Blitze und Stürme der Leidenschaften fest hineinschaut und den eiskaltesten Berechnungen der verruchtesten Bosheit mit der Unbefangenheit des wissenschaftlichen Interesses nachgeht“ (ebd.: 167 f.). In Fortsetzung seiner Überlegungen konzentriert sich Schlüter nunmehr auf die Dramen Schillers und hierbei insbesondere auf die „Räuber“, den „Fiesko“ und „Kabale und Liebe“: „Wie kräftig dann der Philosoph des Verbrechens in ihm, dem so gigantisch angelegten Geisteshelden, bei der Abfassung der ‚Räuber‘, mit denen wir jetzt das Gebiet des Dramas betreten, beteiligt war, geht schon aus den Vorreden zu diesem einzig dastehenden Werke hervor. Das ist ein ganz neuer Zug, der in diesen Vorreden hervortritt, ein – man könnte sagen, ‚vivisektorischer‘ Blick für die Psychologie des Verbrechens, dem es als das ‚große Vorrecht‘ der dramatischen ‚Methode‘ (1. Vorrede ‚Manier’) erscheint, mit Forschersinn ‚die Seele gleichsam bei ihren verstohlensten Operationen zu ertappen‘. Es ist, als betrachte er das Drama als ein wissenschaftliches Instrument, als eine Kombination von Veranschaulichungssynthesen, die gerade, weil ihnen die Konzentration der Kunst sich zugesellt, die Triebe bis in ihre letzten Verzweigungen erhellen. So wird in der zweiten Vorrede von der ‚vollständigen Mechanik‘ des ‚Lastersystems‘ des ‚Mißmenschen‘ Franz gesprochen, von den ‚vielleicht tausend Räderchen‘, von denen die drei ‚außerordentlichen Menschen‘ seines Dramas abhängen, die alle drei Verbrecher sind. Vergegenwärtigen wir uns nur kurz diese drei Gestalten! Mit Karl, dem Anarchisten des revolutionären Ingrimms, tut der soziale Hintergrund des ‚Weltstandes‘, der in den ‚Räubern‘ aufgedeckt wird,

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sich vor uns auf. Dies sollte nach Dalbergs sehr begreiflichem Wunsche die Zeit sein, wo ‚der ewige Landfriede errichtet ward‘. Doch das Drama sprach eine zu deutliche Sprache, und keinem entging es, gegen wen sein Freiheitspathos gerichtet war. War doch die Fabel des Stückes in wesentlichen Zügen einer Schubart zugeschriebenen Erzählung entnommen, die 1775 in Haugs schwäbischem Magazin zu lesen war und die ganz ausdrücklich es den Deutschen der Gegenwart zur Ehre anschrieb, daß ‚Leute von Leidenschaft‘, wie sie dargestellt wurden, auch unter ihnen möglich seien. Und eben in dieser Einleitung heißt es auch, daß für die rechte Darstellung von ‚Charakteren‘ – ‚ein wenig mehr Freiheit erfordert‘ werde, ‚als wir arme Teutsche haben, wo jeder treffende Zug, der der Feder eines offenen Kopfes entwischt, uns den Weg unter die Gesellschaft der Züchtlinge eröffnen kann‘. So repräsentiert denn Karl den Protest gegen die ‚maschinenmäßige Bewegung‘, von der gleichfalls in der Schubartschen Geschichte die Rede ist, gegen die entmännlichende, weil jeden Blutstropfen kontrollierende Zivilisation mit ihrer alles Natürliche verkehrenden, durch Heuchelei, Servilismus, Weichlichkeit und Trägheit gestützten Ungerechtigkeit. Sowohl der Heroismus also des Überschäumens der Leidenschaften als die Ethik eines höheren Rechtsbegriffes kämpfen in ihm gegen die Weltordnung an. Richard Weltrich stellt daher in seinem Schillerbuche die Hypothese von den zwei Stadien in der Erfindung der Räuber auf. In der ersten spiele der ‚verlorene und wiedergefundene Sohn‘, also der Heros der Leidenschaftlichkeit die Hauptrolle. Im zweiten werde das Schwergewicht des Stückes ‚vom Psychologischen ins Soziale verlegt. Entscheidend ist es, daß beide Rollen den sympathischen Verbrecher erzeugten. Der Mephistopheles dieses Faust des Aufruhrs, allerdings kein helfender, zur Erziehung mitwirkender, ist das ‚kalte schleichende Reptil‘, sein Bruder Franz. Physisch und ästhetisch zu kurz gekommen, mit ganz anderen Waffen ausgerüstet als der ‚wilde, kühne Eber‘ Richard III. Shakespeares, an den allerdings doch auch wieder manches in seinem Wesen erinnert, erklärt er als der erste, wirklich philosophische Bösewicht, ein Lamettrie der Praxis, der sittlichen Weltordnung, ja den Naturinstinkten selber den Krieg. In ihm wird das bohrende Grübeln des Wissenschaftlers in Schiller Anschauung, Leben, Person. In der bekannten Selbstrezension im ‚Württembergischen Repertorium‘ spricht der Dichter dieser dämonischsten aller seiner Gestalten die Existenzmöglichkeit selber ab. Doch kann er ihr die Konsequenz der Logik nicht nehmen. Er muß diesem Charakter Übereinstimmung mit sich selbst zuerkennen, als ‚eigenes Universum‘ ihn gelten lassen, wenn er ihn auch ‚vielleicht‘ in einem ‚Trabanten der Hölle‘ einquartieren möchte.

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Er würde allerdings nicht nur als düsteres Phantasiegemälde, sondern, wie schon Boas konstatierte, als Träger der Mitgift eben einer ‚furchtbaren Ernte aus Schillers psychologischen und anatomischen Studien‘ dorthin fahren (Schillers Jugendjahre von Eduard Boas. Herausgegeben von Wendelin von Malzahn I S. 200). Genau wie der Dritte im Bunde, der gleichfalls in der Dissertation vertretene Banditenwerber Spiegelberg, der selbstgefällige, aber zu seinem Zwecke aufs feinste orientierte, nicht minder einen ganz neuen Typus verkörpernde Psychologe der Genesis der Gaunerei“ (ebd.: 168 ff.). Schlüter macht nun im folgenden auf die gleichsam soziologischen und kriminologischen Aspekte des Inhalts (im Gegensatz zu den literarischen bzw. künstlerischen der Form) in Schillers Dramen aufmerksam und darauf, dass es bei Schiller zu Typisierungen komme, in denen sich, zeit- und ortsbezogen, gesellschaftliche Zustände verdichten. Schiller nähert sich hier einer Soziologie an, die Typik nicht mit Repräsentativität verwechselt. In der individuellen Bühnenfigur bringt er das Allgemeine zum Vorschein, verdichtet in ihr den Zustand der Zeit. Unwillkürlich ist man geneigt, an die sechste Feuerbach-These zu denken: das einzelne Individuum sei das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Kein Sozialkritiker hätte sich lehrreichere Konstruktionen erdenken können. In dem Ringen dieser leidenschaftlichen Gestalten lag eine Optik, die grelles Licht in alle Tiefen des damaligen Gesellschaftslebens warf. Einen Dramatiker dieses Schlages nennt Hebbel einen ‚Henker‘. Und ein Bewußtsein davon, welche unangenehme Funktion er ausübte, trug auch der Dichter in sich. Die Vorreden haben bekanntlich keinen anderen Zweck, als gleichsam Entschuldigungsgründe dafür vorzubringen, daß die Geschichte dieser Charaktere dramatisch abgehandelt worden ist. ‚Ich schreibe einen dramatischen Roman,‘ so heißt es, ‚und kein theatralisches Drama.‘ Der Dichter selbst will es in der zweiten Vorrede mißraten haben, ‚dieses Schauspiel auf die Bühne zu wagen.‘ Es war das erste Beispiel eines Kunstwerks, das seine wuchtigsten Motive einer revolutionären Wissenschaft entnahm. Auf diesen Motiven liegt sogar in den ‚Räubern‘ zuviel vom Schwergewicht. Die anderen Elemente kommen aus künstlerischen Gesichtspunkten zu kurz. Die Beobachtungen über das Verbrechen – man vergegenwärtige sich nur Franzens grüblerische Monologe und die Kunstgriffe Spiegelbergs in der dritten Szene des zweiten Akts, die Bemerkungen über die Besucher der Kaffeehäuser, Bordelle, Wirtshäuser, über die Wirkungen der Wollust, Spielsucht, der wirtschaftlichen Verschuldung und alles das, was die Erscheinungen des Verbrechens veranschaulicht und motiviert, bis auf den Anlauf zur Vererbungstheorie im Hermann, dem Bastard, der ‚zwischen dem Rindfleisch

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und Meerrettich‘ erzeugt sein sollte – die ganze Fülle also des Kriminologischen trägt einen unvergleichlichen viel realistischeren Charakter als alle Schilderungen sonstiger Verhältnisse. Minor bewundert, ‚wie meisterhaft‘ Schiller die Charaktere der Räuber ‚zu einem Ganzen zusammenzuschließen verstanden‘, wie uns von Moor bis zu Spiegelberg hinunter alle Schattierungen, schrittmäßig abgestuft, begegnen. ‚Dem Hauptmann am nächsten in treuer Hingabe unterwürfig, steht Roller, welcher Moor zum Anführer für die Bande gewonnen hat. Schwerfälliger und weniger vornehm gehalten, aber nicht weniger treu folgt dann der derbe, biedere Schweizer. Indifferent und am wenigsten individualisiert stehen dann zwischen den beiden Grimm und Schwarz, gewissermaßen als die Vertreter der gewöhnlichen Masse. Razmann, schielend und schwankend, neigt schon zu Spiegelberg; Schufterle ist die gemeine Seele, welche wehrlose Kinder und Kranke aus bloßem Mutwillen mordet; Spiegelberg der Schurke, welcher Männer von hinten her zuschanden machen will. Während die Gruppe der treuen und anhänglichen Charaktere mehr pathetisch gehalten ist, hat Schiller die niedrigen und gemeinen mit glücklichem Humor behandelt und dadurch auch die Würde der Bande behauptet, welche durch eine ernstere Behandlung der gemeinen Seelen gelitten hätte und doch zu seinen dichterischen Absichten gehörte. Und so fest geschlossen ist dieser Ring, daß der gefallene Roller sogleich durch Rosinsky wieder ersetzt wird‘.“ (ebd.: 170 f.). Am Beispiel der Heuchelei der (scheinbar) Wohlanständigen hebt Schlüter zweierlei hervor: zum einen, daß es ein Kontinuum zwischen den Extremen der Normalität und der Pathologie gebe, zum anderen, daß die Konstruktion der Bühnenfiguren und des Handlungsgeschehens bei Schiller nicht so sehr Resultat künstlerischer Imagination sei, sondern Ergebnis präziser Beobachtung, genauen Hinschauens, vergleichbar einer medizinischen Vivisektion: „Und ebenso greifbar tritt die Gesellschaft der Wohlgesitteten hervor, – sie, die in Mannheim bei der Aufführung der Räuber durch ihr dortiges Organ erklären ließ: ‚La noblesse n’y a point paru‘ (siehe Boas, Schiller Jugendjahre II 65.) – und aus der das Verbrechen wie ein böses Geschwür sich heraussetzte. Man denke nur an die Anklagerede, die Karl Moor dem in der zweiten Auflage zum minder anstößigen ‚Kommissar‘ verwandelten Pater hält. Sie waren nicht erdacht, jener Minister, den die Tränen der Waisen aufhuben, jener Finanzrat, ‚der Ehrenstellen und Ämter an die Meistbietenden verkaufte und den traurenden Patrioten von seiner Tür stieß‘, jene Pharisäer, die sich die Köpfe zerbrechen, ‚wie es doch möglich gewesen wäre, daß die Natur hätte können einen Ischarioth schaffen und nicht der

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schlimmste unter ihnen würde den dreieinigen Gott um zehn Silberlinge verraten‘. Im ganzen Bereich des überlebten Absolutismus und speziell im Lande Karl Eugens, der sich, wie auch Weltrich es ausspricht, recht spät gebessert, fehlte es für diese Korruptionsbilder an aktuellstem Anschauungsmaterial nicht. Es sei an Montmartin erinnert, ‚der ganze acht Jahre Ministerpräsident gewesen war, ein Meister der Intrige und ein verworfener Mensch, dem kein Mittel zu ehrlos war, um in der fürstlichen Gunst sich zu behaupten, der vornehme Kuppler für die Lüste des Herzogs‘ (Weltrich). An Wittleder, den Verwalter des Kirchenkastens, der Simonie im größten Stile betreiben durfte. An den verzweifelten Kampf der Stände mit ihrem Landesvater, der Moser eine fünfjährige Kerkerhaft eintrug, den der Regierungsrat Huber und eine Reihe Tübinger Abgeordneten zum Opfer fielen, von der Gefangennehmung Schubarts gar nicht zu reden. In seiner schlimmen Periode lieferte der Herzog die Söhne seines Landes für einen Vorschuß von etwa drei Millionen Livres an Frankreich aus, und seine spätere Regierungszeit wurde durch den Subsidienvertrag mit der holländisch-ostindischen Kompagnie geschändet. War dies nicht wiederum Zündstoff genug für eine Zeit, in welcher England die schöpferischen Kräfte des freien Bürgertums offenbarte, die unter der Einwirkung der Montesquieu, Rousseau und Voltaire stand, in der der Kapitalismus schon in seiner Umwälzung auch in Deutschland tüchtige Schritte gemacht und in Adam Smith, dem großen Schotten, seinen klassischen Theoretiker gefunden? Und dann das Drängen, Hoffen, Glühen der Sturm- und Dranggenies, die große Schar der Broschürenschreiber, der reformatorischen Pädagogen. Die Empörung Schiller-Moors war wahrlich nicht nur individuell und subjektiv, hinter ihm stand die Gärung des ganzen öffentlichen Geistes. Gegen diese revolutionären Wahrheitsmomente und die Produkte seines kriminologischen Interesses treten in den Räubern, wie schon gesagt, alle anderen Bestandteile zurück. Selbst Karl Moor wird sofort zur Schablone, sobald er etwa nur als Liebhaber handelt. Und wie schemenhaft spuken Amalie und der alte Moor mit seinen Ugolino-Schauernissen in das sonst so markige und plastische Schauspiel hinein. (...). So verdankte der Zögling der Karlsschule dem wissenschaftlichen Geiste und der durch ihn auch für die soziale Umwelt geschärften Beobachtung die individuellen und so dem wahrhaft Künstlerischen sich annähernden Züge. Dies muß man festhalten, obgleich der Dichter selber in der ‚Rheinischen Thalia‘ sich einredet, daß er sich angemaßt hätte, Menschen zu schildern, ehe ihm noch einer begegnete. Es war nur ein Fortschritt eben in der Richtung der Wissenschaft, wenn in der ‚Rheinischen Thalia‘, in der ‚Vorlesung’: ‚Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?‘

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der Verfasser der ‚Räuber‘ sein Verzeichnis von Bösewichtern mit jedem Tage kürzer, sein Register an Toren vollzähliger und länger werden sieht, weil ‚alle die ungeheuren Extreme‘ von Lastern, ‚nur veränderte Formen, nur höhere Grade einer Eigenschaft‘ seien, ‚die wir zuletzt alle einstimmig belächeln und lieben‘. Wie kritisch er in jener Abhandlung bei alledem der menschlichen Gesellschaft gegenüberstand, geht deutlich aus seinem Verhältnis zu Shakespeares ‚Timon‘, wie er es hier kundgibt, hervor. Er weiß kein Stück, wo Shakespeare wahrhaftiger vor ihm stände, wo er lauter und beredter zu seinem Herzen spräche, wo er mehr Lebensweisheit lernte, als im Timon von Athen. Es sei ein wahres Verdienst um die Kunst, dieser Goldader nachzugraben. Das Timon-Motiv nahm Schiller ja auch wirklich in seinen unvollendet gebliebenen ‚Menschenfeind‘ auf.“ (ebd.: 171 ff.). Auch am „Fiesko“ ist Schlüter fasziniert von dem fließenden Übergang zwischen gesellschaftlicher Normalität und Pathologie. Schiller konstruiert den Fiesko „als einen Mann, der den Verbrechern recht verwandt ist“: „Daß auch das den Räubern folgende Drama, der ‚Fiesko‘, dem speziell kriminologischen Forschersinn vieles verdankt, kann man schon daraus folgern, daß Fiesko, auf den Rousseau des Dichters Aufmerksamkeit lenkte, in dem oben angeführten Zitat aus der Dissertationsschrift eine gewichtige Rolle inne hat. Beachtenswert ist es auch, daß dieses zweite Schauspiel Abel zugeeignet ist, und noch mehr, daß sich Schiller in der Vorrede vernehmen läßt: ‚Höhere Geister sehen die zarten Spinnweben einer Tat durch die ganze Dehnung des Weltsystems laufen, und vielleicht an die entlegensten Grenzen der Zukunft und Vergangenheit anhängen – wo der (gewöhnliche) Mensch nichts als das in freien Lüften schwebende Faktum sieht.‘ Immer dasselbe Spähen nach verborgenen Kausalitäten. Wie denn auch Schiller weiter behauptet, daß der Künstler von der scharfsichtigen Allmacht ‚lernt‘. Also besser über die Ökonomie und Verkettung der Triebe hinter den Vordergründen und Oberflächen des – um ein anderes Schillerwort zu gebrauchen – ‚komisch-tragischen Gewühles‘ unterrichtet ist als andere Erdenbürger. Man kann den ‚Fiesko‘ vielleicht am besten so neben die ‚Räuber‘ stellen, daß man ins Auge faßt, daß der Held der letzteren dem sozialen Formengeiste, ich meine: allen den Tendenzen und Illusionen, aus denen die Impulse zur gesellschaftlichen Formengliederung fließen, all dem, was Ehrsucht, Machttrieb – oder Philosophie herausfordert, gleich zu Anfang unterliegt, während Fiesko unter dem Vorgeben der Freiheitsliebe sich dieses Apparates zu bemächtigen sucht und im Triumphe untergeht. Karl Moor ist daher mehr passiv, mehr ‚Opfer einer ausschweifenden Empfindung‘, wie Schiller

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ihn schildert, und Fiesko das Gegenteil, ein Opfer seiner eigenen Kunst und Kabale. Es steckt eine mächtige Logik in dem Aufbau eben dieses Apparates. Die Experimente bedingten sich wechselseitig in diesem gigantischen Forschungsplan. Der Dichter fühlte sich so sehr gedrungen, auch den zweiten Prozeß sich zu veranschaulichen, daß er, wie er gleichfalls in der Vorrede bestimmt, es nicht darauf ankommen läßt, wenn jene ‚lebendige Glut‘ nicht eingehaucht werden kann, ‚welche durch das lautere Produkt der Begeisterung herrscht‘. Ihn, den geheimen Kriminologen, interessiert nun einmal der ‚staatskluge Kopf‘, der später im Oktavio seines Wallenstein wiederkehrt, welch letzterem es auch nicht möglich ist, ‚sich kinderrein‘ zu halten. Wie Fiesko sich selbst eigentlich als nicht viel anders betrachtet als einen Mann, der den Verbrechern recht verwandt ist, zeigt sein bekanntes, viel zitiertes Selbstgespräch: ‚Es ist schimpflich eine Börse zu leeren, es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde.‘ Und wie schaut Schiller in diesem Monologe in die Psychologie der ganzen Wollust des so vielen Verbrechen den Stachel leihenden Machtwillens hinein! ‚Zu stehen in jener schrecklich erhabenen Höhe‘ u.s.w. ist eine Vorstellung, ‚die den staunenden Geist über seine Linien wirbelt! – Ein Augenblick: Fürst hat das Mark des ganzen Daseins verschlungen!‘ Kein Wunder, daß das Publikum im biederen Mannheim, wie Schiller an seinen Schwager Reinwald geschrieben hat, den Fiesko nicht verstand. ‚Aber zu Berlin wurde er vierzehnmal innerhalb drei Wochen gefordert und gespielt, auch zu Frankfurt fand man Geschmack daran‘. Allerdings mehr wegen des Republikanismus dieses Dramas, die tiefere Bedeutung erfaßt man auch heute noch kaum. Als eine sonstige wirkliche Neuschöpfung aus dem Stoff des eigentlich Bösen kommt dann im ‚Fiesko‘ und leider überhaupt auch weiterhin für das sonstige dramatische Schaffen Schillers der humoristisch-satanische Moor in Betracht, der sich mit seiner fast treuherzig zu nennenden Präzision und Korrektheit in einen fesselnden Kontrast setzt zum hinterlistig-flüssigen Fiesko. Nicht ganz außer acht ist aber auch zu lassen, daß in Verrina ein Stück des grandiosen Verbrechertums der Fanatiker der großen Revolution vorweggenommen ist, so sehr der Dichter ihn als rigoristischen Republikaner hinstellt. Ja eben darum: siehe den unbestechlichen Robespierre!“ (ebd.: 173 ff.). Es gehe Schiller nicht so sehr darum, moralisch zu richten, sondern darum, die Genese eines Verbrechens gleichsam zu sezieren. Schiller sei hier ebenso Kriminologe wie Dramatiker, argumentiert Schlüter. Und es ist genau dieser Aspekt, den Tönnies an Schiller so faszinierend findet und

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den er in verschiedenen Arbeiten immer wieder aufgreift. Am Beispiel der „Kabale und Liebe“ zunächst, dann übergehend zu den Prosaschriften, erörtert Schlüter diesen Aspekt: „Nun fehlt, um den sozialen Kosmos zu erschöpfen, nur noch der ‚Wahnsinn und Mitternachtsgraus‘ einer überschwenglichen Liebe. Und diese besteigt denn auch in ‚Kabale und Liebe‘ ihren Thron. Die Verliebten dieses Stückes, so sehr das Menschlich-Schöne ihrer Glut das Herz ergreift, sind wegen der ins Pathologische gesteigerten Erotik auch für den philosophischen Kriminologen, für ihn, der nicht richtet, keinen Stein bereit hat, von Interesse. Gewiß, die Schuld fällt auf die soziale Umwelt; doch das trifft auf den überwiegenden Teil der gesamten Verbrechen noch heute zu. Und die zurückgedrängte Liebesglut ist in ihrem Wesen doch dieselbe, führt sie in anderen Individuen zu Akten, die der Tragiker nicht zu verklären wagt. Den einen hetzt, den andern zerfetzt die von Heine in ‚Kirchhofsphantasien‘ so tragikomisch geschilderte ‚Liebesjagd‘. Man bedenke auch, daß die Liebesromantik im dritten Drama nur eben dadurch ihren verführerischen Glanz erhält, daß sie gegen Ordnung und Herkommen sich erhebt. Und schließlich greift der Held des Schauspiels denn doch zu keinem anderen Mittel als dem – Giftmord. Der Intrigant, im weiteren Sinne: der psychologische Spekulant und Kalkulator führt auch in diesem Drama die Katastrophe herbei. Und diese Figur, die die Wissenschaft der Leidenschaften und Entschlüsse gleichsam konzentriert in sich enthält, verbleibt auch fernerhin der dramatischen Technik des Dichters, wenn sie auch nicht immer aus ausgemachter Bosheit spekuliert. So vertritt sie als Großinquisitor im ‚Don Carlos‘ den hierarchischen Despotismus, der mit Marquis Posa wie die Katze mit der Maus spielen wollte, und in der ‚Braut von Messina‘ wird sie gleichsam in das Schicksal selbst hineingedacht. Gerade in diesem Zusammenhange ist es interessant, daß durch diese Auffassung des Fatums der Anstoß zu den Schicksalstragödien gegeben wird, deren Fatalismus somit ein Kind des Krypto-Determinismus unseres Dichters ist. Oder vielmehr eine Mißgeburt, sogar eine ziemlich überflüssige. Denn gleich im ‚Wallenstein‘ setzte sich der Dichter in der stets tiefbegründeten Logik seines künstlerischen Schaffens an einem großen Beispiel mit dem Glauben an das ‚Fatum‘ auseinander, unter dem Zeichen der gründlicheren Einsicht, daß des Schicksals Sterne ‚in unserer Brust‘ leuchten. Die Tatsache, daß er das Lager das Verbrechen erklären läßt, und der bedeutungsschwere Spruch über des Menschen Willen und Gedanken, die notwendig wie des Baumes Frucht dem Mikrokosmos der Seele entsprießen, sie zeigen, daß der Dichter den deterministischen Grundzug demungeachtet

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festgehalten hat. Ja, er war an den Wallenstein wie der Chemiker an eine neue Kohlenstoffsynthese herangetreten. ‚Ich habe nie eine solche Kälte für meinen Gegenstand‘, so bekennt er in seinem Briefe vom 28. November 96 an Goethe, ‚mit einer solchen Wärme für die Arbeit vereinigt‘. Das Thema dieser Arbeit aber war doch wieder: die Genesis eines Verbrechens. Es wiederholt sich, ich kann mir das Detail ersparen, im Tyrannenmörder Tell. Maria Stuart hat einen Gattenmord auf dem Gewissen, sie lebt und webt in sehr romantischer, aber doch immer kriminologischer Pathologie. In gleicher Richtung liegen die unvollendeten ‚Demetrius‘, die Skizzen zum ‚Warbeck‘, die Aufzeichnungen zu den ‚Kindern des Hauses‘ gehören auch hierher. Und ganz weitläufige Notizen weist der Nachlaß für ein Lustspiel ‚Die Polizei‘ auf, in denen Schillers Interesse für die Verbrecherwelt im weitesten Sinne noch einmal nach einem umfassenderen Ausdruck sucht. In dieser Komödie sollten die ‚Räder‘ einer Weltstadt in ihrem Getriebe in Bewegung gesetzt werden, nämlich von Paris, ‚der Frauen Paradies, der Männer Fegefeuer, der Hölle der Pferde‘. ‚Alle Stände müssen in die Handlung verwickelt werden‘, so schreibt der Philosoph dem Dramatiker in sich vor. Besonders der ‚Filou in allen Gestalten‘. So sind denn von Lumpen, Schurken und Verbrechern und was daran hängt, sowie ihren entsprechenden Handlungen vorgemerkt: der Schriftsteller, ‚der ja leben muß‘, der Kontrebandier, Druck geheimer Schriften unter Holzbeugen, Polizeispione, die von anderen beobachtet werden müssen, kleine Filous, die man duldet, um größeren auf die Spur zu kommen, liederliche Dirnen, Kuppler, Heuchler, Abenteurer, von der Polizei notiert, vornehme Liederliche, die im Ehebruch ertappt werden, Leute, die die Polizei durch falsche Namen in Verlegenheit setzen, Hehler, Giftmischer, Spielergesellschaft, Falschmünzer, Verkäufer und Käufer gestohlener Waren, Einbrecher, Kindermörderin u.s.w. Man glaubt sich in der Gesellschaft des hinkenden Teufels zu befinden. Und immer ist es der philosophische Kriminologe, der ins Leben hineingreift. Denn um die Gesetze all dieser Erscheinungen zu verdeutlichen, sollten, wie wiederum Schiller hier kundtut, ‚die äußersten Extreme von Zuständen und sittlichen Fällen zur Darstellung kommen, und in ihren höchsten Spitzen und charakteristischen Punkten‘.“ (ebd.: 175 ff.). Am Beispiel der Prosaschriften arbeitet Schlüter den Gedanken, Schiller gehe bei der Konstruktion seiner Texte vor wie ein Arzt, seziere gleichsam das Handlungsgeflecht und die Persönlichkeitsstrukturen der darin Agierenden, noch deutlicher heraus: „So wie es – um nun wieder das Gebiet der Prosaschriften zu betreten – den Sätzen entspricht, mit denen die ‚wahre Geschichte‘ ‚der Verbrecher

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aus verlorener Ehre‘, wie wir sie heute lesen, eröffnet wird: ‚In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen‘. Diesem Passus geht aber in der ersten Ausgabe folgende ungleich stärkere Stelle voraus: ‚Die Heilkunst und Diätetik haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbebetten gesammelt, Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das hellste Licht in der Physiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen, und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektionsberichten des Lasters – sich Belehrungen holen‘. So begreift man, wie der Dichter in der Einladung zur ‚Rheinischen Thalia‘ (1794) die Meinung bekennen konnte: ‚Neue gefundene Räder in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele – einzelne Phänomene, die sich in irgend eine merkwürdige Verbesserung und Verschlimmerung auflösen, sind mir, ich gestehe es, wichtiger als die toten Schätze im Kabinett des Antikensammlers oder ein neuentdeckter Nachbar des Saturnus, dem doch der glückliche Finder seinen Namen sogleich in die Ewigkeit aufladet.‘ Er wußte eben, das bezeugt er in der Einleitung zum ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ mit gleicher Entschiedenheit, daß ‚das geheime Spiel der Begehrungskraft‘, das ‚bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte sich versteckt‘, im Zustande gewaltsamer Leidenschaft ‚desto hervorspringender, kolossalischer, lauter‘ sich manifestiere. So klar, wie heute wiederum nur den Feinsten ist es ihm bewußt, daß es gilt, den geheimen Metamorphosen des Trieblebens nachzugehen. ‚Eine und dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nichts weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet.‘ Denselben Gedankengängen begegnet man dann weiter in der Vorrede zu dem ersten Teile der merkwürdigen Rechtsfälle nach Pitaval aus dem Jahre 1792. Sie haben auch die Auswahl seiner historischen Stoffe geleitet, unter denen Verschwörungen, Rebellionen, den ganzen Gesellschaftsbau erschütternde Kriege den Hauptrang einnehmen. Er hat sich ja sogar mit dem Plane beschäftigt, die ‚Geschichte der merkwürdigsten Revolutionen und Verschwörungen aus der mittleren und neueren Zeit‘ herauszugeben. Im Jahre 1788 ist auch tatsächlich der erste und – einzige Band erschienen. So zeigt sich überall: die Beziehung seines Nachdenkens zum Verbrechen ist eine feste, er faßte es mit dem sicheren Griffe des systematisch vor-

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schreitenden Forschers an. Er sehnt sich wie jeder echt wissenschaftliche Kopf nach Tatsachen, er ahnt die ganze Verschlungenheit der hier waltenden Probleme. Dies alles machte zwar in seinen späteren Jahren dem rein künstlerischen Schaffensdrange Platz, bestimmte aber dennoch unwillkürlich sein Gestalten“ (ebd.: 177 f.). Schlüter beschließt seine Ausführungen mit der Einschränkung, die er bereits zu Beginn gemacht hat, nämlich dass jene Aspekte im Werke Schillers, die er hervorgehoben habe, längst nicht Allgemeingut seien: „Das kann man ja nicht leugnen: der Zug nach speziell wissenschaftlicher Erfassung des Menschen hat in dem Bilde Schillers, wie es nun vor uns steht, sich verwischt. Und damit hat das Gesamtbild unserer klassischen Glanzzeit eine gewisse Trübung erfahren. Denn wie ganz anders stände das Bündnis seiner beiden größten Dichter da, wenn es bis zum Ende in seiner Arbeitsteilung jene Zweiseitigkeit des Welterfassens ausgeprägt hätte: Goetheblick in den Makrokosmos und aus diesem in das Menschenherz und den Schillerblick in den Mikrokosmos mit seinem Kampfe zwischen dem Naturhaften, dem „Bösen“ und der Sittlichkeit, dem Reiche der Freiheit und aus diesen wunderbaren Rätseln in der Geschichte Riesenspiel“ (ebd.: 178). Dem aber sei abzuhelfen: „ ... man braucht sich nur einmal wirklich in den Entwicklungsgang und die Werke unseres Dichters zu vertiefen, um sich eines Besseren zu überzeugen“ (ebd.: 164 f.).

Die politische Wurmkrankheit (Tönnies 1905e, hier S. 322–327) Unter dem von ihm mehrfach benutzten Pseudonym „Normannus“ nimmt Tönnies die in der Öffentlichkeit diskutierte Hakenwurmkrankheit der Grubenarbeiter, die einer der Auslöser des großen Bergarbeiterstreiks von 1905 war, zum Anlass, in ironisierender Weise auf strukturelle Mängel der preußischen Verfassung aufmerksam zu machen, „Mängel“, die von der konservativen Mehrheit im preußischen Landtag durchaus gewollt waren und vom Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl, dem Führer der Hochkonservativen in der preußischen Ersten Kammer („Fraktion Stahl“) auch öffentlich verteidigt wurden. Die Konservativen sahen in der preußischen Verfassung solange keine Gefahr für ihre politische Herrschaft, wie die überragende Stellung des Königs unangetastet blieb. Da die konservativen Mehrheiten der Kammern in der Lage waren, die öffentliche Meinung des Landes für den König zu mobilisieren, konnte die Verfassung sogar für die Stärkung

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der königlichen Macht nutzbar gemacht werden. Stahl, für den die Verfassung lediglich eine freiwillige Selbstbeschränkung des Monarchen bedeutete, interpretierte in einer Rede vor der Ersten Kammer, dem späteren Herrenhaus, mit unverhohlenem Zynismus das Wesen dieses Scheinkonstitutionalismus: „Man kann sagen, unsere Verfassung ist in vieler Hinsicht nur dadurch eine Möglichkeit, daß sie keine Wirklichkeit ist“ (Stahl 1862: 29). Was Tönnies von Stahl hielt, jenem „Typus des philosophischen Strebers, der aus tendenziösestem Anti-Rationalismus sein Gewerbe machend“, ist überliefert.

Soziologische Literatur (Tönnies 1905k, hier S. 328–341) Obwohl es sich eigentlich um eine Sammelrezension und um einen vmtl. von der Redaktion vorgegebenen Titel handelt, wurde der Beitrag in diesem Band unter die Schriften aufgenommen, zum einen weil er, im Kolumnentitel erkennbar, eine eigene Überschrift aufweist, zum anderen, weil er über das übliche Maß einer Buchbesprechung hinausgeht, unter anderem auch Bezüge zu anderen Publikationsorganen herstellt. Die kritische Auseinandersetzung von Tönnies mit Inhalt und Gliederung der „Année Sociologique“ gibt zugleich einen Einblick in die Anfänge der französischen Soziologie und ihre Träger. Deren Namen und Lebenswege sind heute, selbst in Frankreich, nur noch zum Teil bekannt. Soweit sie sich ermitteln ließen, sind sie nicht nur im Personenregister dieses Bandes, sondern ebenfalls, weil die inhaltlichen Schwerpunkte, die sie vertreten, von Bedeutung sind, im laufenden Text wiedergegeben. Die von Tönnies ausführlich zitierte, offensichtlich von ihm selbst übersetzte längere Passage lautet im französischen Original: „Sans doute cette relation est atteinte en divers endroits par des recherches autrement définies; et sans doute aussi l’action de l’État se montre mêlée et combinée avec d’autres actions et interactions. Mais le phénomène caractérisé ne mérite-t-il pas une étude directe et propre? Dans l’étude des régimes et des formes de la production, dans celle des éléments de la répartition et des classes économiques, on considère les phénomènes suivant les catégories d’une fonction économique générale: cela est légitime, car il y a des relations communes au régime de l’entreprise dans l’industrie et au régime de l’entreprise dans l’agriculture, à la coopération dans l’industrie et à la cooperation dans le commerce, à la grande

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exploitation dans l’agriculture, dans l’industrie et dans le commerce, aux salaires ouvriers industriels, commerciaux ou agricoles, etc. D’autre part dans l’étude des ‚économies spéciales‘, on considère les phénomènes suivant les branches de l’activité économique différenciée; il y a, en effet, des relations qui sont propres au commerce considéré dans l’ensemble de ses conditions, à l’agriculture étudiée dans l’ensemble de ses éléments caractéristiques, etc. – L’action du corps politique, ou la tentative consciente par une société organisée de modifier son organisation ou son évolution économique, s‘exerce ou peut s‘exercer dans ces divers domaines et peut s‘étudier à ces divers points de vue: la ‚politique de la classe moyenne‘, c‘est-à-dire les mesures d’État essayées pour arrêter la concentration industrielle, la politique destinée à conserver la petite industrie ou le petit commerce ont leur place d’étude (au point de vue non des fins, mais des effets, non des intentions, mais des relations causales objectivement établies) dans l’étude propre des formes de la production. La ‚politique agraire‘, l’ensemble des mesures d’État prises au sujet de l’agriculture considérée spécifiquement, a sa place d’étude dans ‚l’économie spéciale agraire‘. Les mesures d’État protectrices, et même, dans certains cas, constitutrices des salaires ressortissent à cet égard à l’étude du salaire. Et ainsi de suite. Mais ces différentes actions du corps politique ne procèdent-elles pas d’une action commune dont la cause et les effets sociologiques sont à dégager? étudiée ainsi par morceaux, se révèle-t-elle tout entière? Il ne s‘agit pas ici bien entendu de systématiser au point de vue pratique, de ‚justifier‘, ni de ‚juger‘ cette politique. Comme dans l’étude de tous les autres phénomènes économiques, c‘est une recherche objective, une investigation purement scientifique sur des relations de cause à effet qui est la tâche proposée. L’ensemble de ces phénomènes, pris à part et considéré en lui-même, n‘est-il pas propre à mettre en évidence des relations sociologiques que nous n‘atteignions pas encore? Voilà à quel objet est destiné le groupement que nous tentons sous cette nouvelle rubrique. Nous y plaçons le groupe des phénomènes étudiés communément sous le nom de ‚législation sociale‘ ou de ‚législation ouvrière‘. Les différentes parts de cette législation ont un retentissement sur des phénomènes économiques spécifiés et sont à ce point de vue à reprendre ailleurs: mais la constitution de l’ensemble, l’évolution correspondante des branches multiples, le développement corrélatif de ce droit économique nouveau dans les diverses sociétés contemporaines sont, en eux-mêmes, des phénomènes importants et caractérisés qui demandent une étude propre“.

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Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung (Tönnies 1905m, hier S. 343–350) Äußerer Anlass für Tönnies, den vorliegenden Essay zu schreiben, war offensichtlich die Lektüre des Buches über „Massenstreik und Ethik“ von Rudolf Penzig, jenem „Autor, der mitten in der ethischen Bewegung, mitten in dem idealen Kampfe um eine nach allen Seiten hin unabhängige Ethik steht“. Penzig war unter anderem Herausgeber der Berliner Halbmonatsschrift „Ethische Kultur“, in der Tönnies über vierzig Jahre lang publizierte. Seine Befassung mit dem Thema weist über die einer üblichen Buchbesprechung weit hinaus, so dass sein Essay in diesem Bande unter der Rubrik „Schriften“, nicht „Rezensionen“ erscheint.

Verkehr und Transport (Tönnies 1905n, hier S. 351) In den „Soziologischen Studien und Kritiken. Zweite Sammlung“ (Jena 1926), werden die vier „Soziologischen Skizzen“ zur „Verkehrsbewegung der Menschen“ in folgender Reihe zum Abdruck gebracht: (a) Das Wandern, S. 1 ff., (b) Das Reisen, S. 9 ff., (c) Verkehr und Transport, S. 18 ff., (d) Das Vagieren, S. 33 ff. Das war möglich, weil die einleitenden Sätze der Skizzen für die Buchfassung von 1926 verändert wurden. Folgt man dem ursprünglichen Text, so hätte eine andere Reihenfolge nahe gelegen, eine Reihenfolge, die auch dem Inhaltsverzeichnis dieses Bandes zugrunde liegt und die mit der Erscheinungsfolge der „Soziologischen Skizzen“ in der Zeitschrift „Kulturfragen“ übereinstimmt: (a) Transport und Verkehr (gleichsam die Einführung in die Thematik), in: Kulturfragen, a. a. O., 1. Jg., S. 50 ff., (b) Das Vagieren („... die ursprüngliche Art des menschlichen Zustandes ...“), a. a. O., 1. Jg., S. 99 ff., (c) Das Wandern („Die zweite Hauptform freiwilliger Verkehrsbewegung des Menschen ...“), a. a. O., 2. Jg., S. 6 ff., (d) Das Reisen („... die dritte Art des freien Menschenverkehrs ...“), a. a. O., 2. Jg., S. 31 ff. Warum in den „Soziologischen Studien und Kritiken“ von dieser Reihung abgegangen wurde, ist nicht bekannt. Jedenfalls mussten die einleitenden, hier in Klammer wiedergegebenen Sätze für die Buchfassung von 1926 im Fall (c) und (d) entsprechend abgeändert werden.

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[On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy] (Tönnies 1905q, hier S. 360–361) Am 20. Juni 1904 fand in der School of Economics and Political Science (University of London) eine Tagung der Sociological Society statt. Den Vorsitz führte Professor Bosanquet. Das Treffen ist dokumentiert in den: Sociological Papers, 1905, vol. 1, S. 195–257, unter dem Titel „Sociology: Its Scope and Definition“. Dem Treffen lagen zwei Arbeitspapiere zum Thema „On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy“ zugrunde, eines von Professor Durkheim (S. 197–200) und eines von Mr. Branford (S. 200–203). Hervorgehoben wird die Notwendigkeit einer Auffächerung der Soziologie in eine Vielfalt einzelner Unterdisziplinen, um zu einer wirklich positiven Wissenschaft zu werden. Aber dieser Prozess müsse systematisiert werden. Er müsse schließlich in einer soziologischen Einheitskonzeption gipfeln. Dabei gehe es vor allem um die Entdeckung allgemeiner Gesetze sozialer Evolution, vergleichbar, aber gleichwohl streng zu unterscheiden von biologischen Analogien der Evolution. Die Soziologie folge anderen Gesetzen. Da Professor Durkheim selbst nicht anwesend war, wurde sein Beitrag von Professor Bosanquet verlesen. Danach folgte eine ausführliche Diskussion der Papiere, die getragen wurde von Professor Bosanquet, Dr. J. H. Bridges, Dr. Emil Reich, Dr. Shadworth Hodgson, Mr. J. A. Hobson, Mr. J. M. Robertson, Mr. L. T. Hobhouse (S. 204–216). Die schriftlichen Stellungnahmen, die auf die beiden Arbeitspapiere hin erfolgten, sind ebenfalls dokumentiert (S. 217–254). Geantwortet haben unter anderem Professor Paul Barth (Leipzig), Professor Lévy Bruhl (Paris), der Präsident der Gesellschaft, the Right Honourable James Bryce, Professor J. H. Muirhead (Birmingham), der Autor der „Principles of Mathematics“, the Honourable Bertrand Russell, Professor L. Stein (Bern), Dr. S. R. Steinmetz (Leyden), Professor Tönnies (Kiel), Dr. René Worms (Paris). Im Anschluss an die Diskussion erfolgte eine mündliche Erwiderung von Mr. Branford (S. 255 f.) sowie eine schriftliche Antwort von Professor Durkheim (S. 257). Insgesamt handelt es sich um eine gründliche Dokumentation von hohem Informationswert aus den Anfangstagen der Soziologie, in der der Beitrag von Tönnies einen prononcierten Stellenwert einnimmt. Sein Text lautet auf deutsch: Die Bestimmung und Aufgabe der Soziologie, das Zentrum oder das Ziel zu werden, auf das alle speziellen sozialen Wissenschaften gerichtet sein

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sollten, ist in beiden Abhandlungen sehr gut herausgearbeitet worden. Die zweite legt jedoch besonderes Augenmerk auf die berechtigte Auffassung, dass Tenor und Bedeutung der Wissenschaft im allgemeinen und folglich auch die der sozialen Wissenschaften – oder, wie es dort heißt, dass „die Interaktion von Natur‑ und Geisteswissenschaften“ – innerhalb einer Wissenschaft der Zivilisation untersucht werden müssen, und dass von diesem Standpunkt aus betrachtet auch die speziellen sozialen Wissenschaften im Prinzip der Soziologie untergeordnet sind. Das stimmt mit meiner Vorstellung nahezu überein, und ich kann den in den letzten beiden Abschnitten der zweiten Abhandlung dargelegten Ausführungen nur zustimmen. Ich würde jedoch das evolutionistische Prinzip gerne durch das auflösende relativieren, weil wir bezüglich allem Existierenden und somit auch bezüglich der modernen Zivilisation ebensoviel Grund haben, den Verfall zu betrachten wie das Wachstum, den absteigenden wie den aufsteigenden Teil ihres Lebens und ihrer Entwicklung. Zum anderen liegt mir sehr daran, den praktischen Aspekt des Ideals von der theoretischen Untersuchung des Problems zu unterscheiden und zu trennen, und ich schlage sogar vor, ersteren (zum Wohle des wissenschaftlichen Charakters der Soziologie) dem ethischen und politischen Philosophen zu überlassen, der seinerseits die praktische Seite, d. h. die Realisierung von Idealen, den Erziehern und Staatsmännern überlässt. So sehr ich mich auch mit dem allgemeinen Tenor beider Abhandlungen einverstanden erklären kann, weiche ich jedoch in folgendem Punkte von ihnen ab: Ich lege sehr großen Wert darauf, die Mission der Soziologie dahingehend verstanden zu wissen, dass sie nicht nur von den speziellen sozialen Wissenschaften empfängt, sondern auch von ihrem eigenen Reichtum gibt. Die Philosophie steht im gleichen Verhältnis zu den Wissenschaften im allgemeinen wie die Soziologie zu den sozialen Wissenschaften. Einige der Grundprinzipien sollten nicht nur rein methodisch sein. Gefordert ist eine Untersuchung von Ideen – ein Ausarbeiten der Vorstellungen sozialer Materie und Bewegung – oder ein Erforschen der Wirklichkeiten, die aller sozialen Evolution zugrunde liegen. Dies sind in erster Linie die von mir so bezeichneten sozialen Wesenheiten, die verschiedenen Arten und Formen menschlicher Verbindung, wobei hierin sowohl ein Ruder‑ oder Wanderverein als auch Schulen und Universitäten, sowohl Gewerkschaften und Klosterorden als auch Kirche und Staat, sowohl archaische Sippen und Stämme als auch mittelalterliche Gilden eingeschlossen sind. Die gründliche Untersuchung dieser Formen, – die ich auf einen kommunistischen bzw. einen sozialistischen Typ beziehe, wenn die Bedeutung dieser Worte

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außer acht gelassen wird und nur ideelle Formen in Betracht gezogen werden, – also, diese vorbereitende Untersuchung ist die eigentliche Aufgabe der reinen Soziologie, die, sollte diese Aufgabe gemeistert werden, einen Schlüssel zum Verständnis der Geschichte schmieden wird.

Public Comments on the Movement (Tönnies 1905r, hier S. 362) Der Text erschien in den Sociological Papers, London: MacMillan 1905, vol. 1, S. 287–288, im „Appendix“. Unter dem Titel „Public Comments on the Movement“ sind dort, von der Redaktion zusammengestellt, Textauszüge aus unterschiedlichen Publikationsorganen versammelt, die sich mit der am 20.11.1903 in London gegründeten Sociological Society befassen. Bei dem Text von Tönnies handelt es sich um eine stark gekürzte, nahezu wörtliche Übersetzung, seines in „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ erschienenen Artikels „Die Soziologische Gesellschaft in London“ (Tönnies 1904a), wieder abgedruckt in: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung (Tönnies 1925a). Gekürzt wurden folgende Passagen des deutschsprachigen Originals: (1) „Es scheint aber, daß Spencer ... die Vereinigten Staaten sind vertreten“ (Tönnies 1904a:. 306–307 bzw. S. 744–745), (2) „Die Londoner Soziologische Gesellschaft ... und der Geistliche“ (ebd. 307–308 bzw. S. 745–746).

[Anglo-German Relations] (Tönnies 1906b, hier S. 363–365) Sensibel und mit Bedauern registriert Tönnies die wachsende Entfremdung zwischen England und Deutschland, die sich unter anderem in der beschleunigten Flottenaufrüstung beider Länder manifestiert. Tönnies, zu dieser Zeit noch uneingeschränkt ein Verehrer und Bewunderer englischen Geistes und englischer Politik, wiederholt im Leserbrief Gedanken, die bereits zuvor, anlässlich seiner Besprechung des Buches „England und die Engländer“ von Carl Peters (1905), anklingen, nämlich dass beide Nationen in ihrem Kampf gegen die wachsende Konkurrenz aus Übersee zu gegenseitiger Unterstützung und Freundschaft bestimmt, zur Wahrung des Friedens in Europa verpflichtet seien. Später dann, im Verlauf des ersten Weltkrieges, wird sich die Bewunderung Englands in eine heftige „Anglophobie“

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gegen das „perfide Albion“ verkehren, die sich dann vor allem in der 1915 erschienenen Monographie „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung“ (Tönnies 2000: 11–109) drastisch äußert. Der Text des Leserbriefes an den Herausgeber der „Times“ lautet auf deutsch: Von den Leserbriefen, die einige unserer führenden Literaten, Gelehrten und Künstler an Sie und Ihre Zeitgenossen geschrieben haben, kann man durchaus behaupten, dass sie die seit längerer Zeit an deutschen Universitäten und in vielen privaten Kreisen herrschende Gesinnung hinsichtlich der bedauerlichen Missverständnisse widerspiegeln, welche in der letzten Zeit verstärkt zwischen dem englischen Volk und dem Deutschen Reich aufgetreten sind. Ich bin sicher, dass viele andere Menschen in meinem Land, die wie ich mehr als einmal die britische Gastfreundschaft genießen durften und glühende Bewunderer Ihrer großen Nation sind, seit langem unter dem Druck einer wachsenden politischen Entfremdung leiden und aufmerksam das unnatürliche Gebaren zweier Reiche zueinander verfolgen, die von der Vorsehung zu gegenseitiger Unterstützung und Freundschaft bestimmt zu sein scheinen. Wie wohl jeder Student der Geschichte oder Soziologie bin ich mir vollauf der Tatsache bewusst, dass die Interessen der Kunst, Wissenschaft und allgemeinen Literatur sowie die mit diesen Interessen verknüpften Anschauungen für die manchmal so genannte „hohe“ Politik nur von geringer Bedeutung sind. Friedrich II. von Preußen stand der französischen Zivilisation sicherlich nicht feindlich gegenüber, als er die Schlacht von Roßbach schlug, und Napoleon, der Eroberer des Vaterlandes, war ein Bewunderer Goethes. Wenn es nach den wahren kulturellen Interessen ginge, könnte es keinen Krieg mehr geben. Es ist die natürliche Pflicht eines außenpolitische Angelegenheiten wahrnehmenden Staatsmannes, sein Land vor Verletzungen und vor Fallen zu schützen, die von den Nachbarn oder Gegnern der Nation gelegt wurden oder noch gelegt werden sollen, und ihre Regungen folglich mit nie nachlassender Aufmerksamkeit zu beobachten. Ferner scheint es unvermeidlich, dass selbst ein Politiker, der sich der Ungefährlichkeit seiner Pläne sowie der Pläne seiner Nation bewusst ist, das Vorhaben seiner Antagonisten oder Konkurrenten mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Es lässt sich wohl leider nicht abstreiten, dass seit einiger Zeit ein tiefer Abgrund aus gegenseitigem Misstrauen und Eifersucht zwischen unseren beiden Ländern klafft. Hier wie dort hegt vor allem der weniger kultivierte Teil der Oberschicht der Gesellschaft diese Gefühle, und haupt-

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sächlich handelt es sich dabei um Menschen, die entweder von Natur aus (das heißt intellektuell) unfähig sind oder sich aber nie die Mühe gemacht haben, ausreichende Kenntnis über den Charakter einer fremden Nation zu erwerben und sich im Geiste an die zu dieser Nation gehörigen Orte zu versetzen. Meiner Ansicht nach sind eben diese Gründe in hohem Maße dafür verantwortlich, dass so viele entweder haltlose oder schlecht fundierte Tadel und Vorwürfe von Deutschen gegenüber Engländern und von Engländern gegenüber Deutschen vorgebracht werden. Die am häufigsten geäußerte unfreundliche Kritik dieser Art ist der gegen die Außenpolitik des Vereinigten Königreichs gerichtete Vorwurf, sie sei ausschließlich von egoistischen Motiven bestimmt und setze sich über die berechtigten Forderungen anderer Nationen nach einer Berücksichtigung ihrer Rechte und Interessen achtlos hinweg. Entsprechend meiner Überzeugung lautet darauf meine Antwort, dass man diesen Vorwurf mit der gleichen Berechtigung gegen die Franzosen, die Deutschen, die Russen oder die Vereinigten Staaten äußern kann. Ein im gegenseitigen Umgang der Staaten zu beobachtender ethischer Standard, der über den konventionellen und oftmals unzureichenden Respekt gegenüber dem Internationalen Recht hinausginge, ist – wie Philosophen und Philantrophen oft herausgestellt haben – ein trauriges Desideratum, und es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur wenig Hoffnung, daß hier eine grundlegende Verbesserung eintritt, auch wenn dies ein höchst wichtiger Schritt in Richtung einer menschlichen und wahrhaft humanen Zivilisation wäre. Der einzige Weg, auf dem in dieser Hinsicht ein gewisser Fortschritt zu erwarten ist, scheint in der wachsenden Intelligenz und Einsicht bezüglich der gemeinsamen Interessen aller Nationen zu liegen und ist somit eine Entwicklungsform des aufgeklärten Eigeninteresses der Herrscher. Ich möchte hervorheben, dass eine grundlegende, von allen intellektuellen und ästhetischen Neigungen absehende Einsicht in ihre wahren Vorteile die britische wie die deutsche Nation lehren sollte, den Frieden in Europa zu wahren. Denn jede ernsthafte Störung dieses Friedens, egal aus welchem Anlass, wird diese Nationen in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die wachsende Konkurrenz aus Amerika und Asien in den Ruin stürzen, auch wenn dieser Kampf, wie wir zu recht hoffen dürfen, ein friedlicher bleiben wird. Der Brief endet mit den Worten „I am, Sir, yours faithfully,“ darunter in Majuskeln „Ferdinand Tönnies.“, gefolgt in Normalschrift von „The University, Kiel, Germany, Jan. 17.“.

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Die nordamerikanische Nation (Tönnies 1906e, hier S. 385–411) Am 21.9.1904 hielt Ferdinand Tönnies auf dem „Congress of Arts and Science“ in St. Louis (USA) einen Vortrag zum Thema „The Present Problems of Social Structure“. Er ist zweimal publiziert worden, einmal im „American Journal of Sociology“, Vol. X, March, 1905, Nr. 5, S. 569–588, zum anderen in den Proceedings des Kongresses, hg. von Howard J. Rogers, Vol. V, Boston und New York: Houghton, Mifflin and Comp. 1906, S. 825–841. Tönnies nutzte seinen Aufenthalt in den USA, um andere Städte aufzusuchen und weitere Eindrücke zu sammeln. Wechselseitig befruchtend scheint auch das Zusammentreffen von Ferdinand Tönnies und Wilhelm Ostwald (1853–1932) gewesen zu sein. In seiner Autobiographie erwähnt der Naturphilosoph und spätere Nobelpreisträger für Chemie, wie er 1904 während einer Amerika-Fahrt auf dem Dampfer „Kaiser Wilhelm“ dem Soziologen Ferdinand Tönnies begegnet und von ihm eine „Einführung in das soziologische Denken“ erhält: „Ich mußte ihm bekennen, dass die Soziologie in meinem Denken bisher nur wenig Platz gefunden hatte. (...) Als Entschuldigung kann ich anführen, daß es damals noch keinen ordentlichen Lehrstuhl für diese Wissenschaft an einer deutschen Universität gab. Was hier geleistet wurde, stammte von einzelnen Vertretern der Volkswirtschaft her. Die Namensverwandtschaft Soziologie-Sozialdemokratie machte die ganze Richtung verdächtig, wie denn auch jene Nationalökonomen als ‚Kathedersozialisten‘ einigermaßen bedenklich erschienen. (...) Wenn ich hernach meinen Zeitgenossen einiges Förderliche über die soziale Seite der Wissenschaft sagen konnte und meinerseits zunehmend lernte, sie als soziale Erscheinung von ganz besonderer Art und Wichtigkeit zu begreifen, so verdanke ich die Anregung dazu jenen Unterhaltungen mit F. Tönnies an Bord des Kaiser Wilhelm“ (Oswald 1926–1927: II, 398 f.). Die beiden Wissenschaftler waren gemeinsam auf dem Weg zur Weltausstellung in St. Louis, wo Ostwald auf dem „Internationalen Kongreß aller Künste und Wissenschaften“ den Chicagoer Stadtsoziologen Albion W. Small kennen lernt und Tönnies, wie gesagt, seinen Vortrag hält. Wilhelm Ostwald war der Onkel und Mentor von Hans Ostwald, dem Herausgeber der 50-bändigen „Großstadtdokumente“ (1905–1908). Die Zusammenhänge zwischen Ostwalds Großstadtbeschreibungen und der Chicago School der Soziologie sind bislang nicht erforscht. Es scheint, dass Ferdinand Tönnies seine Amerika-Erfahrungen in mehreren Vorträgen einem breiteren Publikum in Deutschland nahegebracht

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und schließlich in der vorliegenden Form verschriftlicht hat. Bezeugt ist, daß er am 14. 11. und am 28. 11. 1904 unter dem Titel „Amerikanische Eindrücke“ bzw. „Amerikanische Eindrücke – Fortsetzung“ in der Eutiner Literarischen Gesellschaft von seiner Reise berichtete. Seit 1903 war Tönnies Mitglied dieser Vereinigung, von 1907 bis 1922 sogar deren Vorsitzender (vgl. Rönnpag 1997: 70). Vor welchem „gemischten Kreise von Zuhörern“ er seinen Vortrag „am 15. März 1905 gehalten“ hat, konnte bislang nicht eruiert werden. Die Angabe im Ferdinand-Tönnies-Werkverzeichnis (Datensatz Nr. 218), es handle sich um die Nachschrift eines Vortrages in St. Louis (USA), trifft jedenfalls nicht zu.

Politische Stimmungen und Richtungen in England (Tönnies 1906k, hier S. 427–435) Tönnies kannte die britischen Verhältnisse aus eigener Anschauung recht gut und hat immer wieder darüber publiziert. Das Studium des Philosophen Thomas Hobbes hatte ihn im Spätsommer 1878 erstmals nach England geführt („Ich habe dieses Land zuerst vor 28 Jahren aus eigener Anschauung kennen gelernt und später oft von Neuem besucht“), wo er „in London, in Oxford und im Schlosse Hardwick des Herzogs von Devonshire wertvolle Entdeckungen über Leben und Werk Hobbes‘ machte“. Im vorliegenden Essay beschreibt und interpretiert Tönnies die innenpolitischen Verhältnisse in England und mögliche zukünftige Entwicklungen nach der „demokratischen“ Wende. Ende 1905 hatte eine liberale Regierung (Kabinett Campbell-Bannerman, Dezember 1905 bis April 1908) die Herrschaft der Konservativen (Kabinett Balfour, Juli 1902 bis Dezember 1905) abgelöst. England befand sich innenpolitisch in einem Zustand sozialer Gärung und Wandlung. Die verschiedenen sozialistischen Gruppen und Arbeiterverbände schlossen sich 1906 zur Labour Party zusammen. Solange die Konservativen an der Regierung waren, hatte die sozialpolitische Gesetzgebung nur bescheidene Fortschritte gemacht. Unter der liberalen Regierung wurde die Hebung der unteren Klassen auf Kosten der Besitzenden zum Leitgedanken der Sozialreform. Als Asquith 1908 anstelle CampbellBannermans liberaler Premierminister wurde, übernahm Lloyd George das Schatzkanzleramt. Er wollte die Alterssicherung und die ländliche Siedlung durch zahlreiche neue Steuern auf Besitz und hohe Einkommen, besonders durch Erbschaftssteuern in bis dahin unerhörtem Maße, ermöglichen („Ein Memorandum liegt mir vor [es hat noch privaten Charakter], das

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die Grundzüge eines neuen Gesetzentwurfs enthält ...“). Das eigentliche Ziel dieser neuen Steuergesetzgebung, die im Budget von 1909 zusammen gefasst wurde, war der Großgrundbesitz, der durch unerträgliche Lasten zum Landverkauf gezwungen werden sollte. Als das Oberhaus das Budget ablehnte, bestätigten zweimalige Neuwahlen im Januar und im Dezember 1910 die liberale Mehrheit im Unterhaus. Die Lords genehmigten daraufhin das Budget. Dennoch entschloss sich die Regierung, die Macht des Oberhauses, das als Hemmschuh fortschrittlicher Entwicklung galt, verfassungsmäßig einzuschränken. Im August 1911 wurde diese Verfassungsänderung Gesetz. Danach sollten Finanzgesetze überhaupt nicht mehr der Zustimmung des Oberhauses bedürfen, alle übrigen Gesetzesentwürfe aber als angenommen gelten, wenn das Unterhaus sie in drei aufeinanderfolgenden Sessionen angenommen habe. Die Sozialreform machte nun rasch weitere Fortschritte. Zugleich wurde das öffentliche Leben durch den Kampf für das Frauenstimmrecht bestimmt. Tönnies erweist sich auch hier als gut informierter kompetenter Beobachter der englischen Verhältnisse und interpretiert 1906 innenpolitische Entwicklungen und Möglichkeiten, die erst Jahre später soziale Realität wurden.

Moralische Gedanken eines Weltmannes (Tönnies 1906l, hier S. 436) Dank eines Hinweises von Cornelius Bickel kann auf Tönnies’ Edition „Charakterbild eines Königs“ (1910) des englischen Schriftsteller und Politikers George Saville Marquis de Halifax verwiesen werden, der die Aphorismen in abgewandelter Form entnommen sind. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass Tönnies in jungen Jahren selbst Gedichte verfasste, also für Lyrik und kurze, in sich geschlossene Prosasprüche, wie Aphorismen sie darstellen, durchaus empfänglich war. Zudem hielt er sich mehrmals längere Zeit in England auf, in den großen Bibliotheken von Oxford und London sowie in der des Herzogs von Devonshire auf Schloß Hartwick. Tönnies’ ältester Bruder lebte zu jener Zeit „als junger City-gentleman in London“. Er hatte also durchaus Gelegenheit, englischsprachige belletristische Texte kennen zu lernen, die in Deutschland (noch) nicht bekannt waren (vgl. Tönnies 1922a: 208, 214, 217, 221; Tönnies 1980a: 220, 226; Tönnies 1931: 1917 f.). Die Urheberschaft von Tönnies’ Übersetzung ist bereits durch Brenke bezeugt (1936: 388).

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[Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten] (Tönnies 1906w, nur hier im Editorischen Bericht) Eine Veröffentlichung des Vortrages „Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten“ in den dafür in Frage kommenden Zeitungen und Zeitschriften konnte nicht nachgewiesen werden. Überprüft wurde der Zeitraum vom 29. 9. bis zum 31. 12. 1906 hinsichtlich folgender Zeitungen: „Husumer Wochenblatt“, „Husumer Nachrichten“, „Friesen-Courier“ (Bredstedt), „Friedrichstädter Wochenblatt“, „Eiderstedter Nachrichten“ (Garding), „Nordfriesische Rundschau“ (Niebüll-Deezbüll). Ferner wurden durchgesehen die Jahrgänge 1907 und 1908 folgender Periodika: „Die Heimat“ (Kiel), „Dr. Meyns schleswig-holsteinischer Hauskalender“ (Garding), „Mitteilungen (Veröffentlichungen, Jahrbuch) des Nordfriesischen Vereins für Heimatkunde und Heimatliebe“ (Husum), „Schleswig-Holsteinische Rundschau“ (Altona-Ottensen) sowie die „Literaturberichte“ der „Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte“ von 1905 bis 1908. Alles ohne Ergebnis. Jedoch fanden sich immer wieder Hinweise auf die beabsichtigte Veröffentlichung des Vortrages, etwa in den „Husumer Nachrichten“, Nr. 117, vom Sonnabend, den 29. 9. 1906: „Darauf sprach Herr Professor Dr. Tönnies über ‚Alt Eiderstedt und seine Freiheiten‘. In glänzendem Vortrage, der durch Zitierung vieler alter Dokumente im markigen altertümlichen Plattdeutsch längst vergangener Jahrhunderte ein eigenartig chronistisches und doch lebendiges Kolorit erhielt, entrollte der Redner ein wunderbar packendes Bild vom alten freien Volke der ‚Eidergestade‘, von ihrem Leben, und ihren Kämpfen, ihrer freiheitlichen Konstitution und von der allmählichen Untergrabung derselben durch Fürsten und Fürstendiener. Man hörte aus jedem Satze, daß hier nicht nur ein Gelehrter, sondern ein Sohn jener Landschaft sprach, der noch heute den Verlust der uralten freien Volksrechte schmerzlich empfindet. Es würde allzu weit führen, den ganzen Inhalt des Vortrages, der übrigens auch im Druck erscheinen wird, hier auch nur anzudeuten, doch wollen wir einige der markantesten und der unbekanntesten Punkte hervorheben. Der Redner erwähnte im Beginn seiner Rede die große Unkenntnis, die stets in weiteren Kreisen betreffs des Herzogtums Schleswig geherrscht habe. Als vor etwa 40 Jahren das Herzogtum Schleswig in den letzten Zügen seines staatlichen Daseins gelegen habe, war es in Deutschland so gut wie unbekannt; dort sprach man wohl von Schleswig-Holstein, wußte aber nicht, daß dieser Doppelname erst zwei Menschenalter alt sei. Nur deshalb ist erklärlich, daß die letzte Kunde der alten Freiheiten unter dem Trommelwirbel der preußischen Annexion

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verhallt ist und wenige daran gedacht haben, ihr zu lauschen. Schriftsteller haben, wenn von freien Bauernvölkern die Rede war, wohl die Schweizer und die Dithmarscher, daneben wohl auch die Friesen, erwähnt, doch höchstens die Südfriesen, niemals die Eiderfriesen; kaum im Vorübergehen werden die Nordfriesen gestreift. Und doch ist die Geschichte der Dreilande von allgemeiner, soziologischer Bedeutung. – Dann führte der Redner aus, wie sich aus dem primitivsten Zusammenschluß die Harden gebildet und die Harden sich schließlich zusammenschlossen. Er erzählte von ihren Freiheiten und Kühren, von ihren Dingstätten und Gerichten und von ihren Dreibergen. Von ihren Kämpfen mit den dänischen Königen, den schleswigschen und späteren gottorpischen Herzögen. Mehr und mehr wurden die Staller, die ihrem Rechte nach von den Eiderstedtern selbst und aus ihrer Mitte gewählt werden sollten, gefügige Diener der Fürsten und Schmäler der alten Rechte. Was früher als ihr gutes Recht galt, sollte jetzt als durch die Gnade der Fürsten verliehen gelten. Wiederholt wurden ihnen gegen Zahlung hoher Summen ihre alten Rechte als ‚Privilegium‘ wiedergewährt, ein paarmal erreichten sie es auch auf demselben Wege, Landsleute zu Stallern zu bekommen, doch nur zu oft erweisen auch diese sich als Verräter. So sind denn schließlich im Laufe der Jahrhunderte die alten Freiheiten ihnen genommen und nur noch das ‚Alte Eiderstedter Landrecht‘ hat sich bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts erhalten.“ In der Zeitschrift „Niedersachsen“ (1906/07: 38), schreibt Felix Schmeißer (1882–1953) mit Bezug auf den Gardinger Vortrag unter anderem: „... Herr Prof. Tönnies wird denselben indessen auch im Buchhandel erscheinen lassen, und er dürfte nicht allein bei Freunden friesischer Geschichte, sondern auch in weiteren Kreisen Interesse finden, da die freiheitlichen Einrichtungen dieses republikanischen Bauernvolkes von geradezu allgemeiner soziologischer Bedeutung sind ...“. Ähnliches berichten die „Eiderstedter Nachrichten“ (43. Jg., 3. Quartal, Nr. 4772, Sonnabend 29. 9. 1906): „Den zweiten Vortrag hielt Prof. Ferdinand Tönnies über Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten ... jedoch wird der gediegene, von entschieden eingehenden wissenschaftlichen Vorarbeiten zeugende Vortrag durch Drucklegung der Allgemeinheit erhalten bleiben“. Auf die bevorstehende Publikation des Vortrags weist gleichfalls die „Nordfriesische Rundschau“ hin (Zweites Blatt, 23. Jg., Nr. 115, Dienstag, den 2.10.1906).

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Die Mitteilungen, die ich Ihnen vorzulegen die Ehre habe, muß ich mit einer auffallenden Be­hauptung eröffnen. Ich meine und sage näm­lich, daß vor 40 Jahren das damals in den letz­ten Zügen seines staatlichen Daseins liegende Herzogtum Schleswig im großen Deutschland wenig bekannt gewesen ist. Man sprach von Schleswig-Holstein, ohne zu wissen, daß dieser Begriff und Doppelname kaum mehr als zwei Menschenalter alt war, und man wußte doch in der Regel nur von Holstein ein wenig und nann­te nach alter Gewohnheit auch den Mann, der aus dem Schleswigschen stammte, einen Hol­steiner, ja ich hege den Verdacht, daß viele ge­glaubt haben, Schleswig sei die Hauptstadt von Holstein und nur daher stamme jener Doppel­ name. Selbst in der gelehrten Welt war das Stu­dium dieser unserer Nordmark sonderbar ver­n achlässigt und die Kenntnis ihrer Merkwür­digkeiten dürftig. Nur daraus ist es erklärbar, daß die uralten Verfassungen in Justiz und Ver­waltung, von denen sich hier so bedeutende Reste erhalten hatten, unter den Trommelwir­beln der preußischen Annexion fast unbemerkt verschwunden sind und daß kein Kulturfor­scher der Mühe wert gehalten hat, diese Institutionen in ihren letzten Atemzügen zu belau­schen; leider ist übrigens auch heute noch der Sinn für Beobachtung des wirklichen Lebens bei den Kulturforschern viel zu wenig ent­wickelt. Die besten Schriftsteller über altgermanische Rechtsgeschichte, deren Werke in jener Zeit oder in dem vorausgehenden Dezennium er­schienen sind, tun wohl der Tatsache Erwäh­nung, daß durch das sogenannte Mittelalter hindurch, als sonst fast überall im Deutschen Reiche und jenseits seiner Grenzen auf den Grund und Boden und auf seine Insassen Be­griff und Wesen der Herrschaft sich gelegt hat­te, in einzelnen entlegenen Gegenden, nament­lich im Alpenlande und an den Meeresküsten, Reste der ursprünglichen gemeinen Freiheit, zu­meist auch mit noch vorwaltendem Gemeinde­ Eigentum an der Ackerflur wie an Wald, Was­ser und Weide sich gerettet hatten. Sie tun der Tatsache Erwähnung und sprechen sogleich von der Schweiz und von Dithmarschen; daneben wird wohl auch auf Friesland Bezug ge­nommen, aber was dann berichtet wird, bezieht sich fast ausschließlich auf Südfriesland; kaum im Vorübergehen wird unser Nordfriesland ge­streift. Und doch gab es hier eine Ecke, wo jene landschaftlichen Freiheiten, d. h. ein großes Stück von Selbstregierung – nicht bloße Selbstverwaltung im schwächlichen heutigen Sinne – nicht nur gegen den Feudalismus, sondern, was fast mehr bedeuten will, auch gegen die neue staatliche Zentra-

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lisation, der die feudalen Institutionen selber zum größten Teile erlegen sind, bis dahin leidlich, wenn auch keineswegs unversehrt, sich erhalten und behauptet hatten. – Daß dies in der Landschaft Eiderstedt, oder wie man noch bis ins 18. Jahrhun­dert amtlich und gemeinhin sich ausdrückte, in den Dreilanden Eiderstedt, Everschop und Utholm, der Fall gewesen ist, hat nicht bloß lo­kalgeschichtliche, heimatkundliche, sondern hat allgemeine und wie wir jetzt sagen, wo es um die Entwicklung des sozialen Lebens sich handelt, soziologische Bedeutung. Was war sie denn, jene altgermanische Ge­meinde- und Gemeinfreiheit? Worin hatte sie ihre Wurzel? worin ihr Wesen? – Sie hatte ihre Wurzel in den Genossenschaften wehrhafter Männer – in tieferem Ursprung auch wehrhaf­ter Frauen – wie solche auf Grund wirklicher oder bloß vorgestellter Blutsverwandtschaft, um die Verehrung eines gemeinschaftlichen Ahnherrn geeint, bei allen Völkerstämmen der Erde, wie aus dem Boden gewachsen, entstan­den sind. Genossenschaften zu Schutz und Trutz, zu gegenseitiger Rache, mit gemeinsa­men Herden oder gemeinsamem Grund und Boden, gemeinschaftlichem Namen und Wahr­zeichen, gemeinsamen Grab- und Kultstätten, mit erwählten Vorstehern, Ältesten oder Häuptlingen –; unter dem Namen des Klans, den sie im schottischen Hochland trägt, ist diese Urgemeinde besonders auch durch die romanti­schen Erzählungen . Sir Walter Scotts am weite­sten berühmt geworden. In der hochdeutschen Überlieferung wird sie die Sippe genannt, die, wie Brunner sagt, im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen eine weitreichende Bedeutung gehabt hat. Aber un­sere Kunde der Urzeit ist so spärlich, und die ur­sprünglichen Institutionen sind durch römische Einflüsse, geistliche und weltliche, so früh und so stark übermalt worden, daß ihre echte Ge­stalt nur mühsam dahinter entdeckt werden kann; als die politische elementare Einheit, was sie ganz sicher gewesen ist, finden wir die Sippe in den uns zugänglichen Jahrhunderten nicht mehr; auch bei den Friesen nicht. Allerdings aber finden wir sie bei den Nach­barn und Stammverwandten Nordfrieslands, bei den Dithmarsen, bei denen es, wie der treff­liche Chronist Neokorus sich ausdrückt, „in Idern Carspelen herliche olde Geschlechte“ gab, „under sich in sonderliche Brodertembte edder Kluffte gedelet“. Sie zogen unter ihren ei­genen Fahnen ins Feld, die mit ihren Wappen­tieren geschmückt waren, und stellten gleich­sam die Regimenter dar, aus denen die wehrhafte Volksgemeinde sich zusammensetz­te. Reste einer gleichen Verfassung haben wir vermutlich in den eiderstedtischen Matings zu sehen, die in alter Zeit als Heereskörper ge­n annt werden und

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noch spät im Deichwesen eine Rolle spielen, auch gab es noch im 18. Jahrhundert ein Matingsding, worin von den Lehnsmännern in Bagatellsachen Jurisdiktion geübt wurde. Wiefern aber diese Geschlechter und die aus ihnen gebildeten Gruppen den germanischen Markgenossenschaften und den darauf beru­henden Einteilungen der Völkerschaften in Gaue und Hundertschaften, die in unserem Norden Harden heißen, zu Grunde liegen, ist im einzelnen ungewiß; sicher scheint nur, daß diese Benennungen sich mannigfach gekreuzt und geschieden haben. Den Südfriesen wie den Dithmarsen ist der Name Harde unbekannt, von Skandinavien, also von den Dänen her, scheint er in Nordfriesland aufgenommen zu sein. Das Wesen der altgermanischen, wie jeder echten Volksfreiheit, liegt darin, daß die wehr­hafte Gemeinde sich selbst beherrscht, daß ihre Versammlung richtet und waltet, daß sie ihre Anführer wählt, die ihr verantwortlich sind, daß die persönliche Freiheit darin besteht, an dieser Recht weisenden und wahrenden Ver­sammlung teilzunehmen, daß dieser Ehre und Befugnis die Pflicht entspricht, dem Willen der Gesamtheit, „wie den hierauf beruhenden all­gemeinen Ordnungen, so der besonderen Ent­ scheidung in einzelnen Fällen“ (Waitz) sich wil­lig zu unterwerfen. Aber in der Gemeinde, als der Einheit Zu­sammenwohnender, die uns als Dorf- oder Kirchspielsgemeinde am ausgeprägtesten ent­gegentritt, bleibt das Gemeinwesen nicht be­schlossen: größere Verbände entstehen oder er­halten sich über den kleineren; ihr Verhältnis zu einander ist durch gemeines Verständnis, durch Herkommen oder durch Gesetz geregelt; der gemeinsame Friede bedingt gemeinsame, aner­kannte Gerichte; gemeinsame Arbeit, wie unse­re Marschen sie vorzugsweise zum Bau der Dei­che notwendig machten, erfordert verbindende Ordnungen; zunehmender Verkehr greift über die Grenzen hinaus, wie die Streitigkeiten zwi­schen Nachbarn; wo keine Einigung durch ge­meinsames Recht, wird Entscheidung durch Gewalt oder durch überlegene Macht um so mehr notwendig. Nordfriesland ist niemals ein politisches Ganzes gewesen – die Ursachen, warum es sich dazu nicht gestaltete, mögen hier unerör­tert bleiben. Die Harde, die auch als Gau und als Land bezeichnet wird, bildete die politische Einheit und blieb es, soweit nicht die Nachbar­schaft und gemeinsames Interesse den Zusam­menschluß einzelner solcher Harden bewirkte; wie es allmählich mit unseren Dreilanden ge­schehen ist, die zuerst in einer Urkunde von 1187 als Teile des friesischen Utlandes ange­führt und 1. Tunninghæret 2. Gertinghæret

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3. Holmbohæret genannt werden; die beiden ersten nach ihren Haupt- und wohl ältesten Kirchenorten (Tön­ning und Garding); für die dritte hat Tating die­selbe Bedeutung gehabt; sie war die jüngste und kommt in König Waldemars II. Erdbuch (zu Anfang des 13. Jahrhunderts) noch nicht als ei­gene Harde vor, sondern anstatt ihrer zwei ge­sonderte Inseln Holm und Hæfræ, von denen später keine Rede ist. Auch figurieren in späte­ren Urkunden die Dreilande nur unter den Na­men und mit ihren Siegeln als Eiderstedt, Ever­ schop und Utholm, ohne daß erkennbar ist, ob ihre früheren Hardesnamen völlig verschwun­den sind. Die politische Unabhängigkeit dieser Dreilande, als einzelne wie als verbundene, haben wir uns bis ins 14. Jahrhundert hinein, zwar als groß, aber doch nicht als vollkommen zu denken: Schon in früher Zeit – wenigstens seitdem Karl der Große die Eider als Grenze des Deut­schen Reiches gesetzt hatte – sind alle Harden der friesischen Utlande unter dänische Oberhoheit gekommen; aber gerade darin, daß sie unter dem fernen dänischen Könige und nicht unter dem nahen Herzoge von Südjütland stan­den, bewährte sich ihre tatsächliche Freiheit; in diesem Sinne wurden sie als Königsfriesen von den Herzogsfriesen, nämlich denen der drei Geestharden (Norderund Südergoes- und Karrharde) unterschieden; die Marschleute blieben, wie Michelsen (Nordfriesland im Mit­telalter S. 36) sagt, „frei und nach eigenem Rechte lebend“, wenngleich sie sich zur gemei­nen Heeresfolge und zur Entrichtung eines Tri­buts, des Landgeldes, verpflichtet hatten, wozu bald noch ein Hausschoß hinzukam. Sie waren im Verhältnis zu Dänemark reichsunmittelbar, wie die Südfriesen, ohne Herzog oder Graf über sich, es lange zum Deutschen Reiche blie­ben; und gleich diesen beriefen sich auch jene auf die Überlieferung, daß einst Kaiser Karl diese Freiheiten allen Friesen als Lohn für ihre tapferen Taten verliehen habe. Schon die sogenannte alte Eiderstedtische Chronik, und auch P. Heimreich führt ein Dokument dafür an, des­sen Unechtheit freilich schon zu Heimreichs Zeit erkannt war; von neueren Forschern wird die Entstehung der Sage in den Ausgang des 12. Jahrhunderts gesetzt; für die herrschenden Ge­danken und Gesinnungen bleibt sie merkwür­dig genug. In sieben Küren faßt sie diese Frei­heitsrechte zusammen: „Da kaes Magnus den aersta kerre: ‚dat alle Fresen fryherren weeren, die berna ende die oenberna, alsoe langh soe di wynd fan da wolkenen wayd ende dyoe wrald stoede, ende willet wessa mita ker dis koninghes haga heranathen‘.“ Es wird manchem unter Ihnen, meine geehr­ten Zuhörer, fast wunderlich klingen, daß unser Eiderstedt, jetzt der kleinste unter den landrät­lichen

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Kreisen des preußischen Regierungsbe­zirks Schleswig, wenigstens bis ins 14. Jahrhun­dert hinein gewissermaßen einen Staat für sich gebildet hat. Ich sage ausdrücklich: „gewisser­maßen“ – denn ob man dies gelten lassen will, hängt freilich davon ab, welchen Begriff vom Staate man sich gebildet hat, und dieser Begriff ist schwierig und umstritten. Nach dem wissen­schaftlich strengen Begriff, wie ich ihn auffasse, ist der Staat etwas verhältnismäßig Junges, Modernes, eine Idee, die allmählich, aus man­nigfachen einander widersprechenden Gestal­ten sich entwickelt hat, in den meisten Ländern, ja wohl überall, auch heute etwas Werdendes, Wachsendes, um Dasein und Macht Ringen­des. Die alten Reiche wie das Heilige Römische Reich deutscher Nation waren nicht Staaten in diesem Sinne, vielfach versuchte dieses sich in einen Staat umzubilden, aber mit mehr Erfolg bildeten sich innerhalb seiner die Territorien gleichsam in die Staatsidee hinein. Dies ge­schah zuerst meistens dadurch, daß die herrschenden Schichten, zuweilen mit Hilfe der Lan­desfürsten, öfter aber ohne und vielmehr gegen sie, in freier Einung sich eine ständige, ständi­sche Vertretung schufen: der Adel also und die Geistlichkeit, denen aber bald – und dies ge­schah zumeist unter Mitwirkung der Fürsten – die Städte als landes- oder reichsunmittelbare Gemeinden sich anschlossen (und ausnahms­weise, wie in Württemberg, waren auch die Bauern direkt vertreten). Auch in unseren Lan­den Schleswig und Holstein sind jene drei Stände es gewesen, die zuerst eine politische Einheit, eine Verfassung, die sogenannte ge­meine Landschaft, aus sich darstellten; und zwar an ihrer Spitze die Ritterschaft oder Mannschaft, wie sie damals hieß, die den wie­derholten Landesteilungen, wie das Privatinter­ esse der Fürsten sie verschuldete, ihr genossen­schaftliches Interesse als ein unteilbares und darum ihr Gebiet als ein Ganzes entgegenstell­ten – in diesem Sinne huldigten sie 1397 zu Bornhöved allen drei Landesherren und über­n ahmen gewissermaßen die Garantie für die damals unter den drei Brüdern Gerhard, Al­brecht und Heinrich vorgesehene Wechselre­gierung des Herzogtums Schleswig. Die regelmäßige Aufgabe der ständischen Landtage war aber bekanntlich die Steuerbewil­ligung, und es ist hier historisch nicht durchaus klar, wie sie, die doch unmittelbar nur die adli­gen und klösterlichen Distrikte und die Städte vertraten, sich anmaßen konnten, Steuern für die Amtsbauern, die doch in Holstein freie Ei­gentümer waren, zu bewilligen, oder vielmehr die Steuerlast mehr und mehr auf diese abzu­wälzen. Ebenso erkennt man nicht deutlich, wie es geschehen konnte, daß dieselbe Stände­versammlung für beide Fürstentümer, nach­dem die Schauenburger ausgestorben waren, 1460 das Recht, einen neuen Landesherren zu erwählen, ausüben konnte,

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aber wir dürfen an­nehmen, daß es einfach Ausdruck ihrer tatsäch­lichen Macht gewesen ist, der sich die Einwoh­ner der Ämter und der Landschaften fügten. Meines Wissens ist keine Spur davon erhalten, daß irgendeine der Landschaften für sich eine Wahlhandlung vorgenommen hätte – die fei­erliche und förmliche Huldigung mochte die Stelle vertreten; jedenfalls gingen die Beschlüs­se des schleswig-holsteinischen Landtages sie direkt nicht an, selbst wenn sie übrigens für das „Herzogtum Schleswig“ verbindlich waren; denn die friesischen Utlande sind, wie Michel­sen (S. 181) sich ausdrückt, „zu keiner Zeit die­sem Herzogtum eigentlich und förmlich einver­leibt worden“. So daß das berühmte Gelübde, daß Schleswig und Holstein bleiben sollten „up ewich ungedeelt“, auf unsere Heimat eigentlich keinen Bezug hatte, sie nicht in sich einschloß. Auch sind, wie Michelsen durch Urkunden be­legt, wie mit den Ständen die gemeinen Landta­ge, so noch im 16. und 17. Jahrhundert mit den Landschaften, sobald ihnen eine Kontribution angesonnen wurde, besondere Landtage gehal­ten worden. Allerdings sind gerade die Eider­stedter nebst den Fehmaranern auch nicht sel­ten auf dem allgemeinen Landtage erschienen; Michelsen meint, daß die landesherrlichen Kommissarien aus Bequemlichkeit es so gehal­ten haben, die partikulären Landtage mit den allgemeinen zu verbinden. Wie dem auch sei, bekanntlich ist die ständische Vertretung und das „Steuerbewilligungsrecht“ – oder sagen wir lieber die Macht, aus freiem Willen dem Landesherrn Beiträge für seine militärischen und höfischen Zwecke zu geben – wie in den meisten anderen deutschen Territorien, so in Schleswig-Holstein von Mitte des 17. Jahrhun­derts ab in Verfall geraten und erloschen; der letzte der alten Landtage wurde ohne die Städte gehalten und im Jahre 1712 verabschiedet. Auch den Einzellandschaften wurden von dieser Zeit ab, und tatsächlich offenbar schon weit früher, die gemeinen Lasten einfach aufer­legt; sie wurden mehr und mehr als abhängige Landesteile, als bloße Distrikte, gleich den Ämtern, behandelt und regiert. Was unsere Dreilande betrifft, so war ihre ei­gentliche Unabhängigkeit, die in historischer Zeit wie gesagt überall mehr vollkommen und unangefochten gewesen ist, am größten, wie sich von selbst versteht, so lange sie noch dar­um kämpften; d. h. so lange sie ihre Tribute noch widerwillig und unregelmäßig zahlten, und gegen Vermehrung der Auflagen, wie ge­gen gewaltsame Unterwerfung sich erhoben. Und dies haben sie noch während des 13. und 14. Jahrhunderts wacker getan, mit wechseln­dem Erfolge und mit dem endlichen Schicksale, das die Schwachen immer haben, das in unserer Zeit die Boeren gegen die Engländer gehabt ha­ben. – Die eiderstedtische Vulgärchronik erzählt von dem Widerstande gegen

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König Abel, der zu­erst im Winter 1251/52, als die Gewässer mit Eis bedeckt waren, Eiderstedt mit Krieg über­zog, um sie zu der außerordentlichen Abgabe, die sie verweigert hatten, zu zwingen. Tauwet­ter und Regen vereitelten im Frühling sein Vor­haben. Aber im Sommer rüstete der König ei­nen neuen Feldzug aus, der sich bedrohlich gestaltete, bis die Norderharden zu Hilfe ka­men und für diesmal Friesland verbündet und einmütig sich erhob um das Bildnis seines christlichen Schutzpatrons, S. Christians ver­eint: „unde se sprecken alle uth einem munde“, wie es in der Chronik heißt, „wo dat de Eren­werdige Romische koninck Karolus ere vorol­deren van siner kayserliken werdigkeit unde macht fry gegeuen hadde, dat se by eme vor­woruen hadden mit heerschilde, unde eer se ko­ninck Abel wolden huldigen unde geuen eme schatt unde tins, dar wolden se alle steruen, ed­der koninck Abel scholde steruen.“ Das letztere war ihnen begreiflicher Weise lieber, und so kam es denn auch, nach der schweren Niederla­ge, die sie ihm beigebracht hatten. Auf der Höhe freilich, worin hier Eiderstedt und das übrige Nordfriesland als Macht er­scheinen, haben sie sich nicht lange erhalten können. Während der folgenden anderthalb Jahrhunderte wurden sie in die Kämpfe zwi­schen König und Herzog, zwischen beiden und den holsteinischen Grafen, hineingerissen und erscheinen oft als das begehrte Streitobjekt, aber auch als Spielball, der zwischen diesen Mächten hin und hergeworfen wird. Zu den vielfachen Bedrückungen, die der Niederwer­fung von Aufständen folgten, kamen die Schrecknisse der Natur – jene ungeheuren Überschwemmungen der Jahre 1354 und 1362, die als „Manntränke“ in den Chroniken be­zeichnet werden; dazu trug auch der schwarze Tod seine Verheerungen in die Marschen; mehr als die halbe Volksmenge – so heißt es – sei in unseren Dreilanden dahingerafft worden. Und doch erhob sich noch einmal in den folgenden Jahrzehnten Eiderstedt und das übrige Nord­friesland zu Macht und Bedeutung. In dem Kampfe, der um das Herzogtum zwischen Dä­nen und den Söhnen Gerhards des Großen von Holstein entbrannt war, wußten sie ihre Unab­hängigkeit aufs neue zu behaupten. Freilich en­dete dies Ringen mit einer förmlichen Unter­werfung der Dreilande unter den jungen Herzog Heinrich und seine Brüder Adolf und Gerhard – die Urkunde vom 26. Mai 1414 ist erhalten, worin „wy Radlüde unde de gantze Meenheyt dreyer Lande Eyderstede Euerike­schopp unde Udholm, don wytlik unde apen­bare“, daß sie bei den Herzögen und ihren rechtmäßigen Erben allezeit zu bleiben, sie zu unterstützen und zu stärken geloben mit aller ihrer Macht, wann und wo es denselben Bedarf seyn würde, wider alle, die sie beschädigen möchten und wollten. Sie verzichten in dieser Urkunde aus-

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drücklich auf das Recht, Bündnis­se zu schließen ohne Genehmigung des Landes­herrn, „noch myd herren unde Steden, edder myd landen“, insbesondere aber mit dem „Lan­de to Dythmerschen“. Der Form nach eine Un­terwerfung, ist es materiell eher ein Allianz­vertrag, wenn auch der schwächeren Macht mit der stärkeren, so doch einer Macht, die noch für fähig gehalten wurde, selbständige Bündnis­se zu schließen und dadurch sich gefürchtet zu machen. In der Tat hätte damals ein Bündnis Dith­marschens mit Eiderstedt, dem sich ohne Zwei­fel die Siebenharden bald angeschlossen hätten, der ganzen Entwicklung eine andere Wendung gegeben; die Dithmarsen, die sich damals dem Könige verbündet hatten (im Jahre 1409), schei­nen danach gestrebt zu haben; sie wußten wohl, daß für ihre Freiheit wie für diejenige Nord­frieslands die Macht der fernen Könige viel we­niger gefährlich war als die der nahen Herzöge; da auf die Streitigkeiten zwischen diesen und je­nen kein Ende abzusehen war, so hätte die ver­bündete Westküste, die noch außerhalb der Herzogtümer lag, in diesen Streitigkeiten der dann profitierende Dritte sein können; sie hätte als Eidgenossenschaft und Bauernrepublik gegen die Fürsten und Ritter Dänemarks und Holsteins sich vermutlich länger zu behaupten vermocht, als es den getrennten Friesen und Dithmarsen möglich gewesen ist. Es ist daher nicht für einen Zufall zu achten – wenn auch weder die Chroniken noch die Geschichtsschreiber von einem Zusammenhange wissen –, daß es in dieser Zeit – 1414 – anstatt zu einem Bündnis zu einer blutigen drei Jahre währenden Fehde – um nicht zu sagen einem Kriege – zwischen Dithmarschen und Eiderstedt kam. Wenn den Herzögen ein Bünd­nis zwischen den zwei Republiken nicht paßte, so mußte ihnen der Zwist um so besser passen. Hier konnten sie wieder die Gewinnenden zu sein hoffen. Das Henken der vier wirklichen oder angeblichen dithmarsischen Pferdediebe wäre sonst wohl unterblieben. Eiderstedt allein war den Dithmarsen nicht gewachsen; wollte der Herzog nicht Hilfe leisten oder konnte er nicht? Jedenfalls war die Niederlage der Eider­stedter so groß, daß sie auch für den Herzog schweren Schaden bedeutete. Den Dithmarsen folgte König Erich auf dem Fuße; eine Zeitlang konnte es zweifelhaft sein, ob die Dreilande unter seiner, unter der Dithmarsen oder unter des Herzogs Botmäßigkeit standen. Bald aber behauptete sich der Herzog wieder; die Dith­m arsen scheinen sich, nachdem ihnen bei einem neuen Verheerungszuge für ihre Forderung von 30000 Mark Mannbuße 30 angesehene Leute aus Everschop und Utholm als Geiseln gestellt wurden, mit ferneren Ansprüchen beru­higt zu haben. Die Utlande waren in den Kämpfen zwischen Herzog

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und König tatkräf­tige Verbündete des Herzogs; Michelsen meint (S. 139), es zwinge zur Bewunderung, wenn man die Eiderfriesen, die in den drei Schreckensjahren so unermeßliche Güter und wohl ein Drittel ihrer wehrhaften Mannschaft eingebüßt hatten, dennoch bereits nach neun Jahren neben den anderen Nordfriesen zum Beistande der jungen Herzöge sich aufmachen sehe. Bei Gelegenheit dieses Hilfszuges (1426) kam unsern Dreilanden zum letzten Male ihre alte Selbständigkeit und Unabhängigkeit zum vollen Bewußtsein – die Eigentümlichkeit ihres heimischen Rechtes. „Hir schaltu hören vnde sehen de krone der rechten warheit, alse et ein recht wilkörtes recht is in Eidersted, Euer­schop und Vtholm, und vnse voroldern hebben dith na beschreuen recht vns an beeruet van natiden an alse dat dith land erst gestifftet is, und fort kind na kind na to eruende; vnd noch de köninge, noch ere regenten noch hertogen dar de lande ie vnder beschermet, hebben vnse wilkörtes recht nicht gestraffet“ – so beginnt die berühmte Aufzeichnung über „dat olde fresche landrecht“, die sich rühmen will, daß es kein Gericht über den einheimischen Volks­gerichten gebe. Gleichzeitig wurde auch die Sie­benhardenbeliebung aufgezeichnet. Durch den Friedensschluß von 1435, der den fast dreißigjährigen Krieg zwischen Königen und Herzögen beendete, wurde die Abhängigkeit Frieslands von den Herzögen man darf sa­gen endgültig bestimmt. Ein Akt der Einverlei­bung ist aber auch damals nicht geschehen. Während Dithmarschen 124 Jahre später seine Freiheit mit einem Schlage, dann aber auch förmlich und gründlich verlor, ist die politische Selbständigkeit Eiderstedts allmählich und friedlich zerrieben worden. Tatsächlich wurde noch im 15. Jahrhundert das allgemeine schles­wigsche Landgericht zum Obergericht auch für die nordfriesischen Harden. Als im Jahre 1454 noch jedes der drei Lande für sich vom Herzog Adolf, dem letzten Schauenburger, sieben Jah­re später dann das vereinigte Eiderstedt vom König-Herzog Christian I. „alle ere olde Land­recht, Freyheit, rechte, rechticheyt unde privi­legia de se gehat hebben wente an disse tyd“, sich bestätigen ließen, da durfte man dieser Freiheiten sich schon nicht mehr sicher fühlen, und man muß sagen, sie hatten ihre beste Zeit gehabt. Schon der römische Rechtsausdruck „privilegium“ bezeichnet die Auffassung, daß dafür der gute Wille und das Belieben der Für­sten maßgebend sei, die aus Gnade es bei sol­chen Vorrechten bewenden ließen, während sie in Wirklichkeit diese Vergünstigungen bald zum Gegenstand eines Geschäftes machten und sich teuer dafür bezahlen ließen. Die Rat­leute und Gemeinde der Dreilande hatten es von nun ab bei jedem neuen Herrn eilig, sich diese Privilegien bestätigen zu lassen, so durch König Johann 1482, durch den Herzog, später auch König Friedrich

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1495, durch Christian III. 1538, sodann nach der ersten Landesteilung von 1544 durch Herzog Adolf, dem mit dem Amte Gottorp Husum und Eiderstedt zugefal­len waren; übrigens mußte diese Teilung der Er­haltung der landschaftlichen Freiheiten inso­fern zugute kommen, als nunmehr nur ein kleiner und minder mächtiger Fürst ihnen ge­genüberstand. Es ist bei dieser Gelegenheit das erste Mal, daß von einer direkten Bezahlung der Privilegien die Rede ist (wenngleich schon 1526 für die Zollfreiheit 3 000 Mark erlegt wurden) – die Vorsteher der Lande erreichten, so hören wir, erst 1546 die Bestätigung und zwar gegen Erlegung von 14 000 Mark, die auf Schloß Got­torp in zwei Raten bar bezahlt wurden. Längst schon waren die Lande zu Steuerlei­stungen, die weit über das alte Landgeld und den diesem angehängten Hausschoß hinaus­gingen, genötigt worden. Im 15. Jahrhundert vermehren sich die Schatzungen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Auch Herzog Adolf, der durch die Landesteilung hier die Herrschaft bekam, hatte schon, ehe er die Privilegien verkaufte, 10000 Mark Steuern gefordert und erhalten, außerdem mußte die Landschaft – was mit den alten Rechten in direktem Widerspruch stand – den vierten Mann zum „Ausschuß“, d. h. zum stehenden Heere stellen. So ist es denn kein Wunder und vielmehr ein Ausdruck dieser bedeutsamen Neuerung, daß in der neuen Ur­kunde über die Privilegien der in allen fünf früheren enthaltene wichtige Satz über die „Dienstfreiheit“ fehlt. Er lautet in der ältesten Charte: „sunder besweringe alles denstes to wa­gen edder ander unwonliken denstes dar de uthlande beth an dissen dach frig und unbeswe­ret mede gewest synt, uthgenomen landtfolge alse wöntlick is“ (d. h. der Heerbann bei allge­meinem Aufgebot zur Landwehr galt als selbst­verständlich) und wörtlich ebenso in der zwei­ten, dritten und vierten Bestätigung, die überhaupt fast gleichlautend sind. Auch die fünfte, die aber erst fünf Jahre, nachdem König Christian III. die Regierung angetreten hatte, ausgefertigt wurde – es war in der unruhigen Zeit der großen kirchlichen Umwälzung – auch diese Urkunde enthält noch den Satz, aber mit einer kleinen und doch recht bedeutsamen Abweichung. Es heißt nämlich: „dar de Uthlan­de sonst lange frey und unbeschwert van gewe­sen seyn“. „Lange“ – wie lange? Das wird nä­here Prüfung, versteht sich abseiten des Herzogs und seiner Räte, ergeben; es wird vor­behalten, daß es doch auch einmal anders gewe­sen sei, und folglich (versteht sich), daß es auch wieder anders werden kann. Sonst hatte es gehei­ßen: „beth an dissen dach“, d. h. immer, von je­her, seit Menschengedenken; und darin lag eingeschlossen, daß es immer so bleiben müsse, daß es nicht anders sein könne und solle. – Nun also der Gnadenbrief Herzog Adolfs. Hier ist der Passus, wie gesagt, weggeschnitten.

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Dage­gen wird wortreich und mit vielen Umschwei­fen wiederholt, daß es sich bei der ganzen „Gnade“ um gnädigen Lohn für bisherige Treue und Untertänigkeit und „getrewe flitige“ Dienste der Eiderstedter handle, „so sie unsern seligen Vorfahren und Voreldern in allen ehren anliegenden Nöden und sonsten gehorsamlik getan“ und, heißt es dann einmal, „hinförder uns, unsen Erwen und Nakömelingen unwei­gerliken dhon schölen und willen“; auch wird betont in bezug auf die Privilegien und Freyhei­de: „darmede se von unsen seligen Vorfahren und Voreldern, van Grauen tho Grauen, Fürsten tho Fürsten, Königen tho Königen, als Hertogen tho Schleßwigk Holstein, beth tho dissen Dagh befreyet, privilegieret, begnadet und versorget“ – man hört, daß die Urkunde auf einen ganz anderen Ton [gestimmt ist]. Die fürstliche Machtvollkommenheit bläst ihre Flöte. – Charakteristisch ist auch folgender Unterschied. In den beiden ersten Charten wird die Bestätigung und werden damit die Freihei­ten selber ausdrücklich und sogleich im Ein­gange darauf gegründet, „up dat se desto fliti­ger beholden ere Lande und bewahren se mit Dike und Damme, alse des Not und dagelicks behoeff is, tho bestendigkeit des vorbenömeden Landes“. Auch hierin weicht schon die Urkun­de Christians III. von 1538 ab. Der Satz tritt hier zwar noch mit einer geringen Abänderung auf, aber er hat nicht mehr seinen Platz an der Spitze des Dokumentes, sondern hier ist an sei­ner Statt die erste Hinweisung auf frühere Be­gnadungen „von unsern seligen Herrn und Va­der, Koningk Friderichen tho Dennemarcken, ock von unserm seligen Grotvader, Koningk Christian löfflicher milder Gedächtnuss, samt alle unsern Vorfahren“, so daß man sagen kann: An die Stelle des sachlichen und wesentli­chen Grundes tritt der persönliche und zufälli­ge als Hauptsache – Könige und Herzöge ha­ben es gegeben, Könige und Herzöge können es wieder nehmen. In der Tat fehlt nun in der Be­stätigung Adolfs (1546) die Hinweisung auf die Deichslasten ganz – während die schönen Re­densarten vermehrt sind und die Urkunde auf die doppelte Länge gebracht haben. Noch weit länger ist aber die folgende Confirmation, die im Jahre 1589 Herzog Philipp erteilte: Alle früheren sind darin Wort für Wort wiederholt, offenbar um die offizielle Auffassung recht ein­zuschärfen, daß alles, was es an Freiheiten gebe, ausschließlich und durchaus auf diesen fürstli­chen Gewährungen beruhe, und danach wird dann im höchsten Obrigkeitsstile betont, daß durch die untertänigste inständige Bitten und Supplikationen die Erneuerung und Bestäti­gung veranlaßt und motiviert sei. Scheinbar bleibt es also beim alten – in Wirklichkeit wird diese allgemeine Bewilligung nur noch als eine Formalität behandelt, die Regierung behält sich vor, Dienste und Leistungen zu verlangen nach Bedarf und nach Gutdün-

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ken; wie es dann auch in dieser Zeit und seitdem fortwährend ge­schah. – Nebenbei wird bemerkt, daß die Ur­kunde Herzog Philipps die erste ist, die in hochdeutscher Sprache ausgefertigt ist; dies gilt auch von der folgenden, die Herzog Johann Adolf 1592 ausstellte; sie wiederholt die vorige Bestä­ tigung und den Text aller früheren, fügt noch einige Formeln hinzu, worin wieder der Untertanen und Einwohner „ziemliche Pitte“ er­wähnt wird ... wie es scheint, ist aber dies die letzte derartige Urkunde gewesen. Sie hatten auch keinen Zweck mehr, es war doch das still­schweigende Einverständnis vorhanden, daß die Erhaltung oder Abänderung der überliefer­ten Institutionen durch die Staatsräson und das heißt damals durch fürstliche Willkür allein be­dingt sei. Und doch blieb und beharrte ein beträchtli­cher Teil dieser Institutionen als eiderstedtische Kommunalverfassung bis an die Schwelle unse­rer Tage. „Auch jetzt noch“, schreibt Niemann in seiner Vaterlandskunde (1799), „hat die Landschaft Eiderstedt große Vorrechte vor vie­len anderen im Herzogtum Schleswig. Sie hält in wichtigen, die gesammte Landschaft betref­ fenden Angelegenheiten eigene Landesversammlungen“ – dies das bedeutendste Vor­recht, das nur Osterlandföhr mit Eiderstedt gemein hatte –; „sie hatte ihr eigenes Land­recht, ihre eigene Kriminalgerichtsbarkeit, die eigene Ausschreibung und Hebung aller könig­lichen Contributionen, sowie der landschaftli­chen Anlagen, die freie Wahl oder doch den Vorschlag der meisten ihrer Civil- und Kir­chenbedienten, so daß zu allen Justizbedienun­ gen nur Einheimische gelangen können; sie ist frei vom Landausschuß und von der Einquartie­rung“ (diese Privilegien wurden zwar keines­wegs gehalten; anno 1701 vom Herzog Fried­rich gegen jährlich 1000 Thaler bewilligt, kamen sie im 18. und noch mehr im 19. Jahr­hundert in Abgang und Verfall); „die Land­schaft ist ferner“, sagt Niemann, „frei von allen Handund Spanndiensten und z. Th. auch vom Mühlenzwange. Die Eingesessenen können ohne Formalitäten und ohne königliche Bestä­tigung Testamente machen und erhalten die königl. Dispensation zu Haustrauungen un­mittelbar aus der Landschreiberei.“ – Volckmar, dem diese Angaben Niemann ent­nommen hat, legt besonderes Gewicht auf die eigene Hebung und meint, daß dadurch die hie­sige Landesverfassung einen nicht unbedeu­tenden Anstrich vom Republikanischen habe. Gewiß ist, daß verhältnismäßig wenig von oben regiert wurde. An der Regierung von oben ha­ben zwar die Untertanen nicht den geringsten Anteil – es gab keine politische Freiheit in die­sem heutigen Sinne. Die bürgerliche Freiheit war lokale kommunale Freiheit. Die historischen Ursachen, aus denen die Er­haltung dieses Zustands

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erklärt werden muß, eingehender Weise zu erörtern, würde über den Rahmen dieses Vortrages hinausgehen. Nur so viel möge hier betont werden, daß diese Verfassung in der ungebrochenen Überlieferung einer gewissen sozialen Gleichheit beruhte. Die drei Stände, deren Erhebung über die gemeine Frei­heit die Herrschaft der Staatsregierung und ihrer Beamten sonst vorbereitet hat: nämlich Adel, Geistlichkeit und Städte, waren in unse­ren Landen – und dasselbe gilt mit einigen Abweichungen von der gesamten Nordsee­küste, besonders von Friesland und Dithmar­schen, – nicht emporgekommen. Eiderstedt gleich den übrigen Utlanden hatte weder Städte noch Klöster, weder einheimischen Adel noch Leibeigene oder Hörige: „alle Einwohner insge­mein, der Hausmann und Häusler, der Herr und der Knecht, waren ihrer Rechtspersönlich­keit nach gleichmäßig frei“ (Michelsen). „Fries­land“, so klagte die Geistlichkeit in päpstlicher Zeit, „ist das einzige Land der Christenheit, das keine Zehnten und Erstlinge entrichtet, und wider ihren Willen kann den Eingesessenen kei­ne Hufe vom Bischofe abgepreßt werden.“ Der alte Volksadel, die Ethelinge der Germa­nen, bildete keinen besonderen Stand im Volks­rechte. Auch in Eiderstedt sollen sich die mit gehörigem Erbe Angesessenen, wenn die feier­liche Sprache des Liedes und des Gerichtes ge­braucht wurde, Adelijke Boiine, „Adelbonden“ genannt haben, wie auch heute die norwegi­schen Bauern, unter denen ebenfalls kein Adel aufgekommen ist, sich nennen. Der eigentliche Adel, der unter den Deutschen und Dänen mächtig gewesen ist, war Dienstadel; durch den Reiterdienst bevorzugt und vermutlich zu ei­nem guten Teil aus Volksadel hervorgegangen, empfing er seine besonderen Rechte doch erst mit dem Amte, d. i. mit der Stellvertretung des Königs oder Herzogs. Dieses Amt war von Al­ters her das des Grafen, allgemein gesprochen aber die Vogtei als im Namen des Königs geüb­te Gerichtsbarkeit. Auch Eiderstedt hatte seinen Land- oder Hardesvogt, unter dem wohlbekannten Namen des Stallers; es wird angenommen, daß ur­sprünglich jedes der drei Lande seinen Staller für sich gehabt habe, und in historischer Zeit hat es wenigstens zwei gegeben, einen für Eider­stedt, einen für Everschop und Utholm. Der Staller war Untertan der Herrschaft, Statthal­ter des Königs oder Herzogs; aber er hat nie­mals eigene Gerichtsbarkeit gehabt, wenn ihm auch das Directorium der ordentlichen Gerich­te zustand. Und – was ebenso wichtig war – sein Amt wurde nicht erblich. Denn es war doch ein bedeutendes Amt, und der Staller war immer ein wichtiger Mann im Lande. Er hatte eine schwierige Stellung – zwi­schen der Landschaft und dem Fürsten, hatte er jene gegen diesen, diesen gegen

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jene zu ver­treten. Er konnte die Freiheiten des Landes schützen, er konnte ihnen auch gefährlich wer­den. Je mehr das Bedürfnis und die Absicht her­vortritt – seit dem 15. Jahrhundert –, die landschaftliche Selbstregierung durch Gesetze und Verordnungen einzuschränken, durch Willkür im Interesse des Fiscus zu beschneiden, desto wichtiger mußte im Sinne der Landes­herrschaft das Amt des Stallers werden, um so mehr Gewicht mußte sie darauf legen, es mit ihren Leuten, mit zuverlässigen Fürstendienern zu besetzen. Als solche kommen in erster Linie die vom Adel, die Mitglieder der schleswig-hol­steinischen Ritterschaft in Betracht. (Dagegen ist nun am merkwürdigsten in dem Verhältnisse zwischen Herrschaft und Landschaft während der letzten Jahrhunderte der Kampf um das so­genannte Stallerprivilegium, dessen Inhalt wir alsbald kennen lernen werden.) In der älteren Zeit tragen die Staller einhei­mische friesische Namen. Man ist zu glauben versucht, daß sie ursprünglich und lange aus Wahlen der Einwohner hervorgegangen sind. Iver Teedens, Ebbe Wunnekens, Meves An­dersen, Jonke Jonsen, Tete Fedders, Boye Te­tens, Fedder Assens – das ist die Folge der be­kannten Namen bis 1511. Dann ein kurzes Intermezzo mit Otto Rantzow – das ist der er­ste adlige Name, der uns begegnet, und sein Träger ist noch im gleichen Jahre 1511 eines plötzlichen Todes gestorben. Es folgen wieder Einheimische: Iver Sieverts, Harmen Sieverts, des vorigen Bruder, Sievert Harmens, Harmen Sieverts’ Sohn, dann Ove Harmens, des vorigen Bruder – man sieht hier, wie in schwächerem Maße schon früher, die Tendenz hervortreten, das Amt – wie es anderwärts mit dem Grafen­amt geschah – zum Erbgut einer Familie zu machen; nach Ove Harmens’ Tode tritt aber wieder ein Rantzow auf den Plan – nach einer Nachricht, die nicht unwahrscheinlich, der Schwiegersohn des Ove Harmens; sein Vater war der Erbherr auf Krummendieck, Wolde­mar Rantzow. Jener Rantzow junior war schon, als er Staller in Eiderstedt wurde, Amt­m ann zu Gottorp; es erhellet aber nicht, ob er dies Amt behalten hat oder niederlegen mußte; indessen ist auch sonst zuweilen von dem Amt­mann zu Gottorp als dem „Großvogt“ die Rede, und es dürfte lange die Absicht bestan­den haben, Eiderstedt von dem Gottorpschen Amtshaus abhängig zu machen. Die einheimi­schen Staller mußten dieser Absicht sich fügen, und dies führte in der Mitte des 15. Jahrhun­derts zu bitteren Kämpfen zwischen ihnen und der Gemeinde, die damit endeten, daß 1445 das eigentliche Eiderstedt, 1448 Everschop und Utholm dem damaligen Staller und seinen Freunden Urfehde schwören mußten; und 1449 erging ein Gebot, daß in den Dreilanden nie­m and

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Armbrust noch Degen oder Schwert tra­gen sollte, bei Verlust Leibes und Gutes an die Herrschaft und 40 Mark Brüche an die Landes­gemeinde. „Diese Satzung“, sagt Michelsen (S. 118) „ist freilich nicht lange gehalten worden.“ Die einheimischen Staller, die auf Ebbe Wun­nekens folgten, scheinen weniger gefügig und mehr auf Seiten der Gemeinde gewesen zu sein. Eben dies hatte wohl die Einsetzung holsteini­scher Ritter zur Folge.* * [Die Handschrift schließt mit den Worten:] Von dem zweiten Rantzow heißt es in der Chronik: „He [hier bricht sie ab und kann wie folgt ergänzt werden:] ver­darff diße Lande sehr, und nahm ehnen alle ehre Priuilegia, und wo he ichts wat kriegen konde, dar waß he nah. Averst idt wahrde nicht lange; denn, alß he Anno 1551 van Holmer-Dinge nah Cotzenbüll wolde rieden, is en Fuer vp dem Wege, twischen ehm und sinen Dener geschlagen, also dat en grot schreken mank se gekamen. He is nahmals nicht mehr vnder Lüden gesehen worden, und hefft stedes enen Predi­ger by sick gehatt; denn man sede, dat sick de Düvell vaken by ehm sehen laten.“

Condorcet (Tönnies 1906a, hier S. 462–469) Äußerer Anlass für Tönnies, den vorliegenden Essay zu schreiben, war offensichtlich die Lektüre des Buches von Franck Alengry, jenem „trefflichen Gelehrten“ aus Frankreich, über Condorcet und die französische Revolution. Jedoch geht die Befassung Tönnies’ mit dem Thema weit über die einer üblichen Rezension hinaus. Deshalb erscheint sein Essay in diesem Bande unter der Rubrik „Schriften“ und nicht unter der der „Rezensionen“.

[Bedürfen wir des Pfarrers noch?] (Tönnies 1906o, hier S. 470–471) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die (protestantische) Amtskirche gleichermaßen mit modernem Relativismus und wissenschaftlichem Rationalismus zu kämpfen. In der Kirche und mit der Kirche gab es heftige Auseinandersetzungen in Glaubensfragen. Verursacht durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstand ein Streit darüber, was an Überlieferungen in der Bibel noch haltbar sei, was geändert gehöre und verjüngt werden müsse. Als einer der bedeutendsten Vertreter der wissenschaftlichen Theologie des

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wilhelminischen Zeitalters gilt Adolf von Harnack (1851–1930). Der evangelische Theologe Friedrich Naumann, um ein anderes Beispiel zu nennen, gab sein Pfarramt auf und wurde Schriftleiter. In der Wochenschrift „Die Hilfe“, die von ihm gegründet wurde, publizierte Tönnies wiederholt. Vor diesem Hintergrund formuliert Kappstein sein Anliegen: „In früherer Zeit war der Geistliche für Stadt und Land der einzige Träger der Bildung an die Volksgenossen, denen er in der regelmäßigen Unterweisung von Kanzel und Altar mit der Religion zugleich das Weltbild vermittelte. Die Zeiten dieser Alleinherrschaft sind endgültig vorüber. Neben der Kirche steht die selbständig gewordene Schule und Hochschule, neben dem gesprochenen Wort des Predigers dringt das gedruckte Wort der Zeitung und der Buchliteratur auch zu den letzten Volksgenossen; die Vereinsfreiheit schart die Massen um das Rednerpult des unabhängigen Vortragenden“ (Seite 2). Läßt diese Entwicklung „noch Raum zur Ausübung eines eigenen Berufs mit spezifischem Charakter? Und worin besteht eventuell dieser sein Berufscharakter?“ (S. 2 f.). Die Beantwortung der Frage sollte folgende Gesichtspunkte berücksichtigen (S. 3 f.): 1. Die Predigt, und die eigene Gedankenbildung; 2. Der Konfirmandenunterricht, und der Religionsunterricht der Schule; 3. Der Pastor als Seelsorger, und der Arzt; 4. Der Priester am Altar, und das allgemeine Priestertum des Protestantismus; 5. Die christliche Liebestätigkeit, und die kommunale Wohlfahrtspflege. Antworten trafen ein unter anderem von Prof. Baumgarten (Kiel), Prof. von Czerny (Heidelberg), Gustav Frenssen (Hamburg), Börries Freiherr von Münchhausen (Sachsen), Friedrich Naumann (Berlin), Charlotte Niese (Altona), Prof. Paulsen (Berlin), Prof. Sybel (Marburg). Tönnies’ Antwort trägt der allgemeinen Wendung gegen den Individualismus und dem allgemeinen soziologischen Interesse an Formen der Gemeinschaftsbildung jener Zeit Rechnung, die der Kirche, vor dem sozialhistorischen Hintergrund einer Entkirchlichung breiterer Bevölkerungsschichten, innerhalb des deutschen Protestantismus wieder eine hohe Bedeutung zusprechen wollen. Tönnies selbst allerdings trat dann später, hochbetagt, aus der Kirche aus und verbat sich, wie sein literarischer Ziehvater Storm, den Priester an seinem Grabe. „Die religiöse Haltung von Ferdinand Tönnies ging derjenigen von Theodor Storm parallel“, schreibt Friedrich Hoffmann in seinen Erinnerungen. Wie Storm sei auch er ein Freidenker gewesen und habe grundsätzlich auf dem

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Boden wissenschaftlicher Erkenntnis gestanden. Und er fügt hinzu, „daß Storm wie Tönnies zu ihren letzten Ruhestätten ohne kirchliche Geistlichkeit geführt wurden“ (Bammé 1991: 57). Tönnies’ Kirchenaustritt erfolgte, so steht zu vermuten, nicht zuletzt unter dem Eindruck der raschen und nahezu widerstandslosen Vereinnahmung der Evangelischen Landeskirche in Schleswig-Holstein durch die Nationalsozialisten. Auf der sog. „Braunen Synode“ von 1933 gehörten bereits 75 von insgesamt 79 gewählten Synodalen, also 95 Prozent, der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ an, die sich als Brückenkopf der NSDAP in der Kirche verstand.

Discussion on Restrictions in Marriage and on Studies in National Eugenics (Tönnies 1906p, hier S. 472–474) Tönnies bezieht sich in seinen Ausführungen auf zwei Abhandlungen, die Galton am 14. 2. 1905 vor der Sociological Society in London referiert hat. Sie sind abgedruckt in den „Sociological Papers“ (1905), Vol. II, London: Macmillan 1906, S. 1–13 („Restrictions in Marriage“) und S. 14–17 („Studies in National Eugenics“). In beiden Papieren, jeweils untergliedert in einzelne Themenbereiche, auf die Tönnies Bezug nimmt, skizziert Galton Desiderata der Vererbungsforschung. Wie in den „Sociological Papers“ üblich, folgen auf Galtons Abhandlungen die Dokumentation der sich daran anschließenden „Discussion“ (S. 18–25), sodann die „Written Communications“ (S. 26–45), mit dem Beitrag von Ferdinand Tönnies auf S. 40–42, und schließlich die „Contributory Notes“ (S. 46–48), allesamt formuliert von zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern bzw. von namhaften, in der Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeiten, die sich der aufstrebenden Soziologie verpflichtet fühlen. „Mr. Galton‘s Reply“, seine Stellungnahme zur dokumentierten Diskussion schließt den Themenschwerpunkt „Eugenics“ ab (S. 49–51). Tönnies selbst hat sich über mehrere Jahre hinweg sehr intensiv mit der zeitgenössischen Soziobiologie auseinandergesetzt, zustimmend und gleichwohl in kritischer Distanz zu ihren britischen Protagonisten, Galton und Spencer, zum einen, in einer langjährigen Auseinandersetzung mit Schallmayers „rassepolitischem“ Programm zum anderen. Seine Kritik des Sozialdarwinismus und der praktischen Eugenik ist durchaus anschlussfähig an die zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter veränderten technologischen Bedingungen und außerordentlich erweiterten Möglichkeiten geführte Diskussion. Tönnies interessierten vor allem die Möglichkeiten und Grenzen

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soziobiologischer Reformprogramme zur Verbesserung der Gesellschaft. Aufmerksam verfolgte er die Diskussion, wie sie insbesondere in England geführt wurde. Tönnies war keineswegs ein Gegner eugenischer Forschung. Im Gegenteil. Als Präsidiumsmitglied des Vorstandes der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ förderte er die Gründung einer soziobiologischen Sektion (Berlin 1914), legte aber Wert darauf, dass sie „nur theoretischobjektive Forschungen über Tatsachen, Ursachen und Wirkungen, mit Ausschluss von Werturteilen und Züchtungsgedanken, ins Auge“ fasse und von „dem Programm“, die „Rassenhygiene“ oder „Eugenik“ praktisch-wissenschaftlich zu betreiben, ausgeschlossen bleibe (Brief vom 3. 3. 1914 an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Tönnies-Nachlaß Cb 54.61: 1.1.552). Der vorliegende Text, eine Auseinandersetzung mit Galtons Ausführungen zum Thema, gibt in kurzer, gedrängter Zusammenfassung einen recht guten Einblick in die Position, die von Tönnies vertreten wird. Er lautet in deutscher Übersetzung: Ich stimme mit dem Tenor von Herrn Galtons Werk „Eugenics“ und mit den ausgeführten Absichten voll überein, was auch auf die beiden vorgelegten Abhandlungen zutrifft. Bezüglich gewisser Details möchte ich im folgenden jedoch einige Einwände und Erläuterungen anbringen. 1. Es besteht kein Zweifel daran, daß es sehr wünschenswert ist, die folgenden drei Gaben im Menschen wiederzufinden: physische, mentale und moralische Kompetenz. Diese drei Qualitäten, oder, wie Galton sie nennt, Konstitution – hier scheint er meinem Verständnis nach die moralische Komponente anzusprechen -, Körperbau und Intellekt, sind keine unabhängigen Variablen, sondern stehen auf der einen Seite in enger Beziehung zueinander, schließen sich auf der anderen Seite jedoch auch häufig gegenseitig aus. Ein starker Intellekt geht oft mit zarter Gesundheit oder mit geringen moralischen Qualitäten einher und vice versa. Die entscheidende Frage ist nun, ob die Eugenik eine dieser Qualitäten auf Kosten einer oder gar der beiden anderen begünstigt und welcher der drei Fähigkeiten dann in jedem Fall der Vorzug zu geben wäre. 2. Unter den herrschenden sozialen Bedingungen wäre es grausam, die durchschnittliche intellektuelle Kapazität einer Nation auf das heutige Niveau des in diesem Sinne fähigeren Teils der Gesellschaft zu heben. Eine solche Maßnahme würde den Menschen das Mißverhältnis zwischen der hoffnungslosen Monotonie ihrer harten, mühseligen Arbeit und dem Mangel an Erbauung, der Ärmlichkeit ihres Komforts und der Begrenzt-

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heit der Zukunftsperspektiven nur noch bewußter machen, unter dem sie trotz der Dumpfheit der breiten Masse so schon genug leiden. 3. Die Steigerung intellektueller Fähigkeiten führt unter gegebenen Umständen einen weiteren Verfall der moralischen Gesinnung, ja des Gefühls von wohlwollender Zuneigung im allgemeinen mit sich. Das Stadtleben ist schon heute Schauplatz eines ständigen Wettlaufs schlauer Schurken. Die Versuchungen sind wirklich sehr groß, Konkurrenten durch rücksichtslose Gerissenheit und gewissenlose Tricks zu überrunden. Intelligenz fördert Egoismus und Vergnügungssucht, was den Interessen der menschlichen Rasse sehr entgegensteht. 4. Ein kräftiger Körperbau scheint mit einigen Teilen unseres moralischen Wesens in Wechselbeziehung zu stehen, jedoch nicht mit allen. Die Verfeinerung moralischen Empfindens und Takt sind mehr intellektueller Natur und harmonieren von daher wiederum eher mit einer schwachen physischen Konstitution und geringen Körperkraft. 5. Ich pflichte Herrn Galtons Ansicht bei, daß die Auswahl der Ehepartner weitgehend von religiösen und gesellschaftlichen Erwägungen gelenkt wird; und ich akzeptiere die Schlußfolgerung, daß die gleiche Art von Motiven die Menschen in der Zukunft eventuell dazu veranlassen wird, ungeeignete und unpassende Eheschließungen abzulehnen, so daß wenigstens einige Arten von ihnen unmöglich oder höchst unwahrscheinlich werden. Das würde allen Betroffenen und der Rasse im allgemeinen sehr zum Vorteil gereichen. Ich zweifle jedoch stark daran, ob es auf die Frage, welche Arten von Eheschließungen denn ungeeignet sind, eine einhellige Antwort geben wird. 6. Eine Einmütigkeit in diesem Punkt kann natürlich durch eine hinreichende Vererbungsforschung gefördert werden. Hierin liegt die eigentliche und wichtigste Aufgabe der Eugenik, wie Herr Galton hegt in seinen sechs Themenbereichen brillant ausführt, die unter Zugabe von Forschungsgeldern zu untersuchen sind. Obwohl ich diese Art der Forschung für sehr wichtig halte und mich schon lange dafür interessiere, glaube ich dennoch, daß die praktischen Resultate nicht sehr bedeutsam sein werden. Unser jetziges Wissen, so spärlich und unzusammenhängend es auch sein mag, reicht schon aus, um gewisse Eheschließungen, die von gesellschaftlichen Konventionen, Religion und Brauchtum besonders begrüßt werden, vernünftig denkenden Menschen in höchstem Maße ungeeignet und unpassend erscheinen zu lassen. Die Wissenschaft wird kaum einen solchen Einfluß gewinnen, daß sie jenen Kräften, die be­stimmte Klassen von Eheschließungen fördern oder verhindern, gleichkommt oder sie gar überwiegt. Außer-

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dem findet die Stimme der Vernunft vor allem im Hinblick auf hygienische wie auch moralische Erwägungen ihre Vertreter oftmals in den Eltern, die den Neigungen oder Leidenschaften ihrer Kinder (vor allem der Töchter) widersprechen; die vorherrschenden individualistischen Tendenzen der heutigen Zeit, die sehr stark die individuelle Wahlmöglichkeit und das natürliche Recht auf Liebe begünstigen, bringen die Stimme der Vernunft jedoch meistens oder zumindest sehr oft zum Schweigen und nehmen ihr immer mehr Durchsetzungskraft. Die beiden folgenden Gegner sind es, welche die Eugenik bekämpfen muß: die mariage de convenance auf der einen und die mariage de passion auf der anderen Seite. 7. Dies gilt jedoch hauptsächlich für die höhere Schicht der Gesellschaft, in der ein gewisser Einfluß wissenschaftlicher Erkenntnisse gemeinhin eher vorausgesetzt werden kann als bei der breiten Masse. Herr Galton liegt den Wunsch, daß die nationale Bedeutung der Eugenik wie eine neue Religion in das nationale Bewußtsein eingeführt werde. Ich halte das für unmöglich, solange die Bedingungen des täglichen Daseins nicht vorher radikal umgestaltet werden. Die Funktion der Religion bestand stets darin, unmittelbare Erleichterung bei drückenden Sorgen und Beschwerden zu schenken und hoffnungsvolle Perspektiven für das weitere, persönlichindividuelle Leben mit ihr verbinden zu können. Das Leben der Rasse ist jedoch eine dem Volksempfinden völlig fremde Größe und wird es auch bleiben, sofern man die breite Masse des Volkes nicht von ihren alltäglichen Strapazen und Sorgen befreit , und zwar in einem Maße, wie es uns zur Zeit nicht möglich ist. 8. Das wichtigste Anliegen ist jedoch zu gewährleisten, daß Eugenik als hoffnungsvoller und sehr wichtiger Forschungszweig auf breiter Ebene intellektuell akzeptiert wird. Dieser Forderung kann ich nur aus vollem Herzen und mit allem Respekt zustimmen. Ich habe versucht, meine von den beiden höchst interessanten Abhandlungen hervorgerufenen Gefühle und Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Leider hatte ich dafür nur sehr wenig Zeit, was sich in einem schlechten Englisch niederschlägt, für das ich mich hier entschuldigen möchte. A. B., R. F.

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Bibliographie Die Namen folgen einander alphabetisch. Die Literaturangaben ohne Verfasser erscheinen in chronologischer Reihenfolge als [o. V.] am Ende. Adelsprädikate und diakritische Zeichen sind nicht berücksichtigt worden (å, ä = a; ç = c; ł= l; ö, ø = o; ü = u); Ligaturen werden aufgelöst (æ= ae; ÿ = ij; -l = ł; ñ, n- = nn; œ = oe; ß = ss). Abkürzungen siehe oben, S. XIII–XVII. In der Titelei monogrammierte Namen sind hier unausgewiesen möglichst ausgeschrieben; Namensbestandteile und Adelsprädikate sind dem Nachnamen vorangestellt.

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Apparat

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Apparat

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mal mit einer universalhistorischen Übersicht begleitet. 1. Abteilung, 4 Bde. Jena. [von Schiller, Friedrich], 1815: Friedrichs von Schiller sämmtliche Werke. Zwölfter Band. Hgg. von Christian Gottfried Körner. Stuttgart/Tübingen. von Schiller, Friedrich, 1867: Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Eine Abhandlung welche in höchster Gegenwart Sr. Herzoglichen Durchlaucht während den öffentlichen akademischen Prüfungen vertheidigen wird Johann Christoph Friderich Schiller. S. 135–177 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Erster Theil. Jugendversuche, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1867a [1781]: I. Die Räuber. Ein Schauspiel. S. 1–204 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zweiter Theil. Die Räuber. Wirtembergisches Repititorium, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1867b [1782]: II. Die Räuber. Ein Trauerspiel. S. 207–335 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zweiter Theil, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1867c: Die Räuber (Selbstanzeige). S. 354–373 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zweiter Theil. Die Räuber. Wirtembergisches Repititorium, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1867d [1781]: Die Räuber. Ein Schauspiel (Erste Vorrede). S. 4–7 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zweiter Theil. Die Räuber. Wirtembergisches Repititorium, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1867e [1782]: Die Räuber. Ein Schauspiel (Zweite Vorrede). S. 8–13 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zweiter Theil. Die Räuber. Wirtembergisches Repititorium, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868 [1783]: I. Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel. S. 1–161 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dritter Theil. Fiesko. Kabale und Liebe. Rheinische Thalia, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868a [1783]: XII. Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein Trauerspiel in fünf Akten, für die Mannheimer Bühne bear-

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Apparat

beitet. S. 185–348 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dritter Theil. Fiesko. Kabale und Liebe. Rheinische Thalia, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868b [1783]: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. S. 353–507 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dritter Theil. Fiesko. Kabale und Liebe. Rheinische Thalia, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868c [1785]: Was kann eine gute stehende Bühne eigentlich wirken? Eine Vorlesung (26. Juni 1784). S. 509–524 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dritter Theil. Fiesko. Kabale und Liebe. Rheinische Thalia, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868d [1784]: Rheinische Thalia (Ankündigung, 11. Nov. 1784). S. 528–534 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dritter Theil. Fiesko. Kabale und Liebe. Rheinische Thalia, hgg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868e [1786]: XII. Philosophische Briefe (1786). S. 31–60 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierter Theil. Arbeiten der Leipzig-Dresdener Zeit, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868f [1792]: XIII. Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte. S. 61–87 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierter Theil. Arbeiten der Leipzig-Dresdener Zeit, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868g: XX. Der Geisterseher. Eine Geschichte aus den Memoires des Grafen von O**. S. 196–349 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierter Theil. Arbeiten der Leipzig-Dresdener Zeit, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1868h: XIX. Körners Vormittag. S. 182–195 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierter Theil. Arbeiten der Leipzig-Dresdener Zeit, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1869: I. Dom Karlos. S. 1–199 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfter Theil. Erster Band, hgg. von Hermann Sauppe. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1869a: II. Dom Karlos. Theaterbearbeitung in Prosa. S. 1–141 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Aus-

Bibliographie

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gabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfter Theil. Zweiter Band, hgg. von Hermann Sauppe. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1869b: III. Dom Karlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht. S. 142–453 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfter Theil. Zweiter Band, hgg. von Hermann Sauppe. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1869c [1788]: IX. Briefe über Don Karlos. S. 33–79 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Sechster Theil. Vermischte poetische und prosaische Schriften 1787–1792, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1869d: Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges. S. 1–414 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Achter Theil. Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges, hgg. von Hermann Oesterley. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1870: Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie. S. 167–336 in: in: Schillers sämmtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Dreizehnter Theil. Macbeth. Die Jungfrau von Orleans. Turandot, hgg. von Wilhlem Vollmer. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1870a: Die Schlacht. S. 59–61 in: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Hamburg. von Schiller, Friedrich, 1870b: Das Siegesfest. S. 64–69 in: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Hamburg. von Schiller, Friedrich, 1870c: Der Graf von Habsburg. S. 69–73 in: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Hamburg. von Schiller, Friedrich, 1870d [1789]: IV. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. S. 79– 99 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Neunter Theil. Kleine historische Schriften, hgg. von Wilhelm Müldener. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1870e [1792]: Vorrede (zur Geschichte des Malteserorden nach Vertot von M. N.). S. 393–399 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Neunter Theil. Kleine historische Schriften, hgg. von Wilhelm Müldener. Stuttgart.

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Apparat

von Schiller, Friedrich, 1870f: VIII. Aus der allgemeinen Sammlung Historischer Memoires. S. 182–389 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Neunter Theil. Kleine historische Schriften, hgg. von Wilhelm Müldener. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871 [1802]: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. S. 1–16 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871a [1802]: Ueber die tragische Kunst. S. 17–40 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871b: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. S. 207–213 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthetische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871c: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. S. 274–384 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthetische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871d: Ueber den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten. S. 415–424 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthetische Schriften, herausgegeben von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871e [1795]: Ueber naive und sentimentale Dichtung. S. 425–523 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthetische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871f [1795]: Reich der Schatten. S. 35 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871g: Die Thaten der Philosophen (Die Weltweisen). S. 65–67 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871h: Der Spaziergang. S. 83–91 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart.

Bibliographie

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von Schiller, Friedrich, 1871i: Der Zeitpunkt. S. 101 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871j: Deutscher Nationalcharakter. S. 110 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871k: Epigramm 4 (Würde des Menschen). S. 183 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871l [1797]: Die Kraniche des Ibykus. Ballade. S. 240–246 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871m: Der Gang nach dem Eisenhammer. S. 247– 255 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871n: Das Lied von der Glocke. S. 304–319 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871o: Der Antritt des neuen Jahrhunderts. S. 332– 333 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871p [1804]: Wilhelm Tell. S. 401 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871q: Gedichte. Anhang „Aus Schillers Nachlaß“. I-X. S. 405–418 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871r [1795]: An einen Weltverbesserer. S. 74 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871s [1800]: Die deutsche Muse. S. 329 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart.

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Apparat

von Schiller, Friedrich, 1871t: An Göthe als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte. S. 322–325 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871u: Die Götter Griechenlands 1788–1793. S. 3–7 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871v: V. Ueber Anmut und Würde. S. 65–125 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871w [1794]: X. Die Horen. Jena, 13. Juni 1794 (Einladung). S. 232–235 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zehnter Theil. Aesthische Schriften, hgg. von Reinhold Köhler. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871x [1796]: Shakespears Schatten. Parodie (Xenie 390–412). S. 149–151 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1871y: „Er“. S. 149–151 (zif. 390–412) in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. Schiller, Friedrich, 1871z [1800]: Das Lied von der Glocke. S. 305–319, in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1872 [1788]: Geschichte des Abfalles der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. S. 1–330 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Siebenter Theil. Geschichte des Abfalles der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, hgg. von A. Ellissen. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1872a: I. Wallenstein. S. 1–396 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zwölfter Theil. Wallenstein. Maria Stuart, hgg. von Hermann Oesterley. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1872b: Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen. S. 397–580 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Zwölfter Theil. Wallenstein. Maria Stuart, hgg. von Hermann Oesterley. Stuttgart.

Bibliographie

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von Schiller, Friedrich, 1872c: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören. S. 1–128 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierzehnter Theil. Die Braut von Messina. Der Neffe als Onkel. Der Parasit. Wilhelm Tell, hgg. von Hermann Oesterley. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1872d: IV. Wilhelm Tell. Schauspiel. Zum Neujahrsgeschenk auf 1805, S. 267–426 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Vierzehnter Theil. Die Braut von Messina. Der Neffe als Onkel. Der Parasit. Wilhelm Tell, hgg. von Hermann Oesterley. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1876: Die Kinder des Hauses. Ein Schauspiel. S. 146–168 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfzehnter Theil. Erster Band. Letzte Dichtungen und Nachlaß, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1876a: Die Polizey. S. 259–273 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfzehnter Theil. Erster Band. Letzte Dichtungen und Nachlaß, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. von Schiller, Friedrich, 1876b: Demetrius. S. 323–592 in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Fünfzehnter Theil. Zweiter Band. Nachlaß (Demitrius), hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. [von Schiller, Friedrich], o. J. [1892]: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Vom 1784 bis zum Tode Schillers. Mit Einleitung von Ludwig Geiger. Erster Band. Stuttgart/Berlin. [von Schiller, Friedrich], o. J. [1904]: Schillers Sämtliche Werke. Säkularausgabe in 16 Bänden. Hgg. von Eduard von Hellen. Dreizehnter Band. Historische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Richard Fester. Erster Teil. Stuttgart/Berlin. von Schiller, Friedrich, 1943 [1796]: Er. S. 360 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke. Erster Band. Gedichte 1776–1799, hgg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1947 [1784]: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. Bonn. von Schiller, Friedrich, 1979 [1788/1789]: Brief an Zumsteeg vom 10. 12. 1788 (bzw. März 1789). S. 171 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Fünfundzwanzigster

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Apparat

Band. Briefwechsel. Schillers Briefe 1. 1. 11788—28. 2. 1790, hgg. von Eberhard Haufe. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1983 [1796]: Shakespears Schatten. Parodie. S. 306–307 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Zweiter Band. Teil I. Gedichte,hgg. von Norbert Oellers. Weimar. [von Schiller, Friedrich], 1984: Friedrich von Schiller. Bürger von Frankreich. Faksimile des Bürgerbriefes der Französischen Republik. Mit einer Einführung von Gerhard Schmid. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1989: Brief Christian Gottfried Körners an Schiller vom 4. oder 5. 6. 1784. S. 31–32 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. 33. Band. Teil I. Briefwechsel. Briefe an Schiller 1781–28. 2. 1790, hgg. von Siegfried Seidel. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1991: Gedichte (Anmerkungen zu Band 1). S. 600 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Zweiter Band. Teil IIA, hgg. von Georg Kurscheidt und Norbert Oellers. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1993: Gedichte (Anmerkungen zu Band 2 I). 194– 195 in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Zweiter Band. Teil IIB, hgg. von Georg Kurscheidt und Norbert Oellers. Weimar. von Schiller, Friedrich, 1998: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hgg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Dreiunddreißigster Band. Teil II. Briefwechsel. Briefe an Schiller 1781–28. 2. 1790 (Anmerkungen), hgg. von Georg Kurscheidt. Weimar. Schlüter, Wilhelm 1905: Schiller und das Verbrecherproblem. Teil I, Deutschland. Monatszeitschrift für die gesamte Kultur, 6: 164–178. [Ferdinand Tönnies ist Autor von Teil II, S. 178–190]. Schmidt, Erich, 1886: Charakteristiken. Erste Reihe, Berlin. Schmidt, Raymund (Hg.), 1922: Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 3. Leipzig. Schmitz, H. Walter, 1983: Victoria Lady Welby und die Folgen, Zeitschrift für Semiotik, 5: 123–138. Schmitz, H. Walter, 1985: Tönnies’ Zeichentheorie zwischen Signifik und Wiener Kreis. S. 73–93 in: Lars Clausen, Volker von Borries, Wolf. R. Dombrwosky und Hans-Werner Prahl (Hg): Tönnies heute. Zur Aktualität von Ferdinand Tönnies. Kiel [erneut in: Zeitschrift für Soziologie 14, Heft 5, S. 373 –385].

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Apparat

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Bibliographie

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[Spinoza, Baruch], 1677 [und öfter]: Ethica ordine geometrico demonstrata, et In quinque parts distincta, in quibus agitur I. De Deo II. De natura, & origine mentis III. De origine, & natura affectum IV. De servitute humana, seu de affectum viribus V. De potentia intellectus, seu de libertate humana. Amsterdam [dt. : zuerst 1744]. Stahl, Friedrich Julius, 1830: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Erster Band. Heidelberg Stahl, Friedrich Julius, 1847: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Zweite erweiterte Aufl. Freiburg im Breisgau. Stahl, Friedrich Julius, 1862: Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge. Berlin. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1905: 26. Jg. Berlin. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1915: 36. Jg. Berlin. Steffens, (Joseph) Lincoln, 1904: The shame of the Cities. New York [erneut: 1948]. Stein, Ludwig, 1904: Einführung in die Philosophie und Soziologie Herbert Spencers von Dr. Ludwig Stein, o. ö. Professor der Philosophie an der Universität Bern. S. V–XXXIX in: Herbert Spencer. Eine Autobiographie. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Ludwig und Helene Stein. I. Nebst einer Einführung in die Philosophie und Soziologie Herbert Spencers von Dr. Ludwig Stein. (Memoiren-Bibliothek. II. Serie Band 7.) Stuttgart. Steinmetz, Sebald, 1900: Classification des types sociaux et catalogue des peuples, L’Année Sociologique (1898–1899), 3: 43–147. Steinthal, Heymann, 1881: Abriss der Sprachwissenschaft. 1. Bd. Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft mit einer Einführung von Waltraud Bumann. 2. Aufl. Berlin. (reprografischer Nachdruck. Hildesheim/New York. 1972). Stenglein, Melchior, 1900: Lexikon des deutschen Strafrechts nach den Entscheidungen des Reichsgerichts zum Strafgesetzbuch zusammengestellt und herausgegeben. Berlin. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des konstituirenden Reichstages, des Reichstages des Norddeutschen Bundes, des Deutschen Zollparlaments und des Deutschen Reichstages, 1870: Band 10: I. Legislaturperiode, Session 1870, Sitzung 1–32, 16. Sitzung vom 8. 3. 1870. Band 12: Anlagen Nr. 1–72. Berlin. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 1905: XI. Legislaturperiode. I. Session. 1903/1905. Zweiter Sessionsabschnitt

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Apparat

vom 29. November 1904 bis zum Schluß der Session am 30. Mai 1905. Fünfter Band. Berlin. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 1905: 20. Legislaturperiode, I. Session 1904/05, Fünfter Band, 107. und 108. Sitzung. Achter Band, 169. Sitzung. Berlin. Stettenheim, Ludwig, 1892: Schillers Fragment „Die Polizey“ mit Berücksichtigung anderer Entwürfe des Nachlasses. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doctorwürde der philosophischen Facultät der Universität Rostock. Berlin. [Storm Theodor] (Hg.), 1870: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Hamburg. Storm Theodor] (Hg.), 31875: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine illustrirte Ausgabe von Theodor Storm. Hamburg. [Storm Theodor], 21904: Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller. Hgg. und erläutert von Albert Köster. Berlin. Storm, Theodor, 1987a: Von Katzen. S. 42–43 in: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hgg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 1: Theodor Storm. Gedichte, Novellen 1848–1867. Frankfurt am Main Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst den gebräuchlichsten ReichsStrafgesetzen, 1881: Text-Ausgabe mit Anmerkungen von Dr. Hans Rüdorff. Elfte Auflage. Berlin/Leipzig. Streicher, Andreas, 1836: Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785. Stuttgart/Augsburg. Stumpf, Carl, 1897: Eröffnungsrede. S. 3–16 in: o. V. (Hg.): Dritter Internationaler Congress für Psychologie in München vom 4. bis 7. August 1896. München. Thouverez, Emile, 1905: Herbert Spencer (Science et Religion. Etudes pour le temps présent. Les grand philosophes.). Paris. Thukydides, 1864: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Übersetzt von Prof. Dr. Adolph Wahrmund. Drittes Buch. Dritte Auflage. Berlin. (Langenscheidtsche Bilbiothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Muster-Übersetzungen. 56. Band: Thukydides I. Buch 1–4. 57. Band: Thukydides II. Buch 5–8. Register. Berlin und Stuttgart 1855–1889). Tönnies, Ferdinand, 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Meinem Freunde Friedrich Paulsen zugeeignet als Denkmal früherer Gespräche. Leipzig.

Bibliographie

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Tönnies, Ferdinand, 1889: Herbert Spencers sociologisches Werk, Philosophische Monatshefte, 25, S. 50–85 [erneut in Tönnies 1925: 75–104 und: TG 15: 129–165]. [Tönnies, Ferdinand], 1889a: The Elements of Law Natural and Politic by Thomas Hobbes of Malmesbury. Edited with a Preface and Critical Notes by Ferdinand Tönnies, Ph.D. to which are subjoined selected Extracts from unprinted Mss. of Thomas Hobbes. London. [Tönnies, Ferdinand], 1889b: Behemoth or The Long Parliament by Thomas Hobbes of Malmesbury. Edited for the first Time from the original Ms. by Ferdinand Tönnies, Ph.D. to which are subjoined selected Extracts from unprinted Mss. of Thomas Hobbes. London. Tönnies, Ferdinand, 1891: Die Verhütung des Verbrechens, Deutsche Worte. Monatshefte, 11, Heft 7 (Juli): 217–237. Tönnies, Ferdinand, 1891a: Kriminal-Anthropologie, Zeitschrift fü Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 2: 321–334. Tönnies, Ferdinand, 1893: „Ethische Cultur“ und ihr Geleite. I. NietzscheNarren (in der „Zukunft“ und in der „Gegenwart“). II. Wölfe in Fuchs– pelzen (2 Kirchenzeitungen). Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1893a: [Rezension von] Lombroso, C., Nouvelles recherches de psychatrie et d’anthropologie criminelle, Paris 1892, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 4: 156–157. Tönnies, Ferdinand, 1894: Der Sociologen-Kongreß in Paris, Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Bd. 1, Nr. 4 (27. 10. 1894): 52–53 431 [erneut in Tönnies 1926: 127–132]. Tönnies, Ferdinand, 1895: Das Verbrechen als soziale Erscheinung, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 8: 329–344. Tönnies, Ferdinand, 1896: Hobbes. Leben und Lehre. Stuttgart. [erneut: 1912 u. 1925 mit dem Titel „Thomas Hobbes. Der Mann und der Denker“]. Tönnies, Ferdinand, 1897: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von Ferdi­ nand Tönnies. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1899: Philosophical Terminology (Welby Prize essay, translated by Mrs. B. Bosanquet), Mind. A Quartely Review of Psycho­ logy and Philosophy, vol XIII, no. 31 (July): 289–332, vol VIII, no. 32 (Oct.): 467–491; vol. IX, no. 33 (Jan. 1900): 46–61. Tönnies, Ferdinand, 1900/1902: Jahresbericht über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898, Archiv für systematische Philo-

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Apparat

sophie, VI (1900): 505–540, u. VIII (1902): 263–279, 397–408 [erneut in Tönnies 1929: 283–336 und TG 19]. Tönnies, Ferdinand, 1900a: [Rezension von] Aschrott, P. F.: Die Zwangserziehung Minderjähriger und der zur Zeit hierfür vorliegende Preußische Gesetzentwurf. Berlin 1900, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 15: 510–515. Tönnies, Ferdinand, 1900b: Die Erweiterung der Zwangserziehung, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 15: 458–489. Tönnies, Ferdinand, 1901: Otto Kallsen, Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für Deutsche Kultur, I. Jg., II. Bd. (April bis Sept. 1901): 591–597. Tönnies, Ferdinand, 1901a: Politik und Moral. Eine Betrachtung. (Flugschriften des Neuen Frankfurter Verlags). Frankfurt am Main. Tönnies, Ferdinand, 1901b: Notes on the ‘Welby Prize Essay’, Mind. A Quartely Review of Psychology and Philosophy, vol. X, No. 38: 204– 209. – Hier S. 515–520. Tönnies, Ferdinand, 1901c: Terminologische Anstöße, Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere psychophysiologischen und pathologischen Forschungen, Bd. 10. Heft 3: 121–130. Tönnies, Ferdinand, 1902: Vereins‑ und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit. Referat dem Auschusse der Gesellschaft für Soziale Reform erstattet. (Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform. Herausgegeben von dem Vorstande. Heft 5). Jena. Tönnies, Ferdinand, 1903: Probleme des Verbrechens und der Strafe, Deutschland, 1: 54–60, 171–214. Tönnies, Ferdinand, 1904a: Die soziologische Gesellschaft in London, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb], 28: 743–746. Tönnies, Ferdinand, 1904b: Political Parties in Germany, The Independent Review, III, (June-Sept.): 565–581. Tönnies, Ferdinand, 1905 [1887]: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Meinem Freunde Friedrich Paulsen zugeeignet als Denkmal früherer Gespräche. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1905a: Schiller als Zeitbürger und Politiker. Berlin. – Hier: S. 3–60. Tönnies, Ferdinand, 1905b: Strafrechtsreform. Berlin. – Hier: S. 61–118.

Bibliographie

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Tönnies, Ferdinand [Julia von Egge-Weichling], 1905c: Die Sozialdemokratie in Küche und Keller, Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur, 6: 586–587. – Hier: S. 254–257. Tönnies, Ferdinand, 1905d: Ein Rückblick auf den Streik im Ruhrkohlenrevier, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, IV, Nr. 23 (Erstes März-Heft): 893–900. – Hier: S. 258–268. Tönnies, Ferdinand [Normannus], 1905e: Die politische Wurmkrankheit, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, V, Nr. 4 (Zweites Maiheft): 322–327. Hier S. 322–327. Tönnies, Ferdinand, 1905f: The Present Problems of Social Structure, The American Journal of Sociology X (March), Nr. 5: 569–588 [erneut S. 825– 841 in: Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis, 1904. Edited by Howard J. Rogers. Vol. V. Boston/New York 1906 und S. 270–288 in: Ferdinand Tönnies, Soziologische Schriften 1891–1905. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. – Hier: S. 269–287 und eine dt. Übersetzung hier S. 537–556. Tönnies, Ferdinand, 1905g: Schiller und der Genius seiner Zeit, Die Hilfe. Nationalsoziale Wochenschrift, XI, Nr. 15 (Sonntag, 16. April 1905): S. 7–8. Tönnies, Ferdinand, 1905h: Schiller als Zeitbürger, Die Hilfe. Nationalsoziale Wochenschrift, XI, Nr. 17 (Sonntag, den 30. April 1905): 8. – Hier: S. 295–298. Tönnies, Ferdinand, 1905i: Schillers politisches Vermächtnis, Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik, 1: 751–754. – Hier: S. 317–321. Tönnies, Ferdinand [Normannus], 1905j: Glückauf!, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, V, Nr. 2 (Zweites Aprilheft): S. 49–52. – Hier: S. 288–293. Tönnies, Ferdinand, 1905k: Soziologische Literatur, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 21: 237–247. – Hier: S. 328–341. Tönnies, Ferdinand, 1905l: Eugenik, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb], 29: 1089– 1106 [erneut in: Tönnies 1925: 344–349; und in: TG 15: 455–476, auch S. 57–75 in: Ferdinand Tönnies: Schriften und Rezensionen zur Anthropologie. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. Tönnies, Ferdinand, 1905m: Der Massenstreik in ethischer Beleuchtung, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen

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Apparat

Gebieten des geistigen Lebens, V, Nr. 14 (Zweites Oktoberheft): 537– 543. – Hier: S. 343–350. Tönnies, Ferdinand, 1905n: Verkehr und Transport. Eine soziologische Skizze, Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustriertem Anzeiger für Kontor und Bureau, 1 (Oktober), Heft 3: 50–53 [erneut S. 289–322 in: Ferdinand Tönnies, Soziologische Schriften 1891–1905. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. Tönnies, Ferdinand, 1905o: Die Entwicklung der Technik. Soziologische Skizze. S. 127–148 in: Festgabe für Adolf Wagner siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Leipzig [erneut in: Tönnies 1926: S. 33–62 und S. 289–322 in: Ferdinand Tönnies, Soziologische Schriften 1891–1905. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. Tönnies, Ferdinand, 1905p: Wie Schiller auf mich gewirkt hat. S. 72–76 in: Schiller im Urteil des 20. Jahrhunderts. Stimmen über Schillers Wirkung auf die Gegenwart. Eingeführt von Eugen Wolff. Jena. – Hier: S. 353–359. Tönnies, Ferdinand, 1905q: [On the Relation of Sociology to the Social Sciences and to Philosophy], Sociological Papers, 1: 250–251. – Hier: S. 360–361. Tönnies, Ferdinand, 1905r: [Public Comments on the Movement], Sociological Papers, 1: 287–288. Tönnies, Ferdinand, 1905s: [Rezension von] Peters, Carl, England und die Engländer, Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, 1, 2. Heft (Februar): 80–82. – Hier: S. 377–482. Tönnies, Ferdinand, 1905t: [Rezension von] Thouverez, Emile, Herbert Spencer, Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, 1, 3. Heft (März): 167. – Hier: S. 489. Tönnies, Ferdinand, 1905u: Schiller und das Verbrecherproblem. Teil II, Deutschland. Monatszeitschrift für die gesamte Kultur, 6: 178–190. [W. Schlüter ist Autor von Teil I, S. 164–178, F. Tönnies von Teil II]. – Hier S. 299–316. Tönnies, Ferdinand, 1905–1911: Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb], 1905, 29. Jg., Heft 1: 27–101. [Die folgenden Teile haben jeweils Untertitel:] Zweiter Abschnitt: 1906, 30. Jg.: 1283–1321. Dritter Abschnitt: 1906, 30. Jg.: 121–145. Vierter Abschnitt. Eine Replik: 1907, 31. Jg.: 487–552. (Nachträge): 1909, 33. Jg.: 879–894: Zweite Nachlese: 1911, 35 Jg.: 375–396 [erneut in gekürzter Fassung mit dem Titel: Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Pro-

Bibliographie

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bleme der sozialen Entwicklung, in: Tönnies 1925: 133–329 und in: TG 15: 205–448. Die Fassung der Erstauflage erneut S. 92–355 in: Ferdinand Tönnies: Schriften und Rezensionen zur Anthropologie. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. Tönnies, Ferdinand, 1906: Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht. Diese Abhandlung erhielt den Welby-Preis (1898). Leipzig. Hier: S. 119–250. Tönnies, Ferdinand, 1906a: Condorcet, Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 6. Jg., Nr. 9 (1. Augustheft): 337–343. – Hier: S. 462–469. Tönnies, Ferdinand, 1906b: [Anglo-German Relations], The Times [London] (26. 1. 1906): 15. – Hier: S. 363–365. Tönnies, Ferdinand, 1906c: Zum Verständnis des politischen Parteiwesens, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 5., Nr. 19 (Erstes Januarheft): 752–759. – Hier: S. 366–374. Tönnies, Ferdinand, 1906d: Revolution?, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 5, Nr. 20 (Zweites Januarheft): 785–790. – Hier: S. 375–383. Tönnies, Ferdinand, 1906e: Die nordamerikanische Nation, Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur, 7 (Jan./Feb.), Teil I: 407–417; Teil II: 573–588. – Hier: S. 385–411. Tönnies, Ferdinand, 1906f: Das Vagieren. Soziologische Skizze, Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustriertem Anzeiger für Kontor und Bureau, 1 (Februar), Heft 5: 99–103. Tönnies, Ferdinand, 1906g: Jena und die Humanität, Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 1, Nr. 17 (3. Mai): 673–679. – Hier: S. 412–419. Tönnies, Ferdinand, 1906h: Die Diäten-Vorlage, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 6, Nr. 4 (Zweites Maiheft): 135–138. – Hier: S. 420–424. Tönnies, Ferdinand, 1906i: Das Wandern. Soziologische Skizze, Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustriertem Anzeiger für Kontor und Bureau, 2 (Mai): 6–9. Tönnies, Ferdinand, 1906j: Das Reisen. Soziologische Skizze, Kulturfragen. Sonderhefte von Henze’s Illustriertem Anzeiger für Kontor und Bureau, 2 (Juli): 31–35. Tönnies, Ferdinand, 1906k: Politische Stimmungen und Richtungen in England, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf

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Apparat

allen Gebieten des geistigen Lebens, 6, Nr. 9 (Erstes Augustheft): 337– 343. – Hier: S.427–435. Tönnies, Ferdinand, 1906l: Moralische Gedanken eines Weltmannes. Aus dem Englischen, Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, 1, Nr. 37: 1445. – Hier: S. 436. Tönnies, Ferdinand, 1906m: Die politischen Parteien im Deutschen Reiche. Sozialwissenschaftliche Studie, Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur, 4, Heft 50: 127–148. – Hier: S. 437–461. Tönnies, Ferdinand, 1906n: Condorcet, Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 6, Nr.17 (Erstes Dezemberheft): 689–694. – Hier: S. 462–469. Tönnies, Ferdinand, 1906o: [Bedürfen wir des Pfarrers noch?]. S. 154–155 in: Bedürfen wir des Pfarrers noch? Ergebnis einer Rundfrage, eingeleitet und zusammengestellt von Theodor Kappstein. Berlin/Leipzig. – Hier: S. 470–471. Tönnies, Ferdinand, 1906p: [Discussion on Restrictions in Marriage and on Studies in National Eugenic], Sociological Papers, (1905), Volume II: 40–42. – Hier: S. 472–474 [erneut S. 435–437 in: Ferdinand Tönnies: Schriften und Rezensionen zur Anthropologie. Hgg. von Rolf Fechner. München/Wien 2008]. Tönnies, Ferdinand, 1906q: [Rezension von] Spencer, Herbert, Eine Autobiographie. Stuttgart 1905, Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften, 2, Heft 3 (März): 137–139. – Hier: S. 483–488. [Tönnies, Ferdinand] -ιε-, 1906r: [Rezension von] Eulenburg, Franz, Gesellschaft und Natur. Tübingen 1905, Literarisches Zentralblatt. Kritisches Zentralblatt für die gesammte Wissenschaft, 57, Nr. 13/14 (April): 786–787. – Hier: S. 490–492. [Tönnies, Ferdinand] -ιε-, 1906s: [Rezension] Wells, H. G., Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen, Literarisches Zentralblatt. Kritisches Zentralblatt für die gesamte Wissenschaft, 57. Jg., Weimar: Wagner & Sohn 1906, S. 930–931. – Hier: S. 493–495. Tönnies, Ferdinand, 1906t: [Rezension von] Stuckenberg, J. H. W.: Sociology. The science of human society. In zwo volumes. New York/London, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb], 30: 1705–1707. Tönnies, Ferdinand, 1906u: [Rezension von] Spann, Othmar, Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie. 1. Bd.: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffes der modernen Soziologie,

Bibliographie

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Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft, 27, Nr. 45 (10. November): 2839–2842. – Hier: S. 497–500. Tönnies, Ferdinand, 1906v: The Present Problems of Social Structure. S. 825–841 in: Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis, 1904. Edited by Howard J. Rogers. Vol. V. Boston/New York [zuerst in: The American Journal of Sociology X (March), Nr. 5: 569– 588 (Tönnies 1905e)]. Tönnies, Ferdinand, [1906w]: Alt-Eiderstedt und seine Freiheiten. – Erstmals hier S. 585–599. Tönnies, Ferdinand, 1907: Entgegnung, Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft, Nr. 24 (16. Juni): 1499. Tönnies, Ferdinand (Hg.), 1910: Charakterbild eines Königs vom Marquis von Halifax. Nebst Aphorismen des Autors. Erste deutsche Übersetzung. Herausgegeben mit Einleitung und Anmerkungen von Ferdinand Tönnies. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1915/16: Soziologie im System der Wissenschaften, Archiv für Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie. Bd. 9, H. 2: 1–8 [erneut in: Tönnies 1926: 246–242]. Tönnies, Ferdinand, 1917: Theodor Storm. Zum 14. September 1917. Gedenkblätter. Berlin. [erneut in: TG 10: 363–425]. Tönnies, Ferdinand, 1922: Ferdinand Tönnies. Eutin (Holstein). S. 199– 234 in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Dritter Band. Hgg. von Raymund Schmidt. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1924: Einteilung der Soziologie, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 79: 1–15 [erneut in: Tönnies 1926: 430– 443]. Tönnies, Ferdinand, 1925: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung. Jena. Tönnies, Ferdinand, 1925a [1907]: Das Wesen der Soziologie. S. 350–368 in Tönnies 1925. [erneut in: TG 15: 477–498]. Tönnies, Ferdinand, 1926: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung. Jena. Tönnies, Ferdinand, 1926a [1914]: Die Soziologie und ihre Aussichten in Europa. S. 209–222 in: Tönnies 1926. Tönnies, Ferdinand, 1929: Soziologische Studien und Kritiken. Dritte Sammlung. Jena. Tönnies, Ferdinand, 1929a [1900/02]: Jahresbericht über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1897 und 1898. S. 283–336 in: Tönnies 1929.

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Apparat

[Tönnies, Ferdinand], 1931: Tönnies, Ferdinand. S. 1917–1918 in: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild. Mit einer Einführung „Über die Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies. Zweiter Band. Hgg.: Deutscher Wirtschaftsverlag. Berlin. [erneut in: Tönnies-Forum, 1994, 3. Jg., Nr. 2, S. 33 f.]. Tönnies, Ferdinand, 1931a: Einführung in die Soziologie. Stuttgart. [erneut: 1981]. Tönnies, Ferdinand, 1932: Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland, Deutsch-britische Rundschau. Monatsschrift der Deutsch-Britischen-Gesellschaft (Anglo German Club London), Nr. 4: 76–78. Tönnies, Ferdinand, 1980: Zur Verfassungsgeschichte Nordfrieslands [Alt Eiderstedt und seine Freiheiten. Vortrag, gehalten am 26. 9. 1906], Nordfriesland, 54/55, 14. Bd., 2. und 3. Heft (Oktober): 72–81. Tönnies, Ferdinand, 1980a: Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium und erste Dozententätigkeit [1855–1894]. Hgg. von Rainer Polley, Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 105: 187–227 [erneut in: TG 22 I: 507–550]. Tönnies, Ferdinand, 1988: Die Tatsache des Wollens (ursprünglich 1889 für die Preisaufgabe der Jakob-Frohschammer Stiftung der Maximilians-Universität München eingereicht). Aus dem Nachlaß herausgegeben u. eingeleitet von Jürgen Zander (Beiträge zur Sozialforschung, Bd. 1). Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1988a: Exkurs über das Wollen in der Sprache (insbesondere in der deutschen), S. 114–128 in: Die Tatsache des Wollens (ursprünglich 1889 für die Preisaufgabe der Jakob-Frohschammer Stiftung der Maximilians-Universität München eingereicht). Aus dem Nachlaß herausgegeben u. eingeleitet von Jürgen Zander (Beiträge zur Sozialforschung, Bd. 1). Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1998: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22. 1932–1936. Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen. Hgg. von Lars Clausen. Berlin/New York. Tönnies, Ferdinand, 2000: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 9. 1911–1915. Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie. Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung. Schriften. Rezensionen. Hgg. von Arno Mohr in Zusammenarbeit mit Rolf Fechner. Berlin/New York. Tönnies, Ferdinand, 2000a: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 15. 1923–1925. Innere Kolonisation in Preußen. Soziologische Studien und

Bibliographie

641

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642

Apparat

lati (1863–1909). (Editori: Calderoni, Mario / Ricci, Umberto / Vacca, Giovanni). Leipzig/Firenze. [de Voltaire, François-Marie Arouet], 1785: Dictionnaire philosophique. Tome III. Dispute. S. 347–355 in: Oeuvres complètes de Voltaire. Tome trente-neuvième de la l’société-litteraire-typographique. Paris. Wagner, Adolph, 1890: Der Kredit und das Bankwesen, S. 379–496 in: Gustav Schönberg (Hg.), Handbuch der Politischen Oekonomie. Dritte Aufl. Erster Band. Volkwirtschaftslehre. In zwei Bänden. Tübingen. Washington, Booker T., 1901: Up from slavery. An Autobiography. New York [dt. 1902: Vom Sklaven empor. Eine Selbstbiographie. Autorisierte deutsche Übersetzung von Estelle Du Bois-Reymond. Mit einem Vorwort von Ernst Vohsen. Berlin.]. Weißleder, Carl, 1923: Zum 50. Geburtstage des Lebensweisen und Tatdenkers, Die Lebensschule, 5, Juli, Bl. 55: 97–101. Welby, Victoria, 1891: Witnesses of Ambiguity. A Collection. Grantham. Welby, Victoria, 1896a: Advertisement of Welby-Prize, Mind. A Quartely Review of Psychology and Philosophy, vol. V: 583. Welby, Victoria, 1896: Sense, Meaning and Interpretation, Mind. A Quartely Review of Psychology and Philosophy, vol. V: 24–37 u. 186–202. Welby, Victoria, 1897: Grains of Sense. London. Welby, Victoria, 1901: Notes on the Welby Prize essay, Mind. A Quartely Review of Psychology and Philosophy, vol. X, no. 38: 188–204 u. 209. Welby, Victoria, 1903: What is meaning? Studies in the development of significance. London. (Reprint with an introduction essay by Gerrit Mannoury and a preface by Achim Eschbach. Amsterdam/Philadelphia 1983). Welby, Victoria, 1985 [1911]: Significs and Language. In: The Articulate Form of our Expressive and Interpretative Resources by Victoria Lady Welby. Reprint of the edition London, 1911, and of two articles by V. Welby. Edited an introduced by H. Walter Schmitz. Amsterdam/Philadelphia. Wells, Herbert George, 1901: Anticipations of the reaction of the mechanical and scientific progress upon human life and thought. New York. Wells, Herbert George, 1905: Ausblicke auf die Folgen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für Leben und Denken des Menschen. Deutsche, vom Autor genehmigte Übertragung von Felix Paul Greve. Minden i. W. Weltrich, Richard, 1899: Friedrich Schiller. Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke. Unter kritischem Nachweis der biographischen Quellen. Erster Band. Stuttgart.

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Register der Publikationsorgane Periodika und Hand(wörter)bücher wurden berücksichtigt. Die Wörter folgen einander alphabetisch, grammatikalische Artikel wurden mit eingeordnet.

Allgemeine Literaturzeitung  21 Akademische Rundschau  641 Allgemeine Sammlung historischer Memoires vom zwölften Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten, durch mehrere Verfasser übersetzt, mit den nötigen Anmerkungen versehen und jedesmal mit einer universalhistorischen Übersicht begleitet  24 American Journal of Sociology 663 Annalen der Natur- und Kulturphilosophie  619 Annales de l’Institut International de Sociologie  368, 615 Antisozialdemokratische Korrespondenz. Organ zur Bekämpfung der Sozialdemokratie  290 Archiv für Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie  639 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik  87, 111, 328, 338, 633 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Neue Folge des Archivs für Soziale Gesetzgebung und Statistik)  409, 490, 610, 630, 634 f. Archiv für systematische Philosophie  338, 634 Briefe, die neueste Literatur betreffend 649 Conrads Jahrbücher  338 Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst 412, 436, 637 f. Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens  258, 288, 322, 343, 365, 375, 420, 427, 462, 503, 618, 635–638 Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für Deutsche Kultur  354, 634 Der Teutsche Merkur  18 Deutsch-amerikanische Geschichtsblätter  616 Deutsch-britische Rundschau. Monatsschrift der Deutsch-Britischen-Gesellschaft  640

646

Apparat

Deutsche Erde. Zeitschrift für Deutschkunde. Beiträge zur Kenntnis deutschen Volkstums allerorten und allerzeiten  388, 605 Deutsche Juristen-Zeitung  65, 614 Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft  497, 617, 639 Deutsche Rundschau  4, 33, 43, 617 f., 629, 641 Deutsche Worte  633 Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur  63, 90, 254, 299, 385, 437, 557, 609, 619, 628, 634–638, 641 Die Heimat  583 Die Hilfe. Nationalsoziale Wochenschrift  7, 294 f., 458, 635 Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst  378, 600, 618 Die Horen  4, 30-32, 34, 38, 46, 297 Die Lebensschule  642 Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst  633 Die Neue Zeit  376 Dresdner Nachrichten  378 Dr. Meyns schleswig-holsteinischer Hauskalender  583 Economical Review 406 Eiderstedter Nachrichten  583 f. Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für sozial-ethische Reformen  90, 574 Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik  635 Friedrichstädter Wochenblatt  583 Friesen-Courier  583 Hamburger Nachrichten. Wöchentlich gemeinnützige Nachrichten von und für Hamburg  378, 413, 583 Handwörterbuch der Staatswissenschaften  340 f. Historische Zeitschrift 659 Husumer Nachrichten  583 Husumer Wochenblatt  583 Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft  613

Register der Publikationsorgane

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Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Schmollers Jahrbuch)  253, 338, 342, 362, 496, 577, 619, 634–636, 638 Journal of Philosophy 629 Kladderadatsch  256 Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften  477, 483, 489, 636, 638 Kulturfragen. Illustrierter Anzeiger für Kontor und Bureau  351, 384, 425 f., 574, 636 f. L’Année Biologique  328 L’Année Philosophique  328 L’Année Psychologique  328 L’Année Sociologique  328-341, 607–609, 613, 620, 630 f. Leipziger Volkszeitung  322 Literarisches Zentralblatt. Kritisches Zentralblatt für die gesamte Wissenschaft  490, 493, 503, 638 Mc Clure’s  410 Mind. A Quartely Review of Psychology and Philosophy  119, 127, 240 f., 511, 513 f., 633 f., 642 Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV)  509, 614 Mitteilungen des Nordfriesischen Vereins für Heimatkunde und Heimatliebe  583 Moderne Zeitfragen  63 Monist  610 Neue Philologische Rundschau   615 Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue  380, 617 Neue Thalia  17, 309, 357 Neuer Teutscher Merkur  18 Niederdeutsches Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 607 Niedersachsen  584 Nordfriesische Rundschau  583 f. Nordfriesland  Bib Notes critiques, sciences sociales  339

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Apparat

Philosophische Monatshefte  281, 550, 633 Philosophisches Jahrbuch  643 Revue des deux Mondes  484 Revue Métaphysique et de Morale  240, 615 Rheinische Thalia  17, 302 f., 357, 565, 570 Schleswig-Holsteinische Rundschau  583 Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen  562 Sociological Papers  360, 362, 427, 472, 575, 577, 601, 610, 636, 638 Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik. Neue Folge der „Blätter für Soziale Praxis” und des „Sozialpolitischen Zentralblatts”  268, 606 Soziologische Revue  328 f. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich  289, 631 Tetsugaku zasshi [Journal of Philosophy]  629 Thalia  17 f., 357 The American Journal of Sociology  269, 536, 580, 635, 639 The Economical Review  406 The Independent Review  437 The Quarterly Journal of Economics  XX, 407, 618 The Times  363, 578, 637 Tönnies-Forum  615, 620, 629, 640 Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie  605 Vorwärts  264, 381, 643 Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte  583, 640 Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft  497 Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft  64, 509, 616 Zeitschrift für Hypnotismus  223, 610, 634 Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik  338 Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane  633 Zeitschrift für Semiotik  628 Zeitschrift für Sozialwissenschaft  338 Zeitschrift für Soziologie  629 Zeitschrift für Theologie  447

Personenregister Die Namen folgen einander alphabetisch, ungeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen (s. o. S. 605) sind dabei außer Acht gelassen worden. Das Personenregister erfasst grundsätzlich alle Namen Lebender oder Toter, die in den edierten und erläuterten Texten und Passagen vorkommen. Gegebenenfalls wurde orthographisch korrigiert, z. B. fremdländische Namen eingedeutscht. Schreibvarianten der Namen stehen in runden Klammern, in eckigen zusätzlich ursprüngliche Personenamen. Adelsprädikate sind den Namen vorangestellt worden, ohne dass die alphabetische Reihenfolge dadurch durchbrochen worden ist. Die Lebensdaten erscheinen kursiv. Dem schließen sich kurze Angaben zum beruflichen Wirkungskreis an; möglichst erstrecken sich die Hinweise auf den Kontext der Ausgabe. Namen, die nach ihren Lebensdaten mit einem Asterisk (*) versehen sind, finden sich in Bde. 1–26 von Meyers Enzyklopädischen Lexikon (Meyer 1971–81). Die Namen der Herausgeber von Sammelwerken oder Verlagsnamen, soweit sie nicht in Tönnies’ Text auftauchen oder von keinem editorischen Nutzen scheinen, sind vernachlässigt worden. Abbt, Thomas (1738–1766)*, dt. philosoph. Schriftsteller, war Nachfolger → Lessings in der Redaktion der „Briefe, die neueste Literatur betreffend“   312 Abeken, Heinrich (1809–1872)*, preuß. Staatsbeamter („Bismarcks Feder”)   255 Abel (1218–1252), König von Dänemark (seit 1250), Herzog von Schleswig (seit 1232), Sohn von → Waldemar II.   591 von Abel, Jacob Friedrich (1751–1829), dt. Prof. für Philosophie an der Karlsschule, Lehrer von → Schiller   305, 560, 566 Adickes, Franz (1846–1915)*, sozial fortschrittlicher Kommunalpolitiker, Mitbegründer der Universität in Frankfurt am Main   508 Adolf (1525–1584), Herzog von SchleswigHolstein-Gottorp (seit 1544), Halbbruder von → Christian III.

Adolf VIII. (1401–1459), Graf von Holstein (seit 1427), als Adolf I. Herzog von Schleswig (seit 1833), Sohn von → Gerhard VI., Bruder von → Heinrich IV. u. → Gerhard VII.   [589], 591, 593, 595 Albrecht II. (?–1403), Graf von HolsteinSegeberg (seit 1384) und von HolsteinRendsburg (seit 1397)   589 [dort irrtümlich genannt, gemeint ist → Adolf VIII.] Alengry, Alfred François Henri (Franck) (1865–1946), frz. Sozialwissenschaft������������������� ler   465–468, 599 Alembert →D’Alembert Alexander I. (1777–1825)*, Kaiser von Rußland (1801–1825)   364 Alff, Wilhelm (1918–1992), dt. Historiker   463 Andersen, Meves (Mewes) (?–1446), friesischer Staller (Statthalter) von Eiderstedt (1444–1446)   598

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Apparat

Appelius, Hugo (1855–1907), dt. Jurist, Berichterstatter der Kommission zur Reform des Jugendstrafrechtes in der Inter­nationalen Kriminalistischen Vereini­ gung (IKV)   87 f. von Aquino [Aquinus], [St.] Thomas (um 1225–1274)*, ital. Philosoph und Theologe   280 f., 550 Aristoteles (384–322 v. Chr.)*, gr. Philosoph   120, 182, 280, 321 Arnauld, Antoine (1612–1694)*, frz. Philosoph, Theologe u. Logiker   188 Aschrott, Paul Felix (1856–1927), dt. Jurist, Vorstandsmitglied der IKV, war an der Reform der StPO von 1895, 1906, 1909 maßgeblich beteiligt   508 (Earl of Oxford and) Asquith, Herbert Henry (1852–1928)*, brit. lib. Politiker, ������������������� Premierminister (1908–1916)   429, 581 As(s)ens, Fedder (?–1511), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1500–1511) 598 Auer, Ignaz (1846–1907)*, dt. Sattler, sozialdemokratischer Politiker, MdR   264 Babeuf, François Noël (1760 –1797), frz. Revolutionär u. Frühsozialist   526 Bacon, Francis (1561–1626)*, engl. Philosoph, Naturwissenschaftler u. Staatsmann   186, 231 Baedeker, Karl (1801–1859)*, dt. Verleger (von Reisehandbüchern)   404 Baggesen, Jens Immanuel (1764–1826)*, dän. Dichter   34 Baker, Christopher (bl. um 2000), engl. Dolmetscher   XXIV Baldwin, James Mark (1861–1934)*, amerik. Psychologe   129 Earl of Balfour, Arthur James (1848–1930)*, engl. Philosoph ��������������������������������� und konserv. Premierminister (1902–1905)   383, 428, 581 Bammé, Arno (1944– ), dt.-österr. Sozialwissenschaftler, Bandeditor der TG   XXV, 601, 604 Barnave, Antoine Pierre Joseph Marie (1761– 1793)*, frz. Politiker, Anführer des Clubs der Feuillants   462 Barth, Paul (1858–1922)*, dt. Philosoph u. Pädagoge   360, 522, 575 Bastian, Adolf (1826–1905)*, dt. Ethnologe   160, 250

Bastian, Henry Charlton (1837–1915), brit. Naturwissenschaftler   484 Baumgarten, Otto (1858–1934)*, dt. Theologe (Prof. in Kiel 1894–1926), Nachbar und Briefpartner Tönnies’, erklärter Gegner des Nationalsozialismus   600 Bebel, August (1840–1913)*, dt. sozialdemokratischer Parteiführer, gründete 1869 zusammen mit Wilhelm Liebknecht die deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei   262, 264, 381 Beck, Hermann (1879–nach 1920), dt. Sozialwissenschaftler, Hg. d. Kritischen Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften   477, 483 van Beethoven, Ludwig (1770–1827)*, dt. Komponist   28 Bellmann, Elisabeth (1965– ), dt. Richterin   63, 87, 509 Beneke, Eduard (1798–1864), dt. Philosoph   197 Berger, Albert (1943– ), österr. Germanist   XXIV Berger, Wilhelm (1957– ), österr. Philosoph   XXIV Berkeley, George (1685–1753)*, irischer Philosoph u. anglikanischer Bischof   174, 188 Frhr. von Berlepsch, Hans (1843–1926)*, dt. Politiker, Oberpräsident der preuß. Rheinprovinz, Nachfolger → Bismarcks als Leiter des preuß. Ministeriums für Handel und Gewerbe   268 Bernard, Claude (1813–1878)*, frz. Physiologe   206, 250 Bernstein, Eduard (1850–1932)*, dt. sozialdemokratischer Politiker u. Schriftsteller   262 von Beulwitz [geb. von Lengefeld, spätere von Wolzogen], Caroline (1763–1847)*, dt. Schriftstellerin, Schwester von Schillers Ehefrau → Charlotte von Lengefeld   20 f., 30 f. Bichat, (Marie François) Xavier (1771– 1802)*, frz. Mediziner   206, 250 Bickel, Cornelius (1945– ), dt. Soziologe, Mitherausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe   XXIII, XXV, 490, 509, 582 Bielschowsky, Albert (1847–1902)*, dt.. Literaturhistoriker   54 Frhr. von Birkmayer, Karl R. (1847–1920)*, dt. Straf- und Zivilrechtler   508

Personenregister von Bismarck, Malvine (1827–1908), Schwester von → Bismarck   255 Fs. von Bismarck(-Schönhausen), Otto Eduard Leopold, (1815–1898)*, dt. Staatsmann, preuß. Ministerpräsident (1862–1890), dt. Reichskanzler (1871– 1890)   255, 258, 268, 324, 378, 437, 444, 447, 452, 461, 479 Blanc, Jean Joseph Louis (1811–1882)*, frz. Sozialist   463, 466 f. Bleibtreu, Carl (1859–1928)*, dt. Schriftsteller   353 Boas, Eduard (1815–1853)*, dt. Schriftsteller u. Literaturhistoriker, der erste zuverlässige Herausgeber von Nachträgen zu Schillers und Goethes Werken   559, 563 f. Böckh, Richard (1824–1907), dt. Statistiker, Direktor des Statistischen Amts der Stadt Berlin   388 Boerhaave, Herman (1668–1738)*, holl. Arzt u. Chemiker   201 Boirac, Émile (1851–1917), frz. Psychologe   510 Bond, Niall (1963– ), dt.-irischer Soziologe   355 Borzikowsky, Holger (1947– ), dt. Regionalarchivar   XXIII Bosanquet, Bernard (1848–1923)*, engl. Philosoph, Präsident der Aristotelian Society (1894–1898), frühes und prominentes Mitglied der London Ethical Society   575 Bosanquet, Helen (1860–1925), engl. Übersetzerin    119, 127, 241, 513, 520 f. Bouglé, Célestin (1870–1940)*, frz. ������ Soziologe   336 f. Bourgin, Hubert (1874–1955), frz. Prof. u. politischer Schriftsteller   333 Bourguignon, Louis Dominique [genannt Cartouche] (1693–1721), hingerichteter frz. Bandit   302 Boursault, Edme (1638–1701)*, frz. Schriftsteller   242, 516 von Boyen, Hermann (1771–1848)*, preuß. Generalfeldmarschall und Heeresreformer, Mitarbeiter → Scharnhorsts und → Bülows   415–418, 451 Branford, Victor Verasis (1864–?), engl. Soziologe   360, 575 Braun, Heinrich (1854–1927), dt. Publizist   111 Bréal, Michel (1832–1915)*, frz. Sprachwissenschaftler   127, 520

651

Brenke, Else (1874–1945), dt. Lehrerin, Tönnies’ letzte wissenschaftliche Sekretärin   385, 436, 490, 493, 503, 525, 582 Brentano, Lujo (1844–1931)*, dt. ���������� Sozialökonom und Sozialpolitiker, „Kathedersozialist”, Mitbegründer des „Vereins für Socialpolitik”   266, 450 Bridges, John Henry (1832–1906), engl. Philosoph u. Comte-Übersetzer, führender Protagonist des „positivist movement” in England und deren erster Präsident, übersetzte Comte ins Englische   575 Bright, John (1811–1889)*, Führer der engl. Freihandelsbewegung   436 Brissot, Jacques Pierre (1754–1793)*, frz. Politiker, nach dem Sansculotten-Aufstand hingerichteter Führer der Brissotins (Girondisten)   462, 468 Bruhl, Lucien Lévy → Lévy-Bruhl Brunner, Heinrich [vmtl.] (1840–1915) ), dt. Historiker, Sippenforscher   586 Brutus Caepio, Marcus Iunius (85– 42 v. Chr.)*, röm. Politiker, Mörder von Julius Cäsar   280 de Bry, Jean (1760–1835), Mitglied des frz. Konvents   466 Bryce, James (seit 1913 Viscount of Dechmont) (1838–1922)*, engl. Jurist, Historiker u. Politiker, Präsident der „Sociological Society”   401, 423, 428, 575 Büchmann, Georg (1822–1884)*, dt. Philologe   447 Bula, Sandrine (1962– ), frz. Kustodin   XXIV Fs. von Bülow, Bernhard Heinrich (1849– 1929)*, 1900–1909 dt. Reichskanzler u. preuß. Ministerpräsident (1900– 1909)   XX, 258, 261, 263–265, 267, 288– 290, 323, 327, 460, 536 Bulthaupt, Heinrich (1849–1905)*, dt. Schriftsteller und Dramaturg   353 Bunte, Friedrich (bl. um 1890), Bergarbeiterdelegierter   260 Burns, John Elliot (1858–1943)*, brit. Arbeiterführer u. Politiker   383, 432 Busch, Moritz (1821–1899)*, dt. Publizist   255, 381 Lord Byron, George Gordon Noel (1788– 1824)*, engl. Dichter   462 Cabanis, Charlotte-Fèlicité (geb. de Grouchy) (1768–1844), Schwester der Mar-

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Apparat

quise Marie Louise Sophie de Condorcet, Schwägerin von → Condorcet   466 Cabanis, (Pierre Jean) Georges (1757– 1808)*, frz. ����������������������������� Philosoph u. Mediziner, Leibarzt von → Mirabeau, Schwager von → Condorcet    466 von Calker, Fritz (1864–1957), dt. Jurist, Kommissionsmitglied bei der Revision der StPO und des Strafrechts   508 Campbell-Bannerman, Sir Henry (1836– 1908)*, lib. brit. Premierminister (1905– 1908)   382, 428, 581 Carnap, Rudolf (1891–1970)*, dt. Sprachphilosoph u. Wissenschaftstheoretiker   524 Cartouche → Bourguignon, Louis Dominique Carus, Paul (1852–1919), dt. Philosoph 208, 250 Cassirer, Ernst (1874–1945)*, dt. Philosoph   491 Cassius Longinus, Gaius (85– 42 v. Chr.), röm. Tribun und Mörder von Julius Cäsar   280 Catilina (Katilina), Lucius Sergius (um 108– 62 v.Chr.)*, röm. Adliger (Catilinarische Verschwörung)   561 Cato, Marcus Porcius [Censorius] (der Ältere) (234–149 v.Chr.)*, röm. Staatsmann, ���������������� entschiedener Gegner Karthagos   418 de Cervantes Saavedra, Miguel (1547– 1616)*, span. Dichter   310 Chabot, François (1756–1794), frz. ������� Politiker   466 Chamberlain, Joseph (1836–1914)*, brit. Kolonialminister, Fabrikant, Bürgermeister von Birmingham   430, 478–482 Charmont, [Léon Marie], Joseph (1859– 1922), frz. Rechtswissenschaftler   336 Christian I. (1425–1481)*, König von Dänemark u. Schweden (seit 1448), Herzog von Schleswig, Graf von Holstein   593 Christian III. (1503–1559)*, König von Dänemark (seit 1534) aus dem Hause Oldenburg   594 f. Christian IX. (1818–1906)*, König von Dänemark aus dem Hause Glücksburg (seit 1863)   510 Christian X. (1870–1947)*, König von Dänemark aus dem Hause Glücksburg (seit 1912)   510

Clemen, Helena [Davidis, Henriette] (1801– 1876)*, dt. Schriftstellerin u. Kochbuchautorin   254 Clifford, William Kingdon (1845–1879)*, engl. Philosoph und Mathematiker   214 Cobden, Richard (1804–1865)*, engl. Freihandelspolitiker   435 von Cölln, Friedrich (1766–1820)*, preuß. Jurist, Publizist u. Beamter   417 Comte, (Isidor Marie) Auguste (FrançoisXavier) (1798–1857)*, frz. Soziologe u. Philosoph, Sekretär → Saint-Simons   216, 269, 279, 472, 538, 549 de Condillac, Étienne Bonnot (1714–1780)*, frz. Philosoph u. Ökonom   188, 194, 207, 469 Marquis de Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat (1743–1794)*, frz. ������ Mathematiker, Politiker, Philosoph und Schriftsteller   463–470, 599 Costenoble, Hermann (1826–1901), dt. Verleger   353 Cotta, Johann Friedrich (1764–1832), dt. Verleger   338 Couturat, Louis (1868–1914)*, frz. Philosoph und Logiker   128 f., 465, 524 Crispin(us) (Krispin) (?–287), christl. Märtyrer   302 Crofton, Sir Walter Fredrick (1815–1897), irischer Reformer des Strafvollzuges  106 Cromwell, Oliver (1599–1658)*, engl. Lord­ protektor des Commonwealth (1635– 1658)   367 von Czerny, Vinzenz (1842–1916)*, dt. Arzt 600 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785– 1860)*, dt. Historiker und Politiker  423 Reichsfrhr. von Dalberg, Karl Theodor Anton Maria (1744–1817)*, Statthalter von Erfurt, Koadjutor von Mainz und Worms, später Erzbischof von Regensburg, befreundet mit → Wilhelm von Humboldt   5, 30 f. Reichsfrhr. von Dalberg, Wolfgang Heribert (1750–1806)*, Intendant des Mannheimer Nationaltheaters (1778–1803), förderte Schiller vorübergehend und inszenierte die Uraufführungen der „Räuber” (1782) und des „Fiesko” (1784)   15, 31, 562

Personenregister d’Alembert, Jean le Rond (1717–1784)*, frz. Philosoph, Mathematiker u. Literat, zusammen mit → Diderot Hg. der ‚Encyclopédie’   98, 469 Damaschke, Adolf (Wilhelm Ferdinand) (1865–1935)*, dt. Nationalökonom und Bodenreformer   433 Dambacher, Eva (1949– ), dt. Bibliotheka������������ rin   XXIV Dante Alighieri (1265–1321)*, ital. Dich����� ter   280 Danton, George Jacques (1759–1794)*, frz. Advokat u. Revolutionär   462, 468 Davidis, Henriette → Clemen, Helena Debry, Jean Antoine Joseph (1760–1834), frz. Politiker    Viscount of Dechmont, James Bryce → Bryce, James Marquise du Deffand, Marie Anne (geb. de Vichy-Chamrond) (1697–1780)*, frz. Gesellschaftsdame (Literatursalon)   98 Delbrück, Berthold (1842–1922)*, dt. ���� Syntaktiker u. Indogermanist   127 Descartes, René (1596–1650)*,frz. Philosoph   188, 199 f., 207, 212, 215, 222 f., 250 Devonshire, Spencer Compton Cavendish → Hartington Dickhoff, Ernst Wilhelm (bl. um 1883), dt. Kommissionär u. Mörder   112, 300 Diderot, Denis (1713–1784)*, frz. ������������ Schriftsteller u. Philosoph, zusammen mit → D’Alembert Hg. der ‘Encyclopédie’   193, 469 Diels, Hermann (1848–1922)*, dt. Philologe   343, 522 Dilthey, Wilhelm (1833–1911)*, dt. Philosoph   500 f., 522 Dionysus (Denis) [von Paris] (bl. 3. Jhdt.)*, frz. Nationalheiliger und Märtyrer, nach seiner Enthauptung soll er, den Kopf unter dem Arm haltend, noch bis zu dem nach ihm benannten St. Denis gewandert sein   98 Döhring, Heinrich (1789–1862), dt. Literaturhistoriker   354 Doria, Giannettino (?–1547), genuesischer Adliger, wurde in der Nacht der Verschwörung des Fiesco getötet   561 Dove, Heinrich Wilhelm (1803–1879)*, dt. Physiker u. Meteorologe   228, 250

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Drück, Friedrich Ferdinand (1754–1807), dt. Bibliothekar u. Philologe an der Karlsschule   559 DuBois, William Edward Burkhardt (1868– 1963)*, afroamerikanischer Bürgerrechtler u. Wirtschaftswissenschaftler   391 Dühring, Karl Eugen (1833–1921)*, dt. Philosoph u. Nationalökonom   197 Dümmler, Ferdinand (1777–1846), dt. Verleger u. Buchhändler   60 Duncan, David (1839–1923), brit. Soziologe   484 Duns Scotus, Johannes (um 1265/66–1308)*, Franziskanermönch, Scholastiker   235 Durkheim, Émile (1858–1917)*, frz. Soziologe   328, 336 f. 360, 575 Dvořák, Johann (1946– ), österr. Politikwissenschaftler   XXIV Eckermann, Johann Peter (1792–1854)*, dt. Schriftsteller, unbezahlter Sekretär Goethes   14, 316, 357 Eduard (Edward) VII. [Albert Eduard] (1841–1910)*, König von Großbritannien u. Irland, Kaiser von Indien (seit 1901) aus dem Hause Windsor [damals Sachsen-Coburg-Gotha] (1901–1910)   429 Effert, Johann (1863–?), dt. Gewerkschafter, Vorsitzender der Siebener-Kommission   290 von Egge-Weichling, Julia, Ps. von Ferdinand Tönnies   254, 503 Eisler, Rudolf (1873–1926), dt. Philosophiehistoriker   128 von Elm, Johann Adolph (1857–1916), dt. Gewerkschaftsführer u. Reichstagsabgeordneter (1894–1907)   265 Engel, Konrad (1862–1912), preuß. königl. Bergmeister, Geschäftsführer des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberamtsbezirk Dortmund (1895– 1905)   265 Engels, Friedrich (1820–1895)*, dt. Politiker und Sozialphilosoph   376, 380 Erasmus (Erasmus von Rotterdam), Desiderius [eigentl. Gerhard Gerhards] (1469?– 1536)*, holl. Humanist, Mitbegründer der neuzeitlichen Philologie   23 Erhard [Ehrhardt], Johann Benjamin (1766– 1827), dt. Mediziner, Philosoph, Bekannter Schillers, beteiligt an den „Horen”   32

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Apparat

Erich VII. (um 1332–1439), König von Dänemark u. Norwegen (seit 1397), als Erich XIII. König von Schweden (versuchte Dithmarschen zu unterwerfen)   592 von Esmarch, Friedrich (1823–1908)*, dt. Chirurg   353 Eucken, Rudolf (1846–1926)*, dt. Philosoph, Nobelpreisträger für Literatur (1908)   129, 184 f., 195, 197, 199, 219, 237, 250, 512, 524 Eulenburg, Franz (1867–1943)*, dt. Soziologe u. Nationalökonom   490–494 Falk, Gerhard (1960 – ), österr. Mediator   XXIV Fechner, Rolf (1948– ), dt. Soziologe, Bd.-Hg. der TG, Leiter der FerdinandTönnies-Arbeitsstelle an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt   XXV, 288, 294, 351, 355, 384 f., 477, 483, 490, 503, 509, 525, 604 Feddersen, Friedrich August (1838–1908), dt. Pastor und Schriftsteller   353 Fedders(en) (Federkens), Tete (?–1474), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1462–1474)   598 Feisenberger, Albert (Salomon) (1873–1935), dt. Jurist u. Reichsanwalt   508 Ferguson, Adam (1723–1816)*, schott. Geschichtsschreiber und Philosoph   558 Feuerbach, Ludwig (1804–1872)*, dt. Philosoph   197, 563 Ritter von Feuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833)*, dt. Jurist, Begründer der modernen dt. Strafrechtslehre   117 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814)*, dt. Philosoph   24, 39, 54, 297, 415, 487 Fischer, Ilse (1947– ), dt. Historikerin   XXIV Fischer, Kuno (1824–1907)*, dt. Philosoph   219 Forel, Auguste (1848–1931)*, schweiz. Psychiater u. Insektenforscher   233 Förster, Friedrich Wilhelm (1869–1966), dt. Ethiker und Erziehungswissenschaftler   90 Fourquet, Anne-Marie (bl. um 2000), franz. Stadtarchivarin   XXIV Fox, Charles James (1748–1806), engl. Politiker   435 Frank, Reinhard (1869–1934)*, dt. Strafrechtler   508

Franz I. → Franz II. Franz II. (1768–1835)*, letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) (1792–1806), als Franz I. Kaiser von Österreich (1804–1835)   364, 438 Frenssen, Gustav (1863–1945)*, dt. Schriftsteller, Pfarrer   600 Fricke, Gerhard (1901–1980)*, dt. Literaturhistoriker   288 f., 536 Friedrich I. (1471–1553), König von Dänemark (seit 1523) aus dem Hause Oldenburg   594 f. Friedrich II. [d. Große] (1712–1786)*, preuß. König (seit 1740)   30, 256, 363 f., 578 Friedrich III. (1831–1888)*, deutscher Kaiser und König von Preußen aus dem Hause Hohenzollern   449 Friedrich IV. (1671–1706), Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorp (seit 1695)   596 Friedrich Christian II. Herzog von HolsteinSonderburg-Augustenburg (1765–1814)*, Herzog von Schleswig-Holstein, Leiter des dän. Unterrichtswesen, Gönner von → Schiller   4, 25, 33–36, 43 f., 46 Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst) (1620 –1688)*, Kurfürst von Brandenburg   439 Friedrich Wilhelm II. (1744–1797)*, König von Preußen (1786–1797)   30 Friedrich Wilhelm III. (1770–1840)*, König von Preußen (1797–1840)   438 f. Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861)*, 1858 entmündigter König von Preußen (seit 1840)   486 Fustel de Coulanges, Numa Denis Fustel (1830–1889), frz. Historiker   278 Galilei, Galileo (1564–1642)*, ital. Physiker und Astronom   23, 186, 193, 203 Galton, Sir Francis (1822–1911)*, brit. Naturforscher, Mitbegründer der Eugenik   342, 427, 472–474, 601–604 Garve, Christian (1742–1798)*, dt. Philosoph, übersetzte → Ferguson, wirkte auf den jungen Schiller   558 Gassendi, Pierre (Petrus) (eigentl. Pierre Gassend) (1592–1655)*, frz. Philosoph   207 Gensonné, Armand (1758–1793), frz. Poli����� tiker   468 Georg I. (1761–1803), Herzog von SachsenMeiningen   28

Personenregister Georg I. (1660–1727)*, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Kurfürst von Hannover, König von Großbritannien u. Irland (seit1714) aus dem Hause Hannover   435 Georg II. (1826–1914), Herzog von Sachsen-Meiningen (1866–1914)*, der „Theater-Herzog”, künstlerischer Leiter des Meininger Hoftheaters, das er zu einer mustergültigen Bühne („Meininger Stil”) entwickelte   28, 357 Georg (George) V. [Georg Friedrich Ernst Albert] (1865–1936)*, König von Großbritannien u. Irland (seit 1910) u. Nordirland (seit 1921) u. Kaiser v. Indien (seit 1911) aus dem Hause Windsor [SachsenCoburg-Gotha]   430 George, Henry (1839–1897)*, amerik. Volkswirtschaftler   433 Gerhard VI. (um 1367–1404), Graf von Holstein-Rendsburg (seit 1403), Herzog von Schleswig (seit 1396), starb 1404 beim Versuch, Dithmarschen zu erobern   591 Gerhard VII. (1404–1433), Herzog von Schleswig, Graf von Holstein (seit 1427), Sohn von → Gerhard VI., Bruder von → → Heinrich IV. u. Adolf VIII.   589, 591, 593 Gerschlager, Caroline (1965– ), österr. Wirtschaftswissenschaftlerin   XXIV Gervinus, Georg Gottfried (1805–1871)*, dt. Historiker, Literaturhistoriker, Politiker   16 Gibbon, Edward (1737–1794)*, engl. Historiker   20 Gidionsen, Wilhelm (1825–1898), oldenburgischer Hofrat, Rektor der Husumer Gelehrtenschule   355 f. Gladstone, William Ewart (1809–1898)*, brit. lib. Staatsmann, Premierminister (1868–1874, 1880–1885, 1892– 1894)   382, 430, 481 f. Glas, Gerlinde (1948– ), österr. Bibliothekarin   XXIV von Gneisenau, August Wilhelm Anton Graf Neidhardt (1760–1831)*, preuß. Heerführer, neben → Scharnhorst bedeutendster preuß. Heeresreformer   418 von Gneist, Rudolf (1816–1895)*, dt. Jurist und lib. Politiker, Präsident des „Vereins für Sozialpolitik” und vom „Zentralver-

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ein für das Wohl der arbeitenden Klassen”   275, 543 Goedeke, Karl (1814–1887)*, dt. Literaturhistoriker, Hg. der ersten (fünfzehn-bändigen) historisch-kritischen Ausgabe der Werke → Schillers (1867–1876)   21, 56, 303, 319 Göhre, Paul (1864–1928)*, dt. Theologe u. sozialdemokratischer Politiker   458 (von) Goethe, Johann Wolfgang (1749– 1832)*   XXIV, 5, 14, 18, 21, 27, 31, 48, 55, 90, 122, 124, 201, 297, 315 f., 326, 354–357., 364, 399, 406, 410, 415, 462, 531, 569, 571, 578 Frhr. von der Goltz [Goltz–Pascha], Colmar (1843–1916)*, preuß. Generalfeldmarschall in türkischem Dienst   413 f., 416 Gompers, Samuel (Sam) (1850–1924)*, amerikan. Gewerkschaftsführer, Präsident der AFL   409 Goodnow, Frank Johnson (1859–1939), Prof. an der Columbia University, Gründer und Leiter des Munizipalprogrammes zur Sanierung amerikanischer Städte   411 Grammont, Joseph Friedrich (1759–1819), Mitschüler Schillers, studierte wie Schiller zunächst Rechtswissenschaft, dann Medizin   560 Gries, Rainer (1948– ), dt. Sozialwissenschaftler   XXIV Grosser, Dieter (1929– ), dt. ������� Politologe   486 de Gruyter, Walter, (1862–1923), dt. Verleger   338 Guadet, Maguerite-Élie (1758–1794), frz. Politiker   468 Guesde, Jules (1845–1922)*, frz. Arbeiterführer   381 Gundling, Nicolaus Hieronymus (1671– 1729), dt. Jurist   194 Håkon VII. (1872–1957)*, Prinz v. Dänemark (als Carl von Glücksburg), König von Norwegen (seit 1905) aus dem Hause Holstein-Sonderburg-Glücksburg   367 Halifax → Saville Fs. von Hardenberg, Karl August (1750– 1822)*, preuß. Staatsmann   417 Harmen(s), Ove (?–1548), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1533–1548), Sohn von → Sievert Harmens   598

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Apparat

Harmens (Harms), Sieverts (?–1533), friesischer Staller (Statthalter) (1525–1533) in Eiderstedt, Sohn von → Sievert Harmen   598 von Harnack, Adolf (1851–1931)*, dt. ev. Theologe u. Kirchenhistoriker   600 Marquess of Hartington, Spencer Compton Cavendish (8. Duke of Devonshire) (1833– 1908), engl. �������������������������� Staatsmann, Tönnies arbeitete in seiner Bibliothek auf Schloss Hardwick/Chatsworth   430, 581 f. Hartley, David (1705–1757)*, engl. Psychologe u. Arzt   193 von Hartmann, Eduard (1842–1906)*, dt. Philosoph   197 von Hase, Karl August (1800–1890)*, dt. ev. Theologe   303 Haug, Balthasar (1731–1792), dt. Schriftsteller, Hofdichter bei → Karl Eugen von Württemberg, Begründer mehrerer literarischer Zeitschriften, Prof. der Philosophie an der Karlsschule   562 Hauptmann, Gerhart (1862–1946)*, dt. Dramatiker   256, 532–534 Hausrath, Adolf (1837–1909)*, dt. protest. Theologe u. Prof.   470 Hebbel, Friedrich (1813–1863)*, dt. Dramatiker   358, 563 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831)*   182, 197, 214, 216, 235, 250, 274, 486 f., 543 Heimreich, Anton (1626–1685), dt. Historiker   588 Heine, Heinrich [ursprünglich Harry] (1797– 1856)*, dt. Dichter   568 Heinemann, Hugo (1863–1919), dt. Rechtsanwalt beim Kammergericht Berlin, Mitglied der IKV-Kommission zur Reform der StPO, Mitglied der preuß. verfassungsgebenden Landesversammlung   508 Heinrich IV. (1397–1427), Herzog von Schleswig, Graf von Holstein (seit 1404), Sohn von → Gerhard VI., Bruder von → Adolf VIII. u. → Gerhard VII.   589, 591, 593 Heintel, Peter (1940 – ), österr. Philosoph   XXIV Heitmann, Claus (1939– ), dt. Regionalforscher   XXV von der Hellen, Eduard (1863–1927)*, dt. Schriftsteller u. Literaturhistoriker, Goethe‑ u- Schiller-Hg.   357 f.

Helvétius, Claude Arien (1715–1771)*, frz. Philosoph   193, 469 Heraklit (von Ephesos) (zw. 540 u. 535– zw.483 u. 475 v. Chr.)*, griech. vorsokratischer Philosoph   343 Herbart, Johann Friedrich (1776–1841)*, dt. Philosoph und Pädagoge   127, 170, 343 Herbert, Auberon Edward William Molyneux (1838–1906), brit. Philosoph   484 Herder, Johann Gottfried (1744–1803)*, dt. Schriftsteller, Volksliedforscher, Philosoph und Theologe   53, 193, 297, 415 Gf. von Her(t)zberg, Ewald Friedrich (1725– 1795), Kriegsminister von → Friedrich II.   30 Hettner, Hermann (1821–1882)*, dt. Kunstund Literaturhistoriker   16 Heuss, Theodor (1884–1963)*, dt. Politiker, erster Präsident der BRD (1949–1959), Hg. der „Hilfe“ (1905–1912)   294 High, Jeffrey Louis (bl. um 1995), amerik. Literaturwissenschaftler   9 von Hippel, Robert (1866–1951), dt. Jurist und Strafrechtsreformer   508 Hippokrates von Kos (um 460–377 v. Chr.)*, gr. Arzt aus dem Geschlecht der Asklepiaden   306 Hobbes, Thomas (1588–1679)* , engl. Philosoph u. Staatstheoretiker   XXI; 60, 188, 279, 524, 549, 581 Hobhouse, Leonard Trelawney (1864– 1929)*, engl. Soziologe, Philosoph und Journalist, Mitbegründer der „Sociological Society”, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Soziologie an der Londoner Universität (1907)   575 Hobson, John Atkinson (1858–1940)*, engl. Nationalökonom   575 Hodgson, Shadworth Hollway (1832–1912), engl. Philosoph, �������������������������������������� erster Präsident der „Aristotelian Society” (1880–1894), Mitglied der British Academy   575 Gf. von Hoensbroech, Paul (1852–1923), dt. Jurist u. Philosoph   254 Høffding (Höffding), Harald (1843– 1931)*, dän. Philosoph und Freund Tönnies’   509 Hoffmann, Friedrich (1880–1963), dt. Wirtschaftswissenschaftler, Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft   600 Hoffmann, Georg (1845–1933), Kieler Prof., Semitist   121

Personenregister Hoffmeister, Karl (1796–1844), dt. Altphilologe   313 Fs. zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig, Prinz von Ratibor und Corvey (1819– 1901)*, dt. Reichskanzler und preuß. Ministerpräsident (1894–1900)   264 Baron d’Holbach, Paul Henry Thiry [eigentl. Paul Heinrich Dietrich] (1723–1789)*, frz. Philosoph dt. Abstammung   469 Hölderlin, Johann Christian Friedrich (1770–1843)*, dt. Dichter u. Übersetzer der „Odyssee” u. der „Illias”   297 Homer (zw. 750 u. 650 v. Chr.)*   47 Hoppe, Gisela (1955– ), dt. Historikerin und Archivarin   XXIV f. Horaz (Quintus Horatius Flaccus) (65–8 v. Chr.)*, röm. Dichter   400 von Hoven, Friedrich Wilhelm (1759–1838), dt. Mediziner u. Schriftsteller, Jugend‑ u. Schulfreund in der Karlsschule von → Schiller   45, 302 Huber, Johann Ludwig (1723–1800), dt. Schriftsteller u. Beamter, unter → Karl Eugen von Württemberg amtsenthoben und auf Hohenasperg in Haft genommen   565 Huber, Ludwig Ferdinand (1764–1804)*, Schriftleiter beim Cotta-Verlag, enger Freund von → Schiller u. → Körner   16, 30 f. Hubert, Henri (1872–1927), frz. Ethnologe   336 Huë, Otto (1868–1922), dt. Bergarbeiterführer, Reichstagsabgeordneter der SPD (1903–1911)   263, 265 Frhr. von Humboldt, Alexander (1769– 1859)*, dt. Naturforscher   297 Frhr. von Humboldt, Wilhelm (1767–1835)*, dt. Gelehrter u. Staatsmann   5, 13, 31, 48 f., 51, 55, 297 Hume, David (1711–1776)*, schott. Philosoph   193, 199, 202 Reichsritter von Hutten, Ulrich (1488– 1523)*, dt. Humanist und Publizist   322 Huxley, Thomas Henry (1825–1895)*, engl. Zoologe, Anatom und Physiologe   211 f., 250 Ibsen, Henrik (1828–1906)*, norweg. Dichter   306 Iffland, August Wilhelm (1759–1814)*, dt. Schauspieler, Theaterdirektor, Dramati-

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ker, stellte 1782 am Mannheimer Nationaltheater als erster den ‚Franz Moor‘ in Schillers „Räuber” dar   13, 15 f. 304 von Ihering (Jhering), Rudolf (1818–1892)*, dt. Rechtsgelehrter   499 Iota Epsilon (ιε) Pseudonym von → Ferdinand Tönnies   490, 493 Jackson, Andrew (genannt: Old Hickory) (1767–1845)*, 7. Präsident der USA   401 von Jacobi, Moritz Hermann (1801–1874), dt. Physiker u. Ingenieur, russ. Staatsrat und Mitglied d. russ. Akademie der Wissenschaften   228, 250 Jacoby, Eduard Georg (1904–1978), dt./neuseel. Soziologe, Tönnies’ Assistent, nach der Emigration Prof. in Wellington/Neuseeland   60, 125, 130, 524 Jakob (James) II. (1633–1701)*, König von England, Schottland (als Jakob VII.) u. Irland (1685–1688) aus dem Hause Stuart   368 James, William (1842–1910)*, amerik. Philosoph u. Psychologe   209, 211, 250 Jesus [Christus] von Nazareth (um 7 v.Chr. – 30)*, Religionsstifter   550 Johann (Hans) (1455–1513), König von Dänemark, Norwegen u. Schweden (seit 1481) aus dem Hause Oldenburg   593 Johann Adolf (1575–1616), Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorp (seit 1590)   596 Jonas, Fritz (1845–1920), dt. Schulrat, Hg. der Briefe von → Schiller   4, 13, 15, 18, 20, 25, 27, 29–32, 34, 47–51, 53–55, 308, 311 f., 314 f., 353, 358 Jon(h)sen, Jonke [Joensen, Joen)] (?–1461), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1456–1461)   598 Kahl, Wilhelm (1849–1932)*, dt. Kirchen‑ Staats‑ und Strafrechtler, war maßgeblich an der dt. Strafrechtsreform beteiligt   65, 508 Kallsen, Otto (1822–1901), dt. Lehrer, Konrektor an der Husumer Gelehrtenschule (1864–1887)   354 Kant, Imanuel (1724–1804)*, dt. Philosoph   25, 30, 34 f., 43, 182, 194, 199, 203, 214 f., 219, 224, 250, 308, 312, 415, 420, 468 f., 487

658

Apparat

Kappstein, Theodor (1870 –1960), dt. Religionswissenschaftler u. Schriftsteller   470 Karl (Karolus) (der Große) (742–814)*, Frankenkönig, eroberte 804 Dithmarschen u. die nördlichen Elbgauen   588, 591 Karl (Charles) I. (1600 –1649), König von England, Schottland u. Irland (seit 1625 [Hinrichtung]) aus dem Hause Stuart   367, 369 Karl V. (1500–1558)*, Kaiser d. Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) aus dem Hause Habsburg, als Karl I. König von Spanien   81 Karl-August (1757–1828)*, Herzog von Sachsen-Weimar (seit 1758), Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach (seit 1815/15), gründete, beraten von → Goethe, das Hoftheater und berief → Schiller nach Weimar   27, 31 Karl Eugen (1728–1793)*, (12.) Herzog von Württemberg (seit 1737), Gründer der Karlsschule   558, 565 Kautsky, Karl (1854–1938)*, österr. Sozialist   262 Keck, Karl Heinrich (Ps. Karl Heinrich) (1824 –1895), dt. Pädagoge, Rektor der Husumer Gelehrtenschule (1870– 1887)   354 f. Keller, Gottfried (1819–1890)*, schweiz. Dichter, führte eine umfangreiche und vielseitige Korrespondenz mit → Theodor Storm   256 Keller, Julius?, (bl. um 1907), rezensierte Tönnies’ „Terminologie“   522 Kellermann, Paul (1937– ), österr. Soziologe   XXII, 487 Baron de Kelles-Krausz, Casimir (1872– 1906), poln. Soziologe   368 Keßler (bl. um 1890), Praktiker des Erziehungswesens   87 Kettner, Gustav (1852–1914), dt. Gymnasiallehrer, Hg. von → Schillers dramatischem Werken (Säkularausgabe in acht Bänden)   315 Kitzmüller, Erich (1931– ), österr. Gesellschaftswissenschaftler   XXIV Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803)*, dt. Dichter   34, 307 f., 355 Knüppel, Christoph (bl. um 1998), dt. Gymnasiallehrer   63, 558

Kohl, Horst (1855–1917), dt. Historiker   481 Kohl, Johann Georg (1808–1878), dt. Reiseschriftsteller, Bremer Stadtbibliothekar   481 Kolle, Peter (1954– ), österr. Bibliothekar   XXIV Konrad I. (um 881–918)*, Herzog von Franken, König d. Ostfrankenlandes (911– 918)   437 Koopmann, Hauke (1943– ), dt. Regionalforscher   XXV Kopernikus (Coppernicus, Copernicus), Nikolaus (eigent. Koppernig)* (1473– 1543)   217 f. Körner, Christian Gottfried (1756–1831)*, preuß. Beamter, Freund und Förderer von → Schiller   16, 20, 27, 29–32, 47 f., 308, 311 f., 315 f., 355 Köster, Johann Adolfi [Neokorus] (um 1550– 1630), Chronist von Dithmarschen u. Pastor in Büsum   586 Krispin → Crispin Krohne, Karl (1836–1913), dt. Jurist, Strafanstaltsdirektor in Berlin   87, 105–107 Külpe, Oswald (1862–1915), dt. Psychologe und Philosoph, Schüler → Wundts   510, 513 Kuna, Franz (1933– ), österr. Anglist XXIV Laage, Karl Ernst (1920– ), dt. Germanist, Präsident der Theodor-Storm-Gesellschaft in Husum   XXIII Lalande, André (1867–1963)*, frz. Philosoph   129, 240, 524 de Lamettrie, Julien Offray (1709–1751)*, frz. Philosoph   562 Ritter von Landmann, Robert August (1854– 1926), bay. Staatsminister des Innern für Kirchen‑ und Schulangelegenheiten (1895– 1902)   217 Landsberg, Hans (1875–1920), dt. Literaturhistoriker, Hg. der „Modernen Zeitfragen“   63 Lange, Helene (1848–1930)*, Führerin der deutschen Frauenbewegung   353 Lassalle, Ferdinand (1825–1864)*, dt. Sozialdemokrat   447 Laßnig, Andrea (1961– ), österr. Amtsrätin   XXV

Personenregister Leau, Léopold (1868—1840?), frz. Mathematiker   128 Legien, Carl (1861–1920)*, dt. Gewerkschaftsführer   266 Lehmann, Max (1845–1929), dt. Historiker, von-Scharnhorst u. Frhr.-von-und-zumStein-Biograph, Leiter der „Historischen Zeitschrift”   48, 417 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 – 1716)*   128, 136, 188, 222, 224, 228, 250 von Lengefeld, Charlotte (1766–1826)*, Ehefrau → Schillers   20, 30 f. Lengsfeld, Klaus–Peter (1945–2006), Direktor des Ludwig-Nissen-Hauses und Geschäftsführer des Museumsverbundes Nordfriesland in Husum   XXIII Léon, Xavier (1868–1935), frz. Philosoph   129 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781)*, dt. Dichter   193, 414, 447 Leveillé, Jules (1834–1912), frz. ����������� Strafrechtler   111 Lévy-Bruhl, Lucien (1857–1939)*, frz. Philosoph u. Ethnologe   360, 575 von Lilienfeld[-Toal], Pavel (Paul) Fedorovich (1829–1903), russ. Soziologe   538 von Lilienthal, Karl (1853–1927), dt. Strafrechtler   111, 508 von Linné (Linnäus), Carl (1707–1778)*, schwed. Naturforscher   304 List, Friedrich (1789–1846)*, dt. Volkswirt   303 Ritter von Liszt, Franz (1851–1919)*, dt. Rechtslehrer und Kriminologe (Begründer der dt. soziologischen Strafrechtsschule)   64, 87, 109–111, 114 f., 508 Lloyd George, David (1863–1945)*, brit. Staatsmann    581 Locke, John (1632–1704)*, engl. Philosoph   126, 184, 195 f., 201, 250 Löffler, Tobias (1724/25–1801), dt. Buchdrucker und Inhaber der akademischen Buchhandlung in Mannheim   321 Lombroso, Cesare (1835–1907)*, ital. Arzt, vertrat die Lehre vom geborenen Verbrecher   491 Lorenz, Max (1871–1907), dt. Schriftsteller, Literatur- und Theaterkritiker   290 Ludwig XVI. (1754–1793)*, König von Frankreich u. Navarra (1774–1792) [hingerichtet am 21. 1. 1793]   31, 468

659

Luther, Martin (1483–1546)*, dt. Reformator, Begründer des luth. Protestantismus   259 Luxemburg, Rosa [Luksenburg, Rozalia] (1871–1919)*, poln./dt. marxistische Theoretikerin u. Politikerin   380 Madore, Geneviève (1944– ), frz. Archi������ varin   XXIV Malthus, Thomas Robert (1766–1834)*, engl. ��������������������������� Historiker und Nationalökonom   490 Frhr. von Malzahn, Wendelin (1815–1889), dt. Literaturfoscher u. Herausgeber   563 Marat, Jean Paul (1743–1793)*, frz. ����� Revolutionär   468 Marmontel, Jean François (1723–1799)*, frz. Schriftsteller   469 Marx, Karl (1818–1883)*, sozialistischer Theoretiker   349, 380 Mauss, Marcel (1872–1950)*, franz. Sozialwissenschaftler, Ethnologe u. Philosoph   336 Maximilian I. von Habsburg (1459–1519)*, König des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) (seit 1486, Kaiser seit 1508) [„der letzte Ritter”]   15 Mehring, Franz (1846–1919)*, dt. Schriftsteller u. Politiker   322, 380 Messer, August (1867–1937), dt. Philosoph   522 f. Meter, Helmut (1944– ), österr. Romanist   XXIV Gf. von Metzsch-Reichenbach, Karl Georg Levin (1836–1927), sächsischer Staatsminister   378 Marchlewski, Julian Balthasar (1866–1925), poln. Politiker   380 Michelsen, Andreas Ludwig Jacob (1801– 1881), dt. Historiker, Jurist, Politiker, Ratgeber des Herzogs → Friedrich VIII. von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Schiller-Editor   4, 36–38, 40 f., 43 f., 296, 358, 590, 593, 597, 599 Mill, John Stuart (1806–1873)*, engl. Philosoph u. Ökonom   487 Millerand, Alexandre (1859–1943)*, frz. Arbeiterführer, Politiker („Possibilist”)   381 f. Milton, John (1608–1674)*, engl. Dichter   308

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Apparat

Minor, Jakob (1855–1912)*, dt. Literaturhistoriker   20, 301 f., 315, 559 f., 564 Gf. von Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti (1749–1791)*, frz. Politiker u. Publizist, Präsident der Nationalversammlung   462, 466 f. Mittermaier, Wolfgang Georg Gottfried (1867–1956), dt. lib. Jurist, Kriminologe   508 von Möller, Theodor Adolf (1840–1925)*, dt. Industrieller u. nationalliberaler Politiker   XX, 261, 322 f., 326 f., 536 Moeller-Sahling, Folke-Christine (1970– ), dt. Germanistin   XXIV von Mohl, Robert (1799–1875)*, dt. Jurist und lib. Politiker   543 Mohr, Arno (1949– ), dt. Politologe u. Historiker, Bandeditor der TG   578 Molkenbuhr, Hermann (1851–1927), dt. Politiker der SPD, MdR (1890 bis 1924)   265 Gf. von Moltke, Otto Julius (1847–1935), dt. Politiker, Klosterpropst, MdR u. Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses   402 Mommsen, Theodor (1817–1903)*, dt. Althistoriker, Literatur-Nobelpreisträger   256 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Bréde et de (1689–1755)*, frz. �������� Schriftsteller u. Philosoph   10, 20, 469, 565 Gf. von Montmartin [du Maz], Friedrich Samuel (1712–1778), Staatsmann, ltd. Minister von → Karl Eugen von Württemberg   565 Moore, Frederick W. (1863–1911), amerik. Ökonom u. Erzieher   537 Morgan, Lewis Henry, (1818–1881)*, amerik. Ethnologe   284 Moser, Johann Jakob (1701–1785)*, dt. Staats- u. Völkerrechtler, von 1759 bis 1764 auf dem Hohentwiel gefangengesetzt   565 Muirhead, John Henry (1855–1940), engl. Philosoph, Prof. der Philosophie und politischen Ökonomie in Birmingham, Hg. der „Library of Philosophy”, Fellow of the British Academy   402, 575 Müller, Max (1823–1900)*, dt. Indologe, Sprach- und Religionsforscher, SchillerEditor   296

Frhr. von Münchhausen, Borries [Ps.: H. Albrecht] (1874–1945)*, dt. Schriftsteller   600 Münsterberg, Hugo (1863–1916)*, dt.-amerik. Philosoph und Psychologe   385 Napoleon I. Bonaparte (1769–1821)*, frz. Kaiser (1804–1814, 1815)   55, 292, 364, 412, 526, 549, 578 Nasse, Erwin (1829–1890), dt. Ökonom   176, 250 Naumann, Friedrich (1860–1919)*, lib. dt. Politiker (MdR)    294, 353, 378, 458, 600 Neurath, Anna (geb. Schapire) (1877–1911), öster. Schriftstellerin, Gattin (seit 1906) von → Otto Neurath   524 Neurath (geb. Kaempffert), Gertrud (1847– 1914), Mutter von → Otto Neurath   524 Neurath, Otto (1882–1945), öster. Philosoph u. Ökonom   524 Newton, Isaac Sir (1643–1727)*, engl. Physiker, Mathematiker u. Astronom   23, 201 Nieberding, Rudolf Arnold (1838–1912)*, preuß. Staatsmann, Staatssekretär des Reichsjustizamtes, hervorragend an der Einführung des BGB beteiligt   508 Niebuhr, Barthold Georg (1776–1831)*, dt.dän. Historiker u. Staatsmann, Privatsekretär von → Schimmelmann   14 Nicole, Pierre (1625–1695), frz. Logiker u. Theologe   188 Niemann, August Christian Heinrich (1761– 1832), dt. Historiker   596 Niese, Charlotte (Ps.: Lucian Bürger) (1854– 1935), dt. Schriftstellerin, Lehrerin   600 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844 – 1900)*   XXI, 494 Nikolaus (Nikolai) II. Alexandrowitsch (1868–1918)*, letzter Kaiser von Rußland (1894–1917) [hingerichtet] aus dem Hause Holstein-Gottorp-Romanow   379 Normannus (Ps. von Ferdinand Tönnies)   322, 375, 503, 571 Noyes, Alexander Dana (1862–1945), engl. Finanzwissenschaftler, Journalist, Autor   406 Oppenheim, Heinrich Bernhard (1819– 1880)*, nationalliberaler Publizist (MdR) 450

Personenregister Oskar II. (1829–1907)*, König von Schweden (seit 1872) und Norwegen (1872– 1905)   367 Osterkamp, Frank (1958– ), dt. Philosoph   XXIII, 511 Ostwald, Hans (1873–1940)*, dt. Schriftsteller, Journalist, Sozialpolitiker, Soziologe   580 Ostwald, Wilhelm (1853–1932)*, dt. Chemiker, Naturphilosoph, Nobelpreisträger   128, 202, 250, 522 f., 580 Otto (Ω), Gustav (?–1926), dt. Ingenieur, schrieb „Die Verbrecherwelt von Berlin“   112, 300 Paine (Payne), Thomas (1737–1809)*, amerik.-frz. Politiker u. Publizist   468 Pascal, Blaise (1623–1662)*, frz. Mathematiker u. Philosoph   173, 188, 250 Paulsen, Friedrich (1846–1908)*, dt. Philosoph u. Pädagoge u. akad. Lehrer u. Freund Tönnies’   195, 198, 226, 250, 281, 511 f., 522, 557, 600 Penzig, Rudolf (1855–1931),Schriftsteller u. Dozent an der Freien Hochschule Berlin, Hg. der „Ethischen Kultur”   343 f., 347 f., 574 Pertz, Georg Heinrich (1795–1876)*, dt. Historiker u. Archivar   418 Peters, Carl (1856–1918)*, dt. Kolonialpolitiker   477–482, 577 Petersen, Julius (1878–1941)*, dt. Literatu��������� rhistoriker   15 Pétion de Villeneuve, Jérôme (1756 –1794), frz. Politiker, Deputierter des Dritten Standes in den Generalständen, Girondist, Mitglied des Jakobinerclubs, Bürgermeister von Paris, Präsident des Nationalkonvents   462 von Pflugk-Harttung, Julius (1848–1919), dt. Kulturhistoriker   254, 525–534 Pilatus, Pontius (bl. um 30)*, röm. Statthalter n Judäa   130 Philipp (1570–1590), Herzog von SchleswigHolstein-Gottorp (seit 1587)   595 f. Frhr. Philippovich von Philippsberg, Eugen (1858–1917)*, dt. Ökonom   176, 250 Philoponos, Johannes (um 490–um 570), alexandrinischer Aristoteleskommentator und Neuplatoniker   246 de Pitaval, François Gayot (1673–1743)*, frz. Rechtsgelehrter   570

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Platon (Plato) (427–347 v. Chr.)*   246, 494, 519 Plutarch(us, os), Mestrois (um 45–125)*, gr. Philosoph u. Historiker   309, 559 f. de Polignac, Melchior (1661–1741), frz. Kardinal und Diplomat Ludwig XIV.   98 Gf. von Posadowsky-Wehner, Arthur, Frhr. von Postelwitz (1845–1932)*, dt. Politiker, Staatssekretär des Reichsamts des Inneren, Stellvertreter des Reichskanzlers und preuß. Staatsminister   422 Posselt, Ernst Ludwig (1763–1804), dt. Historiker   463 Postgate, John Percival (1853–1926), engl. Semantiker   127 Priestley, Joseph (1733–1804)*, engl. Theologe u. Naturforscher   193 Primrose, Archibald Philip → Rosebery Pütter, Johann Stephan (1725–1807)*, dt. Staatsrechtslehrer   20 Fürst Putjatin, Nikolai Abramowitsch (1749–1830), russ. Kammerherr und Philanthrop   14 Pyrrhon von Elis (um 360–um 270 v. Chr.), gr. Philosoph   486 Quesnay, François (1694 –1774)*, frz. Ökonom, Arzt u. Naturrechtsphilosoph    469 Quételet, Lambert Adolphe Jacques (1796– 1874)*, belg. Astronom ��������������������� u. Statistiker   229 Edler von Quistorp, Johann Christoph (1737–1795), dt. Jurist   81 von Radowitz, Josef Maria (1797–1853), preuß. General u. Politiker   373 Raeithel, Gerd (1940 – ), dt. Amerikanist   XXIV Rantzow (Rantzau), Otto (um 1450 – 1511), Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1511)   598 Rantzow (Rantzau), Jakob (bl. 1550), Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1548– 1550)   598 f. Rantzow, Woldemor (bl. um 1550), Vater von → Jakob Rantzow   598 Raspe, Rudolf Erich (1736–1794), dt. Schriftsteller, Philologe u. Mineraloge   224, 228, 250 Ratzel, Friedrich (1844–1904)*, dt. Geograph   336

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Apparat

Ratzenhofer, Gustav (1842–1904)*, österr. Philosoph u. Soziologe   537 Reich, Emil (1864–1940), österr. Literaturhistoriker u. Philosoph   575 Reichardt, Johann Friedrich (1752–1814)*, dt. Kapellmeister u. Komponist   32 Reimer, Georg Andreas (1776–1842)*, dt. Buchhändler   338 Reinhold, Karl Leonhard (1758–1823)*, dt. Philosoph   308 Reinwald [geb. Schiller], Christophine (1757–1847), Schwester von → Friedrich Schiller   15 Reinwald, Wilhelm Friedrich Hermann (1737–1815), dt. Schriftsteller u. Bibliothekar, Freund Schillers u. verheiratet mit dessen ältester Schwester Christophine   15, 18 Reisland, Otto Richard (1841–1914), dt. Verleger (u. a. von Tönnies)   130 Richard, Gaston [Antoine François Michel] (1860 –1945), frz. ������������������� Sozialwissenschaftler   336 Richter, Eugen (1838–1906)*, dt. Jurist u. Politiker   454 Rickert, Heinrich (1863–1936)*, dt. neukantianischer Philosoph   490 f. Riemer, Friedrich Wilhelm [Ps. Silvio Romano] (1784–1845), dt. ������������� Literaturhistoriker u. Schriftsteller, Berater Goethes, Lehrer von Goethes Sohn   357 Robertson, John Mackinnon (1856–1933), engl. Schriftsteller u. Politiker (Parliamentary Secretary to the Board of Trade, 1911)   575 de Robespierre, Maximilien (1758–1794)*, frz. �������������������������������������� Politiker u. hingerichteter Revolutionär   468 Rockefeller, John Davison (1839–1937)*, amerik. Großindustrieller, Gründer des „Standard Oil Trust”   395 Rogers, Howard Jason (1861–1927), amerik. Erzieher   269, 580 Roland de la Platière, Jean-Marie (1734– 1793)*, frz. Politiker, Girondist   468 Rönnpag, Otto (bl. um 1997), dt. Realschuldirektor, Regionalforscher   581 Roosevelt, Theodore (1858–1919)*, 26. Präsident der USA (1901–1909)   283, 395, 552

Earl of Rosebery, Archibald Philip Primrose, (1847–1929)*, brit. lib. ���������������� Staatsmann, Premierminister (1894–1895)   430 Rosenberg, Leo (1879–1963), dt. Jurist   508 Rosenfeld, Ernst (Heinrich) (1869–1952), dt. Jurist   508 Roßhirt, Konrad Eugen Franz (1793–1873), dt. Jurist   87 Rotterdam, → Erasmus von Rotterdam Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)*, frz. Schriftsteller u. Philosoph   9, 296, 469, 559 f., 565 f. Rudolph, Günther (1929– ), dt. Sozial‑ und Wirtschaftswissenschaftler   XXV Russell, Bertrand Arthur William (1872– 1970)*, engl. ����������������������� Philosoph u. Mathematiker   360, 575 Comte de Saint Simon, Claude Henri de Rouvroy (1760–1825)*, frz. ������������������ Soziologe u. Frühsozialist   469 Satzinger, Helga (1953– ), dt. Biologin und Wissenschaftshistorikerin   233 Saville (Savile), George 1st Marquis of Halifax) (1633–1695), engl. Politiker u. Schriftsteller   436, 582 Schäffle, Albert (1831–1903)*, dt. Volkswirt, Soziologe u. Politiker   538 Schallmayer, Wilhelm (1857–1919), dt. Arzt u. eugenischer Schriftsteller   253, 342 von Scharnhorst, Gerhard Johann David (1755–1813)*, preuß. General u. Militärreformer   451 von Scheel, Friedrich Wilhelm Johannes (Hans) (1839–1901), dt. Jurist u. Ökonom   453 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775– 1854)*   487 Scherer, Wilhelm (1841–1886)*, dt. Germanist   52 (von) Schiller, Friedrich (1759–1805)*  XX, XXIV, 3–59, 197, 294–321, 353–359, 432, 507, 509, 531, 556–571 Gf. Schimmelmann, Ernst (1747–1831)*, dän. Staatsmann  25, 33 von Schirach, Gottlob Benedikt (1743– 1804), dt. Philosoph u. Historiker   559 Schlegel, August Wilhelm (1767–1845)*, dt. Sprach‑ und Literaturwissenschaftler   47, 297

Personenregister von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Luise (1764–1815), Schwester des Herzogs → Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg   43 Schlüter, Friedrich Wilhelm Martin (Willy) (1873–1935), dt. Schriftsteller, Philosoph, Mystiker, zeitweilig Mitarbeiter von Tönnies   303, 557–561, 563 f., 566, 568, 571 Schmeißer, Felix (1882–1953), dt. Journalist    584 Schmidt, Erich (1853–1913)*, dt. Literaturhistoriker, Direktor des Goethe-Archivs in Weimar   315 Schmidt, Esther (1970– ), dt. Literaturwissenschaftlerin   XXIV Schmitz, H. Walter (1948– ), dt. Kommunikationswissenschaftler   XXI, 510, 522, 524 (von) Schmoller, Gustav (1838–1917)*, dt. Staatswissenschaftler u. Nationalökonom, leitete seit1890 den Verein für Socialpolitik   450 von Schönberg, Gustav Friedrich (1839– 1908), dt. Nationalökonom   176, 250 Schopenhauer, Arthur (1788–1860)*   197, 527 Schröder, Ludwig (1848–1914), zweiter Vorsitzender des Verbandes deutscher Bergarbeiter (seit 1898)   260 Schubart, Christian Friedrich Daniel (1739– 1791)*, dt. Dichter u. Musiker   30, 303, 562, 565 Schubart, Ludwig Albert (1765–1811), dt. Schriftsteller u. Beamter, übte starken Einfluss auf → Schiller aus   30 Schuchardt, Hugo (1842–1927)*, dt. Romanist u. Sprachforscher   128 Schulz, Hans (1870–1939), dt. Historiker, publizierte über → Schiller u. → Friedrich Christian   43 Schümer, Dirk (1962– ), dt. Journalist 233 Schwan, Johann Friedrich (genannt der Sonnenwirt) (1729–1760)*, Gastwirtssohn und Räuberhauptmann, → Schiller gestaltete seine Lebensgeschichte in der Erzählung „Verbrecher aus Infamie” (1786)   305 Frhr. von [zu] Schwarzenberg (1463–1528), dt. Hofmeister   82

663

Scott, Walter (1771–1832)*, schott Dichter   586 Seneca, Lucius Annaeus (ca. 4. v. Chr.–65)*, röm. Philosoph   113 Seuffert, Ernst August (1829–1907), dt. Rechtswissenschaftler   508 Shakespeare, William (1564–1616)*, engl. Dichter   47, 562, 566 Shinobu, Imafuku (bl. um 1900), jap. Philosoph, übersetzte Tönnies’ „Terminologie in das Japanische   524 Sidney, Algernon (1621 od. 1622–1683), engl. Politiker, wg. republikanischer Umtriebe hingerichtet   465 Sieverts, Harmen (?–1525), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1512–1525), Bruder von → Sievert, Iver   598 Sievert(s), Iver (?–1512), friesischer Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1511– 1512)   598 (Gf. von) Sieyès, (Abbé) Emanuel Joseph (1748–1836)*, kath. Geistlicher, frz. Revolutionär u. Politiker   7 Sigwart, Christoph (1830–1904)*, dt. ���� Philosoph   174, 250 Simiand, François [Joseph Charles] (1873– 1935), frz. Sozialwissenschaftler ����������������������������� u. Ökonom   333, 336, 339 Simmel, Georg (1858–1918)*, dt. Philosoph u. Soziologe   336 Singer, Paul (1844–1911)*, dt. sozialdemokratischer Politiker, ab 1900 im Internationalen Sozialistischen Büro der 2. Internationale   262, 381 Small, Albion Woodbury (1854–1926)*, amerik. Soziologe, Präsident der „American Sociological Society”, seit 1895 Herausgeber des „American Journal of Sociology”   580 Smith, Adam (1723–1790)*, schott. Nationalökonom u. Philosoph   XXIII, 565 Sohm, Gotthold Julis Rudolph (1841–1917)*, dt. Jurist, Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins, wirkte am BGB mit   458 Sokrates (470–399 v. Chr.)*   465 Gf. zu Solms[-Rrödelheim und Assenheim], Max [Maximilian Ludwig] (1893– 1968), dt. Soziologe, promovierte bei Tönnies   226 Solon (um 640 – nach 561 v. Chr.)*, athenischer Gesetzgeber   432

664

Apparat

Sombart, Werner [Friedrich Wilhelm Karl] (1863–1941)*, dt. Nationalökonom u. Soziologe   264, 332, 409 Sophokles (496— 406 v. Chr.)*, gr. Tragödiendichter   20 Spann, Othmar (1878–1950)*, österr. Philosoph, Nationalökonom u. Soziologe   496–499 Spencer, Herbert (1820–1903)*, engl. Soziologe u. Philosoph   201, 216, 362, 483– 489, 538, 550 f. de Spinoza, Baruch (Benedictus) (1632– 1677)*, ndl. Philosoph   199, 202, 269, 486 Baronne de Staël-Holstein [geb. Necker], Anne Louise Germaine (1766–1817)*, frz. Schriftstellerin   55 Stahl [eigentlich Jolsen-Uhlfelder], Friedrich Julius (1802–1861)*, dt. Rechtsphilosoph u. Politiker   486 f., 571 f. Stammler, Rudolf (1856–1938)*, dt. Rechtsphilosoph   491 Steensen, Thomas (1951– ), dt. Historiker, Direktor des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt   XXIII Steffens, (Joseph) Lincoln (1866–1936)*, amerik. (Enthüllungs-)Journalist („muckraker”)   410 vom Stein, Lorenz (1815–1890)*, dt. Staatsrechtler u. Nationalökonom   543 Stein, Ludwig (1859–1930), ungar. Philosoph, Soziologe u. Politiker   360, 483, 485 f., 575 Steinmetz, Sebald(us) Rudolph (1862– 1940)*, nld. Soziologe   336, 360, 575 Steinthal, Hajim (Heymann) (1823–1899), dt. Sprachphilosoph   170 Stenglein, Melchior (1825–1903), Strafrechtler, nationalliberales MdR, Mitbegründer und Mitherausgeber der „Deutschen Juristen-Zeitung”   95 Sternad, Maximilian (1962– ), österr. Religionspädagoge u. Theologe   XXIV Stettenheim, Ludwig (1866–?), dt. Literaturwissenschaftler, promovierte 1893 über Schiller   315 Stiebeling, Werner (1940– ), dt. Gymnasiallehrer   XXIII Stinnes, Hugo (1870–1924)*, dt. Grossindustrieller   535 Storm, Ernst (1851–1913), dt. Rechtsanwalt, 2. Sohn → Theodor Storms   356

Storm, Theodor (1817–1888)*, dt. Dichter, Jurist u. Freund von Tönnies   254, 256, 355, 600 f. Stout, George Frederick (1860–1944), engl. Philosoph   123, 510, 513, 524 Streicher, Andreas (1761–1833)*, dt. Musiker, Freund → Schillers   28, 558 Stuckenberg, John H. W. (1835–1903), dt./ engl. Theologe u. Philosoph   496 Frhr. von Stumm(-Halberg), Karl-Ferdinand (1836–1901)*, dt. Grossindustrieller, Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, MdR (1867–1881, 1889–1901)   266, 445 Stumpf, Carl (1848–1936), dt. Philosoph u, Pschologe   217 Süß-Oppenheimer, Joseph (Jud Süß) (1698– 1738)*, jüd. Finanzier, Geheimer Finanzrat von Herzog Karl Alexander von Württemberg   303 Sully, James (1842–1923), engl. Psychologe   510, 513 von Sybel, Ludwig (1846–1929)*, dt. Archäo������� loge   600 de Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice (1754–1838)*, frz. Staatsmann   292 Tarde, Jean Gabriel (1843–1904)*, frz. Philosoph, Jurist u. Soziologe   550 Teedens, Iver (?–1649), friesischer Landespfennigmeister im Osterteil Eiderstedts   598 Tetens, Boye (?–1500), Staller (Statthalter) in Eiderstedt (1474–1500), Sohn von →Tete Feddersen   598 Titchener, Edward Bradford (1867–1927), engl Psychologe, promoviert bei → Wundt   510 Thomasius, Christian (1655–1728)*, dt. Jurist u. Philosoph   194 Thouverez, Emile (1862–?) frz. Philosoph u. Sozialwissenschaftler   489 de Tocqueville, Charles Alexis Henri Clérel (1805–1859)*, frz. ��������������������� Politiker u. Schriftsteller   401 Tönnies, Ferdinand (1855–1936)*   passim Tönnies, Gert Cornils Johannes (1851– 1928), dt. Kaufmann, ältester Bruder von Ferdinand   582 Gf. von Tschirnhaus, Ehrenfried Walter (1657–1708)*, dt. Physiker u. Philosoph   193

Personenregister Thukydides (460–zw. 396 u. 399 v. Chr.)*, Athener General und Geschichtsschreiber   118 Turgot, Anne Robert, Baron de l’Aulne (1727–1781)*, frz. Ökonom u. Staatsmann, Finanzminister von → Ludwig XVI.   469 Tylor, Sir Edward Barnett (1832–1917), engl. Ethnologe   161, 250 Ueck, Almut (1958– ), dt. Archivarin   XXIV Ulrich (1487–1550)*, Herzog von Württemberg (seit 1498)   321 von Urlichs, (Karl) Ludwig (1813–1889), dt. Altphilologe und Archäologe   33–35, 296 Vailati, Giovanni (1863–1909)*, ital. Mathe������ matiker u. Philosoph   240 Vanderbilt, Cornelius (1794–1877)*, amerik. Unternehmer   407 Vandervelde, Emile (1866–1938)*, belg. sozialistischer Politiker   376 Vergniaud, Pierre Victurnien (1753–1793)*, frz. Politiker   468 Vernet, Marie-Rose [geb. Boucher] (?–1832), versteckte → Condorcet fünf Monate lang in ihrem Haus in der Rue Servandoni in Paris   466 de Vertot, René Aubert (1655–1735), frz. Historiker   25 Victoria (1819–1901)*, ����������������� Königin von Großbritannien u. Irland (seit 1837), Kaiserin von Indien (seit 1876) aus dem Hause Hannover, Großmutter von → Wilhelm II.   522 Virchow, Rudolf (1821–1902)*, dt. Pathologe   322, 447 Vogt, Cécile (1875–1962), dt./frz. Neurologin, Gattin von → Oskar Vogt   233 Vogt, Oskar (1870–1959)*, dt. Neurologe u. Hirnforscher aus Husum   233, 512 Volckmar, Karl (Carl) Heinrich (1814–1872), dt. Gymnasialdirektor   596 von Vollmar, Georg Heinrich (1850–1922)*, dt. sozialdemokratischer Politiker, MdR, Mitvorsitzender des Internationalen Sozialistenkongresses in Paris 1899   262 de Voltaire, François-Marie Arouet (1694– 1778)*, frz. Schriftsteller u. Philosoph   9, 242, 296, 469, 565

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Voß (Voss), Johann Heinrich (1751–1826)*, dt. Dichter, Übersetzer der Odyssee und der Ilias   34, 47, 297 Vrbicky, Ingeborg (1941– ), österr. Bibliothekarin   XXIV Wach, Adolf (1843–1926), dt. Jurist   508 Wagner, Adolph [Heinrich Gotthilf] (1835– 1917)*, dt. Nationalökonom   177, 250, 450 Wahrmund, Adolf (1827–1913), dt. Orientalist   118 Waitz, Georg (1813–1886), dt. Rechtshistoriker u. Mediävist   587 Waldeck-Rousseau, Pierre Marie Ernest (1846–1904), franz. Politiker, Präsident des Ministerrates   382 Waldemar II. (1170–1241), König von Dänemark (seit 1202), Herzog von Schleswig (1182–1202)   588 Ward, Lester Frank (1841–1913)*, amerik. Geologe u. Soziologe   537 Washington, Booker Taliaferro (1856 – 1915)*, afro-amerik. Pädagoge ����������������� und Bürgerrechtler   390 Weißleder, Carl (bl. um 1923), Vorsitzender des Schaffer-Bundes   557 Welby, Sir Charles (1865–1938), engl. ������ Diplomat, Sohn der → Lady Welby   522 Lady Welby, Victoria Alexandrina Maria Louisa Welby-Gregory (1837–1912), engl. Adlige u. Sprachforscherin   XXI, 238– 241, 243, 248, 510, 512, 515–518, 520, 522, 524 Wells, Herbert George (1866–1946)*, engl. Schriftsteller   493–495 Weltrich, Richard (1844–1913), dt. Literaturhistoriker   14, 357, 565 Wesley, Charles (1707–1788)*, engl. Theologe   485 Wesley, John (1703–1791)*, engl. Theologe   485 Whitefield, George (1714–1770)*, engl. Priester   485 Wieland, Christoph Martin (1733–1813)*, dt. Dichter   18, 34, 47, 55 Wilcox, Delos Franklin (1873–1928), amerik. Sozialwissenschaftler   410 Wilhelm I. (1797–1888)*, Deutscher Kaiser (seit 1871) u. König von Preußen (seit 1861)   297, 416, 437

666

Apparat

Wilhelm II. (1859–1941)*, letzter deutscher Kaiser und König von Preußen (1888– 1918)   260, 264, 268 Wilhelm III. (1650–1702), König von England, Schottland u. Irland (seit 1689), Statthalter der Niederlande (seit 1672) aus dem Hause Oranien-Nassau   368 Wilkins, John (1614–1672), engl. Bischof, Mathematiker u. Philosoph   222 f., 250 Windelband, Wilhelm (1848–1915)*, dt, neukantianischer Philosoph   490 f. Wittleder, Kaspar Laurentius (?–1769), dt. Beamter, Ratgeber → Karl Eugens   565 (Frhr. von) Wolf (Wolff), Christian (1679– 1754)*, dt. Philosoph   188, 214 f., 250 Wolf, Julius (1862–1937), dt. Nationalökonom   338 Wolff, Eugen (1863–1929)*, dt. Literaturhistoriker   353, 358 Woltmann, Karl Ludwig (1770–1817), dt. Historiker, Schriftsteller   24 Worms, René (1861–1926)*, frz. Soziologe   575 Wunderle, Georg (1881–1950), dt. Religionsphilosoph   522 Wundt, Wilhelm (1832–1920)*, dt. Psychologe u. Philosoph   127, 211 f., 216, 250

Wunnekens (Wunkesen), Ebbe (Epe) (bl. um 1440), Staller (Statthalter) von Everschop/ Utholm (1436–1439)   598 f. de Wyzewa (Wyzewski), Teodor (1863– 1917), frz. Philosoph   484 Zahle, Karl Theodor (1866–1946)*, dän. Politiker, Justizminister   510 Zamenhoff, Ludwig Lazarus (1859–1917)*, poln. Arzt, Erfinder des Esperanto   129 Zander, Jürgen (1939– ), dt. Soziologe, Archivar, erschloss den Tönnies-Nachlass in der SHLB, Bandeditor der TG   XXIII Zarathustra (Zoroaster) (bl. um 1768 v. Chr.)*, alt-persischer Priester und Religionsstifter   159 Zelter, Carl Friedrich (1758–1832)*, dt. Komponist, Musikpädagoge   357 Zetkin, Clara Josephine (geb. Eißner) (1857– 1933)*, dt. Politikerin u. Frauenrechtlerin   380 Zola, Èmile (1840–1902)*, frz. Schriftsteller   531 Zumsteeg, Johann Rudolf (1760–1802)*, Komponist, Schulkamerad → Schillers   29

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außer Acht gelassen, Ligaturen werden aufgelöst.

In diesem (sog. „denkenden“) Sachregister, das sich auch auf die im editorischen Bericht abgedruckten Passagen bezieht, sind die Hinweise nicht nur mechanisch, sondern auch nach dem Urteil des Herausgebers generiert. Die sehr ausgearbeitete, oft scheinbar umgangssprachliche Terminologie Tönnies’ ist sorgfältig berücksichtigt. Manche Schlagworte, die Tönnies zuweilen exakt, zuweilen nachlässig benutzte (z. B. Französische Revolution), sind etlicher Zweifelsfälle halber getrennt vom Oberbegriff (z. B. Revolution) ausgewiesen. Schlagworte aus den englischen Texten sind ggf. beim deutschen Lemma aufgeführt. Die Einordnung zusammengesetzter Schlagworte richtet sich nach den Substantiven auch bei festen Fügungen („Französische Revolution“ suche also unter „Revolution, frz.“), ausgenommen sind Eigennamen (z. B.: Bürgerliches Gesetzbuch). Ergänzend zu diesem Register ist für die „Philosophische Terminologie“ das von Tönnies erstellte detaillierte Inhaltsverzeichnis auf den Seiten 133–137 beachtenswert.

Aberglaube  17, 24, 39, 44, 151, 185, 466 Abgeordnetenhaus  324–326 Abgeordneter  423 f. Absolutismus  9, 226, 565 Abstammungslehre  208 Achtstundentag  536 Adel  8, 16, 371, 413 f., 439, 597 f. Akademie, internationale  225–228, 512– 514, 519, 522 Akademie, nationale  226, 247, 513  f., 519 Akademie, Pariser  228 Akt, geschlechtlicher  532 Aktiengesellschaft  527 Alabama  390 Allgemeinvorstellung  167–171 f., 174, 225

Alltäglichkeit  531 Alpen-Adria-Universität Klagenfurt XXV Alphabet, koptisches  219 Alt-Latein  227 Amerika  365, 385, 387 f., 390, 397, 399, 401 f., 406 f., 525, 579 f. siehe auch Vereinigte Staaten von Amerika Amerikaner  404, 406 Amt  470 Analogie(n) 246, 248, 269–271, 518, 539 Analogie, biologische  269, 537, 552 Analogie, organizistische  550 Analogie des Geldes  175–178, 245, 517 Anarchist  561 anatomisch  563 Angelsachsen  529 anima rationalis  207

668

Apparat

Anklage  13 Annexion, preußisch  583, 585 Anthropologie  335 Anthropomorphismus  192 Antike  528, 531 Apperzeptionsmasse  171 Äquivalente, mechanische  202 Arbeit  258  f., 267, 344, 392, 400, 402, 408  f., 434  f., 491, 535  f., 550  f., 587, 602 Arbeiter  18, 259, 261 f., 265–267, 290, 291, 344, 377, 379, 432–434, 533, 535 f. Arbeiterbewegung XIX, 291 f., 377, 379, 381 f., 407, 447, 457, 459 Arbeiterbewegung, internationale XXV Arbeiterfrage  408 Arbeiterklasse  114, 267, 345, 349, 375, 383, 392, 407, 435, 449, 454, 459, 461 Arbeitermasse  378 Arbeiterorganisation  536 Arbeiterpartei  431, 449, 451, 454 Arbeiterschaft  451 f., 459 Arbeiterschutzgesetzgebung  410 Arbeiterverband  290 f. Arbeiterverbände  581 Arbeitskraft  393 Arbeitsteilung  550 Aristokratie  320 Aristotelismus  202, 207 Arithmetik  185 Arme  10, 71 Art  360 Arterien  552 Asien  365, 579 Assoziationspsychologie  207 f. Ästhetik  34 f., 307 ästhetisch  36, 42, 45 f., 296, 307–310, 312, 380, 562 Astronomie  214, 229, 244, 517 Auerstädt XXI Aufklärung  8 f., 21, 36, 45 f., 414, 464 Ausdrücke, metaphorische  192 Ausdrucksweise, gemeinsame  235 f. Autorisation  504 Autorität  195 Baden  442 Barbarei  22 f., 40 barbarisch  23, 44 Bauer(n) 371, 589

Bauernkrieg, deutscher  526 Bauplan der Natur  189 Bayern  447 Bedeutung, subjektive, 178 Begriff  10, 17 Begriff, abstrakter: Definition  171 f. Begriffe, analytische  236 Begriffe, empirische  236 Begriffe, moralische  190 Begriffe, rationale  236 Begriffe, synthetische  236 Begriffe in den Wissenschaften  233 Beobachter  545 f. Beobachtung  302 Bergarbeiter  291, 535 f. Bergarbeiterorganisation  535 Bergarbeiterstreik  XX, 571 Bergbau  260 f. Berggesetz  536 Berggesetznovelle  291, 327 Bergleute  260, 289 f., 292 f., 322 f., 536 Bergwerk  325, 372 Berlin  15, 30, 64, 112, 300, 417 Beruf  470 Besitzlose  527 Bevölkerungsstatistik  224 Bewegung  200, 204, 206 Bewohner, menschlicher  539 Bewusstsein  8, 16, 297, 209, 211, 470, 542, 548 Bewusstsein, bürgerliches  8 Bewusstsein, sittliches XXII Bildersprache  192, 243, 516 Bildung  23, 26, 373, 379, 388, 390, 404, 413 f., 423, 428, 443 Billigung, öffentliche  190 Biologie  190, 198, 201, 340 f., 491, 493 biologisch (biological) 270, 272 f., 281, 283, 287, 538, 540–542, 550, 575 Biology, social  273 Biotechnologie XX Blut  540 Blut: Handel  552 Blutsverwandtschaft  586 böse  66 f., 313 Bourgeoisie  372, 451 Brauch  153 Brauchtum  548, 603 Bremen  64, 446

Sachregister Briefe XX, 18, 34–39, 41–46, 51, 296 f., 355, 358, 417, 484, 507 britisch  365, 388 Brüderlichkeit  10 Buchstabenschrift  146 Bühne  7, 11, 16, 20, 54, 257, 304, 358, 463, 533 Bühne, deutsche  532 Bund, norddeutscher  66 Bundesrat  422 Bundesstaat  539 Bürger  21, 41–43, 45, 113, 115, 291, 303, 345, 411, 434, 555 bürgerlich  15, 17, 22, 40 f., 84, 86, 103, 112, 115, 310 Bürgerrecht  262 Bürgerstand  526 Bürgertum  7 f., 371, 451 Bürgertum, städtisches  7 Capital  286 Cartesianismus  200 f., 207 Causa  225 Chemie  185 f., 214, 238, 242, 244, 515, 517 China  282, 550 f. Chinese  392 Civilization  270, 360, 364 clare et distincte  200 f. commitee of award  510 common sense  195 Commonwealth  547 Communist  361 Council of Reference, international  247, 519 Culture  364 Custom  473 Cycloiden  217 Dampfkraft  528 Dänemark  509, 588, 592 Dänen  587 dänisch  XXII, 588 Dasein  542 Dasein, ideelles  545 Dasein, nominelles  546 Dasein, sichtbares  544 Dasein, soziales  548 Daseinsform  544

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Definition(en) 170–174, 188, 190, 198, 211, 225, 235, 523 Definition, analytische  174 Definition, nominale  174 Definition, reale  174 Definition, synthetische  174 Definition, wissenschaftliche  173 Definition: Zeichen  139 Definition des Individualwillens  149 Dekadenz  534 Demokratie  317 f., 395, 410 f., 439, 494 demokratisch  527 Demonstration  258 Denken  28, 36, 51, 73, 126, 139, 170, 199, 201, 203 f., 208–210, 213 f., 221 f., 224, 227, 239, 245 f., 248, 296, 355, 428 f., 436, 489, 493, 499, 546, 548 Denken, abstraktes  125 Denken, allgemeines  152 Denken, analytisches  538 Denken, deduktives  205 Denken, deutsches  198 Denken, eigenes  151 Denken, falsches  217 f. Denken, gemeinsames  143, 235 Denken, intelligentes  210 Denken, konservatives  298 Denken, logisches  548 Denken, mathematisches  548 Denken, moralisches  190 Denken, naives  203 f. Denken, natürliches  141, 161 f. Denken, philosophisches  199, 214 f. Denken, psychologisches  214 Denken, rationales  206 Denken, rationalistisches  206 Denken, religiöses  547 Denken, soziologisches  537, 580 Denken, strenges  196 Denken, vernünftiges  350 Denken, wissenschaftliches  125, 161  f., 171, 203, 217, 234 Denker  312, 358, 412, 469, 558 Denkobjekte  236 Denkungsart, nominalistische  189 Denkweise, empiristische  206 Derivative, grammatische  223 Derivatzeichen  164 f. Despot  141 Despotie  531

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Apparat

deutsch  340, 388 Deutsche  535, 538, 579 Deutsche Gesellschaft für Soziologie  602 Deutschheit  55 Deutscher  58, 419, 427, 469 Deutschland  8, 15, 54, 197, 258, 263, 267, 320, 381 f., 414, 423, 433, 437, 443, 479, 480, 528, 536, 565, 577, 580, 582 f., 585 Deutschtum  297, 525 Dialekt(e) 146, 532 Dialektik  216 Diät  420–424 dichten  28 Dichter  7, 13–18, 20, 26  f., 43, 46–50, 295 f., 298, 301 f., 308, 312, 315, 317 f., 320, 358, 412, 532 f., 562 f., 565, 568, 571 Dichtkunst  20, 299 Dichtung  19, 25, 47, 302, 313, 552 Ding  544–546 Ding, ideelles  547 Ding, lebendiges  546 Ding, reales  546 Disharmonie  529 Disputationen, wissenschaftliche  233 Disziplin  266 Dithmarsen  586 f., 592 Dithmarschen  585, 592 f., 597 Dogma  244 Dorf  10, 539 Dorfgemeinschaft  539, 551 Drama  15, 18 f., 39, 51, 296, 319, 354, 357, 507, 527, 532–534, 561–563, 566, 568 Dramatiker  558, 567, 569 dramatisch  47, 310, 313, 533 Dreiklassen-Wahlrecht  379 Dreilande  586, 590 f., 593, 598 Drei-Stadien-Gesetz  216 Dresden  16 Druckvarianten  504 Dumme  526 Effektstil  529 Egoismus  548 Ehe  545 Ehre  507 Eider  588 Eiderfriesen  593 Eiderstedt  586, 588, 591–594, 596–598

Eigenname  146 Eigentum  545, 553–555 Eigentum, privates  556 Einflüsse, pädagogische  241 Eingriffe, editorische  505 Einheitsideen  216 Einverständnis  163 Einzelmacht  527 Einzelwesen  526 Einzelwissenschaften  198 Ejekte  214 Eklektizismus  528 Elend  465, 531 Elsaß-Lothringen  444 Eltern  546 Empfindung  150 Empirestil  528 empirisch  560 Energie  206, 523 Energie, kinetische  205 Energie: Erhaltung  202 England  260, 282, 326, 363, 375 f., 381 f., 388, 427 f., 432 f., 477 f., 480, 528, 550 f., 565, 577, 581, 602 Engländer  367, 434, 538, 577, 579 englisch XXII, 364, 427, 494 f., 536, 582, 604 Entitäten, soziale  230 Entropie  205 Entwicklungstheorie  207 Enzyklopädie  463 Erinnerung  142, 151 Erkenntnis, wissenschaftliche  601, 604 Erkenntnisakt  140 Erkenntnisgrund  202 f. Erkenntnistheorie  236, 238, 524 Erkenntnistheorie, soziologische  XXI Erotik  568 Erwerbsleben  527 Erzählung  507, 527, 533 Erziehung  26, 32, 35 f., 85 f., 89, 96, 104, 296, 349, 397, 481, 562 ethical  360 Ethik, ethisch XIX, 343 f., 347 f., 350, 380, 382, 410, 507 f., 562, 574, 579 Ethik, philosophische  220 Ethnografie  334 Eugenik (Eugenics)  XX, 342, 472–474, 601–604 Europa  56, 280, 377, 392, 394, 397, 401,

Sachregister 405, 407, 428, 463, 479, 528, 538, 549, 577, 579 Europa: Geschichte  525 european  365 Euthanasie  494 Everschop  586, 588, 597 f. Evolution  205, 361, 538, 575 Evolution, soziale  283, 575 f. Evolution des Rationalismus  205 Experiment  185 Fabrik  372 Fabrikherr  326 Familie  539, 540, 543, 545 f., 551 Feudalismus  371, 585 Figuren, geometrische  185 Form  207, 507 Formeln  185 f. Formelsprache  185 Formenstrenge, scholastische  194 Forscher  558 Fortschritt  22, 493 Fortschrittspartei  454, 456 Frage, soziale  228, 555 Frankfurt  15 Frankreich  7, 32, 54, 228, 380, 382, 413, 428, 468 f., 565 Franzose(n) 328, 531, 579 französisch  XXII, 340, 364 Frau(en) 254, 530, 545, 552, 586 Frauenbewegung  254, 527 Frauenstimmrecht  582 Freedom  279 Freiheit  9  f., 15, 17–20, 22–26, 31, 34, 39–43, 45, 50, 53, 71, 74, 89, 105, 115 f., 266, 317, 327, 345, 389, 394, 407, 434, 438, 440, 461, 463, 465, 527, 562, 571, 585–588, 595 f. Freiheit, individuelle  190 Freiheit, politische  526 Freiheitsgefühl  44 Freiheitsidee  13 Freiheitsstrafe  509 Freimaurertum  512 Freimeistertum  193 Freundschaft  18 f. Friede  319, 400, 413, 417, 480, 579 Friese  XXII Friesland  585, 591, 593, 597 Fühlen  547

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Fürst(en) 8 f., 14, 16 f., 29, 32 f., 303, 317, 414, 421, 429, 589, 592, 594 Fürstengewalt  22, 369 Fürstenstädte  514 Ganzes, lebendes  552 Ganzes, organisches  552 Garding  588 Gaunerei  563 Gaunersprache  147 Gebärdensprache  144, 179 Gedächtnis  144, 167 Gedanke  542 Gedankenfreiheit  20 Gedankenprozeß  140 Gedankensprache  227 Gedankenwille  149 Gefühl(e) 8, 10 f., 17, 25, 42, 66 f., 139, 313, 541, 547 f., 603, 604 Gegenstand  139 Gehirn  560 Gehirn, soziales  552 Geißelbrüderschaften  528 Geist  10, 13, 20, 23, 26, 28, 34, 36, 38, 42–45, 47 f., 53, 55–57, 92, 95 f., 267, 295, 303, 305–308, 315, 413 f., 419, 423 f., 434 f., 463, 534, 558, 579 Geist, englischer  577 Geist, künstlerischer  9 Geist, menschlicher  507 Geist, moderner  508 Geist, öffentlicher  565 Geist, religiöser  9 Geist, sozialer  508, 544 Geist, wissenschaftlicher  9, 565 Geist: Wissenschaft  548 Geistesleben  7 Geisteswissenschaft(en)  XIX, 198, 215, 227 f., 513, 576 geistig  559 Geld  552 Geld: Zeichen  175 f. Geldstrafe  509 Geldsurrogate  175, 177 Gelehrtenrepublik  194, 247, 519 Gelehrtensprache  193 f., 236, 522 Gemeinde, philosophische  226 Gemeinden  191 Gemeinschaft  11, 282, 540, 542, 551, 554

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Apparat

Gemeinschaft, feudale  539 Gemeinwesen  587 Gemeinwohl  345, 423 Gemüt  27, 530 Generalprävention  XX Generation  541 f. Generationen, zukünftige  555 Genie  27, 36, 356 Genossenschaft  375 Geometrie  246, 519 Gerechtigkeit  16, 67, 71, 303 Gericht  533, 597 Gerichtsbarkeit  597 Gerichtshof  303, 513 f. german  364 f. Germanen  525 Geschäftssprache  166, 522 Geschichte  305, 370, 527, 534, 578 Geschichte der Terminologie  219 Geschichte, friesische  584 Geschmack  534 Gesellschaft XIX, 10, 16 f., 19–21, 37, 39, 46, 65, 79, 109, 282, 305, 313, 319, 333, 427, 452, 481, 490 f., 497, 498 f., 538, 542 f., 547, 549, 551–554, 562, 569, 578, 602, 604 Gesellschaft, anständige  532 Gesellschaft, bürgerliche  543 Gesellschaft, kapitalistische  551 Gesellschaft, menschliche  541, 566 Gesellschaft, moderne  191, 228, 547, 553 f., 556 Gesellschaft, philosophische  240 Gesellschaft, tierische  542 Gesellschaft, wilhelminische  XIX gesellschaftlich  50, 497 f., 507, 566 Gesellschaftsbegriff  498 f. Gesellschaftsleben  563 Gesellschaftslehre, naturwissenschaftliche  XIX Gesellschaftsordnung  265 f., 453 f. Gesellschaftstheorie, organizistische  537 Gesellschaftswissenschaft  498 Gesellschaftszustand  37 Gesetz  16, 25, 38 f., 41, 44, 68 f., 71 f., 76, 80, 93, 95 f., 115 f., 118, 152, 218, 261, 288 f., 291, 300, 307, 323–325, 349, 368, 396, 421, 432, 466 f., 490, 498, 523, 548 f., 554, 587 Gesetze: Natur  526

Gesetzentwurf  324, 421, 431 Gesetzesrecht  154 Gesetzgeber  70, 80, 82 f., 93, 95, 97, 100, 109, 112, 115, 430 Gesetzgebung  41, 87, 154–156, 163, 168, 267, 333, 379, 421, 423, 428, 581 Gesetzgebung, sozialpolitische  155 Gesetzmäßigkeit  407 Gesinnung  15 Gesinnung: Täter  509 Gespensterfurcht  218 Gewalt  22, 526, 587 Gewerbe  10, 527 Gewerkschaft  260 f., 26–267, 375, 431 Gewerkschaftsführung  535 f. Gewissen  348, 471 Gewissensfreiheit  471 Gewohnheit(en) 8, 148, 152–154, 157, 160, 167, 176, 190–192, 194, 315, 394 Gewohnheit, individuelle  157 Gewohnheit, soziale  157 Gewohnheitsrecht  154 f., 169 Gewöhnung  142 Glaube  8, 41, 50, 158 f., 470, 548 Glaube, religiöser  555 Gleichheit  10, 345, 389, 407, 409, 429, 435, 440, 461, 527 Gleichheit, politische  526 Glück  548 Gold  16 Gotik  528 Götter  547 Göttliche  528 Gottorp  594, 598 Government  285 f. Griechen  526 Griechenland  405 Griechentum  525 griechisch  XXII Großbritannien  376 f., 382, 479, 482 Großbürger  21 Großhirnrinde  210,233 Großsprache  195 Grundgesetz  411 Gruppe  539 Gruppe, menschliche  540 Gültigkeit, soziale  233, 237 Güter  11 Hæfræ  588

Sachregister Halle  64 Hamburg  446 Hamburger Hafenarbeiterstreik  XXI Handel  10, 513, 527, 551 Handeln  543 Handeln, menschliches  XX Handelsverkehr  222 Handlung  544 Hannover  441 Harde  587 f. Harmonie  529, 531 Harrow (on the hill)  522 Haus  539 Haus der Gemeinen  428 Haus der Lords  429 Haushalt, individueller  551 Haushalt, realer  551 Hausvater  4, 556 hebräisch  XXII Hegel-Jargon  235 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation  589 Held  306 Helllichtmalerei  530 Helotenkriege  526 Herbartianer  208 Heroen  559 Herren  554 Herrenhaus  262, 324 f., 572 Herrschaft  9 f., 319, 465, 585 Herrscher  556, 579 Herz  297, 307, 309 Herzog  592–597 Herzöge, gottorpische  584 Herzöge, schleswigsche  584 Herzogsfriesen  588 Hilfsbegriffe  238 historisch  560 History  361 Hochschule  600 Hochsinn  248 f., 522 Hof  325, 421 Hofdame  522 Holland  478 Holm  588 Holstein  585, 589–592 Horen  30, 34, 36–38, 41, 45 f., 297 Horoskop  229 House of Lords  481

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Humanität XXI, 19  f., 283, 350, 414  f., 418 f., 466 Husum  XXIII f., 594 Husumer Gelehrtenschule  XXII Hyperbel  162 I. K. V. siehe Internationale kriminalistische Vereinigung Ich  526, 530 Ideal  10, 25, 39, 41, 47, 49, 50 f., 54, 296, 308, 400 f., 413 Ideale  559 Idealismus  48, 312, 358 f., 380, 498 idealistisch  373 Idealität  48 Idee  10, 20 f., 25, 46 f., 50, 314 Idee, regulatve  203 Idee-Assoziation  144 Identität  139–142, 154, 206  f., 212, 282 f. Identität des Organismus  140 Identität, psychologische  273, 541 Identität: Satz der  172 Idylle  51 Illusion  10 Imperialismus  408 Indien  525 individual  271, 274–278, 280, 284–287, 474 Individuen  554 Individuum  19, 39, 46, 539 f., 543 f., 549 Individuum, privates  556 Induktion  185 Industrie  325, 513 Inhalt  507 Inquisition  18 Instinkt  210 Institution  8 Intellekt, menschlicher  555 Intelligenz  473, 541, 555, 603 Interesse  10, 561 Interesse, gemeinsames  548 Interesse, persönliches  548 Interesse, soziologisches  17, 505 Interessen, religiöse  525 Internationale kriminalistische Vereinigung (I. K. V)  63 f., 87, 110, 229, 507–509 Interpretation, mathematische  203 Interpunktion  243 f., 516 Intuition  140 f.

674

Apparat

invisible parts  201 Irland  433, 551 Irländer  529 Ironie  162 Italien  405, 428 Jacquerie, französische  526 Jagd: Profit  548 Japan  528 japanisch  528 Jargon  197 Jena  XXI, 34, 412 Jugend  16, 316 Jugendliche  508 Juristentag  508 Justizminister, dänischer  510 Kabale  15 f., 310, 507, 561, 567 f. Kaiserreich  528 Kalifornien  392, 397 Kammer, Erste  439, 571 f. Kammer, Zweite  439 Kampf  343, 438, 538, 579 Kapital  258, 262, 267, 392, 408, 434 f., 457, 555 Kapital und Arbeit  229 Kapitalismus  372, 445, 461, 478, 527, 565 Kapitalist  375, 392, 453 Kategorien  332 Kathedersozialismus  450 katholisch  88 Kausalität  225 Kausalität, mechanische  202 Keller  254, 256, 524 Kelten  525 Ketzertum, mittelalterliches  526 Kingdom, United  364 Kirche(n) 7, 191, 313, 443, 470, 539, 547– 550, 599 f. Kirche, römische  525 Kirchensprache  193 Klan  539, 547, 586 Klasse(n)  11, 39, 107, 114, 191, 256, 268, 332, 346, 349, 372, 376, 402, 419, 431, 433–435, 451, 454, 461 Klasse, besitzende  376, 433, 555 Klasse, bürgerliche  11 Klasse, gebildete  451 Klasse, gesellschaftliche  8

Klasse, herrschende  346, 349, 376 Klasse, lohnarbeitende  268 Klasse, niedere  39 Klasse, obere  346, 534 Klasse, ökonomische  332 Klasse, politisch mächtige  372 Klasse, reiche  402 Klasse, untere  256, 530, 534 Klasse, wohlhabende  107 Klasse: Arbeiter  114 Klassenkampf  343, 346 f., 349, 380 Klassenstandpunkt  265 Kleinbeobachtung  530 Kleinstaaterei  194 Klerikalismus  193 Klerus  8, 439 Kluge  526 Knechtschaft  24, 40 Köchin  254–256 Kolonialwesen  525 Kolorado  397, 400 Kommunismus  265, 551 kommunistisch  576 Kompetenz, mentale  602 Kompetenz, moralische  602 Kompetenz, physische  602 Kongreß  292, 513 König  323, 368 f., 379, 429, 468, 510, 549, 571, 592 f., 595, 597 Könige, dänische  584 Königliches Gymnasium  XXII f. Königsfriesen  588 Königstum  526 Konservatismus  455, 459 konservativ  10, 366  f., 370–374, 448, 458 Konservativismus  446, 457 Konstitution  327 Kontrakt, sozialer  10 Konvention  168 f. Konvention, gesellschaftliche  603 Konvention, terminologische  235 Körper  540, 544 f., 555, 560 f. Körper, individueller  542 Körper, lebendiger  552 Körper, moralischer  226, 514 Körper, mystischer  547, 550 Körper, politischer  191 Körper, sozialer  538, 551

Sachregister Korporation(en) 191, 541, 545–547, 550, 552, 555 Korporation, politische  542, 543 Korruption  401, 410 Kosmopolit  313 kosmopolitisch  20 Kosmos  248 f. Kreuzzüge  528 Krieg  343, 562, 570, 578 Krieg, Dreißigjähriger  533, 593 Kriegskassen  176 Kriminalität  XX, 224, 301 Kriminalität, menschliche  507 Kriminelle  558 Krimonologe  567–569 Kriminologie  336 krimonologisch  509, 557, 563 f., 566 Kritik  548 Krone  323, 324, 326 Küche  254 f., 257, 524, 531 Kultur  9 f., 22–26, 39, 41 f., 44, 50, 71, 265, 296, 334, 386, 388, 395 f., 399, 404, 469, 477, 499 Kultur, ästhetische  42 Kultur, echte  395 f. Kultur, europäische  399 Kultur, geistige  469 Kultur, griechisch-römische  9 Kultur, nationale  386 Kultur, sittliche  469 Kultur, theoretische  39, 44 Kulturentwicklung  527 Kulturkampf  447 Kulturmenschheit  526, 534 Kultursystem  499 Kulturwelt  470. 525 Kunst  8–10, 16, 21 f., 26, 35 f., 42, 50, 55, 59, 91, 169, 214, 228, 307, 309, 400, 402, 443, 525, 527, 530, 532, 534, 561, 566–578 Kunst, bildende  529 f. Kunst, erzählende  531 Kunst, japanische  528 Kunst, romanische  528 Kunst: Niedergang  531 Kunstausdruck  184 Kunstausdrücke  196 f., 199, 237 Kunstausstellung  257 Kunstepoche  529 Kunsterzeugnis  529

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Kunstgewerbestil  528 Kunstideal  58 Kunstleben  7 Künstler  9, 27, 38, 48 f., 296, 312, 566 künstlerisch  46 Kunststreben  13 Kunstübung  47 f. Kunstverstand  28 Kunstwerk  41, 51, 533 L’Anné sociologique  328, 334, 339 Labour Party  581 Laientum  525 Land  10, 371, 387  f., 395  f., 402, 428, 477 f., 480, 541, 600 Landfrieden  15 Landtag  323–325, 379, 421 Landtag, preußischer  XX, 571 Landtag, schleswig-holsteinischer  590 Laster  17 f. Latein  128–130, 157, 157, 193 f., 222, 225, 247, 519; siehe auch Alt-Latein bzw. NeuLatein lateinisch XXII Lautsprache  144 Lautzeichen  146, 179 Law  365 Leben  7, 11, 14, 17, 27–29, 36, 44, 49–51, 57, 59, 89 f., 92, 94, 116, 118, 267, 292, 302  f., 313  f., 329  f., 332  f., 343, 371, 387, 395, 400, 402, 432, 460, 466 f., 477, 479, 493, 500, 526, 530, 532 f., 539, 541, 552 f., 576, 586 Leben, amerikanisches  402 Leben, bürgerliches  17, 303, 314, 477 Leben, deutsches  460 Leben, feuriges  50 Leben, gegenwärtiges  371, 387 Leben, geistiges  334 Leben, hauptstädtisches  292 Leben, inneres  27 Leben, kollektives  550 Leben, menschliches  540 Leben, modernes  371 Leben, öffentliches  46 Leben, politisches  29, 460 Leben, sittliches  334 Leben, soziales  44, 118, 329, 493, 500, 515, 538, 541 f., 544, 547 Leben, tägliches  94, 267

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Apparat

Leben, unstetes  14 Leben, wirkliches  51 Leben, wirtschaftliches  330, 332, 395 Leib  558, 560 Leib und Seele  207, 212 Leid  533 Leidenschaft(en) 534, 558, 561 f., 568 Leipzig  16, 442 Leute  531 f. liberal  10, 20, 367 Liberalismus  21, 297, 370, 378, 438, 440, 442, 445 f., 448 f., 451–457, 459 Liberalismus, kosmopolitischer  297 Liberalismus, nationaler  445, 446, 448, 454, 459 Liberalismus, ökonomischer  454 Liberalismus, radikaler  456 Liberalismus, sozialer  440 Liberalismus, sozialökonomischer  453 Liberalismus, wirtschaftlicher  449, 455 Libertinage  20 Liebe  14–16, 18, 20, 48 f., 308, 310, 355 f., 400, 403, 507, 533, 561, 568, 604 Liegnitz  442 Life  272, 281, 284, 474 Life, human  272 Life, social  271, 273–275, 278, 283 literarisch  36 Literat  8 Literatur  11, 363, 525, 527, 531, 533, 578 Literatur, englische  526 Logik  236, 335 Logik, theoretische  186 Logos  244 Lohnarbeit  391 f. Lohnarbeiter  375 Lokalzeichen  142 London  427, 434, 480, 582 Lotse  354 Lüge  162, 164, 166, 176 Lycée Michelet  240 Macht  258 f., 261 f., 424, 555, 587 Macht, öffentliche  556 Macht, soziale  154 Mächte, alte  192 Mächte, neue  192 Mächte, traditionelle  191 Machtfrage  343

Mädchen  528 Malerei  527, 530 f., 534 Malerei, neue  530 Manchestertum  531 Mankind  473 Mann  254, 545 Männer  530, 552, 586 Mannheim  15 Märchen  532 Mariage de convenance  474, 604 Mariage de passion  474, 604 Marriage  472 f. Maschine  547, 556 Masse  13, 258, 260, 367, 378, 449, 530, 531, 534, 540, 564, 603 Masse, breite  604 Massenausstand  323 Massenherstellung  529 Massen-Ich  526, 534 Massenmacht  526 Massenstreik  259, 343–347, 349, 378, 574 Masseteilchen  201 Material  547 Materie  200 f., 204 Materie, bewegte  206 Materie, imaginäre  547 Materie, reine  546 Mathematik  214, 222 Mechanik  186 Mecklenburg  442, 446 Medizin  219, 527 Mehrheit  374 Meinung, öffentliche  195, 259, 268, 291, 375, 392, 421, 456, 467 Meinungen, moralische  190 Mensch  10, 13, 16, 20, 22 f., 25, 27 f., 32, 36–39, 41–45, 47, 50, 57, 70–73, 75–78, 83, 88, 93 f., 102, 288, 292, 296 f., 303 f., 308, 312–314, 346, 348 f., 356, 392, 400, 404, 407, 415, 423, 436, 463–465, 478, 484, 493, 528, 530 f., 533 f., 539, 541 f., 548, 553, 561, 565 f., 570 f., 574, 579, 602 f. Mensch, besitzloser  478 Mensch, denkender  20, 70 Mensch, ehrenhafter  423 Mensch, einzelner  32 Mensch, entwickelter  94 Mensch, erwachsener  71

Sachregister Mensch, freier  463 Mensch, gefährlicher  77 Mensch, jugendlicher  93 Mensch, Menschenart  18 Mensch, merkwürdiger  303 Mensch, moderner  404 Mensch, neuer  47 Mensch, normaler  71, 75, 83 Mensch, sittlicher  39 Mensch, wollender  70 Mensch, zurechnungsfähiger  76 Menschen, krankhafte  531 Menschengeist  554 Menschengeschlecht  11, 22, 40, 356, 525 Menschenliebe  20 Menschenrecht  19, 40, 467 f. Menschentum  33 Menschenverstand  322 Menschenwelt  558 Menschheit  18 f., 26, 29, 32, 36 f., 41, 50, 56, 296, 304, 307, 411, 462 f., 465, 467, 480, 532, 534, 552, 554 Menschlichkeit  255, 303, 309 mental  472 Metapher(n) 160, 162, 192, 223, 246, 248 Metaphysik  161, 215  f., 229, 236, 242, 340, 515, 518 Methode  330, 335 Methode, experimentelle  198 Methode, mathematische  186 f. Militärherrschaft, napoleonische  526 Minimallöhne  535 Minister  322–327 Ministerium  325, 327 Ministerpräsident, preußischer  536 Mißbilligung, öffentliche  190 Mitempfindung  140 f. Mitleid  305 Mittel: Zweck  141 Mittelalter  7, 23–25, 550, 585 Mittelfranken  442, 446 Mittelklasse  526 Mittelmeer  525 Mode  529 Modellbegriffe  228 Moderne  533 Molekulargenetik XX Monarch  324, 420 f., 439, 572 Monarchie  429, 456 monarchisch  323

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Monarchismus  445, 456 Mönche  528 Moral, moralisch  8, 13, 21, 26, 39, 44 f., 77, 85, 91, 96, 102, 104, 108, 117, 218, 261, 273, 275, 305–312, 323 f., 330 f., 335, 345, 347 f., 403, 416, 418, 422, 436, 472– 474, 485, 494, 555, 570, 603 f. Moral, absolute  347 Moral, satte  305 Moralstatistik  224 Mordbrenner  14 more geometrico  187 Morphologie  189 Mortalität  224 Moskau  319 Motiv  13 Motiv: Täter  509 Multitude  474 Mundart(en) 146 Münzgeld  175 f. Münzkonvention, lateinische  224 Münzwesen  176 Mutter  546 Muttersprache  158, 165, 167, 234 Nachahmung  144, 157 Nachempfindung  141 naiv  25, 47, 48 Name: Einmütigkeit  214 Natalität  224 Nation  7, 37, 44, 54 f., 58, 268, 365, 385– 388, 391, 394, 396, 398–400, 403, 408 f., 411, 417, 427, 432, 435, 438, 449, 467, 473, 477–479, 513, 540, 552, 578, 579, 602 Nation, amerikanische  399, 400 Nation, arbeitende  409 Nation, britische  365 Nation, deutsche  58, 365 Nation, industrielle  478 Nation, nordamerikanische XXII, 385, 391, 396, 398, 403, 411, 580 national  54, 56, 459 Nationalismus  448 Nationalität  386 Nationalliberalismus  445, 446–448, 453, 455, 459 Nationalökonomie  551 Nationalsozial  458 Nationalstaaten  525

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Apparat

Nationen, kleinere  194 Natur XIX, 19, 25 f., 42, 43, 45, 47, 50, 52, 118, 296, 316, 343, 396, 465, 490, 491, 528, 530 f., 540, 548, 556, 564, 579, 591 Natur, menschliche  191 Natur, tierische  559 Naturalisten  203 Naturalisten, frz. 189 Naturalistin  528 naturalistisch  530 Naturerklärung  185 Naturgesetz(e) 204 f., 549 Naturkräfte  200 Natürliches  562 Naturrecht  549 Natursprache(n) 187, 228 Naturstaat  38 f. Naturstand  37 f. Naturwissenschaft(en)  XIX, 193, 197 f., 200, 203, 214–216, 219, 239, 335, 513, 528, 576 Naturwissenschaften, beschreibende 189 f. Naturwissenschaften, moderne  186 Naturzustand  296 Nervensytem  208 Neue Thalia  309 Neuengland  405 Neu-Latein  193, 227, 233, 236, 247, 513, 522 Neuzeit  23 Niederlande  21, 33 niederländisch XXII Nominalismus  185, 548, 556 Norddeutscher Bund  508 Nordfriesland  585–587, 591 f. Normalität  564 Normalität, gesellschaftliche  566 Not  14 Notrecht  84 Notstaat  39 novellistisch  533 Nuptialität  224 Nürnberg  446 Nützliches  8 Oberhaus  430, 481, 582 Oberschicht  578 Objekt, grammatisches  210 Öffentlichkeit, dänische  510

Ökonomie  487, 566 Ökonomie, politische  551 Ontologie  229, 238 Ontologie: Wolffs  215 Ordnung  8, 10, 366 f., 412 Ordnung, natürliche  189 Ordnung: Gesellschaft  191 f. Ordnung: Staat  191 f. organic  281, 283, 287 Organicism  281 Organicist  283 Organisation  262, 499, 550 Organisches  556 Organism  271, 284 Organismus  539 f., 550–553 Organizismus  550 Ort  540 f. Österreich  438 f. Pädagogik  98 pädagogisch  493 Papiergeld  175–177, 183 Papismus  372, 414 Paradies  223 Parallelismus-Lehre  217 Paris  315, 381, 427, 464, 466 f., 569 Parlament  20, 292, 327, 347, 369, 383, 431, 438 Parlamentarismus  422 Partei(n) 191, 366 f., 369, 370–374, 401, 422, 437–443, 445 f., 448–450, 452, 455–458, 460 f., 467 f. Partei, altaristokratische  456 Partei, altkatholische  456 Partei, altkonservative  371 Partei, altpreußische  445 Partei, deutsch-freisinnige  448 Partei, deutschkonservative  456 Partei, fortschrittliche  442, 454, 456 Partei, hannöversche („Welfen“)  444 Partei, konservative  439, 443, 456, 458 Partei, links stehende  456 Partei, nationalliberale  373, 440, 441, 452, 456 Partei, nationalsoziale  458 Partei, neudemokratische  456 Partei, neukonservative  457 Partei, politische  437 Partei, republikanische  467 Partei, sozialdemokratische  455, 460

Sachregister Partei, staatserhaltende  367 Partei: Gegenwartspartei  374 Pastor  600 Pathologie  564, 569 Pathologie, gesellschaftliche  566 Pathologisches  558, 568 Patriotismus  553 Person  28, 102, 111, 275 f., 278, 285, 319, 347, 364, 412, 421, 423 f., 468, 542 Person, moralische  276, 543 f. Person, natürliche  275 f., 544 f. Person, übernatürliche  547 Personenname(n) 146 Persönlichkeit  320, 470, 483, 546 Pertinenzprinzip  505 Pest  242, 516 Pfalz  442 Pfarrer  470 f., 599 Phänomen, soziales  537 Phänomenalismus  200 Phantasie  8, 27, 195 f., 204, 214, 228, 233, 236, 530 Phenomena, social  269 Philippinen  408 Philologie, archaisierende  227 Philosoph  27, 37, 72, 306, 312, 361, 414, 435, 464, 469, 558, 560 f., 569, 579, 581 philosophical  284, 287 Philosophie  XXI, 25, 30, 35, 39, 43 f., 218– 220, 223, 235 f., 307, 330, 340, 347, 361, 418, 443, 486 f., 511 f., 515, 518, 522, 527, 538, 575 f. Philosophie, anti-scholastische  196 Philosophie, erste  238 Philosophie, falsche  549 Philosophie, logisch-sprekulative  198 Philosophie, moderne  185 Philosophie, oberste  215 Philosophie, revolutionäre  549 Philosophie, spekulative  216 Philosophie, synthetische  216 Philosophie, wissenschaftliche  221, 511 Philosophie der Aufklärung  187 philosophieren  47 philosophisch  42, 46, 54, 413 f., 486, 548, 562 Photografie  530 physical  472 Physik  185–187, 198, 214 Physik, moderne  207

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Physik, reformierte  190 physiological  283 Physiologie  491, 560 physisch  562 Planet  205, 248 Poesie  47, 49, 53 Poet  17, 56, 311, 318, 414 poetisch  47 f., 50 Polen  535 Polis  547 political  361 Politics  363 Politik  10 f., 13 f., 44, 46, 63, 266, 268, 370, 397, 401, 423, 430, 444, 477  f., 481 f., 507, 531 Politik, englische  577 Politiker  64, 299, 326, 435, 507, 556 politisch  XX, 28 f., 34–37, 39–41, 43, 46, 53, 58, 322 f., 325, 389, 424, 482, 487, 493, 507–509, 526, 535, 559, 571 Polizei  299, 314, 569 Popularliteratur  197 Popularphilosophie  196 Prävention  XX Preisfrage  510 ff. Preußen  261, 323 f., 326, 371, 377, 379, 412 f., 438–440, 442–446, 480, 526 preußisch  322, 326, 373, 458 Priester  600 Prinzipien  186 Prinzipien, mechanische  203 Prinzipien, rationalistische  194 Privatzeichensystem  165 Proletariat  257, 376, 380, 382, 449 Propädeutik, philosophische  240 Prosa  53, 58 protestantisch  88, 470 Protestantismus  7, 18, 600 Prototypen  225 Prozessrecht  508 Prussia  363 Psychologe  72, 78, 98, 522 psychological  270, 273 f., 277, 281, 287 Psychologie  XXI, 335 f., 340, 514 f., 560 f., 563, 567 psychologisch  532, 538, 541–543, 550, 560, 562 f., 568 Psychology, social  273 Publikum  15, 26, 306, 532

680

Apparat

Quellenlage  504 Quidditas  235 Race  473 f. Radikalismus  298, 482 Rasse  331, 388, 390, 392, 396, 479, 540, 555, 603 Rassenhygiene  602 Ratbehörde, internationale  241 Rationalismus  9, 201 f., 486 f. Rationalismus, mechanistischer  205 Rationalität  42 Räuber  XX, 103, 113, 300 f., 305–309, 311, 321, 507, 561, 563–566 Raum  540 Reaktion  369, 379, 526, 531 Realismus  185, 189, 200, 531 realistisch  48 Realität  50, 75 Reason  474 Rebellion  254 Recht  10, 74, 80, 84, 89, 93, 109, 115–117, 230, 256, 324, 330 f., 334 f., 344, 369, 379, 387, 389, 396, 415, 424, 432, 467, 487, 500, 507, 533, 554, 561, 579, 587 f. Recht, altes („Carolina“) 117 Recht, geltendes  93, 109, 508 Recht, gemeines  369 Recht, gesetzliches  396 Recht, gültiges  115 Recht, kanonisches  80 Recht, natürliches  604 Recht, politisches  370, 389 Recht, wohl erworbenes  415 Recht, zwingendes  432 Rechtsbegriff  562 Rechtsempfinden  527 Rechtsgeschichte  585 Rechtsordnung  65 Rechtsphilosophie  543 Redefiguren  160 Reflexion  187 Reform  35, 57, 63–65, 87, 221–231, 254, 290–292, 410 f., 413, 430 f., 455, 494, 516, 508 f. Reform der Ausdrucksweise  241 Reformation, germanische  525 Reformkleid: Damen  527 Reformkostüm: Damen  528 Reformpolitik  454

Reformtätigkeit  373 regieren  322, 325, 460 Regierung  21, 261 f., 289, 317, 326 f., 346, 373, 383, 395, 415, 422, 428, 432, 438 f., 445, 448, 452, 455 f., 494 553, 555, 582, 594 Regierung, preußische  536 Regierung, spanische  21 Reich  386, 440, 442, 444, 446, 448 f., 458, 460, 539, 578 Reich, Deutsches  64, 66, 89, 93, 95, 373, 377, 386, 407, 413, 437, 443 f., 449, 452, 455, 459, 479, 508, 526, 578, 585, 588 Reich, heiliges römisches  7 Reich, spätrömisches  534 Reiche  10 Reichsgesetzgebung  455 Reichsjustizamt  508 Reichskanzler  XX, 263 f., 266, 290 f., 317, 327, 422, 440, 460, 536 Reichspartei  440, 457 Reichsregierung  440 Reichstag  265, 320, 347, 379, 421–424, 460 Reichstag, deutscher  18 Reichsverfassung  374, 423 Reichswahlrecht  379 Reichtum  465, 554 Reims  466 Reisen  574 Relativismus, demokratischer  226 Religion  168, 214, 218, 228, 230, 330, 334 f., 418, 443, 473 f., 541, 600, 603 f. Renaissance  528 f., 559 Renaissance, romanische  525 Republik  35, 320, 387, 395, 409, 412, 494, 512 Republik, platonische  224 Republikaner  567 Restauration  369 Revolution  14, 16, 20, 31 f., 35–37, 39 f., 43, 46, 52, 257, 280, 296 f., 317 f., 366– 371, 375, 376–378, 380 f., 412 f., 462, 469, 567, 570 Revolution, bürgerliche  371 Revolution, englische  367, 368 Revolution, französische  7, 16, 20, 31, 32, 36, 280, 318, 526, 549, 599 Revolution, geistige  560 Revolution, große  526, 531

Sachregister Revolution, moderne  52 Revolution, sozialistische  257 Revolutionär, revolutionär  313, 366, 561 Rheinische Thalia  17, 303 Rheinland  443 Rhetorik  227, 552 Richter  74–76, 78–80, 84 f., 94–96, 115 f., 343, 345, 468, 508 Richtlinien, editorische  503–506 Rokoko  528, 534 Roman  563 Romanen  525 romanisch  525 Romantik  302, 531 Römer  559 Römer: Legionen, Liktoren  525 Römertum  525 römisch  586 Ruhm  14 Ruhrgebiet XX, 535 Ruhrkohlenrevier  258, 267, 322, 535 Russe(n) 531, 538, 579 russian  364 Russland  377, 379, 381, 405, 479 Sachsen  417, 442, 446 Satz der Identität  172 Schaubühne  17, 310 Schauenburger  589 Schauspiel  15 f., 18 f., 306 Schicht(en) 191, 268, 390, 539 Schicht, höhere  604 Schicksal  568 Schiffersprache  147 Schiller-Jahr  XX, 507, 557 Schlagwörter  195 Schlesien  443 Schleswig  583, 585, 589 f. Schleswig-Holstein  XXV, 88, 441, 583, 585, 590 Scholastik  185, 197, 199, 207, 215 Schöne  528 Schönes  8, 42 f., 90 Schönheit  528–531 Schöpfung  14 Schotten  565 schottisch  586 Schottland  433, 551 Schriftsprache  180 f., 193, 227 Schriftsprache, universelle  222 f.

681

Schriftsteller  8, 27, 31 f. Schriftzeichen  165 Schule  17, 600 Schule: Rechtsreformer  509 Schule: Strafrecht, klassische  508 f. Schule: Strafrecht, moderne  509 Schule: Strafrecht, soziologische  508 f. Schulen, wissenschaftliche  191 Schulenstreit  64, 66 Schultradition  195 Schulunterricht  219 Science  279, 360, 363, 473 Sciences, social  360, 575 Seele  17 f., 57, 90, 139, 141, 207–210, 212, 297, 311, 356, 428, 558, 560 f., 564, 568 Seele, cartesianische  212 Seele, menschliche  542 Seelenleben  418 Seelensubstanz  208 Seilfahrt  535 Sekten  191, 197 Sekten, philosophische  187 Selbst: Idee  542 Selbstbeobachtung  214 Semantik 239 Semiotik XXI sense  243, 516 f., 522 Sensifics  238 f. Sensualisten  207 sentimentalisch  25, 47–50 Significance  243 f., 516 f., 522 Significs  248 Sinn-Meinung-Bedeutung  243, 516, 522 Sitte, sittlich  8, 25, 42–45, 57, 118, 152 f., 155, 161, 178, 218, , 313, 331, 335 f., 345, 389, 392, 399 f., 435 Sitte: Wesen  152 Sittengesetz  89 sittlich  532 Sittlichkeit  23, 257, 534 Skandinavien  587 Skandinavier  531 Sklavenaufstände: Rom  526 Sklaverei  391 f. Skotisten  235 slavery  390 slavisch  525 social  277, 279, 283, 287, 473 Society  269 f., 273 f., 278, 280–285, 287, 364, 474

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Apparat

Society, Sociological  575, 577, 601 sociological  270, 273  f., 276, 281, 284, 287 Sociologist  270 Sociology  360 f., 575 Soldatenkaisertum  528 Sondersprachen  146 sozial  497, 508, 509, 526, 532, 542, 562, 586 siehe auch social Sozialbiologie  229, 541, 601 Sozialdarwinismus  601 Sozialdemokrat  378 Sozialdemokratie  254 f., 257, 264, 288– 293, 366, 370, 433, 442, 448, 452, 454– 457, 459 f., 524 f., 527, 531, 580 sozialdemokratisch  256, 266, 407, 460, 534 Sozialforschung, empirische  XIX Sozialhygiene  491 Sozialismus  298, 370, 372, 376, 382, 454, 456 Sozialistengesetz  379 sozialistisch  10, 296, 576 Sozialphilosophie  492 Sozialpsychologie  198, 229, 541 Sozialpsychologie, empirische  229 Sozialstruktur 269 Sozialwissenschaft  XIX, 491, 49 Soziologe  507, 554 Soziologen, philosophische  538 Soziologie  XIX, 72, 198, 328–330, 334 f., 339  f., 409, 427, 491, 497, 511  f., 514, 538, 558, 563, 575 f., 578, 580, 601 siehe auch Sociology Soziologie, angewandte  XIX Soziologie, reine  577 soziologisch  XX, 469, 507, 538, 542, 550, 557, 560, 563, 574, 584, 586, 600 Soziologische Gesellschaft  577 Spanien  91, 405 Spezialprävention  XX Sprachbildungstrieb  158, 167 Sprache, fremde  167 Sprache, konventionelle  166 Sprache, lateinische  222, 225 Sprache, philosophische  198 f., 242, 515 Sprache, plastische  248 Sprache, poetische  160 Sprache, wissenschaftliche  236, 522 Sprache: Gefühl  179

Sprache: Ursprung  158 Sprachgebiet(e) 198, 216 Sprachgebiete, große  195 Sprachgebrauch  153, 155, 163, 172–174, 178, 182, 188, 190 f., 234, 238, 247, 519, 521 f. Sprachgebrauch, wissenschaftlicher  156, 158, 197 Sprachgefühl  158, 167 Sprachgeist, englischer  198 f. Sprachgenius  163, 178, 180 Sprachgesetzgebung  155, 163 Sprachinseln  233 Sprachinstinkt  158 Sprachverwirrung  187 Symboltheorie  511 Staat  10, 17, 19, 34, 38 f., 41–45, 65–67, 78, 83 f., 88–90, 100 f., 107, 176, 191 f., 262, 290, 313, 323 f., 332 f., 369, 386– 389, 405, 409 f., 412, 417, 420, 423, 438, 443 f., 460 f., 508, 539, 543, 549, 553– 555, 579, 589 siehe auch State Staat, einheitlicher  386 Staat, freier  387 Staat, moderner  191, 553 f., 556 Staat, monarchischer  323 Staat, preußischer  412 Staat, universaler  550 Staat, wahrer  549 Staat, wirklicher  420 Staatsaktion  314 Staatsbürger  4, 83, 267, 289, 325, 387, 415 Staatsgewalt  67, 82, 421 Staatskunst  11, 313 Staatsleben  322 f. Staatsmann  291 f., 319, 461 Staatsordnung  265 f., 456 Staatspolitik  494 Staatsrecht  44, 467, 469 staatsrechtlich  323 f. Staatsregierung  259 Staatsreligion  46 Staatssozialismus  455 Staatsstreich  370 Staatstheorie  549 Staatsverfassung  41, 54, 318 Staatswesen, germanisches  525 Staatswissenschaften  340 f. Stadt  10, 230, 371, 410, 539, 600

Sachregister Stadt und Land: Gegensatz  230 Stadtgemeinde  539 Staller  597 f. Stamm  540 Stand  13, 16, 26, 33, 413, 539, 565, 569, 597 Stand, Dritter  7 Stände, 191 Standesvorurteil  18 Starke  526 State  276, 280, 284–287, 361, 365 States, United  364 siehe auch Vereinigte Staaten von Amerika Statistik  221, 229 f., 334 f., 558 Sternwarten  229 Stil  528, 530 Stil, moderner  529 Stil: Moderne  528 Stoffwechsel, natürlicher  540 Strafbarkeit  80, 93–95 Strafe  XX, 66–71, 73, 74, 77, 79, 81–83, 85 f., 90, 93 f., 96, 98 f., 101–107, 109 f., 112 f., 115–117, 331, 349, 509 Strafgesetz  63, 69, 78, 80, 97, 100, 112, 508 Strafgesetzbuch  66, 80, 82, 86 f., 93, 97, 109, 114, 117 f., 508 Strafgesetzbuch, preußisches  508 Strafgesetzgebung  65, 509 Strafjustiz  XX Strafmaßnahme  535 Strafmündigkeit  67, 82, 89 Strafprozess  508 Strafprozessordnung  508 Strafprozessreform  508 Strafrecht  XX, 63–66, 70 f., 75, 77, 82 f., 85 f., 87, 89, 96–98, 100, 104, 110, 115, 117, 155, 508 Strafrecht, materielles  508 Strafrechtsreform  XIX f., 505, 507 f. Strafrechtswissenschaft  509 Strafsystem  415 Strafvollzug  XX, 508 Strafwürdigkeit  80 Streik  258–263, 346, 347, 535 f. Streikabbruch  536 Streikbrecher  390 Streit  XXII Structure, social  269 f., 274, 286 f., 580

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Struktur, gesellschaftliche  555 siehe auch structure, social Struktur, soziale  537, 543, 555 Studentensprache  147 Sturm und Drang  11 Subjekt, denkendes  140 Subjekt, grammatisches  210 Subjektivität  529 Substanz  235 Süddeutschland  446, 480 Südfriesen  587 Südstaaten  388, 389 Symbol(e) 143, 172, 253, 517 Symbole, soziale  245, 517 Symbol nationaler Einheit  298, 359 Sympathie  140 Synonyme  153, 244 System  538 System, soziales  284, 553 Systematik, künstliche  189 Systeme, philosophische  191 Tating  588 Tatsache  556 Tauschwert  245, 517 Technik  XIX, 464, 491, 493, 528 f., 531 Technologie  XIX Terminologie  329, 340, 510–514, 522 Terminologie, etablierte  196 Terminologie, exakte  196 Terminologie, gemeinsame  199 Terminologie, kantische  219 Terminologie, philosophische  185–220, 510 f., 514, 520 Terminologie, psychologische  510 Terminologie, technische  513 Terminologie, unklare  186, 510, 520 Terminologie, wissenschaftliche  174, 193, 227, 513 Terminologie, zusammengesetzte  194 Terminologie: Descartes  200 Terminologie: Geschichte  219 f. Terminologie: Kant  219 Terminologie: Naturwissenschaften  239 Terminologie: Philosophie, Psychologie  XXI, 511 Terminologie: Verworrenheit  191 Terminologie: Wille  213 Terminus, überlieferter  186 Teutscher Merkur  18

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Apparat

Theater  393 Theater, deutsches  534 Themenschwerpunkte  XIX Theologie  191, 216, 220, 470, 599 Theorie  8, 44 Theorie, biologische  555 Theorie, organizistische  540, 550 Theorie, psychologische  555 Theorie, soziologische  555 Theorie: Gesellschaft  550 Theorie: soziales Leben  538 Theory, organic  269 Tod  206, 494 Toleranz  20 Tönning  588 Trade Unions  266, 361 Tradition  470, 542 Tragödie  15, 18, 49, 51 f., 54, 296 Transport  574 Trauerspiel  15 f., 21, 306, 310 Traum  10, 19, 35 Trieb  561, 566 Trust  395 f., 408, 527, 554 Tugend  13, 24, 305 Türkei  405 Türken  525 Tyrannei  9, 22, 57 Umgangssprache  180, 227 Umwälzung, soziale  527 Umwelt, soziale  568 Unbewußtes  209 Unfreiheit  526 Ungarn  525 Ungerechtigkeit  562 Ungleichheit  10, 526 Union  391, 408 Universalsprache  223 Universität  8 Universität, deutsche  XIX Universitätsphilosophen  197 Universitätsphilosophie  195 Unklarheit der Terminologie  184 Unruhen, gracchische  526 Unterbewußtes  209 Unterdrücker  10 Unterdrückte  10 Unterhaus  582 Unternehmer  265–267, 404 f., 434, 536 Unternehmerklasse  323

Unternehmerverband  290 Urgesellschaft  553 f. Ursachen, historische  193 Urteil  142, 154, 171 USA siehe Vereinigte Staaten von Amerika Utholm  588, 597 f. Vagieren  574 Vater  546 Vaterland  52, 54, 102, 262, 265 Vegetarianismus  527 Venen  552 Verabredung  163 Verantwortung  346, 424 Verbrechen  XIX, 66, 68–70, 73, 78, 81, 83, 86, 89 f., 97, 100, 104, 106, 109, 111, 114, 117, 303–305, 309 f., 314, 330 f., 344, 465, 505, 509, 527, 558, 560 f., 563 f., 567–570 Verbrechensforschung  XXI Verbrecher  67, 86, 94, 97, 100, 102–105, 109–111, 116 f., 299, 303–305, 309, 311, 313 f., 491, 507, 509, 531, 559 f., 562, 566 f., 569 f. Verbrecherproblem  557 f. Verbrecherstudien  509, 558 Verbrechertum  229, 567 Verbrecherwelt  569 Verein für Sozialpolitik  450 Vereinbarung  164, 199 f. Vereinigte Staaten von Amerika  222, 385– 388, 394, 396, 398 f., 404–406, 408, 479, 549, 552, 579 f. Vereinigtes Königreich  579 Vereinigung siehe Internationale Kriminalistische Vereinigung Verfassung  20, 41, 46, 323 f., 386, 420, 460, 468 Verfassungsleben  326 Vergeltung  67, 78 Vergeltungsprinzip  66, 69 Vergeltungstheoretiker  70 Verkehr  574 Vernunft  8 f., 23, 25, 37, 38, 40 f., 43, 45 f., 50, 54, 57, 74, 221, 227, 414, 463–465, 542, 554, 556 Vernunft, menschliche  556 Vernunft, naturwissenschaftliche  202 Vernunft, reine  219 Vernunftsinhalt  194

Sachregister Verstand  10, 20, 27, 42, 48, 50, 72 f., 297, 319, 328, 485, 531 Verstand, mathematischer  204 Verstehen  147 f. Vertrag  163 Vertragstheorie  550 Verwirrung: Ursachen  184 f. Volk  17, 22, 32, 38–40, 43 f., 53–58, 295, 323, 327, 346, 370, 385, 388, 391 f., 395, 396, 402, 407 f., 423, 427, 435, 451, 508, 554 Volk, deutsches  295 Volk, englisches  578 Volk, französisches  40 Volk, friedfertiges  22 Volk, gedrücktes  44, 391 Volk, mündiges  38 Volk, nordamerikanisches  407 Volk, stolzes  42 Volksgemeinde  586 Volksgewohnheit  154, 520 Volksglaube  163, 168 f. Volksschicht, untere  531 Volksstück  13 Volksvertreter  325, 347 Volksvertretung  323 Volkswille  368 Vorurteile  187 Wahlrecht  324 f., 345, 347, 429 Wahrheit  8, 23, 27, 266, 318, 356, 413, 418, 465, 530, 537 Wahrnehmung  139, 150 f., 545 Wahrnehmungsobjekte  214 Wahrscheinlichkeitsrechnung  224 Wales  551 Wandern  574 Washeit  235 Wehrlose  508 Weimar  31 Weisheit  17, 25, 26, 418 Welby-Prize  510 ff., 522 Welfen  444 Welt  14, 16, 22, 27, 36, 54, 66, 315, 436, 464, 479, 486 Weltall  205 Weltanschauung  418, 486 Weltbild  600 Weltbürger  XXII, 4, 17, 33, 38, 226, 469 f.

685

weltbürgerlich  23 Weltbürgersinn  33 Weltbürgertum  20, Weltgedanke  223 f. Weltkrieg, Erster  509 Weltmann  37, 436 Weltmonopole  229 Weltordnung  256, 562 Weltpolitik, englische  578 Weltpostverein  224 Weltreich, britisches  222 Weltreich, europäisches  525 Weltrepublik  480 Weltsprache  128, 166 f., 222–224, 513 Weltstaat  494 Weltstadt  514 Weltverkehr  222 Werkzeug  547 Werte, soziale XXI Wertzeichen, soziales  177 Wesen, fiktives  543 Wesen, ideelles  546 Wesen, kollektives  539, 553 Wesen, lebendiges  546 Wesen, mystisches  555 Wesen, organisches  555 Wesen, reales  555 Wesen, übernatürliches  555 Wesenheit, kollektive  538 Wesenheit, soziale  546 Westfalen  442 f. Wettkampf: Weib-Mann  527 Wien  7 Wiener Kreis  XXI, 524 Wildheit  24 Wille  10, 19, 42, 71, 73–76, 78, 81, 91, 98 f., 103, 116, 123 f., 126 f., 133–135, 141–184, 186, 191–193, 208, 209–214, 218, 224 f., 230, 241, 246, 513, 519, 542, 544, 546 f. Wille, bewusster  556 Wille, freier  71, 75 f., 81, 98, 167 f., 210, 218, 303 Wille, gemeinsamer  153, 164 Wille, guter  147 Wille, individueller  125, 145, 149 f., 154, 213 Wille, menschlicher  91, 144 f., 149, 160, 164, 204, 213, 555 Wille, natürlicher  149, 165 Wille, reiner  212 f.

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Apparat

Wille, sozialer  125, 133–135, 145, 148 f., 152, 154 f., 159, 162–165, 167 f., 175– 179, 182 f., 186, 189–191, 211, 213, 218, 225, 245, 511, 517 Wille, universeller  224 Wille, vernünftiger  141 Wille: Analyse  192 Wille: Denken  213 f. Wille: Erkennen  213 f. Wille: Formen  150 Wille: Gewohnheit  153 Wille: Intelligenz  209 f. Wille: Namen  191 Wille: Öffentlichkeit  190 f. Wille: Zeichen  150, 158 Wille zum Leben  142, 144 Willenserklärung  544 Willensformen  150, 152 Willenshandlung, äußere  212 Willenslehre  209–213, 511 Willenstheorie  511 Willentheorie, tönniessche  511 Willkür  44, 53, 77, 81, 124, 204, 211, 230, 324, 416 Wirklichkeit  50, 266, 302, 308, 490, 499, 533, 555, 576 wirtschaftlich  508, 535, 556, 571, 599 Wirtschaftsentwicklung  527 Wissen  22, 24, 548 Wissenschaft internationale  221 Wissenschaft(en) 8, 10, 130, 133, 156, 163, 167–170, 174 f., 178, 183 f., 186, 190, 193, 196, 198, 216, 220, 227–229, 233, 236, 242, 244, 246, 270, 329, 331, 443, 464, 490, 513, 518 f., 530, 548, 552, 565, 568, 576, 578, 603 Wissenschaft, esoterische  196 Wissenschaft, freie  169 Wissenschaft, positive  575 Wissenschaft, reine  XXI Wissenschaft, revolutionäre  563 Wissenschaft, soziale  575 Wissenschaft, universale  223 Wissenschaft: sozialer Wille  183 Wissenschaftler  562 wissenschaftlich  548, 556, 560 f. Witz  195 f. Wolfianismus  200 Wollen  511, 546 Wörter: Bedeutung  187

Wortsprache  179 Wortstreit  233 Wortstreitereien  199 Wortwissenschaft, leere  185 Wunsch  35 Würde  25, 424 Wurmkrankheit  322, 325 f., 571 Württemberg  442, 589 Xenien  26, 46, 56 Yankee  394 Zahl: Idee  224 Zarentum  378 Zarismus  377 Zauberworte  158 Zeichen  123–1256, 139–184, 190, 198, 213 f., 223–225, 234, 239, 245 f., 347, 401, 486, 517 f. Zeichen, ausdrückliches  143 Zeichen, gemachtes  143 Zeichen, gültiges  152, 178 Zeichen, künstliches  144, 157, 234 Zeichen, natürliches  139, 142–144, 151, 157, 234 Zeichen, soziales  145 Zeichen, sprachliche  214 Zeichen, unwillkürliches  143 Zeichen: Definition  139 Zeichen: Empfindung  141 Zeichen: Entstehung der  140 Zeichen: Gefühl  141 Zeichen: Geld  175, 182 Zeichen: Wille  150 Zeichensystem  146, 168, 210.222 f. Zeichentheorie XXI Zeichentheorie, geltungslogische  511 Zeit, ernste  529 Zeitalter  11, 14, 36, 44, 528 Zeitalter, individualistisches  553 Zeitalter, wilhelminisches  600 Zeitbürger  4, 53, 56, 295, 507, 556 Zeitgeist XXII, 415, 418, 529 Zeitgeschichte  296 Zentrum  444, 447 f., 452, 456, 460 Zentrumspartei  455 f. 460 Zivilisation  22 f., 396, 404, 554, 562, 576, 579 Zivilisation, französische  578

Sachregister Zivilisation, höhere  538 Zukunftsstaat  11 Zustand der Sprache, unentwickelter  248 Zustand der Terminologie  185

Zweck: Mittel  141 Zweckprinzip  66, 69 Zwecktheoretiker  70 Zwecktheorie  72

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Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 1 1875–1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform“ – De Jove Ammone quaestionum specimen · Schriften · Rezensionen Band 2 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft Band 3 1893–1896: „Ethische Cultur“ und ihr Geleite – Im Namen der Gerechtigkeit – L’evolution sociale en Allemagne – Hobbes · Schriften · Rezensionen Band 4 1897–1899: Der Nietzsche-Kultus – Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg – Über die Grundtatsachen des socialen Lebens · Schriften · Rezensionen Rand 5 1900–1904: Politik und Moral – Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit – L‘evolution sociale en Allemagne (1890–1900) · Schriften Band 6 1900–1904: Schriften · Rezensionen Band 7 1905–1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker – Strafrechtsreform – Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht · Schriften · Rezensionen Band 8 1907–1910: Die Entwicklung der sozialen Frage – Die Sitte · Schriften · Rezensionen Band 9 1911–1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie – Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung · Schriften · Rezensionen Band 10 1916–1918: Die niederländische Uebersee-Trust-Gesellschaft – Der englische Staat und der deutsche Staat – Weltkrieg und Völkerrecht – Frei Finland – Theodor Storm – Menschheit und Volk · Rezensionen Band 11 1916–1918: Schriften Band 12 1919–1922: Der Gang der Revolution – Die Schuldfrage – Hochschulreform und Soziologie – Marx – Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 · Schriften Band 13 1919–1922: Schriften· Rezensionen

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 14 1922: Kritik der öffentlichen Meinung Band 15 1923–1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I · Schriften Band 16 1923–1925: Schriften · Rezensionen Band 17 1926–1927: Das Eigentum – Fortschritt und soziale Entwicklung – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II – Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926–1927: Schriften · Rezensionen Band 19 1928–1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III · Schriften Band 20 1928–1930: Schriften · Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie · Schriften · Rezensionen Band 22 1932–1936: Geist der Neuzeit · Schriften · Rezensionen Band 23 Nachgelassene Schriften Teilband 1: 1873–1918 Teilband 2: 1919–1936 Band 24 Schlussbericht zur TG · Gesamtbibliographie und -register