Gerechte Sünder: Eine Untersuchung zu Martin Luthers 'simul iustus et peccator' 3374037291, 9783374037292

'Gerecht und Sünder zugleich' lautet die Kurzformel, mit der Martin Luther die ontologische Verfasstheit des C

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German Pages 752 [754] Year 2014

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Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung
1 Spuren des »simul iustus et peccator« in den lutherischen Bekenntnisschriften
1.1 Apologie
1.2 Konkordienformel
2 Der katholische Widerspruch
2.1 Trient
2.2 Johann Adam Möhler
2.3 Heinrich Denifle
3 Neuere katholische Annäherungen an das »simul iustus et peccator«
3.1 Robert Grosche
3.2 Hans Urs von Balthasar
3.3 Karl Rahner
3.4 Johann Baptist Metz
3.5 Ralf Miggelbrink
3.6 Giovanni Iammarrone
4 Die Diskussion um das »simul iustus et peccator« anlässlich der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«
4.1 Das »simul« in der »Gemeinsamen Erklärung« (GE)
4.2 Reaktionen auf die Position der »Gemeinsamen Erklärung«
4.3 Die »Gemeinsame offizielle Feststellung« (GOF) und der »Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung«
4.4 Lutherische Stimmen zur»Gemeinsamen offiziellen Feststellung«
5 Einzelstudien zum lutherischen »simul iustus et peccator«
5.1 Rudolf Hermann
5.2 Paul Althaus
5.3 Wilhelm Link
5.4 Wilfried Joest
5.5 Reinhard Kösters
5.6 Kjell Ove Nilsson
5.7 Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen
5.8 Gerhard Ebeling
6 Methode und Aufbau der Studie
Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers
1 Rechtfertigung
1.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516)
1.1.1 Scholion zu Römer 4,7
1.1.2 Scholion zu Römer 12,2
1.1.3 Der Sündencharakter der Konkupiszenz
Exkurs: Zur Genese von Luthers Neubewertung der Konkupiszenz
1.1.4 Die kerygmatische Funktion des »simul«
1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535])
1.2.1 Argumentum Epistolae
1.2.2 Galater 3,6
1.2.3 Galater 2,16
1.2.4 Galater 2,20
1.2.5 Galater 3,13
1.2.6 Galater 5,5
1.2.7 Galater 5,16-17
1.3 Späte Disputationen (1535-1537)
1.3.1 Gottes doppelte Toleranz
1.3.2 Aspekte des Rechtfertigungsverständnisses
1.3.2.1 Imputatio
1.3.2.2 Rechtfertigung als sich wiederholendes Geschehen
1.3.2.3 Totalitäts- und Interimscharakter der Rechtfertigung
1.3.2.4 Ausschluss der guten Werke von der Rechtfertigung
1.3.2.5 Effektives Gerechtwerden
1.3.2.6 Der Realitätscharakter der »imputatio«
1.3.2.7 Doppelte Gerechtigkeit
Exkurs: Augustinus und Luther über Rechtfertigung – ein Vergleich
2 Taufe
2.1 Taufe als Gerechtsprechung: Der Mensch wird ganz von Gott angenommen
2.1.1 Taufe als Unterstelltwerden unter das Urteil der göttlichen Barmherzigkeit
2.1.2 Die Sünde bleibt bis in den Tod
2.1.3 Taufgedächtnis
2.1.4 Profilierung der Taufverheißung
2.2 Taufe als lebenslanges Gerechtwerden: Tägliches Sterben und Auferstehen bis zum Tod
2.2.1 Getauftwerden bis in den Tod
2.2.2 Taufe als Bund zwischen Gott und Mensch
2.2.3 Formen der Überwindung der Sünde
2.2.4 Reales, nicht nur symbolisches Sterben
2.2.5 »Tägliche Reu und Buße«
2.2.6 »Bekehrung«
2.2.7 Fortschreiten und Wachsen?
3 Buße
3.1 Das »simul« als Realgrund der lebenslangen Buße
3.1.1 Frühe Schriften zur Buße (1517–1519)
3.1.2 Dritte Thesenreihe gegen die Antinomer (1538)
3.2 DieSituation konkreter Buße als Erkenntnisgrund des »simul«
3.3 Das »simul« in der Auslegung von Bußpsalmen
3.3.1 Die sieben Bußpsalmen (1517)
3.3.2 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538])
3.4 Die Totalität der bleibenden Sünde im Sündenbekenntnis
3.4.1 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538])
3.4.2 Die sieben Bußpsalmen (1517)
4 Gute Werke
4.1 Die These: »omne opus bonum est peccatum«
4.2 Wie versteht die These das »simul«?
4.3 Die Denkbarkeit des »simul« mittels der Unterscheidung von »gratia« und »donum«
4.4 Was ist der Grund der Rechtfertigung: »gratia« und/oder »donum«?
4.5 Christus unsere einzige »reale Gerechtigkeit« – der Gerechtfertigte von sich her lebenslang »totus peccator«
Exkurs: Zur Interpretation der Rechtfertigungslehre Luthers durch Reinhold Seeberg
4.6 Die ethische Valenz der guten Werke – auch Gott gegenüber
5 Anthropologie
5.1 Von wem spricht Römer 7?
5.2 Wie zeigt sich der Gegensatz von Geist und Fleisch? »Facere« und »perficere«
5.2.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516)
5.2.2 Kleiner Galaterkommentar (1519)
5.3 In Römer 7 ist von wirklicher Sünde die Rede
5.4 Das Ineinander und Gegeneinander von Geist und Fleisch in der Person des Christen
5.4.1 Vororientierung
5.4.2 Der Christ selbst sündigt – und doch nicht er selbst
5.4.3 Die Zwei-Naturen-Lehre als Analogie – Luthers schrittweise Ablösung vom Substanzdualismus
5.4.4 Zwei ganze Menschen in einem Menschen
5.5 Zum Verhältnis von anthropologischen Konstitutionsbegriffen und soteriologischen Ganzheitsbegriffen
5.5.1 Geist und Fleisch als Aussagen über den »totus homo«
5.5.1.1 Kleiner Galaterkommentar (1519)
5.5.1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535])
5.5.1.3 De servo arbitrio (1525)
5.5.2 Die Verhältnisbestimmung selbst
5.5.2.1 Auslegung des Magnifikat (1521)
5.5.2.2 Freiheitstraktat (1520)
a) Totus-homo-Anthropologie oder doch Substanzdualismus?
b) »Innerer Mensch«
c) »Äußerer Mensch«
d) Zusammenfassung
6 Gesetz
6.1 Zwei Gerechtigkeiten
6.2 Zwei Zeiten
6.3 Zwei Aspekte oder Relationen: der Christ ein »Doppelwesen«
6.3.1 Die zwei Prinzipien der Antinomer
6.3.2 Die doppelte Begründung der kirchlichen Gesetzespredigt
6.3.3 Thematisierungen des »simul«
6.3.4 Aspekte oder Relationen, unter denen das »simul« ausgesagt wird
6.3.4.1 Geist – Fleisch
6.3.4.2 Im Blick auf Christus – im Blick auf mich
6.3.4.3 Christianus triumphans – christianus militans
6.3.4.4 Der Christ als Christ – der Christ als Sünder
6.3.5 Non esse sub lege – esse sub lege: aspekthaft-relationales oder temporäres Verständnis?
Exkurs: Luthers Interpretation von 1. Timotheus 1,8-9
6.4 Tertius usus legis?
6.4.1 Die Problemstellung und typische Lösungsmodelle
6.4.2 Kleiner Galaterkommentar (1519)
6.4.3 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) und De servo arbitrio (1525)
6.4.4 Antinomerdisputationen (1537–1540)
6.4.4.1 Gesetz als Weisung und Mahnung
6.4.4.2 »Gemildertes Gesetz«
6.4.4.3 Das ins Herz geschriebene Gesetz
6.4.5 Resümee
Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen
1 Peccator/peccatum
1.1 Von der Tatsünde zur Ursprungssünde
1.2 Worin besteht die Ursprungssünde?
1.3 Peccatum regnans – peccatum regnatum
1.4 Peccatum/crimen
1.5 Die Ursprungssünde zeigt sich in Tatsünden
2 Iustus/iustitia
2.1 Gerechtigkeit vor Gott
2.2 Iustitia actualis
2.3 Fortschritt und Wachstum und ihre Erkennbarkeit
2.4 Die theologische Relevanz der »iustitia actualis«
3 Simul
3.1 Total- und Partialaspekt
3.2 Zum sachlogischen Status des Urteils »totus peccator«
3.3 Verhältnisbestimmungen zwischen »iustus« und »peccator«
3.4 Die Denkform der christologischen »communicatio idiomatum«
3.5 Auszuschließende bzw. zu integrierende Modelle der Zuordnung von »iustus« und »peccator«
3.5.1 Keine Aufhebung der Logik
3.5.2 Kein ausschließlich temporales Verständnis
3.5.3 Nicht nur auf die Tatsünden und die Versuchlichkeit bezogen
3.6 Der heilsgeschichtliche Sinn des »simul iustus et peccator«
III
Simul iustus et peccator: Exegetische und systematischeÜberlegungen
1 Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil I und II
1.1 Drei Aspekte der Simul-Formel
1.2 Der Sündenbegriff
1.3 Das Verständnis der Rechtfertigung
1.4 Das »simul« in zentralen Themenfeldern von Luthers Theologie
1.5 Gottes »Absicht« mit dem »simul«
1.6 Das »simul« und die Logik
2 Kann Römer 7 einen Beitrag zur Begründung des »simul iustus et peccator« leisten?
2.1 Die Aufgabe: Kritisch-konstruktive Prüfung und mögliche Erweiterung der biblischen Belege Luthers für das »simul«
2.2 Die Frage nach dem Subjekt von Römer 7
2.2.1 Mögliche Antworten und Luthers Position
2.2.2 In Römer 7 spricht der Mensch vor und außer Christus
2.2.3 Umdeutungen Luthers
Exkurs: Die interpretatio christiana von Römer 7 in neueren Römerbriefkommentaren
a) Argumente für die »interpretatio christiana«
b) Die theologischen Optionen dieser Deutung
c) Fazit
2.3 Die indirekte Funktion von Römer 7 für eine Begründung des »simul«: Die Frage nach der »ἐπιϑυµία« (Röm 7,7-8)
2.4 Gründe für die nachpaulinische Applikation von Römer 7 auf die christliche Existenz
2.4.1 Die unterschiedliche kirchliche Situation bei Paulus und Luther
2.4.2 Herausbildung der abendländischen Subjektivität
2.4.3 Wegfall der urchristlichen Naherwartung
2.4.4 Hans Hübners Begründung des »simul« durch eine »geschichtliche« Paulusinterpretation
Exkurs: Zur Debatte um Sündlosigkeit und Sünde des Christen
a) Hermann Scholz
b) Paul Wernle
c) Johannes Gottschick
d) Hans Windisch
e) Theodor Schlatter
f) Helmut Umbach
3 Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung des »simul iustus et peccator«
3.1 Galater 5,16-17
3.1.1 Luthers Auslegung
3.1.2 Galater 5,16-17 in der heutigen exegetischen Diskussion
3.1.3 Fazit
3.2 Matthäus 5,21-22; 5,27-28
3.2.1 Einführendes zu den Antithesen
3.2.2 Erste Antithese
3.2.3 Zweite Antithese
3.2.4 Matthäus 5,21-22; 5,27-28 und das »simul iustus et peccator«
3.3 1. Johannes 1,5-2,1; 3,4-10; 5,14-18
3.3.1 Luthers Deutung
3.3.2 Die in 1. Johannes erkennbare Kontroverse
3.3.3 Zur Exegese der drei Textkomplexe
3.3.4 Zur Vereinbarkeit von Sünde und Sündlosigkeit des Christen
3.3.5 Kennt 1. Johannes das lutherische »simul iustus et peccator«?
4 Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff
4.1 Der »status quaestionis«
4.2 Konkupiszenz und Konsens
4.3 Sünde und Schuld
4.4 Natürliche Konkupiszenz?
5 Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung
5.1 Einwände gegen Luthers Rechtfertigungslehre
5.2 Relationale Ontologie
5.3 Wirkungen der Rechtfertigung
5.4 »Der Gerechtgesprochene ist auch gerecht!«
5.4.1 Der positive Sinn des Satzes
5.4.2 Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen
5.4.2.1 Eberhard Jüngel
5.4.2.2 Sibylle Rolf
5.5 Einseitigkeiten und Gefahren bei Luther
5.5.1 Überscharfe Konzentration auf das Kreuz
5.5.2 Relativierung des Sieges Christi
5.5.3 Erlösung durch den Tod?
6 Zum ekklesiologischen und interkonfessionellen Stellenwert des »simul iustus et peccator«
6.1 Kirchengemeinschaft trotz Lehrdifferenz beim »simul iustus et peccator«?
6.2 Einheit und Gemeinschaft der Kirchen nach der Leuenberger Konkordie
6.3 »Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums«
6.4 Anwendung des Leuenberger Kriteriums auf das »simul iustus et peccator«
6.5 Vertiefte Interpretation des Leuenberger Ansatzes
Anhang
1 Simul-Formeln
2 Varianten der Simul-Formel
Literaturverzeichnis
1 Quellen
2 Die zitierten Werke Luthers im Einzelnen
3 Sonstige Literatur
Personenregister
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Gerechte Sünder

Arbeiten zur Systematischen Theologie

Herausgegeben von Heinrich Bedford-Strohm, Ulrich H. J. Körtner, Notger Slenczka und Günter Thomas Band 6

Wilhelm Christe

Gerechte Sünder Eine Untersuchung zu Martin Luthers »simul iustus et peccator«

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Leipzig

Wilhelm Christe, Dr. theol., Jahrgang 1959, studierte Philosophie und Katholische Theologie in Würzburg, Frankfurt a. M. und Freiburg i. Br. 2002 Konversion zum evangelischen Bekenntnis. Seitdem evangelischer Pfarrer, zunächst in Baden-Baden, ab 2013 Pfarrer für Stadtkirchenarbeit in Frankfurt a. M. 2012 habilitierte er sich mit der vorliegenden Arbeit in Tübingen, wo er seitdem als Privatdozent für Systematische Theologie lehrt.

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany · H 7698 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Gesamtgestaltung: Jochen Busch, Leipzig Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-03729-2 www.eva-leipzig.de

Vorwort

»Das gehört zu einem christlichen Herzen, dass es sich dankbar erweise, nicht allein und vor allem Gott gegenüber, sondern auch gegenüber den Menschen.« (WA 45,195,1-2) Solche Dankbarkeit zu erweisen, hat derjenige überreichlich Anlass, der am Ende des langen Weges einer Habilitation steht. Dabei hat der nach Luther zuallererst Gott abzustattende Dank gewiss andere Orte und Formen des Ausdrucks als das Vorwort einer wissenschaftlichen Studie. Aber der Dank gegenüber den Menschen ist hier sehr wohl am Platz. Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2011/12 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck ist sie leicht überarbeitet worden. Dank sagen möchte ich Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel, der sich der Mühe des Erstgutachtens unterzogen hat, und Frau Prof. Dr. Elisabeth GräbSchmidt, die das Zweitgutachten erstellte. Beide haben mir auch wertvolle weiterführende Hinweise gegeben. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Prof. em. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg, der diese Studie über Luthers »simul iustus et peccator« angeregt und in vielen Gesprächen immer wieder inspirierend vorangetrieben hat. Für Hilfe beim Korrekturlesen bin ich Frau Dr. Adelheid Schieferdecker, Baden-Baden, dankbar. Zu danken habe ich auch den Herausgebern der »Arbeiten zur Systematischen Theologie«, die das Buch in diese Reihe aufgenommen haben. Ebenso sei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedankt, die einen namhaften Druckkostenzuschuss gewährte. Schließlich danke ich meiner lieben Frau Silke, die vor allem während der Zeit der Stellenteilung im Pfarramt an der Baden-Badener Stadtkirche mir unermüdlich Freiräume eröffnet und in Zeiten des Zweifels Mut gemacht hat, so dass die Arbeit an Luthers »simul« in der spannungsreichen, aber fruchtbaren »Simultaneität« von wissenschaftlicher Forschung und seelsorgerlicher Tätigkeit zu einem guten Ende geführt werden konnte.

Frankfurt a. M., im Juli 2013



Wilhelm Christe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung . . . . 15 1

Spuren des »simul iustus et peccator« in den lutherischen Bekenntnisschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Apologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Konkordienformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2 Der katholische Widerspruch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1 Trient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2 Johann Adam Möhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.3 Heinrich Denifle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3 Neuere katholische Annäherungen an das »simul iustus et peccator« . . . 35 3.1 Robert Grosche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Hans Urs von Balthasar  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.3 Karl Rahner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.4 Johann Baptist Metz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.5 Ralf Miggelbrink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.6 Giovanni Iammarrone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4 Die Diskussion um das »simul iustus et peccator« anlässlich der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.1 Das »simul« in der »Gemeinsamen Erklärung« (GE) . . . . . . . . . . . . . 53 4.2 Reaktionen auf die Position der »Gemeinsamen Erklärung« . . . . . . 58 4.3 Die »Gemeinsame offizielle Feststellung« (GOF) und der »Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung« . . . . . . . . . . . . 61 4.4 Lutherische Stimmen zur»Gemeinsamenoffiziellen Feststellung« . . 66 5 Einzelstudien zum lutherischen »simul iustus et peccator« . . . . . . . . . . . 69 5.1 Rudolf Hermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.2 Paul Althaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5.3 Wilhelm Link . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 5.4 Wilfried Joest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5.5 Reinhard Kösters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 5.6 Kjell Ove Nilsson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

8

Inhaltsverzeichnis

5.7 Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.8 Gerhard Ebeling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6 Methode und Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

I Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers . . . . . . . . . . . 99 1 Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.1.1 Scholion zu Römer 4,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.1.2 Scholion zu Römer 12,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.1.3 Der Sündencharakter der Konkupiszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Exkurs: Zur Genese von Luthers Neubewertung der Konkupiszenz . 123 1.1.4 Die kerygmatische Funktion des »simul« . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1.2.1 A rgumentum Epistolae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.2.2 Galater 3,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1.2.3 Galater 2,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1.2.4 Galater 2,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1.2.5 Galater 3,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1.2.6 Galater 5,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1.2.7 Galater 5,16-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1.3 Späte Disputationen (1535-1537) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1.3.1 Gottes doppelte Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1.3.2 Aspekte des Rechtfertigungsverständnisses . . . . . . . . . . . . . 176 1.3.2.1 Imputatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1.3.2.2 Rechtfertigung als sich wiederholendes Geschehen . 177 1.3.2.3 Totalitäts- und Interimscharakter der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1.3.2.4 Ausschluss der guten Werke von der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1.3.2.5 Effektives Gerechtwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1.3.2.6 Der Realitätscharakter der »imputatio« . . . . . . . . . . . 184 1.3.2.7 Doppelte Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Exkurs: Augustinus und Luther über Rechtfertigung – ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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2 Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2.1 Taufe als Gerechtsprechung: Der Mensch wird ganz von Gott angenommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.1.1 Taufe als Unterstelltwerden unter das Urteil der göttlichen Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.1.2 Die Sünde bleibt bis in den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2.1.3 Taufgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.1.4 Profilierung der Taufverheißung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2.2 Taufe als lebenslanges Gerechtwerden: Tägliches Sterben und Auferstehen bis zum Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.2.1 Getauftwerden bis in den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.2.2 Taufe als Bund zwischen Gott und Mensch . . . . . . . . . . . . . . 218 2.2.3 Formen der Überwindung der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2.2.4 Reales, nicht nur symbolisches Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.2.5 »Tägliche Reu und Buße« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2.2.6 »Bekehrung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2.2.7 Fortschreiten und Wachsen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3 Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.1 Das »simul« als Realgrund der lebenslangen Buße . . . . . . . . . . . . 228 3.1.1 Frühe Schriften zur Buße (1517–1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.1.2 Dritte Thesenreihe gegen die Antinomer (1538) . . . . . . . . . . 233 3.2 DieSituation konkreterBuße alsErkenntnisgrunddes »simul« . . . . 237 3.3 Das »simul« in der Auslegung von Bußpsalmen . . . . . . . . . . . . . . . 241 3.3.1 Die sieben Bußpsalmen (1517) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.3.2 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3.4 Die Totalität der bleibenden Sünde im Sündenbekenntnis . . . . . . 248 3.4.1 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.4.2 Die sieben Bußpsalmen (1517) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4 Gute Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.1 Die These: »omne opus bonum est peccatum« . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.2 Wie versteht die These das »simul«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4.3 Die Denkbarkeit des »simul« mittels der Unterscheidung von »gratia« und »donum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.4 Was ist der Grund der Rechtfertigung: »gratia« und/oder »donum«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.5 Christus unsere einzige »reale Gerechtigkeit« – der Gerechtfertigte von sich her lebenslang »totus peccator« . . . . 283 Exkurs: Zur Interpretation der Rechtfertigungslehre Luthers durch Reinhold Seeberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4.6 Die ethische Valenz der guten Werke – auch Gott gegenüber . . . . 292

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5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 5.1 Von wem spricht Römer 7? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 5.2 Wie zeigt sich der Gegensatz von Geist und Fleisch? »Facere« und »perficere« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 5.2.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5.2.2 Kleiner Galaterkommentar (1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 5.3 In Römer 7 ist von wirklicher Sünde die Rede . . . . . . . . . . . . . . . . 306 5.4 Das Ineinander und Gegeneinander von Geist und Fleisch in der Person des Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 5.4.1 Vororientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 5.4.2 Der Christ selbst sündigt – und doch nicht er selbst . . . . . . 314 5.4.3 Die Zwei-Naturen-Lehre als Analogie – Luthers schrittweise Ablösung vom Substanzdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5.4.4 Zwei ganze Menschen in einem Menschen . . . . . . . . . . . . . . 322 5.5 Zum Verhältnis von anthropologischen Konstitutionsbegriffen und soteriologischen Ganzheitsbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.5.1 Geist und Fleisch als Aussagen über den »totus homo« . . . . 328 5.5.1.1 Kleiner Galaterkommentar (1519) . . . . . . . . . . . . . . . . 328 5.5.1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) . . . . . . . . . . 332 5.5.1.3 De servo arbitrio (1525) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 5.5.2 Die Verhältnisbestimmung selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 5.5.2.1 Auslegung des Magnifikat (1521) . . . . . . . . . . . . . . . . 337 5.5.2.2 Freiheitstraktat (1520) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Totus-homo-Anthropologie oder doch Substanzdualismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 b) »Innerer Mensch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 c) »Äußerer Mensch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 6 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 6.1 Zwei Gerechtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 6.2 Zwei Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 6.3 Zwei Aspekte oder Relationen: der Christ ein »Doppelwesen« . . . . 374 6.3.1 Die zwei Prinzipien der Antinomer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 6.3.2 Die doppelte Begründung der kirchlichen Gesetzespredigt . 378 6.3.3 Thematisierungen des »simul« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 6.3.4 Aspekte oder Relationen, unter denen das »simul« ausgesagt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 6.3.4.1 Geist – Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 6.3.4.2 Im Blick auf Christus – im Blick auf mich . . . . . . . . . 388 6.3.4.3 Christianus triumphans – christianus militans . . . . 389 6.3.4.4 Der Christ als Christ – der Christ als Sünder . . . . . . 390

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6.3.5 Non esse sub lege – esse sub lege: aspekthaft-relationales oder temporäres Verständnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Exkurs: Luthers Interpretation von 1. Timotheus 1,8-9 . . . . . . . . . . . 398 6.4 Tertius usus legis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 6.4.1 Die Problemstellung und typische Lösungsmodelle . . . . . . . 406 6.4.2 Kleiner Galaterkommentar (1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 6.4.3 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) und De servo arbitrio (1525) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 6.4.4 Antinomerdisputationen (1537–1540) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 6.4.4.1 Gesetz als Weisung und Mahnung . . . . . . . . . . . . . . . 419 6.4.4.2 »Gemildertes Gesetz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 6.4.4.3 Das ins Herz geschriebene Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 424 6.4.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

II Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 1 Peccator/peccatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 1.1 Von der Tatsünde zur Ursprungssünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 1.2 Worin besteht die Ursprungssünde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 1.3 Peccatum regnans – peccatum regnatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1.4 Peccatum/crimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1.5 Die Ursprungssünde zeigt sich in Tatsünden . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 2 Iustus/iustitia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 2.1 Gerechtigkeit vor Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 2.2 Iustitia actualis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2.3 Fortschritt und Wachstum und ihre Erkennbarkeit . . . . . . . . . . . . 468 2.4 Die theologische Relevanz der »iustitia actualis« . . . . . . . . . . . . . . 474 3 Simul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 3.1 Total- und Partialaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 3.2 Zum sachlogischen Status des Urteils »totus peccator« . . . . . . . . . 484 3.3 Verhältnisbestimmungen zwischen »iustus« und »peccator« . . . . 486 3.4 Die Denkform der christologischen »communicatio idiomatum« . . 494 3.5 Auszuschließende bzw. zu integrierende Modelle der Zuordnung von »iustus« und »peccator« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 3.5.1 Keine Aufhebung der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 3.5.2 Kein ausschließlich temporales Verständnis . . . . . . . . . . . . . 505 3.5.3 Nicht nur auf die Tatsünden und die Versuchlichkeit bezogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 3.6 Der heilsgeschichtliche Sinn des »simul iustus et peccator« . . . . . 509

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III Simul iustus et peccator: Exegetische und systematischeÜberlegungen . . . 515 1 Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 1.1 Drei Aspekte der Simul-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 1.2 Der Sündenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 1.3 Das Verständnis der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 1.4 Das »simul« in zentralen Themenfeldern von Luthers Theologie . . . 521 1.5 Gottes »Absicht« mit dem »simul« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 1.6 Das »simul« und die Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 2 Kann Römer 7 einen Beitrag zur Begründung des »simul iustus et peccator« leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 2.1 Die Aufgabe: Kritisch-konstruktive Prüfung und mögliche Erweiterung der biblischen Belege Luthers für das »simul« . . . . . 526 2.2 Die Frage nach dem Subjekt von Römer 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 2.2.1 Mögliche Antworten und Luthers Position . . . . . . . . . . . . . . . 528 2.2.2 In Römer 7 spricht der Mensch vor und außer Christus . . . . 530 2.2.3 Umdeutungen Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Exkurs: Die interpretatio christiana von Römer 7 in neueren Römerbriefkommentaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 a) Argumente für die »interpretatio christiana« . . . . . . . . . . . . 538 b) Die theologischen Optionen dieser Deutung . . . . . . . . . . . . . . 541 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 2.3 Die indirekte Funktion von Römer 7 für eine Begründung des »simul«: Die Frage nach der »ἐπιϑυµία« (Röm 7,7-8) . . . . . . . . . . . . 549 2.4 Gründe für die nachpaulinische Applikation von Römer 7 auf die christliche Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 2.4.1 Die unterschiedliche kirchliche Situation bei Paulus und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 2.4.2 Herausbildung der abendländischen Subjektivität . . . . . . . . 563 2.4.3 Wegfall der urchristlichen Naherwartung . . . . . . . . . . . . . . . 568 2.4.4 Hans Hübners Begründung des »simul« durch eine »geschichtliche« Paulusinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Exkurs: Zur Debatte um Sündlosigkeit und Sünde des Christen . . . 574 a) Hermann Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 b) Paul Wernle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 c) Johannes Gottschick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 d) Hans Windisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 e) Theodor Schlatter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 f) Helmut Umbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592

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3 Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung des »simul iustus et peccator« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 3.1 Galater 5,16-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 3.1.1 Luthers Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 3.1.2 Galater 5,16-17 in der heutigen exegetischen Diskussion . . . 598 3.1.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 3.2 Matthäus 5,21-22; 5,27-28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 3.2.1 Einführendes zu den Antithesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 3.2.2 Erste Antithese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 3.2.3 Zweite Antithese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 3.2.4 Matthäus 5,21-22; 5,27-28 und das »simul iustus et peccator« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 3.3 1. Johannes 1,5-2,1; 3,4-10; 5,14-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 3.3.1 Luthers Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 3.3.2 Die in 1. Johannes erkennbare Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . 618 3.3.3 Zur Exegese der drei Textkomplexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 3.3.4 Zur Vereinbarkeit von Sünde und Sündlosigkeit des Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 3.3.5 Kennt 1. Johannes das lutherische »simul iustus et peccator«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 4 Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff . . . . . . . . 630 4.1 Der »status quaestionis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 4.2 Konkupiszenz und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 4.3 Sünde und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 4.4 Natürliche Konkupiszenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 5 Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . 653 5.1 Einwände gegen Luthers Rechtfertigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . 653 5.2 Relationale Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 5.3 Wirkungen der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 5.4 »Der Gerechtgesprochene ist auch gerecht!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 5.4.1 Der positive Sinn des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 5.4.2 Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen . . . . . . . 668 5.4.2.1 Eberhard Jüngel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 5.4.2.2 Sibylle Rolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 5.5 Einseitigkeiten und Gefahren bei Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 5.5.1 Überscharfe Konzentration auf das Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . 681 5.5.2 Relativierung des Sieges Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 5.5.3 Erlösung durch den Tod? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686

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6 Zum ekklesiologischen und interkonfessionellen Stellenwert des »simul iustus et peccator« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Kirchengemeinschaft trotz Lehrdifferenz beim »simul iustus et peccator«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Einheit und Gemeinschaft der Kirchen nach der Leuenberger Konkordie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 »Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums« . . . . . . . . . . . . . 690 Anwendung des Leuenberger Kriteriums auf das »simul iustus et peccator« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Vertiefte Interpretation des Leuenberger Ansatzes . . . . . . . . . . . . 695

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Tabelle wichtiger Simul-Stellen bei Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 1 Simul-Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 2 Varianten der Simul-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 2 Die zitierten Werke Luthers im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 3 Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742

Einleitung Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung Simul iustus et peccator – gerecht und Sünder zugleich: so lautet eine oft zitierte These Martin Luthers, die als Zusammenfassung seiner Sicht des Christenmenschen, seiner Rechtfertigungslehre, ja seiner Theologie überhaupt gilt und die nicht zuletzt etwas über Luthers eigene Selbsterfahrung und eigenes Selbstverständnis aussagt. Der Christenmensch ist – laut dieser These – einerseits von Gott »ohn alle […] Verdienst und Wirdigkeit«1 angenommen und gerecht gesprochen, aber er ist andererseits – wie andere Menschen auch – weiterhin noch ein Sünder, der sich zuweilen durchaus großer Vergehen schuldig macht. Gerade in diesem Sinn, angesichts des konkreten Versagens eines Christen oder gar kirchlichen Amtsträgers, wird dieses Wort oft im populären oder pastoralen Kontext angeführt. Freilich stellen sich dann auch schon die bekannten Bedenken und Einwände ein: Wird das so verstandene simul iustus et peccator nicht allzu leicht zur »Rechtfertigung«, Verharmlosung und Entschuldigung des Bösen missbraucht, wird Gottes Gnade damit nicht – wie schon in der Bibel zu lesen ist – zum »Deckmantel des Bösen« (1 Petr 2,16)? Ja, wird mit dem simul iustus et peccator die Gnade nicht »billig«2, weil es die erneuernde Kraft des Glaubens und der Taufe nicht mehr in einer Praxis der Nachfolge einzufordern vermag, sondern allzu schnell Vergebung zuspricht und Absolution erteilt, aber »alles beim Alten lässt«, ja beim

1 2

BSLK 511,5. Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 29–43.

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Einleitung

Alten belassen muss, weil der Mensch eben nicht zu ändern ist? Denkt Luther mit seinem »gerecht und Sünder zugleich« aber nicht zu gering von Gottes Gnade und ihrer Wirksamkeit im christlichen Leben, macht er dieses mit seinem Drang, überall die Sünde am Werk zu sehen, nicht schlechter als es tatsächlich ist – nach dem Wort Friedrich Schillers: »Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen/ Und das Erhabne in den Staub zu ziehen.«3 Luther selbst scheint freilich – anstatt solche Bedenken zu entkräften – die Provokation noch auf die Spitze zu treiben, wenn er die Kurzformel des simul iustus et peccator selbst nochmals zusammendrängt und von den »iusti peccatores«, also nicht nur von den gerechtfertigten, sondern den »gerechten Sündern« bzw. »frommen Sündern« spricht.4 Gegenläufig zu dem genannten Misstrauen gegenüber Luthers simul iustus et peccator muss freilich auch wahrgenommen werden, dass die Formel vielen heutigen Christen geradezu den Schlüssel für ihr eigenes Selbstverständnis darzureichen scheint, insofern sie ihr Christsein als gebrochen, unvollkommen, ja halbherzig erfahren und spüren, wie sehr sie noch in die »Welt« mit ihren lebenszerstörenden Mechanismen und Zwängen verstrickt sind, ja wie sehr diese »Welt« heute bis tief in die Kirche selbst hineinreicht und hineinwirkt. Was als unmittelbarer Kontext der These des simul iustus et peccator gemeinhin noch als präsent gelten darf, ist Luthers Überzeugung, dass durch die Taufe die Erbsünde zwar ihrem Schuldcharakter nach vergeben, selbst aber nicht eigentlich weggenommen, sondern nur »zugedeckt« wird. Als böse, gegen Gott gerichtete selbstsüchtige Neigung bleibt sie aber und lässt den Christen, obwohl dieser sie im Heiligen Geist bekämpft, lebenslang Sünder sein. Dieser Gedanke stellt eine wichtige, über das populäre Verständnis schon hinausgehende Präzisierung der lutherischen These des Zugleich von Sünde und Gerechtigkeit dar. Denn er macht deutlich, dass es Luther bei seiner These vom simul peccator nicht zuerst um die groben und eklatanten Verstöße gegen Gottes Gebot unter den Christen ging, sondern um die auch allem gut Gewolltem und gut Geta­ nem zugleich noch anhaftende böse Tendenz und falsche Motivation, welche die Glaubenden – trotz allem Bemühen, das selbstverständlich vorausgesetzt wird – zeitlebens nicht abzustreifen vermögen, sondern allererst mit dem Tod endgültig und ganz verlieren. Um die Rechtfertigung eines moralischen Laxismus unter Christen kann es Luther schon deshalb nicht zu tun sein. Zugleich wird hier –

Schiller, Das Mädchen von Orleans (Sämtliche Werke Bd. 1, 460). So 39 I,222,26 f.: »Dei misericordia sit super credentes et iustos peccatores, qui Christum mediatorem apprehendunt.« Dieser Satz stammt zwar aus einer Disputationsnachschrift, kann also nicht mit voller Sicherheit auf Luther selbst zurückgeführt werden, gibt aber seine Position treffend wieder. Ferner 50,431,30 ff.: »Gott hilff, du lieber Herr und Heiland, das wir frome sunder bleiben, und nicht heilige lesterer werden.« – Vgl. Luthers Selbstbezeichnung als »pauper Christi peccator« (Br 5,128,16 [an Nikolaus Hausmann, 05.08.1529]). Ähnlich Br 4,221,11 f. (an Georg Spalatin, 10.07.1527); ferner Melanchthon, Loci (1521), 264 (6,152): »Gaudet afflicta conscientia, gaudet evangelicus peccator nullum esse meritorum respectum.« 3

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wie weiterhin bekannt ist – ein konfessioneller Dissens offenbar: Anders als Luther lehre die katholische Theologie und Kirche, dass jene böse Neigung, fachtheologisch Konkupiszenz genannt, unabhängig von tathafter Sünde nicht selbst Sünde sei, sondern nur Folge der Erbsünde und Drang zu neuer Sünde, wobei aber diese Erbsünde in der Taufe restlos getilgt und weggenommen werde, so dass von daher katholischerseits ein simul von Sünde und Gerechtigkeit nicht nachvollziehbar sei. Die vorliegende Studie möchte Vorkommen, Sinn und Bedeutung der Formel simul iustus et peccator in der Theologie Martin Luthers genauer untersuchen und damit klären helfen, was es mit dem vorhandenen »Allgemeinwissen« über Luthers Formel, aber auch mit den damit verbundenen Befürchtungen und Verdachtsmomenten auf sich hat. Darüber hinaus haben sich unsere Analysen aber dafür offenzuhalten, dass Luthers Formel auch ungeahnte Chancen eröffnet, Christsein gerade heute zu verstehen und zu leben. Um den mit dem simul iustus et peccator aufgerissenen Fragehorizont abzustecken, aber auch um das Erfordernis, ja die Aktualität unserer Untersuchung aufzuzeigen, gehen wir in dieser Einleitung in sechs Schritten vor: Wir fragen zuerst nach den »Spuren«, die Luthers simul in den lutherischen Bekenntnisschriften und damit in der offiziellen kirchlichen Lehre hinterlassen hat (1. Kapitel) und wenden uns dann der genaueren Darstellung des katholischen Widerspruchs zu (2. Kapitel). Sodann stellen wir neuere katholische Annäherungen an das simul (3. Kapitel) sowie – auf das simul eingeschränkt – die Diskussion um die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1997) vor (4. Kapitel). Es folgt ein Überblick über die vorwiegend aus evangelischer Feder stammenden Einzelstudien zum simul (5. Kapitel). Abschließend geben wir Rechenschaft über die Methodik und den Aufbau der vorliegenden Arbeit (6. Kapitel). Wie erkennbar ist, wollen die Kapitel 1–5 sowohl zentrale Aspekte der Wirkungsgeschichte der simul-Formel herausstellen als auch einen Bericht über ihre Erforschung geben. Da sich beides aber mitunter überschneidet, wurde auf eine explizite Gliederung nach Wirkungsgeschichte und Forschungsbericht verzichtet.

1 Spuren des »simul iustus et peccator« in den lutherischen Bekenntnisschriften

1.1 Apologie In dem soeben schon angedeuteten präzisierten, d. h. nicht in erster Linie moralischen Verständnis hat sich das simul iustus et peccator auch in den lutherischen Bekenntnisschriften niedergeschlagen, wenngleich die Formel explizit darin nicht vorkommt. So weist Melanchthon in der Apologie (1531)1 auf den durch die Bannandrohungsbulle von Leo X. 1520 verurteilten Satz Luthers hin: »Peccatum originis manere post peccatum« (153,52 f.), präzisiert dies aber dahin, dass Luther – entgegen der wissentlichen gegnerischen Missdeutung – mit seiner These »peccatum originis reliquum sit post baptismum« (154,6 f.) sehr wohl die Vergebung, den Nachlass des »reatus« lehre, aber vom Bleiben des »materiale« der Erbsünde, also der Konkupiszenz, ausgehe. Gleichwohl bekämpfe der Heilige Geist diese Konkupiszenz, ja schaffe im Menschen »neue Regungen«.2 Der von Luther behauptete sündige Charakter der Konkupiszenz wird von Melanchthon mit dem Verweis auf Augustinus3 und Paulus (Röm 7,7.23) untermauert. Für die bleibende Sünde ergibt sich daraus, dass sie zwar nicht weggenommen, aber nicht angerechnet werde: »Hic palam [Augustinus] fatetur esse, hoc est manere peccatum, tametsi non imputetur. […] Clare enim appellant [haec testimonia] concupis­ centia peccatum, quod tamen his, qui sunt in Christo, non imputatur, etsi res sit natura digna morte, ubi non condonatur.« (154,18 f.; 155,11–15) Melanchthon lässt auch erkennen, dass jene Konkupiszenz neben der Ichsucht den ganzen Raum der inneren, unwillkürlichen negativen Affekte und Gedankenbewegungen als ihrer desideria (154,27 f.) umfasst (Zweifeln an Gottes Wort in Zorn und Gna Zum Folgenden vgl. BSLK 153,45–156,21. Alle Zitate im Text beziehen sich auf BSLK. Die von Luther selbst verfassten Bekenntnisschriften sind hier nicht berücksichtigt, da sie in den Lutherteilen unserer Studie behandelt werden. 2 Vgl. BSLK 154,7–14: »Semper ita scripsit [Lutherus], quod baptismus tollat reatum peccati originalis, etiamsi materiale, ut isti vocant, peccati maneat, videlicet concupiscentia. Addidit etiam de materiali, quod spiritus sanctus, datus per baptismum, incipit mortificare concupiscentiam et novos motus creat in homine.« 3 Zitiert wird u. a. der berühmte Satz Augustins: »Peccatum in baptismo remittitur, non ut non sit, sed ut non imputetur.« (154,16 f.) Dazu unten Teil I, Kap. 1.1, Exkurs. 1

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

de, Zornigsein über seine Gerichte, Sich-Entrüsten und Murren über Gottes vermeintliche Ungerechtigkeit, Erregtwerden durch Zorn, Gier und Sucht nach Ehre und Reichtum), welche alle kein bloßer »Zunder«, kein bloß brennbares Material darstellen, das erst durch den Funken der äußeren Versuchung zur brennenden Sünde wird. Nein, diese Regungen brennen immer schon, sind selbst Sünde und kein neutrales »Adiaphoron« (155,30–47). Dies impliziert freilich die Zurückweisung des Satzes: »nihil esse peccatum nisi voluntarium« (155,47 f.) und damit eines vornehmlich an der Tatsünde orientierten Sündenverständnisses, welches den habituellen Charakter der Sünde als einer verkehrten Grundhaltung nicht hinreichend in den Blick bekommt. Um den von der Apologie im Gefolge Luthers affirmierten Begriff der auch im Getauften noch wohnenden Konkupiszenz präzise zu erfassen, sind zwei Charakteristika besonders hervorzuheben: Einmal wird die Konkupiszenz – konträr zum überwiegenden Strom der theologischen Tradition – ganzmenschlich gefasst, d. h. nicht nur als sinnliches, sondern auch die geistige Personmitte des Menschen umgreifendes böses Streben verstanden. Zum anderen rückt sie genau aus diesem Grund eng mit der anderen gebräuchlichen Definition der Erbsünde als carentia iustitiae originalis eng zusammen. Beide verhalten sich wie der positive und negative Aspekt der einen geistigen Sünde des Menschen gegen das erste Gebot: Die Erbsünde ist Karenz als das Fehlen der dem Menschen ursprünglich zukommenden Ausrichtung auf den Schöpfer in Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottesliebe und sie ist Konkupiszenz als die daraus folgende Hinwendung des ganzen Menschen zu sich selbst und den zeitlichen Dingen.4 Fasst man die dargelegten, im Kontext des Themas »Erbsünde« getroffenen Ausführungen der Apologie zusammen, so ergibt sich daraus konsequent das simul: Der Getaufte ist und bleibt Sünder, weil die ihm weiterhin anhaftende Konkupiszenz wirklich Sünde ist und nicht erst durch bewusste Einstimmung in sie zur Sünde wird (»etiamsi perfectus consensus non accederet«: 155,34 f.), er ist aber zugleich gerecht, weil ihm diese Sünde um Christi willen nicht angerechnet wird. Ähnlich argumentiert Melanchthon bei der Behandlung der anfänglichen Gesetzeserfüllung durch den Christen in Liebe und guten Werken (194,15–196,24): Vgl. 151,45–152,12: »Eadem [wie die Bestimmung der Erbsünde als carentia iustitiae originalis] est sententia definitionis, quae exstat apud Augustinum, qui solet definire peccatum originis concupiscentiam esse. Significat enim concupiscentiam successisse amissa iustitia. Nam aegra natura, quia non potest Deum timere et diligere, Deo credere, quaerit et amat carnalia. […] Ita et defectum complectitur Augustinus et vitiosum habitum, qui successit. Neque vero concupiscentia tantum corruptio qualitatum corporis est, sed etiam prava conversio ad carnalia in superioribus viribus.« Siehe auch 152,23–32, bes. 29–32: »[concupiscentia] quaerit non solum voluptates corporis, sed etiam sapientiam et iustitiam carnalem, et confidit in bonis, contemnens Deum.« Ferner schon CA 2, wo postlapsarisches Menschsein bestimmt wird als Geborenwerden »cum peccato, hoc est sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia«. (53,2–6) Zum Ganzen vgl. Pöhlmann, Rechtfertigung, 102 ff.; ders., Konkupiszenzverständnis, 390 f. 4

Spuren des »simul iustus et peccator« in luthers Bekenntnisschriften

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Der (postlapsarische) Mensch kann prinzipiell dem auf das reine Herz und die vollkommene Gottesliebe zielenden Gesetz nicht Genüge leisten, was auch noch für den Christen gilt. Aus diesem Grund gefällt die anfängliche Gesetzeserfüllung Gott nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Glaubens an Christus willen, welcher Glaube deshalb allein rechtfertigt. Vom Gesetz allein her gilt vielmehr: »lex semper accussat nos.« (194,20) Dies gilt schon für den ganzen Innenbereich der Regungen unvollkommenen Glaubens und defizitärer Liebe zum Nächsten, welche immer von Unglaube und Selbstliebe durchsetzt sind, und für die Konkupiszenz (194,20–32).5 All dies wird mit dem Verweis auf Röm 7,19.25, Gal 5,17 sowie auf Ps 143,2 und Ps 32,2.6 gestützt und resümiert: »Semper igitur in hac infirmitate nostra adest peccatum, quod imputari poterat. […] Hic ostendit [David] sanctos etiam oportere petere remissionem peccatorum. Plus quam coeci sunt, qui malos affectus in carne non sentiunt esse peccata.« (194,42–49)

1.2 Konkordienformel In ähnlich indirekter Weise, also nicht unter Zitation der Formel selbst, wird das simul iustus et peccator auch in der Konkordienformel (1577) angesprochen, also jener letzten lutherischen Bekenntnisschrift, der es vornehmlich um die Schlichtung innerlutherischer Lehrstreitigkeiten ging. Mit Nachdruck wird zwar die These zurückgewiesen, die Erbsünde sei die Substanz, das eigentliche Wesen des Menschen, gleichwohl wird deutlich herausgestellt, dass sie eine solch tiefe Verderbnis der menschlichen Natur darstelle, »dass die Natur und solche Vorderbung der Natur niemand voneinander scheiden könne denn allein Gott, welches durch den Tod in der Auferstehung gänzlich geschehen, da unser Natur, die wir jzt tragen, ohne die Erbsünde und von derselben abgesondert und abgescheiden, auferstehen und ewig leben wird« (772,21–29). Dies impliziert, dass die Erbsünde dem Menschen bis zum Tod anhaftet, sie also auch im Christenmenschen nicht weggenommen, sondern nur »zugedeckt und vorgeben« wird, und dieser folglich auch als Gerechtfertigter simul peccator ist.6 Und zwar nicht in erster Linie als aktuell Sündigender, wird doch ausdrücklich die Auffassung verworfen, »dass die bösen Lüste [pravas concupiscentias] nicht Sünde, sondern [nur] angeschaffene, Man könnte fragen, ob concupiscentia an dieser Stelle nicht im Sinne der sinnlichen (sexuellen) Begierde verstanden ist, da sie von Unglaube und Lieblosigkeit (= falscher Selbstliebe) unterschieden wird. 6 Eine beginnende Erneuerung des Menschen im Heiligen Geist ist dadurch nicht ausgeschlossen. Sie ist aber erst eschatologisch vollendet. Vgl. 849,33–43: »Derselbe Erbschade ist so groß und greulich, dass er allein umb des Herrn Christi willen in den Getauften und Gläubigen für Gott zugedeckt und vorgeben muss werden. Es muss auch und kann die dardurch verrückte, verderbte menschliche Natur allein durch des Heiligen Geistes Wiedergeburt und Erneuerung geheilt werden, welchs doch in diesem Leben nur angefangen, aber allererst in jenem Leben vollkommen wird.« 5

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

wesentliche Eigenschaften der Natur seien, oder als wäre der obgemelte Mangel oder Schade nicht wahrhaftig Sünde, darumb der Mensch außerhalb Christo ein Kind des Zorns sein sollte« (773,4–10).7 Legt man diese Damnation streng nach ihrem Wortlaut aus, so muss festgestellt werden, dass sie ausschließlich die Konkupiszenz vor der Taufe in den Blick nimmt und, wie ihre Parallelstelle im zweiten Teil der Konkordienformel, der sog. Solida Declaratio, zeigt,8 sich primär gegen eine pelagianische Abschwächung der Erbsünde überhaupt wendet, die nicht die Lehre des Konzils von Trient darstellt. Daraus kann man natürlich folgern, dass von der Konkordienformel auch indirekt die Negation des Sündencharakters der postbaptismalen Konkupiszenz abgelehnt wird, aber direkt verworfen und als kirchentrennend statuiert wird diese katholische Position hier nicht.9 Eine die simul-Formel nahezu erreichende Ausführung findet sich in den die Rechtfertigung betreffenden Erläuterungen der Solida Declaratio: Die Lehre, dass wir durch das Wirken des Heiligen Geistes neugeboren und gerecht werden, darf nicht so verstanden werden, dass uns keine Sünde und Ungerechtigkeit mehr anhaftet, sondern ist vielmehr so auszulegen, dass Christus mit seinem vollkommenen Gehorsam all jene Sünden »zudeckt«, die in diesem Leben noch »in der [menschlichen] Natur stecken«. Die Christen werden »für fromb und gerecht gesprochen und gehalten [boni et iusti pronuntiantur et reputantur], ob sie gleich ihrer verderbten Natur halben noch Sünder sein und bleiben bis in die

Vgl. 846,34–847,13: Sünde ist nicht erst die aktuelle Übertretung der göttlichen Gebote, sondern schon die dieser als »Natur-« bzw. »Personsünde« zugrunde liegende Erbsünde als einer fundamentalen Verzerrung der menschlichen Person, welche »Wurzel und Brunnquell« aller einzelnen bösen Taten darstellt. 8 Vgl. 850,11–29. 9 So Beißer, Rechtfertigungslehre, 212 f., und wohl auch Wenz, Damnamus, 88–91. – Ähnlich verhält es sich schon in CA 2, wo die Erbsünde als Sein »sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia« (deutsch: »voll boser Lust und Neigung«) beschrieben und gelehrt wird, »quodque hic morbus seu vitium originis vere sit peccatum, damnans et afferens mortem his, qui non renascuntur per baptismum et spiritum sanctum.« Verworfen werden dann aber nur »Pelagiani et alii, qui vitium originis negant esse peccatum« (53,5–15), nicht aber die, welche die Einschätzung der Konkupiszenz nach der Taufe als Sünde zurückweisen. Mit den »alii« dürften gewisse spätscholastische Schulrichtungen sowie Zwingli und die Wiedertäufer angesprochen sein. Skopus der Verwerfung ist es, die völlige Angewiesenheit des Menschen auf Christus und damit die »gloria meriti et beneficiorum Christi« herauszustellen (53,16–20). Die Frage, was mit der Erbsünde in der Taufe geschieht, kann aus CA 2 nur erschlossen werden: Sie verdammt nicht mehr zum ewigen Tod. Darüber, ob das, was von ihr »zurückbleibt«, von sich her weiter Sünde ist, wird explizit keine Aussage getroffen. In der Apologie musste Melanchthon dieses Thema behandeln, da die katholische Confutatio einwandte, dass die Identifikation von Erbsünde und Konkupiszenz in CA 2 so verstanden werden könne, dass die Erbsünde in den Getauften bleibt. Zum Ganzen siehe Wenz, a. a. O., 84 f.; Pfnür, Verwerfungen, 192–202, bes. 193; Grane, Confessio, 34–38. 7

Spuren des »simul iustus et peccator« in luthers Bekenntnisschriften

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Gruben« (921,19–37).10 Weil unsere gnadenhaft gewirkte Erneuerung also immer von der Sünde bzw. dem Fleisch durchwirkt ist, mithin irdisch immer unvollkommen bleibt,11 kommt sie für unsere Rechtfertigung coram deo nicht in Betracht, sondern Letztere gründet ausschließlich in der sola fide empfangenen »gnädigen Zurechnung der Gerechtigkeit Christi [benignissima imputatione iustitiae Christi], ohne Zutun unser Werk, dass uns unser Sünde vergeben und zugedeckt sind und nicht zugerechnet werden [remissa et tecta sint neque nobis imputentur]« (922,11–16).12 Schließlich begründet die Konkordienformel die Fortgeltung der anklagenden Wirkweise des Gesetzes auch bei den Christen mit deren bleibendem Sündersein bzw. der Unabgeschlossenheit der Erneuerung: Sie existieren in der spannungsgeladenen Simultaneität von Fleisch und Geist bzw. altem und neuem Menschen und stehen qua Fleisch bzw. altem Menschen noch unter dem usus legis theologicus.13 Als Ergebnis kann somit festgehalten werden: Luthers simul kommt zwar nicht der Formel, wohl aber der Sache nach in den lutherischen Bekenntnisschriften vor und stellt insofern nicht nur ein privates Theologumenon dar, sondern gehört zur kirchlichen Lehre des Luthertums.

Lateinische Fassung: »etiamsi ratione corruptae naturae suae adhuc sint maneantque peccatores, dum mortale hoc corpus circumferunt.« – Einer dadurch womöglich Vorschub geleisteten ethischen Erschlaffung wird sofort entgegengetreten: »Wie es dann hinwiederumb die Meinung nicht hat, als dorften oder sollten wir ohne Buß, Bekehrung und Besserung der Sünden folgen, darin bleiben und fortfahren.« (921,37–41) 11 Vgl. 922,8–11: »Weil die angefangene Verneuerung in diesem Leben unvollkommen und die Sünde noch im Fleisch auch bei den Wiedergeborenen wohnet […].« 12 Vgl. 923,18–26; 925,5–23; 925,46–926,6. 13 Vgl. 794,12–34; 964,30–965,9; 967,10–968,4; 969,15–35. 10

2 Der katholische Widerspruch

2.1 Trient Der lehramtliche katholische Widerspruch gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre wurde in ausführlicher Form auf dem Konzil von Trient (1545–1563) und hier insbesondere im Dekret über die Erbsünde (1546) sowie im Dekret über die Rechtfertigung (1547) formuliert, wobei Letzteres neben Verwerfungen konträrer Positionen auch eine ausführliche positive Darstellung der katholischen Rechtfertigungslehre bietet. Wird – wie gezeigt – das simul iustus et peccator in den lutherischen Bekenntnisschriften nicht als Formel, sondern nur von der Sache her rezipiert, so wendet sich auch das Trienter Konzil gegen die Sache des simul, erwähnt oder verurteilt die Formel selbst aber nicht.14 Das mag vielleicht damit zusammenhängen, dass den Konzilsvätern die explizite Formel aufgrund ihrer schmalen Lutherkenntnisse nicht bekannt war.15 Ausgehen konnten sie dabei von den in der Bannandrohungsbulle »Exsurge Domine« bereits inkriminierten Sätzen Luthers, welche auf das remanens peccatum bzw. auf den als Sünde eingestuften fomes peccati Bezug nahmen (DH 1452 f., 1481 f.). Positiv wird durch diese Verurteilung im Umkehrschluss gelehrt: Es bleibt nach der Taufe keine Sünde im Getauften, und der fomes peccati ist ohne aktuelle Sünde selbst keine Sünde. Genau diese beiden Positionen vertritt auch das Erbsündendekret durch seine Verwerfungen. Hier wird derjenige anathematisiert, der behauptet, in der Taufe »non tolli totum id, quod veram et propriam peccati rationem habet, sed illud dicit tantum radi aut non imputari«. Dies wendet sich16 einmal gegen die

Vgl. Walter, Sündigkeit, 28683, 293, der in der Wortmeldung des Fransziskanerobservanten Vincentius Lunellus während der Diskussion um die doppelte Gerechtigkeit die einzige wörtliche Übereinstimmung mit der simul-Formel in den Konzilsakten ausmacht: »Alioquin, si ope aliena iustus ad amicitiam adipiscendam Dei egeret, certe idem iustus et iniustus censeretur, quod maxime falsum est.« (CT V 524) Der Kontext ist folgender: Bedürfte der Gerechtfertigte mit seiner ihm inhärierenden Gerechtigkeit (etwa im Moment des Todes) noch ergänzend der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, also einer doppelten Gerechtigkeit, so wäre er eben als Gerechtfertigter simul iustus et peccator, was aber abzulehnen ist. Die Konzeption der doppelten Gerechtigkeit, welche Luthers simul zumindest nahekommt, hatte der General der Augustinereremiten Gerolamo Seripando vertreten. Dazu Walter, ebd., 282–301; Pöhlmann, Rechtfertigung, 370 und unten Anm. 70. 15 Zur Frage, auf welcher Quellenbasis die Verurteilung der reformatorischen Lehre erfolgte, vgl. Iserloh, Luther, 162–166. 16 Die Zurückweisung der bloßen «Abschabung« (radi) der Sünde bezieht sich auf einen 14

Der katholische Widerspruch

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Interpretation der Rechtfertigung als bloßer non-imputatio der Sünde, wie man offenbar Luthers Rechtfertigungslehre verstanden hat, sowie gegen die damit verbundene Vorstellung vom Bleiben der Erbsünde. Demgegenüber wird unter Bezug auf verschiedene Paulus-Zitate herausgestellt, dass die Taufe eine wirkliche Erneuerung der Gerechtfertigten mit sich bringt. Die nach der Taufe aber verbleibende Konkupiszenz bzw. der Zunder (fomes) ist zwar zum Kampf zurückgelassen (»ad agonem relicta«), vermag aber denen, die ihr nicht zustimmen (»non consentientibus«), sondern Widerstand leisten, nicht zu schaden. Wenn auch der Apostel Paulus diese Konkupiszenz mitunter selbst Sünde nenne, so hat dies doch die katholische Kirche nie dahin verstanden, »quod vere et proprie in renatis peccatum sit, sed quia ex peccato est et ad peccatum inclinat«. Die gegenteilige Position wird mit dem Anathema belegt (DH 1515).17 Es ist zu vermuten, dass das Konzil unter Konkupiszenz ausschließlich das inferiore, sinnliche Begehren des Menschen versteht, also nicht jenen ganzheitlichen, den Personkern einbeziehenden Konkupiszenzbegriff Luthers bzw. der Bekenntnisschriften zugrunde legt.18 Das implizierte dann, dass die reformatorische Statuierung der Sündigkeit der Konkupiszenz, auch wenn man sie eigentlich treffen wollte, faktisch nur indirekt verurteilt worden wäre, weil ihr Konkupiszenzbegriff ein anderer als der anathegegen Augustinus von dem Pelagianer Julian von Eclanum erhobenen Vorwurf. Vgl. Markschies, Taufe, 99 f.; Walter, Sündigkeit, 277 f. 17 Diese Aussage des Konzils lässt es offen, ob die Konkupiszenz prinzipiell nur eine Disposition zur Sünde darstellt oder ob dies nur beim getauften Christen so ist und die Konkupiszenz vor der Taufe als Sünde erachtet werden muss. Dazu Pöhlmann, Rechtfertigung, 124 f. (für die erste Möglichkeit votierend); Lehrverurteilungen I, 52. Beide Positionen können sich auf Augustinus berufen (s. u. Teil I, Kapitel 1, Exkurs), und die letztgenannte wird z. B. von dem Erfurter Theologen Johann von Paltz, Suplementum Celifodine (1502), vertreten: »Concupiscentia ante baptisma contracta […] nihil aliud est quam peccatum originale. […] Alia autem est concupiscentia post baptisma relicta. […] Post baptismum […] pena tantum est et non culpa. Cum enim deletur originale, non deletur, ut omnino non sit, sed ut non sit peccatum« (zitiert nach WA 56, Anm. zu 273,10). Hiernach wäre die Konkupiszenz als dominante Sinnlichkeit durch die Wegnahme des reatus beim Getauften gleichsam verwandelt, wobei zu fragen ist, ob diese Sicht konsequent ist: Warum soll die Konkupiszenz, obwohl sie nach der Taufe fortbesteht, nunmehr keine Sünde, also nicht mehr gegen Gott gerichtet sein? Ist hier dann nicht die reformatorische Position stimmiger, wonach die Konkupiszenz (als geistliche Konkupiszenz) auch nach der Taufe Sünde ist, aber eben unter der permanenten Vergebung Gottes steht? Eine gewisse Stimmigkeit gewönne die genannte Sicht, wenn die Konkupiszenz als Emanzipation der Sinnlichkeit von der Vernunft eine Sündenfolge bzw. -strafe wäre, die nur oberflächlich, eben weil Gott es so will, mit einem reatus belegt wäre, der dann in der Taufe hinweggenommen würde. Aber dies stellte dann eine fatale Unterbestimmung des Phänomens der Konkupiszenz dar. Die nachtridentinische katholische Lehrentwicklung festigte jedenfalls jene Position, derzufolge die Konkupiszenz in genere nur eine Anfälligkeit zur Sünde bildet. Vgl. die Verurteilung der anderslautenden Sätze des Baius 1567: DH 1946, 1950 f., 1974 ff. (immer geht es freilich um einen auf die Sinnlichkeit eingeengten Konkupiszenzbegriff). 18 So Brunner, Rechtfertigungslehre, 145.

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

matisierte ist. Indirekt verurteilt ist die reformatorische These von der nach der Taufe bleibenden sündhaften ganzmenschlichen Konkupiszenz jedoch insofern, als das Erbsündendekret, wie erwähnt, durch die Taufe alles weggenommen sieht, was Sünde im eigentlichen Sinn ist. Gott hasst an den Wiedergeborenen nichts, da nach Röm 8,1 nichts Verdammenswertes mehr in ihnen ist.19 Das Rechtfertigungsdekret von 1547 stellt zunächst heraus, dass Rechtfertigung nicht nur Nachlass der Sünden bedeutet, sondern auch eine Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen, wodurch der Mensch tatsächlich aus einem Ungerechten zu einem Gerechten, aus einem Feind zu einem Freund Gottes werde (DH 1528). Mit der Sündenvergebung werden dem Menschen zugleich Glaube, Hoffnung und Liebe eingegossen (»infusa«) und haften ihm innerlich als neue Qualität an (»inhaeret«; DH 1530). Dabei wird zugestanden, dass die Gerechtfertigten durchaus in lässliche Sünden fallen können, diese aber nicht zum Verlust der Rechtfertigungsgnade führen. Gleichwohl kommt auch ihnen die Bitte zu: Vergib uns unsere Schuld! (DH 1537; vgl. DH 1573)20 Verworfen wird aber die These, Nach den Konzilsakten muss davon ausgegangen werden, dass man Luthers Position hinsichtlich der Konkupiszenz (die Konkupiszenz fällt mit der Erbsünde in eins bzw. ist Sünde und sie bleibt als nicht imputierte im Getauften) tatsächlich verurteilen wollte. Ebenfalls wird ersichtlich, dass die Mehrheit der Konzilsteilnehmer einen eingeschränkten Konkupiszenzbegriff vertrat und die Konkupiszenz sowohl vor als auch nach der Taufe nicht als Sünde erachtete. Nur eine Minderheit um Gerolamo Seripando sah die Konkupiszenz als (nach der Taufe nicht angerechnete) Sünde. Seripando erblickte in ihr die »radix peccatorum« und vertrat sogar einen ganzheitlichen Konkupiszenzbegriff (»totius hominis inordinatio«). Vgl. Pöhlmann, Rechtfertigung, 124–128; ders., Konkupiszenzverständnis, 392 ff.; Walter, Sündigkeit, 269–282. Es muss indessen die Möglichkeit erwogen werden, dass die Konzilsväter den weiteren Konkupiszenzbegriff zumindest der Sache nach gekannt haben und ihn unter der privatio iustitiae originalis mitverstanden (vgl. DH 1511: Positiv gilt, dass »primum hominem Adam, cum mandatum Dei in paradiso fuisset transgressus, statim sanctitatem et iustitiam, in qua constitutus fuerat, amisisse […], totumque Adam per illam praevaricationis offensam secundum corpus et animam in deterius commutatum fuisse«). Aber die so gedeutete Konkupiszenz bleibt dann nicht nach der Taufe, sondern wird durch die Rechtfertigung geheilt. Letzteres wird von Pöhlmann, Rechtfertigung, 127, 134 f. bzw. ders., Konkupiszenzverständnis, 394 f., nicht bedacht, der zudem in der ganzen Überlegung mehr als eine Hypothese sieht und deshalb von einer faktischen Übereinstimmung zwischen Trient und Luther in der Einschätzung der Konkupiszenz vor der Taufe ausgeht. 20 Schon die antipelagianische Synode von Karthago (418) anathematisierte den, welcher diese von den Heiligen gesprochene Vaterunser-Bitte so auslegen wollte, »ut non pro seipsis hoc dicant, quia non est iam necessaria ista petito, sed pro aliis qui sunt in suo populo peccatores, et ideo non dicere unumquemque sanctorum: ›Dimitte mihi debita mea‹, sed: ›Dimitte nobis debita nostra‹, ut hoc pro aliis potius quam pro se iustus petere intellegatur.« (DH 229) Ebenso wird die Meinung verurteilt, die Heiligen beteten diese Bitte derart, »ut humiliter, non veraciter hoc dicatur«. (DH 230) Schon zuvor war ein Verständnis von 1.Joh 1,8 f. abgelehnt worden, »ut dicat [quisquis] propter humilitatem oportere dici, nos habere peccatum, non quia vere ita est. […] Ubi satis apparet, hoc non 19

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dass die Gerechtfertigten im guten Werk selbst leicht oder sogar schwer sündigen (DH 1539), eine Damnation, die aus der Abweisung des Sündencharakters der Konkupiszenz notwendig folgt. Durch Unglauben oder jede andere Todsünde (die für die Konzilsväter durchaus nicht den Verlust des Glaubens implizieren muss!), geht dagegen die Rechtfertigungsgnade selbst verloren, so dass diese nur durch das Bußsakrament wiedererlangt werden kann (DH 1542 ff.). Sind all diese positiven Ausführungen schon gegen die lutherische Rechtfertigungslehre und damit gegen das simul gerichtet, so wird dies in den angefügten Canones, die jeweils explizit eine Verurteilung aussprechen, noch deutlicher. Von diesen kommen zwei für unser Thema in Betracht: Kanon 11 stellt den unter Anathem, der behauptet, die Menschen würden gerechtfertigt »vel sola imputatione iustitiae Christi, vel sola peccatorum remissione«, unter Ausschluss jener Gnade und Liebe, die in ihren Herzen durch den Heiligen Geist ausgegossen wird und ihnen innerlich anhaftet.21 Sodann wird im selben Kanon ebenfalls ausgeschlossen, wer die rechtfertigende Gnade als reine »Gunst Gottes« (»tantum favor Dei«) bestimmt (DH 1561). Im Blick auf die guten Werke weist der Kanon 25 die Meinung zurück, das der Gerechte in jedem guten Werk lässlich oder tödlich sündige und nur deshalb nicht verdammt werde, weil Gott diese Werke nicht zur Verdammnis anrechne (»non imputet«; DH 1575). Hier wird direkt auf einschlägige Aussagen Luthers Bezug genommen, die, wie unsere Arbeit zeigen wird, in engem Zusammenhang mit dem simul iustus et peccator stehen.22 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Tridentinum sich gegen ein Verständnis von Rechtfertigung wendet, wonach diese den Gerechtfertigten als bloß imputierte nur äußerlich berührt und nicht innerlich verändert, so dass die Erbsünde zwar vergeben, aber nicht getilgt wird. In eins damit orientiert sich das Konzil an einem Sündenbegriff, welcher das Schwergewicht auf die Tatsünde als Übertretung göttlicher Gebote legt, so dass von daher die Konkupiszenz selbst – wenn nicht insgesamt, so doch in jedem Fall die in den Getauften verbleibende,

tantum humiliter, sed etiam veraciter dici.« (DH 228) Diese Kanones sind als Beleg für ein katholisches simul iustus et peccator über ihre inhaltlichen Feststellungen hinaus auch deshalb von Bedeutung, weil sie – neben den genannten – auf zahlreiche Schriftstellen rekurrieren, die dann auch Luther durchgängig für das simul anführen wird. 21 Vgl. DH 1529: »[…] qua [iustitia Dei] videlicet ab eo donati renovamur spiritu mentis nostrae, et non modo reputamur, sed vere iusti nominamur et sumus.« 22 Vgl. Teil I, Kapitel 4. Ähnlich Pesch, Canones, 267 f., bes. 267: »Canon 25 spielt sogar auf Luthersätze an.« Pesch fährt dann aber erstaunlicherweise fort: »Canon 25 trifft geradezu messerscharf neben Luthers wirkliche Lehre.« Nach Pöhlmann, Rechtfertigung, ist Luthers simul durch Trient nicht getroffen, da dieser es nicht als »theoretischen«, sondern nur als »praktischen Erfahrungssatz« (ebd., 362) vertreten habe, den Trient aber gar nicht bestreite: »Das lutherische Simul [wurde] vom Tridentinum nur als theoretischer Grundsatz – und das heißt doch überhaupt nicht – verdammt.« (ebd., 371; vgl. ebd., 361—373, 380; ders., Konkupiszenzverständnis, 39533). Ob diese Deutung haltbar ist, wird unsere Arbeit zu zeigen haben.

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sei sie nun subpersonal oder personal verstanden – nicht als Sünde zu werten ist. Beides muss als gegen die Sache des simul iustus et peccator, wie wir sie bisher aus den lutherischen Bekenntnisschriften erhoben haben, gerichtet verstanden werden, ja diese Sache muss als förmlich anathematisiert und d. h. als kirchentrennend statuiert angesehen werden.23

2.2 Johann Adam Möhler Zur Profilierung des katholischen Einspruchs gegen das simul iustus et peccator werfen wir einen Blick auf Johann Adam Möhlers »Symbolik« (1832)24, dem kontroverstheologischen Standardwerk der sog. Katholischen Tübinger Schule, welches – so der Untertitel – eine »Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften« geben will. In seiner Auseinandersetzung mit dem lutherischen Sünden- und Rechtfertigungsbegriff, in der er nicht nur auf die offiziellen Bekenntnistexte, sondern auch auf Luther selbst rekurriert, gibt er mit einem Mindestmaß an Polemik eine systematisch tiefdringende kritische Analyse der reformatorischen Position. Dabei geschieht auch bei Möhler die Auseinandersetzung mit dem lutherischen simul ohne Erwähnung der Formel selbst. Da Möhler mitunter den Großen Galaterkommentar Luthers zitiert, hätte sie ihm eigentlich bekannt sein müssen. Vermutlich besaß die Formel aber damals noch nicht die theologische Indikatorenfunktion, Damit ist nicht behauptet, dass die Konzilsväter die reformatorische Rechtfertigungslehre, etwa hinsichtlich ihres ethisch erneuernden Potentials, voll erfasst hätten. Gleichwohl muss ihr Widerspruch gegen das simul deshalb nicht als Missverständnis gedeutet werden, da sowohl für Luther wie auch für die Apologie und die Konkordienformel – anders als für Trient – die Liebe bzw. die Erneuerung niemals in die Rechtfertigung vor Gott eingeht. Da Pesch, Canones, 258 f., dies nicht berücksichtigt, urteilt er, dass Luther von Canon 11 des Rechtfertigungsdekrets »sachlich nicht getroffen [ist], sofern nichts, was dem Konzil am Herzen liegt, bei Luther fehlt, weder die neuschaffende Macht der rechtfertigenden Gnade noch die ethische Auswirkung und schon gar nicht der entscheidende und strenge Zusammenhang zwischen dem Rechtfertigungsgeschehen und dem Heilshandeln in Christus« (259). Wie ja auch Pesch, ebd., 256 f., einräumen muss, dass die verurteilte Auffassung in Canon 10 (DH 1560), wonach wir durch Christi iustitia »formaliter« (= wirklich, wesentlich) iusti seien, durchaus Luther richtig wiedergibt: Christi Gerechtigkeit ist wahrhaft unsere Gerechtigkeit! Auch Pöhlmann, Rechtfertigung, sieht in der Frage, was vor Gott gilt, letztlich zwischen Luther (bzw. den lutherischen Bekenntnisschriften) und Trient keinen Gegensatz, da bei beiden nur eine jeweils (polemisch bedingte) unterschiedliche Akzentuierung zwischen imputativer und effektiver Rechtfertigung vorliege (ebd., 313–344) und auch für Trient das göttliche Rechtfertigungsurteil in allen Phasen des Getauften (d. h. auch im letzten Gericht) eigentlich synthetisch, also die Gerechtigkeit herstellend, und nicht analytisch, d. h. sie feststellend, sei (ebd., 352–359). Wir vermögen uns dieser Lesart des Trienter Rechtfertigungsdekrets nicht anzuschließen. 24 Alle Zitate im Folgenden nach Möhler, Symbolik I. 23

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die ihr heute zukommt. Möhler sieht – ähnlich wie Trient – den Schaden bei Luther in einem Doppelten: einmal im falschen Sündenbegriff und zum anderen in der primär äußerlichen Fassung der Rechtfertigung als bloßer Gerechterklärung, die eine innere Erneuerung des Menschen durch die Gnade nicht zulasse. Das radikale lutherische Sündenverständnis interpretiert Möhler dahin, dass durch den Sündenfall der Mensch nicht mehr auf Gott hin geöffnet und für Gott ansprechbar sei, mithin der Mensch »einen integrierenden Teil seines geistigen Wesens« verloren habe und an dessen Stelle ein »entgegengesetztes Wesenhaftes« getreten sei. Der Eintritt der Sünde in die Menschheit bedeutet für Luther in der Sicht Möhlers also eine Substanzveränderung am Menschen: Das Bild Gottes als Vermögen, Gott zu erkennen und zu lieben, wird im Menschen zerstört und eine »neue Essenz«, eben die Erbsünde, in den Geist eingefügt. Die Sünde wird so zur Substanz des Menschen, so dass der Mensch nun von Natur aus mit innerer Notwendigkeit sündigt, eine Vorstellung, die für Möhler ursprünglich im gnostisch-manichäischen Raum beheimatet ist (107 f.).25 Wenn die lutherische Position weiter lehrt, »daß die Erbsünde selbst nicht durch die Wiedergeburt, selbst nicht durch Gotteskraft aus dem Menschen, solange er hienieden lebt, verschwinde«, so deute dies ebenfalls auf das »Essentielle« der Erbsünde hin (110), wie umgekehrt die Essentialisierung der Sünde für Möhler wohl den letzten Grund für das simul peccator des Gerechtfertigten darstellt: Denn ist die Sünde zur Natur des Menschen geworden, dann vermag selbst Gott durch seine Gnade irdisch die Sünde nicht zu tilgen, ohne den Menschen selbst zu zerstören, sondern kann ihn nur für gerecht erklären.26 Freilich löst für Möhler die Substantialisierung der Sünde deren Schuldcharakter letztendlich auf: Die durch den Sündenfall erfolgte »Vertilgung eines natürlich geistigen Vermögens« in ethisch-religiöser Hinsicht führt dazu, dass »von gar keiner Sünde mehr von Adam bis auf Christus gesprochen werden könne, und alles moralische Übel sich in ein physisches umwandle« (112). Diese Wesenssünde des Menschen ist – so Möhler weiter – jene »auch nach der Rechtfertigung […] zurückbleibende Begierlichkeit, der bloße Reiz zur Sünde«, der aber die »Sünde an und für sich, und zwar als die noch vorhandene Erbsünde, darstellt«. So wird aber die »Unterscheidung zwischen der bloßen Empfindung des Als antimanichäisch stuft Möhler (110 f.) freilich wiederum alle Aussagen der Reformatoren ein, in denen Gott selbst mehr oder weniger zum Urheber der Sünde erklärt wird. 26 Diese von Möhler nicht direkt ausgesprochene Überlegung ist freilich nicht ganz konsequent, weil ja schon der Sündenfall nach Luther eine Wesensveränderung des Menschen bewirkt haben soll. Warum aber konnte dann die Gnade nicht eine neuerliche Wesens­ umwandlung bewirken? Diese Inkonsequenz behebt sich für Möhler aber deshalb, weil der Eintritt der Sünde, d. h. das Erscheinen der Konkupiszenz, nach seiner Auffassung für die Reformatoren letztlich schon im endlichen Wesen des Menschen selbst begründet und deshalb notwendig war. Wollte Gott den Menschen davon befreien, so wäre dies in der Tat dann die einzige und den Menschen in seinen irdischen Bedingungen aufhebende Wesensveränderung. Dazu unten. Die Einfügung einer »neuen Essenz« in den Geist ist für Möhler prinzipiell ein Ungedanke (107). 25

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Reizes zur Sünde und der Einwilligung in denselben« nivelliert (176 f.; vgl. 109 f.), da Ersterer schon Sünde ist auch ohne willentliches Eingehen auf ihn, ja sogar dann, wenn ihm aktiv Widerstand entgegengesetzt wird. Genau dies hat aber zur Folge, dass das Böse »als etwas für sich, unabhängig vom Willen und außer demselben Existierendes«, eben als positive »Wesenheit« angesehen wird (183).27 Wie schon angedeutet, zeigen sich die Folgen dieses Ansatzes für Möhler zwangsläufig in der Rechtfertigungslehre: »Die Rechtfertigung im protestantischen Sinne ist ein richterlicher Akt Gottes, wodurch der gläubige Sünder von den Strafen der Sünde, aber nicht von dieser selbst befreit wird, während die Katholiken einerseits die Vergebung der Sünde, Schuld und Strafe, anderseits die positive Heiligung in gleicher Weise durch die rechtfertigende Tat Gottes erfolgen lassen.« (175; Hv.) Für die Protestanten bleibt die Gerechtigkeit in Christus, geht also auf die Gläubigen »nicht innerlich« über und tritt zu ihnen nur in ein äußerliches Verhältnis: »Sie bedeckt nämlich die Ungerechtigkeit derselben, und zwar nicht bloß die vergangene, sondern die bleibende, indem durch die Rechtfertigung der Wille nicht geheilt wird.« (176) Während dem katholischen Lehrbegriff zufolge sich Christus im Menschen lebendig und ihn innerlich umschaffend einprägt, wirft nach dem protestantischen Lehrbegriff »Christus nur seinen Schatten auf den Gläubigen, unter welchem die fortwährende Sündhaftigkeit nur nicht bemerkt wird« (176). Im Anschluss daran zitiert Möhler auch jene von uns oben angeführte Stelle der Konkordienformel, welche fast an die simul-Formel heranreicht. Was Möhler hier als zentralen Fehler des lutherischen Bekenntnisses kritisiert, ist klar der Tatbestand des simul, man wartet geradezu darauf, dass er die Formel expressis verbis bringt.28 Die Lehre, dass die Rechtfertigung nur in der »Erklärung des Sündennachlasses«, nicht aber in der »Entsündigung« bestehe, zieht für Möhler nun verderbliche ethische Folgen nach sich. Ist der Gerechtfertigte »in sich selbst betrachtet, ebenso sehr Sünder und verdammlich […], als der Ungerechte, so wird zwischen

Vgl. 183: »Lehren die Katholiken, daß nur in dem Falle, daß die vom Fleische ausgehende Sollizitation zur Sünde mit Selbstbewußtsein festgehalten, und vom Willen empfangen werde, der wirkliche Charakter einer Sünde zum Vorschein komme, so behaupten die Lutheraner und Reformierten mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen, jene Sollizitation sei an sich schon Sünde, auch wenn sie mit entschiedenem Widerstreben abgewiesen werden sollte.« Möhler versteht durchgängig »Fleisch« bzw. Konkupiszenz im Sinne der durch die Sünde aus der Dominanz des menschlichen Geistes entbundenen Sinnlichkeit. 28 Vgl. auch Möhler, Untersuchungen, 183: »Beide [protestantische und katholische Lehre] stimmen mit einander darin überein, daß der Mensch ohne Christus auch ohne Gerechtigkeit sei; nach beiden Lehrbegriffen ist also die Gerechtigkeit in dem Gott entfremdeten Zustande außer dem Menschen. Aber das protestantische Dogma behauptet überdies noch, daß auch in dem zu Christus bekehrten Menschen keine Gerechtigkeit sei, die vor Gott gilt, d. h. daß der Mensch in sich selbst Gott stets mißfällig, ein verwerflicher und verdammlicher Sünder sei, so daß er nur durch den Glauben an die Gerechtigkeit Christi, die ihm imputirt worden, für gerecht erklärt werde, ohne gerecht zu sein.« 27

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dem Bekehrten und Unbekehrten dem moralischen Sein nach ein innerer und wesentlicher Unterschied nicht anerkannt« (177) und die biblischen Gegensätze von altem und neuem Menschen, von Geburt und Wiedergeburt verlieren ihre Trennschärfe, ja ihre sittliche Bedeutung. Da der Mensch primär Sünder ist und auch als Gerechtfertigter Sünder bleibt, verwischt sich zudem der Unterschied zwischen lässlicher Sünde und Todsünde, da alle Tatsünden nur sekundäre Folgeerscheinung des bösen Persongrundes sind. So wird deutlich, »zu welchem sittengefährlichem Lehrvortrage ein System führt, das zwischen der Empfindung des Reizes zur Sünde und der Einwilligung in denselben nicht wesentlich unterscheidet: indem jener, solange wir leben, unvermeidlich ist, erscheint diese als immer zugleich vorhanden, und vom Standpunkte der sittlichen Würdigung aus die Tat nicht strafwürdiger als die unwillkürliche sinnliche Lockung zu derselben« (178). Möhler erblickt im simul peccator des Gerechtgesprochenen auch schlicht einen sachlichen und logischen Widerspruch: »Wirklich ein wunderlicher Heiliger, der [noch] das Seinige sucht, und nicht Christi Ruhm; ebenso seltsam die Verbindung von Begriffen, wenn uns zugemutet wird, einen geizigen, unzüchtigen Heiligen zu denken; denn nach den Gesetzen der Logik hebt das Subjekt das Prädikat auf. […] Eine solche verworrene Redeweise hat in der Konfundierung wesentlich verschiedener Begriffe ihren Grund, und man müßte sich sehr wundern, wenn die Gleichsetzung des zu Unterscheidenden, ja des Entgegengesetzten im Begriff und im Wort, nicht auch eine Gleichhaltung im Leben haben sollte.« (179) Möhler weiß natürlich, dass die lutherischen Texte durchaus von einer der Rechtfertigung als Frucht folgenden Heiligung und Erneuerung des Menschen sprechen, jedoch kommt diese für ihn gleichsam immer zu spät: Sie kann nur eine Schwächung, nicht aber eine wirkliche Tilgung der Erbsünde und so auch keine echte Erneuerung bewirken. »Denn indem nur eine Schwächung, nicht eine Tilgung der Erbsünde als solcher zugegeben wird, kann zugleich auch nur eine graduelle, nicht wesentliche sittliche Verschiedenheit zwischen dem alten und neuen Menschen behauptet werden.« (180 f.) Durch den Einfluss Christi wird der Mensch sittlich wohl etwas besser, aber sittlich kein anderer Mensch. »So kann strenggenommen von einer eingetretenen Heiligung gar nicht die Rede sein, im inneren Lebensgrunde sind sich beide [Christ und Heide] gleich, nur in der Zucht sind sie verschieden.« (181) An dieser Stelle zeigt sich nochmals, wie die Sündenlehre die Rechtfertigungslehre präformiert: Die Erbsünde »wurde so tief in das Wesen des Menschen eingegraben, dass diese [die Rechtfertigung] sich mit der Oberfläche begnügen musste« (182). Wir können deshalb gar nicht »vom Grunde aus wiedergenesen […], und indem wir nicht können, es auch nicht bedürfen«, Christus ist ja »außer uns« unsere Gerechtigkeit (182 f.). Möhler zieht eine letzte Konsequenz: Gott verbirgt nach lutherischem Verständnis die Sünden der Gläubigen vor seinem Auge, schaut Letztere als gerecht an, obwohl sie es nicht sind! »Nun ist es wohl gewiß sehr schwer zu begreifen, wie Gott irgend etwas anders anschauen könne, als es in sich selbst ist, also wie ein wirklich Ungerechter als gerecht ins göttliche Bewußtsein könne aufge-

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nommen werden.« (184) Dieser Widerspruch kann, die göttliche Wahrhaftigkeit einmal als unantastbar vorausgesetzt, nur so aufgelöst werden, dass, »was von dem Menschen als Sünde betrachtet werde, sei wirklich vor Gott keine, sei bloß eine Folge der Endlichkeit des Menschen« (184). Und weil dies so ist, vermag sich der Glaube letztlich bei einer rein äußerlichen Gerechtsprechung zu beruhigen. In dieselbe Richtung weist für Möhler auch der paradoxe Tatbestand, dass nach lutherischem Verständnis Rechtfertigung und Wiedergeburt zwar ausschließlich als Gottestat begriffen werden, welche eine Mitwirkung des Menschen völlig ausschließt, doch nun aber zu fragen ist, »warum denn Gott nicht durchdringe, da er ja allein wirksam ist, und warum er die Sünde nicht bis auf den Grund tilge und seine ungehemmte Macht nicht so recht in ihrem ganzen Glanze entwickle. Der ganz passiv sich verhaltende Mensch könnte doch wohl während dieses rechtfertigenden Vorgangs mit ihm ganz umgewandelt werden. Warum geschieht es denn nun nicht?« (184) Die Antwort auf diese Frage nach dem – wie man formulieren könnte – heilsgeschichtlichen Sinn des simul peccator besteht für Möhler erneut darin, dass die Sünde schon in der endlichen Natur des Menschen liege, »daß die ursprüngliche Einrichtung des Menschen schon die Sünde bedinge, also notwendig sei, und darum von Gott nicht angerechnet werde« (185)29. Wieder ist wohl der Gedanke zu ergänzen, dass Gott, wollte er die Sünde dennoch wegschaffen, schon irdisch und nicht erst im Tod den Menschen selbst aufheben und neuschaffen müsste. Dazu besteht aber, da Sünde ja letztlich nicht Sünde ist, keine Notwendigkeit. So verkehrt sich für Möhler die Absicht der Reformatoren, die Größe der Sünde zu betonen, um die Einzigartigkeit der Erlösung herauszustellen, in ihr Gegenteil: Mit innerer Notwendigkeit führt sie zur Auflösung des Sündenbegriffs und damit auch der christlichen Soteriologie (185 f., vgl. 113).

2.3 Heinrich Denifle Von ganz anderer Art ist die Ablehnung des simul durch den Dominikaner Heinrich Denifle in dem 1904 erschienenen ersten Band seines mehrbändigen Werkes über »Luther und Luthertum«.30 In dieser mit großem Ingrimm und scharfer Polemik gegen Luther und die protestantische Lutherforschung geschriebenen Arbeit versucht er die lutherische Rechtfertigungslehre und insbesondere das simul biographisch-psychologisch zu demaskieren. Rein sachlich wiederholt Denifle freilich nur die schon von Trient und Möhler vorgebrachten Einwände, nämlich die Kritik am Sündenbegriff und am Wirklichkeitsverlust der Rechtfer Vgl. Symbolik I, 185: »Diese Notwendigkeit des Sündigens in der gegenwärtigen menschlichen Form ist denn nun der wahre Grund dieser Theorie und der Möglichkeit, sich ungeachtet fortwährenden Sündigens so tief zu beruhigen; obschon er nicht ins Bewußtsein der Reformatoren trat.« 30 Vgl. zum Folgenden Denifle, Luther I, 387–519, 569–593. 29

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tigung. Luthers reformatorische Wende sei – so Denifle – mitnichten auf seine einseitige, im Kloster noch gesteigerte und durch die damalige Theologie und Frömmigkeit mitbedingte Konfrontation mit dem zornigen und richtenden Gott zurückzuführen, so dass er, darüber verzweifelt, in die Schrift getrieben wurde und hier befreiend den barmherzigen Gott entdeckte. Hätte Luther nur Augen und Ohren gehabt, so hätte er überall in seiner Kirche die Rede von Gottes rechtfertigender Gnade vernehmen können. Luthers 1515 anzusetzende reformatorische Wende muss nach Denifle vielmehr aus seinem Leiden unter einer übergroßen Triebhaftigkeit bzw. Konkupiszenz erklärt werden, welche sich bei ihm v. a. in sexueller Wollust, Zorn und Hochmut äußerte. Luther erfuhr zunehmend, dass er dieser Konkupiszenz nicht widerstehen, geschweige denn sie auslöschen konnte und so ständig gegen das Gebot verstieß: »Du sollst nicht begehren!« (400 f.) In seinem Hochmut war er indessen zunächst nicht willens und später nicht mehr fähig, demütig um die heiligmachende Gnade zu bitten, um mit ihr gegen seine Triebhaftigkeit anzugehen. So wurde Letztere aber immer stärker, bis Luther, in die sittliche Resignation getrieben, sie auch theologisch als »unbesiegbar« bzw. »unüberwindbar« qualifizierte31 und – das ist der entscheidende Schritt – sie 1515 im Römerbriefkolleg schließlich mit der Erbsünde selbst identifizierte (404–413). So wurde aus der traditionell als Folge der Erbsünde verstandenen, auch nach der Taufe verbleibenden Hinneigung zur Sünde, welche mit Hilfe der Gnade bekämpft werden konnte, eine im Menschen bis zum Tode verbleibende Sünde, gegen die – nach Luthers eigener Erfahrung – weder eine natürliche Sittlichkeit noch eine von der Gnade unterstützte ankam, weshalb Luther – so Denifle – jedes ethische Bemühen aufgab.32 War so schon Luthers Sündenlehre nichts anderes als eine theologische Verallgemeinerung und Legitimation »seines traurigen inneren Zustandes, seines wiederholten Unterliegens beim Anstürmen der Leidenschaften« (410)33, so gilt dies nicht minder für seine Rechtfertigungslehre: Sie ist der befreiende »einzige Ausweg« (448), den Luther sich subjektiv zurechtlegte und zugleich universalisierte: Rechtfertigung als »Gerechtmachen«, als reale Besserung und Heiligung des Menschen ist im strengen Sinne nicht möglich bzw. von Luther nur rhetorisch behauptet, der Mensch ist »immer in der Sünde« (412), und deshalb Und zwar nach Denifle in dem doppelten Sinn: irdisch nicht auszulöschen und ihr immer wieder in Taten erliegend. 32 Für diese Lehre schreckte Luther nach Denifle sogar vor theologischen »Fälschungen« bei Augustin nicht zurück. Vgl. 456–474. 33 Vgl. etwa 436: »Nur sein trauriges Innere, sein Hochmuth, mit nichten seine angebliche Skrupulosität und Aengstlichkeit, erklären die Aufstellung seines ›Systems‹, in welchem nicht bloß das Uebernatürliche, sondern selbst das Sittengesetz völlig aufgegeben ist und Gott, entgegen seiner Kundgebung in der Offenbarung, gleichsam vorgeschrieben wird, wie er den Sünder rechtfertigen soll und muß, d. h. wie es Luthers selbstverschuldeter innerer Zustand erfordert«; 439, 456, 592: »Der Mittelpunkt in Luther’s ›Theologie‹ […] ist Luther mit seinem individuellen traurigen Innern, das er auf alle Anderen übertrug.« 31

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interpretiert Luther die Rechtfertigung ausschließlich als Gerechterklärung bzw. Zurechnung (Imputation) der fremden Gerechtigkeit Christi, unter welcher der Christ im Glauben gegen den göttlichen Zorn Zuflucht suchen könne (441–444). Als solcher bleibt er aber bis zum Tod in der Sünde, welche Gott eben nur »zudecke«, aber nicht wegnehme.34 Das simul ist die logische Konsequenz aus einer solchen Rechtfertigungslehre: »Kein Wunder, daß er [Luther] auch den Widerspruch nicht erkannte, man sei zugleich gerecht und ungerecht! Man wende nicht ein: unter verschiedenem Gesichtspunkt; denn es bleibt immer der Gedanke als Inhalt: Gott acceptirt Einen als gerecht, obwohl er in der Sünde bleibt. Ein völliger Widerspruch und eine Unsittlichkeit zugleich. Aber dieser Widerspruch war von jenem Augenblicke an nothwendig, da Luther den fatalen Satz aufstellte, die Concupiscenz sei die Erbsünde, und zwar mit der Pointe, daß die Sünde so lange bleibe, als die Concupiscenz, d.i. bis zum Tode. […] Thatsächlich sind wir Sünder, gerecht nur in der Hoffnung, wie Luther nothgedrungen sagt.« (451)35 Für Denifle ist Luthers Rechtfertigungslehre und das simul im Besonderen folglich nichts anderes als eine »Ausflucht«, ein »Schanddeckel« (487, 584) für seine eigene schuldhafte sittliche Verkommenheit, zudem ein logischer Widerspruch und ein »schweres Unrecht« an Gott (442), der den ungerecht und unsittlich Bleibenden als gerecht erklären soll.36

Vgl. 447: »Kurz, wir bleiben in der Sünde. […] Die Rechtfertigung kann also hienieden nur darin bestehen, daß uns Gott als Gerechte ansieht, reputat, nicht daß er uns gerecht macht«; 492: Die »Rechtfertigung löst sich in ein »bloß äußeres Zudecken des Elends« auf; 494: »Gott verzeiht ihm seine Missethat, aber der Schalk bleibt. Das ist die Luther’sche Rechtfertigung«; 498: Gott ist »ohnmächtig, die Sünde der Welt hinwegzunehmen, er kann sie nur verdecken. Es gibt keine umwandelnde Gnade; […] der flüchtige Sünder bleibt hinter Christus als dem Schanddeckel das, was er ist und war«; 583 f.: »Nach Luther acceptirt Gott den Sünder wegen der Gerechtigkeit Christi als gerecht in der Weise, daß der Sünder Sünder bleibt, die Sünde nicht weggenommen, sondern nur nicht angerechnet wird. […] Der Grund von Luther’s Irrlehre war wieder sein Inneres, das, wie nun einmal die Dinge bei ihm durch seine Schuld standen, in der Acceptation unberührt blieb und das er durch die Gerechtigkeit Christi wie mit einem Schanddeckel zudecken ließ.« 35 Denifle geht mehrfach auf Luthers simul ein, z. T. mit wörtlichen Zitaten. Vgl. 409 f., 448 f., 495, 518, 586: »Weitere Widersprüche [bei Luther]: Ich bin zugleich ungerecht und gerecht: ungerecht an sich, gerecht, weil als solcher erklärt, trotzdem ich ungerecht bleibe.« Dies sei Luthers »Grundgedanke«. – Prekär war für die evangelische Lutherforschung, dass Denifle für seine grobe Lutherkritik aus dem 1899 schon entdeckten, aber noch nicht publizierten Originalmanuskript der Römerbriefvorlesung zitieren und dieses so in Auszügen erstmals zugänglich machen konnte. Vgl. unten 69 f. 36 Vgl. 499: »Das Erlösungswerk im Sinne Luther’s ist durchaus äußerlich, es ist keine Wiederherstellung (reparatio, restauratio). Das Ganze läuft auf den Satz hinaus: Gott erklärt den ungerecht Bleibenden als gerecht; Gott sieht den unsittlich Bleibenden als sittlich an.« 34

3 Neuere katholische Annäherungen an das »simul iustus et peccator«

3.1 Robert Grosche Im 20. Jahrhundert, insbesondere im Umfeld des II. Vaticanum, hat es in der katholischen Theologie zahlreiche positiv-konstruktive Auseinandersetzungen mit dem und Annäherungen an das simul gegeben, von denen wir in der Folge einige vorstellen.37 Gleichsam das Vorspiel hierzu intoniert ein Aufsatz von Robert Grosche aus dem Jahr 1938.38 Grosche stellt gegen Denifle heraus, dass es in der simul-Formel für den Protestanten nicht »um die persönliche Erfahrung Luthers, sondern um das religiöse und theologische Anliegen der Reformation« überhaupt geht (147), welches, in dieser Schärfe ausgedrückt, für Katholiken freilich besonders anstößig ist. Grosches Vermittlungsbemühung schlägt nun einen Weg ein, der in der Folge für solche Annäherungen exemplarische Bedeutung erlangt hat. Er vertritt die These, dass der ursprüngliche Sinn der simul-Formel bei Luther deren partiales Verständnis gewesen sei: Wir sind als Christen teils gerecht und teils Sünder! So verstanden ist die Formel Ausdruck des pilgernden Unterwegsseins des Christen: »Worauf es ihm [Luther] ankommt, ist zu betonen, daß die Gerechtigkeit noch nicht vollendet ist, aber anderseits schon angefangen hat, mit andern Worten, daß der Gerechtfertigte ›in statu viatoris‹ ist.« (150) »Diesen Sachverhalt der Rechtfertigung ›in statu viae‹ soll die Formel ›simul iustus et peccator‹ ausdrücken.« (151) Ein solches Verständnis der simul-Formel ist aber – so Grosche – auch für das katholische Glaubensverständnis vertretbar (153 ff.). Allerdings nimmt dieser genuine Sinn der Formel schon in Luthers Römerbriefvorlesung (1515/16) nach Grosche eine Wendung, welche den ursprünglich dialektisch-heilsgeschichtlichen Sinn zu einer »ontologischen Formel« verkehrt, »die nur mehr nominalistisch verstanden werden kann« (153).39 Durch die Einführung Die Arbeit von Kösters, These, behandeln wir – wegen ihres Umfangs und ihrer Auseinandersetzung mit der Monographie Rudolf Hermanns – innerhalb unseres Forschungsberichts (s. u. Kap. 5.5). 38 Vgl. Grosche, Simul. 39 Grosche (153, 155) bezeichnet den partial-heilsgeschichtlichen Aspekt der simulFormel als »dialektisch« und grenzt ihn von ihrem »ontologischen« Missverständnis ab. »Nominalistisch« nennt er das Letztere wohl deshalb, weil hier die präsentische 37

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der Formel »peccator in re – iustus in spe« sowie durch die Deutung der gegenwärtigen Gerechtigkeit als imputatio wird die »Wirklichkeit« der in uns seienden Gerechtigkeit völlig verflüchtigt und entweder ausschließlich extra nos oder in die Zukunft verlegt. So aber hebt die Formel »die Wirklichkeit der Rechtfertigung auf und ist für den katholischen Christen unannehmbar« (153). Indessen ist damit für Grosche nicht jede Vermittlungsbemühung mit Luther gescheitert: Denn letztlich gehe es Luther mit seinen schroffen und missverständlichen, die Gerechtigkeit ganz in Christus oder in die eschatologische Vollendung transponierenden Formulierungen nicht um die Beschreibung eines ontologischen Sachverhalts, sondern um die Artikulation einer religiösen Wirklichkeit. »Luthers Sprache ist im Grunde gar nicht die der Ontologie, sondern die der religiösen Wirklichkeit« (155). Man darf Grosche wohl so verstehen, dass für ihn Luther mit dem simul-Sachverhalt in oft überpointiertem sprachlichem Gewand ausschließlich und allein den sanativen, irdisch immer unabgeschlossenen Prozess des Gerechtwerdens, eben den status viatoris zum Ausdruck bringen wollte. Grosche steht also für eine katholische Annäherung an Luther durch Reduktion des simul auf dessen dynamisch-heilsgeschichtlichen Sinn, wobei natürlich zu fragen ist, inwieweit seine Luther-Deutung zutrifft.

3.2 Hans Urs von Balthasar Relativ ausführlich ist Hans Urs von Balthasar auf das simul 1951 im Rahmen seiner Monographie über die Theologie Karl Barths eingegangen.40 Balthasar stellt zunächst heraus, dass Gottes Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung eine echte Teilgabe am göttlichen Leben für den Menschen einschließt. Diese muss aber, gerade als Tat Gottes, immer auch eine »echte seinshafte Veränderung« beim Menschen bewirken, sie kann nicht nur rein bewußtseinsmäßig oder ereignishaft vorgestellt werden. Deshalb darf weiter die Rechtfertigung nicht als eine bloß eschatologische Verwandlung des Menschen bzw. als gegenwärtig rein forensische, d. h. »in der Sphäre der Einschätzung oder Zumessung« verbleibend, verstanden werden (373). Ist so die Gnade als reale Teilnahme und ontische Bestimmung zu interpretieren, so ist damit ein Zunehmen und Wachsen keinesfalls ausgeschlossen, da die Gnade sich noch in allen Dimensionen des menschlichen Wesens durchsetzen muss (374 f.). Nach diesen Feststellungen geht Balthasar auf das simul selbst ein, das für ihn in einem doppelten Sinn ein katholisches Anliegen auszudrücken vermag: Einmal, sofern es jene Dynamik der Gnade beschreibt, den Menschen ganz zu durchdringen, und somit den »status viatoris« des Menschen artikuliert (378 f.). Zum anderen macht das simul deutlich, dass die Eigengerechtigkeit des Christen zu einem bloßen, ihm zugerechneten »nomen« herab­sinkt. 40 Vgl. v. Balthasar, Karl Barth, 372–386.

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Gerechtigkeit des Menschen »von Anfang bis Ende eine ihm geschenkte, von oben und von außen ihm zukommende und somit auch als ihm zu eigen geschenkte nicht ›seine eigene‹ ist.« Von sich her wäre der Mensch nur Sünder. Das simul steht also für die gänzliche und bleibende Gratuität der realen Erneuerung des Menschen. Nur wenn der erste Aspekt durch einen »übertriebenen Eschatologismus« und der zweite durch einen »juridischen Nominalismus« (379) verkehrt wird, ist das simul für eine katholische Theologie unannehmbar. Rechtfertigung ist schon gegenwärtige Wirklichkeit und dem Menschen innerlich zugehörig!41 Balthasar fasst abschließend den möglichen katholischen Sinn des simul in sieben Punkten zusammen, von denen die ersten beiden eine Wiederholung der schon genannten darstellen, die folgenden aber – so unsere Einschätzung – wesentlich neue Gesichtspunkte beibringen, in große Sachnähe zu Luther gelangen und die Konzeption katholischer Gnadenlehre zu sprengen drohen: Neben der lebenslänglichen Angewiesenheit des Glaubenden auf Christus als »unseren Anwalt vor dem Vater«, welche das schon rein kreatürlich gegebene »Abstandsbewußtsein« gegenüber Gott mit zunehmender Glaubenserkenntnis zum »zurückweichenden Sünderbewußtsein« (382) vertieft, muss nach Balthasar nicht nur auf die persönliche Sünde, sondern auch auf die biblisch gut bezeugte Weltdimension der Sünde geachtet werden, die in ihrer Mächtigkeit auch den Gläubigen noch tangiert – und zwar nicht nur als »passive Potenz«, sondern als »stets sprungbereite, aktive Potenz« und »schwangerer Schoß« (vgl. Jak 1,14 f.), welcher jederzeit darauf aus ist, aktuelle Sünde als seine Frucht zu gebären. Nun gibt es für Balthasar zwischen dieser überindividuelle Gestalt gewinnenden Sündenpotenz und der tathaften Sünde »mannigfache Zusammenhänge und Übergänge«, so dass die reinliche Scheidung zwischen beiden schwierig, wenn nicht gar unmöglich wird. Der Christ tut nicht nur immer wieder konkret neue Sünde, sondern »es färbt sich auch das ›Gute‹, das der Mensch vollbringt, immer wieder von ihr [jener aktiven Potenz] her. Welche gute Tat ist so vollwertig, daß sich in ihre Entstehung keinerlei minderwertige Motive gemengt hätten?« Das noch bestehende Verhaftetsein an die »Welt« geht dem Glaubenden als »Ansichtigwerden einer radikalen Unordnung im Menschen« auf. Gerade der glaubende Mensch entdeckt, »wie getrübt die geistige Luft ist, die er atmet, an der er mit allen Fasern teilhat« (383). Von diesen Äußerungen her ist eigentlich nicht einzusehen, warum die Konkupiszenz selbst nicht Sünde genannt werden sollte. Anschließend macht Balthasar auf die soziale Dimension der Sünde, auf die »menschliche Solidarität in der Sünde« (383) aufmerksam: Jede Sünde hat Folgen für die Gemeinschaft und ist ihrerseits durch die Sünde der Gemeinschaft mitverursacht. Von daher vermag der einzelne Gerechtfertigte fremde Schuld von sich nicht zu distanzieren, ja er erhält in der Nachfolge Christi zunehmend aktiven Balthasar (378, 380) hält offenbar im Anschluss an Grosche die genannten Aspekte für Luthers ursprüngliches Anliegen beim simul, die aber schon bei diesem selbst durch die genannten Vereinseitigungen konterkariert worden sind. 41

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Anteil an der Übernahme und am Tragen der Schuld der anderen, muss sich also insofern als Sünder begreifen. Ein weiterer Indikator für ein katholisches simul ist die gerade bei den Heiligen bezeugte Erfahrung der Anfechtung als »erbarmungsloses Aufgerissenwerden der Kluft zwischen Sein und Sollen, aus der Sicht der göttlichen Gerechtigkeit und des Gerichts«, als »Ansichtigwerden nicht nur eines bleibenden Abstands und einer Uneinholbarkeit, sondern einer noch viel hoffnungsloseren Verkehrtheit all unserer guten Werke, ja der Verlorenheit alles Menschlichen vor Gott«, wenn die jetzt verdeckt gehaltene, unverdiente rettende Gnade ausbliebe. »Keiner, der sich in der wirklichen Anfechtung befunden hat, hat auch nur eines seiner Werke aus dem Feuer des Gerichts retten können.« (384) Abschließend (385 f.) weist Balthasar auf Christus als den eigentlichen simul iustus et peccator hin, der als der ganz Gerechte unser aller Sünde getragen hat, ohne diese nochmals von sich selbst unterscheiden zu wollen.42

3.3 Karl Rahner Eine weitere positive Annäherung an Luthers simul hat im Jahr 1963 Karl Rahner unternommen,43 wobei Rahner nur von der »reformatorischen« bzw. »protestantischen Formel« (263 f.) spricht und sich auf Fragen der Luther-Interpretation und den Sinn der Formel bei Luther selbst nicht einlässt. Ihm zufolge ist die reformato­ rische Christenheit zutiefst eine »Christenheit des erschrockenen Gewissens des Sünders vor Gott« (263). Vor der unendlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes stehend könne der Mensch sich nur als Sünder begreifen, der immer und überall Mit ähnlichen Argumenten wie Balthasar (und insbesondere mit Verweisen auf die katholische Liturgie) hat sich auch Hans Küng 1957 in seiner Dissertation »Rechtfertigung« (231–242) für ein katholisches simul iustus et peccator stark gemacht. Auch für ihn vermag diese Formel Ausdruck des Satzes zu sein: »Der Mensch ist in via, er ist noch nicht dort, wo ›die Gerechten leuchten wie die Sonne‹.« (234) Insofern bleibt auch der Christ »in der Gefahrenzone der Sünde« (236). In ihm wirkt seine Vergangenheit als Versuchung zur Sünde, als »ein Schwergewicht, das nach unten zieht« (239), fort. Deshalb darf aber die Formel nicht »metaphysisch«, sondern nur »konkret-geschichtlich« aufgefasst werden (235, Zitation von Schmaus, Dogmatik III/2, 120). Zum anderen macht das simul deutlich: »Alles, was der Mensch an Gerechtigkeit zu eigen besitzt, ist ihm durch die Gnade geschenkt und so, der Herkunft nach, fremd.« (235, vgl. 236) Schließlich weist auch Küng auf die seinshafte Verbundenheit aller Menschen in Tun und Lassen und deshalb auch in Schuld und Sünde hin, so dass der Christ sich von fremder Schuld nicht abzugrenzen vermag: »Wie sollte sich in Sünde und Schuld die Grenze zwischen Mein und Dein abstecken lassen?« (240) Küng verweist für seine Überlegungen mehrfach auf Schmaus, Dogmatik III/2. Vgl. dort bes. 104 f., 110, 118–121, 136 f., 237 f. 43 Vgl. Rahner, Gerecht. – Zur einer möglichen ekklesiologischen Ausweitung des simul, wonach die Kirche nicht nur eine »Kirche der Sünder«, sondern auch eine »sündige Kirche« ist, siehe ders., Kirche der Sünder, bes. 308 ff.; Sündige Kirche, bes. 332 f., 340–345. Ähnlich Küng, Rechtfertigung, 240 f. 42

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auf Gottes Gnade und Erbarmen angewiesen ist und dessen Rettung allein von Gott her und nicht aus der eigenen Kraft zu erwarten sei. Hier liege der »richtige Ausgangspunkt für die protestantische Formel ›Gerecht und Sünder zugleich‹« (264). Allerdings wurde dieser nach Rahner weitergetrieben zu der Aussage, dass der Mensch in seiner Zuständlichkeit auch als Christ Sünder bleibt, so sehr er auch durch Christi Erlösung bzw. durch Gottes freisprechendes Wort gerettet, geheiligt und als Kind Gottes angenommen sei. So kommt der reformatorische Christ zu der Überzeugung, »die letzte christliche Grunderfahrung des Menschen bestehe gerade darin, daß er zugleich Sünder und Gerechter vor Gott sei«. Nur diese »Paradoxie« und »Doppeltheit der Aussage über den Menschen« könne das wahre Verständnis vom christlichen Menschen wiedergeben (264).44 Christ ist man demzufolge nur, wenn sich die radikale Erfahrung bleibender Sündigkeit mit dem Glaubensbewusstsein verbinde, dennoch durch Gottes rettende Tat ein Gerechtfertigter zu sein, wenn man also ständig von sich weg auf Gott blickt. Rahner stellt dem reformatorischen simul zunächst das »katholische Nein« entgegen: Die Formel ist abzulehnen, weil sie den schöpferischen Charakter der Rechtfertigung unterbestimmt. Die Heilsgeschichte ist sowohl als Menschheitsgeschichte als auch als individuelle Heilsgeschichte echte Geschichte, in welcher etwas Neues geschaffen wird, das vorher so nicht da war und das nicht »zugleich« mit dem alten Zustand koexistieren kann. »Es geht also auch in der Individualgeschichte um echte Heilsereignisse und nicht nur um ein sich steigerndes Bewußtwerden eines sich stets Gleichbleibenden und immer Wahren […]. Deshalb muß die katholische Theologie betonen, daß nicht immer alles zugleich ist, daß vielmehr ein Neues eintritt, das nicht unter ein bleibendes ›Zugleich‹ gestellt werden darf, in welchem ein bleibendes dialektisches Verhältnis zwischen gleich notwendigen Existentialien des menschlichen Daseins offenbar gemacht würde«. (266) Rahner interpretiert hier offenbar das simul iustus et peccator als bloßes Offenbarwerden einer an sich konstanten, bipolaren menschlichen Struktur, die heilsgeschichtlich nicht verändert, sondern nur manifest wird. Versteht man aber Rechtfertigung primär als Tat Gottes am Menschen, so folgt daraus, dass diese »den Menschen bis in die tiefsten Wurzeln seines Seins um[gestaltet], verklärt und vergöttlicht […]. Deshalb ist der Gerechtfertigte nicht ›zugleich gerecht und Sünder‹. Er ist nicht einfach in einer bloßen Paradoxie und dialektischen Schwebe zugleich der Sünder und der Gerechtfertigte. Denn durch die Rechtfertigung wird er in Wahrheit aus einem Sünder, der er war, ein Gerechter, der er vorher nicht war. In einem wahren Sinne hört er auf, Sünder zu sein.« (267;45 vgl. 267 f.)

Vgl. Gerecht, 265: Die reformatorische Christenheit erblickt in der »Paradoxie dieser Formel ›Gerechter und Sünder zugleich‹« das »Wesen des Christentums und des christlichen Daseins«. 45 Vgl. 267 f.: »Die letzte Grundformel menschlichen Daseins ist nicht eine schwebende Dialektik zwischen Sündigkeit und Heiligkeit. Der Mensch ist wirklich über die Todesgrenze hinübergeschritten. Er ist aufs Letzte, auf Gottes an ihm wirksam gewordene Tat 44

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Die simul-Formel muss also katholischerseits zurückgewiesen werden, weil und sofern sie das wirkliche Neuwerden, das innerliche Rechtwerden durch die Tat Gottes verkennt und insofern »den Zustand des Menschen objektiv nicht richtig wiedergibt« (267). Gegenüber dem möglichen Einwand, dass der Christ sich in der beschriebenen Weise ja gar nicht oder nicht adäquat erfahre, stellt Rahner fest, dass »Rechtfertigungswirklichkeit« und »Rechtfertigungserfahrung« sich nicht ohne weiteres decken (266). Und dies deshalb, weil beim Vorgang der Rechtfertigung das Entscheidende die Tat Gottes und nicht der Glaube und die Erfahrung des Menschen ist. Gottes Tat am Menschen ist aber immer nochmals tiefer und umgreifender als ihre »Reflexion« in menschlicher Selbsterfahrung und kann deshalb daran letztlich nicht abgelesen werden. Nun stellt Rahner seinem Nein aber ein dreifaches »richtig verstandenes katholisches Ja« (268) zum evangelischen simul iustus et peccator an die Seite. Zunächst weist er auf die Lehre des Trienter Konzils hin, wonach der einzelne Christ für sich keine absolute Heilsgewissheit besitze, sondern im Blick auf sich nur hoffen kann, gerettet zu werden. Diese individuelle Heilsungewissheit impliziert aber bzw. hat zur Folge, dass der Christ sich vor Gott noch als Sünder weiß und erfährt bzw. fürchten muss, ein Sünder zu sein. Rahner geht nicht soweit, das Fehlen einer individuellen Heilsgewissheit in einem strukturell noch bestehenden Sündersein des Gerechtfertigten zu fundieren. Als »Aussage der Erfahrung des einzelnen Menschen«, nicht als »abstrakte, ontologische, objektive Formel« (269), hat folglich die simul-Formel auch für die katholische Theologie ihre Berechtigung. Zweitens kann – wieder im Anschluss an Trient – ein katholisches simul im Blick auf die lässlichen Sünden des Christen vertreten werden, also jener Sünden, welche den Zustand der heiligmachenden Gnade, anders als die Todsünden, nicht aufheben. So sehr dieser Unterschied in der theologischen Lehre aufrechtzuerhalten ist, so schwer ist er doch nach Rahner in der praktischen Selbstprüfung handhabbar. Mögen sich schwere und leichte Sünden zumindest im Blick auf die äußere Tat leicht voneinander abheben lassen, so kann die lässliche Sünde in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn man nach der ihr zugrundeliegenden »Gesamtstruktur« des sittlichen Verhaltens, nach der »letzten Einstellung auf Gott« bzw. der »religiösen Grundbefindlichkeit« fragt (271). Diese ist dem Menschen aber gar nicht adäquat zugänglich und reflektierbar. Von daher gewinnt die Frage nach der lässlichen Sünde nun ihre abgründige Tiefe: »Könnte nicht diese oder jene, in sich betrachtet harmlose Lieblosigkeit gegenüber dem Nächsten im tiefsten nur das ferne Echo und Wetterleuchten eines letzten Grundegoismus sein, der am Ende tödlich ist? […] Könnte es nicht sein, daß die Kühle unseres religiö­sen Lebens, diese leichte und scheinbar harmlose Gleichgültigkeit gegen hin gesehen nicht mehr sündig und gerechtfertigt zugleich, sondern gerechtfertigt und sonst nichts.«

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Gott, sowenig sie sich auch in deutlichen Akten und Handlungen manifestiert, dennoch einer letzten, freien, schrecklichen, tödlichen Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber Gott entspringt? […] Kann sie aber nicht eine letzte Verlorenheit, ein letztes grundsätzliches Nein gegenüber Gott bedeuten?« (272) So kann jede »läßliche« Sünde ihr Fundament, ihren Nährboden in einer verborgenen »Todsünde« haben, und von daher erscheint das Sündersein des glaubenden Menschen nochmals in einem ganz anderen Sinn: Die lässlichen Sünden könnten nämlich Indikator dafür sein, dass wir noch »in einem viel tieferen und radikaleren Sinn Sünder sind, d. h. Menschen, die in der Tiefe ihres Herzens nichts mit Gott zu tun haben wollen« (272). Insofern ist die dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit für Rahner bleibend eine angefochtene und bedrohte, kein statischer Besitz, keine statische Qualität des Menschen, sie ist immer wieder der negativen Dynamik der menschlichen Freiheit ausgesetzt und durch sie gefährdet, wie ja auch das positive freie Ja des Menschen zu ihr ganz von Gott getragen und ermöglicht sein muss.46 Deshalb kann gesagt werden: »Von uns aus sind wir immer Sünder. Von uns aus würden wir uns von Gott abwenden, wenn Gottes Gnade uns nicht zuvorkommen würde. Angesichts der unverfügbaren Gnade Gottes, der angefochtenen Gerechtigkeit, der unverfügbaren Gerechtigkeit sind wir immer Sünder.« (274)47 Auch in diesem Sinne kann die Formel »Gerecht und Sünder zugleich« katholischerseits akzeptiert werden. Rahners bisherige doppelte Annäherung an das simul, von der individuellen Heilsungewissheit und der Tiefendimension der lässlichen Sünden her, konvergiert letztlich – sieht man einmal von der darin eingeschlossenen Interpretation des simul als Chiffre für die reine und bleibende Gnadenhaftigkeit des Heils ab – in dem einen Gedanken, dass das Heil des Menschen von diesem selbst her zeitlebens gefährdet und bedroht ist, weil die Möglichkeit besteht, dass er in der Tiefe seines Herzens und äußerlich verborgen und unsichtbar eigentlich kein Glaubender und kein Christ ist. Insofern liegt dann eigentlich kein strenges simul, sondern nur eine Diskrepanz von innen und außen vor.48 Ein echtes simul ergibt Vgl. 273: »Trotz ihres Charakters der Zuständlichkeit schwebt sie [die empfangene Gerechtigkeit] gleichsam auf der Spitze der freien Gnade Gottes und auf der Spitze der Freiheit des Menschen.« 47 Vgl. auch 276: »Der Christ muß einmal begriffen haben, daß er von sich aus nichts als Nichtigkeit und sich allein überlassen nichts als Sünde ist. Wo immer er irgend etwas Gutes an sich entdeckt, muß er dies als ursachlose, freie Gnade Gottes anerkennen. […] Und wenn er das so ausdrücken will, daß er immer und von sich aus ein armer Sünder und immer ein durch Gottes Gnade Gerechtfertigter ist, falls er sich nicht durch Unglaube und Lieblosigkeit dieser Gnade Gottes verschließt, dann ist ihm das unbenommen.« 48 Dies übersieht Pöhlmann, Rechtfertigung, 369, in seinem Rahner-Referat und möchte deshalb das Trienter »Iustus simul et peccator venialis« zu einem »Iustus simul et peccator mortalis« (Hv.) erweitern, was Rahner (und in dem dargelegten Sinn auch Luther) kaum akzeptiert haben dürfte. – Auch in seiner tiefschürfenden Meditation über die fünfte Vaterunser-Bitte (Not, 97–113) als auf gegenwärtige Schuld bezogen geht Rahner über das 46

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sich für ihn aber von einem dritten Aspekt her: Auch als Gerechtfertigter bleibt der Mensch Pilger, der in einer echten, frei-personalen Geschichte unterwegs ist zur ewigen Vollendung und der geschichtlich erst einholen muss, was er durch Gottes rechtfertigende Tat schon ist.49 Diese Geschichte ist aber nun zeitlebens durch ihren Ausgangs- und Zielpunkt »zugleich« geprägt und bestimmt: dem Sündersein des Menschen, von dem er her kommt, und der Vollendung in Gottes Ewigkeit, auf die er zugeht. Deshalb kann formuliert werden: »Da die eine große Bewegung unseres Daseins aus unserer Verlorenheit auf Gott hin immer den Ursprungsort, von dem diese Bewegung ausgeht, noch in sich trägt, sind wir werdende Pilger, die die Vollendung erst noch suchen, ›gerecht und Sünder zugleich‹« (275). Für Rahner bedeutet dies nicht eine gleichbleibende »statische Dialektik« des terminus a quo und des terminus ad quem der Bewegung, »wohl aber ist das konkrete Heilswirken des Menschen [!] immer gleichzeitig charakterisiert vom Ausgangspunkt, von dem wir herkommen, von der eigenen Verlorenheit, die wir verlassen haben, wie auch vom Ziel, das wir in Hoffnung schon besitzen, nach dem wir uns aber zugleich ausstrecken.« (275) Jeder Moment der Bewegung ist durch beides, das Woher und das Wohin, bestimmt. »Dieses ›Zugleich‹ ist nicht eine Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende, sondern ein ›Zugleich‹ in der Gespanntheit zwischen beiden.« (275) Rahner kann somit das simul – wie katholische Theologie zumeist – letztlich nur im Sinne des dynamisch-heilsgeschichtlich verstandenen »partim/partim« rezipieren, sofern sich das, was uns im Innersten von Gott her schon ganz bestimmt, in allen Fasern unserer Existenz noch durchsetzen muss.

oben Dargelegte nicht hinaus (anders die Einschätzung von Pesch, Hinführung, 225): Ein simul peccator kann und muss vom Christen bekannt werden, sofern die Gnade Gottes Gnade ist und bleibt (101 f., 106) und dem Christen (anders als Gott) reflexiv nicht durchschaubar ist, ob er wirklich auf der Seite Gottes steht und »was das ›Eigentliche‹ in seinem armen zerfallenen Herzen« (109) ist. Rahner steht gleichsam kurz davor, geht dann aber doch nicht soweit, ein neben allem gnadenhaften Ja zu Gott simultanes Nein zu Gott zu konzedieren. Vgl. 113: »Humiliter et veraciter können wir alle dies sagen [»Erbarme Dich meiner, der ich ein Sünder bin!«], weil alle Gerechtigkeit seine Gnade allein ist und weil wir nie wissen, ob wir sie haben, wohl aber wissen, daß wir aus uns sie niemals haben.« 49 Diese von vielen katholischen Theologen vertretene Interpretation des simul geht offenbar von der Vorstellung aus, dass die rechtfertigende Gnade den innersten Personkern des Menschen voll erfasst hat und von dort aus alle Schichten und Dimensionen der Person nach und nach durchdringt. Dies ist angedeutet bei Meuser, Ökumene, 113, der allerdings die simul-Formel ganz ablehnt: »Dass dieser Vorgang [der Neuschöpfung in Christus] in aller Regel auf einem langen Weg der Christus-Nachfolge geschieht, braucht unter Christen keine Betonung. Sie kennen die Gleichnisse von der langsam wachsenden Saat und vom Sauerteig, wissen aber zugleich, dass der ihnen anvertraute Impuls der Gotteskindschaft der Sünde ganz feind bleibt.«

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3.4 Johann Baptist Metz Eine der bedeutendsten katholischen Applikationen des lutherischen simul iustus et peccator hat der Rahner-Schüler Johann Baptist Metz in seinem Aufsatz »Der Unglaube als theologisches Problem« 1965 vorgelegt, und zwar v. a. dadurch, dass er das simul auf das Zugleich von Glaube und Unglaube konzentriert. Metz möchte die Frage nach dem Unglauben nicht zuerst als Frage nach dem Unglauben der »anderen«, derer, die außerhalb der Kirche stehen, verstanden, sondern als Frage nach dem Unglauben des Gläubigen selbst gestellt wissen. Es gilt zuallererst den im kirchlich sozialisierten Gläubigen verborgenen Unglauben selbstkritisch aufzudecken. Für die Rede vom »Unglauben des Gläubigen« (485) gibt es mehrere Anhaltspunkte: Zum einen ist der Glaube die »freie unwägbare Gnadengabe des erwählenden Gottes« (485) und so niemals eine Eigenschaft am Menschen oder sein verfügbarer Besitz und schon von daher von »schwebender Aktualität« (486). Von der Seite des Menschen ist der Glaube ebenso als frei-willentlicher Akt zu interpretieren, ja er ist der höchste Freiheitsvollzug des Menschen. In seinem Freiheitsvollzug ist der Mensch sich aber nie voll durchsichtig, ja in einem letzten Sinn sogar verborgen, so dass der Gläubige nie dessen gewiss sein kann, ob sein Glaube wirklich Glaube oder nicht doch nur kaschierter Unglaube ist. »Der dem richtenden Urteil des Gläubigen je entzogene Glaube wird deshalb jeweils als ein Glaube erfahren, der im letzten immer auch Unglaube sein kann. […] Die Erfahrung des freien Glaubens bleibt vor und für sich selbst wesenhaft zweideutig, zutiefst und undistanzierbar von der Möglichkeit des Unglaubens bedroht.« Aufgrund der »schwebenden Zweideutigkeit« unserer Freiheit (486) können wir also nie unseren Glauben eindeutig vom Unglauben abheben und abgrenzen, beide können sich für uns undurchdringlich »ineinander schieben«.50 Deshalb bleibt des Menschen Selbstverständnis als gläubiges Subjekt »vor sich selbst in extrem undistanzierbarer Weise vom Unglauben bedroht«. Muss man folglich von einer »eigentlichen ›Immanenz‹ des Unglaubens im Gläubigen«, ja von einer »echten ›existentialen Gleichzeitigkeit‹ zwischen beiden« sprechen, so gibt es auch für das katholische Glaubensverständnis ein »simul fidelis et infidelis« (487).51 Metz vertieft die Begründung dieser These durch den Rückgriff auf die Lehre von der postbaptismal im Gläubigen verbleibenden Konkupiszenz als »Versuchtheit zur Sünde« (488), welche eben auch als Versuchtheit zum Unglauben ausge-

Metz hat offenbar eine doppelte Möglichkeit vor Augen: einmal (wie Rahner), dass das, was nach außen als Glaube erscheint, im Tiefsten der Subjektivität kein Glaube ist, und zum anderen, dass Glaube und Unglaube im Menschen bis in seine innersten »Schichten« hinein »zugleich« gegeben sind. 51 Vgl. 488: »[…]die tatsächliche Implikation des Unglaubens im Gläubigen und seiner Glaubenserfahrung, die […] existentiale Dialektik und Perichorese von gläubig-ungläubig«. 50

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legt werden kann.52 Es gibt mithin auch im Glaubenden ein gleichsam »negatives Existential«, das ihn in die Heillosigkeit und den Unglauben zurückdrängt. Da aber diese Versuchtheit als Möglichkeit des Unglaubens vom aktuellen Unglauben für den Menschen existentiell nie rein abscheidbar und distanzierbar ist, so sehr ihre Unterscheidung theoretisch und formell aufrecht erhalten werden muss, kann die »Versuchtheit des Glaubens zum Unglauben« durchaus selbst schon Unglaube genannt werden. »Der gläubige Mensch weiß vor und für sich selbst nie, ob seine erfahrene Versuchung zum Unglauben ›nur‹ Versuchung ist, oder ob sie nicht schon Ausdruck eines vollzogenen und bejahten Unglaubens in der gegenständlich unüberschaubaren Mitte seines Daseins ist, ob sie ›nur‹ Konkupiszenz ist oder Niederschlag eines existentiell ratifizierten Unglaubens.« So begegnen wir uns selbst faktisch aber immer als »heil und heillos, als pneumatisch und sarkisch, als gläubig und ungläubig«, und in diesem Sinne gibt es für Metz sehr wohl ein »katholisches simul iustus et peccator« bzw. ein »katholisches fidelis et infidelis« (488; vgl. 489). Metz gelangt so zu einer echten »Immanenz und existentialen Gleichzeitigkeit des Unglaubens im Gläubigen« (488), wenngleich er es ablehnt, diese zu essentialisieren und zu prinzipialisieren: Das »simul fidelis et infidelis« ist ein »existentiales« in dem Sinne, dass wir uns je und je als gläubig und ungläubig zugleich erfahren, aber kein »essentiales«, so dass jeder Glaube zugleich Unglaube wäre (489). Deshalb hält Metz auch zumindest theoretisch an der Unterscheidung von Versuchtheit zur Sünde und personal-freier Einstimmung in diese Versuchtheit fest und sieht seine Ausführungen insofern als vereinbar mit der Lehre des Trienter Konzils an, der zufolge die Konkupiszenz selbst nicht Sünde ist.

3.5 Ralf Miggelbrink In seinem Beitrag aus dem Jahr 2000 möchte Ralf Miggelbrink im Blick auf die in der »Antwort der Katholischen Kirche« auf die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« im Juni 1998 geäußerten Bedenken gegen das simul eine auch katholisch annehmbare »Neuformulierung« dieser lutherischen Formel versuchen (119 f.).53 Dazu ist es nach Miggelbrink erforderlich, hinsichtlich der Metz führt 488 (vgl. 485) aus, dass die Versuchung zum Unglauben in der Tradition als Spezialfall jener allgemeinen Versuchtheit zur Sünde verstanden und insofern in ihrer Radikalität verdeckt wurde. Den naheliegenden Schritt, im Hang zum Unglauben die Urversuchung des Menschen bzw. seine Ursünde zu sehen, vollzieht er selbst explizit aber nicht. 53 Miggelbrinks Aufsatz (Simul) – obwohl im Jahr 2000 publiziert – erwähnt nicht die vor der Unterzeichnung der GE dieser angefügten »Gemeinsame offizielle Feststellung« samt deren »Annex«, in welcher u. a. die strittigen Fragen im Blick auf das simul einer Lösung zugeführt werden sollten. Offenbar war die Redaktion seines Beitrags vor der Veröffentlichung dieser Dokumente abgeschlossen. Vgl. auch ders., Kontroverse. 52

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Rechtfertigung sowohl den »scholastischen Hylemorphismus« (122) des Tridentinum als auch die protestantisch »eschatologisch-iuridische Perspektive« (136) zu überwinden. Stattdessen orientiert er sich an einem neuzeitlichen Denkhorizont und – in Anlehnung an die psychologisch-theologische Rekonstruktion der Rechtfertigung durch Trient als Abfolge verschiedener geistlicher Phasen – an einem mit subjekthaft-personalen und dramatischen Kategorien operierenden biographisch-prozesshaften Verständnis der Rechtfertigung als »lebenslänglichem Prozess« (130 f., 145). In den so verstandenen Glaubensweg des einzelnen Christen lässt sich sowohl Rechtfertigung als punktuelles Geschehen bzw. hervorgehobener »Kairos« integrieren, in dem Gottes Anruf einen »biographischen Schöpfungsakt« (131) vollzieht,54 als auch Rechtfertigung als prozesshafte Wandlung mit Wachstum und Reifen, aber auch Krisen und Brüchen. Nüchtern ist mit der bleibenden Labilität des Menschen im Blick auf seine Grundorientierung auf Gott hin sowie hinsichtlich seines Erkennens und Wollens zu rechnen. In ein solches Rechtfertigungsverständnis kann aber das simul iustus et peccator durchaus aufgenommen werden, und Miggelbrink verweist dafür – ähnlich wie Rahner – auf das Faktum der lässlichen Sünden und deren eventuelle, unerkannte sündige Tiefenschicht als auch auf das damit zusammenhängende Fehlen einer subjektiven Heilsgewissheit (123 ff., 139). Neue Gesichtspunkte werden von ihm in die Diskussion eingebracht, wenn er anregt, den Begriff der zur Sünde hindrängenden Konkupiszenz zu differenzieren: Diese sei eben nicht nur eine von der Erbsünde herkommende und durch die Taufe nicht weggenommene »quasi naturhafte« und deshalb selbst nicht sündhafte Hinneigung zur Sünde. Vielmehr habe die Mehrzahl der Lebensentscheidungen »ihre Vorprägung durch die zur individuellen Handlungsdisposition geronnenen Freiheitsentscheidungen der Vergangenheit, seien sie heilshafter oder sündhafter Natur, empfangen« (129). Infolgedessen könne durchaus Luthers Einsicht »in die auch im Gerechtfertigten andauernde Bedeutsamkeit der falschen Grundmotivation als dem Wurzelgrund aller Sünden« festgehalten werden, allerdings »über das Theorem einer jeweils individuellen Sündengeschichte«, durch welche die Erkenntnis und Verwirklichung des Guten erschwert wird (129 f.). Es gibt in diesem Sinne eine »erworbene, habituelle Bosheit« (140), die eine Disposition zu neuer Sünde bewirkt, weil sie die fortdauernde Rückwirkung des bösen Tuns auf den Täter selbst darstellt. Böses Tun und böses Verhalten führen zu einer bösen Vorprägung, aus der wiederum neues Böses erwächst.55 An dieser Vorprägung, die im Unterschied zur naturhaften Konkupiszenz aus persönlicher

In diesem Sinne wären etwa die Sakramente oder die Rechtfertigung als imputatio bzw. Zuspruch zu deuten. 55 Man könnte deshalb folgende Reihung aufstellen: Die naturhafte Konkupiszenz ist Folge der Erbsünde und führt zu neuer Tatsünde. Aus dieser erwächst wiederum eine nun aber schuldhafte Disposition zur Sünde, welche im Verein mit der ersteren zu erneuter Tatsünde führt. Insofern wird die »ererbte« Konkupiszenz schuldhaft »angereichert«. 54

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Schuld erwachsen ist, hat auch der Christ noch teil und vermag sich nur langsam aus ihr herauszuarbeiten. Bei Miggelbrink bleibt es allerdings in der Schwebe, ob jene »erworbene« Disposition zur Sünde nur deshalb Sünde genannt werden kann, weil sie aus persönlicher Sünde resultiert (und wieder zu ihr hinführt), oder weil sie kraft ihrer latenten Dynamik und Motivation selbst schon Sünde ist. Im ersteren Fall würde sich der katholisch-protestantische Dissens gleichsam auf höherer Ebene wiederholen.56 Des Weiteren rechnet Miggelbrink – ähnlich wie von Balthasar – mit der »Teilhabe des einzelnen an der Sünde der Menschheit« (147). Sünde ist nicht nur persönliche Tat, sondern gewinnt gleichsam in der Geschichte der Menschheit strukturelle Gestalt, manifestiert sich in einem »strukturierten Konnex des Gottfeindlichen« bzw. in der »historisch-politischen Kohärenz der Schuld und des Verkehrten« (149), durch welche der einzelne Christ einerseits vorgeprägt wird, woran er sich andererseits aber auch aktiv beteiligt hat und immer noch beteiligt und von der er sich nur erst allmählich im Prozess seiner sanativen Heiligung abzukehren vermag. In diesem Sinn kann der Christ aber simul iustus et peccator genannt werden, insbesondere auch deshalb, weil mit wachsendem Glauben seine Sensibilität für die bleibende Sünde wächst: Im Maße der Befreiung und Abkehr von ihr geht ihm paradoxerweise sein noch fortdauerndes Verstricktsein in sie auf. »Gerade im Prozess der Rechtfertigung erfährt der Christ sich mehr und mehr als Sünder. Allerdings ist diese Erfahrung der Sünde die Erfahrung einer entmachteten Sünde.« (131)57 Da Miggelbrinks Rekonstruktion des simul ganz an biographisch-prozesshaften Kategorien orientiert ist, hat er verständlicherweise große Schwierigkeit mit der protestantischen Prädikation simul totus peccator.58 An dieser Stelle ist für ihn die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GE) in der Tat missverständlich und die diesbezügliche Anfrage der »Antwort der katholischen Miggelbrink spricht im Kontext der »habituellen Bosheit« mit Eberhard Jüngel vom »Sündersein des Gläubigen« (140), greift aber bei der »menschheitsgeschichtlichen Vorprägung« der »natürlichen Vermögen« auf den Begriff der »Gottwidrigkeit« zurück (148). In Kontroverse, 53–58, spricht Miggelbrink sich allerdings eindeutig für die Beibehaltung der Unterscheidung zwischen wie auch immer gefasster Konkupiszenz und Sünde aus. Weiter ging hier schon 1963 Wulf, Mensch, 3 f.: »Indem sie [die in den Getauften zurückbleibende Begierde, die selbst noch nicht Sünde ist] jedoch nicht nur Anlaß zu einzelnen Sünden wird, sondern durch die wiederholte Sünde auch zu sündhaften Haltungen und Gewohnheiten führt, die die Seele vergiften, schafft sie im gefallenen Menschen allmählich eine eigentliche, weil verschuldete Sündhaftigkeit.« So rufen wir als Christen Gottes Barmherzigkeit an »nicht nur wegen dieser oder jener Sünde […], sondern weil wir Sünder sind.« 57 Vgl. auch Miggelbrink, Kontroverse, 42 (über Luther): »Das Bewusstsein der eigenen Sündigkeit ist der psychologische Begleiter des eigenen Geheiltwerdens von der Sünde«; 54 f. 58 So wie Miggelbrink auch das »sola fide« ablehnt und mit Nachdruck die recht verstandene »fides caritate formata« verteidigt: Simul, 132–135, 144 f. 56

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Kirche« nachvollziehbar (153 f.). Katholisch rezipierbar wird das simul nur »durch Betonung der Prozesshaftigkeit des Rechtfertigungsgeschehens« (153), da dann der Widerspruch zu der von Rom angemahnten inneren Heiligung des Menschen wegfällt. »›Zugleich‹ und ›ganz‹ erweckt eben doch den Eindruck eines prozessund wandlungslosen Nebeneinanders zweier sich ausschließender Bestimmungen.« (154) Jedoch sei dieser »Totalitätsaspekt« der reformatorischen Formel59 und das damit verbundene Imputationsverständnis den nominalistischen Denkformen des 16. Jahrhunderts verhaftet, von jenen neueren personal-biographischen Kategorien her »überlebt« und werde selbst von Eberhard Jüngel (sic!) als »psychologisch-pastoral motivierte Redeweise« (155) gedeutet. Nicht ganz konsequent scheint es dann, wenn Miggelbrink gleichwohl konzediert, dass der Gerechtfertigte sich noch als Sünder erfährt, als »jemand, dessen Gottesbeziehung fundamental gestört ist« (155; Hv.).

3.6 Giovanni Iammarrone Bei unserer Sichtung katholischer Annäherungen an das simul gehen wir abschließend auf die größere Studie des italienischen Theologen Giovanni Iammarrone (2002) ein.60 Iammarrones Intention ist es, die seiner Ansicht nach unbefriedigende Verständigung hinsichtlich des simul, wie sie im »Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung« der GE vorliegt, zu transzendieren und zu einem tragfähigen ökumenischen Konsens in dieser Frage beizutragen. Der Untertitel seiner Arbeit umschreibt präzise den thematischen Horizont, den er abschreitet: »Die Formel ›simul iustus et peccator‹ bei Luther, auf dem Konzil von Trient und in der gegenwärtigen ökumenischen Diskussion«. In seiner Darstellung des lutherischen simul hebt Iammarrone im Rückgriff auf Rudolf Hermann und Reinhard Kösters61 hervor, dass die Konkupiszenz bei Luther immer schon von einem »partiellen Konsens«62 des Gerechtfertigten begleitet sei, wenngleich dieser nicht reflex-konkret erfolgt, sondern eher unthematisch mitgegeben ist, aber deswegen nicht als apersonal gewertet werden darf (64). Der Konsens oder die Lebensausrichtung des Gerechtfertigten ist demnach geteilt:63 Innerhalb seiner grundlegenden und primären Orientierung auf Gott und das Gute findet sich auch noch jene Zustimmung zum »eigenen ungläubigen und egoistischen Ich« (65), welche jene erstere irdisch bleibend unvollkommen und gebrochen sein und den Christen hinter der »hohen Anforderung der Liebe und des Gesetzes Gottes« (57) zurückbleiben lässt. Der Christ ist deshalb »ex parte« noch Sünder, wobei die 61 62 63 59

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Vgl. 155: »Der Mensch sei zugleich ganz und gar gerecht und ganz und gar Sünder.« Vgl. Iammarrone, Il dialogo (Zitate ins Deutsche übersetzt). Siehe unten Abschnitt 5.5. Vgl. 64: »un certo, parziale consenso«. Siehe auch 65. Vgl. 65: »un consenso diviso«.

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ses »ex parte«, abgesehen vom Rechtfertigungsurteil Gottes, den Christen – wie Iammarrone festhält – durchaus ganz (»globalmente«) zum Sünder macht (29). Entscheidend ist nun für ihn, dass Luther diese teilweise bejahte Konkupiszenz zwar Sünde (und nicht nur bloße Neigung oder Versuchung zum Bösen) nennt, sie aber von der Sünde, die den Menschen vor Gott zum impius macht, unterscheidet: Die »Konkupiszenz-Sünde« trennt den Christen nicht von Gott und hebt die Gemeinschaft mit ihm nicht auf, ist sie doch eine von der Gnade umfangene Sünde, die nicht angerechnet wird. Wenn Luther sie gleichwohl als vere peccatum, als damnabile und mortale bezeichnet, so sei dies seinem »hyperbolischen, paradoxalen und deshalb kritisch zu lesenden Sprachgebrauch« zuzurechnen (56 f.). Iammarrone schreibt: »Das lutherische ›ex parte‹ der Sünde im Leben des Gerechtfertigten, in diesem Leben, besteht also in der wirklichen Unvollkommenheit seiner kindhaften Anhänglichkeit der Liebe zu Gott und seines Einsatzes für das von Gott erwartete und gebotene Gute, die sich aus der konkreten Gegebenheit der Konkupiszenz in seinem Willen und seiner Freiheit herleitet.« (55) Luthers simul-Formel stellt darum nichts anderes dar als die zugespitzte theoretische Explikation dieser tiefen Glaubenserfahrung (66), d. h. der Unvollkommenheit des Christen in der Hingabe an Gott, die aber von seiner grundsätzlichen Orientierung auf Gott hin umgriffen ist. Iammarrone versucht in der Folge den Nachweis zu führen, dass das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient ebenfalls genau diese genuin christliche Erfahrung zu artikulieren suchte, wenngleich es dies nicht in der hyperbolisch-paradoxalen Sprache Luthers, sondern eher in einer objektiv-deskriptiven, sapientialen Redeweise tat.64 Auch die theologische Anthropologie Trients kann mithin in der Formel simul iustus et peccator zusammengefasst werden, und zwar nicht nur »in einem existentiellen Sinn, sondern auch in einem lehrhaft-dogmatischen« (79). Denn nach Iammarrone ist der Konkupiszenzbegriff des Trienter Erbsündendekrets, wonach die Konkupiszenz in sich nicht Sünde ist und denen, die ihr nicht zustimmen, nicht zu schaden vermag (DH 1515), durch das im Rechtfertigungsdekret implizierte konkretere Konkupiszenzverständnis zu ergänzen und so zur »integralen Konkupiszenzlehre« (151) des Konzils vorzudringen. Wenn es im Rechtfertigungsdekret heißt, dass die Gerechtfertigten durch ihre guten Werke dem Gesetz Gottes volle Genüge tun können, aber nur »gemäß den Bedingungen dieses Lebens« (»pro huius vitae statu«: DH 1546), so sieht Iammarrone hier genau jene auch von Luther gemeinte »Unvollkommenheit« und »Reserve« in der Hingabe und Übereignung an Gott (81, 154) ausgedrückt,65 welche eben auf die bleibende Konkupiszenz zurückzuführen ist, die dem Gerechtfertigten fak Iammarrone greift hier offensichtlich auf die Differenzierung zwischen existentieller und sapientialer Theologie zurück, wie sie Otto Hermann Pesch mehrfach auf Luther und Thomas von Aquin angewandt hat. 65 Ihretwegen muss der Mensch die Barmherzigkeit Gottes anrufen, ja sich »vor seinem Angesicht immer als Sünder betrachten« (155). 64

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tisch, also nicht nur der Möglichkeit nach, immer schon jenen Konsens »ex parte« abverlangt, ohne dass dieser den prinzipiellen Konsens zu Gott in Frage stellt.66 Die Konkupiszenz ist also im bestimmten Sinn eine »befürwortete Konkupiszenz« (»concupiscenza assecondata«: 79), die als solche nicht nur eine »bloße Potenz oder einen reinen Pol der Versuchung« darstellt, sondern eine »konkrete Dynamik, sich Gott zu widersetzen« (151). Auch das Trienter Konzil hat also jene reale Dialektik des christlichen Lebens, auf die es Luther ankam, im Blick, die sich für Iammarrone auch in den Selbstzeugnissen der großen Heiligen immer wieder Ausdruck verschafft. Er gesteht zu, dass das Konzil nicht soweit wie Luther gegangen ist und die Konkupiszenz als vere peccatum bezeichnet hat, weil es mit einem univoken, d. h. auf die Tatsünde im Sinne der wirklichen Trennung von Gott konzentrierten Sündenbegriff operierte. Aber die »Substanz« des vere peccatum bzw. den »tiefen Sinn dieses Ausdrucks« hat es mit seiner Lehre von der durch die Konkupiszenz bedingten strukturellen Gebrochenheit der Hingabe an Gott sehr wohl festgehalten (155; vgl. 153 ff.). Nach Iammarrone widerspricht diese Deutung nicht DH 1515, wonach die Konkupiszenz ohne Konsens keine Sünde darstellt, weil es an dieser Stelle um den wissentlich-freien Konsens zu ihr, d. h. um die aktuelle Sünde geht, während es sich im Rechtfertigungsdekret um die Konkupiszenz handelt, sofern sie immer schon mit einem »halbfreien, halbbewussten, teils unbewussten Konsens oder Wohlgefallen« (155) versehen ist.67 Diese bildet deshalb zwar nicht eine bloße Disposition zur Sünde, ist andererseits aber auch keine Sünde im Sinne der Trennung von Gott, eben weil sie im Kontext des durch die Gnade fundamental erneuerten Gottesverhältnisses zu stehen kommt. Wenn Trient ausdrücklich den Satz Luthers verurteilt, dass der Gerechte in jedem guten Werk zumindest lässlich sündige (DH 1575; vgl. 1539), so richtet sich dies nach Iammarrone nicht notwendig gegen den Sachgehalt des simul (d. h. auf den Konsens »ex parte« zum eigenen Ich auch im Tun des Guten), sondern – so ist Iammarrone wohl zu verstehen – auf die Luther unterstellte Annahme einer mit einem frei-willentlichen Konsens in jedem guten Werk vollzogene leichtere Tatsünde (80 f.). Sieht man von der »Verschiedenheit der Sprache« ab, »so koinzidieren die beiden Sichtweisen in der Tiefe [in profondità coincidono]« – und zwar »auf der Ebene der Erfahrung [sul piano dell’ esperienza] wie auch der des theologischen Verständnisses [visione teologica]«. Es handelt sich nicht um »einen Unterschied der Erfahrung und der Lehre, sondern allein der Worte« (81 f.)!68

Aus diesem Grund sieht Iammarrone durch seine Interpretation auch nicht die von Trient gelehrte real- gnadenhafte Erneuerung des Gerechtfertigten geschmälert oder gar negiert. 67 Der Einwand, dass Iammarrone anders als DH 1515 keine konsensfreie Konkupiszenz kenne, verfängt also nicht, da es sich in beiden Fällen nicht um einen Konsens auf derselben Ebene handelt. 68 Iammarrone (129 ff.) sieht diese reale Dialektik des christlichen Lebens, also die Spal66

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Iammarrone kommt in seiner Studie folglich zu dem Ergebnis, dass sowohl Luther als auch das Konzil von Trient dieselbe christliche Erfahrung beschreiben, wenngleich sie diese jeweils in einem unterschiedlichen Sprachspiel, einem unterschiedlichen theologischen Denkstil konzeptionalisieren. Insofern kann man sagen, dass Luther und Trient von derselben »res« sprechen und auf sie bezogen sind. Jedoch ist nach Iammarrone auch auf der lehrmäßigen Ebene eine Kompatibilität der beiden Ansätze gegeben bzw. herstellbar, wenn sie nur konsequent auf die ihnen gemeinsame Erfahrung bezogen werden und diese leitend wird für die theologische Reflexion. Beide sind dann unbeschadet verschiedener Akzentsetzungen legitime Ausdrucksweisen derselben Wahrheit! Iammarrone formuliert zusammenfassend: In einem je spezifischen Sprachstil »ist mit den Mitteln der theologischen Reflexion dieselbe christliche Glaubenserfahrung [la medesima esperienza cristiana di fede] gemeint und ausgedrückt, und zwar in Formen, die, rechtverstanden, auf der Ebene der Lehre wechselseitig von der katholischen Kirche und dem lutherischen Bekenntnis akzeptiert werden können. Deshalb […] ist die Formulierung des Reformators und jene Trients mehr als miteinander vereinbar [sono più che compatibili], weil sie in der Substanz, in der Tiefe dieselbe Sache zum Ausdruck bringen wollen [nella sostanza, in profondità, intendono esprimere la medesima res].« (157 f.)69 Iammarrones Annäherung an Luthers simul ist – das dürfte deutlich geworden sein – für einen katholischen Theologen höchst beachtlich, weil er eindeutig über die Qualifizierung der postbaptismalen Konkupiszenz als bloße Neigung zur Sünde hinausgeht, wenngleich er sie auch nicht explizit »Sünde« nennt. Ob seine These vom beim Christen noch bestehenden Konsens »ex parte« zur bleibenden Konkupiszenz, welche expressis verbis bei Luther so nicht vorkommt, gleichwohl dessen Auffassung trifft, wird in unserer Arbeit zu klären sein. Ebenso muss Iammarrones Behauptung geprüft werden, ob Luthers Qualifizierung der fortdauernden Konkupiszenz als peccatum damnabile et mortale, obwohl diese doch den Christen von Gott nicht trennt, nur auf seine übertreibende, paradoxe Sprachform zurückzuführen oder nicht doch anders zu erklären ist. Das eigentliche Problem dürfte aber in der Interpretation der Position von Trient durch Iammarrone bestehen. Da seine Deutung, falls sie zuträfe, weitreichende Konsequenzen für die katholische Doktrin hinsichtlich des simul und ihres Verhältnisses zu Luther hätte, tung des Konsenses bzw. die Tatsache, dass die verbleibende Konkupiszenz dem Christen immer schon einen Konsens »ex parte« abgerungen hat, nicht hinreichend im »Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung« der GE artikuliert. Die hier getroffene Bestimmung der Konkupiszenz als »Gefährdung« durch die Sünde und »Einfallstor« für sie ist deshalb defizitär. Der »Anhang« bleibe somit nicht nur hinter Luther, sondern auch hinter Trient zurück. 69 Vgl. 148 f., 160: Es ist festzuhalten, »dass die Lehre Luthers und jene Trients über die Gegenwärtigkeit der Sünde im Leben des Gerechtfertigten substantiell dieselbe Sache [sostanzialmente la medesima cosa (res)] meinen. Beide zeigen die dem christlichen Leben innewohnende Dialektik als Leben gemäß der Gnade auf.«

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muss hier ausführlich zu ihr Stellung bezogen werden. Festzustellen ist zunächst, dass von der Konkupiszenz im Trienter Rechtfertigungsdekret und gerade in DH 1546 explizit gar nicht die Rede ist und es deshalb problematisch anmutet, alles, was Trient über die bleibende Gefährdung und Anfälligkeit des Gerechtfertigten durch die Sünde konzediert, mit dem Begriff einer »concupiszenza assecondata« in Verbindung zu bringen, der zudem mit dem Konkupiszenzverständnis im Erbsündendekret (wie Iammarrone selbst einräumt) nicht deckungsgleich ist, wenngleich zu ihm auch nicht im Widerspruch steht. Anders formuliert: Die These vom unthematischen, nicht (voll) reflexen Konsens »ex parte« zur bösen Begierlichkeit, der dann von der konkret-bewussten, sie zur eigentlichen Sünde machenden Zustimmung zu ihr (vgl. DH 1515) abzuheben wäre, dürfte kaum am Wortlaut des Rechtfertigungsdekrets Anhalt haben, geschweige denn als heutige katholische Lehrposition zu statuieren sein. Die jüngsten Stellungnahmen des römischen Lehramts, das wird die Darstellung der Diskussion um die GE zeigen, weisen klar nicht in diese Richtung. Der gravierendste Einwand gegen Iammarrones These, dass auch das Tridentinum eine strukturell-bleibende, bis in das Innerste der Person vordringende und die christliche Erfahrung fundamental prägende Unvollkommenheit und »Reserve« in der Hingabe des Gerechtfertigten an Gott angenommen habe, besteht freilich in einer historischen Tatsache: in der konziliaren Ablehnung der Lehre von der sog. »doppelten Gerechtigkeit«, auf die Iammarrone sich explizit bezieht, weil sie seiner eigenen Auffassung in der Tat sehr nahe kommt.70 Richtig ist, dass das Konzil diese Lehre nicht ausdrücklich verurteilt hat. Festzuhalten ist aber auch, dass die Mehrheit der Konzilsväter diese Lehre zurückwies und alle Anklänge an sie in den Vorentwürfen des Rechtfertigungsdekrets bis zu seiner Endfassung systematisch getilgt wurden. Die Konzeption der duplex iustitia – ihr Hauptvertreter in Trient war der General der Augustinereremiten Gerolamo Seripando – geht davon aus, dass der Glaubende neben seiner ihm gnadenhaft inhärierenden Eigengerechtigkeit bei der Rechtfertigung am Ende seines Lebens einer nochmaligen Applikation oder Imputation der Gerechtigkeit Christi bedürfe, um vor dem Gericht Gottes bestehen zu können. Dies impliziert aber eine sich auch in der christlichen Selbsterfahrung manifestierende prinzipielle Unvollkommenheit der irdischen Gerechtigkeit und kommt so, wie man in Trient selbst erkannt hatte,71 dem lutherischen simul iustus et peccator zumindest nahe, wie denn die Lehre von der duplex iustitia auch als Brückenschlag zur reformatorischen Rechtfertigungslehre hin entworfen worden war. Sie hängt darüber hinaus auch mit einer bestimmten, nämlich der augustinischen Deutung Vgl. 74–78, 159 f. Siehe zum Folgenden Jedin, Geschichte Bd. 2, 114 f., 122 ff., 213–218, 238–242, 246, 262; von Loewenich, Duplex iustitia, bes. 78–83. Wir beziehen uns hier nur auf jene Fassung der Theorie von der duplex iustitia, welche auf dem Konzil von Trient wirksam war. 71 Vgl. Jedin, Geschichte Bd. 2, 215. 70

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

der Konkupiszenz zusammen, die sich in Trient ebenfalls nicht durchzusetzen vermochte: Ihr zufolge ist die Konkupiszenz zwar nach der Taufe keine Sünde mehr, ihr »reatus« ist ja weggenommen, sie stellt aber gleichwohl weiterhin eine gewisse »Gottwidrigkeit« dar, welche die Gerechtigkeit und Gesetzeserfüllung des Getauften irdisch unvollkommen sein lässt. Der Gerechte vermag das Gebot »Du sollst nicht begehren!« nicht zu erfüllen, da dieses nicht nur auf das willentlich bejahte, sondern auch auf das unwillkürliche Begehren zielt. Iammarrones These von der sich in der christlichen Erfahrung dokumentierenden strukturell unvollkommenen Übereignung des Christen an Gott lässt sich hierin gut wiedererkennen. Das Konzil hat die Theorie der duplex iustitia – wie gesagt – abgelehnt, wenn auch nicht formell verworfen. Seine Aussagen über die iustitia inhaerens als einzige causa formalis der Rechtfertigung (DH 1529–1531; vgl. 1547) sowie über die vollständige Gesetzeserfüllung der Gerechtfertigten, wodurch sie das ewige Leben wirklich verdienen (DH 1546), lassen sich damit schwer vereinbaren, wenngleich man die Einschränkung »gemäß den Bedingungen dieses Lebens« (»pro huius vitae statu«) als eine letzte Konzession an die Lehre von der duplex iustitia lesen kann. Weiter steht die Qualifizierung des ewigen Lebens sowohl als Gnade als auch als Lohn (DH 1545) und die Behauptung der Verdienstlichkeit der guten Werke (DH 1548) kaum in Übereinstimmung mit der Konzeption des »geteilten Konsenses«, ohne dass das Konzil eine Sündlosigkeit der Gerechtfertigten behauptet hätte (vgl. DH 1537, 1573). Nimmt man dies alles zusammen, so wird man vorsichtig sein, die interkonfessionelle Differenz im Blick auf das simul iustus et peccator auf eine bloße Differenz »allein in den Worten« zu reduzieren, weil man letztlich schon auf dieselbe »res« bezogen sei und auch die lehrmäßigen Theoretisierungen dieser res kompatibel seien. Dies schließt nicht aus, dass der Theologe Iammarrone mit Luther auf die dieselbe »res« bezogen ist, was aber nochmals von der offiziellen Position seiner Kirche zu unterscheiden ist.

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Die Diskussion um das »simul iustus et peccator« anlässlich der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«

4.1 Das »simul« in der »Gemeinsamen Erklärung« (GE) Wir verzichten in diesem Kapitel darauf, auf die verschiedenen ökumenischen Dialoge um die Rechtfertigungslehre zwischen der römisch-katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten einzugehen, zumal in ihnen die Bezugnahmen auf das simul eher spärlich sind.72 Stattdessen wenden wir uns sogleich der sog. »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GE) in ihrer Endfassung aus dem Jahr 1997 zu,73 welche – mit Vgl. dazu Maurer, Rechtfertigung, 91–96; Sattler, Simul, 12–18. – In Lehrverurteilungen I z. B. wird die simul-Formel nur einmal explizit erwähnt, und zwar im Kontext des strittigen Verständnisses der Gnade als göttlichem Freispruch oder als qualitas in der menschlichen Seele (53 f.; vgl. 39), bei der Behandlung des Konkupiszenzbegriffs dagegen nur indirekt angesprochen (51 ff.; vgl. 37 f.). 73 Zum Folgenden vgl. auch Scharbau, Gerecht. – Wir zitieren die GE nach den nummerierten Absätzen. Zur ihrer Entstehungsgeschichte vgl. Wendebourg, Entstehungsgeschichte, speziell zum simul: 166 f. Dort, 168–198, auch eine Synopse der verschiedenen Fassungen. Ferner Sattler, Simul, 19–25. Der Entstehungs- und Rezeptionsprozess der GE ist jetzt dokumentiert in: Hauschildt/Hahn/Siemens (Hrsg.), Erklärung. Zum innerevangelischen Diskussionsverlauf um die GE vgl. Wallmann, Streit. – Wie aus der Synopse der drei Fassungen (1995, 1996, 1997) bei Wendebourg, 189 ff., hervorgeht, wurde in GE 29 parr (lutherische Darstellung des simul) erst in der Endfassung der Totalaspekt der Formel explizit eingefügt: »ganz gerecht«, »zugleich ganz Sünder« (Hv.). Ebenso wird erst 1997 die Gottwidrigkeit der Konkupiszenz ausdrücklich als Sünde qualifiziert, während die Katholiken schon seit 1995 in GE 30 parr betonen, dass die Konkupiszenz »nicht im eigentlichen Sinne« Sünde sei. Angefügt wurde 1997 in GE 29 parr weiterhin die lutherische Sicht von der lebenslangen Buße als »täglicher Rückkehr zur Taufe«. In GE 30 parr (katholische Präzisierung des »Sünderseins des Gerechtfertigten«) wird 1997 die unterschiedliche Wirkweise der Taufe und des Bußsakraments und damit die Eigenständigkeit des Letzteren hervorgehoben. Dass der Stand der Rechtfertigung durch schwere Sünde nach der Taufe nur durch das Bußsakrament, also ekklesial-institutionell vermittelt, wiedererlangt wird, darf als eines der Hauptanliegen der katholischen Kirche in der Diskussion um das simul betrachtet werden, das sie in der lutherischen Fassung der »bleibenden Sünde« gefährdet 72

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

einer »Gemeinsamen offiziellen Feststellung« (GOF) und einem dazugehörigen »Anhang« versehen – am 31. Oktober 1999 von der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund (LWB) unterzeichnet wurde und die bisherigen Dialogergebnisse zusammenfassend bilanzieren und eine offizielle Stellungnahme der Kirchen dazu ermöglichen möchte (vgl. GE 4 ff.). In der GE wird das simul explizit thematisiert, und es war gerade diese Thematik, die zusammen mit dem »sola fide« und der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels in der Phase zwischen der Übersendung der GE an die Kirchen zur Stellungnahme im Februar 1997 und der offiziellen Unterzeichnung zu Diskussionen auf beiden Seiten geführt hat, was dann die Anfügung jener schon erwähnten GOF und ihres Anhanges zur Folge hatte. Die GE beansprucht, zwischen der römisch-katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen einen »Konsens in (den) Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre«74 erzielt zu haben, so dass die weiterhin bestehenden unterschiedlichen konfessionellen »Entfaltungen« dieser Lehre nicht mehr kirchentrennend sind (GE 44) und diesen Grundkonsens nicht aufheben (GE 40), sondern als »Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung des Rechtfertigungsverständnisses« tragbar und füreinander offen sind (GE 40; vgl. 14). Deshalb treffen auch – so die Überzeugung – die gegenseitigen früheren Lehrverurteilungen die in der GE vertretene Lehre des jeweiligen Dialogpartners diesen nicht mehr (vgl. GE 5, 13, 40 f.).75 Diese Form des »differenzierten Konsenses« wird in der GE nun so erarbeitet, dass nach der Darlegung der biblischen Grundlagen (GE 8–12) ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigung expliziert wird (GE 14–18). Dem folgt ein Abschnitt, welcher dieses gemeinsame Verständnis näher »entfaltet« (GE 19–39). Dabei wird bei den in der Vergangenheit strittig gewesenen Einzelthemen so vorgegangen, dass jeweils das gemeinsam Aussagbare vorangestellt wird und anschließend die lutherische bzw. katholische sieht. Festzuhalten ist noch, dass GE 28 parr (also die gemeinsamen Darstellung) 1995 noch von »sündhaften Neigungen« (Hv.) spricht, was aber bereits 1996 eliminiert und 1997 durch die Rede von der »Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens« (Hv.) ersetzt wurde, also katholischerseits nicht mehr annehmbar war. In den jeweils gesonderten konfessionellen Darstellungen haben beide Seiten, offenbar veranlasst durch Kritik aus den jeweils eigenen Reihen, ihre Position durch Erweiterungen insgesamt profiliert, dadurch aber den fortbestehenden sachlichen Widerspruch unübersehbar gemacht. 74 Beide Wendungen (mit oder ohne Artikel) kommen in der GE vor, wobei die erstere Wendung seltener ist. Sachlich ist ein »Konsens in den Grundwahrheiten« (GE 14, 40; Hv.) weitergehender als nur ein »Konsens in Grundwahrheiten« (GE 5, 13, 40, 43; GOF Nr. 1; Anhang Nr. 1; Hv.). Vgl. Wendebourg, Entstehungsgeschichte, 161 f. 75 Beides wird also eng, d. h. kausal miteinander verknüpft: der »Konsens in (den) Grundfragen der Rechtfertigungslehre« und das (Nicht-)Getroffenwerden des heutigen Adressaten von den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts. So auch in der entsprechende Frage, welche der LWB am 27.02.1997 den lutherischen Kirchen im Blick auf die GE zur Entscheidung vorlegte. (Text bei Wendebourg, Entstehungsgeschichte, 206) Für eine Entflechtung beider Fragestellungen plädiert Härle, Konsens, 35.

Die Diskussion um das »simul iustus et peccator«

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»Präzisierung« folgt, vorgetragen allerdings in einer vermittelnden und Missverständnisse ausräumenden Weise. Nachdem in GE 22–24 von der Rechtfertigung als »Sündenvergebung und Gerechtmachung« gehandelt wurde, thematisieren GE 28–30 das »Sündersein des Gerechtfertigten«, das also die aus der Rechtfertigung folgende »Erneuerung des Lebens des Christen« (GE 23) bzw. des »inneren Menschen« (GE 24) nicht mehr in Frage stellen soll.76 Gemeinsam wird von Katholiken und Lutheranern darüber ausgesagt: Der durch den Heiligen Geist in der Taufe mit Christus vereinte, gerechtfertigte und erneuerte Mensch bleibt gleichwohl »zeitlebens und unablässig auf die bedingungslos rechtfertigende Gnade Gottes angewiesen«. Auch der Gerechtfertigte ist »der immer noch andrängenden Macht und dem Zugriff der Sünde nicht entzogen (vgl. Röm 6,12–14) und des lebenslangen Kampfes gegen die Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens des alten Menschen nicht enthoben (vgl. Gal 5,16; Röm 7,7.10)«. (GE 28) Der Abschnitt thematisiert also genau das, was in der Vergangenheit Anlass zur Kontroverse zwischen Katholiken und Lutheranern war: Wie ist jene auch im Christen nach der Taufe noch verbleibende Konkupiszenz als falsche Ichbezüglichkeit zu bewerten, in der sich die Sünde als auch den Christen noch betreffende transpersonale Macht geltend macht? Dieses »selbstsüchtige Begehren« wird an dieser Stelle selbst aber nicht Sünde, sondern nur »Gottwidrigkeit« genannt. Diese solcherart für verschiedene Interpretationen offenen Ausführungen werden nun jeweils konfessionell »aufgefüllt«. Die lutherische Seite nimmt sie zum Anlass, das simul zu explizieren: »Das verstehen Lutheraner in dem Sinne, dass der Christ ›zugleich Gerechter und Sünder‹ ist: Er ist ganz gerecht, weil Gott ihm durch Wort und Sakrament seine Sünde vergibt und die Gerechtigkeit Christi zuspricht, die ihm im Glauben zu eigen wird und ihn in Christus vor Gott zum Gerechten macht. Im Blick auf sich selbst aber erkennt er durch das Gesetz, dass er zugleich ganz Sünder bleibt, dass die Sünde noch in ihm wohnt (1 Joh 1,8; Röm 7,17.20); […] Diese Gottwidrigkeit ist als solche wahrhaft Sünde.« (GE 29) Sogleich wird aber – in Anknüpfung an Luthers Unterscheidung zwischen peccatum regnans und peccatum regnatum – angefügt, dass solche Sünde den Christen nicht Das entscheidende Problem besteht freilich nicht in der Duplizität von Rechtfertigung und Gerechtmachung als solcher, sondern in der Zuordnung beider Momente zueinander: Geht die Gerechtmachung in Gottes Gerechtsprechung (später einmal) ein, wird also die Gerechtmachung auch zur Gerechtigkeit vor Gott – oder geschieht die Gerechtsprechung durch Gott irdisch bleibend allein um Christi willen und erfolgt insofern – im Blick auf den Menschen – kontrafaktisch? GE 23 (lutherisch) sagt dazu, »dass die Rechtfertigung frei bleibt von menschlicher Mitwirkung und auch nicht von der lebenserneuernden Wirkung der Gnade abhängt« (Hv.). GE 24 (katholisch) führt demgegenüber nur aus: Die Katholiken »verneinen damit [mit der Betonung der Erneuerung des inneren Menschen] aber nicht, dass Gottes Gnadengabe in der Rechtfertigung unabhängig bleibt von menschlicher Mitwirkung«. An dieser entscheidenden Stelle ist auch schon Lehrverurteilungen I, 54 f., unklar. 76

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mehr »beherrscht«, sondern durch Christus »beherrschte Sünde« ist, so dass sie ihn nicht mehr von Gott trennt und der Gerechtfertigte »stückweise ein Leben in Gerechtigkeit führen« kann. Gleichwohl ist »der Gerechtfertigte auch Sünder und seine Gottwidrigkeit wahrhaft Sünde« (GE 29). Dieser Abschnitt legt – so kann man wohl urteilen – die lutherische Lehre über das simul korrekt dar:77 Er wendet sich zunächst dem Totalaspekt (totus iustus – totus peccator) zu, der in unterschiedlicher Hinsicht gilt: Von Gott und seinem Heilshandeln in Christus her ist der Christ ganz gerecht, von sich her, im Blick auf sich ist er »zugleich ganz Sünder«. Solcher Totalaspekt schließt aber den Partialaspekt (partim iustus – partim peccator), d. h. ein anfängliches Rechtwerden, nicht aus. Demgegenüber stellt GE 30 als katholische Position im Anschluss an das Tridentinum heraus, dass in der Taufe alles, was wirklich Sünde und verdammenswürdig (Röm 8,1) ist, weggenommen wird. Jene nach der Taufe verbleibende, »aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung (Konkupiszenz)« ist aber nicht Sünde »im eigentlichen Sinne«, da für das Zustandekommen der Sünde ein »personales Element« erforderlich ist.78 Insofern dies aber bei jener »gottwidrigen Neigung« nicht gegeben ist, ist diese sensu stricto auch keine Sünde, obwohl sie »nicht dem ursprünglichen Plan Gottes vom Menschen entspricht« und »objektiv Gottwidrigkeit und Gegenstand lebenslangen Kampfes ist«, also keine neutrale Größe darstellt. Sünder wird der Gerechtfertigte aber erst wieder, wenn er sich »willentlich von Gott trennt«, also jener »gottwidrigen Neigung« nachgibt, so dass er die Versöhnung nur im Bußsakrament wieder empfangen kann. Dabei vertritt GE 30 offenbar die Position, dass die Konkupiszenz ohne persönliche Zustimmung generell keine Sünde darstellt, d. h. sie nicht erst in den Getauften eine bloße Potentialität für die Sünde bildet, während sie vor der Taufe von Gott als Sünde angerechnet würde. Ja, man muss sogar urteilen, dass die letztere Auf-

Ich meine dies trotz Jüngels Kritik an der Präsentation des simul, Exegesis, 258–264, sagen zu können. Dazu unten Teil III, Kap. 5 (4.2.1). 78 GE 1996 (Wendebourg, Entstehungsgeschichte, 191) sprach an dieser Stelle noch präziser davon, dass die Konkupiszenz »nicht eine freie, sittlich falsche Entscheidung« sei. Track, Grundsatzüberlegungen, 24 f., 35 f., wertet den Ausdruck »personales Element« dagegen positiv, weil er eine Annäherung der lutherischen und katholischen Position signalisiere: Auch für Erstere sei die unwillkürliche Konkupiszenz nicht apersonal, sondern gleichsam von einem personalen Einverständnis getragen. Jedoch dürfte dies kaum die »freie, sittlich falsche Entscheidung« zu einer konkreten Tat sein, welche die katholische Position meint. Diese tritt ja zur gottwidrigen Konkupiszenz allererst hinzu, eignet ihr also nicht schon per se. Wenn Track sagt, erst »durch ein willentliches Zulassen und Wollen« (24; vgl. 36) würde die Gottwidrigkeit zur Sünde, dürfte er damit das »personale Element« lutherischerseits überdehnt haben, zumal dieses ja auch nach der Taufe bleibt. Track konzediert dann selbst (24), dass die Rede vom »personalen Element« eine nicht unproblematische (gewollte?) »offene Formulierung« sei. Dass sie die konfessionellen Positionen aufzubrechen geeignet sein kann, zeigt der Beitrag von Kösters (s. u.). Allerdings muss sie dann zur Anerkennung der Konkupiszenz als Sünde führen. 77

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fassung im Laufe der drei Fassungen von GE 30 parr zunehmend ausgeschlossen wurde.79 Es ist nun mehr als fraglich, ob jenes Ideal des »differenzierten Konsenses«, bei dem man in (den) Grundwahrheiten einig ist, die verbleibenden Differenzen dieser Einheit in (den) Grundwahrheiten gleichwohl nicht widersprechen, im Blick auf das simul tatsächlich erreicht worden ist, oder ob die alten Gegensätze nicht doch unvermittelt nebeneinander stehen bleiben und die Einigung in der vorangestellten gemeinsamen Darlegung (GE 28) nur eine scheinbare ist, die mittels des doppeldeutigen Begriffs der »Gottwidrigkeit« erzielt wurde.80 Denn dieser wird in GE 29 von den Lutheranern anders (d. h. als Sünde) gedeutet als in GE 30 von den Katholiken (d. h. als bloß zur Sünde hindrängende Neigung). Der in GE 28 gebrauchte Begriff der »Gottwidrigkeit« kann aber nur entweder mit seinem Gebrauch in GE 29 oder in GE 30 konkordieren, nicht aber mit beiden Gebrauchsweisen, er muss also entweder in GE 29 oder in GE 30 etwas völlig anderes bedeuten als in GE 28! Dies heißt aber, dass jede der beiden Seiten das gemeinsam Gesagte verschieden verstehen muss, wenn sie es mit ihrem eigenen Verständnis von Sünde in Einklang bringen will.81 Der fortbestehende Dissens kann auch nicht mit dem Argument ausgeräumt werden, beide Seiten operierten doch mit einem unterschiedlichen Sündenverständnis und insofern liege ei-

Vgl. die Synopse bei Wendebourg, Entstehungsgeschichte, 190 f. Im ersten Entwurf (1995) wird ausschließlich »die nach der Taufe bleibende ›Begierlichkeit‹« ins Auge gefasst, die »den Gerechtfertigten nicht mehr von Gott trennt und […] deshalb nicht im eigentlichen Sinn Sünde [ist]«. (Hv.) Indem 1996 und 1997 zunehmend die »freie Entscheidung« bzw. das »personale Element« als für den Sündenbegriff entscheidendes Kriterium in den Vordergrund tritt, wird die Konkupiszenz auch als per se nicht sündig verstanden. Unklar bleibt freilich der Satz (1997): »In Dankbarkeit für die Erlösung durch Christus wollen sie [die Katholiken] herausstellen, dass die gottwidrige Neigung nicht die Strafe des ewigen Todes verdient und den Gerechtfertigten nicht von Gott trennt.« 80 Dalferth, Kairos, 56 f., urteilt: »Mit aller Deutlichkeit werden die unverändert gegen­ sätzlichen Positionen im Blick auf das ›Sündersein des Gerechtfertigten‹ benannt. […] Deut­licher könnte ein Dissens nicht sein. […] Spätestens hier wird unübersehbar, dass die nach wie vor bestehenden Differenzen keineswegs nur ›unterschiedliche Entfaltungen‹ eines ›Konsenses in Grundwahrheiten‹, bloße ›Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung‹, sondern Ausdruck eines tiefen Dissenses sind.« 81 Dazu Dalferth, Antworten, 26. – Bemerkenswert ist auch der Schriftgebrauch in den GE 28–30: Röm 7 wird sowohl in der gemeinsamen Darstellung des »Sünderseins des Gerechtfertigten« als auch in der lutherischen Darbietung dieser Thematik unreflektiert und ohne Bezugnahme auf die diesbezüglichen exegetischen Diskussionen für den Christen in Anspruch genommen und deshalb Röm 7,7.10 mit Gal 5,16 parallelisiert. Eigenartigerweise wird gerade Röm 7,7, wo Paulus die Begierde – wie auch immer – Sünde nennt, nicht von den Lutheranern für das simul angeführt, sondern nur auf Röm 7,17.20 verwiesen. Auch die Auseinanderdividierung von 1 Joh 1,8 f. (1,8 für die lutherische, 1,9 für die gemeinsame Position zitiert) zeugt nicht von einem organischen Schriftgebrauch, sondern betrachtet einzelne Bibelverse nur als Belege für dogmatische Sätze. 79

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gentlich kein »einfacher Widerspruch« vor,82 weil zwar der katholische und der lutherische Sündenbegriff in der Tat unterschiedlich sind, aber dennoch keine reine Äquivokation, sondern nur eine partiale Differenz im Begriff vorliegt. Der lutherische Sündenbegriff ist weiter gefasst, da er schon die unwillkürliche, unvermeidbare gegengöttliche Dynamik des Menschen und nicht erst seine implizit immer gegen Gott gerichtete böse Tat als Sünde qualifiziert. Doch für beide Seiten ist Sünde das von Gott Trennende, das vor Gottes Gericht nicht bestehen Könnende, und der Streit geht nur darum, worin dieses von Gott Trennende schon bzw. erst anzusetzen sei. Es kann daher von der Konkupiszenz nicht zugleich gesagt werden, dass sie für sich genommen in diesem Sinne Sünde und nicht Sünde sei.

4.2 Reaktionen auf die Position der »Gemeinsamen Erklärung« Insofern verwundert es nicht, dass sowohl von lutherischer als auch von katholischer Seite – neben anderen Kritikpunkten – geäußert wurde, dass in der GE das simul nicht vermittelt ist. Dies geschah in dem »Votum der Hochschullehrer« zur GE vom Januar 1998, in dem diese fordern, die GE in der vorliegenden Form abzulehnen, weil der angestrebte »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« nicht erreicht wurde, was insbesondere für das simul gilt: »Kein Konsens wurde erreicht über das Sündersein des Gerechtfertigten.« (33) In ähnlich kritischer Weise hält die »Stellungnahme« der Tübinger Evangelischen-theologischen Fakultät im Februar 1998 zum simul fest: Hierüber sei »kein »Einverständnis erzielt worden« (3). In gleiche Richtung zielten neben Ingo U. Dalferth auch die Voten von Wilfried Härle (1997)83 und Gunther Wenz (1997)84, verteidigt wurde der gefundene Konsens von Theodor Dieter vom Straßburger Institut für Ökumenische Forschung (1998).85 Dabei geht es im Grunde immer um zwei, wenngleich eng verbundene Fragestellungen: einmal um die Bewertung der Konkupiszenz als Sünde oder nicht Sünde und um das daraus folgende Verständnis des bleibenden Sünderseins des Gerechtfertigten. Dass die Frage des simul iustus et peccator in der Tat ein virulenter Punkt war, wurde in den offiziellen Stellungnahmen bzw. Antworten des Lutherischen Weltbundes (LWB) und der katholischen Kirche auf die GE sichtbar. In seinen »Beschlüssen« zur GE vom 16.6.1998 stellt der Rat des LWB fest, dass in der GE ein So Dieter, Antwort, 2, 5 f. Vgl. Härle, Ja, 720: »fundamentaler Dissens«. 84 Vgl. Wenz, Konsens, 42 ff. Wenz sieht jedoch in den verbleibenden Differenzen keinen »kirchentrennenden Gegensatz« und keinen Grund, »das ganze Dokument abzulehnen« (43). 85 Vgl. Dieter, Antwort, 2, 5 ff. 82

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»Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« bzw. ein diesbezüglicher »differenzierter Konsens« vorliege (21, 23)86 und dass die Mehrheit der lutherischen Kirchen, welchen die GE zur Beratung vorgelegt worden war, diese »angenommen« bzw. verneinend auf die Frage der Fortgeltung der reformatorischen Lehrverurteilungen für die in der GE von der katholischen Kirche vertretene Lehre geantwortet habe (22). Deshalb sei auch der GE zuzustimmen (25). Gleichwohl wird aber darauf hingewiesen, dass bestimmte Themen sich als »außerordentlich schwierig erwiesen« haben, Gegenstand intensiver Diskussionen geworden sind und die Auseinandersetzung darüber nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf. Unter diesen Themen wird neben dem Stellenwert der Rechtfertigungslehre als Kriterium und dem Verhältnis von guten Werken und Bewahrung der Gnade »Konkupiszenz und Sünde im Gerechtfertigten« (23) genannt. Der LWB fordert aber diesbezüglich keine Veränderungen an der GE. Die »Antwort der katholischen Kirche« auf die GE (AKK) vom 26.06.1998 ist in der Benennung der noch offenen Fragen weniger zurückhaltend, urteilt aber zunächst wesentlich affirmativer als der LWB: »Die Feststellung, dass es ›einen Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre‹ gibt, ist richtig.« (26) Dennoch ist dieser Konsens noch kein »so weitgehender Konsens […], der jede Differenz zwischen Katholiken und Lutheranern ausräumen würde« (26). Es liegt noch keine »Verständigung in allen Grundwahrheiten« (26; Hv.) vor, so dass – wie ergänzt werden darf – ohne die notwendige Klärung eine Annahme der GE durch die katholische Kirche nicht möglich wäre (vgl. 28, Nr. 5).87 Die Schwierigkeiten werden nun mit dem Ziel künftiger Klärung und Verständigung ihrer Wichtigkeit nach aufgezählt und an erster Stelle das »Sündersein des Gerechtfertigten« genannt, also die so überschriebenen Nr. 28–30 der GE.88 Hier stellten sich Vgl. Rat des LWB, Beschlüsse, 23: »Die ›Gemeinsame Erklärung‹ beansprucht einen Konsens, den man einen ›differenzierten Konsens‹ nennen könnte, d. h. einen Konsens, der ausreichend ist für bestimmte Zwecke und darum [!] mit verbleibenden Unterschieden kompatibel.« Freilich ist ebd., 25, nur von »Übereinstimmungen in der Rechtfertigungslehre« die Rede. Dass die letztere Wendung ein explizites Abrücken von »Konsens in Grundwahrheiten« bedeute, wie Track, Grundsatzüberlegungen 10 f., meint, lässt sich auf Grund der vorhergehenden Formulierungen des Beschlusses nicht vermuten. Track führt denn auch Stellungnahme, 44, aus, dass der Beschluss des LWB aufgrund kritischer Voten der Mitgliedskirchen nur noch von einem »Konsens in Grundwahrheiten (nicht: in den [Grundwahrheiten])« spreche. 87 Vgl. dazu auch den Brief Kardinal Cassidys an den Sekretär des LWB vom 30.7.1998 (publiziert 22.9.1998), in dem er die AKK erläuterte und sowohl den »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« affirmierte als auch die Klärung der noch verbleibenden Differenzen zu fördern suchte. Cassidy hält aber – offenbar anders als die AKK – aufgrund der »Klarstellungen« der AKK allein eine unverzügliche und vollständige Unterzeichnung der GE für möglich, weil er analog zu »feierlichen Übereinkünften im internationalen Bereich« (78) die AKK als eine Art Zusatzinterpretation zur katholischen Bestätigung der GE betrachtet. Vgl. Track, Grundsatzüberlegungen, 16. 88 Es folgen die Themen der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre, der 86

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die »größten Schwierigkeiten« für einen »vollständigen Konsens«: »Selbst unter Berücksichtigung der in sich legitimen Unterschiede, die von unterschiedlichen theologischen Zugangswegen zur Gegebenheit des Glaubens herrühren, löst vom katholischen Standpunkt her schon allein die Überschrift Erstaunen aus. Nach der Lehre der katholischen Kirche wird nämlich in der Taufe all das, was wirklich Sünde ist, hinweggenommen, und darum hasst Gott nichts in den Wiedergeborenen. Daraus folgt, dass die Konkupiszenz, die im Getauften bleibt, nicht eigentlich Sünde ist. Deshalb ist die Formel ›zugleich Gerechter und Sünder‹ so, wie sie am Anfang von Nr. 29 erklärt wird […], für Katholiken nicht annehmbar. Diese Aussage erscheint nämlich unvereinbar mit der Erneuerung und Heiligung des inneren Menschen, von der das Trienter Konzil spricht. Der in den Nr. 28–30 verwendete Begriff ›Gottwidrigkeit‹ wird von Katholiken und Lutheranern unterschiedlich verstanden und wird daher tatsächlich zu einem mehrdeutigen Begriff. […] Aus all diesen Gründen gibt es Schwierigkeiten mit der Aussage, diese Lehre über das ›simul iustus et peccator‹ sei in der aktuellen Fassung, in der sie in der ›Gemeinsamen Erklärung‹ vorgelegt wird, nicht von den Anathemata (Verurteilungen) der tridentinischen Dekrete über die Ursünde und Rechtfertigung betroffen.« (27 f., Nr. 1; vgl. 28, Nr. 5 )89 Dieser Passus hält die traditionellen Einwände gegen das simul also noch nicht für ausgeräumt: a) Die Konkupiszenz ist nicht selbst Sünde,90 bleibt sie nach der Taufe zurück, so bleibt doch keine Sünde zurück, b) der Verdacht einer Unterbestimmung der erneuernden Funktion der Rechtfertigung.91

menschlichen Mitwirkung bei der Rechtfertigung (»mere passive«) und des Bußsakraments. 89 In der Frage des »Nichtmehrtreffens« der Lehrverwerfungen kommen der Beschluss des LWB und die AKK mithin zu unterschiedlichen Ergebnissen, was katholischerseits auch Rückwirkungen auf die Konsensthematik hat. Vgl. Track, Grundsatzüberlegungen, 12 f., 16; Scharbau, Gerecht, 148 f. – Die beschwichtigenden Erläuterungen Kardinal Cassidy’s (KNA-ÖKI 29, 22.9.1998) komplizieren diese »Schwierigkeiten« fast bis an die Grenze der logischen Widersprüchlichkeit: »Aus diesem Grund stellt die katholische Antwort nicht fest, dass die entsprechende Verurteilung von Trient bestehen bleibt, sondern dass es schwierig einzusehen ist, wie in der vorliegenden Präsentation die Lehre über ›simul iustus et peccator‹ nicht von den Verwerfungen des tridentinischen Dekrets über Ursünde und Rechtfertigung getroffen wird.« (77) Später heißt es dann: »Die katholische Antwort stellt nicht fest, dass irgendeine Verurteilung des Konzils von Trient weiterhin auf die Lehren der lutherischen Kirchen anwendbar wäre, wie sie in der ›Gemeinsamen Erklärung‹ dargelegt sind. Sie hebt jedoch in den Klarstellungen hervor, dass die katholische Kirche ohne weitere Studien und Klärungen nicht kategorisch erklären kann, dass die Lehre über ›simul iustus et peccator‹ nicht mehr der Verurteilung unterliegt. […] Ich sehe darin keine Verneinung von Nr. 41, sondern ein Zögern, sie kategorisch ohne weiteres Studium zu bestätigen.« (78) Vgl. dazu Jüngel, Exegesis, 259 f.17 90 Wir verstehen dies von der Konkupiszenz insgesamt, d. h. nicht nur von der Konkupiszenz, die nach der Taufe bleibt, was durch die nachfolgenden katholischen Stellungnahmen bestätigt wird. 91 So auch Kardinal Cassidy in seiner Erläuterung der AKK, 76.

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Der Text bestätigt zudem auch den von evangelischer Seite gegen die GE vorgebrachten Einwand, dass nicht alle Differenzen nur solche der Sprache und Akzentuierung sind, dass also noch echte Widersprüche bestehen92 und dass im speziellen Fall das Wort »Gottwidrigkeit« in der GE zweideutig gebraucht und von den Parteien unterschiedlich verstanden wird.

4.3 Die »Gemeinsame offizielle Feststellung« (GOF) und der »Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung« Um die bestehenden Differenzen auszuräumen und so den Weg für eine Unterzeichnung bzw. Bestätigung der GE frei zu machen,93 wurde am 11.06.1999 vom Generalsekretär des LWB, Ishmael Noko, und dem Vorsitzenden des Päpstlichen Einheitsrates, Kardinal Edward Cassidy, die »Gemeinsame offizielle Feststellung« Vgl. AKK, 28, Nr. 5: »Der hohe Grad der erreichten Übereinstimmung gestattet allerdings nicht zu behaupten, dass alle Unterschiede, die Katholiken und Lutheraner in der Rechtfertigungslehre trennen, lediglich Fragen der Akzentuierung oder der sprachlichen Ausdrucksweise sind. Einige betreffen inhaltliche Aspekte, und daher sind nicht alle, wie in Nr. 40 behauptet wird, wechselseitig miteinander vereinbar.« Bei den fortbestehenden Divergenzen könne z. Z. noch nicht geltend gemacht werden, dass sie nicht mehr unter die Verurteilungen von Trient fallen. »Das gilt an erster Stelle für die Lehre über das ›simul iustus et peccator‹.« Dass es noch sachlich kontroverse Aussagen gibt, musste schon der Beschluss des LWB einräumen. 93 Kardinal Lehmann, Verständnis, 25 f. (1998), sah in der Klärung der simul-Formel »nochmals eine Nagelprobe auf die gemeinsame Beschreibung der Wirklichkeit der Rechtfertigung im Menschen« durch die GE. Vorschläge zur Überwindung der Differenzen hatte Ulrich Wilckens schon 1998 gemacht. Vgl. ders., Grundkonsens, zum simul hier 197–200, bes. 199 f.: »Lutherischerseits sollte nicht gesagt werden, dass der Christ ganz Sünder ›bleibt‹, sondern dass er stets sündigt und deshalb Christi Vergebung stets aktuell nötig hat. Katholischerseits sollte nicht gesagt werden, dass die Begierde im Christen nicht Sünde ist, sondern dass in allem Begehren eines Christen sein personales Beteiligtsein enthalten und wirksam ist; dass daher auch alles Begehren der Vergebung bedarf, der Christ aber durch die Kraft des Heiligen Geistes den Kampf gegen die Begierden zu führen […] und sich darin zu bewähren vermag.« Nach Track, Grundsatzüberlegungen, 17 ff. (1999), ist es erforderlich zu klären, ob die noch bestehenden Divergenzen nur konträre oder kontradiktorische Aussagen sind. Seine eigenen Ausgleichsbemühungen im Blick auf das simul (23–38) können freilich nicht überzeugen und lesen sich mitunter wie eine Vorwegnahme der einschlägigen Äußerungen des von ihm mitverfassten »Annexes«. Insbesondere die der möglichen Verständigung (35) nachgeschobenen Darlegungen zum Sündenverständnis (35–38) dürften für die katholische Seite kaum akzeptabel sein. – Chancen der Verständigung beim simul sehen katholischerseits auch Bausenhart, Simul [1999], bes. 136–141, und Miggelbrink, Simul (2000, doch ohne Bezug auf GOF). Letzterer allerdings auf dem Hintergrund einer dezidiert »katholisch-tridentinischen Interpretation« (156) des simul. 92

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zur GE samt »Anhang« vorgestellt. Beide Dokumente wurden der GE angefügt, und diese am 31.10.1999 in Augsburg durch Unterzeichnung der GOF durch die beiden Kirchenvertreter bestätigt. Die GOF hält fest, dass zwischen Lutheranern und Katholiken mit der GE ein »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« erzielt wurde und dass deshalb die bisherigen wechselseitigen Lehrverurteilungen die Lehre des Partners, wie sie sich in der GE manifestiert, nicht mehr treffen (Nr. 1; vgl. Anhang Nr. 1). Durch den Akt der Unterzeichnung würden beide Partner die GE »in ihrer Gesamtheit« bestätigen (Nr. 3).94 Zu den verbleibenden inhaltlichen Fragen nimmt der »Anhang« Stellung, der die »Übereinstimmung in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« erläutern möchte (Nr. 1) und also eine der GE beigegebene Interpretation derselben darstellt.95 Wie man aus der vorangegangenen Entwicklung ersehen kann, sollte er v. a. dazu dienen, die von der katholischen Kirche noch benannten Differenzen auszuräumen. Die im »Anhang« getroffenen Ausführungen stellen nun in vielen Fragepunkten – so ist wohl zu urteilen – eine Verunklarung, wenn nicht gar Aufgabe lutherischer Lehrpositionen dar und führen insofern zu einer veränderten Situation der lutherischen Kirchen gegenüber der GE, über die sie noch ohne die GOF votierten. Das gilt insbesondere für das simul und die damit verbundene Frage nach der theologischen Bewertung der Konkupiszenz. Zunächst wird nochmals festgestellt, dass Rechtfertigung »Sündenvergebung und Gerechtmachung« gleichermaßen meint und eine wahrhafte und innerliche Erneuerung einschließt.96 Insofern gilt: »Die Gerechtfertigten bleiben in diesem Sinne nicht Sünder.« Doch dies schließt nicht eine »beständige Gefährdung [aus], die von der Macht der Sünde und ihrer Wirksamkeit im Christen ausgeht«. »Insoweit können Lutheraner und Katholiken gemeinsam den Christen als simul iustus et peccator verstehen, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Zugänge zu diesem Themenbereich, wie dies in GE 29–30 entfaltet wurde.« (Nr. 2 A) Der Satz enthält also in der Tat ein von beiden Seiten gemeinsam verantwortetes und insofern auch ein katholisches simul iustus et peccator. Jedoch ist sofort darauf hinzuweisen, dass dies nur im Blick auf die »beständige Gefährdung« bzw. die bleibende Versuchlichkeit durch die Macht der Sünde ausgesagt wird, die auch für den Christen noch fortgilt. Diese Interpretation der Formel war aber zwischen den Konfessionen nie strittig, meint aber noch nicht das, was das lutherische simul darüber hinaus eigentlich intendierte.97 Die folgenden Ausführungen des »Anhangs« weisen denn auch auf das zwi Dies stellt eine beachtliche Ausweitung gegenüber der den lutherischen Kirchen vorgelegten Frage (Fortgeltung der gegenseitigen Lehrverurteilungen) dar. Zudem haben die lutherischen Synoden über die GOF nie beraten, geschweige denn entschieden. Vgl. Härle, Formeln, 13; Stellungnahme theologischer Hochschullehrer, 67. 95 Wendebourg, GOF, 41 nennt die GOF sogar eine »neue Deutung der GER«. 96 Nichts ausgesagt ist damit über das Verhältnis beider Aspekte der Rechtfertigung, woran aber alles liegt: Ist auch die Gerechtmachung eine Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«? Siehe oben Anm. 76. 97 Vgl. Härle, Formeln, 14. 94

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schen beiden Partnern strittige Verständnis der Konkupiszenz hin, allerdings so, dass nun die lutherische Position verkürzt, wenn nicht gar aufgegeben wird: Nach lutherischem Verständnis meine die Konkupiszenz das »Begehren des Menschen, durch das der Mensch sich selbst sucht und das im Lichte des geistlich verstandenen Gesetzes als Sünde angesehen wird«.98 Nach katholischer Auslegung sei die Konkupiszenz »eine auch nach der Taufe im Menschen verbleibende, aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung«, was wohl wieder von der Konkupiszenz in genere und nicht nur von der postbaptismalen Konkupiszenz gilt. Soweit werden also nur die bisher bekannten Positionen wiederholt. Doch dann heißt es: »Unbeschadet der hier eingeschlossenen Unterschiede kann aus lutherischer Sicht anerkannt werden, dass die Begierde zum Einfallstor der Sünde werden kann. Wegen der Macht der Sünde trägt der ganze Mensch die Neigung in sich, sich gegen Gott zu stellen. Diese Neigung entspricht nach lutherischem und katholischem Verständnis nicht ›dem ursprünglichen Plan Gottes vom Menschen‹ (GE 30). Die Sünde hat personalen Charakter und führt als solche zur Trennung von Gott. Sie ist das selbstsüchtige Begehren des alten Menschen und mangelndes Vertrauen und mangelnde Liebe zu Gott.« Die »Gefährdung durch die Macht der Sünde« könne, ohne die durch die Taufe geschenkte Erneuerung zu gefährden, so artikuliert werden, »dass auch der Gerechtfertigte ›der immer noch andrängenden Macht und dem Zugriff der Sünde nicht entzogen […] und des lebenslangen Kampfes gegen die Gottwidrigkeit nicht enthoben‹ ist. (GE 28)« (Nr. 2 B) Man kann im Blick auf diesen Text entweder urteilen,99 dass er ein Musterbeispiel ökumenischer Zweideutigkeit ist,100 in welchem jede der Parteien, also auch die lutherische, ihre Position wiederfinden kann, oder dass in ihm die lutherische Position im Blick auf das simul zugunsten von dessen katholisch-tridentinischer Interpretation aufgegeben wurde. Zur ersten Möglichkeit: Lutherischerseits wird konzediert, dass die Konkupiszenz zum »Einfallstor« der Sünde werden könne. Dies könnte man – im Licht der zuvor getroffenen lutherischen Aussage, dass die Begierde vom Gesetz Gottes her selbst schon Sünde ist – so auslegen, dass die Konkupiszenz als Erbsünde wiederum neue Tatsünde nach sich zieht und dadurch gewissermaßen »rückwirkend« auch sich selbst anreichert und verstärkt. Nur wäre dann die Metapher des »Einfallstores« in unscharfer Weise gebraucht:101 Etwas, was schon da ist, wird zum Einfallstor seiner selbst bzw. einer eng verwandten Größe. Diese aus der sündigen Konkupiszenz folgende Tatsünde führt natürlich ebenfalls zur Trennung von Gott, wie auch die Konkupiszenz per se, abgesehen von Christus, von Gott trennt, und besitzt als Tatsünde »personalen Charakter« im

Floghaus, Rechtfertigungslehre, 1094, 1105, sieht bereits in dem »als Sünde angesehen« (Hv.) eine Relativierung der lutherischen Position. 99 Vgl. zum Folgenden Härle, Formeln, 14 f., 16; Floghaus, Rechtfertigungslehre, 1093 ff. 100 So Ringleben, Anerkennung, 20 (»von tiefer Zweideutigkeit«); Floghaus, Rechtfertigungslehre, 1094 (»bloßer Formelkompromiss«). 101 Härle, Formeln, 14, spricht von »Metaphernsprengung«. 98

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Sinne der willentlichen Zustimmung. Und weiter vermag man auch die Tatsünde als »selbstsüchtiges Begehren« des alten Menschen, als »mangelndes Vertrauen und mangelnde Liebe zu Gott« zu qualifizieren, ohne diese Bestimmungen der Konkupiszenz damit abzusprechen. Sogar die Rede vom »personalen Charakter« wäre noch lutherisch zu deuten, da ja auch die Rede von der »unvermeidbaren«, bleibenden Erbsünde ein personales Beteiligtsein (»Es ist meine Sünde! Ich stecke darin!«) einschließt.102 Jedoch man merkt: Die Deutung wird zunehmend künstlicher und sozusagen gegen den herkömmlichen Sinn der gebrauchten Begriffe gewendet. So dass sich doch eine zweite Variante der Textinterpretation nahelegt: Die Macht der Sünde erzeugt auch im Christen noch eine böse Neigung oder Begierde, die selbst aber noch nicht Sünde ist, da Sünde stets »personalen Charakter« hat, also stets bewusst-willentlich geschieht. Sie ist aber gottwidrig und dem ursprünglichen Plan Gottes mit dem Menschen entgegen, weil sie aus der Sünde stammt und zu neuer Sünde hindrängt. Diese böse Neigung führt dann zur Sünde und damit zur Trennung von Gott, wenn der Mensch ihr willentlich-personal zustimmt. Damit hätte dann die lutherische Seite das katholische Verständnis von Konkupiszenz im Sinne von bloßer »Neigung« bzw. bloßem »Einfallstor der Sünde« und des simul als bloßem Ausdruck für die »beständige Gefährdung« des Christen durch die Sünde übernommen.103 Dies zöge aber für das herkömmliche lutherische Verständnis insofern eine »Unterbestimmung der Sünde« nach sich, als ihr »transpersonaler Charakter« zu kurz kommt, der schon die bösen unwillkürlichen Neigungen und Gedanken des Herzens als Sünde qualifiziert, welche allein deshalb nicht von Gott trennen, weil sie von Gott vergeben sind.104 Lutherischerseits wäre damit der Widerspruch der Apologie gegen den Satz zurückgezogen: »peccatum non nisi voluntarium«. Für die letztgenannte Deutung oder zumindest dafür, dass die katholische Seite den Text so gedeutet hat, spricht auch, Vgl. Anm. 78. Vgl. Härle, Grundlagenklärung, 179. Nach Floghaus, Rechtfertigungslehre, 1105, ist das simul im Anhang zur GOF zum »iustus, sed viribus peccati circumventus« umgedeutet worden. 104 Vgl. Härle, Formeln, 15. – Gegen diese Deutung von Annex 2.B wendet sich Track, Stellungnahme (1999), 42 f. Ihm zufolge steht »das lutherische Verständnis von Konkupiszenz als Sünde […] ausdrücklich im Text«. Weiter mache sich die katholische Seite hier die Definition der Sünde aus CA II zu eigen. Aber – so ist kritisch an Track zurückzufragen – in welchem Sinn? Schon die Apologie (BSLK 145,20–146,49) musste sich gegen die Reduktion dieser Definition auf die Tatsünde wehren. Den Satz »Wegen der Macht der Sünde trägt der ganze Mensch die Neigung in sich, sich gegen Gott zu stellen« interpretiert Track dann: »Damit ist ausgesagt, dass die Begierde den ganzen Menschen bestimmt und insofern eine von Gott trennende Sünde ist.« (42) Letzteres ist im Text gerade nicht gesagt! Auf die Kritik Härles an der Wendung von der »beständigen Gefährdung, die von der Macht der Sünde und ihrer Wirksamkeit im Christen ausgeht« (Annex 2.A) repliziert Track: »Ist einer, in dem die Sünde (die Sünde, nicht nur die Neigung zur Sünde) wirksam ist, kein Sünder?« (43) Von lutherischem Verständnis gewiss ja, aber katholischerseits dürfte dies nicht zustimmungsfähig sein. 102

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dass nur bei dieser Interpretation die im Blick auf das simul noch bestehende Lehrdifferenz aufgehoben wird und das simul gemeinsam bekannt werden kann. Nur dann konnte die katholische »Antwort« ihre Bedenken behoben sehen!105 Das impliziert dann aber auch: Wenn die lutherische Seite weiterhin die These ver Dass dies tatsächlich der Fall war, bestätigte Kardinal Ratzinger in einem Interview in der Zeitschrift »Trenta Giorni« (6/7 1999), deutsch: epd-Dok 36,1999, 5 ff., hier 6: »Mit dem neuen Anhang […] liegen uns Erklärungen vor, die wirklich weitergehen. Nun ist klar, dass die Sünde eine personale Wirklichkeit ist und dass der Mensch daher nur wirklich Sünder ist, wenn er eine persönliche Sünde begeht. Mit diesem Anhang, der ein sehr wichtiges Element darstellt, haben wir die Klärungen erhalten, die der Gemeinsamen Erklärung noch fehlten.« Ebenso die Stellungnahme des Einheitsratsrates der römischen-katholischen Kirche (KNA-ÖKI 27, 29.6.1999): »Was das Konzept von Konkupiszenz betrifft, von den Lutheranern verstanden als das Begehren des Menschen, durch das der Mensch sich selbst sucht und das als Sünde angesehen wird, handelt es sich für die Katholiken um eine aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung. Aber es ist nicht Sünde; denn ›die Sünde hat personalen Charakter und führt als solche zur Trennung von Gott‹ (Annex 2b)«. – Schon im Juli 1998 hatte Kardinal Cassidy in der Erläuterung der AKK (KNA-ÖKI 39, 22.09.1998) zum simul bemerkt: »In der katholischen Lehre wird das Wort ›Sünde‹ in seiner im Alltagsleben gebrauchten Bedeutung und der Definition des Oxford-Wörterbuches als ›vorsätzliche Verletzung‹ oder ›Überschreitung‹ des göttlichen Gesetzes genommen und nicht einfach als der fortwährende Makel des unrechten Begehrens, das man ständig bekämpfen muss.« (76) Cassidy schlägt dann vor: »Könnte dieser wichtige Punkt nicht durch eine lutherische Präsentation gelöst werden, die den unüblichen Gebrauch von ›Sünde‹ in diesem Zusammenhang erläutert, durch den dieses Wort seine normale Bedeutung als ›vorsätzliche und freiwillige‹ Opposition gegen Gott verliert? In diesem Fall gäbe es kein echtes Problem, und die Frage der Verurteilung würde sich nicht länger erheben.« (77) – Das Interview Ratzingers enthält noch andere bemerkenswerte Aussagen: Das simul Luthers sei »Ausdruck seiner persönlichen Erfahrung«, die dieser dann durch »theologische Überlegungen« vertieft habe. »Die katholische Kirche spricht demgegenüber auf einer objektiven Ebene und betont so, dass es keinen Dualismus gibt. Wenn jemand nicht von Gott gerecht gemacht ist, dann ist er auch nicht gerechtfertigt. Die Rechtfertigung, das heißt die Gnade, die uns im Sakrament geschenkt wird, verändert den Sünder, macht ihn zu einer neuen Schöpfung. […] Allerdings bleibt, wie das Konzil von Trient sagt, die Konkupiszenz, d. h. die Veranlagung zur Sünde, eine Neigung, die zur Sünde führt, die aber in sich noch keine Sünde ist. So sprechen die Katholiken von Konkupiszenz (Neigung), die Protestanten von Sünde. Das sind die klassischen Kontroversen. Dieser Gegensatz ließ sich überwinden durch die Unterscheidung von Erfahrungssprache und objektiver Redeweise.« (5) Gegen das Verständnis der simul-Formel als bloßer »Zudeckung« der Sünde, ohne reale Veränderung: »Ja, in diesem Sinn ist die Feststellung wichtig, dass Gott tatsächlich im Menschen wirkt. Er verwandelt ihn, schafft in ihm etwas Neues. Er spricht nicht nur ein dem Menschen äußeres Urteil aus.« (6) Zur Nicht-mehr-Geltung der Lehrverurteilungen: »Das Dokument [d. h. die GE] sagt, dass die Verurteilungen auf diesem Gebiet nicht die heute dargelegte Lehre betreffen. Zugleich besitzen die Verurteilungen in sich weiterhin Wahrheitswert: was wahr ist, bleibt wahr. Aber beide Seiten konnten seither ihren Horizont ausweiten und so die Vereinbarkeit der wesentlichen Intentionen erkennen.« (6) »Wer der Lehre des Konzils von Trient widerspricht, widerspricht der Lehre, dem Glauben der Kirche.« (7; dieser Satz fehlt in der 105

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tritt, dass die Begierde auch in den Gläubigen wahrhaft und eigentlich Sünde ist, dann wird ihre Lehre nach wie vor von den tridentinischen Lehrverurteilungen getroffen.106

4.4 Lutherische Stimmen zur »Gemeinsamen offiziellen Feststellung« So wurde denn auch von lutherischen Theologen – oft verbunden mit dem Respekt vor der Kompetenz und Überzeugungstreue der römischen Theologen und gleichzeitiger Ablehnung der Kompromissbereitschaft der lutherischen Seite –107 scharfe Kritik an der GOF und insbesondere auch an deren Deutung des simul vorgetragen.108 Neben dem schon zitierten Votum von Wilfried Härle, der lutherische Formeln »tridentinisch interpretiert« sieht (13),109 sprach Albrecht Beutel von einer »ökumenischen Domestikation des lutherischen Sündenbegriffs«110. Insbesondere Jörg Baur und Notger Slenczka sehen durch die GOF und ihren die GE interpretierenden »Annex« die Bedenken gegen die GE verstärkt – und dies gerade im Blick auf das simul: »Durch den Annex zur GOF wird eine theologische Interpretation der GER vorgelegt, nach der das lutherische ›Simul iustus et peccator‹ auch nach lutherischem Verständnis nicht mehr zur Lehre von der Rechtfertigung des Sünders gehört.«111 Gleichzeitig heben beide Autoren hervor, dass die AKK völlig korrekt festgestellt habe, dass die Formulierung des simul in GE 29 weiterhin von den Verwerfungen des Trienter Konzils getroffen werde, mithin der theologische Dissens unvermindert fortbestehe. Das von Rom in der deutschen Übersetzung des Interviews!) Zur Deutung des simul durch Ratzinger vgl. auch ders., Konsens (2000), 431 f. 106 So Härle, Formeln, 15; Stellungnahme theologischer Hochschullehrer, 67. 107 Vgl. z. B. Härle, Formeln, 17; Ringleben, Anerkennung, 20; Wendebourg, GOF, 42. 108 Vgl. die kritischen Stellungnahmen in: »Wider den Augsburger Rechtfertigungsvertrag«, epd-Dok, 43/99, 1–67. Ebd., 67 findet sich die »Stellungnahme theologischer Hochschullehrer« zur GOF vom September/Oktober 1999, in welcher diese vor der Unterzeichnung der GOF warnen. 109 Ähnlich sieht Ringleben, Anerkennung, 20, in der GOF eine »lutherischen Anerkennung der Trienter Entscheidungen« vorliegen. »Die römische Seite kann nur deshalb die tridentinischen Lehrverurteilungen für nicht mehr zutreffend erklären, weil sie in den jetzt beschlossenen Formulierungen immer noch das Verständnis der Rechtfertigung gemäß dem Trienter Konzil wiederfindet.« Ebenso Wendebourg, GOF, 41 f.; Stellungnahme theologischer Hochschullehrer, 67: »Nur unter Voraussetzung dieser Interpretation [des simul und sola fide] gilt die Aussage der GOF, dass die Verwerfungen des Konzils von Trient die Lehre der lutherischen Kirchen nicht treffen. […] Diese den tridentinischen Verwerfungen angepasste Interpretation stellt jedoch die lutherische Rechtfertigungslehre von Grund auf in Frage […]«. Anders von Lüpke, Klar, 57. 110 Beutel, Domestikation, 7. 111 Baur/Slenczka, Rechtfertigungslehre, 3.

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GOF angemahnte und nun lutherisch übernommene Sündenverständnis habe Kardinal Ratzinger in seinem Interview in »Trenta Giorni« vom Juni 1999 ausdrücklich bestätigt. Eine Unterzeichnung der GE samt deren Anhängen durch die lutherischen Kirchen würde deshalb bedeuten, dass diese »das reformatorische Verständnis des Rechtfertigungsurteils Gottes über den Gottlosen (Rö 4,5) aufgeben« und damit auch Luthers spezifische Sicht der Heilsgewissheit: »Sie würden der Einsicht Luthers widersprechen, nach der die Gewissheit des Menschen vor Gott und seine Freiheit daran hängt, dass dem Menschen jede Sorge um sein Bestehen vor Gott aus der Hand genommen wird, weil sein Heil in Christus und in keiner Weise – auch nicht auf dem Wege einer gnadenhaften Erneuerung – im Menschen begründet ist. In diesem Sinn hat die lutherische Kirche bisher bekannt, dass der Christ selbst Sünder ist und bleibt, dass aber im Urteil Gottes die Gerechtigkeit dem Menschen kontrafaktisch als seine Gerechtigkeit zugesprochen wird.« (3 f.) Auch die Tatsache, dass in der GOF das simul und das sola fide von beiden Kirchen gemeinsam bekannt würde, sei ein »schöner Schein«, da beide reformatorischen Wendungen konsequent im Sinne der tridentinischen Rechtfertigungslehre interpretiert seien. Der Begriff Rechtfertigung werde entgegen den lutherischen Bekenntnisschriften »zur Bezeichnung des Rechtfertigungsurteils unter Einschluss der daraus fließenden ›Heiligung‹ des Menschen verwendet« (4). Lutherischerseits sei die Erneuerung des menschlichen Lebens aber niemals »Gegenstand des Rechtfertigungsurteils Gottes«. »Sie ist und bleibt die Folge dieses Freispruchs Gottes in Christus, durch den einmal und immer wieder der Sünder, und nicht der Gerechtgewordene, gerecht gesprochen wird. Die Relevanz dieser scheinbaren Theologenquisquilie erschließt sich dann, wenn man sich die schlichte Frage stellt, worauf ein Mensch auf dem Sterbebett seine Gewissheit gründen kann: Auf das in seinem Leben verifizierte Gerechtgewordensein durch Gottes Hilfe […], oder auf den Zuspruch, dass Christi Gerechtigkeit (und nicht die eigene) vor Gott zählt?« (4) Eine Unterzeichnung der GE käme für die beiden Autoren nur in Betracht, wenn die lutherischen Kirchen der Deutung des »Annexes« durch Ratzinger entgegenträten und deutlich machten, »dass in der durch den Annex interpretierten GER kein Bruch mit den genannten reformatorischen Einsichten vorliegt«, was dann allerdings – so die Mutmaßung der Autoren – eine Unterzeichnung für die römische Kirche unmöglich machen dürfte.112 Eberhard Jüngel113, einer der prominenten Initiatoren der Kritik an der GE, hat freilich – überraschend und doch wohl in seiner eigenen Rechtfertigungstheologie und Lutherinterpretation schon angelegt – seine Bedenken der GE gegenüber durch die GOF und deren Annex ausgeräumt gesehen: Man habe legitime »vermittelnde Formeln« (Schleiermacher) gefunden, die den Beanstandungen beider Seiten Rechnung trügen, so dass die Feststellung möglich wird, dass die früheren, Baur und Slenczka halten am Ende ihrer Ausführungen offenbar den »Annex« selbst für noch im reformatorischen Sinn interpretierbar. 113 Vgl. Jüngel, Probleme (1999). 112

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auf die Rechtfertigungslehre bezogenen Lehrverwerfungen den heutigen Partner nicht mehr treffen (727). Im ökumenischen Dialog sei die Suche nach solchen Kompromissformeln realistisch und legitim, die es beiden Seiten erlaube, ihre bisherigen Wahrheitsansprüche so zu interpretieren (d. h. auch nicht zurückzunehmen!), »dass die einstigen gegenseitigen Einsprüche nicht erneut provoziert werden« (728 f.).114 Jüngel sieht dies insbesondere bei den Fragen nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung und der Beurteilung der auch im Gerechtfertigten bleibenden Konkupiszenz erreicht. Auch für Luther sei ja nur die Konkupiszenz des Christen Sünde, welcher dieser willentlich-personal zustimme (729 ff.).115 Aufgrund der der Unterzeichnung der GE voraufgegangenen und zum Teil erbittert geführten Diskussion um das simul hat der »Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen« im Jahr 2000 seine Jahrestagung diesem Thema gewidmet und deren Ergebnis 2001 in einem umfangreichen Band »Gerecht und Sünder zugleich. Ökumenische Klärungen« publiziert. Wir werden ihn beim nun folgenden Forschungsbericht zum lutherischen simul vorstellen.

Pesch, Probleme, 188, nennt dies das »Stilgesetz ökumenischer Dokumente«, das man nicht verkennen dürfe. Dieses »Stilgesetz« wird freilich nur dann so dringlich, wenn Kirchengemeinschaft von einem (vollen) Konsens in der Lehre abhängig gemacht wird und nicht schon auf dem »gemeinsamen Verständniss[es] des Evangeliums« und seiner Feststellung basiert. Dazu Teil III, Kap. 6. 115 Zur näheren Auseinandersetzung mit Jüngel bezüglich der genannten Themen vgl. Teil III, Kap. 4–5. 114

5 Einzelstudien zum lutherischen »simul iustus et peccator«

Im Folgenden sollen die wesentlichen bisher vorliegenden Einzelstudien zu simul-Formel und simul-Thematik bei Luther vorgestellt werden. Dabei ist eine Beschränkung auf solche Arbeiten erforderlich, die das simul entweder monographisch oder doch in größerer Ausführlichkeit mit behandeln. Den zahlreichen kurzen Erwähnungen in Arbeiten zu Luthers Theologie, insbesondere zu seiner Rechtfertigungslehre, kann hier nicht nachgegangen werden, die Auseinandersetzung mit ihnen muss den späteren Kapiteln vorbehalten bleiben.

5.1 Rudolf Hermann Das Aufmerksamwerden auf das simul iustus et peccator als einem zentralen Moment der lutherischen Theologie setzt erst – ein erstaunlicher Befund – mit der sog. Lutherrenaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, so dass man deshalb die Formel geradezu eine »Entdeckung des 20. Jahrhunderts« genannt hat.116 Vorher haben nur wenige Theologen, auch von lutherischer Seite, sich dieser These Luthers explizit zugewandt und ihr für Luther größere Relevanz zugemessen. Dass in der erwähnten Rückbesinnung auf Luther nun auch die simul-Formel Beachtung findet und zunehmend »zu einem der zentralen Sätze theologischer Selbstverständigung im 20. Jahrhundert« wird,117 hat zum einen mit der Wieder­ entdeckung und Publikation zahlreicher, insbesondere früher Luthertexte zu tun. Hier ist an erster Stelle das 1899 bekannt gewordene und 1908 von Johannes Ficker edierte Manuskript der Römerbriefvorlesung von 1515/16 zu nennen, in welcher Luther die simul-Formel zum erstenmal und ausgiebig verwendet hat.118 So Hauschild, Formel. Der volle Titel des Aufsatzes lautet: »Die Formel ›Gerecht und Sünder zugleich‹ als Element der reformatorischen Rechtfertigungslehre – eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts« (303). Hauschilds materialreiche Studie geht der Berufung auf die und Beschäftigung mit der simul-Formel und -Thematik im 19. und 20. Jahrhundert nach. Für den Zeitraum vor Hermanns Monographie siehe ebd., 305–333. 117 So Assel, Aufbruch, 395. 118 Ficker hat in der Einleitung zu seiner Edition (Bd. 1, LXXIII f.) denn auch »die ungeschwächte Fortdauer der Sünde im Menschen und dementsprechend die neue Auffassung von der Gnade als einer Nichtanrechnung der Sünde im Gegensatz zu der sakramentalen der gratia infusa« als die (neben dem neuen Verständnis der iustitia Dei) »zweite große 116

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Zum anderen liegt aber das Denken in Paradoxien und Antithesen – man denke nur an die dialektische Theologie, die sich dezidiert von den harmonisierenden Entwürfen des 19. Jahrhunderts verabschiedete – im theologischen Klima der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, was ein Aufmerken auf Luthers paradoxe Formel begünstigte. Die klassische und bis heute einzige größere Monographie zum Thema des simul ist deshalb auch ein Produkt der erwähnten Lutherrenaissance: die 1930 erschienene Arbeit des Greifswalder und seit 1953 Berliner Systematikers Rudolf Hermann »Luthers These ›Gerecht und Sünder zugleich‹«.119 In ihr wird erstmals ausführlich herausgestellt, was vorher allenfalls geahnt oder angedeutet wurde: dass und inwiefern das simul iustus et peccator ein zentrales, konstitutives Moment der Rechtfertigungslehre, ja der Theologie Luthers überhaupt darstellt.120 Hermanns Studie ist insofern typisch für die Lutherrenaissance, als er wie diese Lutherinterpretation und eigene systematische Arbeit in enger Korrelation betrieb. Das Bemühen um Luthers Rechtfertigungslehre ist, wie schon zuvor an Karl Holl paradigmatisch zu sehen war, daher eo ipso ein Bemühen um die Rechtfertigungslehre schlechthin. Da Hermanns Buch – wie gesagt – bis heute die einzige größere Spezialuntersuchung zu unserem Thema darstellt und sie einen Wendepunkt in der Forschungsgeschichte markiert, sei auf sie etwas ausführlicher eingegangen. Die Lektüre und die Auseinandersetzung mit diesem Werk sind freilich nicht einfach; Hermanns Lutherbuch erschließt sich, gegenläufig zu seiner häufigen, oft pauschal zustimmenden Zitation, nur schwer. Unter formalem Gesichtspunkt präsentiert es sich als »systematische Studie« (1), welcher es nicht so sehr um die historische Erfassung der Position Luthers, sondern wesentlich um das Er-

neue Erkenntnis« der Römerbriefvorlesung bezeichnet. Vgl. schon Loofs, Leitfaden (19064), 707, 730, 776 (unter Zitation der durch Denifle [Luther I] 1904, also vor Fickers Edition bereits in Auszügen bekannt gemachten Römerbriefvorlesung). Loofs spricht vom durch die simul-Formel ausgedrückten und von Luther stets festgehaltenen »Dualismus« in der Beurteilung des gerechtfertigten Menschen. Behandelt wird das simul in der Folge dann bei Otto Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2 (1912), 94–99, im Kontext von Luthers »religiös begründetem Irrationalismus« (85). Sich evangelischerseits dezidiert mit Luthers simul und seiner Rechtfertigungslehre überhaupt auseinanderzusetzen, ist mit motiviert worden durch die scharfe Polemik Denifles, welche sich gerade auf das simul peccator konzentrierte. Vgl. oben Kap. 2.3. 119 Die ersten sechs Kapitel dieser Studie wurden 1929/30 vorab in der »Zeitschrift für Systematische Theologie« publiziert. Zu Hermann vgl. Assel, Aufbruch, 305–468, bes. 395–426 (zum simul). 120 Vgl. Hermann, These, 7: »Die Formel ›gerecht und Sünder zugleich‹ enthält das Ganze der Lutherschen Theologie«; 9: »Es führen also von unserer Formel aus geradlinige Wege zu allen Hauptpunkten der Lutherschen Theologie. Unsere Formel deutet deshalb keineswegs ein Spezialproblem an, sondern liegt im Mittelpunkt der theologischen Gedanken Luthers.«

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arbeiten einer dogmatischen Position anhand von Luther geht.121 Systematische Theologie wird – wie schon angedeutet – »im Medium der Lutherinterpretation« betrieben.122 Der dabei drohenden Gefahr, nämlich eigene Gedanken in Luther »einzutragen« (2, 19), ist Hermann sich durchaus bewusst, sieht aber Notwendigkeit und Chance, die jeweils eigenen Fragen und Denkhorizonte einzubringen, auch bei rein historischen Interpretationen gegeben. Des Öfteren weist er auch explizit darauf hin, »daß das so bei Luther nicht dasteht« bzw. dessen Gedanken nun systematisch weitergedacht werden (z. B. 52 f.). Für den Leser zieht dies aber unweigerlich die Konsequenz nach sich, Luthers genaue Position in der Darstellung Hermanns oft nur schwer erkennen zu können. Hermanns Buch zeichnet sich denn auch durch einen mitreißenden systematischen Impetus, durch tiefbohrendes Fragen und eindringliches Ringen um Antworten aus, verbunden mit großer sprachlicher Originalität. Gleichwohl muss kritisch angemerkt werden, dass seine sprachlichen Formulierungen oft nicht eindeutig sind, das Gemeinte in einer gewissen Schwebe lassen und sich so eindeutiger Festlegung entziehen. Die Basis herangezogener Luthertexte ist bei Hermann erklärtermaßen schmal und wird mit dem systematischen Ansatz gerechtfertigt (1). Er beschränkt sich im Wesentlichen auf die Römerbriefvorlesung (1515/16), auf die Streitschrift gegen Latomus (1521) sowie die Auslegung des 51. Psalms (1532). Die genannten Schriften oder größere Komplexe aus ihnen werden – bei der Vorgehensweise Hermanns wiederum verständlich – nicht gesondert und im Zusammenhang interpretiert, sondern einzelne Stellen oder Partien je nach Fragestellung »systematisch« herangezogen. Damit ist weiter gegeben, dass Hermann eine Differenzierung nach frühen und späten Luthertexten nicht vornimmt. Eine inhaltliche Wandlung oder Umakzentuierung in Luthers theologischer Entwicklung wird nicht angenommen, sondern die Einheitlichkeit der Theologie Luthers vorausgesetzt. Da Hermann Luthers Lehre von der Heilsgewissheit schon in der Römerbriefvorlesung für gegeben ansieht, datiert er wohl auch dessen reformatorischen Durchbruch vor dieser Vorlesung. Für die simul-Thematik impliziert dies, dass für Hermann das simul von Luther zeitlebens in unveränderter inhaltlicher Konstanz vertreten wurde. Damit sind wir schon beim Inhalt des Hermann-Buches angelangt. Es lassen sich darin vier Themenschwerpunkte im Blick auf das simul erkennen. Einmal arbeitet Hermann durchgängig heraus, dass das simul iustus et peccator als paradoxes, aber nicht widersprüchliches strenges Zugleich (vgl. 7, 9, 21, 228) nur in einem personal-relationalen Wirklichkeitsverständnis gedacht werden kann, in dem Sünde und Gerechtigkeit nicht als Qualitäten an einer Substanz – dann Hermann will »dem Problem diese gleichsam glückliche Stunde erhalten wissen«, in der Luther »der Frage sowohl wie der Antwort […] besonders nahe gewesen ist« (1). 122 So Hauschild, Formel, 335. Zu Hermann ebd., 333–336. Verhalten kritisch zu Hermanns Abgrenzung gegenüber der Arbeit des Historikers äußert sich Iwand, Rezension, 270 f. 121

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könnten sie nur habituell wechseln bzw. aufeinander folgen –, sondern als Relationen innerhalb des sprachlich-worthaften Verhältnisses zwischen Gott und Mensch zu verstehen sind. Es geht um das Zugleich zwischen dem menschlichen »Wegstreben von Gott« (237) bzw. »Von-Gott-los-sein-wollen« (239) und dem Lebendürfen aus der Gemeinschaft mit Gott heraus. »Das Nicht-sein der Sünde [bei ihrem simultanen Bleiben] ist nur dann, dann aber auch sogleich, ein verständlicher Tatbestand, wenn an Wirklichkeiten von der Art gedacht wird, wie sie zwischen Personen sein oder auch nicht sein können. […] Das hieße dann etwa: die Sünde, sofern sie Trennung zwischen Gott und Mensch war, ist weg.« (50 f.) Zweitens stellt Hermann den Kampfcharakter des christlichen Lebens heraus, die lebenslange Auseinandersetzung zwischen Fleisch und Geist, womit er dem doppelten katholischen Vorwurf der Ineffektivität der Gnade sowie der Nivellierung des ethischen Strebens durch das simul begegnet (vgl. bes. 10–14, 86 ff., 234 ff.). Das simul ist der sich der Gnade verdankende Heilsstand, in welchem die Sünde wirklich angegriffen wird!123 Für das Ich des Glaubenden124 bedeutet dies, dass es trotz seiner »Dieselbigkeit« (2132, 216 f., 226) ein in zwei Streberichtungen gespaltenes ist, es auch das sündhafte Wollen als »ichhaft« sich zuerkennen muss (209, 211, 203 f.) und es seine volle Identität erst eschatologisch gewinnt (229–233). Großes Gewicht legt Hermann drittens auf Luthers von Augustin übernommene Konsensustheorie (139–203), wonach die nach der Taufe bleibende, von Gott uns aber nicht zugerechnete Sünde dann wieder zur »imputierten« Sünde wird, wenn der Mensch ihr durch neue Tatsünde »zustimmt«. Hermann ist hierbei die ihm zufolge von Luther vorgenommene Umprägung des Konsensus-Begriffs wichtig, welche diesen von seiner monastisch-asketischen Herkunft befreit: Nicht mehr der Kampf um moralische oder gar sexuelle »Reinheit« bzw. das gerade noch abgewehrte Nachgeben gegenüber der Versuchung zu einer bösen Einzeltat oder das Erliegen ihr gegenüber ist entscheidend, sondern das Bewahren oder Aufgeben der Glaubensentscheidung für Christus, also die Alternative Glaube oder Unglaube, steht an erster Stelle.125 Viertens geht Hermann ausführlich auf die mit dem simul eng verknüpfte Frage nach dem »Fortschritt« im christlichen Leben ein,126 und gerade mit dieser Thematik hat Hermanns Buch weitergewirkt und die Forschung geprägt. Durch das Vgl. Hermann, These, 22: »Dann ist das Zugleich das Stadium, das nach sich nur noch die ewige Vollendung kennt. Die aber gehört zu den letzten Dingen. Unser irdisches Leben kommt über das ›Zugleich‹ nicht hinaus. […] Es ist also die Höhe, zu der das geistliche Menschenleben hinaufgehoben werden kann. Der Mensch kann auch unterhalb ihrer bleiben.« Siehe auch 52 ff. 124 Dazu 209–233. 125 Vgl. 171, 173 ff., bes. 173: »Unser non consentire liegt in unserer Verbundenheit mit Christus beschlossen, so daß durch das Glauben sein Sieg unser Sieg ist. […] Auch hier ist es […] das Halten einer Stellung, das Sich-Halten an den Felsen Christus, was den dissensus [mit der Sünde] in sich schließt«; 177, 181–185, 193 ff., 199 ff., 208. 126 Vgl. 234–289. 123

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simul ist für ihn das christliche Leben als ein geschichtlich werdendes gesetzt, das in der Zeitspanne zwischen dem Christuswerk und der eschatologischen Vollendung auf das verheißene Ziel hin »fortschreitet«. Gerade bei diesem wichtigen Problemkomplex wirken sich aber sowohl Hermanns schmale Textbasis, das primär systematische Interesse sowie seine oft schwebenden Formulierungen für das Verständnis Luthers hinderlich aus. Es ist infolgedessen kaum möglich, aus den einschlägigen Passagen präzise zu erheben, wie Hermann Luther an dieser Stelle letztlich versteht. Insofern stehen auch die folgenden Ausführungen unter einem Vorbehalt und arbeiten vielleicht nur eine, allerdings markante Linie heraus. Hermann interpretiert den von Luther angenommen Fortschritt im christlichen Leben zunächst so, dass dadurch das simul nicht transzendiert werden kann. Der Fortschritt ereignet sich vielmehr irdisch nur innerhalb des simul.127 Weiter deutet Hermann diesen Fortschritt dann aber nur als »Zeitbegriff«, nicht als »Maßbegriff«.128 Diese später oft zitierte Wendung ist schwer eindeutig zu fassen: Sie besagt wohl einerseits, dass das Fortschreiten des Christen, sein Wachsen im Glauben, in der Liebe und den guten Werken, nicht empirisch-objektiv zu messen ist und darauf nicht selbstzufrieden reflektiert werden kann (242, 250 ff., 268 f., 276 ff.). Andererseits darf das Fortschreiten letztlich nicht dem Christen als handelndem Subjekt zugeschrieben werden, sondern Gott selbst ist es, der seine Schöpfung der Vollendung entgegenführt.129 Der Christ selbst bewegt sich dagegen nur chronologisch von der empfangenen Rechtfertigung zur eschatologischen Vollendung fort. Seine Zeit schreitet fort und verkürzt sich ständig. Oder christologisch formuliert: Christus ist der eigentlich Handelnde, als der Gekommene kommt er wieder, um den Menschen zu vollenden, also der Spannung des Zugleich zu entnehmen. Dies tut er jetzt schon in verborgener Weise, indem er den Christen dem letzten Ziel entgegenführt, was nach Hermann das eigentliche, äußerlich nicht sichtbare Fortschreiten ist.130 Auf Seiten des Christen wird das nur greifbar in der Haltung der Buße bzw. im je neuen Empfangen der die ganze Person umgreifenden Rechtfertigung aus dem Glauben131 und in der wachsenden, sich vertiefenden Haltung des Gebetes. Denn als Beter schaut der Mensch Vgl. 261: »Dies Zugleich ist sozusagen die Bahn des Fortschreitens«; 270: »Unüberbietbarkeit des (rechtfertigenden) Glaubens! Bei Luther ist damit festgelegt, daß es einen Fortschritt über das Zugleich hinaus nicht gibt«; 271: »Unüberbietbarkeit des Zugleich und des Glaubens«; 274: »Der Fortschritt bleibt Kampf innerhalb des Zugleich.« 128 Vgl. 239: »Fortschritt bedeutet also nicht sowohl einen Maßbegriff als vielmehr einen Zeitbegriff.« 129 Vgl. 236: »Die Entscheidungen im Leben des Christen selbst waren nicht bloß menschliche Willensakte, sondern zuerst Führer-Entscheidungen Gottes […]. So beruhte das Fortschreiten auf dem Fortgang des Werkes, durch das Gott seine Schöpfung ihrem Ziele entgegenführt«; 278. 130 Vgl. 245: »Daß endlich dieser selbe Christus der Kommende ist – das stellt das Leben des Christen unter das Zeichen des Fortschritts.« 131 Vgl. 237 f., 241 f., 243 f., 245–249, 285. 127

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gerade von sich weg auf Gott, gibt Gott bzw. Christus in sich Raum132 und streckt sich der zugesagten und erhofften Vollendung entgegen. »Fortschreiten heißt beten lernen« (243)133, lautet deshalb die prägnante These. Überhaupt versteht Hermann das simul als eine Realität, die nicht nur zum Gebet hintreibt, sondern auch vornehmlich im Gebet als Realität erfahren wird, denn im Gebet muss der Mensch immer wieder die Sündigkeit des eigenen (auch seines guten) Tuns vor Gott bekennen und ihm allein Gerechtigkeit zuerkennen.134 Ob Hermann mit der These vom Fortschritt als Zeit- und nicht als Maßbegriff Luther richtig bzw. hinreichend erfasst hat, das ist die in der Forschung seitdem umstrittene Frage. Hat Luther nicht viel unverkrampfter von dem durchaus erfahrbaren, nicht nur negativ zu beschreibenden, wenngleich nicht reflektierbaren Wachsen des Christen in Glaube, Liebe und guten Werken gesprochen? Hermanns ständige Sorge ist hierbei, dass dadurch der Glaube bzw. die Glaubensgerechtigkeit überboten werden könnte (234 f., 268 f., 279 f.). Die im Kontext dieser Fragestellung für Luthers Rechtfertigungslehre zentrale Differenzierung zwischen der sich zeitlebens immer wiederholenden Gerechtsprechung der ganzen Person durch Christus im Glauben und der sanativen Gerechtwerdung ist bei Hermann allenfalls nur angedeutet und nicht explizit herausgearbeitet. Folglich stellt er auch nicht die Frage, ob jene werdende Gerechtigkeit im Sinne Luthers zwar durchaus konkret greifbar ist, aber eben dennoch keine Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, darstellt. Übersehen bzw. massiv abgeschwächt ist auch die dem zweifachen Rechtfertigungsbegriff korrespondierende Duplizität der simul-Aussagen selbst: nämlich im Totalaspekt (der Mensch ist zugleich ganz Sünder und ganz Gerechter) und im Partialaspekt (der Mensch ist teils gerecht und teils Sünder). Hermann verlegt das Schwergewicht ganz auf das erste Moment und schränkt das partim iustus auf das Sich-Ausstrecken nach der eschatologisch-futurischen Vollendung ein.135 Vgl. 230 f., 238: »Fortschreiten unser selbst kann dann nur darin bestehen, daß der Anspruch dessen, was wir unsere Gegenwart nennen, der Zukunft Christi abgetreten wird. Dem Gegenwart-Werden, seiner (Christi) Zukunft dienen, das ist Fortschreiten«; 239 f.: »Das Leben des Christen als Adventserwartung und Gebet und deshalb als Fortschreiten […]. Das Leben des Christen hat in seinen guten Werken den Charakter des Advent.« 133 Vgl. 244: »Es [das Gebet] wird für das Fortschreiten gleichsam der Schrittmacher sein«; 258 f.: Durch die rechtfertigende Gnade wird »der Mensch zum Beter gemacht […]; und in die Hände des Gebets ist nun der Fortschritt gegeben.« 134 Vgl. 289: »Das Gebet ist also noch mehr als bloß die Haltung, die wir angesichts des Tatbestandes, daß wir als Sünder gerechtfertigt werden und als Gerechte Sünder bleiben, Gott gegenüber einnehmen. Es ist auch die Gestalt, in der wir das simul als Wirklichkeit erleben«. Siehe insgesamt 289–301 sowie Hermann, Verhältnis; ders., Rechtfertigung. 135 Vgl. nur Hermann, These 285 f.: »Und wenn es dennoch heißt: partim sumus justi et non toti? Und wenn wir doch gerade um die Vervollkommnung der Gerechtigkeit bitten sollen (perfici justitiam)? Nun, wir wissen ja bereits, dass diese Bitte für Luther gleichbedeutend ist mit der um das Ende des Lebens […]. Das partim justi, wenn es sich mit jenem Gebet verbindet, könnten wir dann etwa so wenden, daß unser Leben sich nunmehr endgültig dazu bekenne, Bruchstück zu sein und der Auflösung sich entgegenzustrecken, die 132

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5.2 Paul Althaus Etwa zeitgleich mit der Neubesinnung auf Luther zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte die v. a. mit dem Namen Adolf Schlatters136 verbundene kritische Rückfrage nach dem Verhältnis von Protestantismus und Neuem Testament bzw. von Luther und Paulus ein. Darf man die Reformation so ohne weiteres als authentische Wiederentdeckung des neutestamentlichen Kerygmas verstehen? Ist Luther wirklich der wiedererstandene Paulus? Oder geht mit der Reformation nicht doch eine keineswegs marginale Transformation der biblischen Botschaft einher? Solcher Fragerichtung ging es also darum, das für die Reformatoren schlechthin entscheidende Kriterium des sola scriptura an diese selbst anzulegen. In den Kontext dieser Bemühungen gehört die wichtige Studie von Paul Althaus aus dem Jahr 1938 »Paulus und Luther über den Menschen«. Althaus untersucht in ihr v. a. die Aussagen von Paulus und Luther hinsichtlich ihrer Auffassung über den Menschen ohne Christus (31–67) und den Menschen mit Christus (68–95). Wie in beiden Themenkomplexen theologisch optiert wird, hängt entscheidend an der Interpretation von Römer 7,14–25, also jener biblischen Stelle, die für Luther den locus classicus für sein simul iustus et peccator darstellt. Althaus ist nun – unter Berufung auf die bahnbrechende Arbeit von Werner Georg Kümmel »Römer 7 und die Bekehrung des Paulus« (1929) – der Auffassung, dass Paulus mit dem in Römer 7 geschilderten Widerstreit zwischen dem Wollen und dem Nichtvollbringen des Guten den vorchristlichen Menschen beschreibt, mithin auf seine eigene Vergangenheit als nunmehr Bekehrter zurückblickt. Dagegen haben Luther und mit ihm die anderen Reformatoren im Anschluss an den späten Augustinus Römer 7 auf den Christen bezogen und damit ihre These von der bleibenden Sünde untermauert. Diese Auffassung ist aber für Althaus exegetisch nicht mehr haltbar und stellt – wie in der Theologiegeschichte so oft geschehen – eine Projektion der eigenen Dogmatik in den Text des Paulus dar. Dies führt aber – so Althaus weiter – bei Paulus und Luther zu signifikanten Unterschieden in der Anthropologie: Für Paulus ist gerade der vorchristliche Mensch der Mensch im Widerspruch zweier Willensrichtungen, hin- und hergerissen zwischen der Bejahung von Gottes gutem Willen und seinem eigenen, sich permanent durchsetzenden bösen Wollen. Gerade darin besteht seine Heillosigkeit, aus der er sich nicht selbst befreien kann. Da Luther Römer 7 nun auf den Christen appliziert, transponiert er, nicht ohne zahlreiche Umdeutungen des Textes vornehmen zu müssen (insbesondere geht es ihm bei der Sünde nicht mehr um böse Taten, sondern um innere, unwillkürliche Regungen), jene Zerissenheit auf den Christen selbst, welcher so zum für das Bruchstück allein Erfüllung sein kann.« So richtig dies alles ist, erkennbar wird doch, dass Hermann hier die schon präsentisch-sanative Gerechtigkeit restriktiv um­biegt. Differenzierter äußert er sich 1946 (Rechtfertigungslehre, 379 f. [zur Unterscheidung zwischen »forensisch und »effektiv«]). 136 Vgl. nur Schlatter, Luthers Deutung des Römerbriefs (1917).

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simul iustus et peccator wird. Damit radikalisiert sich aber auch die Einschätzung des unbekehrten Sünders: Er ist nun »widerspruchslos« an die Sünde verfallen. Demgegenüber habe Paulus selbst aber – so Althaus – den Christen zwar zeitlebens unter der Bedrohung der versucherischen und zu bekämpfenden Macht der Sünde, nicht aber unentrinnbar als simul peccator gesehen. Für ihn sei mit der Taufe die Wende eingetreten, die Luther letztlich erst vom Tod erwarte: nämlich die Befreiung vom Sündigenmüssen. Den tiefsten Grund für die Divergenz zwischen Paulus und Luther erblickt Althaus in der unterschiedlichen Einschätzung der Konkupiszenz: Luther werte diese selbst schon vor jeder willentlichen Zustimmung und tathaften Ausführung als Sünde, während sie für Paulus als solche noch keine Sünde sei. Erst die willentlich bejahte ἐπιϑυμἱα qualifiziere Paulus als Sünde.137 Althaus deutet die anthropologischen Differenzen zwischen Paulus und Luther historisch als durch deren andersartige biographische und kirchliche Situation veranlasst: Paulus habe es mit einem Entscheidungschristentum zu tun, wo – an ihm selbst exemplarisch greifbar – Erwachsene in einer großen Lebenswende zum Glauben finden und getauft werden. Seine Theologie sei deshalb »Missions- oder Bekehrungstheologie« (83). So trete aber die Bekehrung als entscheidender Bruch mit der Sünde und Beginn eines neuen Lebens stark hervor. Luther dagegen lebte in einer Volkskirche, in welcher der Mensch als Säugling getauft und in den christlichen Glauben quasi hineingeboren wird. Eine befreiende Bekehrung zum Glauben überhaupt finde in der Regel nicht statt. In einer solchen Situation wurde nun – so Althaus – die Erfahrung der bleibenden Macht der Sünde im christlichen Leben viel intensiver erfahren als in der zudem in eschatologischer Naherwartung lebenden Urchristenheit.138 Nimmt man hinzu, dass sich inzwischen durch Mönchtum, Beichterfahrung und Mystik der Blick auf das Innere der Person und die Subjektivität des Menschen verfeinert und intensiviert hat, so ist für Althaus Luthers weitergehende Reflexion verständlich und als eine über Paulus hinausgehende theologische Vertiefung akzeptabel, welche schon die unwillkürlichen, unvermeidbaren inneren Regungen des Ichwillens als Sünde und insbesondere gegen das erste Gebot gerichtet qualifiziert. Luthers Anwendung und Umdeutung von Römer 7 auf den Christen »ist exegetisch unmöglich, sie widerspricht dem Gedanken des Paulus, aber sie ist Ausdruck einer Selbstbeurteilung, der wir sachlich recht geben müssen. Obgleich sie Paulus Gewalt antut, hat sie theologisches Recht.« (94)139

Althaus sieht somit die katholische Interpretation der Konkupiszenz bei Paulus vorgeprägt. Vgl. ebd., 88. Zum Ganzen 84–90. 138 Vgl. 81: »Paulus wird bekehrt, Luther getröstet. […] Paulus ist als Mann bekehrt, Luther als Kind getauft worden.« Siehe auch 80–84. 139 Neben der Abhebung späterer dogmatischer Theologie von der neutestamentlichen Botschaft möchte Althaus auch innerhalb des NT die Differenz zwischen dem einen Evangelium und der Pluralität der Theologien beachtet wissen. Das sola scriptura bezieht sich 137

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Althaus, dessen exegetische Offenheit für einen systematischen Theologen bemerkenswert ist, weil sie immer wieder zu Selbstkorrekturen bzw. Modifizierungen der eigenen lutherischen Tradition führte, hat in seiner späteren Gesamtdarstellung der Theologie Luthers (1962) das simul, das »hohe Paradoxon des Christenstandes«, kurz, aber präzise behandelt140 und seine doppelte Bedeutung als Total- und Partialbestimmung des Christen herausgestellt. Ermöglicht wurde diese klare Erfassung des simul durch die bei Althaus voraufgehende Darstellung des doppelten Rechtfertigungsbegriffs Luthers, als Zurechnung der fremden Gerechtigkeit Christi und als anfangende seinshafte Gerechtigkeit, korrespondiert doch die Duplizität des simul der des Rechtfertigungsverständnisses (197–210).

5.3 Wilhelm Link Einen neuen Aspekt in der Auseinandersetzung mit dem lutherischen simul erschließt die 1940 erschienene Dissertation von Wilhelm Link »Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie«, obwohl man aufgrund des Titels eine Beschäftigung mit unserer Thematik in ihr eher nicht vermuten würde. Link wirft nämlich die Frage nach dem Verhältnis der simul-Formel zu Luthers reformatorischer Erkenntnis auf. Zunächst geht es ihm aber darum, das in der komplexen Erforschung von Zeitpunkt und Inhalt von Luthers reformatorischem Durchbruch vielfach unausgesprochen geübte Verfahren auch ausdrücklich zu machen und als einzig sinnvolles zu legitimieren: nämlich von einem Grundverständnis, einer »Idee« des Reformatorischen her Luthers frühe Texte zu analysieren und zu fragen, wann und wo sich dieser »eigentliche und letzte Gehalt der reformatorischen Entdeckung« (13) erstmals findet, bzw. umgekehrt die Entwicklung des frühen Luther als – sogar notwendige – Bewegung auf jenes Ziel hin zu verstehen. Link nennt dies die »teleologische Erklärungsweise« (5 f., 66 ff., 74 ff.). Quasi als Hinführung und Vorarbeit zu dieser Aufgabe versucht er nun, die zunächst hypothetisch angenommene reformatorische »Uridee« mittels einer streng genommen nur auf das Evangelium: »Die Unterscheidung des Evangeliums von der Theologie gibt dem Schriftprinzip eine neue Gestalt. […] Wir erkennen und ergreifen aber in der Vielfalt der Theologien neben- und nacheinander das eine Evangelium. Dieses eine Evangelium ist die unbedingte Autorität in allen Theologien. Mit diesem Evangelium und an es binden sie uns, aber nicht an sich selbst.« (35) Insofern wird man nach Althaus Luthers simul als theologisch legitimes und aufgrund vertiefter Einsicht gefordertes Weiterdenken über das NT hinaus interpretieren müssen. Freilich gründet es auch in der »Strenge Jesu«, wie sie uns in den Antithesen der Bergpredigt entgegentritt. (95) – Zu Althaus’ Umgang mit Röm 7 vgl. Lichtenberger, Ich, 90–93, bes. 92: »Aufgrund seiner Interpretation auf zwei Ebenen kann Althaus ohne Konflikte beides tun: Paulus auslegen und Luther recht geben. Seine exegetische Entscheidung für Paulus und seine theologische für Luther machen ihn frei, beide ihre Sache sagen zu lassen.« 140 Vgl. ders., Theologie, 211 ff.; Zitat: 211.

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Analyse früher Luthertexte zu bewähren. Dabei sieht Link diese nicht in der keineswegs eindeutigen Vorstellung der iustitia Dei passiva gegeben, sondern eben in der Formel simul iustus et peccator, wodurch freilich andere Möglichkeiten, das »Wesen« des Reformatorischen zu bestimmen, nicht ausgeschlossen sein sollen.141 In jedem Fall wird für ihn das simul zum prägnanten Ausdruck von Luthers reformatorischer Erkenntnis oder zum Inbegriff seiner Rechtfertigungslehre: Der Sünder, der in sich – unbeschadet seines ethischen Fortschritts – Sünder und zwar ganz Sünder ist und bleibt, wird von Gott ganz gerecht gesprochen. Link ist der »Bekenntnischarakter« der – wie er sagt – »Rechtfertigungsformel« wichtig: Sie erschließt sich nicht als allgemeingültige, objektive Wahrheit, sondern geht dem Menschen nur im Vor-Gott-Stehen des Gebets auf. Hier kann der Mensch nicht anders, als sich ganz als Sünder zu bekennen und die Barmherzigkeit des rechtfertigenden Gottes zu preisen.142 Link zeigt in der Folge, wie Luther diese Erkenntnis in zunehmender Emanzipation von den philosophischen »Umklammerungen« der früheren Theologie formuliert hat, ohne freilich zu übersehen, dass Luther dazu erneut Vorstellungen der verschiedensten philosophischen Strömungen in Dienst nehmen musste. Das »Ringen um die Freiheit der Theologie von der Philosophie« führt bei ihm nicht zu einer von der Philosophie völlig freien Theologie – das ist schon prinzipiell unmöglich –, sondern zu einer Theologie, die philosophische Denkmodelle kontrolliert und differenziert gebraucht und auf diese Weise ihre Freiheit gegenüber der Philosophie behauptet (164 f., 382–385). Im letzten Teil seiner Arbeit zeigt Link, wie dieser dialektische Prozess an Luthers Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, Augustin, dem Nominalismus und der Mystik exemplarisch zu studieren ist. So interessant Links Arbeit im Rahmen der Forschungsgeschichte des simul einerseits ist, weil sie dem Zusammenhang mit Luthers reformatorischer Erkenntnis bzw. Rechtfertigungslehre nachgeht, so leidet sie andererseits doch unter dem Mangel, dass sie den simul-Gedanken auf den Totalaspekt (totus Vgl. 73: »Um die theologische Mitte der reformatorischen Haltung darzustellen, gehen wir aus von der Formel: ›simul iustus et peccator‹. Man könnte auch an irgendeinem anderen Punkt einsetzen. Die Wahl gerade dieser Formel hat keinerlei ausschließenden Grund. […] Daß diese Wahl auch darum geschickt ist, weil in diesem Ausdruck das Wesen der reformatorischen Erkenntnis vielleicht am klarsten und unmittelbarsten sich ausspricht, wird erst die Untersuchung zeigen müssen.« Siehe auch 74, 77, 104. 142 Vgl. 77–82, bes. 77 f.: »Der Satz, daß der Mensch gerecht und Sünder zugleich ist, ist als Bekenntnis zu verstehen, d. h. in ihm spricht der Glaubende aus, wie er die Situation zwischen Gott und Mensch versteht, wenn er betend vor Gottes Angesicht tritt. Er ist eine Selbstaussage des Betenden, und was er ausspricht, ist keine objektive und allgemeine Deskription dessen, was der Mensch ist, ist keine Wahrheit, die für jeden Menschen an jedem Ort und in jeder Situation einsichtig und nachsprechbar ist. Es ist vielmehr eine Wahrheit, die nur in der Subjektivität des Glaubens wahr ist, die für den nicht wahr ist, der nicht betend vor Gott steht.« Das Bekenntnis der simul-Formel weist hin »auf die Herrlichkeit des göttlichen Heils- und Rechtfertigungshandelns und auf die Verlorenheit unserer menschlichen Situation«. 141

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iustus – totus peccator) reduziert und den partim-partim-Gesichtspunkt – wie übrigens auch Luthers Distinktion »peccator in re/iustus in spe« – nur als eine jener illegitimen philosophischen bzw. ethisch-psychologischen Überfremdungen der Theologie zu sehen vermag. Luther habe sich solcher Vorstellungsformen zwar theologisch bedient, aber sie sofort wieder zurückgenommen bzw. als uneigentlich gemeinte qualifiziert (82–92, 156–159). Link, der auf diese Weise zwar den Totalaspekt prägnant erfasst, aber der im simul gleichwohl implizierten Dynamik nicht ansichtig zu werden vermag, formuliert zusammenfassend über seine Interpretation der »Rechtfertigungsformel«: »Die im Rechtfertigungsbekenntnis gefällten Urteile über den Menschen sind totale Urteile und in keiner Weise zu relativieren. Jede Relativierung ist das Zeichen eines philosophischen Einbruchs. […] Die Aussage unserer Verlorenheit gilt zwar total und unrelativierbar, aber sie gilt nicht allein. Ebenso gilt die Aussage unseres Gerechtfertigtseins zwar total, aber nicht allein.« (104)

5.4 Wilfried Joest Ähnlich wie bei Link ist die simul-Thematik auch in dem Werk von Wilfried Joest »Gesetz und Freiheit« (1951) nur indirekt, d. h. mit einem anderen Thema vernetzt, behandelt. Da wir uns auf diesen Klassiker der Lutherforschung besonders in Kapitel 6 des ersten Teils unserer Studie ausführlich beziehen werden, können hier die allernötigsten Hinweise genügen. Der eigentliche Gegenstand von Joests Arbeit ist das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, allerdings zugespitzt auf die Frage nach dem tertius usus legis innerhalb der lutherischen Theologie. Herausgefordert durch die Kritik Karl Barths an der strengen Antithetik zwischen dem die Sünde offenbarenden Gesetz und dem freisprechenden, das Gesetz zu seinem Ende führenden Evangelium bei Luther, geht Joest der Fragestellung nach, ob es nicht doch bei Luther über den usus politicus und den usus theologicus legis hinaus eine Funktion des Gesetzes für den Christen als Christen gebe, mittels deren es »zu einer positiv-evangelischen Aufrichtung des Gebotes Gottes über allen Bereichen praktischer Lebensordnung« (198) kommen könne und damit der Vorwurf entkräftet wäre, Luther überlasse die weltlichen Bereiche einer falsch verstandenen »Eigengesetzlichkeit« (11). Anvisiert ist also ein »positives parainetisches Fortwirken des Gesetzes im Raume des Evangeliums« (13). Um hier einer Antwort näherzukommen, ist für Joest die Fortgeltung des Gesetzes im Leben des Christen bei Luther prinzipiell zu untersuchen. Und hierfür wird nun das simul iustus et peccator relevant, denn es gilt: »Das Gesetz muß bleiben um des Simul willen.« (55)143 Um diese These zu erhärten, arbeitet Joest – schon vor den diesbezüglichen Aussagen in Althaus’ Gesamtdarstellung der Theologie Luthers – die Doppellinig Vgl. 57: »Das Geheimnis des bleibenden Gesetzes ist das Geheimnis des Simul iustus ac peccator.« Ähnlich 79, 99. 143

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keit der simul-Aussagen als Total- und als Partialaspekt bei Luther klar heraus. Die eine Linie bei Luther ist: »Das Simul ist nicht die Gleichgewichtslage zweier sich gegenseitig beschränkender Teilmomente, sondern der Kampfplatz zweier sich ausschließender Ganzheiten.« (58) Seinem »Tatbestand« nach ist der Christ weiterhin ganz Sünder, seiner neuen »Geltung« bei Gott nach um Christi willen aber ganz gerecht (59). Das simul, verstanden als Gleichzeitigkeit von totus iustus und totus peccator, führt nun nach Joest dazu, dass der Christ lebenslang dem usus elenchticus legis unterworfen bleibt, der ihn seiner Sünde überführt und zum je neuen »Transitus« auf das freisprechende Evangelium nötigt. Die Ganzrechtfertigung der Person ist folglich kein einmaliger, sondern ein sich in permanenter Iteration vollziehender Vorgang, genauso wie auch das Gesetz nicht ein für allemal, sondern immer wieder am Evangelium sein Ende findet. Die andere Linie bei Luther repräsentieren jene Aussagen, welche das simul partial auffassen und nun nicht »Tatbestand« und »Geltung« konfrontieren, sondern gleichsam im Sinne eines »Mehr oder Weniger« (65) zwei »Tatbestände« in der Person des Christen selbst in den Blick nehmen (vgl. 71, 100): Der bleibenden Restsünde steht die reale, seinshafte Gerechtigkeit des Christen gegenüber, wobei beide Größen nicht statisch, sondern dynamisch gefasst werden – »als stetiges Abnehmen der einen und Anwachsen der anderen Teilgröße« (68). Neben der je neuen Totalbewegung des Transitus vom Gesetz zum Evangelium steht der Christ deshalb auch in einem »Progressus«, einem Fortschreiten und Wachsen. Dieser Progressus zieht zwar seine ihn ermöglichende Kraft allein aus dem je neu zu vollziehenden Transitus, wird aber durch das Gesetz »gesteuert« (71)144 – und zwar in doppelter Weise: einmal wieder durch den usus theologicus, das Aufzeigen der noch bleibenden und zu bekämpfenden Sünde, aber eben auch – wie Joest anhand zahlreicher Luthertexte zu belegen sucht – durch ein dem Glaubenden als solchem, d. h. nicht als Sünder geltendes mahnendes, weisendes und normierendes Amt des Gesetzes, das einerseits der Spontaneität des Handelns aus dem Glauben nicht widerspricht, andererseits aber, da die Frage der Rechtfertigung hinter ihm liegt, nicht mehr »Gesetz« genannt werden sollte. Joest schlägt stattdessen vor, von einem »usus practicus evangelii« bzw. »usus evangelicus des Gebotes« zu sprechen (132 ff., 191, 197 f.). Es geht nicht mehr um ein »Du sollst, damit …«, sondern um ein »Du darfst, weil …« (196, 198). Im Sinne Luthers glaubt Joest so die Rede vom tertius usus legis abweisen, zugleich aber ihr sachliches Anliegen aufnehmen zu können, nämlich jene »positiv-evangelische Aufrichtung des Gebotes Gottes über allen Bereichen praktischer Lebensordnung« (198). Nachdem der erste Teil das Verhältnis von Glaubensfreiheit und Gesetz bzw. Gebot bei Luther erörtert hat, geht Joest im zweiten Teil seiner Studie der Frage nach dem Verhältnis von Luthers Konzeption zum Neuen Testament nach, allerdings unter der selbstgewählten Beschränkung: Gibt es im Neuen Testament nicht doch eine Funktion des Gesetzes »sub necessitate salutis« für den Christen 144

Analog zu der zum Transitus »nötigenden« Funktion des Gesetzes (62).

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als solchen – oder anders formuliert: Kennt »das Neue Testament die Forderung des Werkes als einer zum Glauben hinzukommenden Heilsbedingung?« (136; vgl. 135) Darauf muss im Kontext unserer Thematik nicht eingegangen werden, wohl aber ist festzustellen, dass Joest in diesem Zusammenhang nicht das Problem aufwirft, ob denn das simul iustus et peccator selbst mit dem neutestamentlichen Zeugnis in Einklang gebracht werden kann. Joest ist der in »Gesetz und Freiheit« offen gebliebenen Frage nach der Schriftgemäßheit des simul in einem großen Aufsatz »Paulus und das Luthersche Simul Iustus et Peccator« (1955) nachgegangen, in welchem zumindest die paulinische »›Ontologie‹ des Christseins« (273) mit der Luthers verglichen wird. Dabei klammert er Röm 7,7–25 bewusst aus und versucht stattdessen die Position des Paulus aus dessen Gesamtverkündigung zu erheben. Mit seinem Lehrer Paul Althaus geht Joest zwar davon aus, dass bei Paulus das Unvollendetsein der christlichen Existenz nicht nur durch die Sterblichkeit des Leibes, sondern auch durch die versucherische Macht der Sünde gekennzeichnet sei, die im Leben des Christen permanent darnach trachte, ihre verlorene Macht wiederzugewinnen, und dies in schweren Vergehen einzelner Christen auch erreiche (290, 293 f.). Doch anders als Althaus gelangt Joest zu dem Ergebnis, dass Paulus – trotz seiner primären Sicht der Sünde als Tatsünde – die auch im Christen noch fortdauernde Konkupiszenz (ἐπιϑυμία) bzw. das »Trachten des Fleisches« oder »Sich-Rühmen« durchaus als Sünde gewertet habe, obschon der Christ von Paulus deshalb nicht als Sünder bezeichnet werde, weil er durch Gott von der Herrschaft der Sünde losgesprochen wurde (284 ff.).145 Von daher lasse sich – so Joest – der Unterschied zwischen Luther und Paulus nicht darin fixieren, dass Luther mit einem »sublimeren Sündenbegriff« (309) als Paulus operiere, welcher schon die innersten, triebhaften Regungen des Herzens als gegen Gott gerichtet qualifiziere, wogegen Paulus erst den bewussten Willensentschluss und die ausgeführte Tat als Sünde angesehen habe. Auch für Paulus sei schon die der Tat vorgelagerte negative »›transzendentale‹ Einstellung der Person« (286) Sünde. Dennoch sei bei Paulus im Unterschied zu Luther der Christ nicht als »peccator in re« im Sinne einer anthropologischen Grundgegebenheit bzw. eines gleichsam »normalen« Existentials verstanden, welches die Sünde zu einer prinzipiellen, unentrinnbaren Seinsbestimmung mache. Bei Paulus gebe es höchstens ein »praktisch auftretendes simul peccator« (292), das aber nicht theoretisch ausgearbeitet, sondern, sowie es benannt ist, sofort in den Ruf zur Beseitigung der Sünde umgelenkt wird (vgl. 290–294). Dabei ist es durchaus so, dass Paulus in der faktischen Beschreibung des Christenstandes zu weitgehend denselben Ergebnissen wie Luther gelangt: auch ihm ist die Sün Joest deutet 287, 317 an, dass, wenn überhaupt, ein Unterschied zwischen Paulus und Luther an diesem Punkt ausgemacht werden könnte, dieser darin bestünde, dass Paulus der ἐπιϑυμία nicht eine solche Permanenz und Kohärenz im Christen beigelegt habe wie Luther. Hieße das dann, dass die ἐπιϑυμία für Paulus beim Christen nur von Fall zu Fall aufträte? 145

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de eine gegenüber der Sündentat »transzendentale« Größe, welche sich auch im Christen noch findet (286 f., 309, 317). Diese paradoxe Einheit von Konsens und Dissens resultiert für Joest daraus, dass es für Paulus völlig undenkbar war, über die Sünde des Christen ontologisch bzw. anthropologisch zu reflektieren und ihr damit einen Status, ein »Seinsrecht« einzuräumen, welches ihr im Leben des Christen nicht mehr zukommt.146 Wenn sie sich faktisch auch hier, auch als böse innere Regung, noch anmeldet, dann ist sie zu bekämpfen und nicht durch ontologische Reflexion zu fixieren! Demgegenüber habe Luther mit seinem simul peccator die Sünde zu einem »unausweichlichen Existential des irdischen Christenstandes« gemacht und das Bekenntnis »peccator sum!« in eine dogmatische »Seinsformel« überführt.147 Die simul-Formel könnte für Joest ausschließlich dann eine – durch Luthers besondere polemisch-kerygmatische Situation bedingte – »legitime Anwendung« der paulinischen Verkündigung darstellen, wenn sie sich allein auf die faktische Sünde in ihrer ganzen Tiefe und Breite bezöge,148 sie wird aber formal und sachlich illegitim, wenn sie – wie bei Luther geschehen – zur Behauptung der prinzipiellen Unentrinnbarkeit der Sünde wird (318 f.). Joest sieht diese unberechtigte Ontologisierung der Sünde bei Luther zudem zu bestimmten Grenzaussagen weitergetrieben, in denen nicht nur mit der bleibenden Sünde das Sündenbekenntnis motiviert werden soll, sondern nach der göttlichen Motivation des Bleibens der Sünde selbst gefragt wird (315 ff., 319 f.).

5.5 Reinhard Kösters Unter den in der katholischen Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzenden konstruktiven Auseinandersetzungen mit dem lutherischen simul ist – schon wegen ihres Umfangs, v. a. aber wegen ihrer inhaltlichen Bedeutsamkeit – die Dissertation von Reinhard Kösters »Luthers These ›Gerecht und Sünder zugleich‹«, publiziert als vierteilige Aufsatzreihe 1964/65 in der Zeitschrift »Catholica«, besonders hervorzuheben. Wie der Untertitel der Arbeit verrät (»Zu dem gleichnamigen Buch von Rudolf Hermann«), setzt sich Kösters primär mit Vgl. 309: »Der Unterschied […] scheint mir weniger in der faktischen Zeichnung zu liegen als in der ontologisch wertenden Behandlung, die diesem Tatbestand zuteil wird.« – Die Aussage, dass Luther intensiver über die Sünde »reflektiert« habe als Paulus, können sowohl Althaus als auch Joest treffen. Nur folgt für beide daraus Unterschiedliches: Für Althaus ist diese tiefere Reflexion in einer veränderten kirchlichen Situation möglich und notwendig geworden, für Joest stellt sie eine theologische Grenzüberschreitung dar. 147 So 309. Ebd. stellt Joest »dialektische Seinsformel« (Luther) versus »paradoxe Kampfformel« (Paulus). 148 Luther reagiere – so Joest (317 f.) – mit der ontologischen simul-Formel auf eine Gnadenlehre, welche die Radikalität der Sünde verharmlose, dem Menschen eine sakramental vermittelte Sündenlosigkeit zuspreche und deshalb die Gnade ihrerseits ontologisiere und vom aktuellen Fliehen zu Christus ablenke. 146

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Hermanns Monographie über das lutherische simul auseinander, die 1960 in einem Nachdruck neu zugänglich gemacht wurde.149 Für Kösters gilt Hermann als der auch auf evangelischer Seite als solcher anerkannte authentische Luther­ interpret, so dass bei ihm selbst Luther nur in der Perspektive Hermanns zur Sprache kommt und kaum auf Luther selbst zurückgegriffen wird. Kösters geht der Frage nach, ob und wenn ja wie eine Annäherung in der Frage des simul zwischen protestantischer und katholischer Theologie anhand der Arbeit Hermanns möglich ist. Dabei erschließt er das Hermann-Buch unter vier Themenfeldern: a) Hermanns systematische Lutherinterpretation, b) die Wirklichkeit der Rechtfertigung im Horizont der simul-Thematik, c) die Frage des consensus und d) das Problem der Heilsgewissheit. Wir heben an Kösters Auseinandersetzung mit Hermann und durch ihn vermittelt mit Luther nur zwei Gesichtspunkte hervor: Zum einen ist bemerkenswert, dass Kösters Hermann sozusagen quer zu dessen Rezeption im protestantischen Raum liest und interpretiert: Hermann deute die simul-Formel primär als Ausdruck einer geschichtlich-dynamischen Heilswirklichkeit und hebe deshalb besonders auf die effektive Seite der Rechtfertigung bzw. auf den im Rechtfertigungsurteil implizierten realen »Fortschritt« ab, ohne dass dieser objektiv messbar und konstatierbar wäre.150 Hermann habe so den auch bei Luther ursprünglich vorliegenden Sinn des simul wieder entdeckt, entgegen seiner in der späteren protestantischen Theologie vorgenommenen Vereinseitigung zu einer »dialektisch-zeitlosen Formel« (74 [1964]). Man darf Kösters wohl so verstehen, dass er damit in der Partial-Perspektive den »genuinen und authentischen Sinn« (76 [1964])151 der Formel erblickt, dem von katholischer Seite – als Ausdruck des pilgernden Unterwegsseins des Christen – natürlich nicht zu widersprechen sei (74–77 [1964]).152 Der katholische Verdacht gegenüber der Formel, die »Wirklichkeit« der Rechtfertigung zu untergraben, sei damit hinreichend ausgeräumt, stehe hinter ihr doch ein Verständnis von Rechtfertigung als »großartiges Ineinander von forensischer Imputation und effektiver Sanation« bzw. als

Aus diesem Grund besprechen wir Kösters Arbeit erst an dieser Stelle. Hermanns Aussage, der Fortschritt sei bei Luther nur ein »Zeitbegriff«, aber kein »Maßbegriff«, bestreite – so Kösters – nur dessen kognitive Zugänglichkeit, nicht aber dessen ontische Realität (vgl. 7457 [1964]). Hermann vertrete »unzweifelhaft eine Interpretation von Luthers Rechtfertigungslehre, die deren effektiv-sanativen Wirklichkeitscharakter eindrucksvoll herausstellt« (207 [1964]; vgl. 207–211 [1964]). Dass Kösters zu dieser Einschätzung kommen kann, hängt mit dem schon erwähnten »schwebenden« Charakter vieler Formulierungen Hermanns zusammen. 151 Vgl. 75 [1964]: Das simul als »dynamisch-geschichtliche Formel« muss verstanden werden als »Ausgangspunkt und Ziel [sc. Sünder- und Gerechtsein] umfassende Klammer einer gerichteten Bewegung, die besagt, daß jedes Stadium dieser Bewegung vom Ausgangspunkt und Endpunkt immer – wenn gewiß auch in je verschiedener ›Dosierung‹ – ›zugleich‹ bestimmt ist«; 158 [1965], 223 [1965]). 152 Kösters berührt sich hier mit den entsprechenden Überlegungen Grosches und Rahners. Vgl. oben. 149

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»einheitliches – wenn auch als remissio und ablatio (abolitio) in sich differenziertes – Geschehen« (212 [1964]). Kösters scheint diese aus dem Rechtfertigungsurteil folgende effektive Gerechtigkeit auch eine solche vor Gott zu sein. Zweitens sind für eine Verständigung der Konfessionen im Blick auf das simul die Überlegungen von großem Gewicht, die Kösters zum Konkupiszenz- und Konsensbegriff anstellt. Ausgangspunkt ist für ihn einmal Hermanns Annahme einer neutralen, »naturhaften Konkupiszenz«, die mit dem animalisch-leiblichen Leben als solchem gegeben sei und nicht mit Augustin als Sünde qualifiziert werden dürfe (139, 147 f. [1965]).153 Zum anderen bezieht sich Kösters auf Hermanns Unterscheidung zwischen dem auch im Gerechten noch vorhandenen consensus mit der bleibenden Sünde und dem consensus zum Bleiben der Sünde selbst (146 f. [1965]).154 Meine Letzteres im Grunde das Aufgeben des Glaubens und damit die Rückkehr zur vollen Dominanz der Sünde, so stehe Ersteres für die im Gerechtfertigten zugleich mit dem Glauben vollzogene partielle und latente Bejahung der bleibenden Sünde, was Hermann auch mit der »Ichhaftigkeit« der Sünde oder der Zugehörigkeit der Sünde zur ganzen Person ausdrücke. Diese Überlegungen lassen sich nun für Kösters mit katholischen Differenzierungen des Konkupiszenzbegriffs zusammenbringen, der im Anschluss an Karl Rahner155 und Johann Baptist Metz156 vierfach zu untergliedern sei (147–158, bes. 155–158 [1965]): a) als bloß naturhaftes Streben, b) als vorgängiges, sittlich ambivalentes Beharren bzw. Widerständigkeit dieses Strebens gegenüber der personalen Freiheitsentscheidung, c) als negative Überformung dieses Beharrens in der postlapsarischen, unter dem Zorn Gottes stehenden und der Gnade beraubten Menschheit zu einer »bösen Tendenz« (156), einer »Dynamik auf die Sünde hin« (149)157 und schließlich d) als spezifisch lutherischer Konkupiszenzbegriff, der dieses böse Streben ins Auge fasse, sofern es als »Personsünde« je schon von einem nichtreflexen, mit der Konstitution des Ich einhergehenden, ihr also nicht erst nachfolgenden Konsensus des Menschen mitgetragen sei.158 Auch diese letztgenannte Konkupiszenz dauere im Gerechtfertigten noch fort und werde erst sukzessiv vom neuen »Glaubenskonsens« überwunden.159 Kösters gelangt auf diese Weise zu einer »praktischen Identität« von Konkupiszenz und Sünde und vermag so dem lutherischen Sündersein des Gerechten zuzustimmen (154, 159, 224 [1965]). Der katholischen Vgl. Hermann, These, 150–155. Vgl. ebd., 191–195. 155 Vgl. Rahner, Begriff, bes. 388–400. 156 Vgl. Metz, Konkupiszenz, bes. 847–851. 157 Sie besteht in der »Versuchung der Verabsolutierung des eigenen Ich« (150 [1965]) und ist »nicht mehr bloß trockener Zunder« gegenüber dem Funken der Versuchung, sondern »selber als die Versuchung brennend« (149 [1965]). Vgl. Metz, Konkupiszenz, 849. 158 Dieser Konsens ist im erbsündigen Menschen notwendig, aber nicht aus innerem oder äußerem Zwang herrührend (152 [1965]). 159 Der Konsens des Christen ist also in »Grund- und Hauptkonsens« (= Glaube] und »Teilkonsens« zur Sünde »gespalten« (157 f. [1965]). 153

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Position und ihrem spezifischen Sündenbegriff wird insofern Rechnung getragen, als diese bleibende Konkupiszenz von einem latenten Konsens der ganzen Person begleitet ist, wenn auch dieser Konsens nicht der singuläre, reflex-bewusste Entschluss zu einer bestimmten Tat ist.160 Da diese Konkupiszenz alles im Gerechtfertigten durchwirkt und einfärbt, kann Kösters auch von einer »Ubiquität« der Sünde sprechen und versucht auf diesem Wege das lutherische totus peccator einzuholen (159 f. [1965]). Indessen versteht er darunter wohl nicht, dass der Gerechtfertigte von sich her lebenslang als totus peccator vor Gott zu stehen komme. In einer gewissen Schwebe bleibt, ob Kösters den vierfachen Konkupiszenzbegriff nur als fortschreitenden Weg vom Abstrakten zum Konkret-Wirklichen begreift (so dass allein der letzte Begriff die konkret-reale Konkupiszenz beschriebe) oder ob die verschiedenen Konkupiszenzbegriffe auch eine je verschiedene Realität im Menschen erfassen bzw. nur partial ineinsfallen. Dahinter steht natürlich die für die interkonfessionelle Verständigung zentrale Frage, inwieweit und wie total die Personsünde das ganze Sein und Leben des Menschen durchwirkt und beherrscht.161 In jedem Fall darf aber festgehalten werden: Es gibt für Kösters Konkupiszenz, welche »vere et proprie« Sünde ist – und zwar auch unabhängig vom reflex-willentlichen Konsens! Vgl. 159 [1965]: »Und daß also auch die ›Regungen‹ der Konkupiszenz, insofern sie von einem Konsens, der freilich nicht bloß als nachträglich-sekundärer und reflex-bewußter Akt vorzustellen ist, ursprünglich und von vornherein aufgenommen und mitgetragen sind, als vere et proprie peccata angesehen werden können und müssen.« Dem Tridentinum (DH 1515) widerspricht dies nach Kösters deshalb nicht, weil hier nur jene Konkupiszenz als Nicht-Sünde definiert wird, der man nicht zustimmt. – Iammarrone, der sich eng an Kösters anschließt, geht – wie oben gezeigt – zumindest verbal nicht so soweit, die »concupiszenza assecondata« als Sünde zu bezeichnen, wenngleich er faktisch diese Auffassung teilt. Zudem schlägt er einen anderen Weg der Vermittlung dieser These mit Trient ein: Die in DH 1515 als Nicht-Sünde bestimmte Konkupiszenz sei ohne Konsens im Sinne des bewusst-freien Konsenses zu ihr. Die Konkupiszenz stellt also keine aktuelle Sünde dar. DH 1546 impliziere dann aber ein Konkupiszenzverständnis, welches von einem der Konkupiszenz je schon geleisteten unthematischen Konsens ausgehe und sie daher über den Status einer bloßen Neigung zum Bösen hinaushebe. Anders als Kösters rechnet Iammarrone bei diesem unthematischen Konsens offenbar mit einem Minimum an Freiheit und Bewusstsein (»halbfrei«, »halbbewusst«), er ist ihm also nicht (völlig) gleich­ursprünglich mit der Konstituierung der Person. Vgl. ders., Il dialogo, 79 f., 101, 155. 161 Vgl. 157 [1965]: Luthers sachliche These besteht darin, »daß de facto unvermeidlich infralapsarische Konkupiszenz (normalerweise) nur vorkommt als vom menschlichen Konsens wenigstens irgendwie aufgenommen und mitgetragen. […] Die faktisch und konkret antreffbare Konkupiszenz [ist] niemals (d. h. diesseits der Vollendung, innerhalb des simul) ›reine‹, d. h. konsensfreie Konkupiszenz«. Kösters Rede vom bloßen »Mitgetragensein« der Konkupiszenz durch den Konsens (im Unterschied zum totalen Getragensein) und seine Warnung »vor einer kurzschlüssigen Verbindung von ›Ich‹ und ›Konkupiszenz‹, vor einer falschen Ineinssetzung von natural-vorpersonaler und personaler Dimension im Menschen« (15948 [1965]) tendiert stark zur zweiten der oben genannten Positionen. Hier bestünde dann wohl eine Differenz zu Luther. 160

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5.6 Kjell Ove Nilsson Die 1966 erschienene materialreiche Untersuchung »Simul« von Kjell Ove Nilsson stellt – entgegen der durch den Titel geweckten Vermutung – nicht die schon lange erwartete neuere Monographie über das lutherische simul dar. Das zeigt sogleich der Untertitel: »Das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie«. Zum einen spannt Nilsson für die simul-Thematik den Rahmen zu weit: Ausgehend von der vielfach geäußerten Kritik an Luthers Ethik bzw. der des Luthertums (Trennung von Geistlichem und Weltlichem, Innerem und Äußerem, Reich Gottes und Reich der Welt und deshalb keine ethische Stoßkraft) untersucht Nilsson das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem überhaupt in Luthers Theologie – und zwar anhand dreier Themenfelder: Schöpfung und Sünde, Christus und sein Werk sowie schließlich christliches Leben bzw. Kirche. Das Ergebnis ist überall dasselbe: Stets liegt ein simul, d. h. ein Zugleich und Miteinander von göttlichem und menschlichem Handeln vor, das freilich nicht synergistisch missverstanden werden darf, als ob Gott und Mensch zwei Partner wären, von denen jeder seinen »Part« in einem insgesamt einheitlichen Geschehen über­nähme. Vielmehr bedient sich der allwirkende Gott immer und überall kreatürlicher Medien als seiner Instrumente (larvae, cooperatores), um in und an der Welt zu handeln.162 Um dieses durchgängige simul zu erhellen, ist für Nilsson das ihm zufolge im Zentrum von Luthers Theologie stehende Denkmodell der christologischen Idiomenkommunikation hilfreich:163 Analog zum Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Christus handelt es sich immer um ein durch Kommunikation und Austausch geprägtes, ungetrenntes und unvermischtes Zugleich von Göttlichem und Menschlichem, wobei das Göttliche sich des Menschlichen bedient und in Letzteres hinein inkarniert, so dass der Mensch, angeleitet durch Gottes Wort, hier Gott begegnen kann (vgl. 28 ff.). Von daher gelangt Nilsson zu dem Resultat, dass auch Luthers Ethik keineswegs durch die oben erwähnten Trennungen bestimmt sei, sondern vielmehr eine inkarnato­rische Ethik dar­stelle: Der Glaube verleibliche sich gleichsam im Weltlichen, werde in ihm

Der »neuralgische Punkt« dieser These ist natürlich die Rechtfertigungslehre. Nilsson stellt diesbezüglich heraus, dass die cooperatio des Menschen allein auf der psychologischen, nicht auf der theologischen Ebene liege und insofern das sola gratia und sola fide bzw. die passivitas des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen gewahrt bleibe. Auch den aus dem Glauben folgenden Werken komme kein meritorischer Charakter zu. Gleichwohl sei die Unterscheidung von Glaube und Werken letztlich logisch, nicht zeitlich zu verstehen. Insofern ist der Glaube nie ohne menschliche Aktivität. Vgl. 353, 358–384, bes. 358 f., 366–369. 163 Vgl. 228: »Die communicatio idiomatum [macht] das Herzstück der Theologie Luthers aus. […] Deswegen steht und fällt mit der communicatio idiomatum Luthers ganzes theologisches Denken.« Simultaneität und communicatio idiomatum gehören also eng zusammen, Erstere wird durch Letztere ausgelegt (so 413). 162

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»Fleisch«, ohne dass beide Bereiche vermischt oder identifiziert werden dürften (412–433).164 Auf der anderen Seite ist Nilssons Monographie im Blick auf das simul iustus et peccator zu eng gefasst. Denn da es ihm in erster Linie um jenes allgemeinere, fast schon formal gefasste simul von Göttlichem und Menschlichem geht,165 wird das simul von Gerechtigkeit (= Göttlichem) und Sünde (= Menschlichem) beim Christenmenschen im dritten Teil auf vergleichsweise schmalem Raum und schwerpunktmäßig unter der genannten Leitperspektive des Buches behandelt, sozusagen als deren »Spezialfall«.166 Dementsprechend zieht Nilsson erklärtermaßen auch nur wenige Lutherschriften für dieses Thema heran (vgl. 314 f.). Was seine inhaltliche Darstellung der simul-Thematik anbelangt, so muss das Urteil zwiespältig ausfallen: Deutlich herausgestellt wird die nach Luther bestehende Analogie zwischen Christus und dem Christen: So wie Christus Gott und Mensch zugleich ist, so ist der Christ – eben kraft seines »wunderbaren Austausches« mit Christus – gerecht und Sünder zugleich (313 f.). Nilsson benennt weiterhin die für Luther wichtigen Differenzierungen: Rechtfertigung als Gerechtsprechung und Gerechtwerdung (313 f., 332 f., 340, 345)167 sowie das simul in seinem Total- und Partialaspekt. Er nimmt auch wahr, dass gerade die letztere Unterscheidung für Luther in sich noch einmal vielschichtig ist: Es gilt, die immer den ganzen Menschen betreffende und niemals gleichzeitig geltende Relation zu Gott in Zorn oder Gnade von der stets partialen Realität von Sünde und Gerechtigkeit im Christen selbst abzuheben, wobei die partiale Sünde den Christen in sich und substantiell, also abgesehen von jener Totalrelation, ganz zum Sünder qualifiziert. Darüber hinaus spielt in diese Differenzierungen Luthers totus-homo-Anthropologie hinein, der zufolge Geist und Fleisch als zwei konträre Streberichtungen im Christen nicht mehr substanzdualistisch als »Teile« des Menschen begriffen werden, sondern diesen ganz in allen seinen »Schichten« betreffen und im Christen gleichzeitig vorliegen,168 aber gerade deswegen wiederum nur partial sind. So sehr Nilsson diese komplexen Zusammenhänge bei Luther andeutet, so sind sie bei ihm doch letztlich nicht klar erfasst und auseinandergehalten. Verantwortlich ist dafür wesentlich das Bestreben, bei Luther, oft über das aus den Texten Erhebbare hinaus, 287 spricht Nilsson von der »gleichbleibenden christologischen oder eher inkarnatorischen und sakramentalen Grundstruktur« der Theologie Luthers. 165 Wie denn auch bei Nilsson die Gefahr besteht, sowohl die Inkarnation Christi bzw. die Zwei-Naturenlehre als auch das simul iustus et peccator einer universalen Struktur zu subsumieren und sie damit ihrer Profiliertheit zu berauben. 166 Vgl. 309–357. Davon sind 310–329 dem simul iustus et peccator im engeren Sinn gewidmet, während 329–357 die daran angrenzenden Themen des christlichen progressus, der Anfechtung und des Gebets untersuchen. 167 Wobei Letztere – vermöge der ständigen communicatio des Christen mit Christus – als die fortschreitende Inkarnation der Ersteren zu begreifen ist: 326, 340, 346 f. 168 Und d. h.: per communicationem idiomatum gleichzeitig von der einen Person prädiziert werden müssen. 164

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überall die Denkform der Idiomenkommunikation festzumachen, was aber dazu führt, dass alle Begriffe und Ebenen in verwirrender Weise in Wechselwirkung zueinander zu stehen kommen.169 Das Hauptgeschehen dieser communicatio idio­matum im Kontext des simul besteht für Nilsson darin, dass sich das durch Christus vermittelte totus iustus des Christen auf alle seine »Teile«, also auch auf seine partielle Gerechtigkeit und Sünde auswirke. Letztere werde deshalb von Gott nicht angerechnet, Erstere könne demgegenüber als initium iustitiae Grundlage der Gerechterklärung durch Gott sein. Andererseits kommuniziere sich die partielle Sünde ebenfalls dem Christen noch als ganzem, lasse ihn in sich folglich noch ganz Sünder sein.170 Für Nilsson liegt folglich, so könnte man formulieren, eine Idiomenkommunikation sowohl zwischen Total- und Partialaspekt als auch zwischen den jeweiligen beiden Einzelmomenten des Total- bzw. Partialaspektes untereinander vor, insofern diese (gerecht und Sünder) der einen Person zugesprochen werden müssen. Freilich kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass hier eine Denkstruktur eine Dominanz gewonnen hat, die so bei Luther nicht gegeben ist.

Vgl. dazu 312–335. Vgl. 320 f., bes. 320: »Läßt sich vom Menschen sagen, daß er durch die imputatio iustitiae Dei totus justus ist, so läßt sich ebenfalls sagen, daß seine ›Teile‹, Werke usw. gerecht sind, und behauptet man, daß die Sünde durch die non-imputatio peccati entfernt ist, können auch ihre ›Teile‹ nicht sündig genannt werden, selbst wenn sie es an sich sind. Und andererseits: behauptet man, daß ein Teil des Menschen aus Sünde besteht, so muß die Sünde als Bestimmung auf den ganzen Menschen bezogen werden, und kann man vom Menschen als teilweise gerecht sprechen, so muß diese beginnende Gerechtigkeit trotz der fortgesetzten Macht der Sünde als vollständig bezeichnet werden und für den Christen als ganzen gelten«; 321 f.: »Sündigt der Mensch mit der Hand oder der Zunge, so ist er als totus homo Sünder, und vollbringt er im Glauben ein gutes Werk, so ist er als totus homo gerecht. […] Ebenso wie Christus simul Gott und Mensch ist, ist der Christ simul gerecht und Sünder, und wie Christus nicht zur Hälfte Gott und zur Hälfte Mensch ist, so ist der Christ coram Deo niemals nur partim justus und partim peccator, sondern beides totaliter. Der ganze Mensch wird hier in dieser paradoxen Gleichzeitigkeit und Doppelheit, die Luther zufolge auch für Christus kennzeichnend ist, gesehen, – und dies alles aufgrund der communicatio idiomatum«; 331, 333 f.: »Was für das Ganze gilt, hat für den Teil Gültigkeit und umgekehrt, die gleiche Aussage bezieht sich sowohl auf den Teil wie auf das Ganze. Die Gerechtigkeit Christi wird dem Menschen im Wort gereicht, und durch den Glauben wird er total von ihr geprägt, das Attribut gerecht gilt für sein ganzes Leben und alle seine Werke, denn die Mängel werden von der imputatio iustitiae Christi zugedeckt. Aber Luther betont, daß der Mensch mit all seinen guten Werken dennoch Sünder ist […]. Kann das in einer Hinsicht gesagt werden, ist es damit von allem am Menschen gesagt. Ohne Christus ist er daher an sich totus peccator. Ferner: kann nun vielmehr behauptet werden, daß der Mensch propter Christum eine begonnene Frömmigkeit besitze, so ist deshalb, sagt Luther, der ganze Mensch gerecht, und die Sünde, die ihm noch anhaftet, wird nicht angerechnet«; 334 f., 339. 169 170

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5.7 Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen Dass das simul im Kontext der GE jüngst erneut Anlass zu katholisch-evangelischen Irritationen bot, haben wir in Kapitel 4 dieser Einleitung schon herausgestellt. Obwohl beiderseits eingeräumt wurde, dass an dieser Stelle weiterer Gesprächsbedarf besteht, ermöglichte die GOF und insbesondere ihr »Annex« mit der umstrittenen Einigung hinsichtlich des simul dennoch eine Unterzeichnung der GE. Der gleichwohl fortbestehenden Aufgabe, die eingeforderten Klärungen zu erzielen, hat sich der »Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen« auf seiner Jahrestagung im Jahr 2000 unterzogen und deren Ergebnisse 2001 in einem umfangreichen Sammelband veröffentlicht unter dem Titel: »Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen«. Diese Publikation, die die Position der GE untermauern möchte und deshalb verständlicherweise konsensorientiert ist, behandelt in verschiedenen Aufsätzen die neutestamentlichen, dogmengeschichtlichen und systematischen Themenkomplexe im Blick auf das simul. Wir erwähnen davon nur die für die Erhebung der Position Luthers bzw. für die Auseinandersetzung mit ihr wichtigen Beiträge: Der katholische Systematiker und Lutherforscher Otto Hermann Pesch hat in einem kurzen, aber höchst informativen Aufsatz den Sinn und Stellenwert der Formel bei Luther selbst dargestellt.171 In Thesen und Kurzkommentaren zu den in chronologischer Folge angeführten Lutherstellen wird deutlich, dass Luther die Formel oder die durch sie bezeichnete Thematik seit der Römerbriefvorlesung durchgängig gebraucht bzw. angesprochen hat. Dabei liege Luther an der Formel als solcher nichts, er könne vielmehr das mit ihr Gemeinte auch ohne sie ausdrücken.172 Pesch hebt dabei besonders die radikale Asymmetrie zwischen iustus und peccator in der Formel hervor: Sie beschreibe kein statisches Verhältnis, sondern ein dynamisches Geschehen von der Sünde zur eschatologisch voll verwirklichten Gerechtigkeit des Menschen (153 f.). Deshalb werden auch neben der Formel selbst deren »Varianten« »in re/in spe« und »partim/partim« als »eschatologische Variante« und »Partialaspekt« herausgestellt (151 f., 160 f., 165 f.) sowie der gegen die Sünde gerichtete Kampfcharakter des christlichen Lebens betont.173 Eigenartig unter­

Vgl. auch ders., Theologie, 109–122; Ketzerfürst, 25–37; Hinführung, 212–226; Art. »Simul« (LThK3, Bd. 9, 612–615 ). 172 Daraus folgt für Pesch, dass »die Formel als solche jedenfalls in Luthers Augen nicht eine unentbehrliche und schon gar nicht die Zusammenfassung seiner reformatorischen Rechtfertigungslehre« darstelle. »Daraufhin kann sie jedenfalls nicht im Namen Luthers zu einem Kriterium für Konsens oder Dissens mit der katholischen Tradition gemacht werden.« (154 f.) Ähnlich 167. Zentraler ökumenischer Gesprächspunkt ist deshalb allein »das Verständnis und die Benennung der epithymía = Konkupiszenz« als Sünde (155). 173 Dem korrespondiert die Bevorzugung des Antilatomus für die Interpretation der Formel (155 f., 158). 171

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belichtet bleibt dabei der Sinn der Formel als irdisch nicht zu transzendierende Totalbestimmung des Christen (totus/totus), insbesondere das totus peccator.174 Die diesbezüglichen Lutherstellen werden kaum erwähnt bzw. nicht als solche akzentuiert,175 der Leser vermag nur zu erschließen, dass die von ihren Varianten abgehobene Formel selbst genau diesen Totalaspekt meint. In eins mit der Verortung der simul-Formel in einem von der Substanzontologie abgehobenen relationalen Denken vertritt Pesch (wie schon Wilhelm Link) die Auffassung, dass das simul primär eine »Gebetsrealität« darstelle, welche die Situation des Menschen im Stehen vor Gott »auf den Begriff bringe«. Dabei sei aber die Formel gegenüber dieser existentiellen Erfahrung bzw. »betenden Selbstaussage vor Gott« eine sekundäre dogmatische Fixierung (163 ff.).176 Ein wichtiger Fingerzeig für die weitere Forschung liegt in Peschs Hinweis, dass die zentralen gedanklichen Elemente der Formel zwar schon in der Römerbriefvorlesung vorliegen, sie aber erst in der Folge (seit 1519) mit der Problematik der Heilsgewissheit verbunden werden (154 f.). Vertritt man mit Pesch die Spätdatierung von Luthers reformatorischer Wende (Frühjahr 1518) und sieht ihren Skopus genau in der Lösung der Gewissheitsproblematik, dann liegt es nahe zu fragen, ob sich dieser »Durchbruch« bei Luther auch auf den sachlichen Gehalt oder wenigstens die existentielle »Färbung« des simul ausgewirkt hat (vgl. 163 f.). Neben dem schon erwähnten Aufsatz von Wolf-Dieter Hauschild,177 welcher aufzeigt, dass die Zentralität der simul-Formel für die reformatorische Rechtfertigungslehre – begünstigt durch das theologische »Klima« und die Edition bis dahin unbekannter Luthertexte, insbesondere der Römerbriefvorlesung – erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts »entdeckt« wurde, sei in dem behandelten Sammelband noch auf den »Abschließenden Bericht« des Ökumenischen Arbeitskreises katholischer und evangelischer Theologen hingewiesen. Dieser möchte erklärtermaßen dazu beitragen, dass (ebenso wie für die Rechtfertigungslehre insgesamt in der GE) auch für das simul iustus et peccator ein »differenzierter Konsens« erzielt wird, bei dem von einem gemeinsamen Grundverständnis her die verschiedenen konfessionellen Traditionen als legitim bzw. sich nicht mehr ausschließend und insofern als nicht mehr kirchentrennend erachtet werden dür-

Vgl. 153: »Die Formel drückt also die Dynamik des Christseins aus: immer im Werden, noch nicht im Sein, immer auf dem Weg der Heilung, aber noch nicht vollkommen gesund.« Dies ist gewiss richtig, aber ist es auch ausreichend, um den »Sinn« der Formel zu umschreiben? 161 ist (doch wohl zustimmend) nur die Rede vom »›Partialaspekt‹ der Rechtfertigung als Komplement zum ›Totalaspekt‹ der Nichtanrechnung [der Sünde]«. In seiner Darstellung von 1967 (Theologie, 110–114) hatte Pesch dagegen den Totalaspekt des simul (und somit auch das totus peccator) deutlich herausgestellt. 175 Z. B. 39 I,563,13–564,7; vgl. Pesch, Simul, 160. 176 Vgl. schon Pesch, Theologie, 532 ff., 938 f.; Ketzerfürst, 34–37; Hinführung, 221–225; Probleme, 194–198. 177 Siehe oben Anm. 116. 174

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fen.178 Zu diesem Zweck werden nochmals das biblische Zeugnis sowie das dogmengeschichtliche Material zusammenfassend dargelegt und schließlich in einer systematischen Reflexion das Verständnis von iustus und peccator und zuletzt das simul zu klären versucht. Bei der Darstellung Luthers im historischen Teil wird – ähnlich wie schon in dem Aufsatz von Pesch – der dynamische Charakter der simul-Formel akzentuiert bzw. betont, dass in ihr keine »Gleichrangigkeit von Sünde und Gerechtigkeit« behauptet ist, mithin auch nicht die »Verbindlichkeit ethischen Bemühens aufgrund der Taufe« in Frage gestellt sei (435; vgl. 433). Ebenso wie bei Pesch wird das simul totus peccator kaum explizit erwähnt und vorwiegend der Antilatomus mit seiner Differenzierung zwischen gratia und donum zur Interpretation des lutherischen simul herangezogen.179 Als zentrale, sich aus der Dogmengeschichte ergebende Sachfrage wird im Blick auf die evangelisch-katholischen Differenzen schließlich nicht sehr eindeutig benannt: »Wie groß ist der Unterschied tatsächlich zwischen einer Auffassung, nach der die Konkupiszenz auch in den Getauften wirklich Sünde ist, aber von Christus nicht mehr trennt, solange man sich von ihr nicht wieder ›beherrschen‹ lässt, und einer Auffassung, nach der die Konkupiszenz, weil sie die Getauften von Christus nicht trennt, ›nur‹ Neigung zur Sünde ist, die erst dann (erst) zu wirklicher Sünde wird, das heißt: von Christus trennt, wenn man ihr ›zustimmt‹?« (439)180 Die Beschreibung der katholischen Position, insbesondere das kausative »weil«, wirft hier mehr Fragen auf, als dass sie zur Klärung beiträgt: Wenn damit gemeint sein soll, dass die Konkupiszenz seinsmäßig (nur) deshalb keine Sünde mehr ist, weil sie von Christus nicht mehr trennt, d. h. von Gott vergeben ist, so ist dies zwar eine von Augustin her mögliche und katholischerseits zuweilen vertretene Auffassung,181 die aber – wie in der Diskussion um die GE sichtbar wurde – keineswegs die offizielle Lehre der katholischen Kirche wiedergibt.182 Hiernach ist vielmehr die Konkupiszenz in sich keine Sünde, sondern Sündenstrafe, eben weil ihr das Moment der freien Entscheidung fehlt. Zudem würde bei dieser zwischen der Konkupiszenz vor und nach der Taufe differenzierenden Sicht das, was vorher Sünde Vgl. 406: Angezielt wird nicht eine »einheitliche theologische Formel«, welche die evangelische Lehre und die traditionelle katholische Ablehnung im Blick auf das simul in Einklang bringt. »Vielmehr wird davon ausgegangen, dass beide auf der Basis einer gemeinsamen Grundüberzeugung ihre eigenständige konfessionelle und ökumenische Berechtigung besitzen.« Siehe auch 402, 449 f., 450, 455 f. 179 Vgl. 433: In der auf eschatologische Vollendung ausgerichteten Kampfsituation des Christenlebens überbrückt »die göttliche Nicht-Anrechnung alles noch Unabgegoltene«. Ferner 443, 452 f. Vgl. aber 455: Der Getaufte erkennt sich im Blick auf sich selbst »ganz und gar als Sünder«. Zum Antilatomus siehe 433 f., 448. 180 Ähnlich schon Pesch, Simul, 148 f.; Track, Grundsatzüberlegungen, 24. 181 Vgl. oben Kap. 2.1 und unten Teil I, Kapitel 1.1, Exkurs. Ferner Lehrverurteilungen I, 52. 182 Vielmehr ist nach katholischer Lehre umgekehrt zu formulieren: Weil die Konkupiszenz in sich nicht Sünde, sondern nur Neigung zur Sünde ist, trennt sie von Christus nicht! 178

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war und nachher als böse Neigung bleibt, durch die Taufe bzw. die neue Christusgemeinschaft seinsmäßig zur Nicht-Sünde umqualifiziert werden, was nicht sehr stimmig ist. Es sei denn, dass man den Sündencharakter der Konkupiszenz allein in dem einer überbordenden Sinnlichkeit nur oberflächlich anhaftenden »reatus« gegeben sieht, der eben in der Taufe beseitigt wird. Dies stellt aber eine sachliche Unterbestimmung der Konkupiszenz und ihres gottfeindlichen Charakters dar. Deshalb kann man den zitierten Satz nur so verstehen (und das wird 448 f. auch nahegelegt), dass nach katholischer Auffassung die Größe und Souveränität der Christustat erkenntnismäßig dazu führt, die Konkupiszenz in den Getauften (und natürlich auch generell) nicht mehr selbst als Sünde zu bewerten. Ebenso scheint der Dissens in dem abschließend formulierten »differenzierten Konsens« bzw. dem »gemeinsamen Verständnis« des simul nur verdeckt, aber nicht wirklich ausgeräumt zu sein, so dass die erzielte Verständigung für alle Interpretationen offen ist: »Auch die Getauften sündigen gemäß ihrer bleibenden gottwidrigen Begehrlichkeit und müssen deshalb für sich und in Bezug auf sich selbst genommen sich als peccatores beurteilen. In Christus hingegen, in dem ihr Glaube gründet, sind sie iusti und wahrhaft gerecht vor Gott.« (455) Offenbar ist »Gottwidrigkeit« nicht auch gleich Sünde oder zumindest mehrdeutig,183 so dass ebenfalls die genaue Bedeutung von »sündigen« und »peccatores« unklar bleibt: Beziehen sich diese Begriffe auf die konkupiszente Grundsünde oder auf das aktuelle Sündigen in konkreten Gedanken, Entschlüssen und Taten?

5.8 Gerhard Ebeling Wir schließen unseren Forschungsbericht zum lutherischen simul mit dem Verweis auf Gerhard Ebelings Buch »Luther. Einführung in sein Denken« (1964) ab, das sich zwar nicht der speziellen Thematik des simul iustus et peccator widmet, aber – ähnlich wie Nilsson dies für die communicatio idiomatum getan hat – in der Verhältnisbestimmung simul die Struktur des lutherischen Denkens insgesamt zum Ausdruck gebracht sieht.184 Ebeling bestimmt dieses als sich in antithetischen, polaren Begriffspaaren vollziehend, welche nicht zeitlich versetzt, sondern stets »zugleich« auftreten und gegeben sind (16). Dabei sei das Verhältnis dieser Begriffspaare ein doppeltes: Es bestehe zum einen in einer antithetischen, ja kontradiktorischen Spannung, zwischen beiden Polen herrsche gleichsam eine »Todfeindschaft«, die auf die Eliminierung des jeweils anderen Pols ausgerichtet ist, zum andern gilt es aber, jene beiden Pole ins rechte, nicht-kontradikto 444 wird Sünde freilich in genere als »gottwidriges Verhalten des Menschen« bezeichnet. 184 Vgl. Ebeling, Luther, 162, wo von der »immer wiederkehrenden Strukturgleichheit« des lutherischen Denkens die Rede ist. Ähnlich Schott, ›Zugleich‹. Wichtig sein Hinweis ebd., 340: »Zugleich heißt nicht gleichgeordnet.« 183

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rische Verhältnis zu setzen, in welchem jedem von ihnen sein begrenztes genuines Recht zukommt (126, 157–165).185 Als Beispiele solcher Gegensatzpaare in Luthers Theologie behandelt Ebeling in jeweils gesonderten Kapiteln Philosophie und Theologie, Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium, den zweifachen Gebrauch des Gesetzes, Person und Werk, Glaube und Liebe, Reich Christi und Reich der Welt, Christperson und Weltperson, Freiheit und Unfreiheit, verborgener und offenbarer Gott. Unter all diesen Unterscheidungen, die nicht alternativ gelten, also keine Scheidung und Trennung, aber auch kein additives, spannungsloses Nebeneinander im Sinne des katholischen »sowohl als auch« anzielen (125 f., 158 ff.), sieht Ebeling die von Gesetz und Evangelium als die fundamentale, die anderen sozusagen in ihrer Dualität hervorbringende Distinktion an (162 f.). Des Weiteren stellen diese Polaritäten für ihn bei Luther nicht das Ergebnis eines zeitlos-spekulativen Denkens dar, sondern sind geschichtlich begründet und eröffnet: Es ist das im Christusereignis wurzelnde und auf das menschliche Gewissen zielende »Wortgeschehen der Verkündigung« (166), welches im Leben des Menschen sowohl eine »Entscheidungszeit« als auch eine »Zeitentscheidung« selbst in Alt und Neu heraufführt (164 f.). Dadurch konkretisiert und profiliert sich die der menschlichen Existenz als solcher zukommende »Urspannung« als »Zwischen-Sein«, nämlich als Sein zwischen Geburt und Tod, Schöpfung und Auferstehung, Sünde und Gerechtigkeit, Gott und Nächstem, Gott und Welt (185 f.). Leider widmet Ebeling dem »Gerecht und Sünder zugleich« kein eigenes Kapitel, sondern erwähnt diese Polarität immer wieder nur en passant (134, 155, 182–185, 285),186 obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass dieser Distinktion bei Luther ein ähnlich prinzipieller Rang wie der von Gesetz und Evangelium zukommt. Der geistesgeschichtliche Widerstreit von Mittelalter und Neuzeit, den viele Interpreten in Luther exemplarisch ausgefochten sehen, sei auf den viel grundsätzlicheren Widerstreit von altem und neuem Menschen, Zeit des Gesetzes und Zeit der Gnade zu transzendieren. »Dieser Widerstreit – aufs äußerste zugespitzt in der paradoxen Formel: simul iustus – simul peccator, ›Gerechter und Sünder zugleich‹ – stellt die fundamentale Signatur von Luthers Denken dar.« (14 f.)187 Vgl. Ebeling, Luther, 157: »Trotz aller Schärfe der Antithetik kann daran doch kein Zweifel sein: Die Bejahung des einen ist nicht einfach die Verneinung des andern und umgekehrt. Es kann sich nicht um einen schlechterdings ausschließenden Gegensatz handeln, so daß hier allein ein Entweder-Oder gilt.« Da Luthers »Grundantithetik« sowohl einen »kontradiktorischen als auch einen nicht-kontradiktorischen Sinn« hat (163), kann von einer »doppelten Gegensatz-Struktur« (165) gesprochen werden. – Jüngst hat Hans-Martin Barth seine Darstellung der Theologie Luthers nach Begriffspaaren, deren Pole sich einerseits mehr alternativ, andererseits mehr komplementär zueinander verhalten, strukturiert. Vgl. ders., Theologie, bes. 31 f., 253–298 (»Identität - ›Sünder und gerecht zugleich‹«). 186 Ebeling (285) nennt das simul – in Analogie zum sola als »Particula exclusiva« – die »Particula inclusiva« lutherischen Denkens. 187 In diesem vertieften Sinn möchte Ebeling (13 f.) Conrad Ferdinand Meyer verstehen, wenn dieser Luther im Umbruch und deshalb in der Simultaneität zweier Zeiten stehen 185

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Methode und Aufbau der Studie

Unser Versuch, den mit dem simul iustus et peccator eröffneten Fragehorizont in fünf Schritten zu umreißen, hat deutlich gemacht, dass es sinnvoll, ja dringend erforderlich ist, zu klären, was Luther selbst, der Urheber dieser Formel, mit ihr intendiert und gemeint hat, in welchem Umfang sie in seinem Werk vorkommt und welche Stellung sie darin einnimmt. Dies trifft einmal im Blick auf die vorwiegend evangelische Erforschung dieses Themas selbst zu: Es gibt im Grunde keine neuere größere Monographie zum simul bei Luther. Rudolf Hermanns Buch aus dem Jahr 1930 ist bis heute die einzige größere Arbeit über dieses zentrale Motiv lutherischer Theologie geblieben. Da Hermanns Darstellung aber auf einer schmalen Textbasis aufruht, zudem stark vom eigenen, Luther weiterdenkenden systematischen Interesse geleitet ist, schließlich sich die innerkonfessionelle Situa­tion seitdem stark gewandelt hat, ergibt sich die Notwendigkeit, Luthers Position hinsichtlich des simul auf einer breiteren Textbasis im heutigen Kontext erneut monographisch darzustellen. Durch die vielen nach Hermann erschienenen Beiträge zum simul kann diese Aufgabe nicht als erledigt gelten, auch wenn sie Entscheidendes zur Klärung beigetragen haben. Aber auch die zahlreichen katholischen Annäherungen an Luthers simul sowie die als nicht abgeschlossen zu betrachtende Diskussion um dieses Thema anlässlich der GE lassen es als geboten erscheinen, nochmals bei Luther selbst »nachzufragen«. Haben jene lutherischen Kritiker dieses Dokuments recht, die gerade von Luthers simul iustus et peccator her einen »Konsens in (den) Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« in der GE bestreiten, ja im Blick auf die GOF sogar von einer Aufgabe lutherischer Positionen sprechen? Oder ist jenen beizupflichten, welche die Kontroverse um das simul für interkonfessionell ausgetragen halten, weil das traditionelle lutherische Verständnis dieser Formel von der neueren Lutherforschung wesentlich differenziert wurde? Das Thema ist also weiterhin interkonfessionell, ja innerevangelisch strittig!188 Klärung kann hier nur erzielt werden, wenn von neuem untersucht wird: Was meint Luther genau, wenn er diese Formel samt ihren Varianten gebraucht bzw. welche Bedeutungsbreite umspannt bei ihm der simul-Gedanke bzw. die simul-Thematik? Von welcher schon rein quantitativen Gewichtung ist dieses Thema innerhalb seines theologischen Schaffens, kommt es durchgänsieht: »Er fühlt der Zeiten ungeheuern Bruch,/Und fest umklammert er sein Bibelbuch/ […] Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet –/Mich wundert’s nicht, daß er Dämonen sieht!« (Huttens letzte Tage, 42 [Luther]) Dazu auch Bayer, Theologie, 1–11. 188 Ein eher nachdenklich-kritisches Verhältnis zur simul-Formel lässt z. B. Honecker, Simul, erkennen, ohne sie freilich deshalb einfach »fallenlassen« zu wollen (433).

Methode und Aufbau der Studie

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gig, also beim frühen und späten Luther gleichermaßen, oder nur sporadisch bei ihm vor? Dass im Gedanken des simul ein zentrales Theologumenon Luthers beschlossen liegt, wurde schon mehrfach deutlich: Hier laufen zentrale Linien seiner Rechtfertigungslehre, ja seiner gesamten Theologie zusammen. Luther hat über das simul iustus et peccator keine theologisch-systematische Abhandlung geschrieben. In seinen Schriften, die zumeist Schriftauslegungen oder Gelegenheitsschriften sind, kommt er auf das simul vielmehr im Zusammenhang mit anderen theologischen Themenstellungen zu sprechen, die entweder durch einen auszulegenden Schrifttext, einen theologischen Disput oder eine seelsorgerlich-erbauliche Absicht veranlasst sind. Wir gehen deshalb so vor, dass wir zunächst im ersten Teil unserer Arbeit die theologischen Themenfelder aufsuchen, in denen Luther auf das simul eingeht, und suchen auf diese Weise zu klären, was er mit der simul-Formel meint und welche argumentative bzw. explikative Funktion diese jeweils übernimmt. Als ertragreiche Themenbereiche haben sich dabei Rechtfertigung, Taufe, Buße, gute Werke, Anthropologie und Gesetz erwiesen, alles Inhalte, die sich um das Zentralthema der Rechtfertigung herum gruppieren. Dabei ist – wie schon angedeutet – eine Unterscheidung wichtig: einmal das Vorkommen der simul-Formel und ihrer Varianten189 selbst, zum anderen das Rekurrieren auf ihren Sachverhalt, nämlich die auch im Glaubenden, im Getauften zeitlebens verbleibende Sünde, ohne dass die Formel explizit verwendet wird. Die explizite Formel verwendet Luther recht selten, der damit und oft unabhängig von der Formel anvisierte Sachverhalt begegnet uns dagegen in seinen Schriften sehr häufig.190 Das Ansetzen bei den theologischen Themenfeldern, innerhalb derer Luther das simul anspricht, verhindert zudem eine enggeführte, einseitig von den kontroverstheologischen Fragestellungen beherrschte Behandlung des simul und sichert gleichzeitig, dass das Thema von Luther selbst her in seiner ganzen Weite und Tiefe in den Blick kommt. Methodisch gehen wir so vor, dass wir bei den einzelnen Themenfeldern uns auf die Auslegung größerer zusammenhängender Textstücke oder ganzer Schriften konzentrieren, soweit das möglich ist. Das garantiert zum einen eine sehr textnahe Arbeit, sichert zum anderen aber durch die Heranziehung mehrerer größerer Textabschnitte, dass Luther in seinen verschiedenen Schaffensperioden zur Sprache kommt und auf diese Weise auch deutlich wird, ob Luther die simul-Formel durchgängig verwendet hat oder nicht. Es wird so in eins die Zentra-

Unter Varianten der simul-Formel verstehen wir alle prägnanten Artikulationen ihres Sachverhaltes, in denen das Wort »simul« aber nicht vorkommt. 190 Nilsson, Simul, 228, schreibt über die communicatio idiomatum bei Luther: »Das zahlenmäßig geringe Vorkommen des Begriffes darf keine zu weitgehenden Schlußfolgerungen über die Bedeutung der Sache nach sich ziehen.« Bestätigte sich dieser Sachverhalt auch für das simul, wäre es von daher nochmals tiefer verstehbar, warum sich z. B. die frühere kritische Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit dem simul vielfach als Kritik an der Rechtfertigungslehre Luthers überhaupt präsentiert. 189

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Einleitung: Wirkungsgeschichte – Forschungsbericht – Gang der Untersuchung

lität und das durchgängige Vorkommen der simul-Formel wie der simul-Thematik sichtbar werden. Wir geben diesem Vorgehen, das eine Mischform zwischen systematischer Darstellung und chronologischer Exegese der einzelnen Schriften darstellt, den Vorzug vor einer rein chronologischen Untersuchung, die doch zu vielen ermüdenden Wiederholungen führen würde. In zweiten Teil unserer Studie untersuchen wir die in der simul-Formel enthaltenen Termini selbst. Zunächst soll die Bedeutung von peccator und iustus geklärt werden, dann soll der simul-Begriff selbst, also jene als »zugleich« gefasste Relation von Sünder- und Gerechtsein, in den Blick genommen werden. In diesem Teil gehen wir auf Luther bezogen »systematisch« vor, rekurrieren also auf das gesamte Schaffen Luthers und können dabei natürlich auf die Ergebnisse des ersten Teils – vieles zusammenfassend – zurückgreifen. Der dritte Teil unserer Arbeit möchte den im ersten und zweiten Teil erhobenen Befund im Blick auf Luthers Position für die heutige theologische und ökumenische Diskussion auswerten und fruchtbar machen: Zum einen ist hier die exegetische Basis für das simul zu prüfen. Hat das simul, so wie Luther es verstand, eine biblische und insbesondere neutestamentliche Grundlage, ist es also insofern eine mögliche, ja notwendige Position – oder stellt es, an Luthers eigenem Prinzip, dem sola scriptura, gemessen, eine in der Schrift nicht fundierte Sonderlehre (»Häresie«) dar? Zum andern ist den systematischen Implikationen des simul nachzugehen: Ist der darin implizierte Sündenbegriff bzw. der Begriff der Konkupiszenz aufrechtzuerhalten oder zu modifizieren? Bestehen hier Verständigungschancen mit dem katholischen Sündenverständnis? Wie steht es weiter um die Realität der Rechtfertigung bzw. der »neuen Schöpfung« (2.Kor 5,17), wenn das simul gilt? Und schließlich: Die Vertretbarkeit des simul im lutherischen Verständnis einmal vorausgesetzt: Welche ekklesiologische und interkonfessio­nelle Valenz besitzt diese Lehre? Kommt ihr kirchentrennende Kraft zu oder ist sie als legitime lehrmäßige Differenz innerhalb der Rechtfertigungslehre zu bewerten, weil eine konträre Stellungnahme zum simul ein sich möglicherweise einstellendes gemeinsames Verständnis des Evangeliums (bzw. der Rechtfertigungsbotschaft) nicht aufhebt? Abschließend sei noch ein Wort zu den herangezogenen Luthertexten und der dabei angewandten Interpretationsmethode gesagt. Die schwierige Frage, welche Schriften bzw. Textkomplexe Luthers für ein bestimmtes Thema herangezogen werden sollten und welche nicht, stellt sich mehr oder weniger bei jedem Thema der Theologie Luthers, da Luther ein umfangreiches, vielgestaltiges theologisches Werk hinterlassen hat: theologische Vorlesungen exegetischer Art, wissenschaftliche Disputationen, Streitschriften, erbauliche Schriften sowie Predigten, Tischgespräche und Briefe, verteilt auf einen Zeitraum von knapp vierzig Jahren. Dies bedingt, dass Luther, von dem glücklichen, aber seltenen Fall einer für einen thematischen Bereich einschlägigen Schrift einmal abgesehen, auch unerwartet auf einen bestimmten Themenkomplex zu sprechen kommen kann, so dass eine begründete Textauswahl oft schwerfällt. Zum andern ist eine sinnvolle Begren-

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zung, schon aus arbeitsökonomischen Gründen, aber nicht zu umgehen. Dies trifft insbesondere auf das simul zu: Da dieses an fast alle Themen der Theologie Luthers »angrenzt«, vermag es auch in all diesen Kontexten angesprochen zu werden. Dennoch ist unsere Textauswahl nicht ganz willkürlich: Als zentral erkannt sind schon seit Rudolf Hermann die Römerbriefvorlesung (1515–1516), näherhin das Scholion zu Röm 4,7 sowie die Auslegung von Röm 7 (Rechtfertigung, Anthropologie), dann die Assertio omnium articulorum (1520)191 und der Antilatomus (1521), welcher sich schwerpunktmäßig mit der bleibenden Sündigkeit der guten Werke beschäftigt, weiter die Auslegung des 51. Psalms (1532) sowie die Resolutionen zu den Thesen der Leipziger Disputation (1519). Um ein breiteres Textmaterial zu gewinnen, erwies es sich als hilfreich, die für die zentralen Themenbereiche lutherischen Denkens stehenden Schriftenkomplexe durchzusehen: die Galaterkommentare von 1519 und 1531 (für die Themen Rechtfertigung und Gesetz), die späten Disputationen über Röm 3,28 (zum Thema Rechtfertigung) und die ebenfalls späten Antinomerdisputationen (zum Thema Gesetz). Relativ gut überschaubar sind die Schriften, welche das mit dem simul eng verbundene Thema der Taufe ansprechen (Taufsermon 1519, De captivitate Babylonica 1520, Katechismen 1529). Ebenso liegt der Sachverhalt beim Thema Buße (Auslegung der sieben Bußpsalmen 1517, Resolutionen zu den Ablassthesen 1518 sowie die schon erwähnte Enarratio zu Ps 51). Nicht verschwiegen sei aber auch, dass man bei der simul-Thematik einfach auch auf zufällig sich einstellende Lesefrüchte bzw. Hinweise in der Sekundärliteratur angewiesen ist, da Luther – wie schon erwähnt – den Leser mit der Behandlung dieser Thematik oft überrascht. Eine Schwierigkeit ergibt sich im Blick auf jene Texte, die nicht von Luther selbst niedergeschrieben wurden, also Vorlesungs- und Predigtnachschriften (und deren spätere Druckfassungen) sowie die Tischreden und Disputationsvoten Luthers.192 Dabei dürfte es in den meisten Fällen so sein, dass die Nachschriften näher am gesprochenen Wort Luthers selbst liegen als die (von Luther nur zum Teil durchgesehenen und gebilligten) Druckfassungen. Bei Letzteren ist außerdem mit theologischen Interpolationen aus Luthers (durch Melanchthon beeinflussten) Schülerkreis zu rechnen, die sich nicht unbedingt mit Luthers eigener Position decken. Da aber die Mitschriften oft allzu fragmentarisch sind, erweisen sich die Druckfassungen wiederum für die Erhebung des Textsinnes vielfach als unverzichtbar. Man kann diesem Problem nur insofern einigermaßen Bzw. die deutsche Fassung »Grund und Ursach« (1521). Vgl. dazu Joest, Ontologie, 51 f. – Wir teilen nicht die Ansicht mancher Autoren, welche diese Texte für überhaupt nicht verwertbar halten. Diese Skepsis ist insbesondere gegenüber den Nachschriften und Druckbearbeitungen Georg Rörers (d. h. z. B. für die Große Galaterbriefvorlesung) unangebracht. Selbst bei der Großen Genesisvorlesung (1535–1545), von der ausschließlich eine Druckbearbeitung existiert, fällt in der jüngsten Forschung das Urteil über deren Quellenwert günstiger aus als in früheren Jahrzehnten. Kritischer ist Greschat, Melanchthon, 12–17, der von dem nicht direkt von Luther selbst herrührenden Material nur die Nachschriften Rörers gelten lassen will. 191

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verantwortlich begegnen, wenn man einerseits die Druckfassung jeweils an der Handschrift kontrolliert und beim Zitieren von beiden jeweils die klarere Fassung anführt.193 Wir haben, wo immer es zu verantworten war, zugunsten eines lesbaren Textes die Druckfassung bevorzugt. Zum andern wird man vorsichtig sein müssen gegenüber Gedanken Luthers in der Druckfassung, die sich nur dort finden und nicht auch in Texten von Luthers eigener Hand. Die Probleme mit den genannten »sekundären« Lutherquellen machen sich natürlich speziell bei unserem Thema bemerkbar, wenn es um die simul-Formel bzw. deren Varianten selbst geht. Selbstverständlich zählen hier in erster Linie die auf Luther selbst zurückzuführenden Wendungen. Aber auch ein Beleg für das simul ausschließlich in einer Druckfassung ist nicht ohne jeden Wert. Es kann zwar nicht sicher davon ausgegangen werden, dass Luther an der betreffenden Stelle die Formel so gebraucht hat, aber dass die Bearbeiter sie so bringen konnten, signalisiert doch immerhin, dass die Rede vom simul innerhalb von Luthers Schülerkreis schon gewissermaßen traditionell-selbstverständlich geworden war und deshalb an entsprechender Stelle »formelhaft« eingebracht werden konnte. Aus der schon erwähnten Tatsache, dass Luther das simul in keiner Schrift systematisch ausführlich erläutert, sondern zumeist Formel und Sache »nebenbei« anspricht, ergibt sich der Umstand, dass man bei einzelnen Textinterpretationen oftmals auf Vermutungen angewiesen ist bzw. darauf, Tiefendimensionen oder Tiefenstrukturen des Textes freizulegen, die in ihm selbst aber nicht explizit gemacht sind. Konkreter formuliert: Es ergibt sich die Notwendigkeit, anhand bestimmter Andeutungen hinsichtlich des simul damit zusammenhängende Aspekte oder Implikationen zu erschließen und diese dann durch andere Texte zu erhärten und zu bewähren, wo sie eventuell expliziter zu greifen sind. Die relativ hohe Zahl von Textbelegen, die wir v. a. in den Anmerkungen bieten, erklärt sich wesentlich aus diesem Umstand.194

Die handschriftliche Fassung ist oft prägnanter und markanter, die Druckfassung dagegen geglättet und etwas weitschweifig, mitunter erfasst sie den Gedanken Luthers nicht adäquat. 194 Zu der bei Luther oft erforderlichen Reichhaltigkeit der Textnachweise vgl. schon Pesch, Theologie, 23: »Das ist keine Zuflucht zu dem zweifelhaften Verfahren einer Anthologie, sondern der Versuch, die Forderung nach der materialen Ganzheit der Lehrdarstellung zu erfüllen«, die Luther selbst nicht gegeben habe. 193

I Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers Der erste Teil unserer Arbeit setzt sich – wie in der Einleitung angekündigt – zum Ziel, anhand größerer Textkomplexe die theologischen Themenfelder aufzusuchen, in denen Luther auf das simul iustus et peccator immer wieder zu sprechen kommt. Auf diese Weise soll erhellt werden, was er mit der simul-Formel meint und welche argumentative bzw. explikative Funktion diese in einem Themenbereich jeweils übernimmt. Dabei achten wir nicht nur auf das vergleichsweise seltene Vorkommen der simul-Formel selbst und ihrer Varianten, sondern auch auf die wesentlich häufigere Thematisierung der durch sie bezeichneten Sache, ohne dass die Formel selbst verwendet wird. Aus sachlichen, aber auch chronologischen Gründen legt sich der Einstieg mit dem Thema Rechtfertigung nahe.

1 Rechtfertigung

1.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516) 1.1.1 Scholion zu Römer 4,7 Als ersten Text zu diesem Thema untersuchen wir das große Scholion zu Röm 4,7 aus Luthers Römerbriefvorlesung aus dem Jahr 1515/16. In diesem Text kommt die simul-Formel zum erstenmal überhaupt vor – Luther hat die Formel wohl selbst geschaffen –, wenngleich sich der Sachverhalt durchaus schon in der ersten Psalmenvorlesung 1513–15 angedeutet findet, etwa in der Auslegung von Ps 32 und Ps 51 und an einigen Stellen, die von der profectio des christlichen Lebens handeln.1 Dass Luther anlässlich der Kommentierung von Röm 4,7 einen um Vgl. 3,174–176 (Ps 32); 287–293 (Ps 51). Annäherungen an die Formel bzw. den damit bezeichneten Sachverhalt in ihrem Totalaspekt (dazu s. u.) finden sich 175,9 ff.: »Significat [scil. Ps 32,2] quod quilibet est iustus, cui deus reputat iustitiam sicut Abrahae secundum apostolum: tali enim non imputat peccatum, quia reputat ei iustitiam«; 288,31 ff.: »Iustus enim primo est accusator sui [nach Prov 18,17] et damnator et iudex sui. Et ideo deum iustificat et vincere et superare facit. Econtra impius et superbus primo est excusator sui ac defensor, iustificator et salvator«; 290,18–25: »sancti sese confitentur maxime immundos […]. Nam verum: Qui pulcherrimus est coram Deo, idem est deformissimus, et econtra: Qui deformissimus, ipse est pulcherrimus. Sic: Qui est pulcherrimus sibi, ipse est turpissimus coram deo«; 292,1 f.: »non potest deus laudari, iustificari, glorificari, magnificari, admirari etc., nisi simul et prius nos vituperemur, accusemur et confundamur et econtra«; 292,33–38: »Semper enim in nobis est reliquum et reliquie peccatorum, scilicet inclinationis et motus mali ad iram, superbiam, gulam, accidiam, quae sunt coram eo peccata, mala et damnabilia: ideo semper punienda. Sicut Iebusaei olim in finibus filiorum Israel, propter quos, quia non potuerunt expellere, frequenter fuerunt puniti bellis et fame etc., immo et ad peccata pertracti.« – Vgl. ferner 3,527,28 ff.: »Ista enim duo mirabiliter fiunt simul: sibi displicere et in deo complacere: super se conturbari et super dominum delectari«; 4,133,12 ff.: »Sequitur, quod in hac vita utrunque solum in sanctis est, scilicet misericordia et iudicium. In inferno enim solum erit iudicium, in coelo autem sola misericordia; hic autem simul utrunque«; 4,251,10–18, bes. 10–13: »Quare simul verum est, quod erant recti [die alttestamentlichen Gläubigen] et tamen nondum illustrati, simul recti et adhuc in tenebris, simul recti et nondum iusti iustitia fidei perfecta. Sicut et nos modo sumus recti in iis, que habemus, et tamen ad ea, que nondum habemus, in tenebris.« Unterwegs zum simul ist auch 3,182,24 ff.: »Est autem homo novus homo gratie, homo spiritualis et interior coram Deo. Homo autem vetus est homo peccati, homo carnalis et exterior coram mundo. Novitas enim gratia est, vetustas peccatum.« Zum Ganzen Pesch, Simul, 149 f. – Nicht gesehen ist bei Pesch, dass bei der Erörterung der profectio im Leben (des Christen) – Luther setzt bei einer allgemeinen, aristotelisch-ockhamistischen »Le1

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

bens-« oder »Bewegungsphilosophie« ein und begreift das Christsein als Spezialfall dazu – der partiale Sinn (s. u.) des simul sich schon vorgeprägt findet. Die profectio wird als Bewegung von einer abnehmenden negativen Größe zu einer zunehmenden positiven begriffen, und in der Zeit der Bewegung sind beide Größen, wenn auch quantitativ unterschiedlich stark, zugleich vorhanden. Damit ist eine prinzipielle Gespaltenheit des (christlichen) Lebens gegeben und dieses als ein unvollkommener »Zwischenstand« interpretiert. Das Gegensatzpaar Sünde/Gerechtigkeit ist dabei nur eines unter vielen. Innerhalb der Bewegung wachsender Gerechtigkeit vermag jeder Bewegungsmoment als terminus a quo zu einem neuen Bewegungsziel (terminus ad quem) Nichtsein bzw. Sünde genannt zu werden, ohne dass damit jeder Fortschritt geleugnet bzw. dieser als je neues Anfangen beim Nullpunkt der Bewegung bestimmt wäre. Denn jeder Bewegungsmoment muss als Endpunkt der vorausgegangenen Bewegung sehr wohl als Sein bzw. Gerechtigkeit begriffen werden. Die Pointe solcher Redeweise ist, dass der Christ mit der Bewegung nicht aufhören darf. Vgl. 4,320,14–20, bes. 17–20: »Unicuique restat aliquid de litera, ut non sit totus spiritus, de veteri homine, ut nondum sit totus novus, de carne, de terra, de mundo, de diabolo, ne sit totus anima, totus celum, totus Christi, totus dei«; 336,7–25, bes. 12–24: »Nam cum nullus sit in hac vita perfectus, semper ad eam bonitatem, quam nondum habet, dicitur malus, licet ad eam, quam habet, sit bonus. Nam nullus, etiam pessimus, est, quin aliquid in se habeat boni, saltem nature. Et nullus, licet optimus, est, quin aliquid in se habeat mali. Unde merito potest coram deo dici malus. Igitur sic etiam de omnibus similibus, scilicet iustus, sapiens, verax, etc. Ut apoc. 22. ›Qui iustificetur, iustificetur adhuc‹. Sic, qui bonus, bonificetur adhuc. Quare cum sit talis apud nos mixtio, si dixerimus, quoniam boni sumus et peccatum non habemus, veritas in nobis non est, cum solus deus bonus, iustus, verax sit. Nullus autem solus malus, iniustus, mendax est: quia pure malus esse non potest ullo modo. Igitur semper medii sumus inter bonitatem, quam ex deo habemus, et malitiam, quam ex nobis habemus, donec in futuro absorbeantur omnia mala«; 362,35–363,5: »Non enim fecisse satis est et quiescere, sed secundum philosophiam motus est actus imperfectus, semper partim acquisitus et partim acquirendus, semper in medio contrariorum et simul in termino a quo et ad quem consistens. Quod si in uno fuerit tantum, iam nec motus est. Vita autem presens est motus quidam et phase, id est transitus et Gallilea, id est migratio ex hoc mundo ad futuram, que est quies eterna. Ergo partim illam habemus in conscientia, partim tribulationes in carne. Et sic inter mala [exteriora] peccatorum et bona [interiora] meritorum assidue movemur velut in termino a quo et ad quem«; 364,8–25, bes. 9 f.14–17.21–24: »Semper ergo peccamus, semper immundi sumus. […] Quare, ut supra dixi, semper sumus in motu, semper iustificandi, qui iusti sumus. Nam hinc venit, ut omnis iustitia pro presenti instanti sit peccatum ad eam, que in sequenti instanti addenda est […] Terminus autem a quo est peccatum, a quo semper eundum est. Et terminus ad quem est iustitia, quo semper eundum est. Quare recte dixi, quod semper precedens iustitia est iniquitas ad sequentem.« – Besonders wichtig auch 4,664,12–665,22 (De timore Dei Sermo [27.12.1514]; vgl. 1,42,7–43,12): »Ita sine timore inferni nullus est nec esse debet, nisi sit perfectissimus. Ideo sanctorum timor semper est mixtus timore sancto et servili, sed profitiunt de servili semper magis magisque ad sanc­ tum, donec nihil nisi Deum timeant. […] Recte distinguitur timor servili et filialis, sed false intelligitur, quod servilis non stet in homine cum charitate et gratia. […] Nam charitas incipiens et timor magnus servilis simul stant, decrescit autem timor, quantum accrescit charitas. Nam sicut est de omnibus virtutibus, quod simul stant cum suo vitio contrario, donec illo expugnato solae regent: ita timor Dei castus et non castus simul sunt in eodem, qui nondum perfectus. Sic enim spes stat cum trepidatione, fides cum vacillatione, maxime in tenatione, patientia cum clamore, mititas cum ira, castitas cum libidine, humilitas

Rechtfertigung 103 fangreichen »Exkurs« zum Thema Rechtfertigung bietet, hängt damit zusammen, dass Paulus in Röm 4,7–8 Ps 31 (32),1–2 zitiert: »Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind! Selig der Mann, dem der Herr die Sünden nicht zurechnet (non imputavit).« Schon in Röm 4,3–6 (Vulgata) kommen unter Zitation von Gen 15,6 die Verben »reputare« bzw. »imputare« vor. Abraham wird der Glaube zur Gerechtigkeit »angerechnet«, d. h. nicht die Werke. »Reputatum est« – als Bezeichnung des Rechtfertigungsvorgangs meint für Luther: »solam gratuitam acceptationem et non meritum operantis« (56,41,22). Luther zeigt schon an dieser Stelle, dass er (mindestens) zwei Formen der imputatio kennt: die Nichtanrechnung der Sünde und die Anrechnung des Glaubens.2 Das Rechtfertigungsgeschehen3 erfasst Luther also im Anschluss an Paulus durch die Worte (non) imputare bzw. (non) reputare, die ihm als synonym gelten4 cum sui placentia, obedientia cum murmure, liberalitas cum avaritia, sapientia cum stulticia, fortitudo cum timiditate, timor sanctus cum timore servili, gratiaque cum peccato. […] Sic iustus vocatur, non quia est, sed quia fit, secundum illud ›Iustus iustificetur adhuc‹. Nam omnis motus est partim in termino a quo et partim in termino ad quem, sicut aeger sanandus est in aegritudine recedendo, sed in sanitate accedendo. Sic iustus semper est in peccato pede sinistro et vetere homine et in gratia pede dextro i. e. novo homine. Ita quoque et in timore inferni servili et in timore Dei sancto simul.« Luther führt weiter die falsche Meinung an, »quod totum peccatum simul prorsus expelleretur totaque simul gratia infunderetur«, welche aber nur zur Verzweiflung des Gewissens führe – eben weil der Mensch sich anders erfahre. »Sic enim et ego prope de Deo et quicquid ipse est et habet desperavi.« In der Ablehnung der scholastischen Auffassung von der Eingießung der Gnade und Austreibung der Sünde in einem Augenblick kann man das treibende Motiv Luthers sehen, in seiner Frühzeit Sünde und Gerechtigkeit primär dynamisch zu sehen. Vgl. zum Ganzen Braun, Bedeutung, 47 ff., 57–60, 66, 78 ff., 210 f., 271, 310 f.; Pinomaa, Profectio, 123 f.; Dieter, Luther, 302–325. – Besonders die Stelle 4,362,35–363,5 (s. o.) könnte ein Indiz dafür sein, dass Luthers simul aus dem auch bei Augustin vorkommenden partim-partim entstanden ist, er es dann aber überboten und radikalisiert hat. 2 Die drei Bedeutungen des Imputationsbegriffs bei Luther (als non-imputatio peccati, als imputatio fidei und als imputatio iustitiae Christi sind jetzt umfassend untersucht durch Rolf, Zum Herzen, bes. 40–62, 112–143, 180–213. 3 Vgl. 56,39,9: »iustificari [=] Iustum apud Deum reputari«. – Damit der Begriff »Rechtfertigung« nicht als theologische Chiffre im Text ungeklärt mitgeführt wird, sei hier auf Holl, Rechtfertigungslehre, 114 f., verwiesen, der dazu ausführt: Es handelt sich für Luther bei der Gerechtigkeit im theologischen Sinn nicht um eine dem Menschen für sich zukommende Eigenschaft, sondern »um eine Beziehung, um das Verhältnis zu Gott«. »Rechtfertigung bedeutet die Anerkennung des Menschen durch Gott (reputari iustum). Aber diese Anerkennung ist doch nicht nur eine Bewertung, bei der Gott und Mensch sich fremd bleiben; sie begründet zugleich […] zwischen ihnen eine Gemeinschaft. Rechtfertigen ist daher auch soviel wie Annehmen oder Aufnehmen (suscipere, recipere, assumere, acceptare). Und zwar kommt es dabei […] zu einer vorbehaltlosen, völligen Gemeinschaft.« Solche Rechtfertigung ist immer eine »freie Setzung Gottes« und – da der Mensch als Sünder solcher Gemeinschaft nicht würdig ist – ein »reines Gnadengeschenk«. 4 Vgl. 56,42,17 ff. Dabei bezieht sich reputare zumeist auf die Person, (non) imputare auf die zu- bzw. aberkannte Sache.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

und für das annehmende, akzeptierende, den Glauben »anrechnende« Urteil Gottes bzw. die Nichtanrechnung der Sünde stehen. Luther entfaltet deshalb in der Auslegung seine Auffassung der Rechtfertigung als imputatio, die dem Menschen zugesprochen wird und »forensisch«, d. h. vor dem Forum Gottes gilt. Wie sich noch zeigen wird, arbeitet Luther gleichwohl schon in der Römerbriefvorlesung mit einem doppelten Rechtfertigungsbegriff: Neben dem imputativ-forensischen, sich auf das Urteil Gottes beziehenden steht das effektiv-sanative Rechtfertigungsverständnis, welches – in Abhängigkeit vom ersten – das tatsächliche, anfanghafte und erst jenseits des Todes vollendete Neuwerden des Menschen in den Blick nimmt.5 Luther stellt die These auf: »Sancti Intrinsece sunt peccatores semper, ideo extrinsece Iustificantur semper. Hipocrite autem intrinsece sunt iusti semper, ideo extrinsece peccatores semper.« (56,268,27 f.)6 Gegenüber der heuchlerischen Selbstgewissheit derer, die aufgrund ihrer Werke gerecht zu sein meinen, sich selbst für gerecht erklären (intrinsece), vor Gott aber und d. h. in Wahrheit (extrinsece) Sünder sind, wissen die Heiligen um ihre Sünde und bekennen sie (intrinsece) und werden gerade deshalb von Gott (extrinsece) für gerecht »gehalten«. Dass Gott solche Menschen für gerecht erklärt, gründet also nicht in deren eigenem Gerechtsein, in sich selbst sind sie ja gerade Sünder, sondern in der göttlichen reputatio bzw. imputatio, im göttlichen Urteil und Zurechnen von Gerechtigkeit bzw. im Nichtanrechnen der Sünde. Auf Seiten des Menschen findet sich nur Sünde und die Erkenntnis und das Bekenntnis dieser Sünde. Letzteres zeichnet die »Heiligen« vor den Heuchlern aus. Daraus ergibt sich für Luther, dass die Rechtfertigung außerhalb unserer selbst und nicht in unserer Macht, in unseren Kräften liegt: »Igitur extrinsece sumus Iusti, quando nec ex nobis nec ex operibus, Sed ex sola Dei reputatione iusti sumus. Reputatio enim eius non in nobis nec in potestate nostra est. ergo nec Iustitia nostra in nobis est nec in potestate nostra.« (269,1 ff.) Luther betont also sehr stark das »sola«: allein in der reputatio Gottes sind wir gerecht, allein durch das Urteil Gottes. Von sich aus

Vgl. auch 1,86,29–87,3. – Kroeger, Rechtfertigung, 72–106, erklärt die Doppelung des Gerechtigkeitsbegriffs bei Luther genetisch als Resultat der konsekutiven Kombination zweier Denkelemente Augustins: der von Luther radikalisierten Imputationsvorstellung (bei Augustin: non-imputatio der Restsünde) und der sanativen Gerechtigkeit, auf der bei Augustin das Schwergewicht liege. Dazu unten Abschnitt 3, Exkurs. Für Rolf, Zum Herzen, 160–180, ist freilich in der Römerbriefvorlesung wie insgesamt beim frühen Luther der genauere Zusammenhang zwischen der imputativen und effektiven Rechtfertigung noch unklar, weil Luther noch nicht das im Glauben ergriffene Verheißungswort als das Herz bzw. die Personmitte verwandelnd denkt, die imputatio also nicht als solche effektiv ist. Diesen Schritt vollziehe Luther erst nach der reformatorischen Wende im Frühjahr 1518. 6 Vgl. AWA 1,549,5–8, wie überhaupt AWA 1,548,8–550,13 (Scholion zu Ps 5,12 [1516– 17]) sich eng an den Anfang des Scholions zu Röm 4,7 anlehnt. 5

Rechtfertigung 105 ist der Mensch nur Sünder,7 was – wie wir noch sehen werden – nicht mit einem Verharren in der Sünde gleichgesetzt werden darf. Es wird jetzt nachvollziehbar, wieso Luther gerade vom Verständnis der Rechtfertigung als reputatio Gottes zum simul kommt, ja kommen muss: Denn gründet die Rechtfertigung allein in der neuen Geltung bei Gott und nicht in der tatbeständlichen Wirklichkeit des Menschen, so ist dieser eben »zugleich« gerecht und Sünder, allerdings in unterschiedlicher Hinsicht: Letzteres intrinsece, d. h. in sich, im eigenen Urteil – Ersteres extrinsece, d. h. bei Gott, in seiner »Reputation«. »Gnade« ist – entgegen dem scholastischen Verständnis – für Luther nicht eine neue, dem Menschen inhärierende Qualität, ein neuer Habitus an ihm, sondern eine von Gott eröffnete neue Relation. So verwundert es nicht, dass Luther im nächsten Abschnitt des Scholions das simul nun samt verschiedenen Varianten explizit bringt: »›Mirabilis Deus in sanctis suis‹, cui simul sunt Iusti et Iniusti.« (269,21 f.; vgl. AWA 1,548,22 f.)8 Dieser deutlich gemachte Zusammenhang lässt sich in die These fassen, dass Luthers simul iustus et peccator »die anthropologische Seite seiner neuen Rechtfertigungserkenntnis« zum Ausdruck bringt.9 Denn Grund des göttlichen Rechtfertigungsurteils ist nicht mehr ein uns (gnadenhaft und durch gute Werke bewährtes und vertieftes) inhärierendes Gerechtsein, sondern »die fremde, von außen kommende Gerechtigkeit, die als solche der konstitutive Grund des Gerechtseins des Sünders ist und bleibt«10. Es folgen unmittelbar die berühmten Wendungen: »Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti; Ignoranter Iusti et scienter inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe.« (269,29 f. ; vgl. AWA 1,548,16–19) Und weiter: »Ecce omnis sanctus est peccator et orat pro peccatis suis. Sic Iustus in principio est accusator sui.« (270,5 ff.; vgl. AWA 1,549,21 ff.) Von der Barmherzigkeit Gottes wird gesagt: »Qui nos simul peccatores et non-peccatores habet. Simul manet peccatum et non Vgl. Joest, Paulus, 296: »Die Gerechtigkeit der Christen besteht nicht in ihrer Qualität, sondern im Urteil Gottes über sie.« 8 Vgl. AWA 1,550,1 f.: »simul ergo sanctus et impius; sibi impius, deo pius.« – Für die Heuchler gilt umgekehrt: »Et Mirabilis in hipocritis Deus, cui simul sunt Iniusti et Iusti.« (56,269,23 f.) 9 So zur Mühlen, Simul, 25 (Hv.). Vgl. ebd., 26: Das in der Römerbriefvorlesung aufbrechende neue Verständnis der Gerechtigkeit Gottes hat »anthropologisch das simul iustus et peccator zur Folge«. Siehe ebd., 26–29. Man könnte auch vom ontologischen Aspekt der Rechtfertigung sprechen. – Von daher ist es nachvollziehbar, dass Link, Ringen, 73–77, die simul-Formel mit der »reformatorischen Haltung« bzw. der »reformatorischen Erkenntnis« gleichsetzt und von ihr aus die Rechtfertigungslehre entfaltet (77–165). Er nennt das simul deshalb auch die »Rechtfertigungsformel« (z. B. 77 f.; s. o. Einleitung, Kap. 5.3). Uns scheint jedoch die simul-Formel gegenüber dem »reformatorischen Erlebnis«, das Luther in seinem berühmten Selbstzeugnis 1545 (54,185,12–186,20) an der Entdeckung der iusti­ tia passiva festmacht, eine notwendige, aber sekundäre Folgereflexion zu sein. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass die simul-Formel explizit in keinem der diesbezüglichen Selbstzeugnisse Luthers vorkommt. Vgl. Staats, Augustins ›De spiritu et littera‹, 375 f. 10 Zur Mühlen, Simul, 26. Siehe auch ders., Nos extra nos, 140–146. 7

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

manet.« (270,10 f.) Diese geballten, schroffen Formulierungen enthalten eine Fülle von Aspekten, die es zu entfalten gilt – unbeschadet der hermeneutischen Offenheit, die ihnen – wie vielen Texten des frühen Luther und inbesondere seiner Römerbriefvorlesung – wohl für immer anhaften wird. Zunächst bestätigen die Sätze die Unterscheidung: zugleich gerecht im und durch das Urteil Gottes und Sünder in uns, im Blick auf uns selbst.11 Letzteres bringt Luther durch die Worte »re vera« und »in re« zum Ausdruck: wahrhaft, in Wirklichkeit. Er gibt damit Anlass zu dem immer wieder geäußerten Verdacht, als sei die bleibende sündige Verfasstheit des Christen die eigentliche »Wirklichkeit«, während die reputatio ein bloßes »als ob« bzw. eine Wirklichkeit minderen Ranges wäre.12 Dass Luther dies letztlich so nicht meint, ist zu vermuten. Zumindest ist dann aber der Sachverhalt terminologisch unbefriedigend ausgedrückt. Zum andern bringt Luther aber gleichsam en passant eine sachliche Erweiterung der simul-Formel: »Peccatores in re – iusti in spe«. Dem »peccatores in re« wird hier nicht die imputative Gerechtigkeit gegenübergestellt, sondern das Gerechtsein in Hoffnung.13 Auch dies ist naheliegend: Wenn unsere jetzige Realität durch das Zugleich von eigenem Sündersein und Gerechtsein im Urteil Gottes bestimmt ist, so ist darin – Gott will sich ja mit der Sünde nicht dauerhaft abfinden – die eschatologische Aussicht impliziert, dass wir im ewigen Leben ein Luther sagt freilich ebenfalls, dass wir für Gott zugleich Sünder und Nicht-Sünder sind, was er später so nicht mehr wiederholt, wohl deshalb, weil dann die Frage nahe liegt, welches Urteil von Gott her denn nun gilt. Für den reifen Luther war jedenfalls entscheidend, dass der Glaubende, so sehr er von sich her Sünder ist, sich von Gott her eindeutig als gerecht angesehen wissen darf. 12 Vgl. 269,27 ff.: »Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputante Iusti.« Nach Peura, Mensch, 109, 122, ist für Luther die Rechtfertigung sowohl in ihrem forensischen als auch sanativen Aspekt ein »effektives Geschehen«. Zur bei Luther auch später gegebenen Virulenz dieses terminologischen Problems und seinen »Lösungsversuchen« s. u. 1.2.5 und 1.3.2.6. 13 Die von Augustinus übernommene Unterscheidung zwischen »in re/in spe« findet sich ebenfalls schon in der ersten Psalmenvorlesung, allerdings in einer etwas anderen Nuancierung, nämlich als Differenzierung im Heilsgut selbst: Dessen gegenwärtigem »Gegebensein« »in spe« wird seine künftige Vollendung »in re« gegenübergestellt. Das »in re« rückt mithin auf die Seite der Zukunft, das »in spe« auf die der Gegenwart. In der Römerbriefvorlesung kontrastiert Luther dagegen, das Gegensatzpaar jetzt auf die Rechtfertigung im engeren Sinn anwendend, das gegenwärtige Sündersein (»in re«) mit dem künftigen Gerechtsein (»in spe«), das den Menschen freilich jetzt schon im Modus der Hoffnung bestimmt. Natürlich entspricht dem »iustus in spe« ein »iustus nondum in re«. Vgl. Lohse, Theologie 73 f., 88 f., der diesen Unterschied nur unbestimmt hervorhebt. Von den zahlreichen Belegen bei Lohse, 73 f., bringen wir nur einige besonders aussagekräftige: 3,200,8 f.: »hic per spem salvi facti sumus. […] perfecte satiabuntur in futuro«; 301,11 f.: »Sancti autem in silentio et patientia et in spe, non in re, sicut illi, quia in nomine Domini salvantur«; 4,67,2: »Ergo per spem est refugium, nondum in re«; 91,20: »quia spe vivo, non re sicut illi«; 259,2: »tota vita fidelium est tantummodo in spe et nondum in re«; 380, 35: »Omnis nostra letitia est in spe futurorum et non in re presentium.« 11

Rechtfertigung 107 mal seinshaft auch gerecht sind, also nicht mehr »nur« in der reputatio Dei. Man könnte auch sagen: Geht Luther in der simul-Formel davon aus, dass wir, die wir zeitlebens ganz Sünder sind und bleiben, vor Gott reputativ ganz gerecht sind, so sind wir doch schon in der Hoffnung, im Ausblick auf die letzte Vollendung nach dem Tod, seinsmäßig gerecht. Im Vollzug der Hoffnung bestimmt der Gegenstand der Hoffnung schon die Gegenwart.14 Der Totalaspekt – wie man in der Lutherforschung sagt – impliziert deshalb eine eschatologische Variante des simul.15 Dass der Grundsinn der simul-Formel zuerst der Totalaspekt ist – wir sind von uns aus ganz Sünder und werden zugleich von Gott ganz gerecht gesprochen –, das legen schon die Rücksichten nahe, unter denen das peccator- und iustus-Sein prädiziert werden: re vera, in veritate bzw. reputatione, in spe sowie intrinsece bzw. extrinsece, die stets konträre Totalrücksichten meinen. Darüber hinaus lässt sich das aber auch aus anderen Formulierungen erschließen: Die Gerechten sind »ex Deo reputante Iusti tantummodo« (268,21 f.); »ex sola reputatione Dei Iusti sumus« (269,2); »solum Deo reputante sumus Iusti« (269,8). Dazu passt auch die Betonung der Externität der Gerechtigkeit: Gott will uns retten »non per domesticam, sed per extraneam Iustitiam et sapientiam«; durch eine »Externa et aliena iustitia« sollen wir belehrt werden (158,10 f. 13).16 Die iustitia ist in der Schrift – anders als bei den Philosophen und Juristen – keine qualitas der Seele, sondern eine Relationsbestimmung: »magis pendet ab imputatione Dei quam ab esse rei.« Der Gerechte ist vielmehr von sich aus »peccator […] omnino et Iniustus«. Die Sünde hängt uns von der Geburt bis zum Tod an: »Sola autem reputatione miserentis Dei per fidem Verbi eius iusti sumus.« (287,16–24) Wenn Luther mit dem zeitlebens geltenden totus peccator17 das iustus in spe verbindet, so zeigt er dadurch freilich, dass das simul eben auf eine eschatologische Wandlung hinzielt und nicht statisch zu verstehen ist. Das wird noch deutlicher durch den Partialsinn, den das simul auch haben Luther meint nicht nur: Wir werden einmal gerecht sein, sondern auch: Wir sind gerecht in Hoffnung. Vgl. Gyllenkrok, Rechtfertigung, 122 f., bes. 123: »Durch die Verheißung und die Vergebung der Sünden wird das zukünftige Geschehen in die Gegenwart und den Anfang hereingeholt.« Vgl. ebd., 120: »Denn im Glauben an Christus ist die vollkommene futurale Gerechtigkeit antezipiert.« 15 Vgl. Pesch, Theologie, 114; ders., Simul, 151 (»eschatologischer Aspekt des simul«). 16 Vgl. 279,22–32. 17 Luther kann zwar den gerechtfertigten und immer neu zu rechtfertigenden Sünder durchaus noch als impius bezeichnen (269,9 f.: »ex nobis Impii semper«), aber auch feststellen: »Licet enim sit peccator, Sed non impius. Impius enim dicitur, qui non est cultor Dei, sed auersus et sine timore et Reuerentia Dei. Iustificatus autem et ›tectus peccatis suis‹ iam est conuersus et pius; colit enim Deum et querit eum in spe et timore. Ac per hoc Deus eum reputat pium et Iustum.« (278,11–16) So bedenklich die Stelle im Blick auf menschliche Vorbedingungen für das Heil sein mag, sie zeigt doch, dass der gerechtfertigte Sünder nicht mehr schlechthin mit einem impius identifiziert werden darf, weil er zwar das peccatum manens noch hat, Gottes Gebot aber nicht mehr wie ein Frevler übertritt. Ähnlich 1,86,39: »Peccatores non odit Deus, sed iniquos.« 14

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kann: Wir sind teils gerecht und teils Sünder und befinden uns in einem Prozess der Gerechtwerdung. Das empirisch-tatbeständliche Sein des Christen ist also erst anfänglich, noch nicht vollständig (oder in bestimmten Bereichen der Person noch gar nicht) von Gottes neuschaffender Kraft erfasst.18 Dass der Partialsinn des simul auch im Scholion zu Röm 4,7 zumindest implizit mitgedacht ist, zeigt Luthers Rekurs auf Lk 10,30–37 innerhalb dieses Textes. Es handelt sich um das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der – schon die Auslegung vor Luther hat in ihm allegorisch Christus gesehen – den unter die Räuber Gefallenen (also den sündigen Menschen) gleichsam in mehreren Schritten heilt. Dieses Gleichnis – unter dieser Rücksicht hat es Luther später immer wieder angeführt – kann daher gut ein prozesshaftes, effektives Rechtfertigungsverständnis und damit den partialen Sinn des »Zugleich« veranschaulichen. Dabei gilt freilich: Nicht so sehr das Bild erläutert die Sache, sondern die Sache bestimmt ihrerseits das Bild, weil auch der Totalaspekt noch hineinspielt. Luther sagt, mit dem Gerechtfertigten sei es wie mit einem Kranken, der dem Arzt, der ihm die gewisse Gesundheit verheißt, Glauben schenkt und in der Hoffnung auf die verheißene Gesundheit seinem Gebot gehorcht und sich »inzwischen« (interim) von allem Verbotenen enthält, um die Genesung nicht zu gefährden und die Krankheit zu steigern, bis der Arzt das Versprochene erfüllt. Luther fragt dann: Ist der Kranke nun etwa gesund?19 und antwortet: »Immo egrotus simul et sanus. Egrotus in rei veritate, Sed sanus ex certa promissione medici, cui credit, qui eum velut sanum reputat, quia certus, quod sanabit eum, quia incepit eum sanare nec imputavit ei egritudinem ad mortem.« (272,7–11) Die Hinsichten, unter denen das simul hier ausgesagt wird, sind uns schon bekannt: krank (= Sünder) in Wahrheit, »wirklich«, aber gesund (= gerecht) durch die sichere Verheißung, an der sich der Glaube festmacht, und der hier – wie Ernst Bizer betont –20 sich auf die völlige, eschatologische Befreiung von der Sünde (= Gesundheit) richtet. Zugleich »hält« (reputat) der Arzt den Kranken aber schon

Dass Luther den Christen zeitlebens nicht nur partiell, sondern auch total als Sünder anspricht, ist in Hübners Unterscheidung eines ontischen und personalen Sünden- bzw. Gerechtigkeitsbegriffs nicht integriert. Der Gerechtfertigte ist ihm zufolge im Urteil Gottes, also auf der personalen Ebene, ganz gerecht, auf der ontischen Ebene aber teils gerecht, teils Sünder. Dass nach Luther der Christ auch totus peccator ist – und zwar gerade im Blick auf sich selbst, sein eigenes Sein und im Absehen von der Relation zu Gott – macht aber gerade das Widerständige der simul-Formel aus! Zur harmonisierenden Vereinfachung dieses Sachverhalts vgl. ders., Rechtfertigung, bes. 117. Zum Total- und Partialsinn der simul-Formel vgl. neben Althaus, Theologie, 211 ff. und Joest, Gesetz, 57–60, 65–68, auch Gyllenkrok, Rechtfertigung, 88–92, 130 f. 19 272,3–7: »Est enim simile sicut cum egroto, Qui promittenti medico certissimam sanitatem credit et precepto eius obediens interim in spe promisse sanitatis abstinet ab iis que prohibita sunt ei, ne promissam sanitatem impediat et morbum augeat, donec impleat medicus, quod promisit. Iste enim Aegrotus nunquid sanus est?« 20 Vgl. Bizer, Fides, 48. 18

Rechtfertigung 109 für gesund (= gerecht). Aufmerken lässt die dafür gegebene Begründung: »quia certus quod sanabit eum«. Der Kranke wird schon für gesund gehalten, weil der Arzt gewiss ist, dass er ihn heilen wird. Überträgt man das auf die Sachebene, dann bedeutet es, dass der Grund der göttlichen reputatio in der göttlichen Zielbestimmung und Zielgewissheit (causa finalis) besteht, den Sünder auch seinshaft ganz von seiner Sünde freizumachen. Man wird hier sicher nicht soweit gehen dürfen wie Karl Holl, der auf Grund solcher Lutherstellen das Rechtfertigungsurteil nicht als ein synthetisches, sondern als ein analytisches verstanden hat: Gott antizipiere gleichsam schon die seinshafte Vollendung des Sünders bzw. habe sie in seiner Ewigkeit immer schon gegenwärtig und spreche deshalb, daraufhin den für ihn ja schon gerecht seienden Sünder gerecht.21 Das widerspricht der auch in der Römerbriefvorlesung sonst klar herausgestellten Rechtfertigung um Christi willen,22 nimmt der göttlichen

Vgl. Holl, Rechtfertigungslehre, 122–127, bes. 122: Gott schwebt »die Absicht, den Menschen gerecht zu machen, schon in dem Augenblick vor, in dem er ihn ›rechtfertigt‹. Sie geht voraus und ist der Grund für die ›Gerechterklärung‹«; 123 f.: »Wenn Gott schon bei der ›Rechtfertigung‹ das Ziel verfolgt, den Menschen zu erneuern, so heißt das bei Luther auch so viel, daß die Erneuerung des Menschen für Gott im Augenblick der Rechtfertigung bereits vollendet ist. […] Was Gott beabsichtigt, steht schon fertig vor ihm da, sobald er es will. Das am Ende zutage Tretende ist für ihn, den Zeitlosen und Allmächtigen, im Anfang, d. h. dann, wenn er ›das Urteil spricht‹, bereits Gegenwart«; 1242: »Wenn Gott den Sünder in dem Moment, in dem er nur Sünder ist, für gerecht erklärt, so antizipiert er das Resultat, zu dem er selbst den Menschen führen wird. Sein Rechtfertigungsurteil ist analytisch«. Vgl. ders., Rechtfertigungslehre […] des Protestantismus, 532; Verständigung, 165–169. Zur Frage, ob Holl die Begriffe »analytisch« und »synthetisch« im Blick auf Urteile philosophisch korrekt verwendet, siehe Härle, Urteile. – Von seiner Konzeption her versteht Holl auch die zahlreichen, in der Luther-Forschung meist übergangenen bzw. unterbewerteten Äußerungen Luthers, dass Gott den Menschen für gerecht ansehe »propter inceptam curationem« bzw. »propter initium novae creaturae«. Luther verschiebe hier nur den zeitlichen Standort im Rechtfertigungsprozess, nicht aber dessen sachliches Kriterium: »In diesem ersten Erfolg ist für Gott aber das ganze Werk schon enthalten.« Die ersten Gaben nimmt Gott »schon für das ganze Gebäude, das er errichten wird« (Rechtfertigungslehre, 126 f.). Dazu unten Abschnitt 1.3 und Kapitel 4.4. 22 Auch in der Römerbriefvorlesung findet sich schon der von Rolf, Zum Herzen, 180– 213, herausgearbeitete dritte Aspekt von imputatio, die imputatio iustitiae Christi! Vgl. 204,18–21: »Hic [Christus] suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. […] Si autem Iustitiam suam meam fecit, iam Iustus sum eadem Iustitia, qua ille«; 278,1 f.: Bedeckt wird die Sünde »per Christum in nobis habitantem«; 279,22–280,9, bes. 280,2 f.: »Sciunt [die Heiligen] in se esse peccatum, Sed propter Christum tegi et non imputari, Vt omne suum bonum extra se in Christo, qui tamen per fidem in ipsis est, protestentur«; 289,19 f.29 ff.: Die non-imputatio der Sünde geschieht von Gott her per Christum. Die iniquitas wird in den Glaubenden und Seufzenden »nicht gefunden«, d. h. nicht angerechnet, »quia succurrit eis Christus de plenitudine puritatis sue et tegit eorum hoc imperfectum«; 255,24–29; 347,9 f.: »Iusti, quia credunt in Christum, cuius Iustitia eos tegit et eis imputatur.« Zum Ganzen Iwand, Rechtfertigungslehre, passim. 21

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Vergebung alles Wunderbar-Paradoxe und macht sie »rational« verständlich, insofern Gott dann eben doch den gerecht spricht, der es (für Gott) schon ist.23 Dass jedoch Holl etwas Richtiges gesehen hat, ist ebenfalls unbestreitbar: Es ist zumindest ein »Nebenmotiv« des göttlichen Handelns, dass die Imputation der Gerechtigkeit auf die vollendete Gerechtmachung hin geschieht. Paul Althaus hat deshalb zwischen der notwendigen Bedingung der Rechtfertigung (künftige vollendete seinshafte Gerechtigkeit) und ihrem zureichenden Grund (propter Christum) unterschieden.24 In jedem Fall zeigt unsere Stelle erneut, dass Luther die imputatio bzw. das simul nicht als statische Dialektik verstanden hat, sondern von einer Dynamik bestimmt sieht, die auf volles Gerechtsein hinzielt. Das signalisiert auch das vielfach vorkommende »interim«: Die imputatio – verbunden mit dem menschlichen Kampf gegen die Sünde – »überbrückt« die »Zwischenzeit« bis zur eschatologischen Vollendung. Die imputatio gilt zwar total, stellt aber einen »Interimszustand« dar. Wenn Luther fortfährt: »quia incepit eum sanare nec imputavit ei egritudinem ad mortem« (272,10 f.), so insinuiert dies, bleibt man eng am Text, dass nun ihrerseits die angefangene Heilung und Nichtzurechnung der Krankheit (=Sünde) der Gewissheitsgrund für Gottes Zuversicht eschatologischer Vollendung des Menschen ist.25 Mit der imputatio – und d. h. der göttlichen Vergebung – ist ein Neuanfang gesetzt, der sich effektiv auswirkt, der Sünde sozusagen den »Lebensnerv«, die »Wirkmächtigkeit« raubt, zu einem neuen Leben und schließlich zur eschatologischen Gerechtmachung führt. Der imputatio kommt also eine realisierende Kraft zu – wie ja die promissio ebenfalls eine realisierende Kraft besitzt: Der die Hoffnung hat, einmal gerecht zu werden, ist es jetzt schon, einfach dadurch, dass diese Hoffnung sein Leben bestimmt, und greift in der Kraft Christi und im Vertrauen auf die endzeitliche Vollendung die Sünde an.26 Man Zur Auseinandersetzung mit Holl vgl. Althaus, Verständnis, bes. 34–38, 44, der unter rein systematischem Gesichtspunkt darauf hinweist, dass vergangene Schuld nicht durch gegenwärtiges oder zukünftiges Rechtsein aufgehoben wird, sondern unhintergehbar der Vergebung bedarf, das Rechtfertigungsurteil im Blick auf diese zurückliegende Schuld mithin immer synthetisch bleibt. Dieses geschehe propter Christum, wodurch die Wahrhaftigkeit und Heiligkeit Gottes gewahrt werde. 24 Vgl. Althaus, Theologie, 205, 210. Ferner Pesch, Theologie, 302, 325: Der »Zielgrund« der forensischen Rechtfertigung darf nicht zu ihrem »Sachgrund« gemacht werden. 25 Der ganze Satz ist freilich sehr überladen, und der Satzteil »cui credit … sanabit eum« (272,9 f.) stellt einen Einschub Luthers in das ursprüngliche Manuskript dar. Von daher bezog sich das »quia incepit eum sanare […]« ursprünglich auf den Teil des Satzes, der vor dem Einschub steht. Das ändert aber an der Interpretation nichts. Gyllenkrok, Rechtfertigung, 124, sieht in der Aussage, dass der Arzt der Gesundung des Kranken gewiss ist, weil er die Heilung schon begonnen hat, keine rationale Erklärung der Gewissheit des Arztes, sondern einen Zuspruch an den Kranken zu dessen Aufrichtung. 26 Joest, Paulus, 297, spricht von der »schöpferischen Selbstverwirklichung des Rechtfertigungsurteils Gottes in der konkreten Lebensgestalt des Christen«. Vgl. ders., Gesetz, 83–85, bes. 84 f. (mit Bezug auf 56,65,26–66,17): Sowohl das Gesetzes- als auch das Recht23

Rechtfertigung 111 kann nun fragen, ob mit dieser anfanghaften Heilung einfach die imputatio selbst gemeint ist bzw. das Sündenbekenntnis des Menschen27 sowie die Verheißung des Gerechtseins28 – oder ob nicht doch auch schon an eine positiv lebensmäßige Erneuerung des Menschen gedacht ist (Glaube, Kampf gegen die Sünde, anfängliche Liebe). Dafür spräche, dass der Kranke ja dem Gebot des Arztes gehorcht und alles meidet, was die Heilung hindert. Dagegen allerdings, wie Luther fortfährt und das bisherige Bild auf die Sache überträgt: »Eodem modo Samaritanus noster Christus hominem semivivum egrotum suum, curandum suscepit in stabulum et incepit sanare promissa perfectissima sanitate in vitam eternam et non imputans peccatum i. e. concupiscentiam ad mortem.« (272,11–14) Die anfängliche Heilung scheint hier tatsächlich »nur« in der (non-) imputatio bzw. der aufgerichteten Verheißung zu bestehen. Indessen schreibt Luther weiter, und das legt die weiter gefasste Deutung nahe: »Sed prohibens interim in spe promisse sanitatis facere et omittere, quibus sanitas illa impediatur et peccatum i. e. concupiscentiam augeatur.« (272,14 ff.) Dass Luthers Rekurs auf Lk 10,30 ff. an dieser Stelle ein effektives Moment impliziert, legt auch der Kontext der gesamten Auslegung des Römerbriefs nahe, wo Luther eindeutig mit einem realen Neuwerden des Menschen rechnet. Wahrscheinlich ist die Alternative falsch gestellt, und Luther hat beides im Blick: Die Heilung beginnt durch die imputatio und durch die von da ausgehende effektive Erneuerung des Menschen.29 Wäre dem so, dann schlösse Luthers imputative

fertigungsurteil hat »als konstatierendes Urteil realisierende Kraft« (85). Dass dies alles in der Römerbriefvorlesung erst angedeutet wird, ist nochmals mit Rolf, Zum Herzen, bes. 166, 168 f., 171 f., zu betonen. 27 Vgl. Bizer, Fides, 48 : Der begonnene Heilungsprozess hat im Sündenbekenntnis »sein Zeichen«. 28 So Hübner, Rechtfertigung, 107–112, der in Luthers Rekurs auf Lk 10,30 ff. auf der ontischen Ebene einen rein eschatologisch-futurischen Gerechtigkeitsbegriff gegeben sieht, sonst aber in der Römerbriefvorlesung Gerechtigkeit sowohl ontisch (= anfanghaftes Gerechtwerden) und personal (gerecht im Urteil Gottes) verstehen möchte (ebd., 102–107, 112–117). Hübner wehrt zudem ein Verständnis der simul-Formel ab, wonach »der Gerechtfertigte im ontischen Bereich Sünder bleibt und nur im personalen Bereich durch die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi gerecht ist« (102). Grane, Modus, 77, 80 f., reduziert das »sanare« auf das Sündenbekenntnis und den sich auf die versprochene Heilung richtenden Glauben, weil sonst »die Schärfe des ›simul iustus et peccator‹ aufgehoben« werde (77). Es scheint uns aber nicht schlüssig zu sein, die sehr offenen Formulierungen zu Lk 10,30 ff. so reduktiv zu interpretieren, wenn der engere Kontext (Auslegung von Röm 4,7) dem widerspricht und Lk 10,30 ff. sonst bei Luther für ein sanatives Gerechtwerden bzw. für partim iustus/partim peccator in Anspruch genommen wird. 29 Ähnlich Grundmann, Römerbrief, 116–119, bes. 116: »In dieses imputativ-forensische Geschehen [d. h. der sich immer wieder ereignenden Gerechtsprechung] ist eingefügt ein sanatorisches Geschehen: das Geschenk der Gnade Gottes beginnt die ichsüchtige Begierde hinwegzuräumen und läßt die Gottesliebe anfangsweise wirklich werden«; ebd. 119: Die simul-Aussage enthält beides: »das forensische Urteil Gottes« und »das sanatorische Element«.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Rechtfertigungskonzeption immer schon eine sanativ-effektive mit ein bzw. das simul iustus et peccator, das durchaus total in beiderlei Hinsicht gilt, dürfte nicht gegen ein anfängliches, partielles Neuwerden ausgespielt werden.30 Jedenfalls bekräftigt Luther nochmals das simul: »Nunquid ergo perfecte Iustus? Non, sed simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa, quod liberet ab illo, donec perfecte sanet. At per hoc sanus perfecte est in spe, in re autem peccator, sed Initium habens Iustitiae, ut amplius querat semper, semper iniustum se sciens.« (272,16–21) Gott beginnt also jetzt schon mit der Befreiung von der Sünde, denn die diesbezügliche »promissio Dei certa« bezieht sich auch schon auf die Gegenwart, nicht nur auf die »perfecta sanatio«; der, der »in re peccator« ist, hat doch schon das »initium iustitiae«, ein Ausdruck, der später bei Luther immer umfassend, d. h. als die Erneuerung in guten Werken mit einschließend, verstanden wird.31 Wollte man das »liberare« bzw. »initium iustitiae« nicht erneut restriktiv auf die imputatio beschränken, so hätten wir in diesem Satz alle Aspekte des komplexen Rechtfertigungsverständnisses bzw. der simul-Formel Luthers beisammen: den Total- und Partialaspekt sowie die eschatologische Deutung des simul – Rechtfertigung als sich je neu ereignendes Totalgeschehen durch die imputatio und Rechtfertigung als prozesshaftes Neuwerden, das im Eschaton seine Vollendung findet.32 Der Partialaspekt des simul wird explizit im Scholion zu Röm 3,21 ausgesprochen: Aufgrund des fundamentalen Hangs zum Bösen, der in diesem Leben

Dies geschieht z. B. bei Link, Ringen, 82–92, der das partim-partim für theologisch irrelevant und ausschließlich für eine missverständliche ethisch-psychologische Veranschaulichung des Totalaspekts durch Luther hält, welche die »theologische Substanz des Rechtfertigungsbekenntnisses« (84) trüben könnte. Dass Luther sich gerade beim Partialund Progressusaspekt nicht ganz eindeutiger philosophischer Denkmodelle bedient, ist zuzugestehen, vermag aber diesen Aspekt seines Rechtfertigungsverständnisses nicht zu nivellieren. Umgekehrt reduziert Peura, Mensch, 170 f., 253 f., das peccator in re auf die Verborgenheit der real-anfänglichen Gerechtigkeit unter den Sündenresten. – Zur späteren Verwendung des Bildes vom Arzt und Kranken bei Luther vgl. 15,726,10–730,7 (das simul: »Christianus est peccator et non, est in coelo et in terra«: 728,19 f.); 20,655,7–15; 41,681,40–682,14. 31 Vgl. auch 271,29–272,2: »Sic ergo in nobis sumus peccatores Et tamen reputante Deo Iusti per fidem. Quia credimus promittenti, quod nos liberet, dummodo interim perseueremus, ne peccatum regnet, sed Sustineamus ipsum, donec auferat ipsum.« – Gyllenkrok, Rechtfertigung, 123, sieht in dem initium iustitiae den »Anfang des Glaubens, dem das proficere folgen soll und kann« bzw. den »Glaubensgehorsam«, in dem der Kranke dem Arzt glaubt und ihm folgt. Vgl. 123: »Man darf also nicht initium iustitiae und iustus in spe einander gleichsetzen«, so sehr beide einander korrespondieren; ebd., 121–124. 32 Zum sanativen Gesichtspunkt vgl. auch 275,25–276,3: »Igitur Ista Vita est Vita curationis a peccato, non sine peccato finita curatione et adepta sanitate. Ecclesia Stabulum est et infirmaria egrotantium et sanandorum. Celum vero est palatium sanorum et Iustorum. [Es folgt 2.Petr 3,13] Hic autem Iusticia nondum habitat, sed parat sibi interim habitationem peccata sanando.« 30

Rechtfertigung 113 nicht völlig geheilt werden kann,33 gibt es bei uns keine vollkommene Gesetzes­ erfüllung wie bei Christus. Wir lieben die Gerechtigkeit immer nur zusammen mit der Ungerechtigkeit. Auch die Israeliten konnten die Jebusiter nicht vollständig besiegen und aus dem Land werfen (Jos 15,53). Deshalb sagt Luther unter Berufung auf Röm 7,25: »Ac sic partim sumus Iusti et non toti. Ideo peccatum et debitum habemus.« (260,23 f.) Die Vollendung der Gerechtigkeit und die völlige Wegnahme der Sünde tritt erst im Tod ein und muss erbeten werden, dispensiert aber nicht von der Heiligung im irdischen Leben.34

1.1.2 Scholion zu Römer 12,2 Das spannungsvolle Zueinander von Total- und Partialaspekt wird auch bei der Erklärung von Röm 12,2 deutlich.35 Der Vers behandelt den profectus im Christenleben bzw. bei denen, die schon begonnen haben, Christen zu sein. Deren Leben ist nun kein »quiescere«, sondern ein »moveri de bono in melius velut egrotus de egritudine in sanitatem«, was für Luther gleichfalls durch jenen »semivivus«, der nach Lk 10 der Pflege des Samariters anvertraut ist, belegt wird. Luther legt hier nahe, dass das christliche Leben sich in einer kontinuierlichen Entwicklung und Bewegung vollziehe, als fortschreitendes Werden auf das eschatologische Ziel hin, als zunehmendes Gerecht- und Besserwerden (441,14–17). Es geht um eine »renovatio mentis de die in diem, magis ac magis« (443,6 f.).36 Diese Sicht wird nun allerdings dadurch differenziert, dass Luther das aristotelische Form-Materie-Schema auf das Werden im geistlichen Leben überträgt: Das natürliche Werden – etwa in der Natur oder bei künstlerischer Tätigkeit – entfaltet sich in fünf Stufen, die in zwei, nicht ganz kongruenten Begriffsreihen vorgestellt werden: »Non esse, fieri, Esse Actio, passio [1. Reihe] i. e. priuatio, Materia, forma, operatio, passio [2. Reihe].« (442,1 f.) Eine noch ungestaltete »Materie« wird durch das bildende Eingreifen einer formenden Kraft zu dem Ding oder Wesen, das zum Sein gebracht werden soll, so dass es nun diesem Wesen gemäß wirken Vgl. 260,25 f.: »Quia in hac Vita non perfecte sanatur pronitas ad malum.« Vgl. auch 258,16–22 unter Bezugnahme auf Lk 10,30 ff. (im eindeutig prozesshaften Sinn) und Jak 1,18, eine für Luther ebenfalls wichtige Belegstelle für das anfängliche, partielle Neuwerden des Menschen: »Ideo semper orandum et operandum, Vt crescat gratia et spiritus, decrescat autem ac destruatur corpus peccati et deficit vetustas. Non enim Iustificavit nos [deus] i. e. perfecit et absolvit Iustos ac iustitiam, sed incepit ut perficiat. Vnde Jacob. 1: ›Ut essemus initium aliquod creature eius.‹ Sicut homo Semiuiuus traditus stabulario indicat, Qui alligatis vulneribus non sanus, Sed curandus susceptus est.« Der Christ hat den Status eines Rekonvaleszenten. 35 Zur Auslegung der Stelle vgl. Hermann, These, 245–249; Joest, Ontologie, 325–331; Ebeling, Lutherstudien II/3, 477 ff.; Dieter, Luther, 335–343. 36 Vgl. auch die Kollegnachschrift 57,216,9 f.: »[…] profectum, ut de die in diem magis ac magis renoventur [christiani] mente.« Es geht bei dieser Wendung nicht nur um ein zeitliches Fortschreiten (»de die in diem«), sondern auch um ein Wachsen und Zunehmen (»magis ac magis«; gegen Hermann, These, 239). 33

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sowie Eindrücke und Einwirkungen von außen aufnehmen kann. Theologisch wird daraus: Das »Nichtsein« (= die ungeformte Materie) entspricht dem reinen Sündersein. »Werden« ist das Geschehen der Rechtfertigung, das zum »Stand« der Gerechtigkeit führt, aus dem heraus ein entsprechendes Handeln und Leben folgt. Das »Erleiden« interpretiert Luther als »perfici et consumari« (442,4 f.), womit er wohl an die eschatologische Seinsvollendung durch den Tod hindurch denkt und damit das aristotelische Schema, das immer ein durch den innerweltlichen Werdevorgang bereits vollendetes Sein im Blick hat, transzendiert. Die erlangte iustitia und das daraus resultierende »iuste agere et vivere« sind also nicht selbst schon die Vollendung. Was sich bis jetzt noch als ein einheitlicher, kontinuierlicher Werdevorgang begreifen lässt – vom Sündersein über Buße und Rechtfertigung zum Stand einer sich in guten Werken manifestierenden und durch sie vertieft werdenden Heiligung, die offen für eine letzte »erlittene« Vollendung ist –, das wird jetzt dadurch in gewisser Weise korrigiert, dass die beschriebene Bewegung keine einmalige ist, sondern sich stets aufs Neue wiederholt, womit Luther vollends das aristotelische Schema37 sprengt: »Et hec quinque semper velut in motu sunt in homine. Et quodlibet in homine est Inueniri – respectiue preter primum non esse et vltimum esse, Nam inter illa duo: Non esse et pati currunt illa tria semper, sc. fieri, esse, agere – per Natiuitatem nouam transit de peccato ad Iustitiam, Et sic de non esse per fieri ad esse. Quo facto operatur Iuste. Sed ab hocipso esse nouo, quod est verum non esse, ad aliud nouum esse proficiendo transit per passionem i. e. aliud fieri, in esse melius, Et ab illo iterum in aliud. Quare Verissime homo semper est in priuatione, semper in fieri seu potentia et materia et semper in actu.« (442,5–13) Die christliche Existenz bewegt sich demnach zwischen zwei Polen: dem zurückgelassenen ersten Nichtsein bzw. totalen Sündersein und dem letzten, noch nicht erreichten Sein der Vollendung. Innerhalb dieser beiden Grenzpunkte spielt sich nun die immer neue Bewegung der fünf (oder drei?)38 Stufen (gradus) ab und führt zu einem profectus: Der Christ schreitet von der Sünde zur Gerechtigkeit, d. h. vom Nichtsein über das Werden zum neuen Sein. Daraus folgt dann ein Dieter, Luther, 340, weist freilich darauf hin, dass sich die fünf Stufen so nicht bei Aristoteles zusammengestellt finden, auch wenn Luther 56,442,2 die zweite Reihe als »secundum Aristotelem« kennzeichnet. 38 Luther ist hier nicht ganz eindeutig: Einmal ereignen sich fieri, esse und agere iterativ zwischen den beiden Extremen non esse und pati (perfici, consummari), dann erwähnt er doch ein non esse als je neuen Ausgangspunkt, auf das fieri und esse samt agere (operari) folgen. Dass das esse dann wieder als non esse begriffen wird und der Prozess von neuem beginnt, wird ausdrücklich als passio verstanden. Also ereignen sich offenbar alle fünf Stufen innerhalb der Grenzmarken des ersten Nichtseins und letzten Seins. Das scheint Joest, Ontologie, 327, übersehen zu haben. Weiter spricht Luther von privatio, potentia und actus als Stadien des je neuen Werdens. In der Sache trägt das Schwanken in der Terminologie nichts aus. 37

Rechtfertigung 115 gerechtes Handeln. Das erreichte Sein ist aber als noch unvollkommenes wieder ein Nichtsein, und so bewegt sich der Christ durch eine passio, also durch ein Vollkommener-Werden bzw. Anders-Werden, auf ein neues höheres Sein zu usw. Der sich je mit denselben Elementen wiederholende Werdevorgang wäre dann zugleich eine sich spiralförmig nach oben, zu größerer Vollkommenheit entfaltende Bewegung. Indessen wird dieses Denkmodell dadurch durchkreuzt, dass jedes erreichte esse vom Menschen her wieder als »verum non esse«39, d. h. als Sünde zu qualifizieren ist. Er ist erneut auf den Weg der täglichen Buße (und des Glaubens), eben der Rechtfertigung gewiesen, erneut muss er Gottes freisprechendes Urteil empfangen.40 Und von dort geht das »iuste agere et vivere« von neuem aus. Im Blick auf sich selbst kann der Mensch immer nur zu dem Schluß gelangen, dass sein Leben und Handeln aus dem Glauben Sünde und nicht recht vor Gott ist – und zwar im Sinne einer Totalbestimmumg, die ihn je ganz auf Gottes Freisprechung angewiesen sein lässt. Insofern kann der Mensch sich einen eventuellen »Fortschritt« nicht als eigene Leistung bzw. als fortschreitend sich anreichernde »inhärierende Qualität«41 zusprechen. Sondern wenn es zu einem Neuwerden, ja zu einem fortgesetzten Neuwerden kommt, dann gründet das in der dabeibleibenden Treue Gottes, der immer wieder – ausgehend vom freisprechenden Urteil und der neuen Annahme – schöpferisch am Menschen handelt.42 Von Seiten des Menschen erfolgt die immer neue Bewegung der Buße, der Erkenntnis der eigenen Sünde und des Erbittens der göttlichen Vergebung: »Semper homo Est in Non Esse, In fieri, In esse, Semper in priuatione, in potentia, in actu, Semper in peccato, in Iustificatione, in Iustitia, i. e. Semper peccator, semper penitens, semper Iustus. Quod enim penitet, hoc fit de non Iusto Iustus. Ergo penitentia Est medium inter Iniustitiam et Iustitiam. Et sic est in peccato quoad terminum a quo et in iustitia quoad terminum ad quem. Si ergo semper penitemus, semper peccatores sumus, et tamen eo ipso Iusti sumus ac Iustificamur, partim peccatores, partim Iusti i. e. nihil nisi penitentes.« (442,15–23)43 Diese dialektische, sich je neu ereignende Bewegung zwischen iniustitia und iustitia (= Buße) ist gleichwohl auf die Die Akzentuierung »verum non esse« spricht dagegen, die Stelle nur so aufzufassen, als ob jeder erreichte terminus ad quem der Heiligung erneut zum terminus a quo würde, dieser sich aber immer weiter nach vorn verschöbe. 40 Vgl. 49,21 ff.: »Et aptius ›iustificati‹ quam ›Iusti‹ et aptius ›Iustificatio‹ quam ›Iustitia‹ de nobis dicitur. Quia solus Christus iustus est et iustitiam habet, nos autem adhuc semper Iustificamur et in Iustificatione sumus.« 41 Joest, Ontologie, 328. Vgl. ders., Gesetz, 84. 42 Vgl. Joest, Ontologie, 329; Hermann, These, 349. Bezeichnenderweise heißt es vom christlichen Leben passivisch: »moueri de bono in melius« (441,15 f.). Im Sinne dieser Deutung des profectus als ganz von Gott getragen zitiert 441,17–20 1.Mose 1,2; 5.Mose 32,11 und Ps 17 (18),11. 43 Erwägenswert ist die Konjektur Gyllenkroks, Rechtfertigung, 114, wonach »peccatores sumus« eigentlich »confessores peccati sumus« heißen muss. Der vorangehende Konditionalsatz wie auch das anschließende »eo ipso« würden verständlicher. 39

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eschatologische Zielbestimmung (bzw. ihre Vollendung) ausgerichtet, Buße und profectus gehören zusammen.44 Wenn Wilfried Joest zu unserer Stelle bemerkt: »Vom Menschen her gesehen kann diese Bewegung nur als beständige Umkehr der Buße aus dem eigenen Nicht-gerecht-sein zu der Barmherzigkeit des rechtfertigenden Gottes angesprochen werden«45, dann ist das natürlich zutreffend, nur muss strikt auf die Einschränkung: »vom Menschen her gesehen« geachtet werden. Das Neuwerden des Menschen, das aus der Gerechtsprechung sich je ergebende »Verwirklichungsmoment« darf nicht auf Sündenbekenntnis und gläubiges Erbitten der Vergebung reduziert werden. Das würde die von Luther ebenfalls intendierten Momente sittlich-lebensmässiger Erneuerung (gute Werke, Wachsen in der Gottes- und Nächstenliebe, geringere Konkupiszenz) vernachlässigen. Es geht ja um ein (schon im Kategorienschema nicht mit der Buße identisches) »iuste agere et vivere« (442,4), um profectus und renovatio »de die in diem, magis ac magis«. Nur dass der Mensch sich solche Heiligung des Lebens eben nicht selbst zuschreiben darf, gleichsam als kontinuierliche Selbstentwicklung eines – wenngleich geschenkten – neuen Eigenseins, ja er im strengen Sinn auch darauf nicht reflektieren darf, sondern er hier alles dem schöpferischen Wirken Gottes zuschreiben muss. Der Gerechtfertigte blickt auch hier auf Gott und nicht auf sich selbst, zumal dieser Blick auf sich selbst (curvatio in ipsum) ja gerade das Wesensmerkmal der Sünde ist.46 Indessen darf von daher ein wirkliches, anfanghaftes Neuwerden nicht ge-

Vgl. 442,24 ff.: »Quare hec Vita Est via ad celum et infernum. Nemo ita bonus, ut non fiat melior, nemo ita malus, vt non fiat peior, vsque dum ad extremam formam perueniamus.« Ferner 326,6 ff.: »Igitur destrui corpus peccati Est concupiscentias carnis et veteris hominis frangi laboribus penitentie et crucis ac sic de die in diem minui eas et mortificari.« 45 Joest, Ontologie, 329. Gleiches gilt auch für die Ausführungen Hermanns, These, 247 f., wo alles Gewicht auf die Buße gelegt, ja in ihr der Fortschritt gesehen wird, die »neuen Wirklichkeiten und Möglichkeiten« von Gott her aber unbestimmt bleiben. 46 Dazu Joest, Gesetz, 68 ff. – Luther kennzeichnet den Fortschritt des geistlichen Lebens als nicht objektiv-empirisch greifbar, sondern nur im Glauben zugänglich: »Quia hec Vita non habet experientiam sui, Sed fidem. Nemo scit se viuere aut experitur se esse Iustificatum, Sed credit et sperat.« Und doch leben wir mit Christus »in spiritu et nouitate incipiente vsque in aeternum« (58,15–18). Der im neuen Leben Wandelnde schaut nicht auf sich, sondern auf Gott. Das Leben wird gelebt, nicht »reflektiert«. Vgl. auch 173,7–13 (zu Röm 1,17): »Ideoque sensus Videtur esse, Quod, Iustitia Dei sit ex fide totaliter, ita tamen, quod proficiendo non venit in speciem, Sed semper in clariorem fidem. […] semper magis ac magis credendo, Vt ›qui iustus est, iustificetur adhuc‹, ne quis statim arbitretur se apprehendisse et ita desinat proficere i. e. incipiat deficere.« Gerechtigkeit wird nie erfahrbare Gerechtigkeit. In die Bewegung des Fortschreitens wird hier – ähnlich wie zu Röm 12,2 – die der je neuen Rechtfertigung durch den Glauben eingezeichnet. Das scheint die Tendenz in der Entwicklung des frühen Luther zu sein. Vgl. Pinomaa, Profectio, 119–125. Die Stelle 486,7 (»Et proficere, hoc est semper a nouo incipere«) darf nicht in dem Sinn ausgelegt werden, als ob der Christ immer wieder vom selben terminus a quo zu beginnen hätte. Das ist natürlich nicht völlig auszuschließen, darf aber nicht 44

Rechtfertigung 117 leugnet werden bzw. völlig in die Verborgenheit und Unsichtbarkeit abgedrängt werden. Für unser Thema ist wichtig, dass Luther hier die Buße als die Mitte zwischen Sünde und Gerechtigkeit bestimmt, sozusagen als das verbindende »Medium«, in dem ständig die Bewegung vom Sündersein zum neu durch Gott Angenommensein vollzogen wird. Schon in der Römerbriefvorlesung gilt folglich die Buße als der permanente Zentralvorgang des christlichen Lebens, was Luther dann in der ersten Ablassthese 1517 programmatisch formulieren wird.47 Und genau dadurch ist – wie unser Text zeigt – auch die simul-Formel erreicht: Folgt man seiner Thematik (profectus!), so wird man das partim/partim in einem quantitativen Sinn verstehen: Es gibt im Christen – immer neu gegründet auf die empfangene Gerechtsprechung – eine anfanghafte, bruchstückhafte Gerechtigkeit (»iuste agere et vivere«), die auch zunimmt und wächst – »de die in diem, magis ac magis«.48 Man könnte es aber genauso gut im Sinne des Totalaspektes interpretieren: Sofern wir zeitlebens in der dialektischen – durch Buße und Glauben vermittelteten – Bewegung zwischen Sündersein und Gerechtgesprochenwerden stehen, die jeweils Totalbestimmungen sind, sind wir eben »teils« gerecht, »teils« zum Regelfall erhoben werden, heißt es doch unmittelbar zuvor: »quia stare in via Dei, hoc est retrocedere«. (486,6 f.) Es kann auch ein erreichter terminus ad quem zum neuen terminus a quo werden. Kurz vorher spricht Luther kritisch von solchen, »qui incipiunt et non proficiunt, ponunt manum ad aratrum et respiciunt« (485,28 f.). Freilich heißt es auch wieder: »Qui se putat apprehendisse et incepisse, nescit, quomodo oporteat eum incepisse« (486,13 f.). Es geht einfach um die Mahnung, in Bewegung zu bleiben und in diesem Sinne je neu anzufangen. Ein Wachstum ist damit ebenso wenig ausgeschlossen wie der je neue Empfang der Rechtfertigung im Glauben. Ferner 4,350,15 f.: »proficere est nihil aliud, nisi semper incipere. Et incipere sine proficere hoc ipsum est deficere.« Hier ist die unauflösbare Dialektik zwischen Fortschreiten als je neuem Anfang und Fortschreiten als Wachstum gut beschrieben. Vgl. 56, 239,14–22 im Blick auf das Gott-Suchen: »Quia huius vite status non habendo, sed querendo Deo peragitur. Semper querendum et requirendum i. e. iterum ac iterum querendum. […] semper incipiens, querens et quesitum semper requirens. Qui enim non proficit in via Dei, deficit. Et qui non requirit, quesitum amittit, cum non sit standum in via Dei.« Dazu Gyllenkrok, Rechtfertigung, 111–114, der dezidiert für eine reale Heiligungsbewegung des Christen (Wachsen des Glaubens und der humilitas, Abnahme der Konkupiszenz, mortificatio carnis) bei Luther eintritt und sich gegen die Umdeutung des Fortschreitens in einen immer wiederholten Anfang ausspricht. Auch für Gyllenkrok, der bei Luther neben der vollkommenen Glaubensgerechtigkeit eine unvollkommene, werdende Gerechtmachung gegeben sieht, ist Letztere natürlich christusgewirkt und nicht der Reflexion des Menschen zugänglich, deshalb aber nicht unwirklich. Vgl. bes. ebd., 99–134. Siehe auch Holl, Rechtfertigungslehre, 139 f.; Dieter, Luther, 321–325, 344 f. 47 Vgl. unten Kapitel 3. 48 Vgl. zur Mühlen, Simul, 35 f., bes. 36: »Wenn Luther in diesem Zusammenhang den Partialaspekt des Gerechtwerdens des Christen herausstellt, so ist dennoch dieser Partialaspekt umgriffen vom Totalaspekt des simul iustus et peccator, der die im Partialaspekt ausgesprochene Heiligung in der Rechtfertigung allein begründet und konstituiert sein lässt.«

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Sünder. Beide Totalitäten bestimmen uns – und jede ist in gewisser Weise durch die andere schon bzw. noch »partialisiert«.49 In jedem Fall zeigt unsere Textstelle das spannungsvolle, aber offenbar nicht kontradiktorische Verhältnis von Totalund Partialaspekt des simul bzw. von transitus (als je neuem »Übergang« vom Sünder- zum Gerechtfertigtsein) und progressus (fortschreitendes Wachsen des christlichen Lebens).50 Dabei ist das Verhältnis von Total- und Partialaspekt beim simul in der Römerbriefvorlesung noch nicht voll geklärt: Wie lässt es sich vereinbaren, dass derselbe Christ zugleich totus iustus et peccator und partim iustus et peccator ist, so dass in der Gesamtbetrachtung jemand, der empirisch teils Sünder ist, ganz Sünder ist, und jemand der empirisch teils gerecht ist, ganz Gerechter ist?51 Es ist bisher nur das Kausalitätsverhältnis zwischen Gerechtsprechung und Gerechtwerdung deutlich geworden. Zum rechten Verständnis der partiellen Gerechtigkeit bzw. des partim iustus muss unbedingt gesehen werden, dass Luther zwar mit einer solchen fragmentarischen, zunehmenden »seinshaften« Gerechtigkeit beim Christen rechnet, diese ihm aber keine iustitia coram deo, keine »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«, darstellt. Wir können damit vor Gott nicht bestehen oder uns von seiner Gnade emanzipieren! Wenngleich dies in der Römerbriefvorlesung noch nicht in dieser eindeutigen Terminologie ausgesprochen wird, ist es doch in der exklusiven Begründung unserer Rechtfertigung in der reputatio Gottes, in der Betonung des »peccator in re« (bzw. »re vera«) sowie in der Akzentuierung der iustitia als aliena und externa impliziert. Ebenso lässt sich dafür die schon im Scholion zu Röm 4,7 angesprochene und später von Luther weiter entfaltete These anführen, Dass das partim/partim auch im Sinne des totus/totus zu verstehen ist – der Mensch steht paradoxerweise unter zwei Totalbestimmungen (d. h. es gibt jeweils noch eine andere Blickweise) und insofern sind beide partiale Wirklichkeiten –, wird uns in späten Luthertexten wieder begegnen. Vgl. unten Kap. 6 (3.3). 50 So differenziert Joest, Gesetz, 57–78. Dabei ist der Totalaspekt des simul dem transitus, der Partialaspekt dem progressus zugeordnet. – Bayer, Promissio, 33–36, sieht im Scholion zu Röm 12,2 den profectus-Aspekt im Sinn des stufenweisen Weiterschreitens nicht gegeben, sondern nur den der ständigen Wiederholung (»iteratio«) des Schrittes vom »esse per fieri ad esse«, der aber nicht die Rückkehr zur einmal ergangenen, je neu gewissmachenden Verheißung darstellt (»reditus«). »Wiederholt wird die in ihrer jeweiligen Verwirklichung immer wieder vergehende Möglichkeit der Bewegung ›de peccato ad Iustitiam, Et sic de non esse per fieri ad esse‹«. (35) Dass im Scholion zu Röm 12,2 der profectus-Aspekt Luther nicht wichtig ist, dürfte unsere Analyse von Luthers Vorlesungsmanuskript widerlegt haben, wird aber noch deutlicher in der Kollegnachschrift, welche die Sache einfacher, ohne das komplizierte aristotelische Bewegungsschema darlegt: 57,216,4–20. Dass Bayer gleichwohl in der Einschätzung des transitus-Aspekts etwas Richtiges gesehen hat, dazu unten. Peura, Mensch, 146–150, nimmt demgegenüber im Scholion zu Röm 12,2 den Ansatz zum je neu erfahrenen totus peccator nicht wahr. 51 Ein weiterführender Hinweis in dieser Frage liegt freilich darin, dass Luther in den guten Werken noch die Sünde präsent sieht, sie also streng genommen nicht vor Gott bestehen können. 49

Rechtfertigung 119 dass auch unsere guten, d. h. aus der Rechtfertigung folgenden Werke nicht ohne Sünde sind. Auch in ihnen ist noch die Gott widerstrebende Ichsucht mit am Werk, so dass wir nicht aus reiner Gottesliebe handeln und hinter dem Gesetz Gottes zurückbleiben.52

1.1.3 Der Sündencharakter der Konkupiszenz Für das Verständnis des simul ist nun entscheidend, dass für Luther das bleibende Sündersein des Christen sich primär auf die Erb- und Wurzelsünde bezieht und erst in sekundärer Weise auf die Tatsünde.53 Nicht nur um einzelne noch vorkommende böse Taten geht es, sondern um eine bleibende sündige Grundhaltung, um ein bleibendes Sündersein: »Non tantum hic loquitur de peccatis in opere, Verbo et cogitatione factis, sed de fomite. […] Et ibidem [Röm 7] Appellat [Paulus] ipsum ›passiones peccatorum‹ i. e. desyderia, affectiones et inclinationes ad peccata […] Ergo Actuale […] verius est peccatum i. e. opus et fructus peccati, peccatum autem ipsa passio, fomes et concupiscentia siue pronitas ad malum et difficultas ad bonum.« (271,2–8)54 Luther ist hier nur auf dem Hintergrund der traditionellen Sündenlehre zu verstehen, die er aber an entscheidenden Punkten verändert: Durch die Taufe wird – so dachte man – die Erbsünde als schuldhafter Mangel der Urstandsgerechtigkeit sowohl vergeben als auch weggenommen. Was bleibt, ist ein aus der Sünde kommender, zu ihr wieder hindrängender, selbst aber nicht als Sünde zu qualifizierender »Zunder« (fomes)55 bzw. eine »böse Lust«, »Begierde« (concupiscentia), die vorwiegend in der Sinnlichkeit ihren Ort hat. Sie wird erst dann wieder zur Sünde, wenn man durch die Tat in sie einwilligt, ihr »zustimmt«. Luther versteht nun diese Konkupiszenz, die in bösen Regungen, Affekten und Neigungen ihr »Leben« hat und sich »ausfaltet«, einerseits als eine den ganzen

Vgl. 289,15–21: »Quia etiam bona opera, quia renitente fomite et sensualitate, non tanta fiunt intensione et puritate, quantam lex requirit, cum non ex totis viribus fiant, Sed tantum ex viribus spiritus repugnantibus viribus carnis. Idcirco enim bene operando peccamus, nisi Deus per Christum hoc imperfectum tegeret et non imputaret; fit ergo Veniale per misericordiam Dei non imputantis, propter fidem et gemitum pro ista imperfectione in Christo suscepta.« Dazu Kroeger, Rechtfertigung, 92 ff., sowie unten Kapitel 4. 53 Zu dieser Unterscheidung und Luthers Sündenbegriff überhaupt vgl. Hübner, Rechtfertigung, 13–44, bes. 13–27. Zum Folgen siehe auch Batka, Peccatum, 125–132. 54 Zur Interpretation der schwierigen Formulierung, dass das actuale peccatum »verius peccatum i. e. opus et fructus peccati« sei, vgl. Hübner, Rechtfertigung, 19 f. Dass die Tatsünde im wahreren Sinn Sünde sein soll als die habituelle Sünde, läuft Luthers Deutungsgefälle entgegen, wird aber sofort eingeschränkt durch »i. e. opus et fructus peccati«. Ellwein, Mü3 Erg.Bd. 2, 150 (Hv.) übersetzt: »Also ist die Tatsünde […] richtiger Sünde im Sinn von Werk und Frucht der Sünde.« 55 Hinter diesem Bildwort steht die Vorstellung, dass die Neigung zur Sünde durch die Einwilligung in sie wie leicht entzündbares Material wieder »Feuer fängt« und so zur wahren Sünde wird. Luther würde entgegnen: Es brennt immer schon! 52

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Menschen, nicht nur dessen Sinnlichkeit, bestimmende Grundhaltung,56 als ein bleibendes Sündersein der Person, aus dem dann die bösen Taten wie Früchte aus der Wurzel hervorgehen. Das peccatum originale deutet er – obwohl auch – nicht so sehr als von Adam ererbte Sünde, sondern als Ursprungs- und Wurzelsünde (peccatum radicale) für einzelne sündige Taten.57 Zugleich (und deshalb) ist für Luther diese Konkupiszenz – unter Berufung auf Röm 7,7 – selbst schon Sünde, unabhängig davon, ob sie in konkrete Aktualsünden ausbricht oder nicht, eben weil sie gegen das neunte und zehnte Gebot des Dekalogs verstößt: »Du sollst nicht begehren!«58 Luther bestimmt die Konkupiszenz als »pronitas ad malum et difficultas ad bonum« (271,8). Er meint damit die Hinneigung zu einer ichsüchtigen, auf sich verkrümmten, gott- und nächstenfeindlichen Grundhaltung (»curvatio in se ipsum«), die nur das Ihre sucht und der ein innerer Widerstand gegen das Gute und die ungeteilte Gottesliebe entspricht.59 Dass diese Haltung »zugleich« im Christen verbleibt, dass er trotz aller frommen Übungen, trotz aller sakramentalen Gnade und »guten Werke« dennoch nicht zu jener ungeteilten Hingabe an das Gute und an Gott fähig ist, sondern immer noch – gerade im Guten – das Seine sucht und so Gottes Willen niemals vollkommen erfüllt, das hatte Luther in seinen Klosteranfechtungen zutiefst erfahren und ihn zur Verzweiflung getrieben. Erst die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes als dessen barmherzige Gabe an den

Dies betonen auch Holl, Rechtfertigungslehre, 130, 137; Iwand, Glaubensgerechtigkeit, 42 ff. Vgl. 56,312,1–313,16; siehe aber 289,15–18 (zit. oben Anm. 52). Luther scheint an dieser Stelle die concupiscentia der Sinnlichkeit stark anzunähern und auch caro und spiritus nicht als soteriologische Vorzeichen vor dem ganzen Menschen, sondern als anthropologische »Teile« bzw. »Schichten« zu verstehen. Dazu Kapitel 5. 57 In der Vorlesungsnachschrift (57,164,21–165,5) wird explizit der Bezug zum Baumgleichnis Mt 7,17 f.; 12,33 hergestellt. Vgl. 1,188,12–15; Batka, Peccatum, 126; zur Mühlen, Nos extra nos, 116 f., 150. 58 Vgl. 271,20: »Hoc enim malum, cum sit re vera peccatum; 281,9 ff.: cum hoc malum in nobis per se sit peccatum, quia non implemus propter ipsum dilectionem Dei super omnia.« 312,17–313,2: »vniversam ipsam concupiscentiam, Qua fit, vt inobientes simus huic mandato: ›Non concupisces‹. […] Hoc enim preceptum ostendit nobis peccatum.« Es folgt ein Verweis auf Röm 7,7; 513,17–20: »Sicut in simili Baptisatus aut penitens manet in infirmitate concupiscentie, que tamen est contra legem: ›Non concupisces‹, Et vtique mortalis, nisi Deus misericors non imputaret propter inceptam curationem.« 59 Luther hat diese Haltung treffsicher und tiefschürfend in der Auslegung von Röm 8 (»prudentia carnis«) beschrieben. Siehe 355,15–357,26; 361,5–362,27. – Schon in der Römerbriefvorlesung betont Luther, dass in der ichsüchtigen Konkupiszenz auch das Moment des Stolzes, der superbia steckt: als Aufrichtung der eigenen Gerechtigkeit und des Selbstseinwollens vor Gott. Vgl. 284,5 f.: Das hebräische »rascha« meine das »Vitium suberbie, Negatio veritatis et Iustitie Dei, statutio sue Iustitie, defensio sapientie mentis sue«; 290,11–14; Hübner, Rechtfertigung, 37–40 (mit weiteren Belegen). Als Unglaube ist die Sünde in der Auslegung von Röm 4,7 noch nicht explizit akzentuiert. Dazu unten Teil II, Kapitel 1.2. 56

Rechtfertigung 121 Sünder vermochte Luther hier die erlösende Befreiung zu schenken. Insofern ist die simul-Formel auch in Luthers persönlichen Erfahrungen und Kämpfen verwurzelt und mit der »reformatorischen Erkenntnis« zutiefst verbunden, ohne mit ihr identisch zu sein: Er darf sich trotz der bleibenden, wenngleich bekämpften Sünde von Gott angenommen wissen.60 Diese biographische Verortung des simul deutlich zu machen, bedeutet nicht, es darauf zu reduzieren, also seine für Luther bestehende biblisch-theologische und allgemein human-christliche Begründung zu leugnen.61 Vielmehr bricht bei Luther eine im Neuen Testament (z. B. der Bergpredigt), im Mönchtum und der bisherigen Beichtpraxis zwar angelegte, aber so noch nicht dagewesene Introspektion durch, die zugleich eine Intensivierung des Stehens vor Gott impliziert und eine Radikalisierung des Sündenverständnisses mit sich bringt. Luther hat »das ›Du sollst‹ des Gesetzes hineinleuchten lassen bis in die letzten unbewußten Regungen der Existenz«62. Gottes Gericht leuchtet für ihn hinein »bis in die letzten Schlupfwinkel unseres Herzens«63 und deckt dort die geheime Selbstsucht auf. Hinter der Forderung radikaler, d. h. selbstloser Gottesliebe bleibt alles im Menschen zurück.64 Dies von vornherein als subjektiv, weil in bloßem »Skrupulantentum« begründet, abzutun, geht nicht an, es sei denn, man wollte eine solch intensive Konfrontation mit dem Willen Gottes a priori als psychopathisch abtun. Ebenso wird von hier aus Denifles Herleitung von Luthers Klosteranfechtungen aus seiner angeblich übersteigerten Triebhaftigkeit und Sinnlichkeit als oberflächliche Konstruktion erkennbar.65 Auf diese Sünde im Singular, die Sünde im strikten Sinne ist, bezieht sich nun primär die Nichtanrechnung durch Gott, ohne dass Luther diese von den Aktualsünden isolieren wollte.66 Da die Wurzelsünde eine falsche Grundhaltung In der Erfahrung der Unbedingtheit des göttlichen Willens und der gleichzeitigen Unfähigkeit des Menschen, ihn frei und freudig zu erfüllen, sieht Holl Luthers persönliches und theologisches Grundproblem und bestimmt von daher Luthers Religion als »Gewissensreligion« (Religion, 35). Vgl. bes. ebd., 19–35; ders., Neubau, 155–217. Ähnlich Grundmann, Römerbrief, 63–105, 115 ff. 61 Vgl. Holl, Luther, 24 f., der es ablehnt, in Luther bloß einen Skrupulanten zu sehen. Luther erfahre vielmehr die allgemein anthropologische Situation unter dem Gesetz bzw. unter der Unbedingtheit des Sittlichen. Siehe auch Bizer, Fides, 42; Grundmann, Römerbrief, 75 ff. 62 So Peters, Glaube, 25. Vgl. 25 f., 135–157 u. ö. 63 Ebd., 29. 64 Vgl. 275,9–16: »Quippe Lex dicit: ›non concupisces‹, sed ›Deum diliges‹. Sed qui aliud concupiscit et diligit, Nunquid Deum diligere potest? At hec concupiscentia semper in nobis est; ergo numquam dilectio Dei in nobis est, Nisi per gratiam incepta, et reliquo concupiscentie adhuc sanando, quo nondum ›diligimus Deum ex toto corde‹, per misericordiam non imputato ad peccatum, donec auferatur et perfecta dilectio donetur credentibus et perseveranter usque in finem pulsantibus.« 65 Das hebt schon Braun, Bedeutung, 32, 40, 239 f., hervor. 66 Vgl. 283,6 f.: »Cum sit impossibile omni actuali [peccato] carere, quamdiu illud radicale permanet et originale«; Pesch, Simul, 151 f.12 60

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ist, kann sie durch gute Werke nicht geheilt werden, welche ja nur wieder jene Grundhaltung erneut »aktualisieren« würden. Luther deutet so schon seine These an, dass jedes gute Werk – nach diesem strengen Maßstab geurteilt – (auch) Sünde ist und bleibt, da jene ichsüchtige Grundhaltung sich nicht nur in offensichtlich gott- und nächstenfeindlichen Handlungen manifestiert, sondern auch im Tun des Guten latent immer mitbestimmend ist. Gottes Barmherzigkeit rechnet aber die Konkupiszenz, obwohl sie bleibt, nicht als Sünde an: »Hoc enim malum, cum sit re vera peccatum, Quod Deus remittit per suam non-Imputationem ex misericordia omnibus, qui ipsum agnoscunt et confitentur et odiunt et ab eo sanari petunt.« (271,20 ff.) Daraus folgt aber: »Sic ergo in nobis sumus peccatores Et tamen reputante Deo Iusti per fidem. Quia credimus promittenti, quod nos liberet, dummodo interim perseveremus, ne peccatum regnet, sed Sustineamus ipsum, donec auferat ipsum.« (271,29–272,2) Die Nichtanrechnung »gilt« solange, wie der Mensch gegen die Sünde kämpft, sie nicht »herrschen« lässt bzw. – wie Luther im Anschluss an Augustinus formuliert – ihr nicht zustimmt (»non consentit«). Willigt der Mensch dagegen durch böse Taten in die Begierden ein, werden diese wieder »angerechnet«.67 Mit der mens dem Gesetz Gottes zu dienen, mit der caro aber noch unter dem Gesetz des Fleisches zu stehen (Röm 7,25), ist nichts anderes »quam non consentire concupiscentiis et peccato, licet peccatum maneat« (320,23 f.). Dem an Christus Glaubenden ist die Versuchung nicht fremd: »Sed finaliter non consentit, licet cum extremo labore et dolore vix resistat ac triumphet.« (330,21 f.)68 Das simul impliziert für Luther eine Unterscheidung, zu deren befreiender Erkenntnis er nur durch einen harten Kampf durchstoßen konnte: Die remissio peccati ist nicht gleich der ablatio peccati! Denn nur wer an dieser Unterscheidung festhält, dem kann die schmerzliche Erfahrung des Bleibens der Sünde in der Form der concupiscentia nicht zum Zweifel an der Realität der Vergebung bzw. zum Indiz eigener Gnadenlosigkeit werden: »Ita mecum pugnaui, Nesciens, quod remissio quidem vera sit, Sed tamen non sit ablatio peccati nisi in spe i. e. auferenda [peccata? concupiscentia?] et data gratia, quae auferre incipit, vt non imputetur ammodo pro peccato.« (274,8–11) Das peccatum originale wird für Luther also in der Taufe vergeben, nicht mehr angerechnet, bleibt aber als Sünde und wird nicht Luther differenziert an dieser Stelle noch nicht zwischen einem voll bewussten, gleichsam trotzigen consentire zur Sünde und einem Sündigen aus Schwachheit. Im letzteren Fall können die Taten nicht ohne weiteres als Erweis des consentire zur Sünde gelten. 68 Zum consensus-Begriff bei Augustin und seiner Rezeption bei Luther vgl. Hermann, These, 139–233. – Luther nimmt schon im Scholion zu Röm 4,7 die später besonders im Antilatomus entfaltete Unterscheidung zwischen peccatum regnans und peccatum regnatum vorweg: Herrscht beim unbekehrten Sünder die Sünde der Konkupiszenz ungehindert, weil der Mensch in sie einwilligt, so ist sie beim Christen beherrscht, weil dieser ihr nicht zustimmt. Vgl. 271,31–272,2: »dummodo interim perseueremus, ne peccatum regnet, sed Sustineamus ipsum, donec aufert ipsum«; 281,8 f.: »semper orantes, ne nobis imputet et peccatum dominari sinat.« Ferner 314,3–6; 331,15.24 ff. 67

Rechtfertigung 123 (völlig) vernichtet. Luther zitiert dafür Augustinus: Die Sünde wird in der Taufe vergeben, »non vt non sit, sed vt non imputetur« (274,1). Entgegen der scholastischen Auffassung wird die Erbsünde ihrer Substanz nach von uns nicht »in ictu oculi«, mit einem Schlag, in einem Augenblick, »sicut tenebre per lucem«, weggenommen (273,5 f.).69 Ganz vernichtet wird sie erst mit dem Tod; insofern muss sie – infralapsarisch – als ein anthropologisches Existential betrachtet werden.70

Exkurs: Zur Genese von Luthers Neubewertung der Konkupiszenz In 273,9–274,1 zitiert Luther jenes Augustinus-Wort, das er in Zukunft immer wieder anführen wird,71 um mit der Autorität dieses Kirchenvaters seine Identifizierung von Konkupiszenz und Erbsünde zu untermauern bzw. um die auch nach der Taufe sich durchtragende Konkupiszenz als Sünde zu werten: »Sed b[ea­tus]. Augustinus preclarissime dixit ›peccatum concupiscentiam in baptismate remitti, non vt non sit, sed vt non imputetur‹.« Wie die vielen wörtlichen Zitate aus Augustins antipelagianischen Schriften in der Römerbrief-Vorlesung beweisen, muss Luther zu dieser Zeit (1515/16) Augustin intensiv studiert haben, so dass sich die Vermutung nahe legt, dass es – neben dem auszulegenden Paulus (vgl. Röm 7,7) – v. a. Augustinus gewesen ist, der Luther zu der genannten Einschät-

Ähnlich 1,43,5–12 (= 4,665,15–22). Dazu Iwand, Glaubensgerechtigkeit, 39 ff.; Dieter, Luther, 302 ff. – Dass Luther die Konzeption von der momentanen Beseitigung der Sünde mittels der gratia infusa durch die Erfahrung bleibender Sündhaftigkeit unglaubwürdig wurde, stellt nach Braun, Bedeutung, 47 ff., 57–66, 169 f., 172, 210 f., 310 ff., das entscheidende Movens dar, welches Luther die Wirksamkeit der Gnade einerseits sanativ-sukzessiv denken, andererseits ihren punktuell-ganzheitlichen Aspekt ausschließlich der göttlichen (non-)imputatio vorbehalten sein ließ. In der Konsequenz des letzteren Moments liege der Schritt zur Heilsgewissheit. Ebenso macht umgekehrt das neue (relational-extern gefasste) Gnadenverständnis den Weg für einen radikalisierten Sündenbegriff frei, weil Letzterer das Erstere nun nicht mehr einschränkt oder schmälert. Zu dieser wechselsei­tigen Abhängigkeit siehe auch Jetter, Taufe, 170 f.; zur Mühlen, Nos extra nos, 11 f., 116– 123, 146 ff. 70 Vgl. 258,8–15; 260,24 ff.: »Ideo Quando oramus perfici Iustitiam et peccatum tolli in nobis, simul vitam istam finire petimus. Quia in hac Vita non perfecte sanatur pronitas ad malum«; 282,34–283,1: »hoc peccatum internum non esse possibile in hac Vita tolli«; 287,23 f.: »Ideo omnes in iniquitate i. e. Iniustitia nascimur, morimur, Sola autem reputatione miserentis Dei per fidem Verbi eius Iusti sumus«; 321,1.10–13: »Usque ad finem Vite sumus in peccatis. […] Sic itaque omnes Apostoli et sancti confitentur peccatum et concupiscentiam in nobis manere, donec corpus in cinerem resolvatur et alius resuscitetur sine concupiscentia et peccato. « 71 Vgl. – neben den im weiteren Verlauf unserer Studie genannten Belegen – an dieser Stelle nur pars pro toto eine Äußerung Luthers 1532 bei Tisch, im ganzen Augustinus seien »duae tantum insignes sententiae« zu finden: neben dem Satz: »Lex impletur, cum, quod non fit, ignoscitur« der Satz »Peccatum dimittitur, non ut non sit, sed ut non damnet et dominetur« (Tr 1,140,7 ff.; Nr. 347). Eine vollständige Liste der Zitationen dieses Augustin-Wortes durch Luther findet sich bei Delius, Augustin, 182. 69

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zung der Konkupiszenz führte. Mit zu veranschlagen ist dabei natürlich auch die rückhaltlos bis in die Tiefen des eigenen Personzentrums vordringende Selbsterforschung Luthers, der bei allem Bemühen um ein tadelloses Leben als Christ und Mönch in sich jene Selbstliebe und falsche Ichbezogenheit im Herzen fortdauern sieht, welche er nicht anders denn als Verstoß gegen das Gebot der vollkommenen Gottesliebe und gegen das Verbot »Du sollst nicht begehren« ansehen konnte. Die Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: Hat Luther Augustinus in dem angeführten Satz, aber auch in dessen Bewertung der Konkupiszenz insgesamt richtig verstanden?72 Die von Luther zitierte Stelle lautet bei Augustin im Zusammenhang: »Si autem quaeritur, quomodo ista concupiscentia carnis maneat in regenerato, in quo uniuersorum facta est remissio peccatorum quandoquidem per ipsam seminatur et cum ipsa carnalis gignitur proles parentis etiam baptizati; aut certe, si in parente baptizato potest esse et peccatum non esse, cur eadem ipsa in prole peccatum sit: ad haec respondetur dimitti concupiscentiam carnis in baptismo, non ut non sit, sed ut in peccatum non imputetur.« (De nuptiis I,25,28 [CSEL 42,240,11–18]) Es fällt sogleich auf, dass Augustin »über die Konkupiszenz als solche, nicht über die Erbsünde« spricht.73 Luther hat also das Wort »peccatum« zu Beginn des letzten Satzes hinzugefügt (deshalb konnte er das »in peccatum« gegen Ende weglassen) und damit von vornherein eindeutig gemacht,74 was bei Augustin offen ist bzw. in der Schwebe gelassen wird: dass nämlich die Konkupiszenz selbst die Erbsünde ist und im Getauften als Sünde zurückbleibt. Augustin selbst scheint an der zitierten Stelle nur die Konkupiszenz vor der Taufe als Sünde anzusehen, auf ihr liegt ein »reatus«, eine Schuld, die aber durch die Taufe weggenommen wird, so dass die Konkupiszenz danach nicht mehr als Sünde, sondern nur als zur Sünde reizender Trieb einzustufen ist, der zwar nach Zu Augustin vgl. diesbezüglich Seeberg, Lehrbuch II, 501–521; Braun, Bedeutung, 139–150; Dinkler, Anthropologie, 82–90, 111–127; Hamel, Luther II, 15–18; Barbel, in: Augustinus, Enchiridion, 204–209; Gross, Geschichte Bd. I, 257–376, bes. 319–333; Bonner, Concupiscentia; Markschies, Taufe. Während Dinkler, Anthropologie, bes. 113 f.; Hamel, Luther II, 34, die vorwiegend geschlechtliche Konnotation der Konkupiszenz bei Augustin betonen, warnen Braun, Bedeutung, 139–143; Gross, Geschichte Bd. I, 324, und Markschies, Taufe, 93 f., davor, diese auf das Sexuelle (trotz dessen nicht zu leugnender Dominanz) einzuschränken. Sie tangiere den ganzen Menschen. Treffend wohl Barbel, a. a. O., 206: »Unter Konkupiszenz versteht A[ugustin]. im allgemeinen eine Anziehungskraft, die den Menschen von den höheren Gütern abwendet und ihn zu den niederen Genüssen drängt […]. Die heftigste dieser Neigungen, die im Gegensatz zur Vernunft und zum Willen Gottes steht, ist die geschlechtliche Leidenschaft.« 73 So Batka, Peccatum, 127. Vgl. zum Folgenden ebd., 127 f.; Hamel, Luther II, 18–23, 34 f.; Grane, Paulus, 141 ff.; ders., Modus, 40 ff. 74 Das bei Augustin ursprünglich im Text stehende concupiscentia hat Luther in seinem Vorlesungsmanuskript erst nachträglich über peccatum eingefügt. Vgl. Ficker, Anm. zu 273,10. – Vgl. auch Denifle, Luther I, 467–474, der Luther deshalb der bewussten Fälschung beschuldigt. Braun, Bedeutung, 151 f., 256 f., weist darauf hin, dass Luther nicht der Erste ist, der die Augustin-Stelle so zitiert. 72

Rechtfertigung 125 der Taufe bleibt, aber eben als Sünde »nicht angerechnet« wird, weil er nicht mehr Sünde ist.75 Dieser Trieb dauert freilich nicht statisch fort, sondern wird durch die Gnade in seiner Wirkkraft geschwächt und gemindert (»minuitur«). Auf die Frage, wie denn die Konkupiszenz, obwohl sie fortdauert, vor und nach der Taufe so unterschiedlich bewertet werden könne, warum also »die Schuldhaftigkeit eines Sachverhaltes aufgehoben sein soll, der als Sachverhalt weiterbesteht«76, antwortet Augustin mit dem Argument: Wie bei bösen Taten ihre Schuld bis zu ihrer Vergebung andauert, obwohl sie selbst schon längst vergangen sind, so fällt umgekehrt bei der Konkupiszenz im Moment der Taufe die Schuld weg, während die Wirklichkeit der Konkupiszenz bleibt. »Dixi sane: Quomodo manent peccata reatu, quae praeterierunt actu; sic e contrario fieri potest, ut concupiscentia maneat actu, et praetereat reatu.« (Contra Julianum, VI,19,60 [PL 44,858])77 Man kann hier freilich die Frage stellen, ob diese Position Augustins in sich konsistent ist und ob von ihr her nicht mit Luther die Konsequenz zu ziehen ist, dass die Konkupiszenz auch nach der Taufe für Sünde erachtet werden muss und nur kraft der permanenten göttlichen Vergebung als Sünde nicht angerechnet wird. Insofern kann auch die nicht ganz korrekte Zitationsweise Luthers durchaus nachvollzogen und muss Denifles Vorwurf der bewussten »Fälschung« als überzogen angesehen werden. Vieles spricht freilich dafür, dass bei Augustinus der Nexus zwischen »reatus« und Konkupiszenz ein oberflächlicher, d. h. letztlich nicht im Wesen der Konkupiszenz, sondern ausschließlich im Willen Gottes begründeter ist. Darum hält der »reatus« bzw. der Sündencharakter der Konkupiszenz auch nur solange an, wie Gott es will, d. h. bis zur Taufe.78 So Grane, Modus, 41, mit Bezug auf De nuptiis I,26,29 (CSEL 42,241,20 f.): »Hoc est enim non habere peccatum, reum non esse peccati.« Grane urteilt deshalb, »daß Augustin hier gründlich missverstanden wurde«. 76 Markschies, Taufe, 95. 77 Vgl. De nuptiis I,26,29 (CSEL 42,242,3–6); Contra Julianum II,3,5 (PL 44,676; zitiert bei Luther 56,72,16 f.; 2,585,4 f.). Auf diese Argumentation bezieht sich Luther auch 7,109,7–14 bzw. 7,343,10–17. Siehe Delius, Augustin, 182 f. 78 So auch Gross, Geschichte Bd I, 330 f., 370 f. – Man könnte einwenden, dass mit Luthers Übernahme der Unterscheidung Augustins – der reatus der Konkupiszenz wird durch die Taufe weggenommen, während ihr actus bleibt – sich der Sündencharakter der Konkupiszenz überhaupt nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Denn liegt wirklich noch Sünde im eigentlichen Sinne vor, wenn die Schuld aufgehoben ist? Anders gefragt: Besteht zwischen Luther und der katholischen Position noch ein nennenswerter Unterschied, wenn nach Luther die bleibende Sünde dem, der ihr nicht zustimmt, von Gott nicht angerechnet wird, d. h. von Gott nicht zu trennen, das ewige Leben nicht zu verwirken vermag? Bleibt dann nicht tatsächlich nur ein bloßer »Zunder«, ein bloßes »Material« zur Sünde zurück? Luther verneint dies beharrlich, und zwar deshalb, weil für ihn die Beseitigung des Schuldcharakters der Konkupiszenz nur durch göttliche Nichtanrechnung bzw. Vergebung geschieht, während die Konkupiszenz in sich, d. h. in ihrem gegengöttlichen Streben fortdauert und sonach Sünde und Schuld, also verdammenswert und von Gott trennend bleibt. Und dies wesentlich deshalb, weil sie das Personzentrum, den Willen des 75

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Indessen gibt es bei Augustin hinsichtlich der Konkupiszenz noch eine zweite Aussagereihe, die Luther nicht berücksichtigt: Augustin kann nämlich sehr wohl die Konkupiszenz nur im übertragenen Sinn Sünde nennen, »nach einem gewissen Sprachgebrauch« (»sed quia modo quodam loquendi peccatum uocatur«: De nuptiis I,23,25 [CSEL 42,238]) – nämlich deshalb, weil die Konkupiszenz aus der Sünde stammt und zur Sünde wieder hinführt: »Sed haec [concupiscentia] etiamsi uocatur peccatum, non utique quia peccatum est, sed quia peccato facta est, sic vocatur, sicut scriptura manus cuiusque dicitur, quod manus eam fecerit. peccata autem sunt, quae secundum carnis concupiscentiam uel ignorantiam inlicite fiunt, dicuntur, cogitantur; quae transacta etiam reos tenent, si non remittantur.« (Contra duas epistolas Pelagianorum I,13,26 f. [CSEL 60,445,19–24]) Eigentliche Sünde liegt folglich nur dann vor, wenn der Mensch der Konkupiszenz nachgibt, also in solchen Handlungen, die aufgrund der Konkupiszenz ausgeführt werden, nicht aber in dieser selbst. Nach dieser Linie ist die Konkupiszenz wesentlich Folge der Ursünde des ersten Menschen, welche für Augustin aber schuldhaft die Sünde aller Menschen ist und die in Hochmut (superbia) und Eigenliebe (amor sui) Adams anzusetzen ist. Sie zieht als Strafe Gottes Unwissenheit (ignorantia), Sterblichkeit (mortalitas) und eben die Konkupiszenz nach sich, die Augustin deshalb einerseits als »filia peccati« (d. h. der Ursünde), andererseits aber als »mater peccatorum multorum« (d. h. der aus ihr erwachsenden Tatsünden) bezeichnen kann (De nuptiis I,24,27 [CSEL 42,240,5–7]). Augustin hat diese beiden Aussagereihen nicht ausgeglichen, ja offenbar ihre Inkompatibilität nicht empfunden.79 In ihnen spiegelt sich die Duplizität des Sündenbegriffs (Sünde als Menschen noch besetzt hält, was bei Augustin so nicht gesagt wird. Die Macht der Sünde ist darum »nicht auf seiten der Sünde gebrochen […] – diese bleibt, was sie ist, mit allen Konsequenzen –, sondern die Brechung dieser Macht [ist] eine Wirklichkeit auf seiten Gottes« (Pesch, Theologie, 119; vgl. ebd. 115–120). Vgl. 56,351,11.16 f.: Von der Konkupiszenz gilt: »in se quidem rea est. […] Ergo ipsa rea et nos rei sumus, donec cesset et sanetur. Sed non sumus rei, dum non operamur secundum eam, Dei misericordia non imputante reatum infirmitatis«; 350,9 f.; 513,17–20. 79 So auch Markschies, Taufe, 103 f. Anders Dinkler, Anthropologie, 1182, Pannenberg, Anthropologie, 83–86. Vgl. Seeberg, Lehrbuch II, 508 f.: »Danach also ist die Concupiscenz Strafe und als Strafe der Möglichkeitsgrund neuer Sünden, die aber durch die Zustimmung des Willens erst verwirklicht werden […] und dann neue Strafen herbeiführen. Somit wäre also die Concupiscenz als solche nie Sünde, sondern nur Folge der Sünde und damit zugleich der Möglichkeitsgrund der Sünde. Die Sünde dagegen als solche ist ein reatus, der auf freier Tat beruht. […] Nun wird diese in sich geschlossene Betrachtungsweise dadurch modifiziert, daß Augustin die Concupicenz selbst zum Träger des reatus macht.« Vgl. ebd., 510 f., 517 ff. Seeberg hält allein die erstere Sicht für die ursprüngliche Meinung Augustins und die innerhalb seines Ansatzes konsequentere. Ein Übergewicht der Auffassung, wonach »ein eigener Reat der Konkupiszenz freilich nicht zu[kommt]«, sieht letztlich auch Hermann bei Augustin gegeben und folgert: »Hier hat Luther den Augustin mißverstanden.« (These, 48; vgl. ebd., 39–48) Braun, der ebenso urteilt (Bedeutung, 153 f., 171 f.), bezieht die oben referierte zweite Aussagelinie Augustins ausschließlich auf die

Rechtfertigung 127 konkrete böse Tat und Sünde als universale Macht) wider. Während Luther sich eindeutig für die von uns zuerst referierte Linie entschieden hat, griff die katholische Position vorwiegend auf die zweite Aussagereihe zurück. Beide können sich deshalb auf augustinisches Erbe berufen.80 Gehen wir nun der Frage nach, seit wann Luther dieser dezidierten und seitdem lebenslang festgehaltenen Überzeugung vom Sündencharakter der Konkupiszenz ist?81 Aus seinen Randbemerkungen zum Sentenzenbuch des Petrus Lombardus, dem klassischen dogmatischen Lehrbuch des Mittelalters, über das Luther 1509–1511 Vorlesungen gehalten hat,82 wissen wir, dass Luther 1509 noch den traditionellen Standpunkt vertrat.83 Denn zu Sent. II, Dist. 32,1,1–2 führt er aus, dass die Erbsünde nicht die Konkupiszenz bzw. der Zunder (fomes) selbst sein kann, da diese (in der Taufe) nur geschwächt, nicht aber (wie das peccatum originale) ganz beseitigt würden (9,75,11 ff.). Die Konkupiszenz, die Luther jetzt noch ganz vom Leib-Seele-Dualismus her versteht, sei nichts anderes als die »inoboedientia carnis ad spiritum84, quae de se non est culpa, sed poena« (75,16 f.). Denn wäre sie in irgendeiner Weise Schuld und in der Taufe nicht nachgelassen bzw. beseitigt (dimitti), so würde dies die Wirkkraft der Taufe und der Gnade Gottes schmälern (»injuria fierit baptismo et gratia dei«: 75,19). Luther präsenKonkupiszenz in den Getauften, so dass für Augustin die Konkupiszenz vor der Taufe eindeutig Sünde wäre. Vgl. ebd., 145–150. 80 Vgl. Markschies, Taufe, 103, 106, 107 f. – Saarinen, Mönchstheologie, 271–276, zeigt auf, dass sich, anknüpfend an den universalisierten Sündenbegriff Augustins, bei Gregor dem Großen, in der mittelalterlichen monastischen Theologie, aber auch bei Petrus Lombardus (Sent. II, 24,6–12; 33,5,5) die Position findet, wonach schon die ersten, unwillkürlichen bösen Regungen der Seele (primi motus, propassiones) und nicht erst die sekundär vom Willen mitgetragenen Regungen lässliche Sünde seien. Nach Saarinen stellt dies ein wesentliches Bindeglied zwischen Augustin und Luthers Identifizierung von Konkupiszenz und Erbsünde dar. Jedoch ist in dieser Willenstheorie der primus motus bzw. die propassio offenbar primär von außen stimuliert und auf den sinnlichen Seelenteil konzentriert, während bei Luther die Konkupiszenz wesentlich aus dem Inneren des Menschen, seinem Personzentrum aufsteigt. Neben der Position der monastischen Theologie gab es – so Saarinen (276–281) – freilich die sich von der Stoa (und ebenfalls von Augustin!) herleitende Auffassung (Johannes Buridan und Luthers Erfurter Lehrer), wonach erst der Konsens zur bösen propassio diese zur Sünde mache. Saarinen resümiert: »Im Rahmen der mittelalterlichen Diskussion kann Luthers simul iustus et peccator als Radikalisierung der gregorianischen Variante der augustinischen Sündenlehre verstanden werden.« (285; vgl. 289) 81 Zu Luthers Konkupiszenzverständnis auf dem Hintergrund Augustins und der Scholastik vgl. immer noch Braun, Bedeutung. 82 Vgl. Brecht, Luther I, 98–101. 83 Vgl. zum Folgenden 9,75,10–76,9. 84 So dass es der ratio nun seit dem Ungehorsam des Sündenfalls und dem damit verbundenen Verlust der iustitia originalis schwerfällt, Gottes Gebot gegen die caro durchzusetzen, was zuvor mit großer Leichtigkeit geschah. Es fehlt dieser jetzt der »Zügel« der ursprünglichen Gottverbundenheit: 75,22–26.

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tiert hier also genau jenes Argument, das später immer wieder gegen das simul peccator vorgebracht werden wird.85 Auch für ihn ist aber 1509 vor der Taufe der Konkupiszenz als fortdauernder Sündenstrafe eine culpa bzw. ein reatus »angehängt« (annexa: 75,19 ff.), der in der Taufe »gelöst« wird (solvitur: 75,36), so dass die Konkupiszenz den Getauften nicht schadet (76,1 f.), wobei offen bleibt, ob sich der reatus streng auf die Konkupiszenz selbst oder nicht letztlich auf die fehlende iustitia originalis bezieht. Letzteres scheint wahrscheinlicher zu sein, da Luther zufolge die Konkupiszenz nur deshalb ein malum ist, weil ihr die Ursprungsgerechtigkeit fehlt und sie okkasionell zur Tatsünde führen kann (76,5–8).86 Luther lehnt in jedem Fall die Auffassung des Sentenzenmeisters ab, »quod peccatum originale sit fomes, languor naturae, tyrannus etc. Haec enim omnia sunt nomina carnis inoboedientis, furentis, indomitae contra spiritum quae sic facta est ex ablatione iustitiae originalis« (75,27–30).87 Im Übrigen weiß Luther 1509 darum, dass die Konkupiszenz bei Augustinus im zweifachen Sinn aufgefasst werden kann (»dupliciter potest capere«): nämlich einmal unter Einschluss der Schuld (»prout includit culpam«), zum anderen unter Ausschluss der Schuld (»cum exclusione culpae«). Im letzteren Fall ist sie nicht »per se mala«, sondern nur »per accidens«, d. h. allein Sündenstrafe, wobei die Seele nur sündigt, wenn sie der Neigung und dem Schwergewicht der Konkupiszenz nachgibt, im ersteren Fall kann sie »malum in carne« genannt werden (75,36–76,8). Für die erste Psalmenvorlesung (1513–1515) muss wohl ebenfalls davon ausgegangen werden, dass Luther in ihr die nach der Taufe verbleibenden »Sündenreste« noch nicht eindeutig als Sünde ansieht. Allenfalls könnte gesagt werden, dass Luther auf dem Weg zu dieser Position ist.88 Wir greifen, um dies zu zeigen, Als zweite Begründung für die Negation des erbsündigen Charakters der Konkupiszenz findet sich bei Luther der Gedanke, dass die Sünde nur eine reine privatio und nicht eine positive qualitas sein kann (73,30–41; 75,8). 86 So auch Jetter, Taufe, 167. 87 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, Dist. 30,8,1–2; Dist. 32,1,1. Der spätere Luther hat also in Petrus Lombardus diesbezüglich einen Vorläufer, allerdings interpretiert der Lombarde die Konkupiszenz primär als gegenüber dem Geist dominante Sinnlichkeit, was auch in Luthers Römerbriefvorlesung noch nachklingt. Dazu unten Kap. 5. Der Luther von 1509 schließt sich in seiner Ablehnung der Identifizierung von Erbsünde und Konkupiszenz der Meinung von Anselm, Skotus, Ockham und Biel an, welche die Erbsünde in die fehlende Urstandsgerechtigkeit verlegen. 88 So Batka, Peccatum, 115. Vgl. etwa 4,364,5–14 (Zitation von 1.Joh 1,8), bes. 5–10.12 ff.: »Quis enim gloriabitur se esse purum spiritum et non habere adhuc carnem adversariam spiritui, etiam si iam nec luxurie nec avaritie aut aliarum manifestarum nequitiarum pars aut tentatio in ipso sit? […] Semper ergo peccamus, semper immundi sumus. […] Et quia spiritus et caro unus homo est, sine dubio culpa hominis est, quod caro tam mala est et male agit.«  Zu weit gehen dürfte Hamel, Luther I, 114, wenn er auf Grund dieser Stelle urteilt, Luther habe sich schon Augustins Identifizierung von Konkupiszenz und Erbsünde zu eigen gemacht. Vgl. ebd., 109–115. Ähnliches gilt für O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 6 f.1; zur Mühlen, Nos extra nos, 8–12, 45–49, die jeweils Passagen aus den Dictata 85

Rechtfertigung 129 nur auf ein schon angeführtes Zitat89 aus der Auslegung von Ps 50 (51),12 zurück: »Semper enim in nobis est reliquum et reliquie peccatorum, scilicet inclinationis et motus mali ad iram, superbiam, gulam, accidiam, quae sunt coram eo peccata, mala et damnabilia: ideo semper punienda.« (3,292,33–36) Luther rechnet hier einerseits klar mit permanenten »reliquiae peccatorum« nach der Taufe in der Form einer aktiven Neigung oder eines Antriebes zu Zorn, Hochmut, Genusssucht und Traurigkeit, also Regungen, die durchaus mit dem späteren, weitergefassten, d. h. nicht auf die Sinnlichkeit beschränkten Konkupiszenzbegriff in Verbindung gebracht werden können. Geht man nun davon aus, dass sich das Relativpronomen »quae« nicht auf die inclinatio bzw. den motus selbst,90 sondern nur auf deren tatsächliche »Früchte«, also auf aktuellen Zorn, Hochmut, Genusssucht und Traurigkeit bezieht, dann gelten Luther nur diese selbst und nicht schon die Neigungen dazu als verdammens- und strafwürdige Sünden. Greift das »quae« aber nicht auf die Folgen der Sündenreste allein, sondern auch auf diese selbst zurück, dann würden Letztere selbst als Sünde qualifiziert. Je nachdem, wie man im Kontext der gesamten Dictata super Psalterium an dieser Stelle votiert, rechnet Luther in ihnen noch nicht mit dem Sündencharakter der Konkupiszenz oder er befindet sich im Übergang zu dieser Auffassung.91 Mit der Erbsünde selbst sind die reliquiae peccati im zitierten Passus aber noch nicht identifiziert. Eindeutig ist die Konkupiszenz als Sünde bestimmt in einer Predigt Luthers vom 26.12.1514 oder 26.12.1515, die Datierung schwankt also, obwohl sie gerade an dieser Stelle eminente Bedeutung besitzt:92 Gott hat uns die Unmöglichkeit, sein Gesetz zu erfüllen, auferlegt, damit wir seine Gnade in Christus suchen, und diese Unfähigkeit des Menschen im Blick auf das Gesetz erweist sich insbesondere an der Konkupiszenz: »Nam si cognoscatur, quod nullis consiliis, nullis auxiliis nostris concupiscentia ex nobis possit auferri, et haec contra legem est, quae überinterpretieren. Jetter, Taufe, 1701, sieht die »vorsündliche Neutralität« der Konkupiszenz faktisch sogar schon in Luthers Randbemerkungen zum Lombarden in Frage gestellt, wenn diese das initium peccati bzw. die cupiditas als superbia, contemptus dei und amor sui auslegen (9,69,6 f.; 81,33 f.). 89 Siehe oben Anm. 1. 90 Dies nimmt Batka, Peccatum, 113, an: »Wichtig ist, dass Luther in seiner Folgerung die Reste der Sünden in Form von böser Neigung, als auch auch ihre Folgen in Gesamtheit als sündig, schlecht und verdammenswürdig bezeichnet.« Siehe ebd., 113 ff., bes. 115. 91 Zum vielschichtigen Befund in den Dictata vgl. Brush, Gotteserkenntnis, 84–89, 99, 111. 111105 führt Brush gegen den Schuldcharakter der Konkupiszenz 3,453,7–11 an: »Quia dimissa culpa adhuc multa nobis restant de peccato inflicta, scilicet infirmitas in memoria, coecitas in intellectu, concupiscentia sive inordinatio in voluntate. Ex quibus tribus omne peccatum originaliter descendit. Ipsa autem sunt reliquie peccati originalis etiam dimissi in baptismo.« Die Umschreibung der Konkupiszenz als »inordinatio in voluntate« zeigt, wie Luther schon zu einem vertieften Konkupiszenzbegriff unterwegs ist. 92 WA 1,30 und Aland, Hilfsbuch, 206, datieren auf 1514, Denifle, Luther I, 3991, 4091, sowie Kroeger, Rechtfertigung, 82 f.89, auf 1515. Die sachliche Nähe zur Römerbriefvorlesung spricht für das spätere Datum.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

dicit ›non concupisces‹, et experimur omnes invicibilem esse concupiscentiam penitus«: dann müsste alle Weisheit des Fleisches aufhören und anderswo Hilfe gesucht werden (1,35,34–39). Entscheidet man sich für die spätere Datierung der Predigt, dann wäre Luther mithin erst während der Römerbriefvorlesung, also 1515, zur klaren Einsicht in den Sündencharakter der Konkupiszenz bzw. der bösen inneren Regungen gelangt,93 bei ihrer Frühdatierung schon während der ersten Psalmenvorlesung, wobei dann allerdings zu erwarten wäre, dass sich diese Erkenntnis in den Dictata selbst widerspiegelt. Geht man deshalb eher davon aus, dass Luther jene neue Sicht erst im Jahr 1515 gewann, dann führt dies aber zu der weiteren Schlussfolgerung, dass das simul iustus et peccator, von einigen Annäherungen abgesehen,94 in der ersten Psalmenvorlesung eigentlich noch gar nicht vorliegen kann, denn die Formel setzt ja gerade die deutlich erkannte Sündigkeit der existential-anthropologisch gedachten Konkupiszenz voraus.95

1.1.4 Die kerygmatische Funktion des »simul« Wilfried Joest unterscheidet zwischen dem inhaltlichen Sinn und der seelsorglich-kerygmatischen Funktion des lutherischen simul und sieht bei Letzterer ein dreifaches Motiv gegeben: das Demuts-, Kampfes und Trostmotiv.96 Das simul iustus et peccator, für Joest genauer: seine Lehre und Verkündigung,97 dient einmal dazu, den Menschen in der Demut vor Gott und d. h. in seiner lebenslangen, nicht abzuarbeitenden Angewiesenheit bei der Gnade festzuhalten (sola gratia). Weiter weist das simul – entgegen manchen Fehldeutungen – den Christen in den bis zum Tode dauernden Kampf gegen die Sünde ein. Es lähmt also nicht den Heiligungswillen, sondern ist ein Aufruf, obwohl man irdisch stets Sünder bleibt, sich

So schon Denifle, Luther I, 453 f., und Braun, Bedeutung, 421 (gegen Loofs, Leitfaden, 696). Vgl. auch Batka, Peccatum, 125–132, 263 f. – In 4,690,3–692,12 (einer Predigt, die wohl nach der Römerbriefvorlesung enstanden ist, vollzieht Luther sehr unaufgeregt den Übergang von der Bestimmung der Erbsünde als carentia originalis iustitiae zur ihrer Deutung als bis zum Tode bleibende propensio mali bzw. mala. Das dürfte deshalb möglich geworden sein, weil Luther die carentia originalis iustitiae inhaltlich so füllt, dass sie den ganzen Menschen fundamental beeinträchtigt und so mit der Konkupiszenz eng zusammenrückt. Der Text findet sich erneut 1527 in deutscher Fassung in Roths Festpostille: 17 II,282,15–286,37. 94 Siehe oben Anm. 1. 95 Nach Kasten, Taufe, 180 ff., liegt in den Randbemerkungen zum Lombarden kein simul vor, da die Konkupiszenz noch nicht als Sünde gilt. 96 Vgl. Joest, Paulus, 310–317. – Im Demutsmotiv ist für Joest das doxologische impliziert: durch das Bekenntnis des bleibenden Sünderseins wird die Gnade und Barmherzigkeit Gottes gepriesen. 97 Die folgenden Textbelege zeigen, dass Luther selbst diese Differenzierung nicht scharf durchführt. Bei Joest hängt sie mit seiner Auffassung zusammen, derzufolge nur die Frage nach dem Warum des Bekenntnisses zum simul peccator, nicht aber nach dem Warum des Tatbestandes des simul peccator theologisch legitim ist. Dazu s. u. Teil II, Kap. 3.6. 93

Rechtfertigung 131 mit der Sünde nicht abzufinden. Und schließlich kommt dem simul – besonders in der Anfechtung – eine tröstende Funktion zu: Zwar bist und bleibst Du trotz all deines Bemühens Sünder, aber verzweifle deswegen nicht, sondern blicke auf Christus, in dem Du ganz gerecht und heilig bist!98 Die beiden zuerst genannten Motive finden sich schon deutlich in der Römerbriefvorlesung. So heißt es, dass Gott uns deshalb in der Sünde des fomes und der concupiscentia belässt, damit wir demütig bleiben und seine Gnade suchen: »Deus enim ideo nos in peccato isto, in fomite, in concupiscentia derelinquit, Vt nos in timore sui et humilitate custodiat, vt sic ad eius gratiam semper recurramus.« (281,5 ff.)99 Das Festgehaltenwerden in der Demut wird eng mit dem Kampf gegen die bleibende Sünde verbunden – sie ist zwar da, darf aber nicht herrschen, sondern soll dem »Geist« unterworfen sein, ja durch ihn zerstört werden.100 So berechtigt auch die Beichte Diesen drei kerygmatischen Motiven korrespondieren – wenn auch nicht in einliniger, direkter Entsprechung – die drei Gesprächspartner, die Luther mit seinem simul vor Augen hat: Mit der Unterscheidung von Sündenvergebung und Befreiung von der Sünde hat er zum einen jene Theologen ockhamistischer Prägung im Visier – er nennt sie im lateinischen Text deutsch »Sawtheologen« (274,14) –, welche die natürlichen, nach dem Sündenfall weitgehend unversehrt gebliebenen Fähigkeiten des Menschen so hoch einschätzen, dass der Mensch das Gebot Gottes nach dem geforderten Tatbestand (»secundum substantiam facti«), wenn auch nicht nach der Meinung des Gesetzgebers (»secundum intentionem precipientis«), also mit der übernatürlichen Gnade versehen, erfüllen könne (274,11–275,25; 278,25–279,21). Für Luther wird dadurch aber die Erbsünde abgeschwächt und dem Menschen eine verdienstliche Vorbereitung auf das Heil eingeräumt. Er argumentiert so: Bleibt die Erbsünde selbst nach der Taufe, ist sie mithin vergeben, aber nicht vernichtet, so kann doch erst recht dem unbekehrten Sünder kein Mitwirken zu seinem Heil eingeräumt werden. Weiter hat Luther jene Christen im Blick, die wähnen, durch die Eingießung der sakramentalen Gnade in der Taufe bzw. (nach einer Todsünde) durch ihre Erneuerung in der Beichte von Sünde völlig frei zu sein und deshalb selbstsicher im Kampf gegen die Sünde erlahmen, so dass diese erneut die Oberhand gewinnt (281,22–282,18). Schließlich geht Luther mit dem simul auf Christen mit einem ethischen Vollkommenheitswahn ein, die der Überzeugung sind, sie könnten durch eigene Bemühung die Erbsünde selbst auslöschen und vor Gott ganz rein sein, letztlich aber in der Verzweiflung enden (s. o.). Die Sünde bleibt aber bis zum Lebensende! Luther sieht bei allen drei Gruppen letztlich eine Konzentration auf die Tatsünde und eine Verharmlosung der Erbsünde gegeben, so dass man nicht vollständig von der Gnade bzw. Barmherzigkeit Gottes leben will. Vgl. Joest, Paulus, 310 f. 99 Vgl. 306,31–307,1: »›Scientia autem inflat‹, sic et Iustitia. Rursum Ignorantia humiliat, sic et peccatum«; 281,19 ff. verbindet Luther mit dem Demutsmotiv das der Sehnsucht nach dem zukünftigen Leben, wo wir ganz frei von der Sünde sein werden: »Quo consilio misericordissimo [wonach nur dem die Sünde nicht angerechnet wird, der seufzt, sich fürchtet und beharrlich Gottes Barmherzigkeit anruft] nos piissimus Deus cogit ad tedium huius vite, ad spem future vite, ad desiderium gratie sue, ad odium peccati, ad penitentiam«; 258,11–15. 100 Vgl. 314,3–6: »Quia Aperta Causa humilitatis est, Quod peccatum in nobis manet, Sed ›non dominatur nobis‹, Quia subiectum est spiritui, vt ipse destruat ipsum, Quod prius regnavit super ipsum.« Ganz ähnlich 350,5–12: »Igitur peccatum est in spirituali homine 98

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nicht zu einem ruhigen Leben, sondern weist geradewegs durch die Sündenvergebung in die militia Dei bzw. Christi ein.101 Im Blick auf die Trostfunktion des simul wird man freilich konstatieren müssen, dass sie in der Römerbriefvorlesung – verglichen mit späteren Texten – kaum oder nur marginal ausgeprägt ist.102 Im Scholion zu Röm 4,7 findet sich der explizite Verweis auf das Zugleich als Trost in der Anfechtung nicht. Jedoch ist die tröstliche Funktion des simul hier zumindest als Möglichkeit angedeutet, wenn man Luthers befreiende Entdeckung der Unterscheidung von remissio und ablatio peccati in Rechnung stellt (274,2–11).103 In ähnliche Richtung könnte es weisen, wenn Luther sich mit der Einschärfung des Bleibens der Sünde bei »bloßer« Nichtanrechnung durch Gott zum einen gegen solche wendet, die sich in falscher Sicherheit (securitas) wähnen: Sie reduzieren die Sünde auf die Tatsünde, glauben von dieser durch die Beichte frei zu werden und streiten dann nicht weiter gegen die bleibende Grundsünde durch demütige Gottesfurcht und Ausfegen der Sünde (281,22–282,18). Zum anderen argumentiert Luther gegen solche, die gleichsam in einem rigoristischen Übereifer ganz rein werden und das peccatum internum selbst ausrotten wollen. Sie glauben, dass sie Gott erst gefallen, wenn sie von jeder Sünde rein sind. Da das aber nicht gelingen kann – die Sünde soll bekämpft und geschwächt werden, aber sie bleibt bis zum Tod –, geraten sie in Traurigkeit und Verzweiflung: »tristes, deiecti et desperati fiunt.« Sie wissen nicht, dass man zwar die Sünde bekämpfen, aber doch im nüchtern-realistischen Wissen um ihr lebenslanges Bleiben ganz auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen soll, welche die relictum ad exercitium gratie, ad humilitatem superbie, ad repressionem presumptionis; quod qui non sedule studuerit expugnare, sine dubio iam habet, etiamsi nihil amplius peccaverit, unde damnetur. Non enim ad ocium vocati sumus, sed ad laborem contra passiones.« Gott wird die Sünde nur denen nicht anrechnen, »qui viriliter agressi cum suis viciis gratiam Dei invocantes pugnant«. 101 Vgl. 350,12–17: »Quodcirca Qui ad Confessionem accedit, Non putet se onera deponere, vt quietus viuat, Sed Sciat, Quod onere deposito aggreditur militiam Dei et alius onus subit pro Deo contra diabolum et vitia sua domestica. Quod nisi sciat, cito recidiuet. Ideo qui non intendit deinceps pugnare, Vt quid petit absolui et ascribi militie Christi?« Siehe auch 276,10 f.: »[Superbi] Nihil solliciti sint et concupiscentiis bellum incidere per Iuge suspirium ad Dominum«; 282,9 ff.: »Quis enim eorum intelligit ista duo simul, quod sint azymi et tamen expurgandum sit eis fermentum vetus?« 102 Joest, Simul, 312 f., versucht seinerseits, das Trostmotiv des simul bei Luther schon rein quantitativ zu relativieren – und zwar aus dem Bestreben heraus, die Missdeutung des simul als quietistisches Sich-Abfinden mit der Sünde und Lähmung der Heiligung abzuwehren. Ob der tröstliche Charakter von Luther tatsächlich später nur »selten« herausgestellt wird, wird unsere Studie zeigen, der Blick sollte sich dabei aber nicht vom abusus der simul-Formel bestimmen lassen. 103 Iwands Urteil (Glaubensgerechtigkeit, 39) im Blick auf diesen Text dürfte zu weit gehen, es trifft wohl erst für den reformatorischen Luther zu: »Luther hat dieses Zugleich [von Sünde und Gerechtigkeit] als eine beglückende und befreiende Erkenntnis gefunden.«

Rechtfertigung 133 Sünde nicht anrechnet. Sie sind der ersten Gruppe insofern verwandt, als sie jene Sicherheit, ja Emanzipation von der Gnade Gottes erstreben, die jene schon (punktuell) erreicht zu haben glauben. Sie sind daher »ignorantes Dei misericordiam, quam implorare debuerant, ne imputaret eis, quod mundi non sunt«. Über beide Gruppen sagt Luther zusammenfassend: »Igitur illi ad dextram abiecto timore per securitatem, isti ad sinistram abiecta misericordia per desperationem peccant, ignorantes, hoc peccatum internum non esse possibile in hac Vita tolli. […] Regia via et via pacis in spiritu est peccatum quidam nosse et odisse et ita in timore Dei incedere, ne imputet et dominari permittat, Et tamen orare misericordiam eius, Vt nos ab eo Liberet et non imputet.« (282,33–283,10) Hier, wo Luther schon hellsichtig securitas bzw. superbia und desperatio als die beiden Grundsünden erfasst, hätte nun ein expliziter Hinweis auf das Tröstliche des simul nahegelegen, aber Luther vermag dem Verzweifelten im Grunde nur anzuraten, die göttliche Barmherzigkeit »anzuflehen« (implorare), dass diese die Sünde nicht anrechne (282,31 f.). Er vermag aber nicht die Vergebungsgewissheit durch das gläubige Vertrauen auf das Wort des Evangeliums zuzusprechen.104 Man wird diese Unterbestimmung des tröstlichen Charakters des simul auf die Eigentümlichkeit der Theologie des frühen Luther überhaupt zurückführen können, welche auch in der Römerbriefvorlesung noch zu beobachten ist: Die Haltung des Menschen Gott bzw. seinem Wort gegenüber wird in erster Linie in der Demut (humilitas), ja im Zunichtewerden sowie im Sündenbekenntnis, im Seufzen und Flehen um Nichtanrechnung der Sünde gesehen, die aus dem Glauben als Wurzel (als der Anerkenntnis dieses uns im Kreuz Christi vorgezeichneten Weges) hervorgehen oder selbst Glaube genannt werden.105 Den Heilsglauben im Das spätere »Hinfliehen zu Christus« in der Anfechtung findet sich freilich im Scholion zu Röm 2,15 (204,14–22) vorweggenommen: »Vnde ergo Accipiemus defendentes [cogitationes]? Non Nisi a Christo et in Christo. Cor enim credentis in Christum, si reprehenderit eum et accusaverit eum contra eum testificans de malo opere, Mox auertit se et ad Christum conuertit dicitque: Hic autem satisfecit, hic Iustus est, hic mea defensio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Si autem Iustitiam suam meam fecit, iam iustus ego sum eadem iustitia, qua ille. Peccatum autem meum illum non potest absorbere, sed absorbetur in abysso iustitie eius infinita.« – Ähnlich 266,25–267,7: Der Teufel bedrängt bestimmte Menschen damit, »ut conentur esse mundi et sancti sine omni peccato. Et quamdiu sentiunt se peccare et obrepere aliquod malum, ita Iudicio terret et conscientiam fatigat, Vt prope desperent. […] Incipit eos ad propositum suum Iuuare, ita vt nimium festinent exuere omnem concupiscentiam. Quod Vbi non poterunt, tristes, deiectos, pusillanimos, desperatos et inquietissimos in conscientia facit.« Luther gibt hier den Ratschlag: »Restat igitur in peccatis nos manere oportere et in spe misericordie Dei gemere pro liberatione ex ipsis. Sicut Sanandus, qui nimium festiant sanari, certe potest gravius recidiuare. Paulatim ergo sanari oportet et aliquas imbecellitates aliquamdiu sustinere. Sufficit enim, quod peccatum displicet, etsi non omnino recedat. Christus omnia portat, si displiceant et iam non nostra, Sed ipsius sunt et Iustitia eius nostra vicissim.« Siehe auch 354,14–22. 105 Vgl. nur 218,7–15: »Concludamus ergo, Quod Deus in sermonibus suis non potest 104

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späteren Sinn als reines Empfangen des göttlichen Vergebungswortes – abgesehen von der Qualität und Intensität der menschlichen Haltung und Zuwendung zu Gott – kennt Luther in der Römerbriefvorlesung wie in seiner Frühtheologie generell noch nicht. Dem korrespondiert, dass das göttliche Wort in erster Linie das den Menschen seiner Sünde überführende Gerichtswort darstellt, welches für denjenigen je und je zum »Evangelium« wird, in Evangelium »umschlägt«106, der dieses göttliche Urteil seinerseits im Sündenbekenntnis (= im Glauben) nachvollzieht.107 Ein vom Gesetz unterschiedenes »anderes«, zweites Wort108, das eindeutige Wort der Vergebung, begegnet in der frühen Theologie Luthers noch nicht. Dies impliziert ein Doppeltes: Einmal kommt immer wieder der Verdacht auf, dass trotz aller Rede von der Gnade bzw. Gnadengewirktheit von Demut und Sündenbekenntnis109 diese dennoch quasi meritorische Konditionen des Heils seien.110 Sapiens, Iustus, verax, fortis, bonus etc. fieri, nisi nos ei credendo et cedendo confiteamur nos insipientes, iniustos, mendaces, infirmos, malos esse. Ergo humilitate et fide opus est. Que et sola istis verbis queritur et statuitur, Vt penitus nihil fiamus, omnibus euacuemur, exinaniamus nos ipsos«; 259,18 ff.: »Ideo Nullus sanctorum se Iustum putat aut confitetur, sed Iustificari semper petit et expectat, propter quod a Deo iustus reputatur, quia respicit humiles«; 271,27 f.: »Sed misericordia Dei est, Quod hoc [peccatum] manet et non pro peccato reputatur iis, qui invocant eum et gemunt pro liberatione sua«; 276,8 f.: »quomodo per gemitum humiliter gratiam sanantem querant et se peccatores agnoscant«; 276,33–36: »Et sic ipsis [sanctis] primo reputatis propter humilem fidei gemitum postea reputata et Approbata sunt et opera. Tu autem, peruersor stulte, incipis primo ab operibus reputatis, dimittens interiorem gemitum, quo tu reputareris, sicut et illi«; 281,5 ff.18 f.: »Deus enim ideo nos in peccato isto, in fomite, in concupiscentia derelinquit, Vt nos in timore et humilitate custodiat. […] quod statuerit Deus nulli velle non imputare [peccatum] nisi gementi et timenti et assidue misericordiam suam imploranti«; 282,11 f.: Wir sind nach 1.Kor 5,7 neuer Teig »propter humilitatem fidei in timore, in spe et non-Imputatione«. Vgl. zum Ganzen Bizer, Fides, 23–58, bes. 29–39; Peters, Glaube, 34–40; Bayer, Promissio, bes. 32–77, 115–144, 339–344. 106 Vgl. Bayer, Promissio, 37 f., 339. 107 So Bizer, 33 ff., 53–58; Bayer, Promissio, 118–123; vgl. 56,225,10–230,15 (zu Röm 3,4 f.): Indem wir Gott rechtfertigen, d. h. sein gerechtes und wahres Wort, das uns als Sünder qualifiziert, in uns anerkennen (= glauben), werden wir selbst gerecht und wahr, d. h. von Gott gerechtfertigt. Unsere passive Rechtfertigung Gottes ist unsere aktive Rechtfertigung durch Gott. Das Wort ist aber immer das Gerichtswort, das der Mensch sich nicht selbst sagen kann: 231,6–14. 108 Vgl. 7,24,9 f.; 34,11–22; 36,8,13–42,37. 109 Vgl. 56,229,20–25: »Et ita Deus per suum exire nos facit ad nos ipsos introire et per sui cognitionem infert nobis et nostri cognitionem. Quia Nisi Deus prius exiret et verax fieri quaereret in nobis, Nos non possemus introire ad nos ac mendaces ac Iniusti fieri. Non enim potuit homo ex se ipso scire, quod talis esset coram Deo, nisi ipse Deus hoc ipsum revelaret.« 110 Vgl. nur 269,25–29: »Quia dum sancti peccatum suum semper in conspectu habent et Iustitiam a Deo secundum misericordiam ipsius implorant, eoipso semper quoque Iusti a Deo reputantur. Gott sieht sie als gerecht an propter hanc confessionem peccati«; 281,11 f.: »Hoc [peccatum] solo fit veniale et non imputatur, Quod pro ipso gemimus«; 278,13–16:

Rechtfertigung 135 Gott rechtfertigt den Demütigen, ja die Gerechtigkeit besteht in der Demut!111 Zum andern kann Luther gerade deswegen und weil er um kein »anderes Wort« neben dem des Gesetzes weiß, also die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium noch nicht klar vollzogen hat, eine wirkliche Heilsgewissheit für den Glaubenden nicht vertreten. Es gilt von den sancti: »Ignoranter Iusti et scienter inIusti« (269,30).112 Die imputatio Gottes ist für die Gerechten unbekannt und ungewiss, sie kann immer nur und immer wieder, verbunden mit der Selbstanklage, erfleht und erhofft werden. Die reputatio Gottes besitzt noch keinen eindeutigen Haftpunkt – etwa im Sinne des späteren Verheißungswortes, zu dem man dann in der Anfechtung, seiner gedenkend, »zurückkehren« kann.113 »Isti vero ignorant, quando Iusti sunt, quia ex deo reputante Iusti tantummodo sunt, cuius reputationem nemo novit, sed solum postulare et sperare debet. Ideo illi (sc. impii) habent tempus quando se non putent esse peccatores. Isti vero semper sciunt peccatores.« (268,21 ff.)114 So kann man der These Ernst Bizers zustimmen, dass Luther erst dann (nämlich 1518) voll

»Justificatus autem et ›tectus peccatis suis‹ iam est conuersus et pius«; »colit enim Deum et quaerit eum in spe et timore. Ac per hoc Deus eum reputat pium et Iustum«; 287,19–22: »Ille enim habet Iustitiam […], quem Deus propter confessionem iniustitie sue et implorationem Iustitie Dei misericorditer reputat et voluit Iustum apud se haberi.« Siehe Bizer, Fides, 46–51; Bayer, Promissio, 137–141; anders Joest, Paulus, 296. Nach Pinomaa (Charakter, 19–37; ders., Die Heiligen, 17–23) zeichnet sich beim jungen Luther eine Tendenz von einer »anthropozentrischen [d. h. meritorischen] Demut« zu einer »theozentrischen [gottgewirkten] Demut« ab. 111 Vgl. 199,28 ff.: »Et ecce totam humilitatem impleuimus tam erga Deum quam homines i. e. totam perfectamque Iustitiam. Quid enim aliud tota Scriptura docet quam humilitatem?«; 449,8 f.: »Vniversalis ergo Iustitia Est humilitas.« – Als Indiz für den Wandel siehe eine Predigt vom 24.6.1518: »Certus esto, omnia tibi peccata tua condonata esse, non quod non sint in te amplius, sed quod non imputantur propter veritatem promissionis, cui fidis, non propter contritionem tuam, quae malefida est. Nam si contritio tua deleret peccata, supervacanea esset Dei promissio.« (4,632,12–16) 112 Ebenso 1,149,8 (1516): »Omnis sanctus conscienter est peccator, ignoranter vero ius­ tus«; AWA 1,548,18 f.: »peccatores scienter, sancti ignoranter«; vgl. 56,58,16 f.: »Nemo scit se viuere aut experitur se esse Iustificatum, sed credit et sperat«; 252,17–25; 272,20 f.: »sed [egrotus] Initium habens Iustitie, ut amplius querat semper, semper iniustum se sciens«; 276,31 ff.; AWA 1,550,2 f. Siehe aber auch 56,290,28–291,14 sowie 326,27–328,26. Zum Thema Heilsgewissheit beim frühen Luther vgl. Gyllenkrok, Rechtfertigung, 65–77; Kroeger, Rechtfertigung, 118–163. 113 Vgl. den späteren »reditus ad baptismum« (6,572,17; von der Buße gesagt). Bayer, Promissio, 34, spricht für Luthers Frühtheologie statt vom reditus von iteratio oder repetitio. Vgl. 56,239,15 f. (im Blick auf die Gottsuche): »Semper querendum et requirendum i. e. iterum ac iterum querendum.« 114 Luther schließt also von der exklusiven Begründung der reputatio in Gott (nicht in uns, nicht in unseren Kräften) auf deren Verborgenheit für den Menschen. Er denkt die Rechtfertigung ganz als sub contrario verborgen: »Iustitita sub peccato« (392,28–393,12). An dieser Stelle ist der Ausfall des dem Menschen öffentlich verkündigten Verheißungswortes offensichtlich. Vgl. Bizer, Fides, 47.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

zur reformatorischen Theologie durchgestoßen ist, als er den Gegebenheitsmodus des göttlichen Rechtfertigungsurteils im Verheißungswort des Evangeliums herausgestellt, also das Wort als Heilsmittel entdeckt hat, auf das sich allein der alle Heilskonditionen ausschließende Glaube richtet und auf diese Weise Gesetz und Evangelium eindeutig unterscheidbar werden.115 Der Glaube, nicht die Demut bzw. der als Demut verstandene Glaube, ist dann die Gerechtigkeit! Darin dürfte es im Letzten begründet sein, dass sowohl das simul wie die Rechtfertigungslehre überhaupt in der Römerbriefvorlesung so wenig tröstlichen Charakter besitzen,116 eben weil das iustus-Sein in der Formel noch ungeklärt ist und nicht einfach zugesprochen werden kann, während das peccator-Sein steil und radikal herausgestrichen wird. Es wird zu untersuchen sein, ob die Lösung der Gewissheitsfrage und die volle Durchklärung der Rechtfertigungslehre im Sinne des sola fide zu ergreifenden Verheißungswortes sich auf den Gebrauch des simul auswirkt und etwa dessen theologisch-kerygmatische »Färbung« verändert. Auf jeden Fall kann schon jetzt konstatiert werden, dass Luther vor und nach der vollen Selbstfindung seiner Rechtfertigungslehre die Formel gebraucht, diese also eine gewisse Kon­ stante darstellt, obwohl sie durch diesen Wandel selbst nicht unberührt bleibt, ihn aber auch nicht äußerlich sichtbar macht. Die Konstanz der simul-Formel dürfte darin begründet sein, dass sie primär festhält: Die Rechtfertigung gründet für den Christen bleibend, also nicht nur am Anfang der christlichen Existenz, in keiner Qualität des Menschen, sondern allein in Gott, und deshalb vermag sie immer nur empfangen, nicht verdient zu werden.117 Genau dies, nämlich das sola fide und Neben Bizer, Fides, z. B. 167, siehe Peters, Glaube, 34 ff. Bayer, Promissio (passim), datiert den reformatorischen Durchbruch ins Frühjahr 1518. – Luthers frühe Abweisung der Heilsgewissheit (= Rechtfertigungsgewissheit) dahin verstehen zu wollen, dass er nur eine Heilsgewissheit ablehne, die sich auf die tatsächliche (effektive) Gerechtigkeit des Menschen vor Gott gründe, dagegen eine solche aber bejahe, die auf der externen Gerechtigkeit fußt, wie Holl, Rechtfertigungslehre, 140 ff., das tut, scheint nicht möglich zu sein. Gegen Bizer kann nicht eingewandt werden, dass Luther auch später noch von der Demut, dem Bekenntnis der Sünde, ja dem Zunichtewerden sprechen kann. Von der Möglichkeit, dass sich alte Formulierungen noch wiederholen, obwohl sie dem neuen Verständnis schon nicht mehr entsprechen, und welche so das Ringen Luthers um volle Klärung indizieren, einmal abgesehen, stehen solche Aussagen später in einem anderen »Koordinatensystem«: Die Demut sowie die Sündenerkenntnis gehören in den vom Gesetz in uns bewirkten Teil der Buße, sind also klar vom Werk des Evangeliums an uns unterschieden und stellen deshalb auch keine Bedingung oder Ursache der Rechtfertigung dar, so sehr gilt, dass Gott nur den, der seine Sünde kennt und bekennt, rechtfertigt. Vgl. nur 40 II,458,30–462,21; 39 I, 383,26–384,2; 497,19 ff. Siehe schon 7,24,8 ff.: »So ist er [der Mensch durch die ihm sein Unvermögen offenbarenden Gebote] recht gedemütigt und zu nicht worden ynn seinen augen, findet nichts yn yhm, damit er mueg frum werden. Dan ßo kumpt das ander wort, die gottlich vorheyschung und zusagung«; 6,572,7 ff. 116 Nach Rolf, Zum Herzen, 176, eignet der Römerbriefvorlesung ein »relatives hamartiologisches Schwergewicht«. 117 Vgl. Nygren, Simul, 366 f.; Oechseln, Kronzeuge, 23: »Das Simul ist also zu verstehen als die Erstreckung des sola fide in das Leben des Christen hinein«; 58. 115

Rechtfertigung 137 sola gratia, wollte Luther aber schon mit seinem Verständnis des Glaubens als Demut aussagen,118 und deshalb konnte die Formel – zumal der Sündencharakter der Konkupiszenz jetzt feststand – in der Römerbriefvorlesung gebildet werden. Nur der wird von Gott gerechtfertigt, der die eigene totale Sündhaftigkeit und Nichtigkeit bekennt und sich ganz Gott überlässt. Da aber diese Hingabe an Gott (= humilitas) sich nur auf das die Sünde offenbarende Gerichtswort und nicht auf das Vergebungswort zu richten vermochte, wurde die demütige Hingabe an Gott – gegen ihre eigene Intention – auf sich selbst zurückgeworfen: Nur der empfängt die Rechtfertigung, der sich vollkommen und ganz demütigt! »Que cum ita sint, in immensum nos oportet humiliari.« (252,17) So wurde die Demut, die eigentlich die vollständige Absage an alle menschliche Leistung bedeutet, selbst wieder in die Nähe einer zu erbringenden Leistung gerückt, damit aber das sola gratia und sola fide erneut mit dem Schein einer Bedingung versehen.119 Dieser Dialektik entkam Luther erst, als er den Glauben als das Sich-Anklammern an das evangelische Verheißungswort bestimmte, so dass die Rechtfertigung in diesem Wort und nicht mehr in der Qualität des sich darauf richtenden Glaubens gründete. Für die simul-Formel folgt daraus ein Doppeltes: Zum einen ist sie per se genommen und ohne Berücksichtigung des theologischen »Entwicklungsstandes« Luthers noch nicht eindeutig, und zum andern ist sie in der Römerbriefvorlesung noch nicht zu ihrer vollen Durchklärung gelangt.120 Vgl. (zu Röm 3,28) 39,10: »sine adiutorio et necessitate operum«; 39,18 f.: »Quia impium esset dubitare Vel putare hominem Iustificari per fidem. Sed certissime et firmiter oportet hoc credere et scire.« Die hier ausgesprochene Gewissheit bezieht sich freilich nur auf dieses objektive »Prinzip«, nicht auf das subjektive Rechtfertigungsgeschehen. Vgl. Kroeger, Rechtfertigung, 45 f., 58–62, 182 f., 239 f. 119 Eine Heilsgewissheit konnte es somit nicht geben (oder nur eine »in abscondito«, in Unwissenheit), denn keiner vermag sich seiner vollkommenen Demut sicher sein, durfte es aber auch nicht geben, da alle Gewissheit wieder zum Anlass für Selbstsicherheit und Hochmut zu werden drohte. Siehe als Kontrast dazu nur 2,458,20–34 (1519). Zur beschriebenen Dialektik vgl. Kroeger, Rechtfertigung, 54 ff., 61–69. 120 Vgl. Bizer, Fides, 40: »Die Formel […] ist an sich ganz gewiß nicht eindeutig; sie entspricht dem Demutsgedanken nicht weniger als der Glaubensgerechtigkeit.« Insofern kann sie für Bizer nicht als der »vollendete Ausdruck reformatorischer Frömmigkeit« verstanden werden. Das spricht auch gegen den Versuch Links, die simul-Formel mit der reformatorischen Grunderkenntnis zu identifizieren. Vgl. oben Anm. 9. – Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sei hier zur Frage des reformatorischen Durchbruchs bei Luther nur bemerkt: Sie scheint uns von den zahlreichen und nicht einheitlichen Selbstzeugnissen Luthers her in dem Sinn »beantwortet« werden zu müssen, dass dieser »Durchbruch« einen Prozess mit zwei »Schlüssel-« oder »Evidenzerlebnissen« darstellt: Zum einen die (Wieder-)Entdeckung des sola gratia (etwa Herbst 1514), die allein aber noch nicht zur voll entfalteten reformatorischen Theologie führte – es wird die Rechtfertigung durch Werke, aber nicht die durch Demut verworfen –, und die Entdeckung der Begegnungsweise des vom Gesetz eindeutig unterschiedenen Evangeliums im Verheißungswort, das allein im Glauben ergriffen wird (Frühjahr 1518). Dass im Jahr 1518 bei Luther noch etwas Einschneidendes geschehen sein muss, wird schon allein durch den veränderten, heilsgewis118

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) Für Luthers Rekurs auf die simul-Formel und simul-Thematik im Kontext der Rechtfertigungslehre ist neben der Römerbriefvorlesung seine Auslegung des Galaterbriefs von 1531 besonders ergiebig, die 1535 von Georg Rörer auf der Basis seiner Mitschriften als Kommentar veröffentlicht wurde.121 Die Heranziehung des Großen Galaterkommentars ist für unsere Untersuchung insofern von großer Wichtigkeit, als wir hier – im Unterschied zur frühen Römerbriefvorlesung – Luthers Rechtfertigungslehre in ihrer reifen Gestalt vor uns haben und so verfolgen können, ob und wie sich die im vorigen Abschnitt offen gebliebenen Fragen und Probleme im Blick auf die im Kontext des Rechtfertigungsartikels betrachtete simul-Formel geklärt haben. Der gegen römische und innerevangelische Gegner zu verteidigende articulus iustificationis sowie die nicht nur theoretisch, sondern auch existentiell in der Situation der Anfechtung zu vollziehende Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium bilden die thematische Mitte des Kommentars.122 Methodisch verfahren wir so, dass wir zusammenhängende Textpartien, die thematisch einschlägig sind, aus der großen Galatervorlesung untersuchen. Luthers früher Galaterkommentar von 1519,123 der auf die Vorlesung von 1516/17124 zurückgeht, wird dabei nur sporadisch herangezogen, obwohl auch er für unsere Fragestellung sehr wichtig ist. Es erwies sich aber als sinnvoll, die

sen und frohen Ton seiner Schriften von da an deutlich. Welche der beiden fundamentalen Erkenntnisse für Luther biographisch den von ihm im Rückblick als schlechthin entscheidend gewerteten »Durchbruch« darstellte, ist demgegenüber für die Interpretation seiner Theologie sekundär. Vgl. Kroeger, Rechtfertigung, bes. 239–244 121 Alle Zitatnachweise im Folgenden beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf 40 I. In der Regel zitieren wir die Druckfassung (Dr), in Einzelfällen die Handschrift (Hs). Zu Luthers Großem Galaterkommentar und seiner Theologie vgl. K. Bornkamm, Auslegungen; Greschat, Melanchthon, 80–109; Lienhard, Zeugnis, 199–227; Mannermaa, Glauben, 11–93; Gebhardt, Heil, 119–161; Keilus, Gesetz, 85–250. 122 Vgl. 40 I,336,32 f.: »discrimen inter Legem et Evangelium«. – Zur Zentralität der Themen Rechtfertigung, Gesetz und Evangelium sowie Anfechtung vgl. 33,7.16 f.: »Nam in corde meo iste unus regnat articulus, scilicet Fides Christi […]. […] unicam hanc et solidam petram, quam nos iustificationis locum dicimus«; 35,37 ff.: »cum sint [mea verba] (meo magno sudore) illis tantum tradita quibus ipse Paulus eam epistolam scripsit, scilicet perturbatis, afflictis, vexatis et tentatis (hi enim soli ea intelligunt), in fide miseris Galatis«; 44,16 f.: »Utrumque verbum [sc. Gesetz und Evangelium] recte secari debet«; 48,28 f.: »Si quidem amisso articulo iustificationis amissa est tota doctrina Christiana«; 49,24–35, bes. 31–35: »Probe tenere hanc distinctionem Iustitiae legis et Christi. Est quidem dictu facilis, sed experientia et usu est omnium difficillima, etiamsi diligentissime eam acuas et exerceas, Quia in hora mortis vel aliis agonibus conscientiae proprius occurrunt hae duae iustitiae, quam tu optes aut velis.« 123 Vgl. 2,443–619. 124 Vgl. 57 II.

Rechtfertigung 139 entsprechenden Partien des frühen Kommentars in den Abschnitten über die Anthropologie und das Gesetz125 zu analysieren.

1.2.1 Argumentum Epistolae Wir wenden uns zunächst Luthers Zusammenfassung des Inhalts bzw. des Grundgedankens (argumentum) des Galaterbriefs in seinem späten Kommentar zu.126 Diesen Grundgedanken sieht er im Begriff der iustitia christiana gegeben,127 welche zunächst von allen anderen Gerechtigkeiten zu unterscheiden, ja ihnen entgegenzusetzen ist: Neben der politischen Gerechtigkeit und der religiös-zeremoniellen nennt Luther die Gerechtigkeit des Gesetzes bzw. des Dekalogs. Jenseits und über diesen steht aber die iustitia christiana. Haben die Ersteren ihr Prinzip in den Werken, in unserem Tun, komme dieses nun aus den natürlichen Kräften oder aus der Gnade, sind sie also »aktive Gerechtigkeit«, so ist die christliche Gerechtigkeit »mere passive«. Denn hier wirken wir nichts und geben Gott nichts, sondern wir empfangen ausschließlich und lassen einen anderen, nämlich Gott, in uns wirken, »erleiden« ihn (41,18–20).128 »Erlitten«, entgegengenommen wird, dass Gott uns, die wir Sünder sind, gerecht spricht, für gerecht ansieht bzw. uns die Gerechtigkeit Christi anrechnet, ein Geschehen, das wir im Glauben ergreifen: »Ista autem excellentissima iustitia, nempe fidei, quam Deus per Christum nobis absque operibus imputat.« (41,15 f.)129 Die iustitia christiana ist also imputative Gerechtigkeit,130 sie ist weiterhin Glaubensgerechtigkeit131 und sie ist nicht zuletzt die iustitia Christi132, d. h. im Unterschied zu den anderen nicht iustitia propria (42,14).

Siehe Kapitel 5–6. Vgl. 40 I, 40–51. 127 Vgl. dazu Peura, Iustitia christiana. 128 Die Unterscheidung von aktiver und passiver iustitia ist nicht zu verwechseln mit der Differenzierung von iustificatio activa et passiva in der Auslegung von Röm 3 (1515/16): Dort ist damit unser Gott-Rechtgeben (= aktive Rechtfertigung Gottes) im Sündenbekenntnis und die daraus folgende bzw. damit identische passive Rechtfertigung unsererseits durch Gott angesprochen. Gottes Wort besteht hier v. a. im richtenden Urteil, dass der Mensch Sünder ist. Ihm stimmt der Mensch in der demütigen confessio peccati zu. Vgl. 56,225,10–230,15 (zu Röm 3,4 f.). 129 46,28 ff.: »Ista autem est iustitia coelestis et passiva quam non habemus, sed e coelo accipimus, non facimus, sed fide apprehendimus.« 130 Vgl. 43,22–25: Wir Menschen können zu dieser göttlichen, himmlischen und ewigen Gerechtigkeit nichts beitragen. Sie wird nur »per gratuitam imputationem et per inenarrabile donum Dei« erlangt. 131 Vgl. 40,28: »fidei seu Christiana iustitia«; 41,20 f.; 51,33. 132 Vgl. 43,13–17: »et simpliciter illam passivam [iustitiam] amplector quae est iustitia gratiae, misericordiae, remissionis peccatorum, In summa: Christi et Spiritus sancti, quam non facimus, sed patimur, non habemus, sed accipimus, donante eam nobis Deo Patre per Iesum Christum.« 125 126

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Aus dem Ausschluss aller aktiven Gerechtigkeit von der Rechtfertigung vor Gott – diese wird allein durch die passive Glaubensgerechtigkeit erlangt –, folgt für Luther nicht, dass die anderen Gerechtigkeiten damit jeden Wert und jede Funktion verloren hätten. Schreibt man ihnen keine heilsmeritorische Leistung zu, dann haben sie »in ihren Grenzen«133 sehr wohl ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit. Das gilt insbesondere für die iustitia legalis134, der Luther ihre Funktion bei den Unbußfertigen und Hartherzigen, aber auch »in carne«, »in terra« bzw. beim alten Menschen zuschreibt.135 Dieser irdischen, weil auf der Erde geltenden Gerechtigkeit gegenüber hat es die himmlische, vom Himmel kommende und in den Himmel führende passive Gerechtigkeit mit dem neuen Menschen bzw. dem Geist zu tun.136 Die Unterscheidung von aktiver und passiver Gerechtigkeit gewinnt nun für Luther existentielle Bedeutung, wenn es um das Bestehen in der Anfechtung geht. Die Anfechtung und ihre Überwindung ist – im Unterschied zum Kommentar von 1519 –137 das große Thema in Luthers später Galatervorlesung.138 Er versteht sie letztlich nicht als Versuchung zu dieser oder jener Sünde, sondern als die sich in Angst, Schrecken und Verzweiflung äußernde Bedrohung (oder gar den Verlust) Vgl. 44,19: »ut [lex] intra suos limites maneat; 45,21: habeat [lex] enim suos limites usque ad Christum«; 45,24 f.: »quaelibet [iustitia activa et passiva] intra suos fines contineri debet«; 50,28: »Consistit lex intra limites suos«; 50,33–51,13: »Consiste [lex] intra limites tuos, et exerce dominium in carnem.« 134 42,22 wird das Gesetz »summum omnium quae sunt in mundo« genannt. 135 Vgl. 44,23 f.: »Caro enim seu vetus homo, lex et opera coniuncta sunt, sic etiam spiritus seu novus homo, promissio et gratia«; 45,27 f.: »Iustitia Christiana pertinet ad novum hominem, iustitia vero legis ad veterem.« Nach 50,26 f.; 51,13 hat das Gesetz ein berechtigtes »dominium in carnem«. 136 Vgl. 46,19–22.28 f.: »Nos vero quasi duos mundos constituimus, unum coelestem, alterum terrenum. In illos collocamus has duas iustitias disiunctas et inter se maxime distantes. Iustitia legis est terrena, de terrenis agit, per hanc facimus bona opera. […] Ista autem est iustitia coelestis et passiva, quam non habemus, sed e coelo accipimus.« Zwischen beiden Gerechtigkeiten besteht ein einseitiges, unumkehrbares Bestimmungsverhältnis: Erst müssen wir ohne Werke gerechtfertigt sein, dann können wir wahrhaft das Gesetz erfüllen und gute Werke tun. – K. Bornkamm, Auslegungen, 212–221, zeigt, dass die von Luther zur Abgrenzung der beiden Gerechtigkeiten herangezogenen Gegensatzpaare (Gesetz – Gnade / himmlische – irdische Welt / Christen – Welt / Fleisch – Geist / alter – neuer Mensch) ihren Skopus darin haben, nicht zwei räumlich und inhaltlich abgrenzbare Bereiche, sondern eine Unterscheidung im Menschen selbst zu bezeichnen, der eben in den genannten Hinsichten zugleich und ganz unter beiden Gerechtigkeiten steht. Im Gewissen wird der Kampf um ihre jeweils rechte und begrenzte Geltung ausgefochten. Dazu s. u. Kapitel 6. 137 Vgl. aber 2,490,34–491,4. 138 Vgl. 40 I,49,35–50,13: »Admoneo igitur vos, praesertim qui futuri estis Magistri conscientiarum, et unumquemque seorsim, ut exerceatis vos studendo, legendo, meditando et orando, ut in tentatione possitis conscientias, et vestras et aliorum, erudire et consolari et reducere a lege ad gratiam, ab activa iustitia ad passivam, In summa a Mose ad Christum.« 133

Rechtfertigung 141 des Glaubens an die mir geltende Sündenvergebung. Sie rührt letztlich aus der Schwachheit des Glaubens, d. h. des Vertrauens auf die Christusgerechtigkeit, sie kann induziert sein bzw. für ihre Zwecke instrumentalisiert werden von einer externen bösen Macht (Teufel), sie hat aber im Christen selbst ihren bleibenden Anhalt an der fortdauernden Sünde.139 Zudem ist die ratio humana permanent darauf aus, die Rechtfertigung nicht in der Gnade, sondern in der eigenen Leistung zu suchen. In der Anfechtung gilt es nun, genau zwischen den beiden Gerechtigkeitsarten, der passiven und aktiven, zu unterscheiden, d. h. sie nicht zu vermischen,140 und um ihre jeweiligen Grenzen zu wissen. In solcher Situation kann der Christ dann dem Gesetz entgegenhalten, dass es im Gewissen, also im Stehen vor Gott, keine Befugnis hat. Es ist auf das Fleisch als seinen Herrschaftsort zu verweisen (hier meint Luther wohl nicht die anklagende, sondern die das irdische Leben ordnende bzw. die im Blick auf die mortificatio carnis weisende Macht des Gesetzes). Im Gewissen hat dagegen allein die Christusgerechtigkeit ihren Platz, die mich von meiner Sünde freispricht.141 Schon hier ist der Unterschied zur Römerbriefvorlesung erkennbar: Es gilt nicht mehr so sehr, die Demut als christliche Grundtugend »einzuhämmern«, sondern den Angefochtenen und schon Gedemütigten von der passiven Gerechtigkeit her Gewissenstrost zuzusprechen.142 Das ist gegen K. Bornkamm, Auslegungen, bes. 157 f., 167, 208, 232, hervorzuheben, die den Grund für die Anfechtbarkeit des Glaubens primär in der unausweisbaren Wortgestalt der Offenbarung und des Rechtfertigungsgeschehens erblickt. Aber auch Bornkamm schreibt ebd., 233: »Das Evangelium als Verkündigung der gegenwärtigen Vergebung Gottes kann gegenüber der sich immer neu aktualisierenden Schuldverfallenheit des Menschen nicht als zeitlose Wahrheit gewußt werden.« Ähnlich 205. Vgl. auch ebd., 157–234, wo die Thematik der Anfechtung und ihrer Überwindung bei Luther ausführlich behandelt wird. Wie Greschat, Melanchthon, 168 f., gezeigt hat, gründet für Luther die gesteigerte Anfechtungssituation auch in der für ihn eschatologisch zugespitzten Lage nach der Ablehnung der CA auf dem Augsburger Reichstag 1530, welche er als die endzeitliche Auflehnung Satans gegen Christus und sein Wort interpretiert hat, der gegenüber es mit allem Nachdruck am Wort und der reinen Lehre festzuhalten gelte. Diese Sicht der Anfechtung widerspricht nicht ihrer wesentlichen Evozierung durch die bleibende Sünde, kündigt doch der Anbruch der Endzeit auch das letzte Gericht über die Sünde bzw. den Unglauben an. 140 Vgl. 45,24 ff.: »Haec est nostra theologia qua docemus accurate distinguere has duas iustitias, activam et passivam, ne confundatur mores et fides, opera et gratia, politia et religio«; 50,18–25, bes. 24 f.: »Discamus igitur diligentissime hanc artem distinguendi inter has duas iustiticas.« 141 Vgl. 50,24–51,20, bes. 50,28–30: »Si vero vult [lex] ascendere in conscientiam et ibi dominari, vide tum sis bonus dialecticus et recte dividas neque plus tribuas legi, quam ei tribuendum est«; 270,28–271,34. 142 Man könnte auch sagen: In der großen Galatervorlesung treten das Demuts- und Kampfmotiv des simul zugunsten des Trostmotivs zurück. Vgl. zum Ganzen 41,21–42,18: »Haecque est iustitia in mysterio abscondita quam mundus non intelliget, imo Christiani non satis eam tenent et difficulter in tentationibus apprehendunt. Et qui eam in afflictio­ nibus et terroribus conscientiae non tenet aut apprehendit, non potest consistere. Nulla 139

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Damit sind wir beim Tatbestand des simul angelangt, welchen Luther nun auch explizit anspricht, ja geradezu in der Situation der Anfechtung als tröstlich entdeckt. Die Anfechtung entsteht ja letztlich aus der bleibenden Sünde, zu der auch der schwache Glaube bzw. der noch vorhandene Unglaube gehören. Fällt der Christ aber punktuell aus dem Glauben heraus oder wird der Glaube schwach, dann steht ihm seine noch vorhandene, durch das Gesetz angeklagte Sünde vor Augen. Dann dringt das Gesetz doch in das Gewissen vor, und der Mensch sieht sich vor das Gericht Gottes gestellt. Der Sachverhalt des simul ist dadurch gegeben, dass durch die iustitia christia­ na einerseits völlige Sündenfreiheit erlangt ist: Christus ist meine Gerechtigkeit geworden, er hat gleichsam mein Sein vor Gott stellvertretend übernommen, und so haben Sünde, Gesetz und Tod keine Macht mehr über mich. Das Gewissen ist deshalb frei, es kann es sich leisten, die aktive Gerechtigkeit und das Gesetz »zu ignorieren«.143 »Ibi nullum peccatum cernitur, nullus terror, nullus remorsus conscientiae sentitur. Quia in hanc iustitiam Christianam non potest cadere peccatum. Nam ibi nulla lex, ibi nec praevaricatio. Cum ergo hic peccatum non habeat locum, certa nulla est conscientia, nullus pavor, nullus tristitia.« (47,21–25) Ist das Gewissen dagegen wegen der faktischen Sünde von Angst und Schrecken erfüllt, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Gerechtigkeit und die Gnade aus dem Auge verloren sind und Christus verfinstert ist und nicht mehr gesehen wird.144 Alles liegt dann daran, den »Glaubensblick« wieder zu gewinnen und sich davon durch die sündenbestimmte Lebensrealität nicht abhalten zu lassen.145 Alles liegt daran, die Gerechtigkeiten zu unterscheiden und ihre »Konfusion« zu ver­hindern. Luther schildert nun ein Selbstgespräch des von seiner Sünde angefochtenen Menschen, in dem dieser sich auf den Trost des Evangeliums besinnt: »Licet sim enim talia tam est firma ac certa consolatio conscientiarum quam illa passiva iustitia. Sed eiusmodi est humana imbecillitas et miseria, quod in pavoribus conscientiae et in periculo mortis nihil aliud spectamus quam nostra opera, nostram dignitatem et legem. […] Nec potest ratio humana […] ex hoc spectro iustitiae activae seu propriae evolvere et attollere sese ad conspectum iustitiae passivae seu christiana, sed simpliciter haeret in activa. Atque istas cogitationes abutens naturae infirmitate auget et urget Satan. Tum aliter fieri non potest, quin magis trepidet, confundatur et perterrefiat conscientia.« Ferner 49,35–50,23; 152,24 f.; 282,26–283,17. Greschat, Melanchthon, 96, sieht in der Verstärkung des Motivs »Gewissenstrost in der Anfechtung« den Einfluss Melanchthons, was jedoch nicht zwingend ist. 143 Vgl. 43,25 f.29 f.: »Summa igitur ars et sapientia Christianorum est nescire legem, ignorare opera et totam iustiam activam. […] Mira autem res est et mundo inaudita, docere Christianos, ut discant ignorare legem, utque sic vivant coram Deo, quasi penitus nulla lex sit.« 144 Vgl. 47,26–28: »Si autem adest conscientia vel pavor, signum est, iustitiam hanc ablatam, gratiam amissam esse e conspectu et Christum obscuratum non videri.« 145 Keilus, Gesetz, 144, 177, 184 f., 188 u. ö., spricht vom stets neu zu vollziehenden »Blickwechsel« von der eigenen sündigen Existenz zum rechtfertigenden Christus.

Rechtfertigung 143 peccator legalis in iustitia legali, tamen ideo non despero, ideo non morior, quia Christus vivit, qui est iustitia et vita mea, aeterna et coelestis. In illa iustitia et vita nullum habeo peccatum, conscientiam et mortem. Sum quidem peccator secun­ dum praesentem vitam et eius iustitiam, ut filius Adae, ubi accussat me lex, regnat mors et devorabit me, Sed supra hanc vitam habeo aliam iustitiam, aliam vitam quae est Christus, filius Dei, qui nescit peccatum et mortem, sed est iustitia et vita aeterna.« (47,30–48,29) Rekurriert Luther hier auch nicht auf die simul-Formel, so ist doch der Sachverhalt klar ausgesprochen: Nach der Gesetzesgerechtigkeit, als Adamssohn bin ich ein Sünder, deswegen kann mich das Gesetz immer wieder anklagen. Aber über bzw. neben diesem augenscheinlich-vorfindlichen Leben – man könnte ergänzen: als Christussohn146 – habe ich noch eine andere Gerechtigkeit: Christus, der Gerechtigkeit und ewiges Leben ist. Und hier gilt: Ich habe keine Sünde! Und daran habe ich mich in der Anfechtung zu halten. Hervorzuheben ist, dass auf den Sachverhalt des simul hier in der Situation der Anfechtung Bezug genommen wird, was an der Sprachform des Selbstgesprächs deutlich wird. Wie wir noch sehen werden, kann Luther auch auf die Form des zwischenmenschlichen Zuspruchs oder des abwehrenden Gesprächs mit den bösen Mächten (Gesetz bzw. Teufel) zurückgreifen.147 So wird das simul in seiner tröstenden, gewissmachenden Funktion deutlich, die es in dieser Intensität und Extensität in der Römerbriefvorlesung noch nicht hatte: »Ja, ich bin und bleibe ein Sünder, das ist nicht zu leugnen. Aber daneben gibt es eine andere Realität und Dimension, letztlich die eigentliche Realität, die Christusgerechtigkeit, und an die habe ich mich zu, ja soll ich mich im Glauben halten!« Im Grunde meldet sich hier schon die in der Römerbriefvorlesung nur unbefriedigend gelöste Frage nach der Realitätshaltigkeit der imputatio (peccator in re – iustus in reputatione Dei bzw. in spe). Luther dringt jetzt stark in die Richtung vor, dass die imputatio, dass Christus – und also nicht die Sünde – meine eigentliche Realität ist. Dem korrespondiert, dass sich im Großen Galaterkommentar – wie schon erwähnt – die Situation grundlegend gewandelt hat: Es gilt nicht mehr so sehr, den hochmütigen »Werkheiligen« Demut und Sündenbewusstsein einzuschärfen, als vielmehr in der Anfechtung Trost zu spenden und Gewissheit zu stiften. Möglich wird dies, weil Luther längst seine reformatorische Wende »vollendet«, d. h. das zugesprochene Wort der Verheißung als Heilsmittel entdeckt hat (an dem man sich in der Anfechtung festmachen, zu dem man »zurückkehren« kann) und so zu einer eindeutigen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium durchgedrungen ist.148 Von

Die Hs sagt präzise: »secundum Christum« (48,3). Zur Adam-Christus-Herkunft vgl. auch 46,31–47,14. 147 Zum abwehrenden Gespräch mit dem Gesetz vgl. 50,30–51,13. Die Situation seelsorgerlichen Zuspruchs ist 45,14–19; 49,35–50,12 angedeutet. 148 42,26 ff.: »Quare nullum remedium habet afflicta conscientia contra desperationem et mortem aeternam, nisi apprehendat promissionem gratiae oblatae in Christo, hoc est hanc fidei, passivam seu christianam iusticiam.« 146

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daher gewinnen auch simul-Formel und simul-Sachverhalt eine andere Färbung: Das iustus-Sein kann eindeutig zugesprochen werden!149 Es ist also letztlich die bleibende Sünde – verbunden mit der Schwachheit des Glaubens bzw. dem Unglauben, der ja auch Sünde ist –, die das Verhältnis von Gesetz und Evangelium beim Christen zu einem dialektischen macht, weil der Schritt vom Gesetz zum Evangelium nicht nur einmalig, sondern je neu zu vollziehen ist: »Ita utrumque manet dum hic vivimus: Caro accusatur, exercetur, contristatur et conteritur iustitia activa legis. Sed spiritus regnat, laetatur et salvatur passiva iustitia.« (48,21 ff.)150 Dabei wird man diese Stelle nicht so interpretieren dürfen, dass es hierbei um gestufte Schichten (caro – spiritus) im Menschen bzw. um zeitlich parallele Vorgänge in ihm geht, sondern um eine zeitliche Dialektik151: Der Christ ist zwar im Glauben auf die iustitia passiva ausgerichtet, aber in Momenten des Unglaubens fällt sein Blick immer wieder auf die eigene sündige Wirklichkeit, so dass das anklagende Gesetz Macht über ihn gewinnt. Nur ein neues Ergreifen des Glaubens bzw. ein von ihm Ergriffenwerden vermag hier zu retten. Luther kann deshalb auch sagen, dass die Unterscheidung zwischen iustitia passiva und iustitia activa zwar theoretisch leicht zu handhaben, aber praktisch, d. h. in der Anfechtung schwer zu vollziehen ist.152 In solchen Situationen dringt das Gesetz in das Gewissen vor, wo eigentlich Christus allein herrschen soll (50,24–51,21). Der kluge Seelenführer hat deshalb den ihm Anvertrauten immer neu vom Gesetz zur Gnade, von der aktiven zur passiven Gerechtigkeit, von Mose zu Christus zu führen (50,11 f.).

1.2.2 Galater 3,6 Wir untersuchen nun Luthers Kommentierung von Gal 3,6, wo sich ähnlich prinzipielle Ausführungen zur Rechtfertigungslehre finden wie in seiner frühen Auslegung zu Röm 4,7. Der Abschnitt bietet freilich nicht geringe Verstehensschwierigkeiten. Luther stellt im Blick auf die iustitia christiana definitorisch fest: »Iustitia enim Christiana his duobus constat, scilicet fide cordis et imputa-

Dass die Einsicht in das simul iustus et peccator zur Überwindung der Anfechtung und damit zur Gewissheit des Heils trotz bleibenden Sünderseins führt, betont auch Beintker, Überwindung, 47 f., 51, 120, 183 f., 186 f. 150 Vgl. Hs 48,5 f.: »In hac vita accusatur iusticia operum. Spiritus remittit, regnat et salvus est iustitia passiva.« 151 Vgl. 45,14 ff.: »Quare cum video hominem satis contritum premi lege, terreri peccato et sitire consolationem, ibi tempus est, ut removeam illi ex oculis legem et iustitiam activam et proponam per evangelium passivam«; K. Bornkamm, Auslegungen, 217–221. Die daraus resultierende Frage: Kann dann noch von einem strengen simul gesprochen werden? wird in Kap. 6 aufgenommen. 152 Vgl. 49,31–34: »Est quidem dictu facilis, sed experientia et usu est omnium difficillima, etiamsi eam acuas et exerceas, Quia in hora mortis vel aliis agonibus conscientiae proprius concurrunt hae duae iustitiae, quam tu optes et velis.« 149

Rechtfertigung 145 tione Dei.« (364,11 f.)153 Dass die christliche Gerechtigkeit aus dem Glauben des Menschen und der göttlichen imputatio besteht, bereitet noch keine Schwierigkeiten, richtet sich doch der Glaube zum einen auf die non-imputatio der Sünde durch Gott bzw. die imputatio der Gerechtigkeit Christi und wird zum anderen der Glaube selbst als Gerechtigkeit »imputiert«.154 Luther fährt aber fort: »Fides est quidem iustitita formalis, et tamen non est satis.« Und weil der Glaube nicht genug, sondern unvollkommen ist, muss die imputatio ergänzend hinzutreten und den Glauben »vollkommen machen«: »necesse est accedere alteram partem, quae eam perfecit, quae est imputatio divina. Fides enim non dat Deo formaliter satis, quia est imperfecta.« (364,12–17)155 Dass der Glaube unvollkommen ist und deshalb zur Rechtfertigung nicht ausreicht, sondern in Form der imputatio einer Ergänzung bedarf, erstaunt bei Luther.156 Hatte er doch bisher den Glauben als Ergreifen Christi und seiner Gerechtigkeit verstanden, woraufhin Gott den Glaubenden dann als gerecht ansieht.157 Hier kam man gar nicht auf den Gedanken, dass es der Glaube an sich, in seiner Gläubigkeit sei, welcher rechtfertigt, sondern das, was rechtfertigt, war die Bezogenheit, die Relation des Glaubens auf seinen Gegenstand, auf Christus. Insofern stellte sich die Frage einer möglichen Komplettierung gar nicht, da ja Christus (und insofern auch der Glaube!) die vollkommene Gerechtigkeit ist, welche mir durch Christi Einwohnung ganz zu eigen wird. Offenbar betrachtet Luther aber an unserer Stelle den Glauben dennoch als etwas im Menschen, als eine Haltung, einen Vollzug, gleichsam als Anfang der Neuschöpfung im Sein des Menschen. Luther deutet das an, wenn er vom Glauben als einer iustitia formalis spricht, welche »formaliter« (= wirklich, eigentlich) Vgl. 368,20 f.: »Quod istis duobus constet iustitia Christiana: Primum fide, quae gloriam tribuit Deo, Deinde imputatione Dei.« 154 Beide Momente, die imputatio Dei bzw. der Glaube, sind die notwendigen, aber zusammen auch die hinreichenden Momente der Rechtfertigung: »Ista enim duo, ut dixi, perficiant iustitiam Christianam.« (366,27) Dies hebt auch Rolf, Zum Herzen, 29, hervor. 155 Vgl. 366,22–30, bes. 29 f.: »quod Deus reputat istam imperfectam fidem ad iustitiam perfectam propter Christum.« 156 Leider geht K. Bornkamm, Auslegungen, 120–127, in ihrer Behandlung von Luthers Auslegung zu Gal 3,6 auf das Problem nicht ein. Sie spricht ebd., 126, nur von der »breiten Entfaltung des Glaubens als Haltung, die Gott die Ehre gibt und ihn damit allein Gott sein läßt« (Hv.). Auch bei zur Mühlen, Nos extra nos, 217–220; Mannermaa, Glauben, 62–66, wird das Problem nicht gesehen. – Anders als unser kritischer Blick auf Luthers Deutung von Gal 3,6 hat Rolf, Zum Herzen, bes. 104 ff., 112–143, sie zum Zentraltext für ihre Deutung der (von der non-imputatio peccati und der imputatio iustitiae Christi zu unterscheidenden) imputatio fidei, ja für ihre Studie über die imputatio insgesamt gemacht und ihr damit hohe systematische Relevanz zuerkannt. Wir notieren an dieser Stelle nur den Dissens, weil wir uns mit Rolfs Ansatz ausführlich in Teil III, Kapitel 5 (4.2.2) ausein­ andersetzen. 157 Der Gedanke der fides apprehensiva findet sich freilich auch in der Exegese von Gal 3,6, allerdings kombiniert mit der Akzentuierung ihres anfänglichen Charakters, z. B. 367,18–21; 370,26.30 f.; 371,14 f.31. 153

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Gott das Seine gibt. Gerechtigkeit wird hier also mit Hilfe eines scholastischen Begriffs als forma, als prägendes Gestaltungsprinzip im Menschen interpretiert. Und so verstanden, als forma im Menschen, als Anfang einer neuen, seinshaften Gerechtigkeit in ihm, ist der Glaube immer unvollkommen, annehmbar bei Gott nur durch dessen gnädige imputatio. Dass Luther den Glauben hier in dieser Perspektive deutet, lässt sich wohl durch den auszulegenden Bibeltext erklären, der nach Luther auf die Glaubenshaltung Abrahams Bezug nimmt:158 Dieser glaubt Gottes Verheißung eines Sohnes gegen die sichtbare Realität (hohes Alter und Unfruchtbarkeit bei Sara) und deren »vernünftige« Auslegung. So erweist Abraham glaubend Gott die Ehre, ja gibt ihm die Gottheit, er vollzieht den höchsten Gottesdienst und tötet die Gott und dem Glauben feindliche, weil durch die Sünde pervertierte Vernunft. Der Glaube wird so zur »creatrix […] divinitatis, non in substantia Dei, sed in nobis« (360).159 Solcher Gottesdienst, solches Glaubensopfer ist aber immer unvollkommen, immer erst im Stadium des Beginnens. Aus diesem Kontext lässt sich die Zuordnung von fides und imputatio, wie sie soeben geschildert wurde, verstehen: Luther wird gleichsam durch die Eigendynamik des kommentierten Schrifttextes zu Gedanken geführt, die seiner Theologie sonst eher fern stehen.160 Die Unvollkommenheit des Glaubens – und Interessanterweise spielt dieser Aspekt in Luthers (späterer) Exegese von Gen 15,6 in der Genesisvorlesung keine Rolle mehr, ebenso auch nicht der der Ergänzung der fides durch die imputatio. Zentral ist jetzt, dass der Glaube sich auf die promissio richtet, und so, im Sich-Festmachen an der promissio, zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Vgl. 42,561,30–567,27. 159 Vgl. 360,5 f. (Hs): »Fides est creatrix divinitatis, non in persona, sed in nobis«; 362,15: »At fides mactat et occidit rationem.« 160 Greschat, Melanchthon, 84–89, führt die Ambivalenz in Luthers Glaubensbegriff auf das historisch bedingte und geforderte Zusammentreffen des ursprünglich streng »theologisch« orientierten Ansatzes Luthers und des mehr »anthropologischen« Denkens Melanchthons in der Theologie Luthers zurück: Luther denke von der Bewegung Gottes auf den Menschen in Christus und im Heiligen Geist her, wie sie sich im Wortgeschehen ereigne und Rechtfertigung und Gerechtmachung in einem wirke, wobei beides im Glauben eng verbunden sei: Dieser rechtfertige vor Gott und tue gute Werke gegenüber den Menschen. Melanchthon argumentiere dagegen von der Situation des Menschen aus, wie dieser als Sünder, vom Gesetz erschreckt, im Glauben Christus ergreife, so die streng imputative Rechtfertigung empfange, worauf dann die Erneuerung in guten Werken allererst folge. Da Luthers Ansatz immer wieder (bes. bei den altgläubigen Gegnern) terminologische Missverständnisse im Blick auf das sola fide der Rechtfertigung hervorrufe (Rechtfertigt nicht doch erst der sich in der Liebe äußernde Glaube?), sei dieser genötigt gewesen, sich mehr und mehr dem melanchthonischen Ansatz anzunähern, die imputatio des Glaubens zur Gerechtigkeit hervorzuheben und die Erneuerung als deren Konsequenz darzustellen. Gleichzeitig halte Luther aber an seinem ursprünglichen, am Wortgeschehen orientierten Ansatz fest, was dazu führe, dass im Kontext der Rechtfertigung coram Deo nach der (unvollkommenen) Qualität des Glaubens gefragt werden könne, welche dann durch die imputatio zu ergänzen sei. 158

Rechtfertigung 147 das ist für unsere Thematik entscheidend – begründet Luther nun mit der auch im Glaubenden noch vorhandenen Sünde: »Quia post fidem haerent adhuc reliquiae peccati in carne.« (364,13) Der Glaube selbst als vollkommene Hingabe an Gott ist nur »vix […] scintilla fidei, quae incipit Deo tribuere divinitatem«. Wir haben erst die »primitias spiritus […], non decimas«. Man könnte auch sagen: Im Glauben ist immer noch der Unglaube in der Gestalt der sündigen Vernunft anwesend, die noch nicht vollends getötet ist. Glaube ist deshalb angefochtener, bedrohter Glaube. Luther führt die anderen Sündenreste auf den Unglauben als Wurzel zurück: »Ideo in nobis reliqua est adhuc concupiscentia, ira, impatientia et alii fructus carnis et infidelitatis.« (364,18–20)161 Wenig später fasst Luther incredulitas, dubitatio, contemptus et odium Dei als Quellen und Ursachen aller anderen Übel auf. Er kann aber auch in der ratio als dem eigentlichen Sitz dieser Gottesfeindschaft die »fons omnium malorum« erblicken. Dass der Glaube diese incredulitas sowie contemptus und odium Dei tötet, ist deshalb gleichbedeutend mit dem Töten der Vernunft (364,31–365,26).162 So gelangt Luther zu dem Ergebnis: »Concludimus ergo […] Iustitiam quidem incipere per fidem ac per eam habere primitias spiritus, sed quia fides infirma est, eam non perfici sine imputatione. Quare fides iustitiam incipit, imputatio perficit usque ad diem Christi.« (364,24–28) Kraft der imputatio wird der unvollkommene Glaube zur vollkommenen Gerechtigkeit bei Gott. Die Unvollkommenheit des Glaubens gründet – wie schon gesagt – in dessen lebenslänglicher Koexistenz mit dem Unglauben, der selbst schon Sünde, ja die Sünde ist und die bösen inneren Regungen sowie alle aktuellen Sünden aus sich entlässt. Dass es sich auch bei der habituellen Sünde um wahrhafte Sünde handelt, also nicht erst bei deren Übergehen in neue aktuelle Sünde, stellt Luther mit dem Satz fest: »Donec enim vivo in carne, vere peccatum est in me.« (367,12 f.) So liegt es nahe, dass Luther die simul-Formel explizit bringt, übrigens an dieser Stelle in der heute üblicherweise zitierten Form: »Sic homo Christianus simul iustus et peccator, Sanctus, prophanus, inimicus et filius Dei est. Haec contraria nulli Sophistae admittunt, quia veram rationem iustificandi non intelligunt.« (368,26 ff.)163 Zweierlei sei hier angemerkt. Zunächst: Dass Luther hier von einem Vgl. 368,21 f.: »Quia enim fides, ut dixi, infirma est, ideo oportet reputationem Dei accedere, quod deus nolit reliquum peccati imputare.« 162 Luther sieht auch in diesem Kontext die Sünde zuallererst als eine im Inneren, im Herzen bzw. der Vernunft sitzende Fehlhaltung an, aus der sekundär die äußeren Taten als Folge hervorgehen. Da diese Fehlhaltung aber auch noch in den guten Werken präsent ist, können diese nicht als Grundlage der göttlichen imputatio bzw. acceptatio fungieren: 364,29–365,19. Festzuhalten ist auch die Konzentration auf Glaube und Unglaube, wenn es um die Bestimmung von iustitia und peccatum geht. Vgl. 360,34 f.: »Ex his intelligi potest, quanta iustitia sit fides, Et per Antithesin: quantum peccatum incredulitas.« Dazu unten Teil II, Kapitel 1. 163 Freilich steht das simul iustus et peccator so nur im Dr, in der Hs heißt es: »Sic Christianus simul peccator et Sanctus, inimicus et filius dei. Sophistae non intelligunt.« (368,8 f.) – Vgl. auch 372,19–23: »Sic Christianus manet in pura humilitate, sentiens re 161

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konträren Sachverhalt spricht, wird man nicht so zu verstehen haben, dass es sich um einen kontradiktorischen Gegensatz handelt. Denn um einen logischen Widerspruch kann es ja deshalb nicht gehen, weil die unterschiedlichen Hinsichten, unter denen das iustus- und das peccator-Sein vom Christen zu prädizieren sind, aus dem Kontext klar hervorgehen: Anfänglich gerecht ist der Christ seines Glaubens wegen, vollkommen gerecht kraft der imputatio propter Christum, Sünder ist er dagegen durch den Unglauben, die Schwachheit des Glaubens und die anderen Sündenreste. Zum anderen: Die Rede von der ergänzenden und komplettierenden Funktion der imputatio legt es nahe, das simul hier im partiell-quantitativen Sinn zu verstehen: Der Christ ist teils gerecht und teils Sünder, wobei die teilweise Gerechtigkeit imputativ zur vollkommenen »aufgefüllt« wird. Andererseits lässt das Begriffspaar inimicus/filius dei sowie die Fortsetzung des Zitats die Möglichkeit zu, jeweils an Totalbestimmungen zu denken, so dass Luther hier eine eindeutige Entscheidung zugunsten der partialen oder totalen Sicht vermeidet. Man wird die Abweisung eines kontradiktorischen Gegensatzes auch dann aufrechterhalten, wenn Luther wenige Seiten später das Wort »duo contradicoria« (372,15) explizit gebraucht. Er konstatiert nämlich: »Ista ex diametro pugnant, Christianum esse iustum et amari a Deo et tamen simul esse peccatorem« (371,34 f.), und fragt dann, »quomodo igitur simul vera sint ista duo contraria?« Nämlich: »Habeo peccatum et sum dignissimus ira et odio divino, et: Pater amat me.« (372,14 ff.)164 Luther antwortet, dass das nur durch den Mittler Christus möglich ist, der »dazwischentritt« (intercedit: 372,16 f.), gemeint ist wohl zwischen die contradictoria.165 Christus, an den die Christen glauben, gibt ihnen Anteil an seiner vollkommenen Gerechtigkeit, und so kann der die Sünde und den Sünder (!) hassende Gott diesen lieben.166 Christus hat seine Sünde ja auf sich genommen. Zugleich bleibt der Christ – auf sich und seinen unvollkommenen Glauben gesehen – noch Sünder. Luther gibt also erneut zwei Hinsichten an, unter denen die contradictoria beide wahr sein können, was nur so zu verstehen ist, dass sie

vera peccatum et propter hoc se dignum ira, iudicio Dei et morte aeterna, ut humilietur in vita sua. Manet tamen simul et in pura et sancta superbia, quae se vertit ad Christum et per eum erigit contra hunc sensum irae et iudicii divini et credit se amari a Patre, non propter se, sed amatum Christum.« 164 Vgl. 371,24 f.: »hoc [Christus pro nobis mortuus] credentes reputemur iusti, manentibus nihilominus in nobis peccatis et quidem grandibus.« 165 Vgl. 373,12–17: Die Frommen haben Sünden, und dennoch ist nach Röm 8,1 nichts Verdammliches an denen, die in Christus Jesus sind: »Quis conciliat illa summe pugnantia, Quod peccatum in nobis non sit peccans, quod damnabilis non sit damandus, quod reiectus non sit reiiciendus, quod dignus ira et morte aeterna non sit daturus poenas? Unicus Mediator Dei et hominum Iesus Christus.« 166 Dass Gott die Sünde und den Sünder hasst, steht (leider) sowohl im Dr als auch in der Hs: 371,13.34 f. Anders 39 II,230,12 f.: »Peccatum quidem odit Deus, personam non odit.« Die Variante 230,29 f. schränkt dies indessen auf die »persona […] grata et accepta propter Christum« ein.

Rechtfertigung 149 deshalb im strikten Sinn nicht kontradiktorisch sind. Höchst bedeutsam ist der Gedanke, dass die Heilsrealität des simul christologisch vermittelt, ja ermöglicht ist. Indem Christus, der vollkommen Gerechte, die Sünde des Menschen trägt – also selbst zum simul iustus et peccator wird – ermöglicht er dem Menschen den Heilsstand des simul iustus et peccator.167 In dem von uns untersuchten Abschnitt zu Gal 3,6 stellt Luther ebenfalls die tröstende Funktion des simul für das angefochtene Gewissen heraus. Dies geschieht nun explizit in der Form des seelsorgerlichen Zuspruchs, der sich, auf die Einwände des »Klienten« eingehend, zum seelsorgerlichen Gespräch entwickelt. Unmittelbar nach der Erwähnung der simul-Formel führt Luther aus, dass die Gegner die ratio, die Logik der Rechtfertigung nicht kennen und deshalb die contraria des simul nicht zulassen können. Vielmehr zwingen sie die Menschen, solange Gutes zu tun, bis sie überhaupt keine Sünde mehr fühlten und auch »formaliter« gerecht seien. Da das aber nicht möglich ist, treiben sie viele in den Wahnsinn, ja zahlreiche Urheber dieser Lehre selbst geraten beim Sterben in Verzweiflung. Und Luther gesteht, dass ihm dasselbe hätte widerfahren können, wenn Christus ihn nicht aus diesem Irrtum herausgerissen hätte. Hier hilft nur der tröstliche Zuspruch eines Mitchristen, der zu dem Angefochtenen spricht: »Impossibile est, frater, te sic fieri iustum in hac vita, ut corpus tuum sit lucidum sine maculis velut sol, sed habes adhuc rugas et maculas, et tamen Sanctus es. Sed ais: Qui possum esse sanctus, cum habeam et sentiam peccatum? Quod sentis et agnoscis peccatum, bonum est, gratias age Deo, ne despera. Est unus gradus ad sanitatem, quando aegrotus agnoscit et fatetur morbum suum. Sed quomodo liberabor a peccato? Accurre ad Christum Medicum qui sanat contritos corde et salvat peccatores. In hunc crede; si credis, es iustus. […] Quod reliquum in te peccati est, non imputatur, sed condonatur tibi propter Christum in quem credis, qui est perfecte iustus formaliter, cuius iustitia est tua, peccatum tuum est suum.« (369,14–25)168 Ausgangspunkt ist in diesem Text die Situation der Anfechtung, welche ausgelöst wird durch die bleibende Sünde: Wird der Christ ihrer gewahr, vermag er nicht mehr zu glauben, dass er heilig und gerecht ist. Deshalb muss ihm der Zuspruch zuteil werden, dass eine vollkommene eigene Gerechtigkeit irdisch gar nicht möglich ist. Der Angefochtene darf und muss vor einem illusionären Vollkommenheitswahn gewarnt werden! Heilig ist der Christ aber dennoch – und zwar um Christi willen, dessen vollkommene Gerechtigkeit ihm geschenkt wird, während Christus dagegen seine Sünde übernimmt. Aus diesem Grund muss der Angefochtene immer neu zu Christus »hinfliehen«, ihn im Glauben ergreifen. Das iustus-esse wird dem Glaubenden unmissverständlich zugesprochen: »Si credis, Zur Verhältnisbestimmung von iustus und peccator durch das simul sowie zur christologischen Begründung des simul vgl. Teil II, Kapitel 3. 168 Vgl. 369,2 (Hs): »sed habes rugas, et tamen Sanctus.« Zur Funktion des Mitchristen in der Anfechtung siehe auch 40 III,543,14–544,19. 167

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es iustus!«169 Die verbleibende Sünde wird ihm dann nicht zugerechnet. Gleichzeitig wird dem »Klienten« auch eine positive Sicht auf seine Anfechtung ermöglicht: Sie soll bei ihm nicht zur Verzweiflung führen, sondern ist schon die erste Stufe zur Gesundung, weil er durch die Anklage des Gesetzes seine Sünde spürt und erkennt und gerade so veranlasst wird, zu Christus zu fliehen. Bei allen Parallelen sind die Divergenzen zur Römerbriefvorlesung unverkennbar: Luther verwendet zwar wieder das Bild vom Arzt und Kranken, um die Rechtfertigung zu verdeutlichen,170 das richtende Wort des Gesetzes ist eng mit dem Evangelium verbunden, aber doch klar von ihm als »vorbereitende« Stufe unterschieden,171 so dass der von außen kommende, zwar hypothetisch formulierte, aber assertorisch gemeinte Zuspruch möglich wird: »Si credis, es iustus!« Deutlich wird damit, dass Luther in dem interpretierten Passus das in vielem bedenkliche und sicher auch hinter seinen relationalen Ansatz zurückfallende Modell, Rechtfertigung zu denken (der unvollkommene Glaube und seine anfängliche Gerechtigkeit werden durch die göttliche imputatio propter Christum ergänzt, »perfektioniert«), zurücklässt und zum relationalen Denken zurückkehrt: Denn das in der Anfechtung »Notwendende« ist ja gerade nicht die Reflexion auf einen irgendwie partiell gerechten Glauben, sondern ausschließlich die glaubende Hinwendung zu Christus: »Accurre ad Christum. […] In hunc crede; si credis, es iustus.« Die partielle Gerechtigkeit, der Glaube als menschliche Haltung sind keine Basis, auf der man in der Anfechtung Halt gewinnt!172 Der Glaube als »Ex Vgl. 369,4 f. (Hs): »Habes Christum, si in eum credis.« Das Bild findet sich freilich nur im Dr. 171 Die Formulierung »primus gradus ad sanitatem« steht wieder nur im Dr, ist aber im Sinne Luthers, der das Gesetz als »praeparatio ad Christum« verstehen kann, ohne dass es selbst schon rechtfertigen würde oder das Evangelium in sich enthielte. In Hs heißt es nur 369,2 f.: »Age gratias, quod sentis et agnoscis peccatum.« 172 In dem zuletzt angeführten Passus (369,14–25) wird ebenfalls erkennbar, wie es zu jener Perspektive der Ergänzung des Glaubens bzw. der anfänglichen Gerechtigkeit kommen kann: Der Blick des Gerechtfertigten fällt auf seine bleibende Sünde, auf die Unvollkommenheit seines Glaubens und seiner Früchte, er entdeckt das simul peccator bei sich. Hier tritt dann die imputatio oder zumeist die non-imputatio propter Christum ergänzend dazu. Diese kann ihrerseits mit dem anfänglichen Glauben bzw. dem Kampf gegen die Sünde als Grund der Nichtanrechnung des »Sündenrestes« kombiniert werden. Vgl. 2,495,2–5: »Caeptus est enim [credens] iustificari et sanari, sicut homo ille semivivus. Interim autem, dum iustificatur et sanatur, non imputatur ei, quod reliquum est in carne peccatum, propter Christum, qui, cum sine peccato sit, iam unum cum Christiano suo factus, interpellat pro eo ad patrem«; 497,15–19: »Quia ergo per fidem incepta est iusticia et impletio legis, ideo propter Christum, in quo credunt, non imputatur, quod reliquum est peccati et implendae legis. Fides enim ipsa, ubi nata fuerit, hoc sibi negotii habet, ut reliquum peccati e carne expugnet variis afflictionibus, laboribus, mortificationibus carnis.« (Beide Zitate stehen jeweils im Kontext von Ausführungen zum simul.) Man wird unbefangen zur Kenntnis nehmen müssen, dass Luther so formulieren kann, ohne ir169 170

Rechtfertigung 151 ternbezug« ist vielmehr ganz von dem bestimmt, »worauf er gerichtet ist und worin er sein Leben hat«173. Von daher darf abschließend die Vermutung gewagt werden, ob Luther nicht in der Auslegung von Gal 3,6 (bzw. Gen 15,6) das Modell der iustitia formalis einerseits zwar auf den Glauben appliziert, diesen also als wenngleich unvollkommene und zu ergänzende Gerechtigkeit vor Gott erscheinen lässt, andererseits er aber gerade so dieses Modell als letztlich nicht tragfähig erweist und von innen heraus überwindet: Der Glaube hinsichtlich seiner Gläubigkeit stellt vor Gott keinen festen Grund dar!174

1.2.3 Galater 2,16 Diese Interpretation wird dadurch bestätigt, dass Luther an anderer Stelle – in der Auslegung zu Gal 2,16 – das Verhältnis von Glaube, Christus und iustificatio (bzw. imputatio) zu klären vermag, ohne auf die Vorstellung einer Ergänzung des unvollkommenen Glaubens zu rekurrieren, sondern den Glauben ganz von seiner Christusrelation her denkt. Luther wendet sich gegen die scholastische Vorstel-

gendwie das sola gratia einschränken zu wollen. – Luther hat folglich zwei Situationen im Blick: Die eine könnte man die Grundlegung des neuen Lebens nennen, und sie erfolgt durch das Ergreifen Christi im Glauben und die Zusprechung der Christusgerechtigkeit durch Gott. Die andere ist die Fortführung dieses neuen Lebens, in der der Christ der bleibenden Sünde bzw. des simul iustus est peccator ansichtig wird und seine Zuflucht nimmt zur non-imputatio dieser Sünde durch Gott um Christi willen. So deutlich auch BSLK 460,7–19. Diese Unterscheidung wird von Luther nicht streng durchgeführt und ist letztlich abstrakt, insofern sich ja die grundlegende Rechtfertigung immer wieder ereignet. Sie hat aber einen Anhalt an der Taufe als dem erstmaligen und bleibend gültigen Empfang des Verheißungswortes, zu dem man jederzeit »zurückkehren« kann. Vgl. die Rede vom »regressus«: 40 I,233,29 f. Zum Ganzen Walther, Rechtfertigungslehre; Iwand, Rechtfertigungslehre, 56–67, 70; Seils, Grund, 42, und unten Abschnitt 1.3.1 sowie Kap. 4.4. Somit könnte sich Luthers Denkmodell einer Ergänzung des unvollkommenen Glaubens durch die imputatio bzw. non-imputatio (auch) aus der Einnahme dieser sekundären Perspektive erklären. Vgl. die diesbezüglichen Andeutungen 364,22–26; 366,11 f.; 372,24–30. Für den Imputationsbegriff bedeutet dies, dass er bei beiden Blickrichtungen zum Tragen kommt, zunächst total und den ganzen Menschen umfassend, dann wiederum partial bzw. ergänzend. Man kann dies auch so formulieren: Die imputatio greift bei Luther sowohl beim Total-, als auch beim Partialaspekt des simul. So Joest, Gesetz, 66 f.; Rolf, Zum Herzen, 52, 59 f., 121 f. 173 Ebeling, Lutherstudien II/3, 506. 174 Indizien dafür innerhalb der Auslegung von Gal 3,6 sind 1) die Betonung, wie schwach der Glaube doch eigentlich ist (»vix scintilla«: 364,17; 368,21; 370,31), 2) die Erwägung, dass es letztlich nicht auf den Vollzug, sondern auf das Woraufhin des Glaubens ankommt, den Christus passus, unter dessen Schutzschirm wir uns bergen (z. B. 366,22–368,14; 368,24 f.: »Non propter nos, nostram dignitatem vel opera, sed propter Christum in quem credimus«; 372,24–30), und 3) die Ablehnung der aristotelischen iustitia formalis insgesamt (369,1 [Hs]; 370,19–32) bzw. ihre Übertragung auf Christus (369,24 f.).

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lung, wonach erst der durch die Liebe »formierte« Glaube rechtfertige.175 Dahinter steht die Auffassung, der Glaube werde – gleichsam wie ein toter Leib oder eine rohe Materie – erst durch die eingegossene charitas geprägt und gestaltet, d. h. zu einer lebendigen, rechtfertigenden Kraft. Demgegenüber rechtfertigt nach Luther der Glaube allein, der nun nicht durch die Liebe erst vollendet werden muss, sondern Christus als seine prägende »Form« ergreift. An die Stelle der Liebe tritt somit Christus.176 Der Glaube rechtfertigt, ja ist unsere Gerechtigkeit in seiner Relationalität auf Christus,177 so dass es dem nicht widerspricht zu sagen: »fide apprehensus et in corde habitans Christus est iustitia Christiana propter quam Deus nos reputat iustos et donat vitam aeternam.« (229,28 ff.)178 Der Glaube kommt also gar nicht als isolierte Qualität im Menschen, als menschliche Haltung der Gläubigkeit in den Blick, sondern bestimmt sich ganz von seinem »Objekt« her, fungiert gleichsam nur als »Transmissionsriemen« zu diesem hin.179 Jedoch ist das noch zu wenig gesagt: »Sed si est vera fides, est quaedam certa fiducia cordis et firmus assensus quo Christus apprehenditur. Sic ut Christus sit obiectum fidei, imo non obiectum, sed, ut ita dicam, in ipsa fide Christus adest.« (228,34–229,15)180 So innig ist also die Gemeinschaft, die unio mit dem im Glauben ergriffenen Christus, dass Christus nicht Objekt des Glaubens ist, sondern im Glauben selbst real anwesend ist, durch den Glauben im Herzen des Glaubenden wohnt.181 Es bleibt Zur Auseinandersetzung Luthers mit dieser scholastischen These vgl. Mannermaa, Glauben, 33–40; Härle, Glaube. 176 Vgl. 228,27 f.29 f.: »Nos autem loco charitatis istius ponimus fidem. […] nos e contra dicimus fidem apprehendere Christum qui est forma, quae fidem ornat et informat, ut color parietem.« Luther scheint an dieser Stelle eine doppelte »Informierung« anzunehmen: des Glaubens durch Christus und der Liebe durch den Glauben. Zu Luthers Konzeption von Christus als der forma fidei vgl. K. Bornkamm, Auslegungen, 93–99. 177 Vgl. 229,18 f.: »Est ergo formalis nostra iustitia non charitas informans fidem, sed ipsa fides«; 232,23 ff. – Die fides als iustitia formalis ist hier sichtlich anders verstanden als in der Interpretation von Gal 3,6 und überwindet deutlich dieses Denkmodell. 178 Insofern besteht auch keine Alternative zwischen der imputatio propter fidem in Christum und propter Christum. Vgl. 233,18 f. 22–24; 235,15–17. – Die paradoxe, das scholastische Informationsschema ad absurdum führende Interpretation Christi als forma fidei ermöglicht es Luther, einerseits das Gegenüber von Christus und Glaubendem festzuhalten, andererseits aber die engste Bezogenheit zwischen beiden herauszustellen. Vgl. K. Bornkamm, Auslegungen, 96; Seils, Grund, 32, 40. 179 K. Bornkamm, Auslegungen, 96: »Anstatt sich auf seine eigenen Qualitäten zu konzentrieren, wird der Glaubende von sich weg auf Christus verwiesen, den er im Glauben faßt.« 180 Vgl. 545,26–29: »Verum ita proponendus est Christus, ut praeter eum plane nihil videas, nihil tibi esse proprius et intimius ipso credas. Non enim sedet ociosus in coelis, sed praesentissimus est nobis, operans et vivens in nobis«; 546,27 f.: »vivit autem et operatur [Christus] in nobis non speculative, sed realiter, praesentissime et efficacissime.« 181 Zu diesem Gedanken Luthers vgl. Mannermaa, Glauben, der in ihm das Zentrum der Theologie Luthers erblickt und darin – als »real-ontische Teilhabe an Gott in Christus« (21) – eine Analogie zum ostkirchlichen Vergöttlichungsgedanken sieht. Aus Mannermaas An175

Rechtfertigung 153 also nicht bei dem distanzierten Gegenüber von Subjekt und Objekt. Der Glaube ist zwar in gewisser Weise eine Erkenntnis (»cognitio quaedam«), aber auch eine undurchdringliche Finsternis, ein Nebel, in dem in geheimnisvoller Weise Christus »sitzt« – wie Gott auf dem Sinai oder im Tempel.182 Somit gilt: »Iustificat ergo fides, quia apprehendit et possidet istum thesaurum, scilicet Christum praesentem.« (229,16–23) Allein den so mit Christus verbundenen Menschen sieht Gott als gerecht an.183 Luther begründet nun die Notwendigkeit der acceptatio bzw. reputatio184 damit, dass wir – auf uns gesehen – noch nicht völlig gerecht sind, bzw. mit der im Fleisch zurückbleibenden Sünde (offenbar ist die bleibende Konkupiszenz gemeint), die Gott selbst in uns reinigt, sowie mit den sich hin und wieder einstellenden (schweren) Tatsünden.185 Immer aber steht uns dann der »regressus« zum Artikel der Sündenvergebung offen: Die Sünden sind bedeckt und Gott will sie nicht anrechnen (233,29 f.).186 Luther wendet sich gegen die scholastische

satz hat sich eine ganze Schule finnischer Lutherdeutung entwickelt. Vgl. nur Peura, Iustitia, 189–195; ders., Mensch; ders., Vergöttlichung; Rolf, Zum Herzen, 214–225, die einen guten Überblick über diese Richtung der Lutherforschung gibt. Kritisch dazu Seils, Grund. 182 Luther vermeidet, um das Geheimnis zu wahren, die Folgerung aus der Präsenz Christi im Glauben: »Also ist der Glaube die Erkenntnis des anwesenden Christus«. So Gebhardt, Heil, 160 f. 183 Vgl. 233,16–19: »Ista tria, Fides, Christus, Acceptatio vel Reputatio, coniuncta sunt. Fides enim apprehendit Christum et habet eum praesentem, includitque eum ut annulus gemmam, Et qui fuerit inventus cum talem fidem, illum reputat iustum.« 184 K. Bornkamm, Auslegungen, 70 f., 73 f., 76–84, 99 f., 154, verweist darauf, dass die beiden Denkmodelle der unio mit Christus und der imputatio der Gerechtigkeit Christi in einer gewissen Spannung zueinander stehen, wenngleich sie sich auch wechselseitig ergänzen bzw. interpretieren. Auch die innigste unio mit Christus wahrt die Unterschiedenheit der Personen, es ist die Gerechtigkeit Christi, die mir ganz zu eigen wird. In der unio geschieht gerade der Tausch zwischen Christus und mir. Sie ist also eine relationale Wirklichkeit. Vgl. auch Iwand, Rechtfertigungsglaube, 108; Peura, Iustitia, 191 f. Andererseits darf die imputatio nicht als dem Menschen äußerlich bleibendes, wirkungsloses Urteil, als göttliches Als-ob verstanden werden. Es geht um wirkliche Mitteilung von Gerechtigkeit und Teilhabe am Leben Gottes! Dazu Mannermaa, Glauben, bes. 26–40. 185 233,25–29: »Et valde necessaria est Acceptatio seu reputatio, Primum, quia nondum sumus pure iusti, sed in hac vita haeret adhuc peccatum in carne. […] Deinde relinquimur quandoque etiam a Spiritusancto et labimur in peccata ut Petrus, David et alii Sancti.« Luther hat hier wieder die auf den Partialaspekt des simul bezogene ergänzende Funktion der imputatio im Blick. Im Übrigen zeigt diese Stelle (wie auch 368,21–24; 372,24–28), dass für Luther die dauerhafte Angewiesenheit des Christen auf die imputatio in dessen Status als simul iustus et peccator begründet ist. Das betont durchgängig Rolf, Zum Herzen, 30 f., bes. 31: »Weil ein Mensch [genauer: Christ] für Luther gleichzeitig Sünder und gerecht ist, ist die ›Zurechnung der göttlichen Gerechtigkeit‹ bzw. seines Glaubens und die Nicht-Zurechnung seiner Sünde zu seinen Gunsten notwendig«; 43, 63 f., 99, 102, 350. 186 Das Stichwort »regressus« zu dem etwa bei der Taufe über dem Menschen aufge-

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Auffassung, dass die Sünde im Getauften erst mit einer neuen Tatsünde eintrete, nein, sie ist vielmehr wahrhaft da (»peccatum adest vere«: 234,12 f.), sie wird auch erfahren, aber bei Gott verziehen und verborgen, weil der Mittler Christus für uns eintritt, den wir im Glauben ergreifen. Und dann gilt: »opportet omnia peccata esse non peccata.« Wogegen umgekehrt gilt: »Ubi vero Christus et fides non est, ibi nulla est remissio peccatorum, nulla absconsio, sed mera imputatio et damnatio peccatorum.« (234,14–17) Von hier aus gelangt Luther zu einer grundsätzlichen »Definition« des Christen, die das simul umschreibt: »Definimus ergo hunc esse Christianum, non qui non habet aut non sentit peccatum, sed cui illud a Deo propter fidem in Christum non imputatur.« (235,17 ff.)187 Und er fügt sogleich hinzu, dass diese doctrina festen Trost in den Gewissensschrecken gibt. Deswegen sei es nicht umsonst, dass er so oft und sorgfältig die remissio peccatorum und die imputatio iustitiae propter Christum einschärfe. Interessant ist eine weitere Bemerkung Luthers, wonach die Freiheit des Christen von Sünde und Gesetz – »praesertim in tentatione« – gelte, »inquantum est christianus« (235,20 ff.). Luther erklärt diese Wendung wenige Zeilen später dahin, dass der Christ nicht als Mann und Frau, also nicht in seinem sozialen Gefüge, frei vom Gesetz ist. Gemeint ist mit der Einschränkung »inquantum est Christianus« vielmehr: eben insofern, als er bezogen ist auf Christus im Glauben!188

1.2.4 Galater 2,20 Ein weiterer Bezug auf das simul erfolgt im Zuge der Auslegung von Gal 2,20, ein für Luthers Theologie eminent wichtiger Vers.189 Paulus korrigiert sich hier nach Luther quasi selbst: Zwar lebt die Person des Gerechtfertigten, aber nicht »in se aut pro sua persona«, sondern Christus lebt in ihm (283,22). Das Leben ist eine »aliena vita« (287,30). Das Ich, das unter dem Gesetz steht und aktiv wirken muss, d. h. sein Gottesverhältnis selbst übernehmen und eine von Christus »abgetrennte richteten Vergebungswort signalisiert nochmals den Unterschied zur iteratio des frühen Römerbriefkollegs. 187 Ähnlich 25,332,5–11. Nochmals zugepitzter 17 I,297,9–298,32, bes. 297,32–298,13: »Das ist aber eyn Christ, der eyn sunder ist und erkent seyne sunde, verdreust yhn und ist yhm von hertzen wider, das er sunde noch fulet, Der ist keyn Christ, der gar keyn sunde hat noch fulet, findestu aber eynen solchen, der ist eyn wider Christ, keyn warer Christ.« Eben deshalb, weil er seine Sünde, die ihm unausweichlich anhaftet, leugnet und nicht auf Christus angewiesen sein will. 188 Vgl. 40 I,235,22 f.: »Habet enim in corde suo tanquam gemmam in annulo Christum, legis Dominum. Itaque cum lex accusat, peccatum perturbat etc., intuetur in Christum.« – Zu beachten ist, dass Luther im Kontext der Anfechtung Hilfe nicht nur vom Hören des Wortes, sondern auch vom Blick bzw. Blickwechsel auf Christus erwartet! Das Unheil liegt im Schauen auf sich selbst! Dazu Gebhardt, Heil, 156; Keilus, Gesetz, bes. 144, 177, 184 f., 188. 189 Vgl. die eindringliche Analyse von Luthers Auslegung dieses Verses bei Gebhardt, Heil, 139–161.

Rechtfertigung 155 Person«190 sein will, »also auf sich selbst blickt und damit dem Gesetz verfallen ist«191, lebt nicht mehr. Die Person, die vorher in falscher Selbstbezogenheit eine eigene Person und »Substanz« zu sein suchte,192 hat ihr Leben, ihre Identität jetzt als Christusrelation, ja ist auf diese Weise neu konstituiert worden.193 Christus ist ja die »Form« des Glaubenden, so wie die Farbe oder das Licht die Wand schmückt.194 So ist Christus das Leben, das ich führe, er hat meine Person in ihrem Stehen vor Gott übernommen.195 In dieser Hinsicht sind Christus und ich eins. Mag zwar der alte Mensch noch da und dem Gesetz unterworfen sein, also sich immer noch selbst zu konstituieren streben:196 »sed quantum attinet ad iustificationem, oportet Christum et me esse coniunctissimos, ut ipse in me vivat et ego in illo.« Was also in mir an Gnade, Gerechtigkeit, Leben und Frieden ist, gehört eigentlich Christus zu, ist aber doch das Meine, da der Glaubende und Christus wechselseitig aneinanderhängen, ja »zusammengeleimt« sind: »per conglutinationem et inhae­ sionem quae est per fidem, per quam efficimur quasi unum corpus in spiritu« (284,20–22.24–26; vgl. 283,28–31). In der Rechtfertigung müssen wir gleichsam 283,23 f.: »Is Ego est qui legem habet et operari debet quique est persona quaedam segregata a Christo; 283,24 f.: Quia Ego ut distincta persona a Christo pertinet ad mortem et Infernum.« 191 K. Bornkamm, Auslegungen, 101. Vgl. Gebhardt, Heil, 136, 139: »Die Alternative lautet also: Entweder ich lebe für mich, oder Christus lebt in mir, bzw. aus der Perspektive der neuen Lebenswirklichkeit: Ich (für mich) lebe nicht mehr, sondern Christus lebt in mir.« Zur Vorstellung Christi als persona des Menschen K. Bornkamm, Auslegungen, 100–105; Mannermaa, Glauben, 48–52. 192 Vgl. 282,16: Es gilt »non in persona vel substantia mea« zu leben. Oder: Nicht auf mich, sondern auf Christus zu schauen: »In conspectu meo non maneat nisi Christus crucifixus et resuscitatus. Si me respicio et sepono ex oculis Christum, so bin ich dahin.« (282,5 ff. [Hs]) 193 Der Personbegriff wird bei Luther doppelt gebraucht: einmal zur Bezeichnung der sündhaften Selbstverkrümmung (»homo curvatus in se«), welche ihre Existenz selbst begründen will, und zum anderen für das extra se esse im Glauben, wodurch der Mensch allererst wahrhaft zur Person wird. Dazu unten Teil III, Kapitel 5. 194 Vgl. 283,26 f.28 f.: »Is est mea forma, ornans fidem meam, ut color vel lux parietem ornat. […] tam proxime et intime Christum haerere et manere in nobis, quam lux vel albedeo in pariete haeret.« Dieses Bild ist kein blasses Beispiel, sondern muss strikt vom Materie-Form-Schema her verstanden werden: Die Wand wird erst zur Wand durch die sie zur Wirklichkeit führende Farbe! Eine Wand ohne Farbe ist keine reale Wand! Vgl. K. Bornkamm, 92180. 195 Vgl. K. Bornkamm, Auslegungen, 102: »An die Stelle, die sonst die persona des Menschen einnimmt, tritt im Gottesverhältnis des Menschen Christus, ganz ähnlich wie er im Rahmen des Informationsschemas den Platz der charitas übernimmt.« Die Rede von Christus als persona des Menschen meint aber keine Identität: »Christus bleibt auch bei der engsten Vereinigung […] das Gegenüber des Glaubenden.« (ebd., 103). 196 Vgl. 284,20: Interim foris quidem manet vetus homo, subiectus legi. Nach 284,4 (Hs) bleibt die »alte Haut« (antiqua cutis). Freilich muss ich nach 284,17 (Dr) auch »aus meiner Haut fahren« (eximar a cute mea) und in Christus versetzt werden. 190

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von uns selbst »abstrahieren« (»prorsus abstrahere a nobisipsis«) und in Christus und den Glauben hineinverpflanzt werden (»in ipsum Christum et fidem Christi transplantare«: 284,29 ff.).197 Luther nennt das eine »peculiaris phrasis«, eine »besondere Redeweise« des Paulus – »non humana, sed divina et coelestis« (285,8 f.)198, nämlich in solchen Gegensätzen und Paradoxien zu reden: »›Vivo‹, non vivo; ›mortuus sum‹, non mortuus sum; sum peccator, non sum peccator; habeo legem, non habeo legem.« (285,13 f.)199 Es geht hier jeweils um ein paradoxes Zugleich konträrer Aussagen: So wie ich zwar lebe, aber doch nicht lebe, weil ein anderer in mir lebt, ich meine Identität nicht durch »Substantialität«, sondern durch Relation und Kommunikation gewinne, so trifft analog zu: Die sündige, d. h. auf sich blickende, aus sich selbst lebende Person ist zwar im Glauben »gestorben«, gilt nicht mehr vor Gott, ist aber irgendwie noch da.200 Ich habe in Christus die Sünde überwunden und dennoch haftet sie mir noch an. Wie ist das wahr? Eben in und durch Christus: »Sed ista phrasis vera est in Christo et per Christum.« Christus, mit dem ich ganz eng verbunden bin, bringt mir sein Leben, seine Gerechtigkeit, und eben dies schafft jenes paradoxe Zugleich (simul). Freilich gilt das Erstere nur in der intimen Verbindung mit Christus: »Quare si in causa iustificationis discernis personam Christi et tuam, tum es in lege, manes in ea, et vivis in te, quod est mortuum esse apud Deum et damnari a lege. […] Verum recte docenda est fides, quod per eam sic conglutinaris Christo, ut ex te et ipso fiat quasi una persona quae non possit segregari sed perpetuo adhaeret ei et dicat: Ego sum ut Christus,

Vgl. 282,18–23, bes. 18 f.: »Itaque cum disputandum est de iustitia Christiana, prorsus abiicienda est persona.« 198 Vgl. 284,22: »Mirabilis est haec loquendi ratio«; 285,12 f.: »plane insolens et inaudita«. 199 Der explizite Bezug zum simul ist in Hs nicht hergestellt. An der dem Dr vergleichbaren Stelle 284,10–285,2: heißt es nur: »Ergo non est phrasis humana Pauli, et nisi Paulus sic locutus, quis umquam auderet? […]. Scilicet sic: ›per legem legi [mortuus sum]‹ etc., nisi conceptis verbis in libris staret, nullus Sanctus, prophanus auderet sic loqui.« Oder sollte sich in der etwas unvermittelten Aneinanderreihung »Sanctus, prophanus« eine falsch protokollierte Anspielung Luthers auf das simul finden (sum sanctus et prophanus; vgl. Dr 368,36!), zumal Rörer sie im Dr so nicht übernommen hat, sondern nur schreibt: »nemo etiam ex Sanctis aussus fuisset ea [hac forma loquendi] uti« (285,12)? 200 Vgl. 287,28 f. (von einer duplex vita gesagt): »Mea naturalis vel animalis, et aliena, scilicet Christi in me.« Die naturalis vel animalis vita wird im doppelten Sinn zu verstehen sein: Einmal als die »natürliche«, physisch-psychische Existenz und Identität des Menschen, als sein Erlebens- und Verhaltenszentrum, die natürlich mit dem Glauben nicht ausgelöscht, sondern von Christus bzw. seinem Geist wie ein Instrument in Dienst genommen und nicht als das eigentliche Leben erachtet werden. Zum andern ist mit der naturalis vel animalis vita aber jene Lebenshaltung gemeint, die dieses Leben zum eigentlichen macht, anstatt aus der Relation zu Gott und zum Nächsten zu leben. Dieses Leben, das »Ich für sich«, ist im Glauben mit Christus »gestorben«, ich lebe nun in Christus eine aliena vita. Und dennoch gilt: Der Christ existiert im simul von vita propria und vita aliena. 197

Rechtfertigung 157 et vicissim Christus dicat: Ego sum ille peccator, quia adhaeret mihi, et ego illi; Coniuncti enim sumus per fidem in unam carnem et os.« (285,14–17.24–286,15)201

1.2.5 Galater 3,13 In der Auslegung von Gal 3,13 ergibt sich auf die von der Römerbriefvorlesung her virulent gebliebene Frage eine beachtliche Antwort: Was ist die eigentliche Realität im simul – die Sünde des Menschen, er ist ja re vera peccator, oder die imputatio, die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die neu geschenkte Gottesund Christusrelation? Wenn in der Römerbriefvorlesung der Christ als iustus ex reputatione Dei bzw. als iustus in spe galt, so konnte der Verdacht aufkommen, die eigentliche Realität sei das Sündersein (in re, in veritate, re vera). Die imputatio drohte zu einem Als-ob, zu einer Wirklichkeit allein in Gott zu werden,202 die Gerechtigkeit zu einem reinen Hoffnungsgut. In der Kommentierung von Gal 3,13 steht nun 1531 ganz der Sieg Christi im Vordergrund, den dieser über die Mächte des Todes und der Sünde errungen hat und der für den Einzelnen im Glauben persönliche Wirklichkeit wird: »Ergo sola fide iustificamur, quia sola fides apprehendit hanc victoriam Christi. Quatenus igitur hoc credis, eatenus habes. Si credis Peccatum, Mors et Maledictionem abolita esse, abolita sunt; Quia Christus ista in Semetipso vicit et sustulit. Et vult credi, quod sicut in sua persona nulla est amplius larva peccatoris, nullum vestigium mortis, ita neque in nostra, cum pro nobis omnia fecerit.« (444,13–18)203 Luther bringt hier seine auch früher schon verwandte »Objektivationsformel« (Reinhold Seeberg): Wie du glaubst, so hast du! Von daher kann der Christ in der Anfechtung durch Sünde und Tod gewiss sein, dass diese nur ein nichtiges Schemen (vanum spectrum) und ein Spott des Teufels (diaboli illusio) seien, weil Christus sie besiegt und vernichtet hat. Der Sieg Christi ist aber höchst gewiss (certissima), es gibt hier keinen »defectus in re«, sondern nur »in incredulitate nostra«, also in der mangelnden Aneignung des Sieges Christi (444,19–24). Freilich fällt es der Vernunft schwer, so unschätzbar Großes zu glauben, und insofern ist sie jederzeit für die diabolische Anfechtung anfällig, Sünde und Tod für die eigentliche Realität vor Gott zu halten. Dass aber Luther greift hier auf die Ehemetaphorik von Eph 5,30 f. (vgl. 1 Mos 2,24) zurück, die freilich für das Gemeinte nur ein unzureichendes Gleichnis sein kann: »Ita, ut haec fides Christum et me arctius copulet, quam maritus est uxori copulatus.« (286,16 f.) 202 Vgl. auch 40 I,367,17–21.27 f.: »Verum haec peccata dissimulat Deus suntque apud eum, quasi non essent peccata. […] reputat Deus […] peccatum pro non peccato quod tamen vere peccatum est. […] Deus ad omnia peccata connivet et vult esse tecta, quasi non sint peccata.« 203 Vgl. 444,2–6 (Hs): »Quia ille [Christus] in semetipso sustulit peccatum, et vult credi, quod, sicut in ipso nullum peccatum, larva, sic in te, etc. Si senseris [peccatum], cogita, quod sit mendacium plane. Illa tristitia carnis est diabolica illusio. Revera ibi nullum peccatum. Ideo leits dran ut bene credas. Non defectus in re, revera est sic. Sed difficile est credere«; 546,16–21. Vgl. Mannermaa, Glauben, 26–29, bes. 27: »In der realen Teilhabe an Christus hat der Christ keine Sünde und keinen Tod mehr.« 201

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unter der Herrschaft Christi »nullum re vera amplius Peccatum, Mors et Maledictio« ist, bekennen wir auch im Glaubenbekenntnis: »Credo ecclesiam Sanctam.« Denn dies heißt nichts anderes: »Credo nullum peccatum, nullum mortem in Ecclesia esse; Quia credentes in Christum non sunt peccatores, non sunt rei mortis, sed simpliciter sancti et iusti, domini peccati et mortis et in aeternum viventes.« (444,30–36) Hier droht die bleibende Realität der Sünde, die Luther sonst so sehr betont, fast ganz zu verschwinden. Natürlich gilt dies alles nur in der Perspektive des Glaubens (»tantum fides hoc cernit«: 444,36), zieht man die Vernunft und die Augen zu Rate, so ist bei den Frommen sehr wohl noch Sünde und Glaubensschwachheit zu konstatieren. Dennoch ist die Konsequenz, die Kirche sei deshalb nicht heilig, falsch. Sie stimmt nur, wenn ich meine eigene und meines Nächsten Person betrachte. Wenn ich aber Christus betrachte, ist die Kirche ganz heilig (»tota sancta«) (445,12–18). Luther zieht daraus die Folgerung: »Ideo peccata non sunt re vera, ubi cer­ nuntur et sentiuntur. Nam secundum Theologiam Pauli nullum peccatum, nulla mors, nulla maledictio est amplius in mundo, sed in Christo.« Er fährt dann fort: »Vera autem Theologia docet, quod nullum peccatum amplius sit in mundo, quia Christus […] vicit, delevit et occidit illud in corpore suo. […] Ubicunque igitur est fides in Christum, ibi re vera peccatum abolitum, mortuum et sepultum est. Ubi vero non est fides, ibi peccatum manet.« (445,19 ff.28–34)204 Luther bestrei Vgl. 445,4–11 (Hs): »quia secundum theologiam nullum est amplius peccatum in mundo, mors etc. Sed secundum rationem nusquam est peccatum nisi in peccatoribus. […] Sed theologia: revera nullum peccatum amplius, quia Christus sustulit in carne sua […]. Ubi Christus creditur, nullum peccatum amplius. […] Sed in carne manet, ubi non creditur; sed quia creditur, non reputatur«; 437,27–438,13: »Ibi Lex venit et dicit: Invenio illum peccatorem suscipientem omnium hominum peccata in se et nullum praeterea peccatum video nisi in illo«; 438,24 f.: »Si peccata totius mundi sunt in illo uno homine Iesu Christo, Ergo non sunt in mundo.« – Luther führt den Gedanken auch an anderer Stelle (40 II,30,28–33,23) aus, wieder ist die Situation extremer Anfechtung vor Augen, das Bedrängtwerden durch Sünde, Tod, Gericht und Zorn Gottes. Hier soll der Angefochtene sich gegen dieses Gefühl »stemmen« und sagen: Es ist nicht wahr!, vielmehr ist dem Wort Gottes zu folgen: »Etiamsi sentiam me prorsus oppressum et absorptum peccato et iudicem Deum aversum et iratum, tamen re ipsa hoc non est verum, nisi quia sensus meus ita iudicat. Verbum Dei, quod in istis pavoribus sequi debeo, non sensum meum, longe diversum docet.« (40 II,30,34–31,20) – Luther versteht Gal 3,13 so, dass Christus die Sünden aller Menschen auf sich genommen habe und so zum größten und einzigen Sünder geworden sei, obwohl er als Einzelperson völlig unschuldig war. Er hat aber unser aller »Person« coram Deo übernommen. Vgl. 433,17–24; 437,25 f.: Der Vater spricht zum Sohn: »tu sis omnium hominum persona qui feceris omnium hominum peccata«; 434,35 f.: »peccator peccatorum«, der aber zugleich der zuhöchst Gerechte war. So kamen in Christus die beiden extrema bzw. contraria zusammen (438,10.32). »Sed quia in eadem illa persona quae est summus, maximus et solus peccator, est quoque aeterna et invicta iustitia, ideo congrediuntur illa duo: summum et maximum et solum peccatum et summa, maxima et sola iustitia.« (439,13–15) Auf diese Weise entstand in Christus selbst gleichsam ein simul iustus et peccator (435,1–3 [Hs]: »innocens quidem […] simul reus omnium 204

Rechtfertigung 159 tet natürlich auch jetzt nicht, dass reliquia peccati noch in den Heiligen sind, eben weil sie nicht vollkommen glauben und die Sünde bei sich auch wahrnehmen. Dennoch gilt: »illae [reliquiae peccati] mortuae sunt, quia propter fidem in Christum non imputantur.« (445,35 f.) Luther möchte den Wandel auf Seiten des Menschen überhaupt nicht als Veränderung bzw. Austausch von Qualitäten an einer Substanz oder einem menschlichen Subjekt verstanden wissen. Dann würde nur die Qualität der Sünde unter Mitwirkung des Menschen durch die der Liebe ersetzt. Vielmehr ist für ihn dadurch, dass Christus unsere Sünde und ihre vor Gott verdammende Wirkung übernommen hat und dies im Glauben angenommen wird, unsere Relation zu ihr eine andere geworden: Sie vermag nun nicht mehr von Gott zu trennen, sie ist nicht mehr die lebensbestimmende Macht schlechthin. Freilich bleibt an dieser Stelle unklar, ob Luther der Auffassung ist, dass auf der Ebene der qualitas die Sünde bleibt bzw. nur anfänglich angegriffen wird und er nur kritisiert, dass die traditionelle Theologie ausschließlich sub­ stanzontologisch zu denken vermag – oder ob er die substanzontologische Denkform grundsätzlich hinter sich gelassen hat.205 Die Veränderung im Vergleich zum Römerbriefkolleg ist dennoch offenkundig: Unter dem Eindruck des gewaltigen Sieges Christi über Sünde und Tod, in der Entdeckung der Wirkmächtigkeit des Glaubens als Ergreifen Christi rückt das »re vera« von der Seite der Sünde auf die Seite des Gerechtseins. Die eigentliche Realität, die »wirklichste Wirklichkeit«206 ist die Glaubensrealität, welche in der Christusrelation bzw. der imputatio besteht. Die Verderbensmächte sind ihrer Realität verlustig gegangen, eben weil sie mich nicht mehr von Gott trennen und vor seinem Gericht gegen mich sprechen können. Natürlich hatte Luther auch schon früher gelehrt, dass die bleibende Sünde den Christen von Gott nicht mehr trennt. Er bringt nun aber auch terminologisch adäquater zum Ausdruck, dass dies die eigentliche Dimension ist, aus der der Christ leben darf.207 peccatorum mundi«), das in ihm jedoch – anders als bei uns – in einem wunderbaren Zweikampf (»mirabile duellum«: 439,31 f.) ein für allemal überwunden wurde: Die höchste Gerechtigkeit besiegte die größte Sünde, das Leben den Tod, der Segen den Fluch. Dazu K. Bornkamm, Auslegungen, 127–135; Lienhard, Zeugnis, 212–216; Mannermaa, Glauben, 22–26; Rieske-Braun, Duellum, 89–100. 205 In diesem Fall wäre auch die Sünde relational, d. h. als Bestreitung bzw. Perversion der Gottesrelation (= Unglaube) aufgefasst, welche im Glaubenden die neue Gottesbeziehung noch durchwirkt und mit ihr koexistiert (simul). Zum erstgenannten Denkmodell vgl. unten Teil II, Kap. 3.3. 206 So Keilus, Gesetz, 172, 197. 207 Luther hatte diese Lösung schon 1519 im »Sermon von der Bereitung zum Sterben« erreicht, wo er ausführt: In der Situation extremster Anfechtung (nämlich im Sterben) durch Tod, Sünde und Hölle soll der Christ nicht auf diese durchaus »wirklichen« Mächte, sondern ganz auf Christus schauen, in dem sie überwunden sind. Er soll sie nicht »zuvill ansehen und zu tieff bedenken« (2,687,18 f.), sie nicht »an sich« bzw. in seiner Person betrachten (vgl. 689,3 ff.; 690,10 f.), sondern in ihrer Relation zu Christus, wo sie ihrer Wirkmächtigkeit beraubt sind. »Du must den tod yn dem leben, die sund yn der gnadenn,

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1.2.6 Galater 5,5 Bisher konnte man den Eindruck gewinnen, als orientiere sich das Rechtfertigungsverständnis des Großen Galaterkommentars ausschließlich an der imputativ-forensischen Rechtfertigung, die freilich eng mit der fast mystisch gedachten Christusgemeinschaft des Glaubenden zusammenzusehen ist, ja auf dieser gründet und insofern auch eine gewaltige Veränderung im Menschen bedeutet.208 Aber die prozesshaft-effektive Rechtfertigungskonzeption ist uns bisher nicht begegnet. Dass sie nicht völlig fehlt, zeigt die Auslegung der für Paulus ungewöhnlichen Formulierung in Gal 5,5: »Wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss.«209 Luther bemerkt dazu, dass man die hell ym hymell ansehen.« (688,35 f.; vgl. 689,24–29) »Sich, ßo magstu deyn sund sicher ansehen außer deynem gewissen, da seynd sund nymer sund, da seynd sie uberwunden und yn Christo verschlunden.« (689,37–690,1) Natürlich sind die Verderbensmächte »vorhanden«, bestimmen als »Bilder« unser Vorstellen und Denken, aber weil sie im Glauben nicht vor Gott gelten, konstituieren sie nicht die eigentliche Realität, sondern der ihnen gleichzeitige Christus pro nobis. Sie dürfen deshalb transponiert werden in ihn, »des lebens und gnaden bild« (689,27 ff.; 690,6). Solchen Trost in der Anfechtung kann Luther erst spenden, nachdem er das untrügliche Verheißungswort als solches und versiegelt durch die Sakramente entdeckt hat. 208 Vgl. Peura, Iustitia, 196: »Es ist […] bemerkenswert, dass die Gerechterklärung nach dem Verständnis Luthers eben dann möglich ist, wenn der Christ Christus im Glauben zu eigen hat.« Peura betont ebd., 196–200, die untrennbare Zusammengehörigkeit von vollkommener Gerechterklärung und partieller Gerechtmachung im Großen Galaterkommentar. Er stellt weiter heraus, dass »Luther die verschiedenen Aspekte der Rechtfertigung mit Hilfe der Gegenwart Christi zusammen[hält]« (199): Der im Glauben ergriffene und gegenwärtige Christus ist der Grund der Gerechterklärung durch Gott. Zugleich wirkt dieser im Glauben präsente Christus nach und nach die Gerechtmachung. Auf diese kann der Christ aber – als simul iustus et peccator – niemals vertrauen. Seine vollkommene Gerechtigkeit ist Christus allein (200). Das simul erscheint bei Peura aber ausschließlich in seinem partiellen Sinn, d. h. eine Reflexion auf das totus peccator fehlt. Vgl. ebd. 198, 200. Zum Ganzen auch Mannermaa, Glauben, 56–59. 209 Vgl. zur Exegese dieses Verses durch Luther Manns, Fides, 279–288. Manns weist auf die beachtliche Bedeutung hin, die in 40 II,23–34 der Hoffnung gegenüber dem Glauben zugemessen wird. Wir können uns aber seiner Grundthese, dass Luther, wäre er von polemischen Verengungen und Komplexen befreit, der gnadenhaft gewirkten Liebe (und Hoffnung) eine heilskonstitutive Bedeutung neben dem Glauben zugewiesen hätte, nicht anschließen. Neben der durch den Bibelvers veranlassten Profilierung der Hoffnung gegenüber dem Glauben hebt Luther doch auch beider Einheit hervor, so dass die Hoffnung als ein Moment und Implikat des Glaubens erscheint. Im Übrigen scheint hier wieder einer jener Fälle vorzuliegen, in denen Luther, durch biblische Zusammenhänge veranlasst, sich zu Aussagen führen lässt, die dem sonstigen Duktus seines Denkens nicht ohne weiteres bzw. nur schwer einzuordnen sind. Vgl. nur die Bemerkung 40 II,27,29: »Fides in theologia sine spes nihil est«, und die damit einhergehende Intellektualisierung des Glaubens (40 II,27,7: »tum spes sperat, ut fides docuit«; dazu Greschat, Melanchthon, 97 f.). Siehe ferner den großen Traktat über die Hoffnung 5,156,18–177,27 (zu Ps 5,12).

Rechtfertigung 161 die »spes iusticiae« doppelt verstehen könne, als Hoffnungsgut, also die künftige Gerechtigkeit selbst, und als Akt bzw. Affekt des Hoffens auf diese. Zur letzteren Interpretationsmöglichkeit führt er aus: »Nos spiritu ex fide expectamus spe et desiderio iusticiam, Hoc est sumus iustificati, et tamen nondum sumus iustificati, quia iusticia nostra pendet adhuc in spe.« (40 II,24,13–15) Als Grund für die noch unvollkommene Rechtfertigung benennt Luther die dem Fleisch noch anhängende Sünde, so dass im Christen zeitlebens der Kampf zwischen Geist und Fleisch auszutragen ist. Insofern bleibt hienieden der »locus speratae iusticiae«, bei deren Eintreten jener Kampf zugunsten des Geistes einmal beendet sein wird. Luther fährt fort: »Incepimus quidem iustificari fide, qua et primitias Spiritus accepimus, et mortificatio carnis coepta est, sed nondum perfecte iusti sumus. Reliquum est, ut perfecte iustificemur, hocque speramus. Sic iustitia nostra non­ dum est in re, sed adhuc in spe.« (40 II,24,18–22)210 Versteht man die Gerechtigkeit von ihrem Ende her, an dem der Mensch auch vollkommen seinshaft gerecht ist, ihm keine Sündenreste mehr anhängen, dann ist die Glaubensgerechtigkeit nur ein Anfang.211 Später werden wir sehen, dass die eschatologische Gerechtigkeit für Luther keine Glaubens- und Hoffnungsgerechtigkeit mehr ist, sondern eine Gerechtigkeit der Liebe. Nun ist es aber nicht so, dass dieser Anfang ein Mehr erst durch die eschatologische Vollendung im Tod gewinnt, sondern wir haben im Glauben die Erstlinge des Geistes schon empfangen und die Tötung des Fleisches hat begonnen. Nur sind wir eben noch nicht vollkommen gerecht. Rechtfertigung erscheint hier als ein fortschreitender Prozess, der mit dem Glauben beginnt, über Liebe und mortificatio carnis geht und in der eschatologischen Vollendung sein Ziel findet. Dabei partizipiert aber jeder Etappenschritt auf diesem Weg an der bleibenden Unvollkommenheit, deshalb bleiben wir auf das Gerechtfertigtwerden durch den Glauben hienieden unhintergehbar angewiesen, und dass wir vollkommen gerechtfertigt werden, bleibt zu hoffen. Eine Emanzipation von

Dazu zur Mühlen, Hoffnung. Solche Passagen dann aber gegen das sola fide auszuspielen, widerspricht der sonst klar dokumentierten Grundlinie der Theologie Luthers. Was Manns analoge Aussagen hinsichtlich der Liebe (ebd., 288–312) angeht, scheint uns das Moment der bleibenden Sünde unzulässig abgeschwächt zu sein bzw. alles auf ein effektives Verständnis der Rechtfertigung, verbunden mit einer Konzentration auf das simul im Sinne des partim-partim, hinauszulaufen. Der Totalaspekt des Gerechtseins und des Sünderseins tritt demgegenüber zurück. Vgl. ebd. 300 f., 305. Härle, Glaube, bes. 147 f., 162, zeigt, dass sich Luthers Ablehnung der scholastischen These von der fides charitate formata gerade auf die gnadenhaft gewirkte Liebe bezieht. 210 Vgl. 40 II,24,5 (Hs): »quod iustitia non est, ut debet, expectamus autem per primitias spiritus, accepimus primitias, sed speramus, ut perfecte. Sic iustitia nostra non in re, sed in spe.« 211 Vorausgesetzt ist in dieser Perspektive natürlich, dass die Glaubensgerechtigkeit in sich betrachtet auch ein vollkommenes Angenommensein durch Gott bedeutet: Wir sind durch die imputatio Dei ganz gerecht (Totalaspekt). So heißt es: »Sumus iustificati.« Vgl. 40 II, 30,26 f.: »in tribulatione expectamus spe eam iusticiam, quam fide iam possidemus.«

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der Glaubensgerechtigkeit ist irdisch nicht denkbar. Bleibt man konsequent in Luthers Denkmodell, so wird man seine Formulierung »iustitia nondum est in re, sed adhuc in spe« dahin verstehen müssen: Sie ist noch nicht vollkommen in re, sondern noch in der Hoffnung. Wie er ja selbst sagt: »nondum perfecte iusti sumus.« (40 II,24,20)212 Auch diese Aussage appliziert Luther wieder auf die Situation der Anfechtung: Sie birgt großen Gewissenstrost in sich, insofern sie nämlich klarstellt, dass unsere Gerechtigkeit – wegen der bleibenden Sünde – nicht gespürt und erfahren werden kann, sondern sie ist einmal verborgen da, so dass ihre gegenwärtige Anwesenheit und ihre einstige Offenbarung erhofft wird. Zugleich wird aber die Vollendung der schon gegenwärtigen Gerechtigkeit erhofft. Luther führt erneut im persönlichen Zuspruch an den Angefochtenen aus: »Tu, frater, vis habere ius­ ticiam sensitivam, hoc est cupis ita sentire iusticiam, ut peccatum sentis; hoc non fiet. Sed tua iusticia debet transcendere sensum peccati et sperare te coram Deo iustum esse. Hoc est, tua iusticia non est visibilis, non est sensibilis, sed speratur suo tempore revelanda. Ideo non debes iudicare secundum sensum peccati, quod perterrefacit et perturbat te, sed secundum promissionem et doctrinam fidei, qua promittitur tibi Christus, qui est perfecta et aeterna iustitia tua.« (40 II, 24,27–34)213 Die Sachlage ist also kompliziert: Die Hoffnung als Hoffnungsaffekt hofft einerseits, coram deo me esse iustum (vielleicht würde man hier besser von »glauben« sprechen). Weiter erhofft die Hoffnung als erhoffte Sache, dass das, was nicht gesehen wird, »revelandum«, aber auch »perficiendum esse suo tempore«: »Iusticia enim mea nondum est perfecta neque sensibilis, sed fides monstrat mihi Christum, quo confido.« Die vollkommene Gerechtigkeit ist mir im Himmel bereitet. »Sic utrumque verum est, quod hic iustus sum iusticia incipiente et in ea spe erigor contra peccatum et expecto consumationem perfectae iustitiae in coelo.« (40 II,24,34–25,18 f.) Luther kombiniert hier die Gegensätze sichtbar (fühlbar)/unsichtbar (nicht fühlbar) und unvollkommen/vollkommen bzw. die Span-

Vgl. Manns, Fides, 281, 282 ff., bes. 282: »Wir dürfen feststellen, dass Luther der Glaubensgerechtigkeit durchaus Wirklichkeit zuschreibt, und dass die Hoffnung nicht die Gerechtigkeit an sich, sondern ihr Offenbarwerden erwartet. […] Mit der unterscheidenden Gegenüberstellung ›nondum in re, sed adhuc in spe‹ meint also Luther hier nicht Realität und Dasein der iustitia, sondern lediglich den Modus ihres Gegebenseins, der wiederum die Art ihrer Erfahrbarkeit bestimmt.« Realität, wenngleich unter der Sünde verborgene, ist einmal das totale Angenommensein durch Gott wie auch das anfängliche Gerechtwerden des Christen. Offenbarwerden bzw. Vervollkommnung der Gerechtigkeit sind dabei nur schwer zu unterscheiden. Ersteres geschieht durch Letzteres! Vgl. ebd., 285; Peura, Iustitia, 199. 213 Vgl. 40 II,31,30–32,18: »Deinde in istis pugnis et terroribus, qui subinde redeunt et exercent te, per spem patienter expecta iusticiam, quam modo fide habes, sed tantum inceptam et imperfectam, donec ea suo tempore reveletur perfecta et aeterna. At non sentio me habere iusticiam, aut saltem tenuiter sentio! Non sentire, sed credere debes te iusticiam habere.« 212

Rechtfertigung 163 nung von Gegenwart und Zukunft, von Verborgensein und Offenbarsein.214 Somit kann zweierlei festgehalten werden: Einmal, dass die angefangene Gerechtigkeit Glaubensgerechtigkeit ist und bleibt und sich nicht durch die Reflexion auf sittliche Fortschritte davon emanzipieren kann. Dem steht die bleibende Anfechtung durch die Sünde entgegen, die handgreiflich gefühlt und wahrgenommen wird. Zum andern: Es sind aber auch im Großen Galaterkommentar jene drei Momente des Rechtfertigungsgeschehens erkennbar, die uns schon aus der Römerbriefvorlesung vertraut sind: die vollkommene, wenngleich verborgene Gerechtigkeit, welche im Glauben empfangen wird, das anfängliche und unvollkommene Neuwerden des Menschen (wozu auch der Glaube als menschlicher Vollzug gehört) und der eschatologische Ausblick auf das vollendete und unverstellte Gerechtsein.215

1.2.7 Galater 5,16–17 Ein letzter Rekurs auf den Sachverhalt des simul im Kontext der Rechtfertigungsfrage geschieht im Großen Galaterkommentar bei der Auslegung von Gal 5,16 f. Zunächst zu Gal 5,16 (im Rückgriff auf Gal 5,14): Luther wehrt die Folgerung seiner Gegner ab, dass, weil die Liebe des Gesetzes Erfüllung sei, wir dann auch durch die Liebe gerecht wären. Das ist deshalb ein Fehlschluss, weil ein Schluss vom Gebot auf die Tat, vom Sollen auf das Sein in diesem Leben nicht zulässig ist. Aus der Tatsache, dass Gott etwas gebietet, folgt für den sündigen Menschen nicht, dass er es auch zu tun vermag. Aus dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe resultiert daher keineswegs, dass der Mensch tatsächlich ein Liebender nach dem Gesetz Gottes ist. Erst im künftigen Leben, wo wir von allen Fehlern und Sünden vollständig befreit sind, werden wir vollkommen lieben und durch die vollkommene Liebe gerecht sein. Deshalb hören dann auch Glaube und Hoffnung auf.216 Für jetzt (interim) dagegen gilt, dass die dem Fleisch anhängende Sünde (»haerens peccatum [in carne]«) eine vollkommene Reinheit verhindert und der »amor nostri vitiosus« mächtiger ist als unsere Gottes- und Nächsten Vgl. K. Bornkamm, Auslegungen, 208. Siehe ebd., 203–208; Manns, Fides, 280 Zum Miteinander von imputativ-forensischer, in der unio mit Christus gründender Rechtfertigung und faktischer Gerechtmachung im Kleinen Galaterkommentar siehe bes. 2,489,21–491,22; 494,37–495,18 (mit Bezug auf das simul); 535,26–536,13. Dabei wird man dem Urteil Greschats, Melanchthon, 104–107, zustimmen können, dass 1519 forensische Rechtfertigung und effektive Erneuerung für Luther noch enger verbunden sind als 1531. 216 Vgl. 40 II,79,25–28: »In futura autem vita, ubi plane mundati ab omnibus vitiis et peccati sed puri ut sol erimus, perfecte diligemus et perfecta dilectione iusti sumus«; 80,13 ff.: »In futura autem [vita], ubi perpurgati et prorsus liberi erimus ab omnibus peccatis et concupiscentiis, non amplius opus habebimus fide et spe.« Siehe auch 79,10 f. (Hs): »Ibi cessabit fides et spes.« Paulus sagt 1.Kor 13,13 dies gerade nicht, sondern ihm zufolge bleiben auch Glaube und Hoffnung, aber die Liebe ist größer als sie. Hat Luther an dieser Stelle vielleicht tiefer und konsequenter als Paulus gedacht, weil Glaube und Hoffnung im Eschaton keinen Gegenstand mehr haben? 214 215

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liebe. So sind wir bleibend auf die Glaubens- qua Christusgerechtigkeit bzw. die non-imputatio der Sünde angewiesen: »Est igitur fides iusticia nostra in hac vita.« (40 II,79,28–80,13)217 Im gegenwärtigen Leben ist also wegen der fortdauernden Sünde der Glaube bzw. Christus unhintergehbar unsere Gerechtigkeit coram deo. Von daher wird es unmöglich, jetzt schon der Liebe – auch der aus dem Rechtfertigungsglauben folgenden – die Rechtfertigung oder auch nur einen Teil von ihr zuzuschreiben, da sie als anfängliche jederzeit mit dem »amor nostri viciosus« durchmischt ist und deshalb hinter dem Gesetz Gottes zurückbleibt.218 Von der Glaubens- und Christusgerechtigkeit her beginnen wir zwar zu lieben, ohne dass diese beginnende Liebe aber eine Gerechtigkeit wäre, »die vor Gott gilt«. Würde einer in diesem Leben Gott schon vollkommen lieben, so würde er durch diese Liebe ins ewige Leben verschlungen werden. Im realen Leben des Christen gibt es dagegen ein permanentes Zugleich des »amor nostri viciosus« und des »amor Dei et proximi«, wobei Luther das Gewicht, ja Übergewicht des Ersteren stark betont: »Nunc autem humana natura adeo submersa est peccatis, ut plane nihil recte de Deo cogitare aut sentire possit, non diligit, sed vehementer odit Deum.« Und dennoch gilt: »Per hunc filium redempti et iustificati incipimus diligere.« (40 II,81,16 ff.)219 Luther versteht hier den Sachverhalt des simul als das Zugleich zweier Streberichtungen, des »amor Dei et proximi« und des »amor nostri viciosus«, welche irdisch im Christen jederzeit koexistieren und ineinanderliegen, wenngleich dies keine schiedlich-friedliche Koexistenz, sondern einen Konflikt darstellt. Das simul ist somit im partialen Sinn gedeutet. Dennoch kommt aber der partialen Gottes- und Nächstenliebe keine rechtfertigende Kraft coram deo zu, da sie eben wegen jener Koexistenz mit der gegenläufigen sündigen Selbstliebe dem göttlichen Gesetz nicht entspricht, der Christ also das Gesetz Gottes letztlich, es sei denn anfänglich, gar nicht erfüllen kann,220 wir also insofern – Luther spricht

Vgl. 40 II,79,23: »peccatum obstat.« – Der treffende Ausdruck »amor viciosus« findet sich schon 56,518,5, in 40 II allerdings nur im Dr. 218 Vgl. 40 II,80,16–24: »quae [charitas] nulla est aut, si aliqua est, tamen non tanta est, quae possit Deum placare, quia sancti etiam in hac vita imperfecte et impure, ut dixi, diligunt. […] Sed propter hanc impletionem [legis] non iustificamur, neque accepti sumus, dum hic vivimus.« Gegenüber der vollkommenen eschatologischen Erfüllung des Liebesgebotes (es handelt sich dann eigentlich um kein Gebot mehr) gilt hienieden: »Accipimus quidem hic donum et primitias Spiritus, ut incipiamus diligere, sed valde tenuiter.« (80,34 f.) 219 Dieses »Gefälle« der Aussagen Luthers scheint – wie schon bemerkt – bei Manns, Fides, 288–312, unzulässig abgeschwächt bzw. umgekehrt zu sein, wenn er es als Luthers eigentliche, aufgrund theologischer Kontroversen (Kampf gegen die zur Werkgerechtigkeit pervertierte Liebe) aber nicht explizit gemachte Intention betrachtet, der gnadenhaft gewirkten Liebe eine heilsnotwendige Funktion zuzuschreiben. 220 Vgl. 40 II,81,29 ff.: »Scio enim, quod legem non implebitis; quia peccatum haeret in vobis, donec vivitis, ideo impossibile est vos implere legem.« Ebenso 40 II,85,14 ff. 217

Rechtfertigung 165 dies allerdings nicht explizit aus – weiter (neben dem von Christus her geltenden toti iusti) toti peccatores sind. So deutet sich hier ein Weg an, wie für Luther der Total- und der Partialaspekt des simul vereinbar sind und zugleich gelten können. Wir werden diese Spur in Kapitel 4 weiter zu verfolgen haben. Bei Luthers Kommentierung von Gal 5,17221 fällt auf, wie stark er den Vers – was zunächst ja gar nicht nahe liegt –, von dessen tröstlichem Charakter her versteht und dadurch nochmals die uns schon bekannte Trostfunktion des simul pointiert akzentuiert. Es ist für ihn von großer Wichtigkeit festzuhalten, dass Gal 5,17 bzw. der darin beschriebene Widerstreit zwischen Fleisch und Geist ähnlich wie Röm 7,14 ff. von den Heiligen bzw. der glaubenden und gerechtfertigten Kirche unter Einschluss des Paulus selbst ausgesagt ist. Keinesfalls dürften die Heiligen und Paulus selbst, etwa aus Furcht, ihr Ansehen als Heilige zu schmälern, von dem in der Person des Christen sich abspielenden Kampf ausgenommen werden.222 Von den impii können diese Stellen schon deshalb nicht handeln, weil diese ja nicht gegen die Sünde kämpfen, sondern vielmehr die Sünde in ihnen widerstandslos das Feld behauptet, und sie aus diesem Grund auch nicht über ihre Sünde klagen. Den Vertretern der gegenteiligen Deutung wirft Luther nun vor: »privarunt Ecclesiam maxima consolatione, aboleverunt remissionem peccatorum et Christum reddiderunt ociosum.« (40 II,89,24 f.; vgl. 89,32–90,11) Er selbst fordert demgegenüber auf: »Ideo sinamus textum hinc sthen et consolationis plenissimum.« (40 II,89,7 f. [Hs]) Großer Trost liegt für Luther in Gal 5,17 zum einen deshalb, weil Paulus hier signalisiert, dass das Begehren des Fleisches, also die Konkupiszenz, nicht nur in der Gestalt der geschlechtlichen libido, sondern auch in der Form von Hochmut, Zorn, Traurigkeit, Ungeduld und Unglaube, ja Blasphemie, irdisch zur conditio humana gehört und vom Christen beim besten Willen nicht ausgelöscht werden kann. Was der Christ aber zu tun vermag, ist, diesem Begehren des Fleisches im Geist zu widerstehen und ihm nicht zuzustimmen, es also nicht zur Ausführung in Wort und Tat kommen zu lassen.223 Im Blick darauf kann es der Christ durchaus Wir analysieren Luthers Auslegung dieses Verses an dieser Stelle nur unter rechtfertigungstheologischem Aspekt. Ihrer Relevanz für die anthropologische Thematik wird in Kapitel 5 nachzugehen sein. 222 In diesem Zusammenhang ist bei Luther die Tendenz festzustellen, Paulus selbst als einen angefochtenen Menschen darzustellen, und zwar in doppeltem Sinn: einmal, dass Paulus selbst jene inneren sündhaften Regungen in sich spürte, zum anderen, dass ihm diese zur Anfechtung vor Gott wurden. Vgl. 40 II,89,26–32. Diese Deutung des Paulus steht im größeren Rahmen von Luthers gerade auch in der Großen Galatervorlesung zu beobachtenden weitgehenden Selbstidentifikation mit der Person des Apostels. Dazu Stolle, Luther, 73–116. Vgl. auch Tr 4,149,28 f. (Nr. 4122 [1538]): »Ich mocht sehr gerne mit S. Paulo reden von den hohen questionibus tentationum, quid fuerit skolops et Angelus ille Sathanae colaphisans?« Luther spielt hier auf 2.Kor 12,7 an. Vgl. Bühler, Anfechtung, 175. Ob Luther damit Paulus richtig eingeschätzt hat, dazu unten Teil III, Kapitel 2–3. 223 Vgl. auch 40 II,81,26–82,22 (zu Gal 5,16); 100,11–109,20 (zu Gal 5,19), bes. 106,10– 107,2 (Hs): »Opera debent vitari a Christianis, desideria non possunt, quia caro non potest 221

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zu einem »externen«, allerdings nicht coram deo geltenden Gerechtsein bringen (40 II,90,30 ff.). Weil Paulus aber in Gal 5,17 den Kampf des Fleisches gegen den Geist quasi als strukturell gegeben ansieht, muss man in der Anfechtung über diese inneren, unwillkürlich im Herzen aufsteigenden Regungen, deren Sündencharakter für Luther aber fraglos feststeht,224 nicht verzweifeln, sondern es gilt, angesichts dieser conditio humana im Glauben zur vollkommenen Gerechtigkeit Christi seine Zuflucht zu nehmen225 und von ihr aus dessen gewiss zu sein, dass Gott die bleibende Konkupiszenz nicht anrechnet (40 II,95,16 f.). Wer im Widerstand gegen das Fleisch nicht nachlässt, sich mit dessen Unausweichlichkeit also nicht beruhigt, der darf in nüchternem Realismus angesichts dieser Situation getrost sein.226 Spürt doch gerade der Mensch mit zunehmendem Glauben den inneren Kampf in sich umso mehr (40 II,94,14 f.). Ja, die hartnäckige Permanenz des Fleisches bringt sogar etwas Positives mit sich bzw. muss selbst zum Guten gereichen, weil sie – und das ist der zweite Trostgrund – uns immer wieder zur Vergebung durch Christus und zur Glaubensgerechtigkeit hintreibt und unsere Angewiesenheit auf sie erkennen lässt (40 II,93,22–29). Indessen muss man Luther zufolge noch weitergehen: Bestünde diese in der bleibenden Not mit der Konkupiszenz begründete Notwendigkeit, zu Christus zu fliehen, nicht, so würden Christus und die Sündenvergebung entleert, weil sie auf den Anfang des Christseins reduziert wären.227 Gal 5,17 bzw. die darin ausgesprochene »Lehre« des Paulus sind also, recht verstanden und meditiert, gerade ein Trost für die Angefochtenen (40 II,91,31 f.). Dass Luther in Gal 5,17 das simul wiederfindet, und zwar gerade in seinem tröstlichen Charakter, überrascht jetzt nicht mehr. In der Form des partim-partim wird es deshalb auch explizit formuliert, und man spürt nochmals, wie sehr sich der Ton gegenüber der Römerbriefvorlesung gewandelt hat:228 »Magnam igitur habent exui, donec vivimus.« Luther hält also auch in späteren Jahren an der von Augustin übernommenen Konsensustheorie fest. 224 Vgl. 40 II,85,6 f. (Hs): »[caro bzw. concupiscentia] est peccatum in carne, non solum carne inclinamur ad peccatum; 85,15 f.: [caro bzw. concupiscentia] non solum excitat in vobis peccatum, sed ipsum peccatum est«; 95,26–29. 225 Vgl. 40 II,90,3 (Hs): »Sed iustitia nostra rotunda, perfecta Christus.« 226 Vgl. 40 II,91,3 f. (Hs): »Ibi wolt gern los sein; Ich kan nicht, ibi pugno usque ad sudorem«; 91,20–24 (Dr): »Impossibile est, ut per omnia sequamini ducem Spiritum sine ullo sensu aut impedimento Carnis. […] Hoc satis est, ut Carni resistatis, ne concupiscentiam eius perficiatis«; 90,33 ff.: »Nemo igitur desperet, cum senserit carnem subinde novam pugnam movere Spiritui aut si non statim poterit carnem cohibere, ut Spiritui subiecta sit.« Ähnlich 91,16–19; 92,20–24: »Martine, tu non carebis prorsus peccato, quia carnem adhuc habes, senties igitur certamen ipsius […]; ne igitur despera, sed reluctare, ne concupiscentiam eius perficias, et tum non es sub lege«; 94,11–14. 227 Vgl. 40 II,89,2 f.: »Sic Hieronymus et alii volunt Sanctos puros et non inquinatos, hoc est tollere remissionem peccatorum et Christum.« 228 Luther greift hier deshalb auf den Partialaspekt des simul zurück, weil Fleisch und Geist ihm zwei konträre Strebrichtungen im Christenmenschen sind.

Rechtfertigung 167 consolationem pii ex hac doctrina Pauli, quod norint se partim carnem partim Spiritum habere, Sic tamen, ut Spiritus dominetur, Caro subiecta sit, iusticia regnet, peccatum serviat.« (40 II,93,19 ff.)229 Luther zieht aus allem das Fazit, dass die »wahren Heiligen« nicht diejenigen sind, welche keine Sünde, d. h. keine Konkupiszenz mehr haben – das ist ja unmöglich, und in dem Ziel, dies erreichen zu wollen, sieht Luther seinen ihn schließlich zur Verzweiflung treibenden Kardinalfehler als Mönch (40 II,91,32– 92,23) –, sondern die, welche ihr nicht nachgeben und zur Vergebung Christi ihre Zuflucht nehmen. Dadurch wird dem einzelnen Christen (neben der Demütigung der Hochmütigen) signalisiert, dass er in seiner Sündenanfechtung nicht alleine steht, sondern in der großen communio sanctorum Halt finden kann. Die sancti werden ihm so zu »Beispielen für die Sündenvergebung […], aus denen auch jetzt ein Sünder Zuversicht gewinnen kann«230, weil auch er selbst aus dieser Sündenvergebung leben darf und kann: »Ille [Christianus] non debet desperare de salute: fiat concupiscentia, sed non perficiatur, moveat ira, sed non permoveat. Das sind die rechten heiligen.« (40 II,93,7 f. [Hs]).231 Vgl. 40 II,93,1 f. (Hs): »Consolatio est scire, se esse partim carnem partim spiritum, tamen sic, ut spiritus dominetur, caro sit subiecta, Iustitia regnet, peccatum serviat«; 91,26–30: »Ego sum peccator et peccatum sentio, quia carne nondum exutus sum, in qua tantisper haeret peccatum, donec vivit. Sed Spiritui, non Carni obsequar, Hoc est apprehendam fide et spe Christum ac ipsius verbo me erigam atque hoc modo erectus concupiscentiam carnis non perficiam«; 91,10–92,1 (Hs) »Ego sum peccator et maneo, donec vixero, sed non subdam collum, non faciam, ut irritet«; 96,12 f.: »Itaque [credens] peccatum habens et peccans tamen manet pius.« Siehe auch 86,13 ff.: »Itaque si carnem spectemus, peccatores sumus, si Spiritum, iusti. Atque ita partim peccatores, partim iusti sumus«; 86,3 f. (Hs): »Si ergo spectas carnem, sumus peccatores, Si spiritum, es iustus. Sic omnis Christianus peccator et iustus.« 230 Bühler, Anfechtung, 176. Vgl. ebd., 168–176  ; 40 II,102,7: »Sed veri Sancti fuerunt peccatores«; 103,7 f. (Hs): »Et tales [solche Sünder] mussen wir heilige lassen, quia deus reputat salvos per remissionem peccatorum.« 231 Vgl. 40 II,96,17–21: »Ex his etiam intelligi potest, qui veri Sancti sint. Sunt autem non trunci et lapides. […] Ideo peccatum habent et peccare possunt.« Auf die »tröstlichen Sünden« der Heiligen kommt Luther immer wieder zu sprechen, natürlich nicht deshalb, um das Gute, das man selbst nicht hat, bei anderen schlecht zu reden, sondern aus den oben genannten Gründen. Vgl. 40 I,195,22–198,17 (zu Gal 2,11 [antiochenischer Konflikt zwischen Paulus und Petrus, Letzterer war für Luther »reprehensibilis«: 194,20 f.]), bes. 196,19 ff.: »Est enim plenum consolatione, cum audimus tam magnos sanctos etiam peccare. Hanc consolationem eripere nobis volunt, qui negant Sanctos posse peccare«; 28,273,3–276,6 (Verleugnung des Petrus). Ähnliche Erwägungen stellt Luther auch zu Jona 1,3 (Flucht des Jona vor Gott) an: »So ist das nu auch uns eyn grosser trost, das wyr sehen, wie auch die aller grössisten, trefflichsten heyligen so gröblich sundigen widder Gott, und nicht wyr alleyne arme, elende sunder sind, sondern sie auch menschen gewest, fleisch und blut gehabt wie wyr, Auff das wyr nicht [an Gottes Gnade] verzagen, ob wyr sundigen und fallen.« (19,199,22–26) Vgl. auch 240,27 ff. (zu Jona 4,1 f.). Luther hat an den zitierten Stellen, durch die Schrifttexte veranlasst, allerdings primär konkrete Tatsünden im Blick, die ihm 229

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1.3 Späte Disputationen (1535–1537) Als letztem Textkomplex, innerhalb dessen wir die simul-Thematik im Kontext der Rechtfertigungslehre untersuchen, richten wir unseren Blick auf Luthers Thesenreihe De iustificatione (1536). Sie steht als dritte innerhalb einer Gruppe von fünf Thesenreihen über Röm 3,28 aus den Jahren 1535–1537, welche schon von ihrem biblischen Bezugstext her allesamt der Rechtfertigungsthematik gewidmet sind. Luther verfolgt in diesen Jahren offenbar den Plan, die einzelnen Begriffe von Röm 3,28 in mehreren Thesenreihen (sowie den dazugehörigen Disputationen) zu explizieren und auf diese Weise sein Rechtfertigungsverständnis summarisch und verbindlich darzulegen.232 So ist die erste Thesenreihe dem Begriff »fides«, die zweite dem Begriff »lex« gewidmet. Die dritte und vierte Thesenreihe befassen sich mit dem Wort »iustificari« unter der Rücksicht der ratio iustificandi (der Art und Weise der Rechtfertigung) sowie der Rücksicht des homo iustificandus, so dass man auch sagen kann: Thesenreihe 3 ist dem Begriff iustificari und Thesenreihe 4 dem Begriff homo peccator gewidmet. Die fünfte und letzte Thesenreihe wendet sich den opera legis und gratiae zu. Disputationen selbst liegen uns (in Nachschriften) nur drei vor, da Luther die Thesenreihen 1–2 und 3–4 in jeweils einer Disputation behandeln ließ. Primärer Bezugstext für unsere Überlegungen ist – wie gesagt – die dritte Thesenreihe, ergänzend ziehen wir aber auch die anderen Thesenreihen bzw. Disputationen heran.233 Dabei richten wir das Auaber stets durchsichtig sind auf eine zugrunde liegende sündige Verfasstheit. So hat er (zu Jona 4,1 f.) in Jona explizit ein Beispiel für den simul iustus et peccator gesehen, sofern der Prophet auch am Ende immer noch den Heiden bzw. den Sündern die Gnade Gottes nicht gönnen will, diese Sünde bei ihm mithin nicht nur aktuell, sondern habituell vorliegt. Jona ist darum »eyn wunderlicher, seltzamer heylige, der da zurnet, das Gott den sundern gnedig ist, und gonnet ihn keyn guts« (239,22 f.). Sein »Werk« ist unrecht, und doch ist er das »liebe kind« (240,24 f.). Das zeigt uns, »wie gar wunderlich Gott ynn seynen heyligen ist« (240,20 f.; vgl. Ps 68,36). Vgl. auch 239,30–240,1: »Wie kann solcher glaube und solche untugent [bei Jona] bey einander stehen? […] Leucken mügen wyr nicht, das Jona unbillich zurnet und unrecht thut […]. So müssen wyr auch bekennen, das er sey im glauben und Gott angeneme gewest […]«; 240,34–241,1: »Denn hie, sihestu, mus das gar nichts schaden noch zur sunden gerechnet werden, das doch warhafftig sunde und strefflich ist, Sondern ist eyne tegliche kindes sunde, die der vater [bei den Glaubenden] williglich und gütiglich tregt.« 232 Vgl. dazu Ebeling, Sündenblindheit, 258–272, bes. 267–272; Härle, Entfaltung, 212– 215, bes. 214; ders., Rechtfertigung vor Gott, 21–25, bes. 23. 233 Luthers Disputationsthesen sind für das Verständnis seiner Theologie von unschätzbarem Wert, weil er hier in kurzen, geschliffenen und wohlüberlegten Formulierungen seine Position darlegt und auch das Strukturgefüge der Gedanken, ihr systematischer Zusammenhang kunstvoll gestaltet ist. Die Disputationsprotokolle sind ebenfalls wichtig, haben aber den Nachteil, dass es sich nur um Nachschriften handelt, es also mit einer gewissen Unschärfe behaftet ist, zu eruieren, was Luther selbst genau gesagt hat. Das trifft sowohl auf einzelne Formulierungen zu als auch auf die Zuordnung von Antworten

Rechtfertigung 169 genmerk zunächst auf den Grundgedanken der Thesenreihe De iustificatione von der doppelten Toleranz Gottes (1.3.1) und stellen sodann die zentralen Aspekte des Rechtfertigungsverständnisses (1.3.2) vor. All dies geschieht natürlich unter dem speziellen Blickwinkel der simul-Thematik.

1.3.1 Gottes doppelte Toleranz Der zentrale Gedanke der Thesenreihe De iustificatione liegt im Begriff der doppelten Toleranz Gottes. Für Luther folgt aus Röm 3,28, dass es zwei »rationes«, zwei Arten und Weisen der Rechtfertigung gibt.234 Die eine coram deo geschieht durch den Glauben, die andere coram hominibus erfolgt durch die Werke. Dabei stehen beide Gerechtigkeiten in einer großen Spannung zueinander: Der vor den Menschen kraft seines Tuns gerechtfertigte, »gut dastehende« Mensch hat zwar »Ehre« vor den Menschen, aber nicht vor Gott (vgl. Röm 4,2). Und umgekehrt wird der Mensch durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt und angenommen, auch wenn ihm im Urteil der Menschen und in der eigenen Selbstbeurteilung nur Schande (ignominia) zuerkannt wird. Das ist das Geheimnis Gottes, der an seinen Heiligen wunderbar handelt (vgl. Ps 4,4; 68,36), ein Geheimnis, das nicht nur den Ungläubigen völlig unverständlich, sondern auch für die Gläubigen schwer annehmbar ist. Die Verstehens- und Glaubensbarrieren liegen darin, dass es der durch die Sünde verderbten ratio nicht nachvollziehbar ist, dass der, der gut und vorbildlich handelt, nicht auch vor Gott gut dastehen soll. Und den Gläubigen ist andererseits unverständlich, dass es den Gottlosen gut, ihnen selbst aber schlecht gehen soll, sie also durch ihre Gottesgerechtigkeit und ihren Glauben sich gerade das Gegenteil einhandeln. Hinter diesem doppelten Paradox steht die Überlegung, dass die Gerechtigkeit vor den Menschen – wenn sie nicht Folge des vor Gott allein rechtfertigenden Glaubens ist – eine geheuchelte Gerechtigkeit ist, in welcher der Mensch letztlich nur das Seine sucht. Und den von Gott Gerechtfertigten geht es gerade unter den Menschen schlecht, ihre Gerechtigkeit ist unter dem Gegenteil verborgen. Ein schwerer Anstoß (mirum problema: 82,23) gerade für die Gläubigen ist es nun, dass Gott jene Gerechtigkeit coram hominibus, die ja nur eine Maske und gottlose Heuchelei darstellt, ja die er selbst für Gottlosigkeit und Bosheit hält (»reputet«: 82,11) mit den besten Gaben dieses Lebens belohnt und »honoriert«. Gott verfährt hier nach Luther aber wie ein kluger Fürst, der einen bösen Untertan, um ein größeres Übel zu verhindern, duldet, da seine Tötung das ganze Reich zur Person Luthers. Zu Luthers Thesenreihen über Röm 3,28 und speziell zur dritten vgl. Althaus, Rechtfertigung; Greschat, Melanchthon, 209–248; Ebeling, Rechtfertigung; ders., Sündenblindheit; Härle, Entfaltung; ders., Rechtfertigung vor Gott. Den historischen Kontext der Disputation De iustificatione, den sog. Cordatusstreit um die Heilsnotwendigkeit der Buße bzw. der guten Werke, schildert Greschat, Melanchthon, 217–230. 234 Zum Folgenden vgl. Th. 1–20 (39 I,82,4–83,11). Alle Zitate beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf 39 I.

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gefährden würde. In ähnlicher Weise »erträgt« Gott die streng genommen bösen Menschen um der Erhaltung der irdischen Ordnung und des irdischen Friedens willen, also im Blick auf die Welterhaltung. Oder es ist wie bei einer unheilbaren Krankheit, die man tragen muss, um das Leben zu erhalten. So »kränkelt« auch die Gesetzesgerechtigkeit, weil sie ihr an sich gutes Gesetz nicht erfüllt oder allzu leicht vergisst. In keinem Fall sollte daher geleugnet werden, dass die äußerlich glänzende iustitia coram hominibus eigentlich böse und von der Sünde infiziert, also egoistisch und gottlos ist, sondern der entscheidende Gesichtspunkt ist der der göttlichen Toleranz, des göttlichen Duldens und Ertragens: »Igitur non est respiciendum neque ad personam impii, qui iustitiam operatur, neque ad pulchritudinem talis operis. Sed ad incomprehensibilem tolerantiam et sapientiam Dei, minus malum ferentis, ne maiore malo omnia subvertantur.« (82,29–32) Im Unterschied zu den irdischen Instanzen duldet Gott aber das »Übel« der menschlichen Gerechtigkeit nicht nur um des Erhalts der irdischen Ordnung willen, sondern er sieht dabei auch auf die Herrlichkeit des künftigen Reiches, in das jene heuchlerischen Menschen nicht eingehen werden. Gottes Toleranz ihnen gegenüber ist »eschatologisch begrenzt«235: »Deus enim alio spectat, scilicet ad futuri regni gloriam, in quo non pertransibit incircumcisus aut immundus.« (83,10 f.) Am Ende wird dann die bürgerliche Gerechtigkeit gar nicht mehr gelten, sondern wie alles Böse ausgestoßen. Gott hat also eine über die pax publica hinausgehende Zielperspektive!236 Das Erstaunliche ist nun, dass Gott nach Luther mit einer ähnlichen Toleranz gegenüber der Kirche und den Heiligen verfährt.237 Es geht auch bei ihnen um ein Ertragen, ein Erdulden von Sündern und einer mit Sünde befleckten Gerechtigkeit, Gott handelt irdisch (in terra) gegenüber den Glaubenden »non dissimili tolerantia et bonitate« (83,12 f.).238 Luther gibt nun für diese göttliche tolerantia eine doppelte Begründung,239 wobei es ein äußerst schwieriges Problem der Lutherforschung darstellt, wie deren Verhältnis zueinander zu denken ist. Erste Begründung: »Ut quos et foveret et toleret propter initium creaturae suae in nobis.« So Althaus, Rechtfertigung, 50. Implizit wird man in der Ausrichtung Gottes auf die »futuri regni gloria« den positiven Aspekt mithören dürfen, dass Gottes Toleranz die Welt für sein kommendes Reich erhält. Vgl. Ebeling, Rechtfertigung, 245: »Eben deshalb erhält er [Gott] diese Welt, um zu ihr sein Reich kommen zu lassen, das nicht von dieser Welt ist.« 237 Siehe dazu Th. 21–35 (83,12–40). 238 Vgl. Ebeling, Rechtfertigung, 236 f.: »Pii und impii sind einander darin gleichgestellt, daß sie ausnahmslos vom Geheimnis der göttlichen Toleranz leben.« Das nivelliert natürlich nicht die jeweilige unterschiedliche »Valenz« der Sünde: Bei den impii herrscht sie uneingeschränkt, während sie bei den pii nur als beherrschte noch bleibt. Daß auch die Glaubenden unter der göttlichen Toleranz stehen, betonte schon die Große Galatervorlesung (40 I,372,28 ff.). Siehe auch 39 I,125,4 f.: »Tolerantia igitur divina est remissio peccati, sub qua semper manet homo.« 239 Vgl. Althaus, Rechtfertigung, 50; Härle, Rechtfertigung vor Gott, 27 f. 235

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Rechtfertigung 171 (83,14 f.) Gott hat an den Glaubenden bereits das Werk der Neuschöpfung begonnen, die »Seins-Gerechtigkeit«240 hat schon angefangen, deswegen »toleriert« er die Glaubenden. Nicht leicht zu entscheiden ist, ob mit diesem initium nur der Glaube gemeint ist oder ob auch die guten Werke bzw. der Kampf gegen die Sünde eingeschlossen sind (vgl. 83,39 f.). Der Begriff besitzt wohl für Luther diese schwebende Bedeutungsbreite.241 Karl Holl hat – wie schon erwähnt – besonders solche Lutherstellen für seine These herangezogen, dass nach Luther Gott das initium je schon im Blick des vollendeten Zieles, also des vollen Gerechtseins sehe und er den Menschen deshalb in einem analytischen Urteil gerecht spreche. Für den ewigen Gott, der das, was zeitlich auseinander liegt, in eins schaut, ist der Mensch jetzt schon gerecht. Daran ist sicher richtig, dass der Begriff des initium auf das Ende, die Vollendung, also das vollkommene Gerechtsein des Menschen vorausweist. Gottes Toleranz geschieht sowohl bei der bürgerlichen Gerechtigkeit wie bei den Gläubigen sub specie aeterni und ist in diesem Sinne antizipierend, »vor-läufig«.242 In Th. 20 hatte Luther ja von der Menschengerechtigkeit gesagt, dass Gott bei ihr sein künftiges Reich im Blick habe. Eben dies wird man auch bei der Glaubensgerechtigkeit annehmen dürfen: Das initium wird von Gott um des Endes, um des Zieles willen »toleriert«, deswegen werden die Menschen schon jetzt gerecht gesprochen. Dafür lässt sich auch das bei Luther wiederholt vorkommende »interim« (einstweilen, vorerst; vgl. 83,38) anführen: Die imputatio der Gerechtigkeit Christi spricht zwar den Menschen voll und ganz gerecht, ist aber zeitlich begrenzt: eben von der Vollendung her und auf sie hin. Ebenso schließt das »initium creaturae suae in nobis« ein »Verheißungsdekret«243 in sich, das die zukünftige Vollendung verbürgt, weil Gott zu seiner Verheißung, zu seiner anfänglichen Neuschöpfung in Treue steht. Paul Althaus hat davon gesprochen, dass auch die Toleranz gegenüber den Glaubenden »eschatologisch begründet und begrenzt« ist.244

So Althaus, Rechtfertigung, 50. Luther hat bei der Formulierung »propter initium creaturae suae« 2.Kor 5,17 und Jak 1,18 im Blick. Zur Bedeutung gerade der letzten Bibelstelle für Luther vgl. unten Teil II, Kap. 2.3. Siehe 39 I,204,6–9: »Interim fovemur in sinu Dei, tanquam initium creaturae novae, donec perficiamur in resurrectione a mortuis. Hoc initium autem per bona opera, si vere inest, sese ostendit, et certam facit vocationem nostram«; 301,6 f.: »Angeli sunt revera iusti Deo creante, sed nos sumus imputatione iusti et initium iustitiae propter eum, in quem credimus, accipimus«; 304,8: »quia sumus initium novae creaturae«. 242 So Althaus, Rechtfertigung, 50. – Zum eschatologischen Bezug des initium vgl. auch 203,28 f.: Engel und Selige sind gerecht als »pura creatura Dei«; 203,36 f.: 27: »Erit enim Deus in omnibus omnia, et mirabilis in sanctis suis, nosque perfecte pura et nova creatura eius«; 204,6 f. (zit. Anm. 241); 146,12 ff.: »Sancti non sunt omnino puri, sed incipiunt. Haec purgatio est initium novae creaturae, sed nondum plenitudo.« 243 So Ebeling, Rechtfertigung, 249. 244 Vgl. Althaus, Rechtfertigung, 50. Ferner Pesch, Theologie, 183. 240 241

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Klar ist auch, dass die Formulierung »propter initium creaturae suae in nobis« auf keinen Fall meritorisch (und sei dieses meritum auch von der Gnade getragen) verstanden werden darf, als ob hier die Tür für einen menschlichen Beitrag zur Rechtfertigung geöffnet werden sollte.245 Das Neugeschaffenwerden ist nach Luther – wie jedes Geburtsgeschehen – für den Menschen ein passiver Vorgang, Gott allein ist der Wirkende:246 er wirkt den Glauben, in dem Christus ergriffen wird, durch den Christus in uns wohnt, und Christus ist es, der – wenn auch nicht ohne unsere cooperatio – in uns wirkt und handelt: »Iustificati autem gratis, tum facimus opera, imo Christus ipse in nobis facit omnia.« (46,18 f.)247 Die zweite Begründung für die tolerantia Dei gegenüber den Gerechtfertigten liegt im propter Christum bzw. darin, dass Gott »[sanctos] iustos esse et filios regni [esse] decernit« (83,15)248 – und eben dieser Aspekt kommt bei Holl zu kurz bzw. ist ausgeblendet. Gott kann nämlich das initium creaturae suae in nobis, den Anfang der Gerechtigkeit nur um Christi willen jetzt schon für voll nehmen, darin das Vollendete sehen.249 Christus, nicht ein spekulativer Gedanke, wonach in Gottes Ewigkeit alles schon präsent ist, was in der Zeit noch auseinanderliegt, Formulierungen bei Luther, die dies zumindest vordergründig nahelegen, sind uns schon mehrfach begegnet. Greschat, Melanchthon, 225–229, zählt auch zahlreiche Thesen der Disputation De iustificatione dazu (Th. 23, 25–26, 35: 83,16 f.20–23.39 f.; vgl. aber Th. 29–32: 83,28–34) und führt solche Wendungen auf Luthers genuinen theologischen Ansatz beim Wortgeschehen zurück: »Wieder werden, vom Wortgeschehen her, Glaube und reale Erneuerung in eins gesehen; und wieder ist die Konsequenz daraus eine Gestalt der Lehre, die die Rechtfertigung der Gnade Gottes und zugleich dem Wirken des erneuerten Menschen zuzusprechen scheint. Auch in diesem Zusammenhang begegnen jene Wendungen, die an eine doppelte Rechtfertigung erinnern, wo zwar das sola gratia gewahrt ist, aber verstanden als die Vollendung und Überhöhung des geschenkten neuen Anfangs.« (225) »Luthers Äußerungen in dieser Frage [der Heilsnotwendigkeit der Glaubenswerke] hatten immer wieder den Eindruck erweckt, als wolle er den Begriff der iustificatio nicht im melanchthonischen, sondern im augustinischen Sinn verstanden wissen.« (227) Dazu unseren Exkurs unten. 246 Vgl. 48,22 f.: «Eodem spiritu appellantur iusti, nova creatura Dei et initium creaturae Dei, qui nos verbo suo volens genuit.« 247 45,16 f. wird von der fides gesagt: »quae facit Christum in nobis efficacem contra mortem, peccatum et legem.« Vgl. auch 46,21 f. – Die Rede von der effektiven bzw. Seinsgerechtigkeit darf deshalb nicht (primär) in einem substanzontologischen Sinn als qualitas oder habitus an einem Subjekt verstanden werden, sondern ist wie die forensisch-imputative Gerechtigkeit ebenfalls relational zu deuten: Alles neue Leben und Handeln in mir geschieht nur durch mein Verbundensein mit Christus, der in mir lebt und wirkt. 248 83,14 f. folgen beide Begründungen unmittelbar aufeinander: »Ut quos et fovet et toleret propter initium creaturae suae in nobis, deinde et iustos esse et filios regni decernit.« Das »deinde« wird man dabei als lockeren Anschluss (»weiter«), nicht als zeitlich-logische Folge (»dann«) zu verstehen haben. – Nach 83,24 f. ist Christi Gerechtigkeit »extra nos et aliena nobis«, nach 83,26 f. wird sie bzw. Christus durch die »fides, quae ex auditu Christi nobis per spiritum Sanctum infunditur«, aufgenommen. 249 So Althaus, Rechtfertigung, 50. 245

Rechtfertigung 173 vermittelt initium und Vollendung. Der Gerechtgesprochene ist ja noch nicht gerecht, er ist erst auf dem Weg, im Prozess des Gerechtwerdens: »Iustificari enim hominem sentimus, hominem nondum esse iustum, seu in ipso motu seu cursu ad iustitiam.« (83,16 f.) Rechtfertigung bedeutet »eine im Anbruch befindliche Bewegung«250. Damit hat Luther die Voraussetzung geschaffen, das simul einzuführen, denn wer allererst im Prozess der Rechtfertigung steht, der ist zugleich immer noch ein Sünder: »Ideo peccator est adhuc, quisquis iustificatur, et tamen velut plene et perfecte iustus reputatur, ignoscente et miserente Deo.« (83,18 f.) Die tolerantia Dei ist ja zeitlebens (»in terra«) wegen des bleibenden Sünderseins auch der Gerechtfertigten notwendig. Oder anders formuliert: Recht und Notwendigkeit, den Toleranzbegriff in die Rechtfertigungslehre einzubeziehen, liegen im bleibenden Sündersein des Gerechten begründet.251 Luther dokumentiert im zuletzt zitierten Satz auf engstem Raum seinen doppelten Rechtfertigungsbegriff: Das prozesshafte Rechtfertigungsgeschehen, das sich auf die werdende Seinsgerechtigkeit des Menschen bezieht, ist von der punktuellen, sich immer wiederholenden Gerechtsprechung zu unterscheiden, die den Menschen jetzt schon voll und ganz gerecht spricht und dennoch auf die vollendete Seinsgerechtigkeit ausgerichtet ist. Luther führt weiter aus, dass das initium an sich, unabhängig von Christus betrachtet, verdammenswürdig wäre und unter dem göttlichen Zorn stünde, weil es nur Bruchstück und mit Sünde verwoben ist. Gott nimmt das initium ausschließlich propter Christum an, der als advocatus für uns eintritt und als sacerdos unsere incepta iustitia heiligt: »Ignoscit autem et miseretur nostri Deus, intercedente et sanctificante nostrum initium iustitiae Christo advocato et sacerdote nostro. Cuius iustitia, cum sit sine vitio et nobis umbraculum contra aestum irae Dei factum, non sinit nostram inceptam iustitiam damnari.« (83,20–23)252 Auffällig ist hier, dass Christi Eintreten für uns sich auf die anfängliche Gerechtigkeit, nicht aber explizit auf unsere Verlorenheit in der Sünde bezieht. Außerdem fragt Luther nicht, wie uns das initium novae creaturae durch Christus Ebeling, Rechtfertigung, 238. Vgl. 39 I,251,7: »hic actus in progressu est«; Ebeling, a. a. O., 248 f., bes. 249: »Der Geschehnischarakter der Rechtfertigung (Th. 23) ist, dem Leben entsprechend, kein momentaner Akt, sondern andauernde Bewegung mit der ihr eigenen Dialektik von ›noch nicht‹ und ›doch schon‹.« 251 So Ebeling, Rechtfertigung, 250. Ebd. spricht Ebeling von der »paradoxen Gleichzeitigkeit des peccator und des iustus in einer und derselben Person«. 252 Der Zorn Gottes richtet sich streng genommen natürlich nicht auf das initium qua initium bzw. qua iustitia incepta, sondern auf seine Bruchstückhaftigkeit und die in ihm noch wirksame Präsenz der Sünde. Dennoch gilt für Luther neben dieser Partialperspektive auch die Totalperspektive, wonach das ganze initium unter dem göttlichen Zorn steht (vgl. 83,22 f.). Dies ergänzend zu Härle, Entfaltung, 29. Vgl. auch 265,9–14, bes. 10 ff.: »Is, qui habet [vestem charitatis], non per vel propter eam iustificatur. Fructus est iustitiae charitas, non iustitia, nisi inceptam dixeris, quae quia impura et imperfecta est, sub ignoscente misericordia grata est.« 250

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zuteil wird, sondern nur, wie wir dank Christi trotz des initium iustitiae vor Gott bestehen können. Er hat also den logisch und zeitlich vorausliegenden Punkt der primären Rechtfertigung nicht im Blick. Insofern ist hier Christi Bedeutung für den Rechtfertigungsvorgang nicht vollständig expliziert.253 Der Mensch kommt also zeitlebens nie über die imputatio der Gerechtigkeit Christi hinaus, er kann nie des für ihn präsentisch eintretenden und ihn heiligen­ den Christus entbehren. Christus stellt uns und unsere mangelhafte und fehlbare iustitia incepta »in den Schatten« – in dem Sinn, dass diese angesichts seiner vollkommenen Gerechtigkeit in ihrer Gebrochenheit nur umso deutlicher hervortritt, aber auch in dem Sinn, dass er uns mit seiner makellosen Gerechtigkeit vor der Glut des göttlichen Zornes deckt und schützt.254 Man wird Luther wohl nicht missverstehen, wenn man folgert, dass von Christus abstrahiert unser initium ganz Sünde ist, eben verdammenswert, unter der Glut des göttlichen Zornes stehend. Unabhängig von Christus ist der Christ totus peccator! Es handelt sich darum bei dem Eintreten und Heiligen Christi zu unseren Gunsten offenbar nicht nur um das ergänzende Auffüllen einer noch bestehenden Lücke – obwohl Luther an anderen Stellen auch so reden kann –, sondern um ein totales Eintreten für uns: Nur so wird die an sich verdammungswürdige iustitia incepta für Gott annehmbar.255 Man könnte nun den Eindruck gewinnen, dass Gottes Toleranz gegenüber den Christen nicht so sehr propter initium creaturae suae, wegen bzw. auf Grund der neuen Kreatur geschieht, als vielmehr trotz der neuen Kreatur.256 Luther würde sich dann einem streng imputativen Rechtfertigungsverständnis nähern, Dazu Ebeling, Rechtfertigung, 251. Vgl. ebd, 251 f. 255 Vgl. ebd., 251; Pesch, Theologie, 177–180, bes. 180, 323, 324 f. Dies wird von Prenter, »Synergismus«, bes. 232 f.30, nicht hinreichend veranschlagt, wenn er vom »Zusammenwirken« der iustitia incepta mit Gott im Rechtfertigungsgeschehen spricht. – Althaus, Rechtfertigung, 51, spricht von einem »zwiefach-einheitlichen ›Um Christi willen‹, propter Christum, mit dem Luther die Rechtfertigung des Sünders begründet. Christus, der mit dem Glauben ins Herz kommt, wirkt und fördert im Christen den Anfang der neuen Schöpfung, und: Christus deckt mit seiner Gerechtigkeit den Mangel des Christen an Gerechtigkeit.« (51) Dies darf indessen nicht so verstanden werden, dass unsere iustitia incepta, weil von Christus gewirkt, deshalb für Gott annehmbar wäre. Sie wird es allein durch die imputatio der Gerechtigkeit Christi. Denn gerade darin zeigt sich ja die bleibende Mächtigkeit der Sünde, dass selbst das vom dreieinigen Gott im Menschen gewirkte neue Sein coram Deo nicht besteht! 256 Dies deutet auch Ebeling, Rechtfertigung, 251 (Hv.), an: Luther spreche darüber, »wie wir trotz dieses initium iustitiae dank Christus vor Gott bestehen können. […] Auf diesen Christus ist und bleibt der Glaubende angewiesen, nicht etwa nur trotz seines initium iustitiae, sondern sogar um dessentwillen. Denn als solches ist es völlig außerstande, den Gerechtfertigten, der ja immer noch Sünder ist, vor Gott zu decken.« Vgl. ebd., 250. – Für Härle, Rechtfertigung vor Gott, 27 f., scheint sich die Spannung der beiden Begründungen für die göttliche Toleranz gegenüber den sancti durch die Rückführung des propter initium creaturae suae auf das propter Christum zu lösen, insofern Ersteres vor Gott stets 253

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Rechtfertigung 175 das zwar die seinshafte incepta iustitia nicht generell negiert, aber doch von der Rechtfertigung coram deo im strengen Sinne ausschließt. Vielleicht kann man den Widerspruch so vermeiden: Das initium creaturae suae in nobis ist Grund der göttlichen Toleranz nur in seiner doppelten Relation auf Christus und die künftige Vollendung. Ja, es sind eigentlich diese Relationen, welche es akzeptabel machen. An sich, abstrakt betrachtet, ist es coram deo absolut verdammungswürdig. Diese Vermittlung macht den auch für Gott bestehenden Wert der incepta iustitia nicht zunichte, bewahrt aber vor dem Fehlschluss, als ob irgend etwas »Seinsmäßiges« auf Seiten des Menschen vor Gott bestehen oder gar Grund der Rechtfertigung sein könnte. Freilich stellt sich dann an Luther die Frage, warum er überhaupt das propter initium creaturae suae als Grund der göttlichen Toleranz erwähnt und nicht einfach primär das propter Christum als causa efficiens der Rechtfertigung und sekundär deren causa finalis, die eschatologische Vollendung des Menschen, anführt. Für Luthers Insistieren gerade auf dem initium creaturae suae scheint uns jedoch ein Gedanke zentral zu sein, den wir hier vorerst nur als Vermutung vortragen können, da er in unserer Thesenreihe allenfalls impliziert und deshalb später durch andere Luthertexte zu erhärten ist: Luther unterscheidet zwar im Gerechtigkeitsbegriff streng zwischen der iustitia coram deo, der Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt« und der iustitia als anfängliches Neuwerden des Menschen, ohne Letztere völlig mit der iustitia civilis zu identifizieren. Anders als die im Glauben uns imputierte iustitia Christi vermag diese incepta iustitia, obwohl sich doch dem Wirken des trinitarischen Gottes verdankend, coram Deo nicht zu bestehen bzw. uns in seinem Gericht zu rechtfertigen. Hier gilt deshalb: solus Christus! Dennoch ist diese iustitia incepta als gegenwärtige für Gott nicht unwichtig und gleichsam ein »Nebenmotiv« bei der Gerechterklärung, weil sie Gott und Mensch anzeigt und sie gewiss macht, dass Gott mit dem Menschen zu dem intendierten Ziel eines vollen (eschatologischen) Gerechtseins hin schon unterwegs ist, Gott im Menschen zu wirken begonnen hat, ist doch der, wenngleich unvollkommene, Anfang dazu gemacht! In den letzten drei Thesen der Disputation De iustificatione benennt Luther zusammenfassend die Elemente, die das Rechtfertigungsgeschehen sola fide ohne des Gesetzes Werke ausmachen (»quod iustificari ista includit«: 83,35) und welche so unsere bisherige Interpretation bestätigen. Als erstes Moment wird die imputatio bzw. reputatio angeführt: »fide scilicet propter Christum reputari nos iustos« (83,35 f.). Dann erwähnt Luther die der imputatio korrespondierende und ihr logisch-temporal nachgeordnete, weil auf das Gewahrwerden des peccatum remanens bezogene non-imputatio der Sünde: »Nec peccatum ullum, sive praeteritum, sive reliquum in carne manens, imputari, sed velut nullum sit, remissione interim tolli.« (83,37 f.) Schließlich wird die anfanghafte effektive Gerechtigkeit der Heiligung durch Christus bedarf. Uns scheint aber das initium bei Luther eine im gewissen Sinne auch eigenständige Relevanz zu besitzen.

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des Menschen angesprochen: »Hanc fidem comitatur initium creaturae novae, et pugna contra carnis peccatum, quod eadem fide Christi et ignoscitur et vincitur.« (83,39 f.)257

1.3.2 Aspekte des Rechtfertigungsverständnisses In der Folge wollen wir noch einige im Kontext des simul wichtige Charakteristika der Rechtfertigungslehre in Luthers Disputationen über Röm 3,28 herausstellen.

1.3.2.1 Imputatio Zunächst fällt auf, dass der Imputationsgedanke jetzt großen Raum einnimmt, ja fast allein das Feld beherrscht, wenn es darum geht, die Rechtfertigung vor Gott zu denken.258 Letztlich rechtfertigt uns, dass Gott uns um Christi willen durch den Glauben für gerecht erachtet, er uns die Gerechtigkeit Christi zuspricht, die uns wie ein schützender Schatten bedeckt und schirmt. Der im Großen Galaterkommentar so zentrale Gedanke der unio mit Christus, wonach Christus durch den Glauben in uns lebt und wirkt, tritt demgegenüber in den Hintergrund, wenngleich er nicht völlig fehlt.259 Die verstärkte Deutung der Rechtfertigung als imputatio bzw. non-imputatio resultiert gewiss daraus, dass sie es ermöglicht, die Rechtfertigung rein forensisch-synthetisch zu verstehen und so jeden menschlichen Anteil daran in Liebe und guten Werken auszuschließen. Zum andern lässt sich mit ihr aber auch das Bleiben der Sünde gut artikulieren, wenn nicht sogar die Dominanz des imputatio-Gedankens sich aus dem deutlichen Bewusstsein des Bleibens der Sünde mit ergibt.260 Anders formuliert: Aus dem Faktum des simul peccator resultiert für Luther die Notwendigkeit der imputatio, auf die der Christ zeitlebens angewiesen ist!261 So führt Luther programmatisch aus, dass Für Luthers mehrschichtigen Begriff der imputatio sowie ihre enge Verknüpfung mit dem Glauben und der Neuschöpfung sei nochmals auf Rolf, Zum Herzen, verwiesen. Zur Auseinandersetzung mit Rolf s. u. Teil III, Kapitel 5 (4.2.2). 258 Vgl. allein ihr Vorherrschen in den Thesen De iustificatione, z. B. 98,13 f.: »Verbum iustificari significat hominem iustum computari.« Greschat, Melanchthon, passim, sieht darin den verstärkten Einfluss Melanchthons auf Luther, welcher die Rechtfertigung deshalb streng imputativ-forensisch konzipierte, um gegenüber den altgläubigen Gegnern das sola fide konsistent und unmissverständlich herausstellen zu können. 259 Vgl. 45,16 f.; 46,4 f.18–21. 260 Die Negation jedweden Anteils der opera bei der Rechtfertigung coram deo und ihre bleibende Sündigkeit stellen die zwei Seiten ein und desselben Sachverhalts dar. Dazu unten 3.2.4. 261 Vgl. 97,16 ff.: »Non magni pendunt [homines], quod Deus hoc possit facere, ut manente peccato reputet nos tamen iustos et puros esse, et ut ita absolvatur homo, quasi nullum habeat peccatum, propter Christum«; 39 II,247,7 f.: »Confitendum quidem est, nos non esse sine peccato, sed tamen certo statuendum, peccatum nobis non imputari.« Dieser Zusammenhang ist auch schon in der Großen Galatervorlesung deutlich ausgesprochen: 40 I,233,25–29; 368,21–24; 372,24–28. Vgl. Rolf, Zum Herzen, 30 f., 43, 63 f., 99, 102, 257

Rechtfertigung 177 der getaufte Christenmensch Sünden hat und diese doch keine Sünden sind, weil Christus sie bedeckt. Im Anschluss an 1.Joh 1,8; 3,9 wird das so formuliert, dass wir Sünde haben und doch nicht sündigen können, weil die Sünden uns nicht zur Verdammnis angerechnet werden (non reputantur). Die an sich widersprüchlichen Aussagen von 1.Joh, wonach die Christen einerseits ihre Sünden bekennen müssen, andererseits aber nicht mehr sündigen können, werden also durch das Bleiben der Sünde und ihrer Bedeckung durch Christus bzw. ihre Nichtanrechnung ausgeglichen (55,32–35). Luther spricht deshalb auch ausdrücklich von den Glaubenden bzw. Gerechten, über welchen Gottes Barmherzigkeit regiert, als von den »credentes peccatores« bzw. »iusti peccatores«.262

1.3.2.2 Rechtfertigung als sich wiederholendes Geschehen Wegen der bleibenden Sünde kommen wir – wie gesagt – zeitlebens niemals über Gottes imputatio bzw. non-imputatio (und damit über unsere Angewiesenheit auf Christus) hinaus. Denn bleibt das, was die Vergebung bzw. Rechtfertigung empfängt, paradoxerweise bestehen, so ist es auch nach empfangener Vergebung weiterer, eben unausgesetzter Vergebung bedürftig. Von daher ist es konsequent, wenn Luther den Akt der Sündenvergebung bzw. der imputativen Rechtfertigung nicht als ein einmaliges, abgeschlossenes Geschehen interpretiert, sondern – beginnend mit der Taufe – als einen sich je neu, ja täglich wiederholenden Akt auffasst. Wir werden zwar immer ganz gerechtfertigt, uns werden ganz die Sünden vergeben, aber eben darauf sind wir immer neu angewiesen.263 Und daran wird erkennbar, dass wir bleibend Sünder sind, im Sinne des Schuldigwerdens in aktualen Sünden, aber auch im Sinne des Bleibens »der Sünde« als böser Konkupiszenz: »Remissio peccatorum non est praetereuntis operis aut actionis, sed perpetuo durantis. Incipit enim remissio peccatorum in baptismo, et durat nobiscum usque ad mortem, donec resurgamus a mortuis et inducat nos in vitam aeternam. Ita perpetuo vivimus sub remissione peccatorum et Christus vere et constanter est liberans a peccatis nostris. Si autem salvat nos semper et perpetuo, ita semper 350; Kroeger, Rechtfertigung, 81: »Die Erkenntnis des unüberwindlichen Sünderseins erzwingt bei Luther die Gerechtigkeit im reinen Gelten vor Gott ex imputatione; es ist die Notwendigkeit, nur als simul peccator sein zu können, welche die imputatio als Lösung des Problems heranziehen lässt.« 262 Vgl. 222,26 f.: »Dei misericordia sit super credentes et iustos peccatores, qui Christum mediatorem apprehendunt.« Diese Wendung (siehe auch 50,431,31: »frome sunder«) ist die einzige formelhafte Zusammenfassung der simul-Thematik in den Disputationen über Röm 3,28, obwohl diese selbst ständig präsent ist. Vgl. 221,14–17; 222,7 ff.: »Sed ubi vero [iniustus et peccator] convertitur et accipit fidem in Christum, est iustus et sanctus, etiamsi adhuc in carne eius inhabitet peccatum. […] In Paulo iam iustificato et sancto multa reperisset Deus reprehensione et damnatione digna.« 263 Seinen »Sitz im Leben« hat dies für Luther, obwohl es hier nicht angesprochen wird, im Empfang des Absolutionswortes in der Beichte. Vgl. 26,507,14–27. Siehe auch Ebeling, Rechtfertigung, 255; Pesch, Theologie, 174 f.

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sumus peccatores. Cum autem quotidie sumus peccatores, necesse est, etiam ut nunc sit in mortali nostro corpore peccatum.« (94,37–95,8)264 Die Verteidigung des simul peccator der Gerechten steht also ganz im Dienste ihrer bleibenden Angewiesenheit auf Christus.

1.3.2.3 Totalitäts- und Interimscharakter der Rechtfertigung Die imputatio ist nach Luther durch eine doppelte Bestimmung gekennzeichnet: Sie stellt einmal ein sich je neu wiederholendes Totalitätsgeschehen dar, das aber zum anderen dennoch Interimscharakter hat, d. h. auf die volle eschatologische Gerechtmachung hingeordnet ist. In Christus sind wir von Gott durch den Glauben ganz angenommen, ganz gerecht gesprochen, es fehlt nichts: »Iam accepto Christo fide omnia habemus, nec quicquam nobis ad iustificationem et salutem deest.« (285,20 f.) Vom gerechtfertigten Sünder, der auch als Gerechtfertigter noch Sünder bleibt, gilt: »plene et perfecte iustus reputatur« (83,19), so dass hier durch Werke nichts zu ergänzen ist.265 Und dennoch ist der Status der imputativen Gerechtsprechung ein eschatologisch begrenzter Interimszustand: Gott zielt dabei und damit auf die völlige Aufhebung der Sünde und des durch die imputatio bestimmten Gottesverhältnisses!266 Das hatte schon These 34 der Disputatio De iustificatione deutlich gemacht: Den um Christi willen durch den Glauben Gerechtfertigten wird keine Sünde, sei es vergangene oder bleibende angerechnet (imputari), »sed, velut nullum sit, remissione interim tolli« (83,37 f.). In der Disputation selbst sagt Luther dann: »Peccatum originis […] interim tamen piis non imputatur. […] Misericordia enim Dei ignoscens est charitas remittens interim.« (96,19 ff.; 98,5) 1.3.2.4 Ausschluss der guten Werke von der Rechtfertigung Die Totalität der imputatio impliziert, dass gute Werke bzw. das neue Leben von der Rechtfertigung ausgeschlossen sind und hier in keiner Weise ergänzend oder auffüllend veranschlagt werden dürfen. Unsere Gerechtigkeit bleibt die Gerechtigkeit Christi und sie bleibt Glaubensgerechtigkeit! Das begründet Luther u. a. mit der bleibenden Unvollkommenheit unserer guten Werke bzw. unseres neuen Gehorsams. Wegen der bis zum Tode fortwirkenden Erbsünde sind alle unsere

Luther versteht an dieser Stelle das faktisch je neue Empfangen der Sündenvergebung als Erkenntnisgrund für das bleibende Sündersein des Gerechtfertigten. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, dass Letzteres der Realgrund für die Notwendigkeit des dauerhaften Empfangens der Rechtfertigung ist. Vgl. auch 98,7 ff.: »Alias peccatum non est reatus transiens, sed quotidie iustificamur immerita remissione peccatorum et iustificatione misericordiae Dei«; 122,13 f.: »Quotidie peccamus, quotidie iustificamur continenter«; 125,4 f.: »Tolerantia igitur divina est remissio peccati, sub qua semper manet homo.« 265 Vgl. 43,576,9 ff.: »Et persona simpliciter reputatur sancta, non propter nos aut opera nostra. Sed propter verbum. Atque ita constituitur tota persona iusta.« 266 Vgl. Pesch, Theologie, 356 ff. 264

Rechtfertigung 179 guten Werke unvollkommen und mit Sünde vermischt.267 Deshalb gilt: »Causa formalis iustificationis et salutis nostrae est miseratio, imputatio et acceptatio divina. Haec remota nostra novitas seu oboedientia nova non consistit coram Deo, non placet Deo, imo est mors et damnatio.« (228,7–13)268 Dass unser neuer Gehorsam Formalursache unserer Gerechtigkeit ist, gilt erst für die Ewigkeit,269 nicht für dieses Leben. »Hic formalis causa est misericordia et reputatio divina et non est alia […] Remota misericordia [opera nostra] sunt damnatio est mors, sicut dixi.« (230,16 f.20) Luther macht für die bleibende Sündhaftigkeit unserer guten Werke («non […] integre bona«: 255,15) und damit auch für ihren Ausschluss aus der Rechtfertigung Jes 64,6 geltend: »omnes iustitiae nostrae sicut pannus menstruatae.« Er folgert daraus: »Propterea ad salutem adipiscendam et retinendam sola misericordia requiritur, quam fides apprehendit et retinet.« (255,18 f.) Das entspricht ganz dem schon angeführten Gedanken Luthers, wonach das initium creaturae novae in nobis ohne das Heiligen und Eintreten Christi zu unseren Gunsten verdammenswert ist.

1.3.2.5 Effektives Gerechtwerden Wie schon angedeutet, folgt aus der Dominanz des imputatio-Gedankens nicht die Negation des effektiven, prozessualen Gerechtwerdens. Luther unterscheidet jetzt nur beide Momente des Rechtfertigungsgeschehens deutlicher als früher und betont stark, dass die iustitia incepta vor Gott nicht bestehen kann, uns vor Gott nicht rechtfertigt.270 So erwähnt Luther, wenn er unser alleiniges Angewiesensein auf die göttliche imputatio bzw. non-imputatio für die Rechtfertigung herausstellt, ebenso die anfängliche Gerechtwerdung, sie ist ihm Zeichen dafür, dass Gottes Wirken im Menschen begonnen hat: »Et accepit Deus peccatum realiter, sic, ut non maneat peccatum, quia materialiter incipit purgari et totaliter remitti.« Die vollkommene seinshafte Gerechtigkeit entsteht aber erst beim Jüngsten Gericht: »tunc demum perfecte iustificabimur.« (98,5 ff.10 f.)271 An anderer Stelle unterscheidet Luther das imputative Gerechtgesprochenwerden durch den Glauben von der anfänglichen effektiven Reinigung, die speziell das Werk des Heiligen Geistes ist, ohne dass dieser beim Entstehen des die Sündenvergebung Vgl. 95,9–29, bes. 20 ff.: »Cum sumus in pulverem redacti, tum demum et peccata penitus extinguentur. Interim dum vivimus, vivit et peccatum originale, ut videmus in sanctis usque ad ultimum anhelitum.« 268 Vgl. 222,5 ff.: »Nullus sanctus potest consistere sua sanctitate in iudicio Dei.« 269 Dieser überraschende Gedanke Luthers ist allerdings nur dann richtig verstanden, wenn diese eschatologische iustitia formalis in jedem Moment und in allem relational gedacht wird: vom Wirken des dreifaltigen Gottes in uns her. 270 Es verhält sich daher nicht so, dass der frühe Luther eine anfanghafte effektive Gerechtwerdung neben der totalen Gerechtsprechung gelehrt habe, während der späte Luther sich ganz auf die imputatio konzentriere. 271 Luther verwendet hier also den Begriff des iustificari für den Prozess der Gerechtwerdung, nicht für die Gerechtsprechung. Anders 98,13 f. 267

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empfangenden Glaubens unbeteiligt wäre: »Incipit [Deus] etiam realiter purgare. Primum enim purificat imputative, deinde dat spiritum sanctum, per quem etiam substantialiter purgamur, Fides purgat per remissionem, spiritus sanctus purgat per effectum.« (99,24–27) Neben der vollkommenen Rechtfertigung durch die imputatio kennt Luther somit auch ein prozessuales Gerechtwerden, das erst im ewigen Leben vollendet ist. Luther differenziert zwischen einer vollkommenen (sich freilich wiederholenden) und unvollkommenen Rechtfertigung, aber nur erstere ist in diesem Leben unsere Gerechtigkeit coram deo. »Sic duplex erit hic iustitia: perfecta, quae est imputatione perfecta, imperfecta, quae per suam naturam ita est, et haec est per operibus nostris, non ex fide.« (241,25 ff.) Von der effektiven Gerechtigkeit sagt Luther weiter: »Iustificatio ergo nostra non est completa. Est in agendo et fieri. Es ist noch ein baw. Sed complebitur tandem in resurrectione mortuorum.« (252,8–12) Schließlich stellt Luther die imputatio in ihrer ergänzenden Funktion angesichts der Insuffizienz unseres Neugewordenseins heraus: »In hac vita nondum sumus regenerati, salvati, formati, iustificati, sed regeneramur, iustificamur. […] Regeneratio est primitiae spiritus, non est perfecta regeneratio, fit autem perfecta reputante Deo. Si abstuleris misericordiam, tum deficit illud initium et pars. Ergo illa partialis impletio et obedientia non est satis, nisi succurrat imputatio seu misericordia Dei.« (234,23–235,25) Luthers Konzeption einer anfänglichen, aber nicht in die Rechtfertigung coram deo eingehenden effektiven Gerechtmachung gewinnt in den Thesenreihen De lege und De operibus legis et gratiae eine Radikalität, welche die Gutheit des neuen Gehorsams bzw. der guten Werke allein in die imputatio Dei zu verlegen bzw. ein Neuwerden auf Seiten des Menschen irdisch völlig zu leugnen scheint. Das Schwergewicht wäre dann ganz auf die Permanenz der Sünde und ihre Ausstrahlung auf jeden Aspekt des neuen Lebens gelegt. Doch ist hier genauer zuzusehen. So heißt es in der ersten Thesenreihe, dass es zu keiner Zeit irgendein Beispiel des erfüllten Gesetzes bei einem Heiligen bzw. in der ganzen Kirche gegeben habe und geben werde (51,26 f.). In der folgenden These fährt Luther unter Bezug auf 1.Joh 1,8 fort: »Omnium enim sanctorum et totius ecclesiae vox et confessio est: Si dixerimus nos non habere peccatum, veritas Dei in nobis non est.« (51,28 f.) Anschließend wird für den auch bei den Christen fortdauernden Dienst am Gesetz der Sünde und für das dem Geist widerstrebende Fleisch auf das Beispiel des Paulus (Röm 7) und der galatischen Gemeinden verwiesen (51,30 f.). These 59 lautet dann: »Et tota Ecclesia, petens Dominica oratione, sanctificari nomen Dei, et remissionem peccatorum etc., hoc ipso fatetur, sese peccatricem esse.« (51,32 f.) Luther zieht aus all dem die Konklusion, dass kein Heiliger, geschweige denn ein »Gesetzler« (legista) durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt werde, erst recht nicht durch selbsterwählte Werke (51,34 f.).272 Man sieht, worauf Luther Innerhalb eines Syllogismus setzt Luther als minor den Satz ein: »Nullus sanctorum servat mandata Dei«, und begründet ihn mit der Aussage: »quia omnes sancti sunt peccatores, et mandata Dei non servant« (52,8.12 f.). 272

Rechtfertigung 181 mit der Hervorhebung des simul bei der Kirche (»ecclesia peccatrix«) als Ganzer abzielt: Die Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung auch bei den Heiligen soll den Gesetzesweg als Weg der Rechtfertigung als überhaupt unmöglich erscheinen lassen: Wenn schon die Christen das Gesetz nicht erfüllen, dann erst recht nicht die Nichtchristen! Luther sagt in der Folge dann auch explizit, dass das erfüllte Gesetz (»exemplum legis impletae certum et fidele«) allein in dem einzigen Mittler Christus gefunden werde (52,18 f.). Durch seinen das Gesetz Gottes erfüllenden, Gott gehorsamen Willen sind wir Ungehorsame alle geheiligt und zu Gerechten eingesetzt worden. (52,20–30) Das ist unser einziger Weg zur Rechtfertigung! Luther bringt in der Folge pointiert das simul zum Ausdruck: Natürlich tun die Christen gute Werke und unterlassen offenkundige Gesetzesübertretungen. Aber in all dem ist immer auch »zugleich« jener Wille, der sich selber sucht und Gott feind ist, mit am Werk, das Gesetz, der Wille Gottes ist anders als bei Christus nicht in »medio cordis eorum« (52,22–25.35 f.).273 Man wird diese Aussagen Luthers über die Erfüllung des Gesetzes allein in Christus nicht im Sinne einer völligen Leugnung der iustitia incepta bzw. einer anfänglichen Gesetzeserfüllung bei den Christen deuten dürfen. Vielmehr ist gemeint: Wird der strenge Maßstab des Bestehens vor Gott angelegt, also der Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, dann erfüllt allein Christus den Willen Gottes, nicht aber unser gebrochenes, anfängliches Neuwerden. Vor Gott ist das Gesetz nur erfüllt, wenn es ganz erfüllt ist! Unsere anfängliche Gesetzeserfüllung, die es durchaus gibt, ist folglich nur von Christus her vor Gott gerecht!274 Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Thesenreihe De operibus legis et gratiae. Luther spricht hier von einer doppelten Gesetzeserfüllung: durch den Glauben und durch die Liebe (203,14 f.). Die Erstere geschieht in diesem Leben, wo Gott uns »interim« durch Christus die Gerechtigkeit und Erfüllung des Gesetzes aus Gnade zurechnet (reputante: 203,16 f.).275 Durch die Liebe wird das Gesetz im künftigen Leben erfüllt, wo wir vollkommen »nova creatura Dei« sein werden.276 Da Luther das ewige Leben an dieser Stelle nicht als gegenwärtig bereits anbrechendes, sondern streng futurisch versteht, scheint er tatsächlich die Erfüllung des Gesetzes durch die Liebe gänzlich in die Ewigkeit zu verlegen. Er weist zugleich auf die Uneigentlichkeit dieser Rede hin, da es im ewigen Leben kein Gebot, kein Sollen, eben kein Gesetz mehr gibt und Gottes Wille einfachhin getan wird (203,20–29).277 Dann hören mit dem Gesetz auch der Glaube, die reputatio Dei, die Vgl. 52,37 f.: »Sensus enim carnis non solum non subiicitur iustitiae Dei, sed etiam odit, et est ipsa inimicitia contra Deum.« 274 52,31 f. sagt deshalb: »Proinde omnia alia dicta et exemplae scripturae de lege vel operibus necesse includunt Christum pro nobis patrem obedientem.« 275 Vgl. 204,6 f.: »Interim fovemur in sinu Dei, tanquam initium creaturae novae, Donec perficiamur in resurrectione a mortuis.« 276 Vgl. 203,18 f.: »Charitate implebitur [lex] in futura vita, cum perfecti erimus nova creatura Dei«; 203,36 f. 277 Bemerkenswert ist, dass Luther das von ihm oft für die gegenwärtige spontane Erfül273

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Sündenvergebung und die diese nahebringenden Heilsmittel auf, weil Gott alles in allem ist (203,30–37). Es folgen die uns schon bekannten Aussagen, dass sich das initium creaturae novae in guten Werken manifestiere und so unsere Berufung gewiss mache und wir gerecht nicht »actu perfectu, sed potentia propinqua« seien (204,8–11).278 Christus wird in uns fortschreitend geformt und wir werden seinem Bild gleichgestaltet. Zwar werden wir ohne Gesetzeswerke durch den Glauben gerechtfertigt, aber wir leben im Glauben nicht ohne Werke (204,12–15). Luther folgert daraus, dass den Glaubenden, sofern sie gerecht sind und nach dem Geist leben, kein Gesetz gegeben sei: »Imo fatemur, iustis non esse positam legem, quatenus iusti sunt et spiritu vivunt.« (204,16 f.) Dahinter steht die unter Berufung auf 1.Tim 1,9 von Luther oft vorgetragene These, dass die Glaubenden schon jetzt spontan, ohne Antrieb durch ein Gesetz, allein um Gottes und des Nächsten willen, das Gute und die Liebe tun, ohne ihr Tun wiederum zur Selbstrechtfertigung zu missbrauchen. Freilich gilt dies nur, »quatenus iusti sunt et spiritu vivunt«. Da die Glaubenden aber noch Sünder sind, neben dem Geist noch das Fleisch haben, gilt andererseits: »Sed quatenus in carne sunt, et corpus peccati habent, esse sub lege, et facere opera legis, id est, non esse iustos, nec facere opera bona.« (204,18 f.) So könnte man auch sagen, dass die Gerechten unter Tod, Strafe und Sünde stehen, weil sie alle sterben und bekennen, dass sie Sünder sind (204,20 ff.). Der Leib muss ja gezüchtigt und in Dienstbarkeit zurückgeführt werden, das Fleisch mit seinen Lastern getötet und gekreuzigt werden (204,23 f.). Die Gesetzeswerke, welche die Glaubenden noch ausführen, eben weil sie noch nach dem Fleisch leben und Sünder sind – und Gesetzeswerke sind solche, die außerhalb des Glaubens und aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Lohn geschehen (202,9 ff.) –, werden aber reputatione Dei nicht für solche gehalten, obwohl sie es eigentlich sind (204,25 f.). Wie ja auch die bleibende Sünde und der Tod reputatione Dei nicht für Sünden und Tod gehalten werden (non reputentur; 204,27 f.). Luther beschließt dann die ganze Thesenreihe: »Summa, omnium hominum opera sunt mala et vitiosa, sed iustorum sunt reputante Deo bona, impiorum sunt natura mala.« (204,37 f.) Versucht man, diesen komplexen Befund in konsistenter Weise zu interpretieren, so wird man erneut feststellen müssen, dass Luthers Verlegung der Erfüllung des Gesetzes durch die Liebe ins Eschaton nicht so gemeint sein kann, als ob es in den Glaubenden hienieden nicht schon eine anfängliche Liebe gebe.279 Dagegen lung des Willens Gottes durch die Glaubenden herangezogene Beispiel Augustins hier rein eschatologisch versteht: »Recte enim dicit S. Augustinus, Tria et septem non debent esse decem, sed sunt decem.« (203,24 f.) In der aus demselben Jahr 1536 stammenden »Disputatio cum Luthero« Melanchthons (248) ordnet er das spontane Tun des Guten schon dem irdischen Glauben zu. 278 Die letzte Wendung, insbesondere das »propinqua«, ist schwer verständlich: Hat Luther hier die sukzessive Überführung eines als bloße Potenz gedachten Stoffes in die Wirklichkeit (actus) vor Augen? Dies legt 204,12 f. nahe. 279 So auch Greschat, Melanchthon, 243 f. Luther spricht wohl deshalb so pointiert von

Rechtfertigung 183 spricht Luthers Überzeugung, dass der Glaube nie ohne gute Werke ist und sich notwendig und spontan (ohne Gesetz) in ihnen als seinen Früchten darstelle.280 Aber sofern jene Liebe noch fragmentarisch, unvollkommen ist, erfüllt sie eben im Letzten nicht Gottes Gesetz, das immer ganz erfüllt werden muss, um vor ihm zu bestehen.281 Ebenso wird es nicht Luthers Intention treffen, die guten Werke der Glaubenden insgesamt bzw. nur einige von ihnen schlechthin als Werke des Gesetzes zu kennzeichnen. Dann wäre ja zu den Taten, welche außerhalb des Glaubens geschehen, kein Unterschied mehr auszumachen.282 Werke des Gesetzes, also solche, die extra fidem und aus Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Lohn geschehen (202,9 ff.), sind die Werke der Glaubenden eben »nach dem Fleisch«, also sofern in ihnen noch jener ichsüchtige Wille bzw. der Unglaube präsent ist. Dieselben Werke geschehen aber »nach dem Geist«, d. h. sofern die Täter Glaubende sind und daraus ein neues Wollen entspringt, Werke der Gnade, »quae ex fide fiunt, spiritu sancto movente et regenerante voluntatem hominis« (202,21 f.). Luthers Unterscheidung von opera legis und opera gratiae wird man folglich nicht nur oder in erster Linie als Differenzierung zwischen den Taten der Glaubenden und der Nichtglaubenden zu deuten haben, sondern in dem Sinn, dass die Taten der Glaubenden selbst irdisch jederzeit opera gratiae und opera legis zugleich sind.283 In ihnen ist nämlich neben dem Glauben immer auch noch der Unglaube am Werk bzw. in ihnen sind zwei konträre Willensausrichtungen vereint. Gut, d. h. vor Gott annehmbar, sind sie aber insgesamt, als Einheit aus Geist und Fleisch, nur durch Gottes gnädige imputatio bzw. non-imputatio. Sie sind also nicht nur secundum carnem darauf angewiesen! Und zwar deshalb, weil ihr partielles Gegründetsein im Fleisch bzw. im Unglauben sich auf das ganze Tun auswirkt. Nur so wird man Luthers Meinung treffen, betont er doch mehrfach, dass auch unser

einer Erfüllung des Gesetzes durch die Liebe erst im künftigen Leben, um jeden Lohn- und Verdienstgedanken, der in Konkurrenz zum gegenwärtig allein rechtfertigenden Glauben treten könnte, auszuschließen. Konsequent ist das freilich nicht, da die aus dem Glauben spontan folgende Liebe gerade nicht nach Lohn und Verdienst schielt. Vgl. Härle, Entfaltung, 223 f. 280 Vgl. nur 46,28 ff.: » [opera bona] sponte sequi«; 321,7–15. 281 Solches Bestehen ist aber gegenwärtig nur kraft der ständigen Anrechnung der fremden Gerechtigkeit Christi möglich, die uns im Glauben zuteil wird. Insofern geschieht auch jede jetzt mögliche, immer unvollkommene Erfüllung des Gesetzes durch die Liebe »im Glauben«, was im Eschaton nicht mehr der Fall sein wird. Vgl. Härle, Entfaltung, 22349. 282 So ist 204,37 f. (s. o.) zu verstehen: Dass allein die reputatio Gottes die Werke der Glaubenden von denen der Unglaubenden unterscheidet, gilt ausschließlich vom strengen Maßstab des Bestehens coram Deo aus, nicht aber generell. »Natura mala« sind die Werke der Glaubenden eben nur partial, nicht total! 283 Vgl. auch Greschat, Melanchthon, 243 f., bes. 244: »Vom Menschen her gibt es keine Werke, die frei wären von der Forderung, dem Zwang und ebenso von der Schuld durch das Gesetz: nimmt Gott solche Werke dennoch an, dann eben nicht aufgrund des ihnen innewohnenden Wertes, sondern als der in Christus sich gnädig erweisende Vater.«

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neuer, geistgewirkter Gehorsam vor Gott nicht bestehen kann,284 obwohl Luther an dieser Stelle etwas unklar formuliert, also bezöge sich die imputatio auf die Werke der Glaubenden nur, sofern sie opera legis sind: »Sed ea legis opera, reputatione Dei, non habentur pro operibus legis, etiamsi sint talia. Sicut reliquum in carne peccatum et mors, reputatione Dei, non habentur pro peccatis, etiamsi natura sint talia.« (204,25–28)285 These 11 hielt aber ausdrücklich auch für die opera gratiae fest: »Nec illa ipsa opera iustificant coram Deo, licet recte dicantur iustitia operum, Deo grata per Christum.« (203,3 f.)286 Es liegt auf der Hand, dass Luther bei seiner simultanen Charakterisierung der guten Werke als opera gratiae und opera legis das simul im partialen Sinne versteht, handelt es sich doch um das Neben- und Gegeneinander zweier konträrer, wenn auch nicht gleichgewichtiger Streberichtungen im Christen. Sofern diese guten Werke aber als Ganze, als Spannungseinheit zweier gegensätzlicher Momente, coram Deo nicht zu rechtfertigen vermögen, sind sie dagegen ganz Sünde, und die ihnen propter Christum zugesprochene Gerechtigkeit umfasst sie ebenfalls ganz. An dieser Stelle ist dann der Totalaspekt im Blick, zudem wird weiter ersichtlich, dass Total- und Partialaspekt sich nicht widersprechen, weil sie in unterschiedlicher Hinsicht ausgesagt werden.

1.3.2.6 Der Realitätscharakter der »imputatio« Durch die starke Betonung des Imputationsgedankens kehrt für Luther freilich verstärkt das terminologische Problem wieder, ja man meint sogar, einen Rückfall hinter die im Großen Galaterkommentar erreichte Lösung feststellen zu können.287 Trotz des Bemühens, den Realitätsgehalt der mit der imputatio gesetzten Wirklichkeit zu sichern, droht dieser doch ganz auf Seiten der noch bleibenden Sünde zu stehen zu kommen, während die imputatio einen minderen Als-ob-Status einzunehmen scheint. Dies geschieht besonders dann, wenn Luther gegenüber den scholastischen Gegnern das Bleiben der Sünde nach der Taufe verteidigen will. So interpretiert Luther das peccatum originale als »ingenitum et perpetuo haerens malum in nobis«, das uns des ewigen Todes schuldig macht, bzw. als »habitus ingenitus« (95,10 ff.), der keine »res« bzw. »qualitas quiescens«, sondern eine »continua quaedam motio seu ἐντελέχεια«, ein »inquietum malum« ist, das ständig Vgl. nur 48,13: »sola misericordia Dei est iustitia nostra, non opera propria«; 222,5 ff.; 230,17–20. 285 Die angesprochene Unklarheit rührt daher, dass Luther von den opera legis so spricht, als seien sie von den opera gratiae unterschiedene Taten, obwohl nach dem ganzen Kontext primär nur das simul von beiden in ein und derselben Tat gemeint sein kann! 286 Vgl. 203,5–13. 203,7 f., wo 1.Kor 4,4 aufgenommen wird, bringt den von Luther anvisierten Sachverhalt prägnant zum Ausdruck: »Nihil sibi conscium esse oportet, et tamen scire, non in hoc esse iustificatum.« Der Christ tut durchaus auf der ethischen Ebene das Gute und lebt tadellos. Aber wegen des selbst darin noch wirksamen gegenläufigen Wollens gilt: non in hoc iustificatus sum! 287 Vgl. oben 1.2.5. 284

Rechtfertigung 185 seine »Effekte« hervorzubringen sucht und Tag und Nacht, selbst im Schlaf, in uns arbeitet und den Menschen zu bösen Neigungen treibt (112,20–113,9). Es ist ein lebenslanges Existential des Menschen, von dem er erst im Tod frei wird.288 Von daher ist die gegnerische Vorstellung zurückzuweisen, wonach in der Taufe die Erbsünde abgewaschen (ablutum esse), d. h. ein Zustand völliger Sündenfreiheit erreicht werde und neue Sünde erst wieder durch erneutes aktuelles Sündigen auftrete. Vielmehr ist es Luther zufolge so zu verstehen, dass die Erbsünde zwar imputative vergeben bzw. nicht angerechnet werde (non imputetur),289 aber sie wird nicht substantialiter oder realiter weggenommen (non tollitur), es sei denn im Feuerbrand des Gerichts am Jüngsten Tag. Solange wir leben, lebt in uns auch die Erbsünde, sogar in den Heiligen bis zum letzten Atemzug. Unter Rekurs auf das von Luther oft zitierte Augustinus-Wort (»Remittitur peccatum non, ut non sit, sed ut non imputetur«), fasst er zusammen: »Igitur remittitur imputative tantum. Cum autem morimur, tollitur realiter etiam.« (95,13–25; vgl. 111,9–12) Gleichwohl bedeutet das nicht, dass durch die göttliche imputatio die Sünde selbst überhaupt nicht verändert würde. Durch die imputatio divina bzw. misericordia Dei vermag die Sünde uns nicht mehr zu verdammen und von Gott zu trennen, sie ist deshalb nicht mehr wirksam (efficax) in unserem Fleisch und besitzt nicht mehr ihre Kraft – wie die Schlange (Luther hat wohl Gen 3,15 im Sinn), die zwar noch (am Leben) bleibt, aber ihren giftigen Zahn verloren hat: »Donec ego in Christo maneo, non nocet mihi illud peccatum originale et venenum.« So sehr also die Christusbeziehung die bleibende Sünde in ihrer Mächtigkeit angreift, resümiert Luther schließlich dennoch: »Peccatum non manet post baptismum, quod ad imputationem attinet, sed quod ad rem attinet manet.« (111,13–112,9; vgl. 125,5–9) Demgegenüber stehen Bemühungen, die Realität der imputatio herauszustellen: Es gilt Gott Dank zu sagen, »quod sua imputatio maior sit, quam nostra impuritas«. Freilich fährt Luther dann fort: »et peccatum, quod re vera non tollitur, sublatum non imputetur et absorbeatur bonitate Dei dissimulantis propter Christum obumbrantem, quamquam naturale illud et substantiale maneat.« (97,18–22) Kurz vorher war aber schon festgestellt worden: »ita absolvatur homo, quasi nullum habeat peccatum, propter Christum.« (97,17 f.)290, was man nicht als ein bloßes 113,15–114,5 verwendet Luther für die bleibende Sünde das Bild eines eitrigen Geschwürs, das noch immer böse Regungen hervorbringt, unter der Anleitung des Arztes Christus langsam heilt, aber erst im Tod »ausgeheilt« ist. 289 Was Luther auch doch schon als submovere verstehen kann: »et ita submovetur, ut non imputetur« (95,17). 290 Vgl. 98,4: Unser Erlöser vermag »reputare nostrum peccatum pro nihilo«. – In einem Gespräch mit Melanchthon 1536 schließt Luther, um die Totalität und Realität der imputativen Gerechtigkeit herauszustellen, für diese explizit das simul aus: »Haec est enim iustitia perfecta, quae opponitur irae, morti, peccato etc. et absorbet omnia, et reddit hominem simpliciter sanctum, et innocentem, ac si revera nullum in eo esset peccatum. Quia reputatio gratuita Dei nullum vult ibi esse peccatum, sicut Ioan. dicit: Qui natus est ex Deo, non peccat, Pugnat enim, esse ex Deo natum, et simul esse peccatorem.« (Melanchthon, 288

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Als-ob werten darf. Luther bringt das schön zum Ausdruck, wenn er sagt: »Haec imputatio non est res nihili, sed maior est, quam totus orbis, et omnes sancti angeli.« (97,26–98,2) Schließlich kann sogar die non-imputatio der Sünde (in Umkehrung des Schöpfungsvorganges) als deren Annihilation verstanden werden: »Misericordia Dei ex omni sic peccato facit nihil, sicut ex nihilo omnia.« (122,11 f.) So bleibt es also bei einer gewissen Unausgewogenheit: Einerseits ist in der imputatio bzw. neuen Christusrelation die den Menschen bestimmende Wirklichkeit zu sehen, durch welche die Sünde schon entmächtigt ist, andererseits führt das Insistieren auf dem Bleiben der Sünde dazu, dieser zumindest terminologisch größere Realitätshaltigkeit zuzuschreiben. Letzteres führt dann – wie im frühen Römerbriefkolleg – zu Gegenüberstellungen wie imputative gerecht/realiter bzw. in re noch Sünder291 oder in re Sünder/in spe gerecht292. In jedem Fall dürfte aber sicher sein, dass Luther bei Formulierungen, Gott rechne die Sünde nicht zu, »sed velut nullum sit«, nicht an eine Fiktion oder ein »Als ob« denkt. Vielmehr vermag die non-imputatio schon als ein »remissione interim tolli« der Sünde bezeichnet zu werden (83,37 f.).

1.3.2.7 Doppelte Gerechtigkeit Abschließend sei noch auf die in den Disputationen über Röm 3,28, wenn auch nicht erstmalig vorgetragene, so doch ausgebaute Konzeption der doppelten Gerechtigkeit verwiesen.293 Denn sie vermag zu zeigen, dass Luthers radikaler AusDisputatio cum Luthero, 345; vgl. Tr 6,149,35–150,2; Nr. 6727) 291 Vgl. 99,18–31 (zu Act. 15,9): »Deus purgat gentes, hoc est reputat eas purgatas, quia habent fidem, quamquam sunt realiter peccatores. […] ita et gentes et nos omnes pronunciat iustos, quamquam re ipsa sumus peccatores […]. Incipit enim realiter purgare. Primum enim purificat imputative, deinde dat spiritum sanctum, per quem etiam substantialiter purgamur. Fides purgat per remissionem peccatorum, spiritus sanctus purgat per effectum. […] Summa: Gentium corda sunt realiter immunda, sed deus reputat ea munda.« Solche Terminologie verführt zwangsläufig dazu, den Realitätsgehalt ganz auf die Seite der bleibenden Sünde zu verlagern, obwohl Luther gerade dies nicht intendiert. 292 Vgl. 298,4–11: »Nos sumus regenerati in spem, non in rem vitae, non vitam […], sed postea erit in re et vita perfecta, non in spe, sed interim, quod credimus in filium, sumus iusti in spe, non sumus re ipsa salvi, sed in spe tantum. Ita illa regeneratio est tantum initialis. Sed tunc in futura vita erimus perfecte regenerati, cum corpus mortuum fuerit. Regenerationis ratio igitur est duplex, incepta et perfecta. Hic inceptam habemus, ibi autem perfectum«; 301,3–7: »Angeli non iustificantur, sed sunt iusti creati. Si haberemus eam charitatem erga Deum et hominem, essemus etiam iusti, sed quod eam non habemus, iustificamur fide et expectamus eam in spe. Angeli sunt revera iusti Deo creante, sed nos sumus imputatione iusti, et initium iustitiae propter eum, in quem credimus, accipimus«; 252,23 findet sich die Präzisierung: »Sumus iusti perfecte secundum spem.« Es wird also die Gerechtigkeit nicht ganz in die Zukunft verlegt, sondern nur deren Vollendung. 293 Siehe als frühe Belege (aus dem Jahr 1522) nur 10 I/1,119,5–212,4; 10 III,284,34– 288,15. – Mit dem Terminus der »doppelten Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung« meint Luther natürlich nicht jene Vorstellung, wonach am Anfang des Christseins eine iustitia

Rechtfertigung 187 schluss auch der Werke der Glaubenden von der Rechtfertigung coram deo, den er mit ihrer bleibenden Sündhaftigkeit begründet, nicht deren völlige Abwertung oder Herabsetzung in moralischer Hinsicht bedeutet. Dies machte schon die im Anschluss an 2.Petr 1,10 formulierte These 32 der Disputation De operibus legis et gratiae deutlich: »Hoc initium [creaturae novae] autem per bona opera si vere inest, sese ostendit, et certam facit vocationem nostram.« (204,8 f.) Der Glaube, wenn anders er wahrer und kein eingebildeter Glaube ist, manifestiert sich in guten Werken. Der Glaube ist efficax, andernfalls ist er ein geheuchelter Glaube, der sich selbst und andere täuscht. So sehr der Glaube allein, ohne die Werke rechtfertigt, ist er doch niemals ohne solche Werke.294 Für Luther ist es deshalb legitim, dass man von den guten Werken und dem neuen Gehorsam auf die Echtheit des Glaubens bzw. auf das Gerechtfertigtsein durch Gott zurückschließt. Die guten Werke können uns und andere unserer Berufung gewiss machen. Luther greift diese Überlegungen in den Jahren 1535–1537 verstärkt auf, um hermeneutisch mit Schriftstellen umzugehen, die von den Gegnern gegen eine Rechtfertigung sola fide angeführt wurden, weil sie scheinbar von einer Rechtfertigung durch die Werke sprechen. Dazu zählen Lk 7,47; Röm 10,10; 1.Kor 13,1 ff., aber auch Dan 4,28, Schriftverse, die man gegen Röm 3,28 in Luthers Deutung ins Feld geführt hat. Luther argumentiert folgendermaßen: Solche Bibelstellen, die offenbar der Liebe bzw. den guten Werken einen Anteil bei der Rechtfertigung coram deo zuschreiben, setzen den rechtfertigenden Glauben und den gerechtfertigten Menschen schon voraus. Und deshalb wird in ihnen streng genommen nicht von der Rechtfertigung coram deo bzw. der Sündenvergebung gesprochen, sondern nur von ihrer Manifestation nach außen bzw. vor den Menschen. Der glaubende, gerechtfertigte Mensch kann ja gar nicht anders als in gute Werke ausbrechen. Nach Luther ist es durchaus legitim, diese »Außenwirkung« des Glaubens eine Rechtfertigung zu nennen, aber nur eine äußere und vor den Menschen geschehende; sie ist deshalb zugleich von der vorgängigen inneren und coram deo statt­ habenden zu unterscheiden. Erstere geschieht wohl durch Werke, Letztere aber sola fide!295 Zwischen beiden herrscht ein unumkehrbares Bestimmungsverhältsola fide stehe, zu der dann aber (etwa am Ende des Lebens) eine solche aus Glauben und Werken hinzutrete. Vgl. von Loewenich, Duplex iustitia, 55–72. 294 Vgl. 39 I,106,23 ff.: »Nos loquimur, quod iustificatio fiat sine operibus, non quod fides sit sine operibus. Nam illa, quae caret fructu, non est efficax, sed ficta fides.« 295 Luther unterscheidet zwischen interna und externa iustitia. Erstere geschieht »occulte coram deo«, Letztere »aperte coram hominibus«. Er spricht auch von einer duplex iustificatio: interna bzw. spiritualis und externa bzw. corporalis. Vgl. 92,26–93,12. Diese Distinktion einer doppelten Rechtfertigung bzw. Gerechtigkeit ist nicht identisch mit jener Unterscheidung zweier rationes iustificandi hominis: coram deo durch den Glauben und coram hominibus durch die Werke (82,4 f.; siehe oben 1.3.1). Bei dieser Differenzierung zwischen Glaubensgerechtigkeit und bürgerlicher Gerechtigkeit wertet Luther Letztere theologisch negativ: Sie ist die Gerechtigkeit von Heuchlern, die unter dem Deckmantel des äußerlich Guten das Ihre suchen. Wenngleich Gott solche Gerechtigkeit um ihres

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nis:296 Die iustificatio coram deo ist die Ursache jener iustificatio coram hominibus und coram me ipso, so sehr Letztere die Erstere auch manifest und gewiss macht. Somit gilt: »Opera tantum declarare fidem, sicut fructus tantum ostendunt arborem, an sit bona arbor. Dic ergo, opera iustificant, hoc est, ostendunt nos esse iustificatos, quemadmodum fructus ostendunt, hominem esse christianum et credere in Christum, quia non habet fictam fidem et vitam coram hominibus.« (92,1–8)297 Für die Interpretation des simul ist diese Konzeption der duplex iustificatio nicht unwichtig: Luther geht offenbar ganz unbefangen davon aus, dass die guten Werke, die per se nicht gut genannt werden können, dennoch keine geheuchelten Werke sind und man von ihnen auf den Glaubensstand des Täters zurückschließen kann. Die Kirche vermag deshalb, freilich ohne absolute Gewissheit zu besitzen, festzustellen, wer zu ihr gehört und wer nicht. Wer in schweren Sünden lebt, sich grober Gesetzesübertretungen schuldig macht, kann, solange er darin verharrt und nicht umkehrt, nicht behaupten, er sei Christ und Teil der Kirche. Sein vorgegebener Glaube ist dann vor anderen und vor sich selbst eine Täuschung und Illusion, hat er doch mit seinem bösen Tun auch den Glauben verloren. Bei gravierenden, manifesten Sünden liegt dann für Luther kein simul von Sünder- und Gerechtsein mehr vor! Das simul kann daher auch niemals als Deckmantel schwerer Vergehen missbraucht werden: »Nam illi, qui gloriantur se esse christianos, et hanc fidem non ostendunt istis operibus [bonis] […], sed innerweltlichen positiven Nutzens willen irdisch belohnt, zugleich aber eschatologisch begrenzt, ist sie doch die Gerechtigkeit von impii, ja sie ist »coram Deo larva […] et hypocrisis impia« (82,21 f.), »iniquitas et malitia« (82,24; 83,1: »legis iustitia morbosa valde et adeo imbecillis«). Sie ist letztlich doch mit der Selbstrechtfertigung, dem Leben aus den Werken verbunden. Luther kombiniert mit dieser Unterscheidung also die von Glaubenden und Nichtglaubenden (impii – pii: 82,12 f.), während es sich bei der obengenannten Unterscheidung um eine solche innerhalb des pius selbst handelt. Zu fragen wäre natürlich, ob und wie die iustitia operum bei den fideles, welche die Glaubensgerechtigkeit offenbart und gewiss macht, auch schon rein äußerlich über die bloße iustitia civilis hinausgeht. 296 Nach Härle, Entfaltung, 218 f., sind iustificatio coram deo und iustificatio coram hominibus sowohl durch einen Gegensatz (nämlich dann, wenn es um die Frage der Rechtfertigung vor Gott geht) als auch durch ein Implikationsverhältnis (sofern aus der Rechtfertigung vor Gott die vor den Menschen in guten Werken notwendig folgt) gekennzeichnet. 297 Vgl. noch 96,1–14; 223,26: »Sunt [opera] necessaria ad confessionem fidei, ut scilicet probent fidem«; 254,24–32; 255,26–256,10: Der neue Gehorsam ist nicht nötig »ad salutem«, aber »ad salutem revelandam« bzw. »testandam«; 292,20–294,2, bes. 293,28 f.: »Dicimus ergo, quod opera certificant non tantum alios, sed etiam nos ipsos de nostra fide, sed nihil faciunt ad iustificationem«; 323,6–325,8; 39 II,241,14 ff.: »Opera non sunt necessaria, videlicet ad iustificationem, sed proximi causa sunt necessaria, sunt enim externa testimonia et signa nostrae fidei.« Von solchen Texten her wird die Behauptung Härles, Rechtfertigung vor Gott, 29, fraglich, wonach »Luther von den Werken, die aus der Glaubensgerechtigkeit vor Gott folgen, nie [sage], daß sie – wie die guten Werke des Gesetzes – eine Rechtfertigung vor den Menschen bewirken«. Etwas anderes ist es, dass der Glaubende eine solche Rechtfertigung coram hominibus nicht anstrebt bzw. auf sie angewiesen ist.

Rechtfertigung 189 perseverant adhuc et vivunt in apertis peccatis, scortatione, adulterio, nihil minus sunt quam christiani. Nam christianus ostendit suam vitam et se factum esse christianum dilectione et bonis operibus, et vitia omnia fugit.« (92,17–22) Wer in schweren, offenkundigen Sünden steht, hat bei sich ein gewisses Zeichen (signum) dafür, »quod non credat, multo minus aliis probari possit, quod sit pius, iustus, sanctus seu fidelis«. (293,4–8)298 Bei seiner Konzeption der duplex iustitia ist Luther sich eines gewissen Zirkels zwischen dem Rückschluss von den guten Werken auf den echten Glauben bzw. den Stand der Rechtfertigung einerseits und der letztlichen Abhängigkeit des Gutseins dieser Werke von der göttlichen imputatio bzw. misericordia bewusst. Nur insofern können sie jenen Rückschluss ermöglichen, als ich im Glauben gewiss sein darf, dass Gott sie barmherzig annimmt und für gut »ansieht«: »Iusti et credentes habent hoc per misericordiam apud deum, ut sciant sua opera placere, etiam quando sint impura, immunda et imperfecta, quantum ad misericordiam et imputative. Per se sunt quidem incerta, mala et impia, secundum gratiam sunt pia, bona, iusta, sancta, non ut infirma et sordida, et confirment fidem nostram, et certificant nos, quod vere credimus.« (322,6–11) Was Luther hier artikuliert, ist doch wohl die Begrenztheit und Relativität des »syllogismus practicus« und die Priorität der göttlichen misericordia bzw. imputatio, wenn es um die existentielle Gründung der Heilsgewissheit geht. Freilich wird man urteilen müssen, dass Luthers Konzeption der doppelten Gerechtigkeit insoweit nicht ganz unproblematisch ist,299 da jener Rückschluss Vgl. auch BSLK 448,19–449,4: Fallen »heilige Leute«, welche sehr wohl die Erbsünde noch haben und fühlen, aber dagegen täglich büßen und streiten, in »öffentliche Sünde« (Ehebruch, Mord, Gotteslästerung; mit Verweis auf David), so muss man wissen, »dass alsdenn der Glaube und Geist weg ist gewest; denn der heilige Geist lässt die Sunde nicht walten und überhand gewinnen, dass sie vollnbracht werde, sondern steuret und wehret, dass sie nicht muss tun, was sie will. Tut sie aber, was sie will, so ist der heilige Geist und Glaube nicht dabei.« Das wird belegt mit 1.Joh 3,9; 5,18 und 1.Joh 1,8. Die Unmöglichkeit des Sündigens bei den Christen wird hier auf das Fallen in schwere Sünde bezogen, nicht aber – wie Luther die Verse aus 1.Joh auch verstehen kann – auf das Stehen unter der göttlichen imputatio. Dass sie dennoch Sünde haben, meint das Bleiben der Erbsünde. So sehr Luther die traditionelle Unterscheidung von Todsünde und lässlicher Sünde hinter sich gelassen bzw. neu interpretiert hat: ohne eine Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tatsünden kommt auch er nicht aus. Letztere verbleiben innerhalb des simul, Erstere nicht. 299 Zu Luthers Konzeption der duplex iustitia vgl. Althaus, Rechtfertigungslehre, 23–27; ders., Theologie, 214–218; Greschat, Melanchthon, 214–217. Beide Autoren erörtern auch die Frage, ob diese Konzeption nicht im Widerspruch zum sola fide und der in diesem implizierten Gründung der Heilsgewissheit allein auf das Wort des Evangeliums stehe. Althaus verneint dies, indem er ein Nicht-Reflektieren und ein Reflektieren auf die Werke zugleich gegeben sieht: »Nicht auf sie [die Werke] reflektieren, das heißt zunächst für die ›guten Werke‹: sich nicht auf sie verlassen als auf den Grund unseres Heils; sie nicht als Leistungen vor Gott geltend machen. Auf sie reflektieren heißt: sie als ein ›gewisses 298

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von der Lebenserneuerung auf den Glauben bzw. die Rechtfertigung offensichtlich nur im Negativen funktionstüchtig ist, im Positiven hingegen oft versagt, d. h. kein eindeutiges Urteil erlaubt. Beim Vorliegen von schweren öffentlichen Sünden, wo etwa auch Luthers Ratschlag im Kleinen Katechismus, das Böse des Nächsten, wo immer möglich, »zum Besten zu kehren« (BSLK 509,23 f.), nicht mehr angewendet werden kann, ist es evident, dass ein solcher Mensch auch nicht als Glaubender zu erachten ist. Dagegen besteht beim entgegengesetzten Fall, der Konklusion von der guten Lebenspraxis auf den Glauben, immer noch die Möglichkeit, dass die guten Werke nur gut zu sein scheinen, es aber in Wirklichkeit nicht sind. Den »Früchten« als solchen kann man dies nicht ansehen, vermag doch keine Instanz (auch der Betroffene selbst nicht) außer Gott selbst so in einen Menschen hineinzuschauen, dass die Motive seines Herzens eindeutig erkennbar werden. Freilich betrifft dieses Sachproblem nicht nur Luther allein, sondern schon das von ihm in diesem Kontext mehrfach herangezogene neutestamentliche Gleichnis vom guten Baum, der nur gute Früchte bringen kann (Mt 7,16–20).300 Luther ist sich natürlich der Möglichkeit des »frommen Scheins« bzw. der Heuchelei bei den guten Werken bewusst gewesen, hat aber zuweilen ein Kriterium benannt, das an dieser Stelle Klarheit schaffen kann: Wird ein offenbar oder angeblich aus Glauben lebender Mensch mit dem »Kreuz«, also mit Kritik, Belastungen, ja mit Leiden (gerade wegen seines Tuns) konfrontiert, dann zeigt sich, ob sein neues Leben authentisch im Glauben verwurzelt ist oder nicht.301 Wollte man Luthers Gedanken von der Zeugnisfunktion der »äußeren« Gerechtigkeit konstruktiv-systematisch interpretieren, d. h. ohne den Anspruch zu erheben, damit seine dezidierte Auffassung zu treffen, und im Bewusstsein, dass Texte angeführt werden können, die dagegen sprechen, dann könnte man bei einer Beobachtung ansetzen, die sich anlässlich des oben zitierten Passus 322,6–11 einstellt: Die obiectio, auf die Luther antwortet, möchte mit dem Hin-

Zeichen‹ rechten Glaubens nehmen. Ein solches können sie trotz aller ihrer Unvollkommenheit und Flecken sein; als Leistung müßten sie ganz und gar unbefleckt sein. Ich kann und darf mich nicht auf sie verlassen, aber mich durch sie stärken lassen. Meine Zuversicht soll allein in Gott gründen.« (Rechtfertigungslehre, 26) Greschat meldet demgegenüber Bedenken an: Die Glaubensgewissheit aus den Werken könne als »deren Mitwirkung bei der Rechtfertigung missdeutet werden« (216). Greschat sieht an dieser Stelle wieder Luthers ursprünglichen Ansatz durchbrechen, vom Verständnis des verbum Dei als verbum efficax Gerechtsprechung und Erneuerung eng verbunden zu denken, dadurch aber eine offene Flanke für das »augustinische Verständnis der Rechtfertigung« (215) auf der katholischen Seite zu bieten, wonach der Glaube einen zeitlichen und sachlichen Primat inne habe (sola fide!), aber zur vollen Rechtfertigung die – von ihm getragenen – Werke ihren Teil beitragen müssen. Dazu den folgenden Exkurs. 300 Vgl. Luthers Bemerkung zu Mt 7,20: »Aber das ist alles ym scheyn und eußerlich.« (7,33,15). 301 Vgl. z. B. 10 I/1,120,2–10. Siehe auch Luthers Diktum: »Crux probat omnia.« (AWA 2,325,1 [= 5,179,31])

Rechtfertigung 191 weis auf die Unvollkommenheit der guten Werke die These widerlegen, dass die guten Werke uns selbst und andere hinsichtlich unseres Glaubensstandes gewiss machen können (322,2 ff.). Luther geht in der uns überlieferten responsio dann aber ausschließlich auf die Selbstbeurteilung der Glaubenden ein, nicht aber auf die Einschätzung anderer: »quod iusti et credentes habent hoc per misericordiam apud Deum, ut sciant sua opera placere, etiam quando sint impura, immunda et imperfecta.« Könnte nicht auch hier – so fragen wir – die Situation der Anfechtung im Hintergrund stehen, in welcher ein Glaubender dadurch verunsichert wird, dass er ungeachtet seines Bemühens der Zerbrechlicheit seiner Lebenserneuerung ansichtig wird? Und will Luther nicht diesem über sich selbst erschrockenen Menschen sagen, dass er getrost von seiner unscheinbaren Glaubenspraxis auf seine Rechtfertigung durch Gott zurückschließen darf? Dieser Rückschluss wäre dann aber keineswegs abgesehen von dieser Situation, also etwa dem Selbstsicheren in derselben Weise zu empfehlen – hier wäre vielmehr der gegenteilige Ratschlag naheliegend –, geschweige denn, dass er mit absoluter Gewissheit zur Fremdbeurteilung dienen könnte.302 Man wird allerdings, wie schon angedeutet, die Zeugnisfunktion der »äußeren« Gerechtigkeit für die »innere« bei Luther insgesamt nicht auf die Situation der Anfechtung beschränken können. Insofern stellt unsere Deutung nur eine Facette seiner diesbezüglichen Position dar und sucht deren immanente Schwierigkeiten zu beheben. Luther urteilt offensichtlich aber unbefangener über den Rückschluss von den guten Werken auf die Glaubensgerechtigkeit, und zwar gerade in dessen positiver, also nicht nur negativer Form! Wie konsistent diese Meinung innerhalb der Theologie Luthers auch sein mag, sie indiziert für die simul-Thematik in jedem Fall, dass das simul peccator für Luther keinen ethischen Minimalismus im christlichen Leben zur Folge hat. Jene mit der guten Glaubensmotivation immer auch noch koexistierende ichsüchtige Triebkraft des Unglaubens kann beim Christenmenschen nicht das Tun des Guten in ethischer Hinsicht verhindern.

Exkurs: Augustinus und Luther über Rechtfertigung – ein Vergleich In diesem ersten Kapitel unserer Studie, welches dem simul iustus et peccator innerhalb des Themenfeldes »Rechtfertigung« nachging, sind wir schon mehrfach auf ein gravierendes Explikationsproblem der Rechtfertigungslehre Luthers gestoßen, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Wie verhält sich die imputatio der fremden Gerechtigkeit Christi bzw. die non-imputatio der Sünde, die der Vgl. auch Althaus, Rechtfertigungslehre, 26: »Hier kommt alles darauf an, wem das eine und das andere gesagt wird. Lutherische Theologie ist Theologie der Seelsorge, daher nicht ein objektives, spannungslos geschlossenes System der Wahrheit ›an sich‹, sondern jeweils Ausdruck der Wahrheit für mich und daher, als Ganzes betrachtet, voll hoher Spannungen. […] Sie redet anders mit dem Sicheren als mit dem unruhigen, erschrockenen Gewissen.« 302

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Mensch im Glauben allein sich zueignet und verinnerlicht, zu den Folgen und Wirkungen, welche aus diesem Geschehen resultieren? Also zu der aus dem Glauben sich frei und spontan ergebenden Liebe, den guten Werken sowie dem Kampf gegen die Sünde? Die Fragestellung wird dadurch noch kompliziert, dass der Glaube als menschlicher Vollzug, als »Gläubigkeit« selbst eine Wirkung der gnädigen Ansehung des Menschen durch Gott ist, gewirkt durch den sich des äußeren Wortes als Instrument bedienenden Heiligen Geistes. Luther vermag all diese Folge­­erscheinungen der imputativen Rechtfertigung unter dem Stichwort des initium creaturae novae zusammenzufassen, und das Problem lässt sich in der Frage konzentrieren: Geht nicht doch in irgendeiner Weise jenes initium creaturae novae, d. h. die aus der sola fide empfangenen Rechtfertigung folgende Lebenserneuerung, in die Rechtfertigung selbst mit ein, wird dabei mit berücksichtigt, so dass bei Luther das sola fide in seiner Exklusivität bedroht wäre, indem er eine Rechtfertigung aus dem Glauben und der in diesem Glauben gegründeten, also gnadenhaften Neuschöpfung lehrt? Gerade im letzten Abschnitt dieses Kapitels musste das Problem geklärt werden, wie sich das propter initium creaturae novae zu jenem propter Christum als Grund der Rechtfertigung verhielt und wie dabei eine meritorische, heilswirksame Deutung des initium ausgeschlossen werden konnte. Im Folgenden wollen wir diese Problematik dadurch aufzuhellen und verstehbar zu machen suchen, dass wir einen historischen und einen sachlichen Grund für ihr Auftreten bei Luther benennen. Zunächst zum historischen Gesichtspunkt: Es ist in den letzten Jahrzehnten der Lutherforschung mehr und mehr deutlich geworden, dass neben der mittelalterlichen Mystik und dem spätmittelalterlichen Nominalismus gerade Augustinus, dessen Rezeption zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte, großen Einfluss auf Luther ausgeübt hat und für die Ausbildung seiner Theologie von prägender Kraft war.303 Luther hat schon sehr früh bestimmte Schriften seines Ordensvaters studiert, mit Sicherheit in den Jahren 1509/10, als er über die Sentenzen des Petrus Lombardus Vorlesungen hielt und in diesem Zusammenhang auch Werke Augustins mit Randbemerkungen versah. Auch während der ersten Psalmenvorlesung (1513–1515), ganz gewiss aber unmittelbar vor und während der Römerbriefvorlesung (1515/16) muss von einer eindringlichen Beschäftigung mit Augustin, insbesondere mit dessen antipelagianischen Schriften, ausgegangen werden, die Luther in der Römerbriefvorlesung ausgiebig zitiert. Luther selbst hat den Einfluss dieses Kirchenvaters

Vgl. Hamel Luther, I, bes. 1–12; II, bes. 1–8, 155–159; Dörries, Augustin; Lohse, Bedeutung, 11–15; Grane, Modus, 23–32; Delius, Augustin, bes. 6–14; Staats, Augustins ›De spiritu et littera‹, 367 f. Speziell zum Verhältnis von Luthers Römerbriefvorlesung zu Augustin siehe Demmer, Lutherus interpres; Grane, Paulus; ders., Modus, 32–62. Grane (z. B. Paulus, 135, 139 f., 142 f., 145 f.; Modus, 60 ff.) akzentuiert einseitig, dass Augustin für Luther nur als Hilfe, Paulus zu verstehen (»interpres eiusdem [Pauli] fidelissimus«: 1,353,14]), nicht aber an sich von Interesse war, so dass eigentlich gar nicht nach einem Verhältnis Luther – Augustin gefragt werden könne. 303

Rechtfertigung 193 auf ihn dadurch eindrücklich dokumentiert, dass er in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften (1545) ausführt, dass er seine anhand von Röm 1,17 gewonnene Neudefinition der iustitia Dei nachträglich in Augustins Buch De spiritu et littera (412) bestätigt gefunden hätte, wobei viele Forscher davon ausgehen, dass Luther nach seiner umstürzenden Erkenntnis dieses Werk Augustins zwar wieder zur Hand nahm, aber nicht zum erstenmal gelesen hat.304 Luther müsste also diese Schrift Augustins, die wie keine andere seinem Denken nahe steht und welche für die Wittenberger Universitätstheologie später quasi kanonische Geltung erlangt hat,305 schon vor der Römerbriefvorlesung (in welcher Intensität auch immer) kennengelernt haben, wenn man einmal voraussetzt, dass sich die Opera-Vorrede auf den ersten reformatorischen Einschnitt (Entdeckung des sola gratia; iustitia Dei als Barmherzigkeit Gottes; in der Demut intendiertes sola fide: Herbst 1514)306 zurückbezieht, und wenn man weiter veranschlagt, dass Luther De spiritu et littera in der Römerbriefvorlesung ausführlich und unter den herangezogenen Augustin-Schriften am häufigsten zitiert, und zwar gerade im Hinblick auf die Neuentdeckung der iustitia Dei.307 Freilich hat Luther 1545 Augustin auch kritisch gesehen: Er habe zwar in De spiritu et littera die Gerechtigkeit Gottes so verstanden gefunden: »qua nos Deus induit, dum nos iustificat«, also nicht als Eigenschaft Gottes, durch die er selbst gerecht ist, sondern als Gabe, durch die er uns gerecht macht (»qua nos iustificemur«), aber gleichzeitig gelte: »imperfecte hoc adhuc sit dictum ac de imputatione non clare omnia explicet« (54,186,16–10).308 Alles ist also bei Augustin noch unvollkommen ausgedrückt, und gerade im Blick auf die Fassung der imputatio bei Augustin meldet Luther Klärungsbedarf an. Wir stellen in der Folge die Gnaden- und Rechtfertigungskonzeption dieser Schrift Augustins in den Grundzügen dar, um zu zeigen, wie jene komplexe Doppelpoligkeit der Rechtfertigungslehre Luthers in ihrem imputativen und Vgl. Lohse, Bedeutung, 16 f.; Staats, Augustins ›De spiritu et littera‹, 373 f. Staats tritt allerdings anders als Lohse für die Spätdatierung der reformatorischen Wende auf Winter 1518/19 ein. 305 Dazu Staats, Augustins ›De spiritu et littera‹, 373. 306 Vgl. oben Anm. 120. 307 Vgl. nur 56,36,11–23 (zu Röm 3,20); 172,3–8 (zu Röm 1,17). Vgl. Lohse, Bedeutung, 24 f., 27; Hamel, Luther II, 9–13; Grane, Paulus, 136 f. 308 Vgl. Luthers Äußerung in einer Tischrede 1532: »Sind ich Paulum verstanden hab, so hab ich keinen Doktor konnen achten. Sie sind mir gar gering geworden. Principio Augustinum vorabam, non legebam, sed da mir in Paulo die thur auffgieng, das ich wusste, was iustificatio fidei ward, da ward es aus mit yhm.« (Tr 1,140,3–7 [Nr. 347]) – Eine ausschließlich positive Korrelation zwischen Luthers Neuentdeckung des iustitia-Begriffs und Augustins De spiritu et littera erfolgt in AWA 2,255,11–258,2 (= 5,144,1–5 [1519–1521]). Ein positives Votum Luthers zu (dem antipelagianischen) Augustin findet sich noch 1533 (?) in der Vorrede zu einer geplanten Ausgabe dieser Augustinus-Schrift (Br 12,388,30–43, bes. 31 f.: »Post sacras literas nullum esse Doctorem in ecclesia, qui sit illi conferendus eruditione Christiana.« 304

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

sanativ-effektiven Moment aus einer Kombination der Rechtfertigungslehre Augustins mit Luthers eigener, an Paulus gewonnener und über Augustin hinausgehender reformatorischer Erkenntnis entstanden ist, und wie daraus auch die unübersehbare Zwiespältigkeit hinsichtlich der Zuordnung der beiden Aspekte erwachsen konnte. Ausgangspunkt ist für Augustin – der Titel der Schrift zeigt es schon an –309 das Paulus-Wort 2.Kor 3,6, wonach der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht. Augustin erblickt in diesem Diktum nicht nur eine hermeneutische Regel, welche es erlaubt, Schriftstellen, die »buchstäblich« genommen Schwierigkeiten bereiten, »geistlich« bzw. allegorisch zu interpretieren, sondern sieht in ihm die anthropologische Grundproblematik ausgedrückt: Der faktische Mensch, also der Sünder, ist aufgrund seiner Gottabgewandtheit und Eigenliebe nicht in der Lage, das Gesetz und den Willen Gottes zu erfüllen, er vermag Gott und das Gute nicht um ihrer selbst willen zu lieben. Deshalb übertritt er entweder Gottes Gebot offen oder befolgt es nur äußerlich, aus Furcht vor Strafe, aber nicht mit dem Herzen und von innen heraus. So wird aber Gottes Gesetz dem Menschen unweigerlich zum tötenden Buchstaben, das ihn seiner Gesetzesübertretung, v. a. aber seiner Versklavung an die Konkupiszenz überführt und ihm seine ausweglose Lage bewusst macht.310 Soll es nun wirklich zur Erfüllung des Gesetzes kommen, also zur Liebe gegenüber diesem Gesetz und der Gerechtigkeit, soll der Mensch es von innen heraus, mit dem Herzen bejahen, dann muss Gott selbst eingreifen. Er tut dies, indem er ohne Vorleistung des Menschen seine Gnade, eben den Heiligen Geist, der mit der Liebe identisch ist, in das Herz des Menschen eingießt und in ihm damit jene Liebe, jenen Willen erweckt, der ihn das Gesetz Gottes von innen heraus mit Freude befolgen lässt. Röm 5,5 (»Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.«) ist der immer wieder zitierte Grundtext der augustinischen Gnadenlehre. Nicht nur, wie Pelagius meinte, das äußere Gesetz, die äußere Belehrung oder das äußere Vorbild, sondern erst eine den Menschen im Inneren erfassende übernatürliche Kraft vermag diesen umzuschaffen und zu erneuern.311 Wir zitieren De spiritu et littera nach Kapitel und Absatz und fügen in Klammern die Seitenzahlen der Ausgabe von Forster an. Ergänzend beziehen wir uns auf Augustins Enchiridion (421), in welchem er prägnant seine späte Theologie zusammengefasst hat (zitiert ebenso nach Kapitel und Absatz, in Klammern die Seiten nach der Ausgabe von Barbel). – Zur Gnadenlehre Augustins überhaupt vgl. Seeberg, Lehrbuch II, 521–534; Loofs, Leitfaden, 385–406; Nygren, Eros, 407–419; Dinkler, Anthropologie, 127–209; Hamel, Luther II, 53–67; von Loewenich, Augustin, 101–117; Beyschlag, Grundriß II/2, 80–87; Horn, Anthropologie; Drecoll, Gnadenlehre. 310 Vgl. IV,6 (10, 12). 311 Vgl. III,5 (10): »Ut autem diligatur, caritas dei diffunditur in cordibus nostris non per liberum arbitrium, quod surgit ex nobis, sed per spiritum sanctum, qui datus est nobis«; VIII,13 (24, 26): »quod [die Bewirkung des reinen Willens] non fit littera docente et minante, sed spiritu adiuvante et sanante«; XII,20 (38, 40); XIII,22 (44): »ac per hoc lege operum 309

Rechtfertigung 195 Die dem Menschen eingegossene caritas, welche in ihm ein neues, auf das Gute gerichtetes Wollen freisetzt, geht nun sukzessive gegen jene andere, im Menschen wohnende Triebkraft, die aus der Erbsünde als Strafe folgende und vor der Taufe selbst mit einem reatus belegte concupiscentia, vor und drängt diese immer weiter zurück, ohne sie im irdischen Leben ganz vernichten zu können.312 Sie bleibt bis zur eschatologischen Vollendung, wird aber von Gott seit der Taufe als Sünde nicht mehr angerechnet (non imputetur), droht aber immer wieder Realgrund für neues aktuelles Sündigen zu werden. Deutlich erkennbar ist, wie Augustin Rechtfertigung wesentlich als Rechtfertigungsprozess, als fortschreitende Gerechtwerdung durch die Liebe nach der Analogie eines medizinischen Heilungsvorgangs verstanden hat, der sein Ziel erst im ewigen Leben erreicht.313 Dabei wird man davon ausgehen dürfen, dass der Kirchenvater diese wachsende Gerechtwerdung auch als Gerechtigkeit vor Gott bzw. in den Augen Gottes verstanden hat.314 Natürlich spielt bei Augustin auch die Sündenvergebung eine nicht unwichtige Rolle. Sie ist sozusagen die erste Gabe, welche der Getaufte empfängt: Ihm werden die Erbsünde und die vor der Taufe begangenen Aktualsünden vergeben. Als zweite Gabe der Taufe wird dem Christen dann der ihn innerlich schrittweise erneuernde Heilige Geist zuteil. Aber auch im weiteren Verlauf seines Christendicit deus: ›fac quod iubeo‹, lege fidei dicitur deo: ›da, quod iubes‹. Ideo enim iubet lex, ut admoneat quod facit fides«; XVII,29 (56): »ibi [am Sinai] ergo lex extrinsecus posita est, qua iniusti terrentur, hic [an Pfingsten] intrinsecus data est, qua iustificarentur«; XIX,32 (62); XIX,34 (64): »lex ergo data est, ut gratia quaereretur, gratia data est, ut lex inpleretur«; XXV,42 (78); XIX,51 (98, 100). 312 Vgl. IV,6 (12): »[sanctus spiritus] inspirans pro concupiscentia mala concupiscentiam bonam, hoc est caritatem diffundens in cordibus nostris […]«. Enchiridion XXXI,117 (194): »Regnat enim carnalis cupiditas, ubi non est dei caritas«; XXXI,118 (194): »et agi homo coeperit dei spiritu, concupiscitur adversus carnem fortiore robore caritatis, ut quamvis adhuc sit quod homini repugnet ex homine, nondum tota infirmitate sanata, ex fide tamen iustus vivat iusteque vivat, in quantum non cedit malae concupiscentiae vincente delectatione iustitiae«; XXXII,121 (200): »Minuitur autem cupiditas caritate crescente, donec veniat hic ad tantam magnitudinem, qua maior esse non possit. […] Ibi autem quis explicet, quanta caritas erit, ubi cupiditas, quam vel coercendo superet, nulla erit? quoniam summa sanitas erit, quando contentio mortis nulla erit.« 313 Vgl. De spiritu XXII,37 (70): »haec similitudo [dei] incipit reformari, quamdiu homo interius renovatur de die in diem secundum imaginem eius, qui creavit eum«; XXVIII,49 (94); XXXII,56 (110, 112): »iustus ex fide vivens sperat utique vitam aeternam itemque fides esuriens sitiensque iustitiam renovatione de die in diem interioris hominis proficit in ea et sperat in ea satiari in vita aeterna«; XXXIII,59 (118): »qui languores vetustatis, si perseverante intentione proficimus, de die in diem crescente novitate sanantur ex fide, quae per dilectionem operatur.« Vgl. aber XXXVI,64 (130): »ac per hoc, quantum mihi videtur, in ea quae perficienda est iustitia multum in hac vita ille profecit, qui quam longe sit a perfectione iustitiae proficiendo cognovit.« 314 So Seeberg, Lehrbuch II, 530; Nygren, Simul, 366, 372; von Loewenich, Augustin, 114; Beyschlag, Grundriß II,2, 85; Lohse, Bedeutung, 18.

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lebens ist er auf die Sündenvergebung angewiesen, faktisch gibt es keine Sündlosigkeit, denn immer wieder stimmt der Christ der bösen Neigung zu. Lässliche Sünden werden durch das Gebet (Vaterunser) und durch Almosen getilgt, diese tun dies aber – das ist im Blick auf Luther höchst bedeutsam – durch die fortwirkende Kraft der einmal empfangenen Taufe. Bei Kapitalverbrechen ist Kirchenbuße erforderlich. Und dauerhaft steht der Christ unter der göttlichen non-imputatio der verbleibenden Konkupiszenz, die Augustin aber offenbar – anders als Luther – punktuell auf den Moment der Taufe konzentriert.315 Christus erscheint in dieser sanativen, ganz auf den Geist konzentrierten Gnadenlehre als der, welcher als der Mittler (1.Tim 2,5) dem Menschen durch sein Heilswerk die Versöhnung bzw. die Sündenvergebung (d. h. v. a. die Befreiung von der Erbsünde) und dadurch auch die Gabe des Geistes erwirkt hat.316 Der Glaube ist – in Abhebung zur superbia des Sünders – jene demütige Haltung (humilitas), die sich einerseits auf Christus und sein Werk bzw. auf Gottes Verheißungen zustimmend richtet,317 insbesondere aber immer wieder (angesichts des geringen Anfangs) demütig um die Vergebung und den erneuernden Geist bittet und schließlich die Vollendung in der Gottesschau erhofft.318 Wenn Augustin von der Rechtfertigung durch den Glauben spricht, dann meint er, seine Rechtfertigungskonzeption legt es nahe, den in der Liebe wirksamen Glauben (Gal 5,6).319 Ausgeschlossen werden aus der Rechtfertigung nur die dieser vorausgehenden,

Vgl. zur Sündenvergebung De spiritu XXXVI,64–65 (130–134); Enchiridion XVII,64– 66 (120 ff.); XIX,70–XXII,83 (128–146), bes. XVII,64 (120): »Per hanc [remissionem peccatorum] enim stat ecclesia, quae in terris est; per hanc non perit, quod perierat et inventum est. […] ipsa enim vita cetera [nach der Taufe] iam ratione utentis aetatis, quantalibet praepolleat fecunditate iustitiae, sine peccatorum remissione non agitur«; XXI,78 (140): »oportet ut cotidie crebroque oremus dominum atque dicamus: Dimitte nobis debita no­ stra.« Siehe auch den diesbezüglichen Exkurs von Barbel in seiner Ausgabe des Enchiridion, 227 ff., sowie Seeberg, Lehrbuch, 527 ff.; Loofs, Leitfaden, 393–404. Zur fortwirkenden Kraft der Taufe vgl. De nupt. I,33,38 (CSEL 42, 249 f.); Sauser, Baptismus. 316 Vgl. De spiritu XXVII,47 (88); XXVIII,48 (90); XIX,50 (96); Enchiridion, X,33 (75 f.); XIV,48, 52 (96, 100); XXIII,92 (154); XXVIII,108 (178). 317 Vgl. De spiritu XXXI,54 (104, 106; nach der Zitation von Gen 15,6 bzw. Röm 4,4): »quid est enim credere nisi consentire verum esse quod dicitur? consensio autem volentis est.« 318 Vgl. De spiritu XIX,51(98): »fide igitur Iesu Christi inpetramus salutem et quantulum nobis inchoatur in re quantum perficienda expectatur in spe.« Das von Luther für das simul aufgegriffene Begriffspaar in re – in spe verwendet Augustin hier zur Artikulation einer Differenz im Heilsgut selbst. Siehe auch XXX,52 (100); XXXII,56 (112); XXX,57 (114); XXXVI,64 (130). Der Glaube kann so, zumindest sachlogisch, als Anfang des Heils (»salutis exordium«) betrachtet werden: XXXI,53 (102). Zu Augustins Glaubensbegriff siehe auch Seeberg, Lehrbuch II, 526 f. 319 Vgl. De spiritu XIV,26 (52); XXVI,46 (86); XXXII,56 (112); XXXIII,57.59 (114, 120). – Bei Augustin sind letztlich die Sündenvergebung und der Glaube bzw. das Evangelium ganz auf die Erfüllung des Gesetzes durch den Menschen in der Liebe hingeordnet bzw. dieser untergeordnet. So auch Lohse, Bedeutung, 19. 315

Rechtfertigung 197 nicht aber die dem Glauben folgenden und in der Gnade gegründeten Werke!320 Folgerichtig gibt es für Augustinus auch verdienstliche Werke (merita), die er aber ganz als Gaben, als munera Gottes begreift.321 Was nun die Frage nach möglichen Vorformen des lutherischen simul bei Augustin anlangt, so erklärt sich aus dem bisher Ausgeführten der Tatbestand, dass Augustin von einem simul iustus et peccator zwar im partialen, nicht aber im totalen Sinn sprechen kann: Der im Prozess der Rechtfertigung stehende Mensch ist immer von zweierlei Konkupiszenz, von zwei Willensausrichtungen, wenngleich in einem asymmetrischen Sinn, erfüllt: der guten Konkupiszenz der Liebe und der bösen der Ichliebe bzw. der sinnlichen Triebkraft. Zwischen beiden besteht – nach Röm 7,14 ff. und Gal 5,17 – im Christen ein lebenslanger Kampf als Konflikt zwischen Geist und Fleisch bzw. dem Gesetz in den Gliedern und dem Gesetz im Gemüt.322 So kann Augustin z. B. (insbesondere unter Berufung auf Röm 7,22 f.25) formulieren: »Eris in parte emendante justus, quamvis sis adhuc in emendanda peccator« (Ennar. in Ps. 140,14; PL 37,1825); »quomodo, inquies, ex quadam parte justus, ex quadam parte peccator? Quid est quod dicis? Laboramus, videmur loqui contraria, nisi nobis subveniat apostolica auctoritas. Audi illud ab Apostolo, ne me malus intellector accuses: Condelector enim, inquit, legi Dei secundum interiorem hominem« (Enarr in Ps. 140,15; ebd.); »Ecce iustus. Annon est iustus qui condelectatur legi Dei? Unde ergo peccator? […] Adhuc bellum adversus me gero, nondum sum totus instauratus ad imaginem fabricatoris mei« (ebd.); »Idem spiritalis, idemque carnalis. Ecce spiritalis; ›Mente servio legi Dei.‹ Ecce carnalis; ›Carne autem legi peccati.‹ Idem ergo ipse et spiritalis et carnalis? Idem plane, quandiu hic vivit, sic est.« (Sermo 154, VII,9; PL 38,836)323 Deutlich ist in allen Zitaten der dynamisch-partiale Sinn des simul iustus et peccator als quantitativ-konfliktive »Mischung« zweier Intentionalitäten im Christen (letztlich Vernunft und Sinnlichkeit) mit eindeutiger Zielrichtung.324

So ist wohl letztlich der differenzierte Befund in De spiritu XXVI,45 (82, 84) zu verstehen. Eindeutig sind Enchiridion XVII,64 (124); XXXI,117 (192 ff.). Vgl. Seeberg, Lehrbuch II, 532 f.; Loofs, Leitfaden, 390 ff.; v. Loewenich, Augustin, 110 f. 321 Dazu Seeberg, Lehrbuch II, 531; Beyschlag, Grundriss II,2, 85. 322 Vgl. De spiritu XIV,26 (52, 54): »etiamsi alia lex in membris adhuc repugnat legi mentis [Röm 7,23], donec in novitatem, quae de die in diem in interiore homine augetur, tota vetustas mutata pertranseat«; Enchiridion XXIII,91 (154). 323 Siehe auch De pecc. mer. et rem. II, 7,9 (CSEL 60, 80,17–21): »profecto enim qui de die in diem adhuc renouatur, nondum totus est renouatus; et inquantum nondum est renouatus, in tantum adhuc in uestustate est. proinde ex hoc, quod adhuc in uetustate sunt, quamuis iam baptizati, ex hoc etiam adhuc sunt filii saeculi.« 324 Vgl. für die Belege, Nygren, Simul, 367 f.; Markschies, Taufe, 104 ff. Nygren, ebd., 374 f., kontrastiert allerdings Augustin und Luther zu einseitig, insofern er ausblendet, dass Luther das simul im partialen Sinn von Augustin her durchaus beibehält. Man muss deshalb urteilen, dass »der ›Partialaspekt‹ Luther und Augustinus verbindet, der ›Totalaspekt‹ beide trennt« (Markschies, Taufe, 105). Ähnlich schon Hamel, Luther II, 86 f., 93, 132. 320

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Augustin bestimmt nun in De spiritu et littera Gottes Gerechtigkeit nicht als Eigenschaft Gottes, sondern als kommunikative Größe, d. h. als Gerechtigkeit, durch die Gott uns gerecht macht bzw. mit der er uns bekleidet.325 Desgleichen hebt er stark die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hervor, ebenso das sola gratia des ganzen Rechtfertigungsgeschehens und damit die Radikalität der menschlichen Sünde, welche es unmöglich macht, dass der Mensch selbst zu seinem Heil irgendeinen Anfang machen kann. All dies sind Momente, welche die Reformatoren an De spiritu et littera geschätzt und als ihrem Denken wesensverwandt erkannt haben. Man kann nun die starke Rolle, welche das effektiv-sanative Moment in der Rechtfertigungslehre Luthers von Anfang an spielt und welches er, trotz der zunehmenden Profilierung des imputativen Moments, zeitlebens durchgehalten hat, aus dem starken Einfluss Augustins auf seine Theologie erklären. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, folgt Luther in seiner Auslegung von Röm 7 weitgehend der augustinischen Gnadenkonzeption der schrittweisen Heilung des konkupiszenten Wollens, d. h. seiner sukzessiven Ersetzung durch die geistgewirkte Liebe. Das simul wird Luther in diesem Kontext ebenfalls vorwiegend partial zur Geltung bringen. Und man wird es diesem augustinischen Strang seiner Theologie zuschreiben müssen, wenn bei Luther immer wieder der Verdacht entsteht, ob er nicht doch die werdende Rechtfertigung bzw. das initium creaturae novae ergänzend neben dem Glauben, der sich auf die göttliche Verheißung richtet, in die Rechtfertigung coram deo mit einbezogen hat.326 Auch die lutherische Denkfigur, derzufolge die non-imputatio der Sünde bei Anerkennung der schon bestehenden Gerechtigkeit sich nur auf den Sündenrest richtet, dürfte augustinischen Ursprungs sein. Freilich ist ebenso festzuhalten, dass Luthers Rechtfertigungslehre noch durch ein anderes Moment bestimmt ist, das ihm anhand der Paulus-Briefe, besonders des Römer- und Galaterbriefs, aufgegangen ist, durch seine persönliche Lebens- und Glaubenserfahrung bei ihm dann die primäre Rolle übernommen hat und das er später bei Augustin allenfalls angedeutet finden konnte: nämlich Rechtfertigung als mir von Gott um Christi willen von außen im Wort zugesprochene Annahme, welche ich im Glauben empfange und die mich immer wieder ganz vor Gott gerecht spricht und angesichts derer ich im Blick auf mich selbst, ungeachtet meiner werdenden Gerechtigkeit, immer ganz Sünder (totus peccator) Vgl. De spiritu IX,15 (28): »iustitia dei, non qua deus iustus est, sed qua induit hominem, cum iustificat impium. […] sed iustitia dei sine lege est, quam deus per spiritum gratiae credenti confert sine adiutorio legis, hoc est non adiutus a lege, quando quidem per legem ostendit homini infirmitatem suam, ut ad eius misericordiam per fidem confugiens sanaretur.« Ferner XI,18 (36); XVIII,31 (60). Wichtig dazu XXXII,56 (108): »[…] dei iustitiam, quia caritas eam facit, quam non libet nisi quod licet«; XXXVI,64 (128): »profecto nunc quantum deest dilectioni tantum perficiendae iustitiae deesse credendum est.« 326 O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 149, spricht im Blick darauf vom »augustinischen Schein« bei Luther. 325

Rechtfertigung 199 bleibe.327 So musste Luther konsequent vom augustinischen partim iustus/partim peccator zum totus iustus und totus peccator fortschreiten und erreicht damit die eigentliche simul-Formel, ohne deren partialen Sinn aufzugeben. Genau dieser eben dargelegte Gedankenkomplex ist es wohl, den Luther im Sinn hat, wenn er bemerkt, dass hinsichtlich der imputatio bei Augustin nicht alles klar erfasst sei, kam bei Letzterem die imputatio doch nur als die non-imputatio des reatus der Erbsünde bei der Taufe und nicht während des gesamten status gratiae in den Blick und hat sie in De spiritu et littera eine eher marginale Bedeutung.328 Ja, Augustin kann hier das »iustum reputari« einfach auch als das »Als gerecht Angesehenwerden« dessen verstehen, der gerecht ist bzw. wird!329 Luther wird Augustin, als er seine reformatorische Entdeckung bei diesem bestätigt zu finden glaubte, missverstanden und seine eigene reformatorische Entdeckung in ihn hineingelesen haben. Die Gerechtigkeit Gottes, durch die Gott den Menschen bekleidet, ist also innerhalb der Gnadenlehre Augustins anders verstanden als bei Luther.330

So auch Hamel, Luther II, 85–93, 156 f.; Braun, Bedeutung, 163–172; Dörries, Augustin, 98–102. Als fortschreitende Überordnung des imputativen Moments über das augustinisch-effektive Moment beschreibt O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 57 ff., 116–156, die Entwicklung der lutherischen Rechtfertigungslehre. 328 Gleichwohl wird man Kroeger, Rechtfertigung, 75–85, zustimmen müssen, dass die Herkunft der Imputationsvorstellung bei Luther (neben der biblischen Bezeugung: Röm 4,3–8; Ps 32,1 f.) wesentlich auf Augustin und nicht so sehr auf den Ockhamismus zurückzuführen ist. Hauptargument gegen eine Herleitung aus dem Ockhamismus ist die Tatsache, dass dieser mit der Deutung von Sünde und Gerechtigkeit als ausschließlich göttlicher acceptatio bzw. deacceptatio gerade kein simul iustus et peccator denken kann (ebd., 81 f.). Ähnlich Pesch, Simul (LThK3 9), 612 f. Den nominalistischen Einfluss betont stärker Braun, Bedeutung, 211 ff., 264–267, weist aber auch auf Luthers radikales Sündenverständnis hin, welches die nominalistische acceptatio Gottes zur ignoscentia mache. – Härle, Bedeutung, 62; ders., Paulus, 377; Gebhardt, Heil, 75 f. und Rolf, Zum Herzen, 36–40, vermuten, dass Luther mit dem Hinweis auf den defizitären augustinischen Imputationsbegriff auch die bei Augustin nicht klar gesehene personale Aneignung der imputatio durch den Glauben im Blick hatte. 329 So z. B. De spiritu XXVI,45 (84; zu Röm 2,13): »aut certe ita dictum est ›iustificabuntur‹, ac si diceretur ›iusti habebuntur‹, ›iusti deputabuntur‹ […], quia ipse [deus] illos facit esse sanctos.« Augustinus zielt an dieser Stelle also auf nichts anderes als die Gerechtmachung. Luther zitiert diesen Text 56,201,10–22, interpretiert ihn aber ganz in Sinne seiner imputativen Rechtfertigungskonzeption. Vgl. Lohse, Bedeutung, 25 f.; Grane, Paulus, 140 f.; ders., Modus, 39 f. 330 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Lohse, Bedeutung, 19, 29 f., während Staats, Augustins ›De spiritu et littera‹, 376, 383, die weitgehende Kontinuität zwischen Augustin und Luther betont. Vgl. auch von Loewenich, Von Augustin zu Luther, 75–87, 103–117. Luther interpretiert denn auch AWA 2,257,3–258,2 (= 5,144,4 f.) Augustins Bestimmung der ius­ titia (»qua induit [deus] hominem, dum eum iustificat«) mit dem Zusatz: »Ipsam scilicet misericordiam seu gratiam iustificantem, qua apud deum iusti reputamur.« Ebenso Tr 4,72,27–73,5 (Nr. 4007; 1538): Nach dem Bericht über die Neuentdeckung der iustitia Dei anhand von Röm 1,17 heißt es: »[Postea] et insuper Augustinum consulerem, da wardt ich 327

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Was iustificatio fidei eigentlich meinte, musste er, wie von ihm selbst konzediert, an anderer Stelle, nämlich bei Paulus, lernen. Luther rezipierte mithin – so ist zu urteilen – einerseits stark den effektiv-sanativen Ansatz Augustins, betont aber zugleich immer wieder, dass die werdende Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit coram deo sei und nicht ergänzend in Konkurrenz zur Glaubensgerechtigkeit treten könne, setzt sich aber selbst – aufgrund der engen Verbindung beider Aspekte – stets von neuem dem Verdacht aus, genau dies zu lehren. Der Augustinismus steht also einerseits für die große Inspiration der Theologie Luthers, induziert in diese aber auch eine innere, zumindest terminologisch nie ganz ausgeräumte Problematik. Matthias Kroeger hat in seiner Arbeit »Rechtfertigung und Gesetz« für die Römerbriefvorlesung nachgewiesen, dass hier zwei Gerechtigkeitskonzeptionen vielfach noch unausgeglichen ineinander liegen.331 Zum einen diejenige, welche der theologischen Neuentdeckung und der existentiellen Erfahrung Luthers entspricht, wonach Rechtfertigung aus Glauben geschieht, welchem Gott die bleibende Sünde der Konkupiszenz nicht anrechnet. Dieser Glaube ist allerdings 1515/16 noch ganz als Demut bzw. als Glaube an die eigene Sünde, die im göttlichen Gerichtswort offenbart wird, verstanden. Grundgelegt ist hier aber die Einsicht in das simul peccator und die darin gründende fundamentale Bedeutung der imputatio. Daneben bzw. schon als daraus konsekutiv resultierend steht in der Römerbriefvorlesung aber die augustinische Rechtfertigung durch Liebe als der Erfüllung des Gesetzes, derzufolge Rechtfertigung sukzessiv durch die Eingießung des Gottesgeistes bzw. der Liebe geschieht, welche in den Menschen ein neues Wollen einsenkt und die alte Willensausrichtung der Selbstliebe nach und nach zurückdrängt. Man wird nun – über Kroeger hinausgehend – festzustellen haben, dass beide Modelle, trotz aller noch erfolgenden reformatorischen Klarstellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Glaube und Verheißung, Glaube und Unglaube (= Sünde) sowie Gesetz und Evangelium, Luther über seine Frühtheologie hinaus bestimmen, wenngleich sie nun einander eindeutig kausal-konsekutiv zugeordnet sind: Die imputatio ist selbst höchst effektiv im Menschen, sie bringt durch das Wort im Heiligen Geist den Glauben hervor samt der aus ihm folgenden Lebenserneuerung.332 Weil Luther aber beides – trotz der klaren Unterscheidung – eng verbunden wissen wollte, gelangte seine Rechtfertigungslehre immer wieder in die beschriebenen Explikationsprobleme. Damit sind wir schon bei dem sachlichen Grund für Luthers enge Verknüpfung von iustitia aliena bzw. imputatio iustitiae Christi und initium creaturae novae angelangt. Martin Greschat hat in seinem Vergleich der Rechtfertigungslehre

frolich. Ubi iustitiam Dei misericordiam iustos reputantem cognovi, ibi afflicto remedium contigit.« 331 Vgl. Kroeger, Rechtfertigung, bes. 86–117. 332 Dazu insgesamt Rolf, Zum Herzen.

Rechtfertigung 201 Luthers und Melanchthons in den Jahren 1528–1537 herausgearbeitet,333 dass beide Reformatoren ursprünglich jeweils von einem anderen Ansatz, Rechtfertigung zu denken, ausgegangen sind, beide sich aber konstruktiv aufeinander zu bewegt haben, ohne den eigenen Ansatz aufzugeben. Melanchthon argumentiert nach Greschat primär anthropologisch, d. h. er geht von der Situation des Menschen aus, der sich zunächst unter dem Gesetz als Sünder und deshalb in seinem Gewissen als bedrängt und erschrocken erfahre. Dieser Mensch begegnet dann im Evangelium dem Heilswerk Christi, das er glaubend annimmt und welches ihm Trost und Frieden für sein Gewissen schenkt. Solchermaßen durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi gerechtfertigt, beginnt er, neu zu leben und zu handeln. Demgegenüber setzt Luther wesentlich theozentrisch, beim Wirken des dreieinigen Gottes an, der durch das Geschehen des Wortes am Menschen in Gesetz und Evangelium handle.334 Gott, der sich in Christus offenbart, wirkt im Heiligen Geist mittels des äußeren Wortes den Glauben des Menschen, aber dadurch eo ipso auch dessen Erneuerung, sofern der Glaube gar nicht anders kann als in Liebe und gute Werke auszubrechen. Der Glaube rechtfertigt zwar allein, aber er ist, wenn anders er echter Glaube ist, niemals allein! Insofern muss Luther eigentlich nicht von einer von der Rechtfertigung unterschiedenen Heiligung sprechen, sondern kann das eine, wenngleich differenzierte Geschehen insgesamt als Rechtfertigung interpretieren, in welchem sich der dreieine Gott uns ganz mitteilt und schenkt. Nach Greschat ist es nun aber dieser theozentrische Ansatz beim Wortgeschehen, der Luther immer wieder das auf das Handeln Gottes gerichtete sola fide mit dem Wirken dieser fides so eng zusammensehen lässt, dass der Verdacht aufkommt, Luther deute das sola fide in einem augustinisch-katholischen Sinn, wonach der Glaube nur den Anfang der Rechtfertigung (etwa als Empfang der Sündenvergebung) bilde, die Rechtfertigung dann aber selbstverständlich unter Einbeziehung der aus dem Glauben folgenden Werke vollendet werde. Luther hat sich immer wieder gegen dieses Missverständnis seiner Position gewehrt, ohne den engen, quasi naturhaften Zusammenhang von Glaube und Lebenserneuerung aufzugeben und ohne – dem heutigen Interpreten große Schwierigkeiten bereitende – Formulierungen zu vermeiden, die eine irgendwie geartete Inklusion des initium novae creaturae in die Rechtfertigung coram deo zu insinuieren scheinen. Gleichwohl ist Luther nach Greschat sehr wohl auf den anders orientierten Ansatz Melanchthons eingegangen, der durch die streng imputativ gefasste, auf das sola fide konzentrierte Rechtfertigung und eine davon abgehobene Heiligung der Rechtfertigungslehre gegenüber der katholischen Seite eine konsistente und einheitliche Gestalt geben wollte. Melanchthons Bemühen, der seinerseits auch den lutherischen Ansatz zu integrieren suchte, muss Greschat zufolge wesentlich Vgl. Greschat, Melanchthon. Prägnant greifbar wird Luthers Ansatz in seinem »Bekenntnis« von 1528, bes. 26, 505,38–506,9. Dazu Greschat, Melanchthon, 33–40. Ferner 6,94,1–96,5. 333

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aus diesem Blickwinkel beurteilt und darf nicht pauschal als Deformation der Rechtfertigungslehre Luthers interpretiert werden.335 Ein eindrückliches Beispiel für die Problematik der Rechtfertigungslehre Luthers auf dem Hintergrund ihres augustinischen Einschlags bietet ein Ende 1536 im Kontext des sog. Cordatus-Streits336 von Melanchthon mit Luther geführtes Gespräch über Rechtfertigung, das Melanchthon aufgezeichnet hat.337 Dabei steht hinter den Fragen, die Melanchthon an Luther richtet, nicht seine eigene Position, und Melanchthon ist auch nicht der von Luther diesbezüglich Belehrte und Korrigierte, sondern Melanchthon bringt die aus dem Umkreis Luthers selbst an diesen herangetragenen Irritationen und Bedenken hinsichtlich seiner Rechtfertigungslehre vor und Luther sucht darauf zu antworten.338 Wie schon angedeutet bezieht sich Melanchthons Anfrage an Luthers Lehre von der Rechtfertigung auf den Verdacht, ob Luther das sola fide wirklich im reformatorisch-exklusiven Verständnis lehre oder ob er es nicht letztlich doch augustinisch-inklusiv deute. Also in dem Sinn, dass der Glaube den Anfang der Rechtfertigung bilde, danach aber die dem Glauben entspringenden Werke einbezogen werden und der Glaube nur deren Unvollkommenheit ergänze. Wie hält es Luther dann aber mit der »imputatio gratuita, quae est extra nos, wie mit dem [sola] fide, id est fiducia, quae oritur ex verbo« (344)? Luther antwortet darauf, dass es seine feste, biblisch begründete Überzeugung sei, »quod sola imputatio­ ne gratuita sumus iusti apud Deum« (ebd.). Auf die Nachfrage Melanchthons, dass Luther doch eine doppelte Gerechtigkeit annehme,339 die Gerechtigkeit aus dem Glauben und die (ebenfalls coram Deo geltende!) äußere der Werke, führt Luther aus, dass der Christ in allen Phasen seines Christsein »sola misericordia« (= sola fide) gerecht sei. Und nur diese Gerechtigkeit, verstanden als die »imputatio gratuita«, lasse vor Gott bestehen und könne dem Zorn, dem Tod und der Sünde entgegengestellt werden. Darauf folge dann die »externa iustitia« bzw. »iustitia operum«, die aber in diesem Leben stets unvollkommen bleibe und Tod und Sünde nicht wirksam zu begegnen vermag (345).340 Diese Gerechtigkeit samt ihrer Werke bzw. der neue Gehorsam sind vor Gott nicht in sich gerecht, sondern nur Vgl. nur Holl, Rechtfertigungslehre, 128: »Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben.« Einseitig auch die Gegenüberstellung von Luther und Melanchthon bei Bring, Verhältnis. 336 Zu dessen Verlauf siehe Greschat, Melanchthon, 217–230. Gegenstand des Disputs war die Heilsbedeutsamkeit der guten Werke. 337 Lateinische Fassung, nach der wir zitieren, bei Bindseil, Epistolae, 344–348; eine deutsche Version findet sich Tr 6,148,29–153,15 (Nr. 6727 [Aurifaber]). Dazu Greschat, Melanchthon, 230–242. 338 So auch Greschat, Melanchthon, 236. 339 Vgl. oben 1.3.2.7. 340 Coram deo gibt es aufgrund der imputativen Gerechtigkeit gerade kein simul von Sünde und Gerechtigkeit: »Quia reputatio gratuita Dei nullum vult ibi esse peccatum […] Pugnat enim, esse ex Deo natum, et simul esse peccatorem.« (345) 335

Rechtfertigung 203 deshalb, weil die Person, ihr Täter zuvor durch den Glauben in den Augen Gottes gerecht ist (347 f.). Die Rede von der Notwendigkeit der guten Werke, so Luther weiter, dürfe darum nicht im Sinne einer »partialis causa« unserer Gerechtigkeit vor Gott aufgefasst werden, vielmehr seien sie notwendig nur in dem Verständnis, dass der Glaube gar nicht anders kann, als gute Werke zu tun, was wiederum nicht gesetzlich-zwanghaft gemeint sei. Wie ja auch die Sonne aus Notwendigkeit leuchte, einfach weil dies ihr Wesen, ihre Natur ist. »Sic iustus creatura nova, facit opera necessitate immutabili, non lege seu coactione: iusto enim non est lex posita.« (346) Luthers Aussage, dass der Glaube immer »efficax« sei, andernfalls sei er kein Glaube, muss man deshalb doppelt verstehen. Einmal: Der Glaube rechtfertigt immer allein, und zwar in allen Phasen des Christseins, es gibt also keine andere »partialis causa« der iustificatio, und er existiert andererseits nur zusammen mit der von ihm gewirkten Lebenserneuerung (347). Der Glaube stellt das Werk der göttlichen Verheißung in uns dar, ein Werk des Heiligen Geistes, welcher in uns permanent eine neue Person schafft, welche dann ihrerseits neue Werke vollbringt – und zwar mit innerer Notwendigkeit und Spontaneität. Diesen Werken komme zwar keine »iustitia personalis« coram deo zu, sie rechtfertigen nicht die Person, aber »accidentaliter glorificabunt personam praemiis certis«, d. h. Gott schenkt ihnen außerhalb der Rechtfertigung den ihnen gebührenden Lohn, der von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann, wogegen alle aus derselben Rechtfertigung in Christus leben (348). Luther fasst seine Position in mehreren Bildern zusammen: »Credentes sunt nova creatura, nova arbor, ideo istae phrases legales non pertinent huc, scilicet fidelis debet opera bona facere, sicut non recte dicitur, sol debet lucere, arbor bona debet bonos fructus ferre, 3. et 7. debent esse 10. Quia sol lucet de facto, arbor facit de facto, 3. et 7. sunt 10. de facto. Non sunt in fieri vel debere, sed in facto esse.« (348) Luther hat also – so kann man resümieren – Melanchthon die gewünschte Präzisierung gegeben (nichts als die imputierte Gerechtigkeit Christi rechtfertigt uns!), zugleich aber seinen ureigenen Ansatz beibehalten, wonach es der Wille des durch das Wort wirkenden Gottes ist, einen einheitlichen, quasi naturhaften Zusammenhang von Glaube und Lebenserneuerung zu schaffen.341 So urteilt auch Greschat, Melanchthon, 240. – Wie sehr Luther auf Melanchthons Anliegen eingeht, zugleich aber seine eigenen Akzentuierungen keineswegs aufgibt, zeigt auch der Brief Melanchthons an Johannes Brenz (Mai 1531, Br 6,99,1–100,48), den Luther durch sein Postskript voll mitträgt, in welchem er gleichwohl gegenüber einer rein imputativen Rechtfertigung die unio mit Christus im Glauben betont (100,49–101,59). Melanchthon seinerseits will Brenz von dessen Augustinismus abziehen, wonach wir im Glauben zwar den Heiligen Geist empfangen, danach aber durch die geistgewirkte impletio legis bzw. renovatio gerecht seien. Dagegen wendet Melanchthon ein: »Haec ipsa novitas non sufficit. Ideo sola fide sumus iusti, non quia sit radix [bonorum operum], ut tu scribis, sed quia apprehendit Christum, propter quem sumus accepti, qualisqualis sit illa novitas, etsi necessario sequi debet, sed non pacificat conscientiam. Ideo non dilectio, quae est impletio legis, iustificat, sed sola fides, non, quia est perfectio quaedam in nobis, sed tantum, quia 341

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Zugleich möchte Luther die Verbindung zu und Übereinstimmung mit Augustin nicht abreißen lassen: Auf Melanchthons Bedenken, der Kirchenvater schließe durch das sola fide nur die dem Glauben vorangehenden Werke von der Rechtfertigung aus, hält Luther als eigentliche Meinung Augustins fest: »fidem valere principio medio, fine, et perpetuo«, wofür er Ps 129 (130),4; 142 (143),2 heranzieht (347). Dass Luther damit Augustin radikalisiert und überinterpretiert hat, dürfte aus dem Vorangehenden deutlich geworden sein.

apprehendit Christum.« (100,14–19) Dazu Wenz, Dilectio, bes. 193–197; ders., Das in sich Verkehrte, 64 f.

2 Taufe

Wir untersuchen in diesem Kapitel das Vorkommen bzw. Auftreten der simul-Thematik in den Schriften Luthers, die sich explizit mit der Taufe beschäftigen. Es handelt sich dabei vor allem um den Taufsermon aus dem Jahr 1519 – er ist für unsere Thematik auch der ergiebigste Text –, dann um die entsprechenden Abschnitte aus der Schrift De captivitate Babylonica (1520) sowie aus Luthers beiden Katechismen (1529). Mit der Formulierung »Vorkommen bzw. Auftreten der simul-Thematik in den Taufschriften« haben wir schon signalisiert, dass es um die simul-Thematik geht, denn auf die simul-Formel oder eine ihrer Varianten, das sei vorweggenommen, treffen wir in den Taufschriften nicht, es finden sich allenfalls sprachliche Annäherungen an sie.342 Dies ist erneut ein Beleg dafür, dass Luther die damit bezeichnete Sache durchaus behandeln kann, ohne die einschlägige Formel oder ihre Varianten zu gebrauchen. Der Themenkreis der Tauftheologie ist insofern für unser Thema von besonderer Relevanz, als Luther bei der Taufe nicht nur an ein punktuelles, zumeist nicht mehr erinnerliches Ereignis am Anfang des Christenlebens denkt, sondern er den Vollzug der Taufe auf das ganze Leben ausdehnt. Die Taufe inauguriert für ihn den lebenslangen Prozess der Buße, ja sie besteht in diesem Prozess, womit schon jetzt die enge Verbindung von Taufe und Buße (vgl. Kapitel 3) bei Luther deutlich wird.343 Es wird eines der zentralen Ergebnisse dieses Kapitels sein, dass diese Ausweitung der Taufe bedingt ist durch Luthers Auffassung von der bleibenden Sünde. Zum anderen ist die Taufthematik für die Frage nach dem simul iustus et peccator deshalb von besonderer Wichtigkeit, als es ja bei der bleibenden Sünde um die postbaptismale, nach der Taufe verbleibende Sünde geht. Die konfessionelle Streitfrage drehte sich von Anfang an um die spezifische Wirkweise der Taufgnade: Bringt diese – so die altkirchliche Seite – neben der Vergebung auch die völlige Beseitigung der Erbsünde, wobei eine gewisse Hinneigung zur Vgl. Pesch, Simul, 153 f. – Dieser Befund macht deutlich, dass es zu kurz greift, die Bedeutung der simul-Formel bei Luther damit marginalisieren zu wollen, dass sie in bestimmten Kontexten als solche nicht begegnet. 343 Vgl. Axt-Piscalar, Taufe, 176: Die Taufe ist für Luther »nicht bloßer Anfangspunkt des Christenstandes, der zu einem Moment in der Vergangenheit der Biographie des einzelnen Christen herabsinkt. Vielmehr ist die Taufe das bleibende Zeichen der Verheißung über dem christenmenschlichen Leben, von dem her, zu dem hin und durch das das christenmenschliche Leben in seiner Ganzheit beständig konstituiert ist und bleibt.« Grönvik, Taufe, 110, 114, 118 f., 127, 133 ff., 231–236, spricht vom »lebensumspannenden Charakter« der Taufe. – Aus einem sachlichen Grund (Buße ist Rückkehr zur Taufe) behandeln wir die Taufe vor der Buße, obwohl historisch-genetisch Luthers Bußtheologie vorangeht. 342

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Sünde (der sog. »fomes«) bleibt, die aber selbst nicht Sünde ist, sondern erst durch ein willentliches Ja zum Bösen erneut zur Sünde wird – oder schenkt die Taufgnade – so die Reformatoren –, indem sie eine neue Beziehung zu Gott schafft, zwar die Sündenvergebung, lässt aber die Erbsünde als in sich selbst als Sünde zu wertende Konkupiszenz zurück, so aber, dass diese durch den Heiligen Geist und den Kampf des Getauften lebenslang »ausgefegt« wird?344 Paul Althaus hat zur Tauflehre Luthers bemerkt, diese sei »selber nichts anderes als seine Rechtfertigungslehre in konkreter Gestalt«345. Wir entnehmen diesem Satz ein Doppeltes: Zum einen wird die Rede von der Rechtfertigung des Sünders durch die Taufe in der Art »konkretisiert«, dass die Rechtfertigung einen bestimmten Ort erhält, an dem sie sich vollzieht: im sakramentalen Geschehen der Taufe und ihrem lebenslänglichen »Brauch«. Zum anderen: Ist Luthers Tauflehre nur seine Rechtfertigungslehre in konkreter Gestalt, so müssen sich alle wesentlichen Momente seiner Rechtfertigungslehre in seiner Tauftheologie wiederfinden lassen. Als zentrales Merkmal der Rechtfertigungslehre erkannten wir bisher aber deren zweigliedrige Differenziert- bzw. Gestrecktheit: Rechtfertigung bedeutet für Luther einmal und primär die Gerechtsprechung durch Gott, in der dieser mich, den Sünder, ganz annimmt und vor dem ich mich nur ganz als Sünder bekennen kann. Dieses Totalgeschehen der Rechtfertigung, das ich im Glauben empfange, ereignet sich für Luther im Leben des Christen immer neu. Darüber hinaus kann Luther aber auch den Prozess des Gerechtwerdens, der in jener Gerechtsprechung gründet und bleibend von ihr abhängig ist, Rechtfertigung nennen, wohlwissend, dass diese Gerechtwerdung irdisch immer nur partiell gelingt und selbst niemals unsere Gerechtigkeit vor Gott begründen oder ergänzen kann. Vollendet ist dieser Prozess des Gerechtwerdens – und insofern die Rechtfertigung – erst mit dem leiblichen Tod und der leiblichen Auferstehung. Wenn Luther beide Momente oft mit ein und demselben Terminus »Rechtfertigung« bezeichnet, so bringt er damit zum Ausdruck, dass beide in der einen Bewegung Gottes zum Menschen hin, in dem einen den Sünder neu- und umschaffenden Werk Gottes gründen. Diese Kontroverse wird in der Arbeit von Grönvik, Taufe, die sich als systematische Darstellung der Tauftheologie v. a. des späteren Luther versteht, leider nicht behandelt. 345 Althaus, Theologie, 305. Vgl. ebd., 303–307, bes. 305: »Sein [Luthers] Verständnis der Taufe ist der genaue Ausdruck seiner Rechtfertigungslehre. […] Was wir so durch Gottes gnädiges Urteil sind, das will Gott an uns, die wir lebenslang noch Sünder bleiben, nun auch verwirklichen. Das gleiche Urteil, durch das wir unschuldig sind, gibt uns, den alten Menschen nunmehr in den Tod, daß wir rein werden. Was in der Taufe mit einem Male und total mit uns geschehen ist und in dieser Totalität von den Getauften in jedem Moment des Lebens als Wirklichkeit ergriffen werden kann und soll, die Vergebung der Sünden, die Reinheit durch Gottes Urteil, das begründet nun eine Bewegung des Lebens von Gott her, durch sein Arbeiten am Menschen hin auf die wirkliche Neuheit und Reinheit, ein Werden durch das ganze Leben hin.« Siehe auch Wenz, Einführung, 81, 86; ders., Theologie, Bd. 1, 609–614. 344

Taufe 207 Im Folgenden werden wir diese zwei Momente als die zentralen Elemente von Luthers Taufverständnis aufweisen und ihren Zusammenhang mit der simul-Formel herausstellen. Diese enthält ja ebenfalls die Aspekte des totus iustus (und totus peccator), des partim iustus und partim peccator sowie den eschatologischen Ausblick auf totus iustus esse. Dabei wird sich zeigen, dass die Abhebung der verschiedenen Dimensionen, ja ihre sachlogische Verhältnisbestimmung nicht immer leicht ist, weil sie bei Luther oft eng beieinander stehen, ja ineinander übergehen, was – wie schon gezeigt – auf seinen theozentrischen Ansatz beim einheitlichen Wirken Gottes zurückzuführen ist.

2.1 Taufe als Gerechtsprechung: Der Mensch wird ganz von Gott angenommen 2.1.1 Taufe als Unterstelltwerden unter das Urteil der göttlichen Barmherzigkeit Im Taufsermon von 1519 unterscheidet Luther an der Taufe das Zeichen, die Bedeutung und den Glauben (2,727,23 ff.).346 Das Zeichen besteht für Luther im Untergetauchtwerden des Täuflings in das Wasser und seinem Wiederauftauchen, weshalb er eigentlich eine Immersionstaufe und nicht ein bloßes Übergießen mit Wasser für wünschenswert hält. Die Bedeutung des Zeichens legt das ebenfalls nahe, ist damit doch »eyn seliglich sterbenn der sund und aufferstheung yn gnaden gottis« gemeint, dass »der alt mensch, der yn sunden empfangen wirt und geporen, do erseufft wird, und ein newer mensch erauß geht und auff steht, in gnaden geporen« (727,30–33). Man ist versucht, das im Vorgang der Taufe abgebildete Sterben des alten und das Auferstehen des neuen Menschen sogleich prozesshaft, auf den lebenslangen Taufvollzug hin zu interpretieren, was dem Gefälle des Taufsermons durchaus entspräche. Jedoch erläutert Luther seine Aussage durch Tit 3,5, wo die Taufe ein Bad der Wiedergeburt und eine Erneuerung im Heiligen Geist genannt wird. Weiter verweist er auf die Verse Joh 3,3.5, in denen Jesus von der neuen Geburt aus dem Wasser und dem Geist spricht. Der Rekurs auf diese biblischen Belege mit ihrem Bild der Geburt legt es doch nahe, dass Luther an ein punktuelles, sich im Taufakt selbst vollziehendes Geschehen denkt, so dass das Taufzeichen dieses nicht nur abbildet, sondern auch real vollzieht. Dazu stimmt, dass Luther fortfährt: So wie ein Kind aus dem Mutterleib »fleischlich« geboren wird zu einem sündigen Menschen und einem Kind des Zorns, so wird der Mensch in der Taufe »geystlich« geboren und »eyn kind der gnaden und rechtfertigs mensch«. »Also ersauffen die sund yn der tauff und geht auff die gerechtigkeit fur die sund.« (728,4–9) Der Mensch wird also im Taufakt zu einem Kind der Gnade, zu einem gerechtfertigten Menschen, wobei Luther Alle Zitate im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach WA 2.

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selbstverständlich davon ausgeht, dass die Taufe im Glauben empfangen wird. Insofern ereignet sich in der Taufe durch Wort und Zeichen nichts anderes als das Ergehen des göttlichen Rechtfertigungsspruchs, den der Mensch im Glauben »verinnerlicht«. Ebenso ist es präsentisch auf die Taufhandlung zu beziehen, wenn Luther die Paten dem Täufling quasi zusprechen lässt: »›Sich dein sund seyn nu erseufft, wir empfahenn dich yn gottis namen yn das ewig, unschuldig leben.‹« Freilich deutet Luther diesen Vorgang sogleich als Vorausbild auf die Erfüllung dessen, was die Taufe und die Paten »bedeuten«: nämlich die eschatologische Sammlung der Auserwählten durch die Engel Gottes (728,38–729,5). Daraus ist aber nicht zu schließen, dass die Taufhandlung ein leeres Zeichen wäre und seine »Bedeutung« ausschließlich auf eine eschatologische Realität verwiese, es wird dadurch vielmehr nur die Spannung zum Ausdruck gebracht, die für Luther zwischen dem in der Taufe schon anbrechenden ewigen, unschuldigen Leben und seiner eschatologischen Vollgestalt besteht.347 Dabei wird man das Rechtfertigungsurteil als proleptische Vorwegnahme und Verbürgung des eschatologischen Gerecht­ seins verstehen dürfen.348 Trifft unsere Interpretation zu, dann hätten wir in den zitierten Passagen einen Beleg dafür, dass Luther, wenngleich nur selten, von einem Sterben und Auferstehen des Menschen im Taufakt selbst und nicht erst in dem diesem nachfolgenden Leben aus der Taufe sprechen kann.349 Dabei ist es ohne Belang, wenn

Den wirksamen Aspekt des Taufaktes arbeitet auch Sommerlath, Rechtfertigung, 353–357, bes. 353 f., heraus. Die Taufe ist für Luther der »theologische Ort des Recht­ fertigungszuspruchs« (354), der – einmal ergangen und empfangen – gleichwohl immer wie­der aktualisiert werden muss und kann. Ferel, Taufe, 28–35, 38 ff., konstatiert dagegen, dass es Luther im Taufsermon noch nicht gelungen sei, die »Gabe« des Taufaktes gegenüber der »Aufgabe« des Taufprozesses hinreichend zu profilieren. Grund dafür sei die noch nicht klar herausgestellte Verbindung der Taufe mit dem im Glauben ergriffenen Verheißungswort. 348 Vgl. Axt-Piscalar, Taufe, 170: Das in der Taufhandlung dargestellte Ersäufen des alten Adam und Auferstehen des neuen Menschen geschieht für Luther dreifach: »durch das definitive Unterstelltwerden unter das Urteil der göttlichen Barmherzigkeit, durch die tägliche Tötung des alten Adam im Vollzug des christenmenschlichen Lebens und durch Tod und Auferweckung am jüngsten Tag«. Vgl. ebd., 175; Bayer, Promissio, 254 f. 349 Vgl. auch 729,30–730,2: Das Hineinstoßen seines durch die Sünde verderbten Geschöpfes in den Tod und dessen Neuschaffung am Jüngsten Tag bilden einen göttlichen Ratschluß, von dem gilt: »Dyßen rad hebt er an yn der Tauff, die den todt und aufferstheung am Jungsten tag bedeutt. […] Und darumb als vill die bedeutung odder das tzeychen des sacraments ist, ßo seynd die sund mit dem menschen schon tod unnd er aufferstanden, und ist alßo das sacrament geschehen, aber das werck des sacraments ist noch nit gar geschehen, das ist der todt unnd die auffersteung am Jungsten tag ist noch vorhanden.« – Insofern sind die Ausführungen von Althaus zu modifizieren, wenn er an dieser Stelle einen »sachlichen Unterschied« zwischen Luther und Paulus konstatiert. Für Paulus gelte: »Der alte Mensch ist in der Taufe getötet, der neue ist auferstanden. Entsprechende 347

Taufe 209 Luther mitunter nur das Sterben bzw. Ersäufen der Sünde erwähnt. Denn dies impliziert aufgrund des engen Verwobenseins des Menschen mit der Sünde immer auch ein Sterben des (alten) Menschen selbst. Festzuhalten ist also, dass Luther das Ergehen des Rechtfertigungsurteils, das ein Todesurteil einschließt,350 und seine gläubige Annahme an der Taufhandlung selbst festmacht, und dass dieser ganze Vorgang als Sterben und Auferstehen interpretiert wird. Luther fasst den herausgearbeiteten Sachverhalt in der glücklichen Formulierung zusammen, dass wir durch die Taufe »yn der gnaden unnd barmherzigkeyt urteyll« getreten sind, »die die sund nicht richtet, sondern mit vielen ubungen aus treybt« (731,21 f.). Diese Wendung deutet zum einen an, dass wir in der Taufe einmalig und bleibend dem Rechtfertigungsurteil unterstellt werden und darauf immer neu zurückkommen können. Zum andern weist sie schon darauf hin, dass Gottes gerechtsprechende Gnade auf das effektive »Austreiben« der Sünde gerichtet ist. Mehrfach erwähnt Luther, dass der durch die Taufe unter dem barmherzigen Urteil Gottes Stehende »reyn und an sund gantz unschuldig« (729,20; 732,9 f.) ist, die Sünde ist »gantz vorgeben« (731,24). Man kann gewiss fragen, ob es Luther im Taufsermon gelungen ist, diesen Totalaspekt der Rechtfertigung und Sündenvergebung mit der werdenden Gerechtmachung und dem eschatologischen Gerechtsein konsistent zusammenzudenken. Man gewinnt mitunter den Eindruck, als stelle er die drei Aspekte einfach nebeneinander und relativiere gerade durch die letzten beiden den ersteren.351 Nichtsdestoweniger kann aber

Sätze findet man, soweit ich sehe, bei Luther nicht. […] Die symbolische Handlung bei der Taufe ›bedeutet‹ nach Luther nicht ein einmal Geschehenes, sondern ein fortdauernd zu Geschehendes.« (Theologie, 306; Hv.) So sehr Althaus in der Tendenz zuzustimmen ist, gibt es offenbar bei Luther auch andere Aussagen. Luther kommt nicht ganz an dem perfektischen Sinn von Röm 6,3 f. vorbei, bezieht aber dieses Praesens perfectum auf das Rechtfertigungsurteil. Im Übrigen spricht auch Paulus Röm 6,4 nicht direkt von einem schon Auferstandensein der Getauften, sondern nur davon, dass »auch wir in einem neuen Leben wandeln«. Ersteres geschieht erst in den Deuteropaulinen (z. B. Kol 3,1.3). Zum differenzierten Befund bei Luther (bes. mit Rücksicht auf seine Predigten über Röm 6) vgl. Brunner, Lehre, 147–154; Hof, Taufe, bes. 223–227; Grönvik, Taufe, 173–208; Peters, Kommentar, Bd. 4, 100–103. Aber nochmals sei betont: Althaus sieht richtig, dass Luther Röm 6,3 f. primär »ethisch« und nicht »dogmatisch« deutet, d. h. nicht mit der Heilsgabe der Taufe (Sündenvergebung, Befreiung von den Verderbensmächten) in Verbindung bringt, Letztere also ohne Rekurs auf Röm 6 entfaltet werden kann. Vgl. nur 728,10–29; 56,324,17–23; 24,411,18–35. 350 Der Priester spricht über dem Täufling ein Todesurteil aus: »›Sich, du bist eyn sundigs fleysch, drumb erseuff ich dich in gottis namen, unnd urteyl dich tzum tod yn dem selben namen, das mit dyr all deyne sund sterben und unter gehen.‹« (728,18–21) Natürlich muss dieses Urteil noch im ganzen Leben vollstreckt werden, ihm eignet aber auch schon selbst realitätssetzende Kraft. 351 Dies gilt etwa für den Passus 730,2–10: »Alßo ist der mensch gantz reyn unnd unschuldig sacramentlich, das ist nit anderß gesagt, dan er hatt das tzeychen gottis, die Tauffe, da mit angetzeygt wird, seynn sund sollen alle tod seyn, und er yn gnaden auch

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festgehalten werden, dass für ihn die totale Annahme des Sünders durch Gott mit der Taufe gegeben ist.352 Dabei gründet das nicht auf einer ontologischen Qualitätsveränderung auf Seiten des Menschen, sondern ausschließlich auf dem Urteil Gottes bzw. seiner Verheißung und Zusage.353

2.1.2 Die Sünde bleibt bis in den Tod Deshalb kann Luther nun auch klar und bestimmt feststellen, dass die (Erb-) Sünde in der Taufe zwar ganz vergeben ist, aber dennoch als Sünde bleibt und der Stand des Getauften nicht mit Sündenfreiheit verwechselt werden

sterben und am Jungsten tag aufferstehen, reyn an sund unschuldig ewiglich zu leben. Also ists des sacraments halben war, das er an sund unschuldig sey. Aber die weyll nu das noch nit vollnbracht ist und er noch lebt ym sundlichen fleysch, ßo ist er nit an sund noch reyn aller dinger, sondern angefangen, reyn und unschuldig zu werden.« Das Zitat selbst sowie Parallelstellen verbieten es, die Ebene des »Sakramentlichen« auf das bloß Zeichenhafte zu reduzieren, auch wenn Luther genau dies in manchen Wendungen zu insinuieren scheint, weil es ihm terminologisch schwerfällt, die Totalität der Sündenvergebung mit dem Bleiben der Sünde bei anfänglicher Gerechtwerdung und der erst eschatologisch gegebenen Vollgestalt des Gerechtseins zusammenzuhalten und davon zu unterscheiden. Vgl. auch 729,33: Die Taufe, »die den todt und aufferstehung am Jungsten tag bedeutt«; 730,13 f.: »Nu seyn sie [die Sünden] nur bedeuttet, zu erseuffen durch den todt und auffersteung am iungsten tag«; siehe aber die klare Differenzierung im »werck« der Taufe 733,36–734,13: »vorgebung und tödtung der sund« bzw. ihr »austreyben«. 352 Nach der Zitation von 1.Joh 2,1–2, wo von dem Fürsprecher Jesus Christus die Rede ist, der zur Sühne unserer Sünden geworden ist, führt Luther aus: »Dasselb geschicht alles yn der tauff, da wirt unß Christus geben.« (731,16 f.) Diese Stelle spricht der Taufe klar den Empfang der Sündenvergebung als Empfangen Christi selbst zu; 734,11 f.: »yn welcher [Taufe] die vorgebung geschicht durch gottis vorpinden mit unß.« 353 Vgl. Sommerlath, Rechtfertigung, 356; Grane, Confessio, 87; Axt-Piscalar, 174 f., 180 f. – Entsprechende Aussagen über die Heilsgabe der Taufe, welche der Getaufte schon »hat« und im Glauben immer wieder empfängt, finden sich auch in Luthers beiden Katechismen. Auf die Frage, was die Taufe gibt oder nützt, antwortet der Kleine Katechismus: »Sie wirket Vergebung der Sunden, löset vom Tod und Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es gläuben.« (BSLK 515,38–516,1) Das Wasser »mit dem Wort Gottes« ist eine Taufe, »das ist ein gnadenreich Wasser des Lebens und ein ›Bad der neuen Geburt im heiligen Geist‹«, wie Luther wieder unter Berufung auf Tit 3,5–8 ausführt (516,18–28). Dem korrespondieren im Großen Katechismus die Passagen darüber, was die Taufe »nütze, gebe und schaffe«. Wie im Kleinen Katechismus wird das Verheißungswort Mk 16,16 herangezogen und hervorgehoben, »dass dies der Taufe Kraft, Werk, Nutz, Frucht und Ende ist, dass sie selig mache« (695,36–42). Selig werden heißt für Luther aber, »von Sunden, Tod, Teufel in Christus’ Reich kommen und mit ihm ewig leben« (695,47–696,2). Im Wasser ist Gottes Name präsent. »Wo aber Gottes Name ist, da muss auch Leben und Seligkeit sein« (596,11–12). Vgl. 537,34–42 (Taufbüchlein), wonach Gott in der Taufe »so überschwenglichen und grund­losen Reichtum seiner Gnaden über uns schüttet, das er selbs ein ›neue Gepurt‹ heißt, damit wir aller Tyrannei des Teufels ledig, von Sunden, Tod und Helle los, Kinder des Lebens und Erben aller Güter Gottes und Gottes selbs Kinder und Christus’ Brüder werden«.

Taufe 211 darf.354 Die durchaus richtige Auffassung, dass der Getaufte rein und im Blick auf die Sünde ganz unschuldig sei, »wirt von vielen nit recht vorstanden, die meynen, es sey gar keyn sund mehr da« (729,20 f.). Wird das, was unter der Rücksicht des göttlichen Urteils gilt, auf die Seinsqualität des Menschen übertragen, so führt dies zum Nachlassen im Kampf gegen die Sünde. Dagegen muss nüchtern kon­ statiert werden, dass die Sünde so sehr zur Natur des Menschen geworden und mit seiner Person geeint ist, dass Gott nur durch eine völlige Neuschöpfung durch Tod und Auferstehung hindurch den Menschen von der Sünde befreien kann.355 Die Freiheit des Menschen von der Sünde setzt seinen leiblichen Tod voraus. Luther bezieht sich in der Folge auf die klassische Augustin-Stelle, die Vergebung (bzw. Nichtanrechnung) und Wegnahme der Sünde unterscheidet: »Alßo spricht sanct Augustinus eynen feynen spruch: Die sund wirt yn der tauf gantz vorgeben, nit alßo, das sie nit mehr da sey, sondern das sie nit zu gerechnet wirdt, als sprech er ›die sund bleybt wol biß yn den todt yn unßerm fleysch und reget sich an unterlaß, aber die weil wir nit dreyn willigen odder bleyben, ßo ist sie durch die tauff also geordenet, das sie nit vordammet, noch schedlich ist, sondern außgetilget wirt teglich mehr und mehr biß yn den todt.« (731,22–28)356 Wir haben hier alle entscheidenden Elemente des simul versammelt: die vollständige Vergebung der Sünde; ihr »Bleiben« als Quasi-Existential des Menschen, ohne jedoch »angerechnet« zu werden und zu verdammen, solange wir ihr durch aktuelles Sündigen nicht »zustimmen« bzw. unbußfertig darin verharren; schließlich der lebenslange Prozess der Bekämpfung der Sünde bis in den Tod. Den Sachverhalt der bleibenden Sünde vermag Luther auch so auszudrücken, dass er sagt, der Mensch sei zwar in der Taufe unschuldig und rein, also ohne Sünde geworden – »und doch bleybit voll vill poser neygung«. Rein kann er deshalb genannt werden, sofern er angefangen hat, rein zu werden und weiter rein werden soll und Gott ihm deshalb die verbleibende Unreinheit nicht zurechnet: »umb wilchs willen yhm gott seyn nachstelligen unreynickeyt nit rechnen will, und alßo mehr durch gottis gnediges rechnen dann seyns weßens halben reyn ist«, wofür Luther auf Ps 31 (32),1 f. verweist (732,9–16). Die Wendung »um wilchs willen« bezieht sich auf den von Gott verbürgten und von ihm gewirkten, aber nicht ohne den Menschen geschehenden Prozess des Reinwerdens zurück, so dass Vgl. Axt-Piscalar, Taufe, 179 ff. 728,23 f. heißt es vom menschlichen Leib, der ganz in Sünden empfangen ist, »das sund seyn natur ist«; 729,23: »sundlich natur«; 729,24 f.: »das unßer fleysch, die weyl es hye lebt, natürlich böß und sundhafftig ist«. Bei Formulierungen wie diesen ist zu bedenken, dass sie für den Menschen nach dem Sündenfall und nicht von seiner geschöpflichen Verfassung als solcher gelten. Nur dass eben der konkrete Mensch beides an sich nicht mehr unterscheiden kann, da er so sehr der Sünde verfallen ist. Diese Unterscheidung vermag nur noch Gott aufrecht zu erhalten. 356 Vgl. 734,7 ff.: Solange ich glaube, dass mir Gott die Sünden nicht anrechnet, ist die Taufe wirksam und sind die Sünden vergeben, »ab sie wol noch da bleyben eyns grössen teyls«. 354 355

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Gott also bei der Nichtanrechnung der Sünde das effektive Reinwerden als schon in der Realisierung begriffenes Ziel mit im Blick hat. Dass der ganze Prozess in der vorgängigen Gnade Gottes gründet und keinen Raum für ein meritorisches Tun des Menschen lässt, wird dadurch sichergestellt, dass unsere durch die Taufe erlangte Unschuld »gantz und gar der gottlichen barmherzickeit halben« so heißt, »die solchs [d. h. die Tötung der Sünde] angefangen, und mit der sund gedult tregt, und unß achtet alß weren wyr an sund« (732,25–28). Auf die Gnade Gottes sind wir auch schon deswegen zeitlebens total angewiesen, weil die nach der Taufe fortdauernde Sünde »macht, das alle gute werck nit reyn seyn vor Gott« (732,18 f.).357 Wichtig ist Luther weiter, dass die zurückbleibende Sünde als »böße lust und lieb« (731,29), als böse Neigung bestimmt, also nicht erst die Tatsünde für wahre Sünde erkannt wird. Andernfalls verfällt man dem Irrtum, durch die Taufe völlig rein zu sein und lässt im Kampf gegen die Sünde nach. »Es muß die sund, bösneygung, fur ware sund erkant werden, das sie aber unschedlich sey, gottis gnade zu schreybe, der sie nit rechnen will.« (733,1 ff.) Mit den bisherigen Ausführungen – der Getaufte ist ein gerechtfertigter Mensch, obwohl die Sünde bleibt – haben wir implizit gezeigt, dass Luther den Getauften als simul iustus et peccator versteht, auch wenn er die Formel selbst in seinen Taufschriften explizit nicht anführt. Eine Annäherung daran findet sich im Taufsermon unter Berufung auf Röm 7: »Alßo clagt sanct Paul Ro: vii. und alle heyligen mit yhm, das sie sünder seyn und sund yn yhrer natur haben, ob sie woll getaufft und heylig waren, Drumb das sich die natürlichen sundlichen begirden ymmer regen, die weyll wir leben.« (730,14–17) Dabei ist dieser Satz, was seine Zuordnung zu den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten der simul-Formel anlangt, mehrdeutig: Man wird ihn einerseits so interpretieren dürfen, dass der Totalität des Gerecht- und Heiligseins die Totalität des Sünderseins gegenübersteht, da die Sünde »böse Neigung« Natur und Person des Menschen erfasst hat und deshalb auch jedes gute Werk unrein macht. Freilich kann Luther hier auch so verstanden werden, dass er – Total- und Partialaspekt gleichsam kombinierend – Vgl. auch 733,17 f.: Gott hat in der Taufe versprochen, alle Sünden zu vergeben, »ßo er [der Mensch] widder sie fechten will biß yn den tod«. Ferner 731,26 ff.31 ff.; 733,2 ff. Solche Wendungen, die das sola gratia bzw. sola fide einzuschränken scheinen – es tritt das gläubige Tun ergänzend zur non-imputatio der Sünde propter Christum hinzu –, betonen zum einen die Unbedingtheit des menschlichen Kampfes gegen die Sünde bzw. des neuen Gehorsams in guten Werken. Bleibt all dies aus, fehlt auch der Glaube. Sie nehmen, wie bereits gezeigt, oft die Perspektive des schon gerechtfertigten Menschen ein, der seiner bleibenden Sünde ansichtig wird und sich der non-imputatio tröstet (hier: Taufgedenken in der Anfechtung durch die Sünde). Neben dieser paränetischen Abzweckung bringen solche Formulierungen – auch dies wurde schon deutlich – ein Nebenmotiv Gottes bei der Gerechterklärung zum Ausdruck: Gott zielt damit auf das Neuwerden des Menschen. »Werke« im meritorischen Sinn werden an den angeführten Stellen oft explizit ausgeschlossen. Gott selbst ist zudem das eigentliche Subjekt des Tötens der Sünde in mir. 357

Taufe 213 der Totalität des Gerechtgesprochenseins das partielle Sündersein gegenüberstellt, da sich neben dem guten Wollen die »sündlichen Begierden« immer noch regen. Dieses Modell erlaubt natürlich eine einfachere Verbindung von Partialund Totalaspekt, weil es das totus peccator nicht berücksichtigt.358

2.1.3 Taufgedächtnis Nun ist aber gerade wegen des bleibenden peccator-Seins des Getauften und Gerechtfertigten für Luther ein weiterer Gedanke entscheidend: Zwar ist der Mensch in der im Glauben ergriffenen Taufe gerecht und heilig, er ist unter das Urteil der göttlichen Barmherzigkeit getreten, aber dieser Vorgang der Rechtfertigung bleibt – unbeschadet des singulären und nicht wiederholbaren Taufempfangs – kein einmaliger, sondern muss sich im Leben je neu ereignen, indem der Mensch sich erneut glaubend an seiner Taufe festmacht, ihrer gedenkt, zu der dort ergangenen und niemals zurückgenommenen Zusage der Sündenvergebung zurückkehrt und so je neu gerechtfertigt wird.359 Der Schritt vom Sünder zum Gerechtfertigten ist nie ein für allemal vollzogen, sondern muss immer wieder getan werden – und zwar wegen der bleibenden Sünde! Luther hat dabei einen doppelten Sachverhalt im Auge: Der Getaufte fällt einerseits nach der Taufe in neue aktuelle (durchaus auch schwere) Sünde, fällt so auch vom Glauben ab und bedarf der gläubigen Rückkehr zu seiner Taufe und der dort zugesagten Vergebung. Andererseits wird ihm gerade aber an der immer wieder auftretenden Tatsünde, wenngleich auch unabhängig davon, sein bleibendes Sündersein, die Permanenz der »bösen Neigung« als des eigentlichen Wurzelgrundes der Tatsünde und so seine je neu totale Angewiesenheit auf die göttliche Gnade bewusst. Im Taufsermon entwickelt Luther diese Gedanken unter dem Stichwort des Trostes, den das Gedenken an die Taufe bringt. Ohne den Taufbund, ohne Gottes barmherziges »Durch-die Finger-Sehen«, wäre keine Sünde zu klein, als dass sie uns nicht vor Gott verdammte. Doch »niemant [soll] erschrecken, ob er füle böße lust und lieb, auch nit vortzagen, ob er schon fellet, sondern an seyn tauff gedencken und sich derselben frölich trosten, das gott sich da vorpunden hatt, yhm seyn sund zu tödten und nit zur vordammnüß rechen, so er nit drein williget odder nit drynen bleybt. Auch soll man dieselben wütend gedancken odder begirden, ya auch das fallen, nit an nehmen zum vortzagen, ßondern als eyn vormanung von Vgl. 732,30 f.; 734,8 f.: Die Sünden sind zwar vergeben, bleiben aber »zum größten Teil«. Das ganz Gerechtsein und das partim/partim sind ebenfalls kombiniert 732,9–13: »Alßo vorstehstu wie eyn mensch unschuldig, reyn an sund wirt yn der tauff, und doch bleybit voll vill poßer neygung das er nit anderß reyn heyst, dan das er angefangen ist reyn tzu werden, […] und yhe mehr reyn werden soll.« Eine Anspielung auf das simul liegt auch 737,3–6 vor: »Furwar wer Gottis gnaden nit alßo achtet, das sie yhn als einen sunder dulden und selig machen wird, unnd alleyn seynem gericht entgegen geht, der wirt gottis nymmer frolich, mag yhn auch widder lieben noch loben.« 359 Vgl. Sommerlath, Rechtfertigung, 354–356, 361 f. 358

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gott, das der mensch an seyn tauff gedenck, was er da geredt hatt.« (731,29–35)360 Zwar ist dieser Vorgang des gläubigen Neu-sich-Festmachens an der Zusage nicht zu trennen von der neuen Aufnahme des Kampfes gegen die Sünde, ja der Bereitschaft zu sterben, doch gründet Letzteres in der neuen Erfahrung der göttlichen Vergebung und Rechtfertigung, deren man aus doppeltem Anlass bedürftig ist: einmal weil der Mensch »böse Lust und Liebe«, »wütende Gedanken und Begierden«, die sich im Bereich des Unwillkürlichen und Unvermeidbaren abspielen, in sich aufsteigen spürt, zum anderen, weil er das »Fallen«, d. h. das Einwilligen in diese bösen Neigungen durch konkreten Entschluss und konkrete Tat, an sich wahrnimmt.361 »Derhalben muß man gar keck und frey an die tauff sich halten und sie halten gegen alle sund und erschreckenn des gewißen.« (732,19 ff.) Gegen alle satisfaktorischen Leistungen und Werke zur Sündentilgung, die zudem keine Heilsgewissheit schenken können und offen lassen, wie wir vor Gott stehen, gilt es im Glauben zur Taufe und zu Gottes Barmherzigkeit zurückzukehren, »die yhm yn der tauff zu gesagt ist, ewiglich zu halten« (733,21 f.; vgl. 733,16–26; 737,18 ff.). Gottes Barmherzigkeit – uns in der Taufe als »ewiglich zu halten« zugesagt: In dieser treffenden Formulierung Luthers ist impliziert, was er oft auch explizit ausgeführt hat: dass nämlich die Taufe und ihre Gnade durch die Sünde nach der Taufe nicht verloren geht oder ungültig wird, so dass der Mensch deshalb zu anderen Gnadenmitteln seine Zuflucht nehmen müsste. Die Taufe hat vielmehr Kraft »durchs gantz leben, biß in den todt, ya am Jungsten tag« (733,10 f.), weshalb alle Buße und insbesondere das Bußsakrament in der Taufe und ihrer Verheißung gründet und diese letztlich nur je neu aktualisiert und zuspricht (733,28–36).362 Von daher können wir zusammenfassend feststellen: Die Notwendigkeit, den Taufvollzug auf das ganze Leben auszuweiten, als je neuer Empfang der Ganzheiligung, aber auch als tägliches Arbeiten an sich selbst im Kampf gegen die Sünde, gründet für Luther in der bis zum Tod bleibenden Erbsünde,363 die Mög-

Hier wird sichtbar, dass die non-imputatio der Sünde nicht mehr wie in der Frühtheologie Luthers in ungewisser Hoffnung erseufzt und erfleht wird, sondern der Mensch in gewissem Glauben auf sie – als in der Taufe letztgültig ergangen – zurückgreifen, ihrer gedenken kann. Vgl. Bayer, Promissio, 256. 361 Vgl. 731,8–11: »Derhalben ob sich woll poß gedancken oder begirden regen, Ja ob du auch zu weylen sundist und fellest, ßo du doch widder auffstehest und widder ynn den bund trittest, ßo seyn sie ynn krafft des sacraments und vorpundtniß schon dahynn.« 362 Die Buße ist deshalb nicht, wie Hieronymus meinte, die zweite rettende Planke, nachdem durch postbaptismale Sünde die Taufe Schiffbruch erlitten hätte. Vielmehr kann dieses Schiff durch keine menschliche Sünde zerstört werden: 6,529,22–34; 535,1–16; 15,531,21–532,2; 31 I,245,4–250,23; BSLK 706,13–707,10. Vollzieht die Buße die je neue Aktualisierung der Taufverheißung, so ist sie folgerichtig auch kein eigenes Sakrament, zumal ihr das äußere Zeichen fehlt: 6,572,10–17; 26,508,26 f.; BSLK 705,47–708,12. Vgl. Axt-Piscalar, Taufe, 173 f., 175 f., 181 f.; Stolle, Taufe, 17–20. 363 Vgl. 728,23 f.27 ff.: »Dan die sund horet nit gantz auff, die weyl dißer leyb lebt, der 360

Taufe 215 lichkeit dazu aber in der Unverbrüchlichkeit, im lebenslangen Bleiben der Verheißung.364

2.1.4 Profilierung der Taufverheißung Luther hat dieselben Überlegungen in ausgereifterer Terminologie in De captivitate Babylonica 1520 bekräftigt, wenngleich er hier weniger explizit auf das Moment der bleibenden Sünde eingeht. Das grundlegende Moment am Sakrament der Taufe ist jetzt (neben dem die Bedeutung einschließenden Zeichen) die göttliche promissio, wie sie in Mk 16,16 ergeht.365 An diese Verheißung gilt es zeitlebens, also nicht nur beim Taufempfang, zu glauben, den Glauben an sie »einzuüben« (6,527,37; 528,3: »exercitium fidei«). Der Glaube ist gewissermaßen die je neue existentielle Wiederholung der Taufe, welche in der Glauben weckenden Predigt vergegenwärtigt wird: »Haec erat praedicatio sedulo inculcanda populo, assidue recantanda ista promissio, semper repetendus baptismus, iugiter excitanda fovendaque fides.« (6,528,8 ff.) Dabei ist es die menschliche Schwäche, die im Bewusstsein der eigenen Sünden jenen Glauben an die Taufverheißung immer wieder erschwert: Der noch sündige Mensch kann nicht glauben, dass er gerettet ist. Und es ist gerade der Unglaube als die größte Sünde, der die göttliche Verheißung Lügen straft und die Taufe so in ihrer Wirksamkeit behindert (6,527,38–528,7). Entscheidend ist nun, dass diese Verheißung, die einmal (semel) über uns ergangen ist, ihrer Wahrheit nach bis zu unserem Tod bleibt. Sie gilt unbedingt und wird nicht zurückgenommen. Wenn wir dann durch Sünde dennoch von ihr (und damit vom Glauben) abgefallen sind, wird sie nicht hinfällig, sondern ermöglicht uns in der Buße die Rückkehr zu ihr, um uns erneut glaubend an ihr festzumachen. Wir werden dann von neuem ganz gerechtgesprochen: »Quare, dum a peccatis resurgimus sive poenitemus, non facimus aliud, quam quod ad baptismi virtutem et fidem, unde cecideramus, revertimur, et ad promissionem tunc factam redimus, quam per peccatum deservamus. Semper enim manet veritas promissionis, semel factae, nos extenta manu susceptura reversos.«  (6,528,13–17) Der einmal in der Taufe ergangenen und dauernd bleibenden Verhei-

ßo gantz yn sunden empfangen ist, das sund seyn natur ist. […] Alßo ist eyns Christen menschens leben nit anders, dan eyn anheben, seliglich zu sterben von der Tauff an biß ynß grab«; 6,534,11–17; BSLK 704,27–39: »Tägliche Taufe«, weil der »alte Adam« noch da ist; 707,33–37: »Wie nu einmal in der Taufe Vergebunge der Sunden überkommen ist, so bleibt sie noch täglich, solang wir leben, das ist den alten Menschen am Hals tragen.« 364 Zur Frage, inwieweit sich diese Ausweitung der Taufwirkung vom Eingang des christlichen Lebens auf dessen gesamte Erstreckung bei Luther schon vor 1519 andeutet, vgl. Jetter, Taufe, 169 ff., 215, 247–250, 317–322, 338, 340, 343. 365 Im Taufsermon ging Luther noch vom Taufvorgang und seiner Bedeutung aus und drang erst nach und nach zur Taufpromissio durch. In De captivitate setzt er sofort mit Mk 16,16 ein, behandelt anschließend aber auch das signum der Taufe und seine Bedeutung. Vgl. Bayer, Promissio, 257 f., 260.

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ßung Gottes korrespondiert hier die Pluralität der menschlichen Rückwendungen zur Taufverheißung in Buße und Glaube.366 Buße ist die Erinnerung, das Gedächtnis an die eigene Taufe und ihre unwandelbare Verheißung.367 Sie ist der je neue Weg, die je neue Rückkehr zur Taufe (»via ac reditus ad baptismum«: 6,572,16 f.).368 Luther hat hier – wie schon angedeutet – nicht so explizit wie im Taufsermon hervorgehoben, dass es die Sünde im Sinne des bleibenden Sünderseins ist, welche die je neue Hinwendung zur Taufe in Buße und Glaube und das heißt den je neuen Empfang der totalen Rechtfertigung notwendig macht. Er ist stärker an der Tatsünde orientiert. Aber der erste Aspekt stellt den unausgesprochenen Hintergrund seiner Ausführungen dar.369 So halten wir am Ende dieses Abschnitts fest: Die Taufe, im Glauben empfangen, gibt schon die Gerechtigkeit, das neue Leben, die Sündenvergebung. Der Getaufte ist ganz von Gott angenommen und gerechtfertigt, eben ein »gerechtfertigter Mensch«. Doch ist dieses Präsens immer auch ein Futurum, insofern der Christ als Sünder und Gerechter zugleich darauf angewiesen ist, sich immer neu unter das richtende und freisprechende Urteil Gottes zu stellen. Weil dieses Urteil Gottes in der Taufe erstmalig und sakramental einmalig über dem Leben eines Menschen aufgerichtet wurde, ist der je neue Empfang der Rechtfertigung eine Rückkehr zur Taufe. Das Erfordernis, die Taufe als dem erstmaligen und von da an Vgl. Axt-Piscalar, Taufe, 181: Luther verbindet die »Einmaligkeit und Unverbrüchlichkeit des Taufgeschehens mit dem Ganzen des christenmenschlichen Lebens«. So auch schon Grönvik, Taufe, 118 f., 231–236, bes. 232 f. 367 Vgl. 6,528,12 f.: »perpetua memoria promissionis eiusdem in baptismo nobis factae«; 528,20 f.: »baptismi sui memoria«; 529,1–4; 535,6: »redire, nisi ad vim baptismi«. Siehe auch die kühne Formulierung 529,11–17: »Ita vides, quam dives sit homo Christianus sive baptisatus, qui etiam volens non potest perdere salutem suam quantiscunque peccatis, nisi nolit credere. Nulla enim peccata eum possunt damnare, nisi sola incredulitas: Caetera omnia, si redeat vel stet fides in promissionem divinam baptisato factam, in momento absorbentur, per eandem fidem, immo veritatem dei, quia seipsum negare potest, si tu eum confessus fueris, et promittenti fideliter adhaeseris.« Sicher: Der Glaube empfängt immer neu die göttliche Vergebung, darauf darf er vertrauen, und der Unglaube ist die eigentliche Sünde. Aber bei schwerer Tatsünde geht nach Luther auch der Glaube verloren, diese ist zutiefst Unglaube. Wir kehren zu Gott zurück in Buße und Glaube. Insofern »besteht« der Glaube nicht bei und während der Sünde. Er kehrt zurück in der Buße. Vgl. 529,28 f.: »qui deserta promissionis fide, in peccatum sese praecipitant.« Beim »Stehen[bleiben]« des Glauben denkt Luther wohl an leichtere Vergehen. 368 Am Begriff des »reditus« zur Taufe und ihrer Verheißung zeigt sich markant der Unterschied zur frühen Theologie Luthers: Das Evangelium wird in Wort und Zeichen der Taufe einmal verbindlich und eindeutig zugesprochen, so dass man dorthin jederzeit »zurückkehren« kann. Dieser reditus hebt sich von dem früheren ungewissen Suchen und Erflehen der Rechtfertigung ab. Vgl. BSLK 706,22 ff.: »Also ist die Buße nicht anders denn ein Wiedergang und Zutreten zur Taufe«; Bayer, Promissio, 256 ff., 270–273. 369 Vgl. 6,534,12 ff.: »Neque peccatum moritur, neque gratia surgit plene, donec corpus peccati, quod gerimus in hac vita, destruatur […]. Nam donec in carne sumus, desyderia carnis movent ac moventur.« 366

Taufe 217 nicht mehr zurückgenommenen Ergehen der göttlichen Vergebungsverheißung mitten ins Leben zu stellen und in der Rückbesinnung auf sie von Gott immer wieder ganz gerechtfertigt zu werden, ergibt sich für Luther aus der Permanenz der Sünde in dem Getauften, aus dem peccator esse dessen, der zugleich schon ein iustus ist. Ermöglicht wird es durch die Unbedingtheit der göttlichen Gnadenverheißung.

2.2 Taufe als lebenslanges Gerechtwerden: tägliches Sterben und Auferstehen bis zum Tod 2.2.1 Getauftwerden bis in den Tod Nach dem über die Gabe bzw. Verheißung der Taufe Gesagten ist jetzt auszuführen, was Luther zumeist unter dem Stichwort der »Bedeutung« bzw. dem »Brauch« der Taufe zusammenfasst und womit er den der Taufe entsprechenden Lebensvollzug in den Blick nimmt.370 Damit ist genau jenes Moment gemeint, welches in der Rechtfertigungslehre mit dem Gerechtwerden als lebenslangem Prozess intendiert ist. Luther kann deshalb davon sprechen, dass mit der Taufe erst ein Anfang gemacht ist, etwas »anhebt«, sich lebenslang fortsetzen muss und erst im Tod zur Vollendung kommt: nämlich der Prozess des Gerechtwerdens, des täglichen Sterbens des alten und Auferstehens des neuen Menschen. Der Getaufte darf sich bei der bleibenden, obschon vergebenen Sünde nicht beruhigen, sondern muss in der Kraft seiner Taufe gegen sie bis zum Tod kämpfen und so seinen Tod je schon ein Stück weit antizipieren. Luther hat beide Begriffe von Rechtfertigung als »Vergebung« und »Tötung« bzw. »Austreibung« der Sünde unterschieden und beide als das letztlich eine Werk der Taufe begriffen.371 Beim letzteren Aspekt bewegen wir uns durchgängig innerhalb des Partialaspektes des simul, des partim iustus – partim peccator. Geht es um das, was an der Taufe zeichenhafte Bedeutung hat, so denkt Luther an den elementaren Vorgang des Ins-Wasser-Getauchtwerdens und Wiederauftauchens, nicht so sehr an die Symbolik des Abwaschens. Um des vollen Zeichengehaltes willen plädiert er deshalb – wie schon erwähnt – auch für eine Taufe durch Untertauchen und nicht nur durch Übergießen mit Wasser (727,4–19). Den ersten Aspekt kann Luther auch als den »Nutz« der Taufe bezeichnen. Zu beiden Aspekten vgl. Grönvik, Taufe, 208–229. 371 Vgl. 733,26–734,13: »vorgebung und tödtung der sund« (733,37); »Szo ist es eyn ander ding, die sund vorgeben und die sund abzulegen odder auß zu treyben. Die vorgebung der sund erlangt der glaub, ob sie woll nit gantz außtrieben seyn, Aber die sund außtreyben ist ubung widder die sund und zu letzt sterben, Da geht die sund gantz unter.« (734,1–4) Dazu Sommerlath, Rechtfertigung, 356–361; Axt-Piscalar, Taufe, 169 (u. ö.). Bayer, Promissio, 258, spricht von der »Unterscheidung zwischen der Taufe als geschehener und geschehender«. 370

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Dieses Auf- und Untertauchen bezeichnet das Sterben des alten und das Auferstehen des neuen Menschen. Ist der sakramentale Vollzug der Taufe bzw. die Taufhandlung im engeren Sinn ein punktuelles, schnell vorübergehendes Geschehen, so dauert die »geistliche Taufe« des Sterbens und Auferstehens das ganze Leben hindurch, ja sie wird erst im Tod vollendet. »Die bedeutung, und sterben odder ersauffen der sund, geschicht nit volnkomen, yn dißem leben, biß der mensch auch leyplich sterb und gantz vorweße zu pulver. […] Drumb ist diß gantz leben nit anders, dan ein geystlich tauffen an unterlaß biß in denn todt.« (728,10–17) Analog heißt es vom Auferstehen des neuen Menschen: Das »Aus-der-Taufe-Heben« geschieht schnell, »aber die bedeutung, die geystlich gepurt, die mehrung der gnaden und gerechtigkeit, hebt woll an yn der tauff, weret aber auch biß yn den tod, ya biß an iungsten tag« (728,30–33). Mit dem »ersauffen der sund« bzw. der »mehrung der gnaden und gerechtigkeit« – Letzteres ist ein durchaus missverständlicher Ausdruck, weil die Abgrenzung zur Gerechtsprechung terminologisch unklar ist – meint Luther das Sich­durchsetzen des in der Taufe ergangenen Todes- und Lebensurteils in der leiblich-seelischen Existenz des Menschen. Der gerechtgesprochene Mensch soll nun immer mehr auch zu einem gerechten Menschen, von einem in sich verkrümmten, ichsüchtigen zu einem auf Gott und den Nächsten bezogenen Menschen werden. Dabei ist klar, dass dies in diesem Leben »nicht vollkommen« geschieht, Gottes Ratschluss der Neuschöpfung des Menschen »hebt in der Taufe [erst] an« (729,32 f.), der Getaufte heißt wegen des Bleibens der bösen Neigung »nit anderß [! …] reyn, dan das er angefangen ist reyn tzu werden, […] und yhe mehr reyn werden soll« (732,11 ff.; vgl. 730,9 f.). Wir haben schon betont, dass Luther bei der Herausstellung dieses fragmentarischen Charakters des Gerechtwerdens in der Gefahr steht, die Totalität des schon Gerechtgesprochenseins unterzubestimmen bzw. die Taufe auf ein reines Verweisungsgeschehen auf die mit ihr beginnende Neuwerdung zu reduzieren, eine Gefahr, die aus der terminologischen Schwierigkeit herrührt, die neue Geltung bei Gott und das seinsmäßige Neuwerden zusammenzubringen, was dazu führt, dass beides bis zum Anschein der Widersprüchlichkeit einfach nebeneinander gestellt wird oder ineinander übergeht bzw. die Erstere nur ergänzend zu Letzterem hinzutritt.372

2.2.2 Taufe als Bund zwischen Gott und Mensch Für Luther ist der eigentlich Handelnde bei dem in der Taufe anhebenden Sterben und Auferstehen bzw. dem Kampf gegen die Sünde Gott selbst, allerdings – im Unterschied zur Rechtfertigung im engeren Sinne – unter Einbeziehung des

Vgl. auch 732,30–33, wo von den Christen gesagt wird, »das sie angefangen durch die tauff reyn tzu werden, durch gottis barmhertzickeit mit der ubrigen sund nit verdamnet werden, biß sie durch den tod unnd am iungsten tag gantz reyn werden, wie die tauff mit yrem tzeichen außweyßet.« Siehe auch Anm. 349. 372

Taufe 219 Menschen,373 was Luther mittels der Kategorie des Bundes zur Geltung bringt: »Das hilfft dir das hochwirdig sacrament der tauff, das sich gott daselbs mit dyr vorpindet und mit dyr eyns wird eyns gnedigen trostlichen bunds.« (730,20 ff.; vgl. 730,18–731,37) In diesem Bund verspricht der Mensch, sich ganz dem hinzugeben, was die Taufe bedeutet, d. h. die Sünde zu bekämpfen und zu töten, ja zum Sterben bereit zu sein. Gott wiederum verpflichtet sich, seinerseits die Sünde zu töten und sie als bleibende nicht anzurechnen. So heißt es, dass die Sünde ersäuft werden soll »durch die gnad gottis« (727,17), die Taufe bedeutet ein seliges Sterben und Auferstehen »yn gnaden gottis« (727,31). Gott nimmt uns Sünder in den Taufbund auf, schont uns »und macht unß reyn von tag zu tag« (737,7 f.). Jedoch kann Luther auch sagen, dass wir Menschen in der Taufe geloben, »die sund zu tödten und heylig zu werden, durch gottis wircken und gnad« (735,34 ff.), womit Gott und Mensch zu einem Handeln zusammengebunden sind bzw. der Mensch sich ganz in das durch die Taufe anhebende und durch sie bezeichnete Handeln Gottes ergibt. Gott hat sich beim Eingehen des Taufbundes verpflichtet, »von stund an dich new zu machen, geust dyr eyn seyn gnad und heyligen geyst, der anfahet die natur und sund zu todten und bereyten tzum sterben und aufersteen am jungsten tag«. Umgekehrt verpflichtet sich der Mensch, seine Sünde immer mehr zu töten, wie Gott seinerseits ihn übt mit guten Werken und mancherlei Leiden (730,26–33). Luther kann aber auch mahnen, dass Gott denen die bleibende Sünde nicht nachlassen wird, die sie nicht »mit vielen ubungen, wercken und leyden« bekämpfen (733,3 ff.). Dass die durchaus geforderte menschliche Verantwortung und Aktivität dennoch nicht auf sich gestellt ist, wird so zum Ausdruck gebracht, dass der ganze Prozess des Sterbens und Auferstehens in der Kraft und Wirkung der Taufe geschieht: Der Taufglaube hat sich darauf zu richten, dass das Sakrament Tod und Auferstehung am Jüngsten Tag nicht allein bedeute, »ßondern das es auch gewißlich dasselb anhebe und wirck und unß mit gott vorpyndet, das wir wollen biß ynn den tod die sund todten und widder sie streyten« (732,1–6). Von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Taufbundes ist es schließlich, dass der Inhalt der im gläubigen Taufgedenken je neu angeeigneten göttlichen Verheißung für Luther ein dreifacher ist: die Sündenvergebung, die Zusage der Tötung der Sünde durch Gott sowie der eschatologischen Vollendung. Der ganze Prozess der Neuschöpfung des Menschen ist also in Gottes Verheißung impliziert und von ihr getragen, ja bewirkt. Sie selbst bringt so den Menschen mit seinem Tun auf diesen Weg: Gottes Gnade und Barmherzigkeit, die im Rechtfertigungsurteil über uns aufgerichtet wird, »richtet« die Sünde nicht, sondern treibt sie mit vielen »Übungen« aus (731,22). Die Sünde ist in der Taufe so »geordnet«, d. h. durch Gott bestimmt, »das sie nit verdamnet, noch schedlich ist, ßondern auß getilget wirt teglich mehr und mehr biß in den todt«. (731,27 f.) Gott hat sich in Vgl. 6,530,16 ff.: »Est enim [fides] opus dei, non hominis, […]. Caetera nobiscum et per nos operatur, hoc unicum in nobis et sine nobis operatur«; Sommerlath, Rechtfertigung, 358 ff.; Seils, Gedanke, passim. 373

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der Taufe verpflichtet, des Menschen Sünde zu töten und nicht zur Verdammnis zu »rechnen« (731,31 f.).374 Immer also umfasst das, was Gott bei der Taufe »geredet« hat (190,6), nicht nur die Sündenvergebung, die Nichtanrechnung der Sünde, sondern auch das Töten der Sünde bis zu Tod und Auferstehung hin.375

2.2.3 Formen der Überwindung der Sünde Wie und wodurch geschieht nun dieser Prozess des Kampfes gegen die Sünde oder dieses Sterben des alten Menschen bzw. der ichsüchtigen »bösen Neigung«? Luther nennt im Taufsermon »viele gute Werke und mancherlei Leiden« (730,32 f.), »Leiden« und »Übung« (730,38; 731,22: »viele Übungen«), womit auf den Nächsten gerichtete Taten der Liebe, von Gott auferlegte Leiden sowie asketische Disziplin gegen die selbstsüchtige Natur gemeint sind. Insbesondere Letztere darf nach Luther aber nicht heilsmeritorisch missverstanden werden, sondern hat ihr Maß an der »Effektivität« der Bekämpfung der Ichfixierung.376 Schließlich stirbt die Sünde endgültig durch das leibliche Sterben eines Menschen, da wird seine Taufe ganz erfüllt und vollendet, so dass man sagen kann: »Und yhe eehr der mensch

Der Trost in der Anfechtung durch die Sünde ist: »Aber ich byn yhe taufft, durch wilch myr gott, der nit ligen kann, sich vorpunden hatt, meyn sund myr nit zu rechnen, ßondern zu todten und vortilgen.« (732,22 ff.) 375 Vgl. dazu Grönvik, Taufe, 236 ff. – Luther hat die Vorstellung des Taufbundes in dem 1519 entwickelten Sinn nicht weiter verfolgt. Vielleicht trug sie für ihn das Missverständnis einer synergistischen Partnerschaft von Gott und Mensch in sich. Im Taufsermon bringt sie gut zum Ausdruck, dass sich Gottes Wirken nicht am Menschen vorbei vollzieht, sondern das von Gott getragene und ermöglichte Eingehen des Menschen darauf verlangt. Darüber hinaus impliziert sie das Moment der Verbindlichkeit: Gott kann in der Anfechtung bei dem geschlossenen Taufbund behaftet und der Mensch an die eingegangene Verpflichtung erinnert werden. In einzelnen Formulierungen klingt freilich die Konzeption einer menschlichen Heilsvorbereitung an: Der Mensch tritt quasi in Vorleistung und Gott geht darauf ein. Dazu Ferel, Taufe, 32–35. Vgl. aber 8,659,14–37 (1521), wo unser Taufgelöbnis als ganz von Gottes Geloben und Verheißen getragen entfaltet wird, ja im Empfangen und Bewahren der Gaben Gottes besteht. Siehe auch 8,616,13 f.: »deus in baptismo pactum libertatis tecum fecit«; 659,14–37; 26,158,16–27; 164,24–38 (1528). In einer Predigt aus dem Jahr 1538 (46,195,10–201,11) wird die Taufe als Bund mit Christus interpretiert, der durch die Sünde des Menschen nicht aufhört und unwirksam wird. Der Mensch muss deshalb nicht zu anderen Bußleistungen seine Zuflucht nehmen, sondern kann durch Umkehr und Glaube zum Taufbund zurückkehren. »Ideo praedicandum, quod baptismus non cesset. Quando baptisatus, trist in bund cum Christo, quod debet esse ineternum Episcopus animae. Der bund hort nicht auff, donec sitzt et vivus [Christus]. […] Das ich er aus fal, bleibt er sitzen. Si etiam pecco, non ideo pactum baptismi falsch.« (196,19 ff.; 197,9 f.) Dazu Ferel, Taufe, 224–227. 376 Vgl. 734,37–735,2: »Man solt fasten und alle ubung da hyn leyten, das sie den alten Adam, die sundlich natur, druckten und geweneten, zu emperen alles des, das dißem leben lustig ist, und alßo zum todt teglich mehr und mehr breyt zu machen, das der tauffe gnug geschehe.« Zu dieser Neubegründung der Askese siehe Pinomaa, Die Heiligen, 94–100.

374

Taufe 221 stirbt nach der tauff, yhe ehr seyne tauff vollbracht wirt […]. Also ist eyns Christen menschens leben nit anders, dan eyn anheben, seliglich zu sterben von der Tauff an biß ynß grab.« (728,22 f.27 ff.)377 Die Sünde, die dem Menschen den Tod eingebracht hat, wird selbst nur durch das leibliche Sterben des Menschen und seine eschatologische Neuschaffung überwunden. Denn für Luther hat sich die Sünde so sehr mit der »Natur« des Menschen verbunden, dass selbst das christliche Leben stets nur ein partielles »Zugleich« von Gerechtigkeit und Sünde darstellt, dass es ein tägliches Sterben der Sünde und so Einübung und Vorwegnahme des leiblichen Sterbens sein muss. Selbst Gott kann die Sünde nur durch den Tod des Menschen und seine Neuschaffung überwinden. »Dan die sund horet nit gantz auff, die weyl dißer leyb lebt, der ßo gantz yn sunden empfangen ist, das sund seyn natur ist […], wilcher yn keyner weyß zu raten ist, sie sterb dann unnd wird zu nichte mit yhrer sund.« (728,23 f.26 f.)378

2.2.4 Reales, nicht nur symbolisches Sterben Auch nach De captivitate steht das Zeichen der Taufe, also das Untergetauchtwerden in und das Auftauchen aus dem Wasser, für Tod und Auferstehung, d. h. die vollständige und vollendete Rechtfertigung (»plenariam consumatamque iustificationem«: 6,534,3 f.). Luther, der an dieser Stelle mit dem weiten, von der Taufe bis zum Tod reichenden, Rechtfertigung und Heiligung umgreifenden Rechtfertigungsbegriff arbeitet,379 beruft sich dafür wieder auf Röm 6,4 und nimmt jetzt schwerpunktmäßig das Gerechtwerden in den Blick. Dabei möchte er das Sterben und Auferstehen nicht nur »allegorisch« verstehen, als Tod der Sünde und Leben in der Gnade, sondern als wirkliches Sterben und Auferstehen. Denn damit die Sünde tatsächlich stirbt und die Gnade uns voll erfasst, müssen wir leiblich sterben, regen sich doch im Fleisch bis zu unserem Tod die bösen Begierden und Neigungen. Beginnen wir zu glauben, beginnen wir deshalb real dieser Welt zu sterben und für Gott im künftigen Leben zu leben, so dass der Glaube wahrhaft der Tod und die Auferstehung ist, die geistliche Taufe, durch die wir untergetaucht werden und wieder auftauchen: »Nam donec in carne sumus, desyderia carnis movent et moventur. Quare dum incipimus credere, simul incipimus mori huic mundo et vivere deo in futura vita, ut fides vere sit mors et resurrectio, hoc est spiritualis ille baptismus, quo immergimur et emergimus.« (6,534,14–17) Deutlich wird in diesem Zitat, dass der Glaube für Luther neben dem Ergreifen des Urteils 734,16 f.22 f.: »Wer der tauff gnug thun will und der sund loß werden, der muß sterben. […] Nu ist keyn kurtzer weyß oder weg [fromm, d. h. gerecht zu werden], dann durch die tauff und tauffen werck, das ist leyden und sterben.« 378 Vgl. dazu Axt-Piscalar, Taufe, 175 f. 379 Bayer, Promissio, 268, scheint den Ausdruck »plenaria consummataque iustificatio« ausschließlich auf das Geschehen von Verheißungswort und Glaube zu beziehen, nicht aber auf Luthers weiten Rechtfertigungsbegriff. Der Kontext spricht indessen gegen die enge Interpretation. 377

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

der göttlichen Barmherzigkeit, welches das Todesurteil über den alten Menschen einschließt, noch eine zweite Funktion ausübt: Er entlässt auch jenen Prozess des Gerechtwerdens, des Sterbens und Auferstehens mit Christus aus sich.380 Vom Gedanken des realen Sterbens und Neuwerdens her ist es für Luther zu schwach, den Symbolgehalt der Taufhandlung nur im Abwaschen der Sünden zu sehen. So richtig das ist,381 so stellt die Taufe doch ein symbolon tatsächlichen Sterbens und Auferstehens dar, weshalb – wie Luther erneut betont – eine wirkliche Immersionstaufe diesen Gehalt besser ausdrücken würde: »Peccator enim non tam ablui quam mori debet, ut totus renovetur in aliam creaturam, et ut morti ac resurrectioni Christi respondeat, cui per baptismum commoritur et consurgit. […] Ita ardentius est, per baptismum nos significari omnibus modis mori et re­ surgere in aeternam vitam, quam ablui a peccatis.« (6,534,24–30) Von hier wird nochmals deutlich, dass das Taufsakrament, wie schon in Bezug auf die immer neu im Glauben ergriffene Verheißung, auch in Hinsicht auf das Zeichen »kein momentaner, sondern ein dauerhafter Vollzug« ist (»non […] momentaneum aliquod negotium sed perpetuum«: 6,534,31 f.), der sich bis zum Tod, ja zur Auferstehung am Jüngsten Tag erstreckt. Dabei geht es nicht nur um ein affektiv-meditatives Geschehen, sondern um einen auch unsere leibliche Existenz einbeziehenden, realen »transitus« in eine neue Welt.382 Alles, was wir in diesem Leben tun, sofern es der Tötung des Fleisches und der Belebung des Geistes dient (»quod ad mor Beide Aspekte hängen für Luther, wie schon betont, eng zusammen. Deshalb kommt er auch jetzt, wo schwerpunktmäßig das Zeichen der Taufe und damit der Prozess des Neuwerdens in den Blick genommen wird, wieder auf das je neue Ergreifen der Verheißung zu sprechen. Vgl. 6,535,8–16: »Nunquam fit baptismus irritus, donec desperans redire ad salutem nolueris; aberrare quidem poteris ad tempus a signo, sed non ideo irritum est signum. Ita semel es baptisatus sacramentaliter, sed semper baptisatus fide, semper moriendum semperque vivendum. Baptismus totum corpus absorbuit, et rursus edidit: ita res baptismi totam vitam cum corpore et anima absorbere debet et reddere in novissimo die. […] itaque nunquam sine baptismi tam signo quam re ipsa sumus, immo semper sumus baptisandi magis ac magis, donec perfecte impleamus in novissimo die« (Das »semper baptisatus fide« umgreift beide Aspekte der Rechtfertigung); 532,36–533,2: »Ita baptismus neminem iustificat nec ulli prodest, sed fides in verbum promissionis, cui additur baptismus, haec enim iustificat et implet id, quod baptismus significat, Fides enim est submersio veteris hominis et emersio novi hominis« (Wenn hier der Glaube als Tötung des alten und Auferstehung des neuen Menschen gedeutet wird, denkt Luther v. a. an dessen coram deo [allein] rechtfertigende Kraft, schließt aber jene andere, ebenfalls vom Glauben gewirkte significatio der Taufe, nämlich das Gerechtwerden, nicht völlig aus.); 536,1–3: »Unum […] nobis in tota vita agendum est propositum, ut baptisemur, id est mortificemur et vivamus per fidem Christi.« 381 Auch die Gerechtsprechung durch Gott ist als »Abwaschen« und Wegnehmen der Sünde an einem unverändert bleibenden Subjekt für Luther unterbestimmt, insofern auch sie eine Neukonstituierung der menschlichen Person meint. 382 Vgl. 6,534,34–39: »Quam diu enim vivimus, semper id agimus, quod baptismus significat, id est morimur et resurgimus, Morimur, inquam non tantum affectu et spiritualiter, quo peccatis et vanitatibus mundi renuntiamus, sed revera vitam hanc corporalem inci380

Taufe 223 tificationem carnis et vivificationem spiritus valet«), gehört deshalb zu unserer Taufe. Und je schneller wir dieses Leben beenden und sterben, desto schneller erfüllen wir unsere Taufe, ja je härter wir hier leiden, desto mehr entsprechen wir unserer Taufe (6,535,17–20). Darf man solche Äußerungen im Sinne Luthers auch nicht als Aufforderung zum theologisch assistierten Suizid deuten, so signalisieren sie doch deutlich – und dies ist gewiss eine Gefahr des Insistierens auf dem simul peccator –, dass Luther wesentlich ausführlicher über das Sterben des alten als über das Leben des neuen Menschen spricht bzw. Letzteres vorwiegend eschatologisch verortet.

2.2.5 »Tägliche Reu und Buße« Den Prozess der werdenden Rechtfertigung, welcher in der Kraft der Taufe und als ihr Vollzug in der Bekämpfung der bleibenden Sünde vonstatten geht, hat Luther schließlich in den beiden Katechismen ebenfalls unter dem Stichwort der »Bedeutung« der Taufe behandelt. Erneut geht er hierbei besonders auf den Akt des Unter- und Auftauchens in bzw. aus dem Wasser ein. Die vierte und letzte Frage im Kleinen Katechismus (»Was bedeut denn solch Wassertäufen?«) findet die Antwort: »Es bedeut, dass der alte Adam in uns durch täglich Reu und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sunden und bösen Lüsten, und wiederumb täglich erauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit für Gott ewiglich lebe.« (BSLK 516,30–38) Als Schriftbeleg wird Röm 6,4 angegeben. Im Großen Katechismus wird als Kraft und Wirkung der Taufe die »Tötung des alten Adams« und die »Auferstehung des neuen Menschen« bezeichnet, »welche beide unser Leben lang in uns gehen sollen, also dass ein christlich Leben nichts anderes ist als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer darin gegangen. Denn es muss ohn Unterlaß also getan sein, dass man immer ausfege, was des alten Adams ist, und erfürkomme, was zum neuen gehört.« Der alte Adam ist das uns angeborene selbstsüchtige, unbeherrschte und ungläubige Wesen,383 welches in Christi Reich »täglich abnehmen« soll, »dass wir je länger je milder, gedüldiger, sanftmütiger werden, dem Geiz, Haß, Neid, Hoffart je mehr abbrechen« (BSLK 704,27–48). Wird dieser im Wassertaufen »angedeutete« rechte »Brauch« der Taufe vom Getauften vernachlässigt, so wird der alte Mensch wieder kräftiger, ja ärger als zuvor bzw. kann sich ungebrochen in einem jungen Menschen entfalten. »Darümb gehet der alte Mensch in seiner Natur unaufgehalten, wo man nicht durch der Taufe Kraft wehret und dämpfet, wiederümb, wo Christen sind worden, nimmt er täglich abe, solang bis er gar untergehet. Das heißt recht in die Taufe gekrochen und täglich wieder erfürkommen.« (BSLK 705,26–32) Wo pimus relinquere et futuram vitam apprehendere, ut sit realis […] et corporalis quoque transitus ex hoc mundo in patrem.« 383 Vgl. BSLK 704,40–44: »Was ist denn der alte Mensch? Das ist er, so uns angeboren ist von Adam, zornig, hässig, neidisch, unkeusch, geizig, faul, hoffärtig, ja ungläubig, mit allen Lastern besetzt und von Art keins Guts an ihm hat.«

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der Glaube mit seinen Früchten ist, da ist die Taufe kein leeres Zeichen, keine »lose Deutung«, sondern da ist ihr »Werk«, ihre Wirkung dabei (BSLK 705,35–39).

2.2.6 »Bekehrung« Wir gehen abschließend noch auf zwei für die simul-Thematik wichtige Fragen ein, die besonders am Thema »Taufe« einer Antwort zugeführt werden können. Zunächst: Was versteht Luther unter »Bekehrung«? Die Zitate aus den beiden Katechismen zeigten nochmals, wie sehr Luther die Taufe mitten ins Leben gestellt hat.384 Dem einmaligen Sakramentsempfang am Beginn des Christenlebens muss die »tägliche Taufe« nachfolgen, das Einholen dessen, was die Zeichenhandlung »bedeutet«. Wie schon erwähnt, hat besonders Paul Althaus darauf hingewiesen, dass Luther Röm 6,4 zumindest tendenziell in einer etwas anderen Weise deutet als Paulus.385 Bei Letzterem heißt es im Sinne eines Praeteritum praesens: Wir sind mit Christus der Sünde gestorben, wir sind mit Christus auferstanden, wenngleich dies im Leben auch immer wieder zu bewähren ist. Paulus hat dabei die Taufe als einmalige Lebenswende im Blick: Dort ist all das geschehen! Bei Luther heißt es dagegen im Sinne eines Praesens perpetuum: Wir sollen dem alten Menschen nach sterben, wir sollen dem neuen Menschen nach auferstehen. In der Taufe selbst ist das noch nicht geschehen, allenfalls begonnen. Die »Bekehrung«, die Wende vom alten zum neuen Menschen liegt demnach nicht ein für allemal hinter uns, sondern muss jeden Tag neu vollzogen werden. Ein »bekehrter Mensch«, der etwa durch ein besonderes biographisches Widerfahrnis zum Christen geworden ist, ist deshalb nicht undialektisch der »neue Mensch«. Luther hat bei der für ihn je neu zu vollziehenden »Lebenswende« einmal die tägliche »Reu und Buße« im Blick, in welcher mir Gottes Gesetz meine Sünde, mein fortwährendes Sündersein zum Bewusstsein bringt, dann aber auch den Zuspruch der Sündenvergebung und Rechtfertigung durch das Evangelium, der täglich im Glauben ergriffen werden muss.386 Ein starker Akzent liegt bei ihm darüber hinaus aber auch auf dem Vgl. auch 6,535,24 f.: »Quicquid enim vivimus, Baptismus esse debet et signum seu sacramentum baptismi inplere.« 385 Vgl. Althaus, Theologie, 306 f.; ders., Bekehrung, 225–235. Ähnlich Schlink, Theologie, 402 f., 408 f., 416 f.; Stolle, Taufe, bes. 2–15, 23 f. Siehe aber die Einschränkungen, die wir diesbezüglich Anm. 349 gemacht haben. 386 Vgl. BSLK 699,27–34: »Darümb hat ein iglicher Christen sein Leben lang gnug zu lernen und zu uben an der Tauf; denn er hat immerdar zuschaffen, dass er festiglich gläube, was sie zusaget und bringet: Überwindung des Teufels und Tods, Vergebung der Sunde, Gottes Gnade, den ganzen Christum und Heiligen Geist mit seinen Gaben.« Gerade daran gilt es sich in Momenten der Beschwernis durch Sünde und Gewissen festzumachen und zu sagen: »Ich bin getauft; bin ich aber getauft, so ist mir zugesagt, ich solle selig sein und das ewige Leben haben, beide an Seele und Leib.« (699,50–700,4) Siehe auch 707,33–36: »Wie nu einmal in der Taufe Vergebung der Sunden überkommen ist, so bleibt sie noch täglich, solang wir leben, das ist den alten Menschen am Hals tragen.« Deutlich erkennbar ist, wie der immer neue Empfang der Rechtfertigung und Sündenvergebung im Glauben 384

Taufe 225 daraus erwachsenden ethischen Neuwerden: Der Mensch soll sein selbstbezogenes, unbeherrschtes Wesen immer mehr ablegen und nächstenverbundener werden. Insgesamt ist überdeutlich, dass die von Luther entwickelte Konzeption des christlichen Lebens als »täglicher Taufe« und »täglicher Reu und Buße« durch seine Auffassung von der Permanenz der Sünde bedingt ist: »Der alte Mensch ist jeden Tag aufs neue wieder da. Der homo renatus ist und bleibt ein Sünder, weil er auch noch alter Mensch ist.«387

2.2.7 Fortschreiten und Wachsen? Die zweite Frage zielt auf das gegenseitige Verbunden- und doch Unterschiedensein des Prozesses des täglichen Sterbens und Auferstehens als Kampf gegen die Sünde und jener totalen Gerechtsprechung durch Gott, die wir erstmals in der Taufe empfangen, aber, weil wir bleibend Sünder sind, stets neu empfangen. In der Lutherforschung hat es immer wieder Versuche gegeben, beides zu identifizieren, d. h. allen Kampf gegen die Sünde, alles Fortschreiten und Wachsen im christlichen Leben ausschließlich auf den je neuen Empfang der Sündenvergebung im Glauben zu reduzieren, wogegen auf der Ebene des sittlichen Wandels alles auf derselben Stufe verbleibe.388 In der Tat hat Luther in De captivitate gerade die je neue Rückkehr des gerechtfertigten Sünders zur Taufverheißung im Glauben als Buße bezeichnet. Ja, er kann sagen, dass der Glaube als Empfangen der Rechtfertigung die »geistliche Taufe« darstellt, durch welche der alte Mensch stirbt und der neue aufersteht. Schon der Taufsermon und dann voll durchgeklärt De captivitate spricht vom Taufgedenken als Rückkehr zu ihrer Verheißung der Sündenvergebung. Dabei ist im Sinne Luthers zu ergänzen, dass in diesem gläubigen reditus bzw. »Wiedergang« zur Taufverheißung die Reue, das Getroffenwerden durch Gotauch die Gaben des Heiligen Geistes, also das reale Neuwerden, und sogar die eschatologische Vollendung als Zusage und Verheißung mit einschließt. 387 So Althaus, Bekehrung, 228. Ähnlich Elert, Glaube, 488 f., bes. 488: Der neue Mensch »existiert also gleichsam nur von Fall zu Fall, von Akt zu Akt.« 388 Vgl. z. B. Althaus, Bekehrung, 228: »Die Reformatoren leugnen nicht, daß es hier [in der Buße] ein Fortschreiten geben kann und soll; Luther spricht oft von einem ›mehr und mehr‹, von einem täglichen ›Zunehmen‹ der Heiligung. […] Aber dieses Fortschreiten ist ein solches eben in der Bewegung der Buße, also ein immer völligeres Irrewerden an sich selbst; ein immer schärferer Blick für die verborgene Sünde, den heimlichen Unglauben und die Hoffart, eine immer heißer flehende Hingabe an Gottes Vergebung als den einzigen Halt. Immer mehr Abbau, und dem gemäß immer klareres Leben allein von der vergebenden Gnade.« So richtig das alles ist: etwas wird hier doch unterschlagen, was umso erstaunlicher ist, als Althaus auch anders über Luther reden kann. Ähnlich Grane, Confessio, 83: »Die Sünde kann die Taufe nicht beseitigen, und deshalb ist Buße nichts anderes, als zu seiner Taufe zurückzukehren, d. h. das Verheißungswort wieder im Glauben zu hören.« Resultieren solche Verengungen aus der Angst, dass der neue Lebenswandel heilsmeritorische, rechtfertigende Kraft erlangt – oder das christliche Leben irgendwie sichtbar wird? Luther hatte sie offenbar an dieser Stelle nicht.

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tes Gesetz (eben das Sterben) impliziert ist. Jedoch ist davon auszugehen, dass, obwohl von Luther nicht explizit erwähnt, sich in dem je neuen Festmachen an der göttlichen Verheißung ein »Fortschritt« ereignet: dass der Mensch nämlich in seiner Gottverbundenheit, im Glauben und d. h. im Bewusstsein, wie sehr er in allem von Gottes Vergebung lebt, »wächst«. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass Luther unter dem lebenslangen Vollzug der Taufe auch ein ethisches Neuwerden verstanden hat: Man soll den alten Adam mit seiner Ichsucht und Unbeherrschtheit bekämpfen und ein in der Liebe und in guten Werken zunehmender Mensch werden.389 Als Mittel zur Bekämpfung des alten Adam, der Ichsucht und Selbstzentrierung im Menschen nennt er auf den eigenen Leib zielende asketische Übungen, v. a. aber das dem Menschen von Gott auferlegte Leiden. Es kann nicht geleugnet werden, dass Luther hierbei einen gewissen »Fortschritt«, ein gewisses Wachsen für möglich hält, freilich ohne dass der Christ hierbei einen Anspruch auf Kontinuität erheben könnte. Durch einen schweren »Fall« kann er jederzeit auf den Anfangspunkt zurückgeworfen werden. Auch darf der Christ solches Fortschreiten und Wachsen nicht als das seinige reklamieren, ohne es von Grund auf zu zerstören. Und ebenso vermag er zu keiner Zeit das je neue Angewiesensein auf Gottes totale Rechtfertigung hinter sich zu lassen. Alles partielle Gerechtwerden (partim iustus – partim peccator) wird noch einmal eingeholt von dem bleibenden totus peccator, der ganz auf Gottes Gerechtsprechen angewiesen ist (totus iustus – totus peccator).390 Dennoch machen diese Einschränkungen es für Luther nicht unmöglich, dass auf der Ebene des Gerechtwerdens mit einem Zunehmen zu rechnen ist: Die Sünde soll »teglich mehr und mehr« ausgetilgt werden (2,731,28). Der Getaufte hat in der Taufe angefangen rein zu werden und soll »yhe mehr reyn werden« (2,732,12). Zum Tod soll man »teglich mehr und mehr bereyt« werden (2,735,2). Wir sind »magis ac magis« zu taufen, bis wir am Jüngsten Tag unsere Taufe ganz erfüllen (6,535,15 f.). In Christi Reich soll die Der Terminus »reditus« ist bei Luther auch nicht auf das je neue gläubige Festmachen an der Taufverheißung begrenzt, sondern schließt den je neuen Beginn des Kampfes gegen die Sünde in sich. 6,528,13–529,10; 529,22–34 dominiert gewiss der erste Aspekt, während 535,4–16; 572,15 ff.; BSLK 706,13–707,10 (»Wiedergang« zur Taufe) beide Aspekte intendiert sind. Nach Peters, Kommentar, Bd. 4, 96, impliziert der Wandel »in täglicher Reu und Buße« für Luther »sowohl unser ständiges Zurückkehren zur Taufverpflichtung als auch unsere ständige Zuflucht zur Taufverheißung«. 390 Vgl. Peters, Kommentar, Bd. 4, 96–100, bes. 98: »Im Hinblick auf den ›Partial-Aspekt‹ des ›Gerecht und Sünder zugleich‹ gilt die Lehre von den erwerbbaren Verhaltensweisen; hier behält der Ruf zur Übung in der Taufgnade seine Notwendigkeit. […] Dieser Ruf zum gehorsamen Voranschreiten bleibt freilich umgriffen vom ›Total-Aspekt‹ des Ringens zwischen dem Sünder und dem Gerechten in uns […].« – Wie BSKL 704,19–705,39 erkennen lässt, rechnet Luther im Bösen wie im Guten durchaus mit sich durch wiederholtes Handeln verfestigenden habituellen Strukturen, auch beim Christenmenschen! Diese gründen bei Letzterem natürlich primär und bleibend in der gläubigen Person und sind für die Rechtfertigung coram deo nicht hinreichend, ja dafür unerheblich. Siehe auch 30 II,658,29–36; 39 I,282,5–14; 40 I,197,25–198,14. 389

Taufe 227 alte Adamsnatur »täglich abnehmen, dass wir je länger je milder, gedüldiger, sanftmütiger werden, dem Geiz, Haß, Neid, Hoffart je mehr abbrechen« (BSLK 704,44–48). Bei den Christen nimmt der alte Mensch »tägliche abe«, bis er schließlich ganz untergeht (BSLK 705,30 f.). Was Luther unter der lebenslangen mortificatio carnis et vivificatio spiritus versteht, ist darum ein Doppeltes: einmal – begleitet von der Reue und dem Schmerz über das bleibende Sündersein bzw. das aktuelle Sündigen – das glaubende Sich-Festmachen an Gottes Verheißung der Vergebung. Der Mensch wird je neu ganz von Gott gerechtgesprochen. Zum anderen gründet darin aber auch ein sittliches Neuwerden, das Bemühen um ein anderes, neues Leben, der Kampf gegen den alten Adam.391 Für das irdisch nicht transzendierbare und in diesem Sinne »statische« simul bedeutet dies, dass es gleichwohl ein dynamisches Moment impliziert: Innerhalb seiner Klammer gibt es für Luther ein Wachsen und Zunehmen. Mit diesen Überlegungen sind wir im Grunde schon weit in das Thema »Buße« vorgestoßen, das jetzt im Horizont des simul iustus et peccator zu behandeln ist.

Genau genommen gehört auf die Seite dieses wachsenden Neuwerdens auch der Glaube, sofern er nicht die reine Gerichtetheit auf Gottes Verheißung, sondern als »Gläubigkeit« ein je unterschiedlich intensiver Vollzug im Menschen ist. 391

3 Buße

Das dritte theologische Themenfeld, an dem wir das Vorkommen und die Bedeutung der simul-Formel bzw. der simul-Thematik untersuchen, ist die Buße. Die Auseinandersetzung über das rechte Verständnis der Buße war der Anlass, der Luther neben der inneren auch in die öffentliche Auseinandersetzung mit der römischen Kirche hineinzog. Die Diskussion des Ablasses, der Beichte und der echten evangelischen Buße führte weiterhin zur vollen Durchklärung der reformatorischen Theologie (Entdeckung des [Verheißungs]wortes als Heilsmittel, Durchdringung zur Heilsgewissheit, klare Unterscheidung von Gesetz und Evangelium) wie auch zur Thematisierung bzw. Infragestellung der kirchlich-hie­ rarchischen Autorität. Es kann hier nicht darum gehen, Luthers Verständnis der Buße insgesamt darzustellen, wir beleuchten es nur insoweit, als es für unsere Fragestellung relevant ist. Auch die Wandlungen, die Luthers Bußverständnis im Laufe der Zeit erfahren hat, können nur am Rande angedeutet werden.392

3.1 Das »simul« als Realgrund der lebenslangen Buße 3.1.1 Frühe Schriften zur Buße (1517–1519) In den »Resolutionen« zu den Thesen der Leipziger Disputation verteidigt Luther die These: »Quottidie peccat omnis homo, sed quottidie poenitet, docente Christo ›poenitentiam agite‹.« (2,403,6 f.) Gemeint ist damit: Jeder Mensch – gedacht ist Zu Luthers Verständnis der Buße vgl. Seeberg, Lehrbuch IV/1, 158–172; O. Ritschl, Dogmengeschichte 2, 157–183; Haikola, Studien, 124–155; Hermann, Theologie, 67–90; Kjeldgaard-Pederson, Gesetz, 281–331; Leppin, Omnem vitam; Brecht, Verständnis; Führer, Artikel, 247–293. Zur Buße nach den lutherischen Bekenntnisschriften siehe Brunstäd, Theologie, 181–191; Fagerberg, Theologie, 216–237; Grane, Confessio, 106–115. – Leppin, a. a. O., weist den Einfluss der Mystik Taulers auf Luthers neues Bußverständnis nach und spricht aufgrund des Widmungsschreibens der Resolutionen zu den Ablassthesen an Staupitz (1518; bes. 1,525,4–23) von einem der Hinwendung zum neuen iustitia-Begriff (1518/19) vorgelagerten ersten Erschließungsvorgang bei Luther (etwa 1515), der diesem, durch Staupitz und Tauler vermittelt, ein neues Bußverständnis eröffnete, wonach die wahre Buße mit der Liebe zu Gott und zur Gerechtigkeit beginne. In der Opera-Vorrede (1545), die zu dem Selbstzeugnis von 1518, was den Verlauf der Entdeckung anbelangt, viele Parallelen aufweise, habe Luther dann seine Durchbruchserfahrung ausschließlich an der Rechtfertigungsbotschaft festgemacht. In seiner Lutherbiographie (Luther, 107–117, 392

Buße 229 natürlich an den Christenmenschen – tut deshalb täglich Buße, weil er auch täglich sündigt. Begründet wird dies mit dem Bußruf Jesu Mt 4,17. Luther bezieht sich hier auf seine erste Ablassthese, wo er diese Schriftstelle so interpretierte, dass nach dem Willen Jesu das ganze Leben der Christen Buße sein soll.393 Gegenüber der partiellen und isoliert vollzogen zur Heuchelei führenden sakramentalen Buße (Beichte) wird in dieser These die evangelische Buße als »Lebensbuße«394, als »Existenzform des Christen«395 verstanden, der man sich – eben weil sie auf göttlichem Gebot beruht – durch nichts entziehen darf.396 Ebenso wie die Taufe befreit Luther also auch die Buße von ihrer Einschränkung auf die sakramentale Handlung,397 und genau diesen Dispens von der das ganze Leben währenden, erst mit dem Tod beendeten Buße sieht Luther in der Ablasspraxis gegeben.398 In den folgenden Ablassthesen 3 und 4 (1,233,14–17) qualifiziert er diese Lebensbuße einmal als innere (interior), im Haß seiner selbst (odium sui) bzw. der eigenen Sünde bestehende,399 dann aber auch als äußere (exterior). Die Letztere erblickt er vor allem in der Tötung der Begierden des Fleisches (»variae carnis mortificationes«) und in guten Werken, die dem Nächsten zu Diensten sind.400 Buße ist ihm im Grunde die Nachfolge des glaubenden Menschen auf dem Kreuzesweg Christi.401 bes. 116 f.) rückt Leppin dagegen von der Vorstellung psychologisch-historisch greifbarer »reformatorischer Durchbrüche« zugunsten einer allmählichen theologischen Entwicklung ab, die Luther zu verschiedenen Zeiten (in stilisierten Berichten) jeweils unterschiedlich inhaltlich zentriert habe. Eindeutig sagen diese Berichte letztlich also nur etwas über das Selbstverständnis Luthers zum Zeitpunkt ihrer Abfassung aus. 393 Vgl. 1,233,10 f.: »Dominus et magister noster Jesus Christus dicendo: ›Penitentiam agite etc.‹ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.« Vgl. 1,530,16 f.; 1,322,12 ff.: »Contritio incipit in poenitente, sed non cessat per totam vitam usque ad mortem, et non (ut multi putant) durat per horam confessionis duntaxat.« An späteren Belegen vgl. 15,483,4 f.; 19,514,8 f. 394 Seeberg, Lehrbuch IV/1, 159. 395 Fagerberg, Theologie, 219. Vgl. Grane, Confessio, 112 f. 396 Vgl. 1,531,34–38; 534,33–36. 397 Dazu Leppin, Omnem vitam, 16, 20 ff.; ders., Luther, 121. 398 Vgl. 1,244,34–245,4; 245,26–30; 246,15–20. 399 Die innere Seite der Buße vermag Luther auch als »cor contritum et humiliatum« (1,531,38) oder als »gemitus cordis« (1,532,31) zu bestimmen. 400 1,532,12–24 werden Fasten, Gebet und Almosen als Elemente bzw. Früchte der evangelischen Buße angegeben. Vgl. 532,24 ff.30 ff.: »Quare omnes mortificationes, quas homo compunctus sibi infert, sunt de poenitentia interiore, tamquam fructus eius. […] Nam sine dubio opera bona foris sunt fructus poenitentiae et spiritus, cum spiritus non faciat nisi vocem turturis, id est gemitum cordis, radicem bonorum operum«; 653,1 ff.: »omnis interior poenitentia operatur varias carnis mortificationes exterius. […] Quia omnia opera iusti sunt poenitentiae, id est mutationes et renovationes de die in diem.« 401 Vgl. 1,533,39: »omnis vita est poenitentia et crux Christi«; 534,11: »crux illa poeniteniae«; 534,33 f.: »crux illa et mortificatio passionum«; 244,15–20. Für Luthers spätere Bußauffassung in der Auseinandersetzung mit den Antinomern vgl. bes. die erste Thesenreihe gegen die Antinomer: 39 I,345,16–347,24. Die erste These (345,16 f.) lautet: »Poe­

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Nachdem Luther die Voraussetzung seiner These bewiesen (jede menschliche Handlung ist entweder gut oder böse, neutrale Akte coram deo gibt es nicht402) und die Verurteilung dieser Voraussetzung durch das Konstanzer Konzil zurückgewiesen hat, kommt er zur Erörterung der These selbst: »Omnis Christianus quottidie penitet, quia quottidie peccat non quidem perpetrando crimina, sed non perficiendo mandata dei.« (2,408,34–36) Das Begründungsverhältnis beider Sätze ist durch das »quia« hier klar benannt. Wichtig ist auch die für das simul überhaupt geltende Präzisierung: Dass die Christen täglich sündigen, heißt nicht, dass sie crimina, also Verbrechen und grobe Sünden vollbringen, sondern dass ihr Leben die Gebote Gottes nicht vollkommen erfüllt. Denn in ihrer Gebotserfüllung ist – so kann man ergänzen – noch nicht jene vollkommene Gottesliebe, jene vollkommene Ausrichtung auf Gott gegeben, die eigentlich im Gesetz verlangt wird.403 Immer ist noch ichsüchtige Selbstfixierung und Selbstverschlossenheit (Konkupiszenz) mit dabei, die Gebote werden erfüllt, um Lohn zu erlangen oder Bestrafung zu vermeiden. Als erster biblischer Beweis gilt Luther – wie schon in der These selbst – Joh 15,1 ff., wonach der himmlische Winzer die fruchtbringenden Reben noch weiter reinigen muss: »Si sunt purgandi, sunt immundi: si immundi, sunt peccatores: si peccatores, penitentia indigent. Quare ad eos pertinet verbum Christi: penitentiam agite.« (2,408,38 f.) Klar ist, dass Luther in dieser Schlusskette mit dem peccator-Sein der Christen nicht nur das hin und wieder vorkommende aktuelle Sündigen meint – er geht vielmehr von dessen weitgehender Vermeidbarkeit aus –, sondern eben jene erbsündige, konkupiszente Verfasstheit, die dem Menschen – gleichsam wie ein Existential – bis zum Tode anhängt. Insofern ergibt sich unsere erste wichtige Erkenntnis: Es ist die Tatsache der bleibenden Sünde, also die Existenzweise des simul peccator, die es notwendig macht, dass das ganze Leben des Christen Buße ist.404 Diese besteht dann eben in dem innitentia omnium testimonio et vero est dolor de peccato cum adiuncto proposito melioris vitae.« 402 In 7. Argument gegen diesen Satz beruft sich Luther auf das simul: »Si iustus in gratia non potest facere bonum, quin simul peccet, quanto magis iniustus non facit bonum! ac per hoc concludo, aut bonum aut malum esse actum hominis quemcunque, nec dari actum medium et neutrum.« (2,408,30–33) Daraus folgt, dass es faktisch – in sich betrachtet – überhaupt keine menschlich guten Akte gibt, und auch beim Gerechtfertigten nur im Blick auf Christus. 403 Vgl. 1,606,12–607,17: »Überschüssige Werke« der Heiligen bilden nicht den Schatz der Kirche, auf den im Ablass zurückgegriffen werden könnte, weil es solche, über das von Gott Geforderte hinausgehenden Werke der Heiligen gar nicht gibt. Denn: »Nullus sanctorum in hac vita sufficienter implevit mandata dei, ergo nihil prorsus foecerunt superabundans. […] omnis sanctus debitor est dei diligendi quantum potest, immo ultra quam potest, sed nullus id fecit nec potuit. […] Ecce etiam sancti indigent misericordia in tota vita sua.« (606,12 f.25 ff.; 607,7 f.) 404 In den Resolutionen zu den Ablassthesen begründet Luther die erste Ablassthese u. a. mit der fünften Vaterunser-Bitte (1,531,14–18). Dabei bleibt der Verweis auf die bleibende Grundsünde merkwürdigerweise sehr unbestimmt und wird nur angedeutet: »vera enim

Buße 231 neren Hass und der äußeren Bekämpfung dieser konkupiszenten Grundhaltung. Man könnte sagen: Weil der Christ schon gerecht ist, kann er zeitlebens Buße tun, denn diese ist im letzten Sinn nur dem begnadeten Menschen möglich.405 sunt et non contemnanda debita, pro quibus orare iubemur, etiam si sint venialia, non tamen nisi eis remissis salvari possumus.« (531,16 ff.) Vgl. aber 534,11–15, wo auf das bleibende Sündersein verwiesen wird, welches, obschon zuvor geschwächt, erst im Tod aufhört: »tam diu crux illa poenitentiae debet durare, donec secundum Apostolum destrua­tur corpus peccati, et pereat vetustas primi Adae cum sua imagine et perficiatur novus Adam ad imaginem dei. sed peccatum manet usque ad mortem, licet quottidie minuatur per renovationem mentis de die in diem«; 554,33–555,5: »Nam in homine quantumcunque sancto reliquiae sunt vetustatis et peccati, et non possunt filii Israel in hoc tempore Jebusaeum, Cananaeum et reliquas gentes penitus delere, manet vestigium prioris Adae. Haec autem vetustas est error, concupiscentia, ira, timor, spes, desperatio, mala conscientia, horror mortis etc. Haec enim sunt veteris et carnalis hominis: minuuntur autem in novo homine, sed non extinguuntur, donec ipse exstinguatur per mortem. […] Igitur ista mala reliquiarum vetustatis per indulgentias non tolluntur, nec per coeptam contritionem, sed incipiunt tolli ac proficiendo magis ac magis tolluntur. Haec est sanitas spiritus, nihil aliud quam fides seu charitas in Christo«; 322,39 f.; 323,15 f.; 2,721,34 ff. Als späteren Beleg vgl. nur 19,513,20–515,35 (mit simul-Formulierung 515,32–35: »Mirum est cum Christiano. Sanctus est et tamen peccator propter Adam, quem adhuc secum portat. Ideo semper orant sancti pro ipso ad dominum, ne respiciat peccatum.«). 405 Der frühe Luther betont mehrfach, dass die wahre Buße erst mit der Liebe zu Gott und zur Gerechtigkeit, also von der Begegnung mit Gottes Gnade herkommend, nicht aber mit der auf sich gestellten, meritorisch gedachten menschlichen Reue beginnen könne. Vgl. nur 1,525,4–526,14; 576,2–26; 319,27–322,10; 2,421,17–422,35; 7,113,32–117,16. Wie sich dazu Luthers anderer, von ihm in den frühen Bußschriften auch nicht negierter Gedanke, wonach das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde und so zur Gnade Christi führe, verhält, dazu die spätere Systematisierung in der 1. Thesenreihe gegen die Antinomer: »Poenitentia prior pars, scilicet dolor, est ex lege tantum. Altera pars, scilicet propositum bonum, non potest ex lege esse. […]. Ideo addenda est legi promissio seu Euangelion, quae conscientiam territam pacet et errigat, ut bonum proponat. Poenitentia solum ex lege est dimidium vel initium poenitentiae seu per synecdochen poenitentia, quia caret bono proposito.« (39 I,345,22–31; vgl. 346,9 f.19 ff.; 544,2 f.16 ff.) Dass zudem erst vom Evangelium her die volle Tiefendimension der Sünde aufgeht, ist hier impliziert. Luther hat diese unterschiedliche Akzentuierung im Bußbegriff mit der gewandelten seelsorgerlichen Situation begründet: Der gegenwärtige (d. h. spätere) libertinistische Missbrauch der reformatorischen Gnadenbotschaft erfordere eine andere Akzentsetzung als die frühere Heils- und Gesetzesangst unter dem Papsttum: Jetzt sei das Gesetz stärker zu betonen, ohne dass ein Beginn der Buße mit dem Evangelium ausgeschlossen wäre, das aber sachlogisch dann als Gesetz wirke. Damals dagegen war das Gesetz nicht so sehr zu betonen, weil nur Gesetz und kirchliche Gesetzlichkeit, nicht aber das Evangelium verkündet wurde. Ob ein Mensch erst durch das Gesetz zur Erkenntnis seiner Sünde geführt werden muss, oder ob ihm – weil er schon unter ihr leidet – sogleich das Evangelium gepredigt werden kann, welches dann zur frohen Glaubensbuße führt, ist grundsätzlich eine Frage seelsorgerlichen Feingespürs, des »recte secare verbum«. Vgl. 39 I,397,12–399,6; 571,8–575,2; 30 II,670,34–671,21. Dazu O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 166–183; Haikola, Studien, 137–155; Kjeldgaard-Pederson, Gesetz, 293 ff.

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Und andererseits: Weil der Christ noch Sünder ist, muss er bis zum Tod Buße tun.406 Neben Joh 15,1 ff. führt Luther zum Erweis der täglichen, ja lebenslangen Buße eine Reihe weiterer Schriftbelege an, mittels derer er jeweils die Buße mit der bleibenden Sünde begründet: Für 1.Joh 1,8; Ps 31 (32),6 und 1.Tim 1,15 weist Luther sowohl den Einwand zurück, es handle sich hier um vergangene, nicht aber um gegenwärtige Sünde,407 als auch die These, Sünde meine hier nicht Sünde, sondern Sündenstrafe. Dagegen argumentiert er: »At concupiscere contra spiritum peccatum est, quia prohibitum praecepto dei ›Non concupisces‹. Quare hoc peccatum est proprie peccatum et per poenitentiam diluendum. […] At desyderia carnis peccata et contra legem sunt divinam, quare poenitentia pro eis opus est.« (2,409,25–29) Luther bringt hier prägnant seine Auffassung zum Ausdruck, dass schon das concupiscere Sünde, weil Verstoß gegen das 9. und 10. Gebot des Dekalogs ist. Die dazu gehörigen innermentalen »Entfaltungen« in den desyderia sind ebenfalls »contra legem divinam«. Die Buße bezieht sich deshalb nicht so sehr auf die einzelne Tatsünde, sondern auf die concupiscentia und ihre desyderia. Nach der Anführung von Lk 13,2 ff. und Lk 24,47408 ist für uns besonders die Erwähnung der fünften Vaterunser-Bitte (Mt 6,12), ja des ganzen Vaterunsers wichtig. Mit Augustinus sieht Luther in ihr die »vox poenitentiae« der Apostel und

Dass die Permanenz der Buße im bleibenden Sündersein des Gerechtfertigten wurzelt, bringt klar auch 1,649,1–13 zum Ausdruck, indem auf den lebenslangen Kampf zwischen Geist und Fleisch als zweier Willensantriebe (concupiscentia – charitas) verwiesen wird: »Ideo enim semper orare oportet ›Dimitte nobis peccata nostra‹, quia nunquam facimus aut implemus mandata dei. Nec possumus in hac vita implere […]. Sed et Paulus Ro. vii. queritur, se capitvari in legem peccati et non facere bonum quod vult. Similiter et Gal. v. Caro concupiscit adversus spiritum et spiritus adversus carnem. Haec enim sibi adversantur, ut non ea quae vultis faciatis. Istae sunt inimicitiae, quas posuit deus inter semen serpentis et semen mulieris, id est inter carnem et spiritum, inter concupiscentiam et charitatem. Ouod ergo non omni tempore poenitemus et resipiscimus, vitium est, licet impossibile sit fieri.« Da es sich bei der Opposition des »Fleisches« um einen irdisch strukturellen Sachverhalt handelt, muss gesagt werden: Der Mensch, der verpflichtet ist, Gottes Gebot zu erfüllen, kann es (letztlich) nicht erfüllen. Vgl. auch O. Ritschl, Dogmengeschichte 2, 159; Grane, Confessio, 112; Axt-Piscalar, Taufe, 171. Wicks, Living, 62, erblickt in Luthers Einsicht in das simul dessen Hauptmotiv, gegen den Ablass, als die lebenslange Buße untergrabend, theologisch zu intervenieren. 407 Vgl. 2,409,5 f.: »Quare quottidie peccamus et quottidie peccatum purgamus: ita ergo penitemus.« D. h. wir sind täglich Sünder, nicht nur im Sinne leichter peccata actualia, sondern des Sünderseins! 408 Zu diesem Vers macht Luther die Anmerkung: »Ecce totum Evangelium nihil est quam praedicatio poenitentiae: ergo vita Euangelica est aliud nihil quam poenitentia.« (2,409,34 f.) Hier wird die umfassende, die Sündenvergebung einschließende Bedeutung des Begriffs der Buße bei Luther sichtbar. Er wird zum Leitbegriff christlichen Lebens und umschließt das Ganze des Heilsgeschehens in Gesetz und Evangelium. Dazu unten Anm. 411. 406

Buße 233 heiligen Gottessöhne, die nicht um Bewahrung von Sündenstrafen, sondern um echte Sündenvergebung bitten.409 Auch in den anderen Bitten der sanctissimi (!) um die Heiligung des Gottesnamens, das Kommen seines Reiches und das Geschehen seines Willens geht es um das darin implizierte Sündenbekenntnis der Heiligen: Sie bekennen damit, dass diese Gebetsanliegen in ihnen schuldhaft noch nicht realisiert sind und sie dahinter zurückbleiben. »At haec omnia sunt debita culpae et peccata contra legem dei. […] Et ita patet, quod sola oratio dominica nos docet, Primo esse nos quottidianos peccatores et semper peccare, Deinde totam vitam esse poenitentiam et orationem et contritionem.« (2,410,10–15) Luther artikuliert hier nochmals treffend den von uns schon herausgearbeiteten Zusammenhang von bleibender Sünde (simul) und Lebensbuße.410 Abschließend verweist er auf verschiedene apostolische Mahnungen (Kol 3,5; Röm 8,13; 12,2; 13,14; Gal 5,24): »Quae omnia eo tendunt […], quod assidue poenitendum sit, quia peccatum fomitis assidue movetur et nova desyderia profert.« (2,410,22–24) Grund der ständigen Buße ist also das peccatum fomitis, nicht in erster Linie diese oder jene Tatsünde. Das peccatum fomitis entfaltet sich – wie schon erwähnt – in diversen desyderia, ohne dass diese schon als Tatsünden zu qualifizieren wären.

3.1.2 Dritte Thesenreihe gegen die Antinomer (1538) Das gewonnene Ergebnis über den Zusammenhang von simul-Realität und Bußcharakter des ganzen christlichen Lebens wird durch Luthers Behandlung des Bußthemas im Kontext der Antinomerdisputationen bestätigt und erhärtet. Denn Luther sieht in der Leugnung der bleibenden Geltung des Gesetzes in der Kirche genau jene evangelische Lebensbuße in Frage gestellt. Ein Bußruf allein aufgrund des Evangeliums – wie ihn die Antinomer forderten – ist ihm unmöglich, weil eben die radikale Offenlegung der Sünde des Menschen unaufhebbar an das Gesetz gebunden ist. Luther möchte den bleibenden Bußcharakter des christlichen Lebens aufzeigen, um so diese unverzichtbare, die Sünde manifestierende Bedeutung des Gesetzes auch bei den Christen zu sichern. Beides gründet aber in der dem Menschen zeitlebens anhaftenden Erbsünde. Dabei sieht Luther sich in einer doppelten Frontstellung: Gegenüber den Antinomern ist die »poenitentia ex

Von ihren Sünden heißt es: »venialia quidem sunt, sed mortalia erunt, nisi remittantur.« (2,410,3) 410 Zum Erweis der bleibenden Sünde bezieht Luther sich auch in der Assertio (7,107,29– 37) sowie in »Grund und Ursach« (7,337,36–339,14) auf das Vaterunser. In der lateinischen Fassung führt er aber nur die ersten drei Vaterunser-Bitten, nicht aber, was doch naheläge, die fünfte Bitte an. Im deutschen Text wird dies damit erklärt, dass die letztere Bitte sich auf die Schuld vergangener (Tat)sünden beziehe und allein die ersten drei auf die »übriggebliebenen« gegenwärtigen Sünden zielen. In diesen Bitten wird also für Luther das peccatum remanens und damit das simul primär zum Ausdruck gebracht. Zum Vaterunser als »Spiegel« der Sündigkeit des Menschen vgl. schon Luthers Auslegung von 1519 (2,80,1–130,19). 409

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lege« zu verteidigen, zugleich ist aber das falsche Bußverständnis der römischen Gegner zurückzuweisen. Für unsere Fragestellung ist besonders die dritte Thesenreihe gegen die Antinomer aufschlussreich, über die Luther aber keine Disputation gehalten hat (39 I,350–352).411 In den ersten vier Thesen wendet sich Luther gegen das Bußverständnis der römischen Kirche, das er mit dem der Türken, Juden, ja aller Ungläubigen und Heuchler in eins sieht (350,8 f.). Dessen kennzeichnendes Element liegt darin, dass der Bußschmerz sich hier nur auf bestimmte Tatsünden (peccata actualia) bezieht und die Buße als satisfactio für diese aufgefasst wird (350,10 f.). Diese Buße ist folglich partikulär und nur temporär (350,11 f.). Luther hat hier sicher den Vollzug der sakramentalen Beichte im Blick, der sich im Dreischritt von contritio, confessio und satisfactio vollzog, wobei zwischen dem zweiten und dritten Glied die priesterliche Absolution erfolgte. Dieses eingeschränkte, ja falsche Verständnis der Buße führt Luther auf eine Verkennung der Erbsünde (peccatum originale) zurück, wird diese doch nicht als »corruptio et perditio […] totius naturae« (350,14 f.) gesehen, sondern – wie man ergänzen kann – nur als Verlust der in der Taufe wiedererlangten iustitia originalis und als vorwiegend in der Sinnlichkeit lokalisierte concupiscentia, die zwar nach der Taufe bleibt, aber für sich – ohne zustimmende Tat – keine Sünde ist. Die natürlichen, insbesondere

Zu dem von uns referierten Gedankengang aus der dritten Thesenreihe sind aus der ersten Antinomerdisputation 39 I,394,9–399,6; 408,5–409,24 zu vergleichen. – Auf Luthers später gewandelten Bußbegriff haben wir schon in Anm. 405 hingewiesen. Betonte Luther früher, dass die wahre Buße mit der Liebe zu Gott bzw. Christus sowie zur Gerechtigkeit, also vom Evangelium her beginne, ohne dass das Gesetz daran völlig unbeteiligt wäre, so strukturierte er später die verschiedenen Stufen der Buße klar von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium her: Die Gesetzesbuße als gottgewirkte (und in diesem Sinne »passive«: 39 I,104,11–28; 276,6–278,5; BSLK 437,2 ff.) Erkenntnis der Sünde ist von der Glaubensbuße als Vorsatz neuen Lebens zu unterscheiden. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass auch durch das Evangelium die Buße beginnen könne, nur wirkt dieses dann als Gesetz, als die Sünde anklagendes Gotteswort (39 I,401,4–402,7; 407,13 ff.; 534,11–537,5). In den Schmalkaldischen Artikeln subsumiert Luther unter dem Bußbegriff den usus elenchticus legis als Anfang der rechten Buße und die im Glauben ergriffene tröstliche Verheißung des Evangeliums als deren zweiten Teil: BSLK 436,17– 438,6. Ähnlich 40 II,317,34–318,20. Dieses Bußverständnis hat Luther mehrfach anhand von Lk 24,47 entwickelt. Vgl. z. B. 21,250,8–264,35; 34 I,301,5–310,4. Dem korrespondiert das Bußverständnis in CA 12 (BSLK 66,15–67,11: Die Buße besteht aus contritio und fides, aus der die guten Werke folgen) und Apol. 12 (BSLK 252,30–272,33). Die Buße wird damit zum Inbegriff des christlichen Heilsweges und seiner einzelnen »Etappen«. Sie ist nichts anderes als die Rechtfertigung in actu: Es geht im Ganzen und immer neu um den Schritt vom Gesetz zum Evangelium, um die Abkehr vom alten und die Hinkehr zum neuen Menschen. Man muss bei Luther und den Bekenntnisschriften mithin einen engen (Gesetzesbuße) und einen weiten Bußbegriff (d. h. auch den Glauben und den Vorsatz neuen Lebens einschließend) unterscheiden. Vgl. Brunstäd, Theologie, 182–186; Fagerberg, Theologie, 219–227; Grane, Confessio, 111 ff.; Führer, Artikel, 255 f., 265, 293. 411

Buße 235 geistigen Fähigkeiten des Menschen bleiben in dieser Sicht von der Erbsünde weitgehend unberührt.412 In den Thesen 5–16 expliziert Luther die poenitentia fidelium. Sie geht über die Aktualsünden hinaus, ist »perpetua« und dauert »usque ad mortem per totam vitam« (350,16 f.).413 Auf sie bezieht sich eigentlich der Bußruf Christi Mt 4,17 (350,21 f.). Luther begründet nun die Notwendigkeit solcher lebenslangen Buße mit der auch bei den Christen fortdauernden Erbsünde: Es gilt, morbus und peccatum naturae bis zum Ende zu verachten und zu hassen (350,18 f.). »Toto enim tempore vitae durat peccatum in carne nostra, et adversatur spiritui sibi adversario.« (350,22 f.)414 Das christliche Leben besteht also in einem Zugleich von bleibender Sünde und Geist-Wirklichkeit, die miteinander im Streit liegen. Von daher sind alle Werke nach der Rechtfertigung nichts anderes als »poenitentia seu bonum propositum contra peccatum« (350,24 f.). Es wird in ihnen nichts anderes vollzogen, als dass die durch das Gesetz offenbarte und in Christus vergebene Sünde »ausgefegt« wird (expurgetur; 350,26 f.). Dabei kommt diesem Kampf gegen die Sünde, dessen eigentliches Subjekt letztlich der Heilige Geist ist,415 keinerlei satisfaktorische oder rechtfertigende Bedeutung zu, in dieser Hinsicht verlässt sich

Vgl. 39 I,395,6–16: »[Papistae] arripiunt aliquod peccatum actuale, et rem levem esse putant et momentaneum, quae possit aboleri contritione, confessione et satisfactione. Usi sunt etiam absolutione, sed revera absolutio non erat. Non enim consolabantur verbo Dei confidentes nec certos reddebant, per Christi satisfactionem illis peccata condonata, sed civilia quaedam opera imponebant. Deinde prorsus tollebant originale peccatum, dicentes esse quandam infirmitatem in natura, quam vocabant fomitem. Ideo omnes papistae, Iudaei, Turcae habent poenitentiam tantum de actualibus peccatis […], cum pro his dolent et satisfaciant operibus et cultis electilibus, putant Deum esse placatum et contentum. Illi non agnoscunt, quid sit poenitentia, multo minus poenitentiam agunt«; 396,13–397,3, 409,6–21; BSLK 438,8–449,4, bes. 438,8–18: »Unmuglich ist’s gewest, dass sie sollten recht von der Buße lehren, weil sie die rechte Sunde nicht erkenneten; denn […] sie halten von der Erbsunde nicht recht, sondern sagen, die naturlichen Kräfte des Menschen seien ganz unverderbt blieben […]. Hieraus musste folgen, dass sie allein die wirklichen Sunde bußeten als bose bewilligte Gedanken (denn bose Bewegung, Lust, Reizung war nicht Sunde), bose Wort, bose Werk, die der freie Wille wohl hätte kunnt lassen.« 413 Vgl. 39,I,394,14–20: »Nam tota vita fidelium exercitium est et odium quoddam contra reliquias peccati in carne, quae murmurat contra spiritum et fidem. Sentiunt subinde pii terrores [legis]. Ibi pugnat fides contra diffidentiam et desperationes, item contra libidinem, iram, superbiam, vindictam etc. Ista pugna manet in piis, donec vivunt […]. Habent ergo dolorem et odium peccati coniunctum cum fide«; 395,18: »poenitentiam piorum esse perpetuam«; 398,14–20; 409,16 ff., bes. 16 f.: »Haec [poenitentia] durat per omnem vitam.« 414 Vgl. 39 I,346,19 ff.: »Cum secundum Evangelion [propositum bonum] sit impetus Spiritus sancti, peccatum deinceps ex amore detestans, rebellante licet interim fortiter peccato in carne«; BSLK 447, 20–27, bes. 20 ff.: »Und diese Buße währet bei den Christen bis in den Tod; denn sie beißt sich mit der ubrigen Sunde im Fleisch durchs ganze Leben.« Es folgt ein Verweis auf Röm 7,23. Ferner 44,473,6–31. 415 Vgl. 39 I,395,22 ff.; 398,16 ff. 412

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der Gläubige ganz und allein auf Christus.416 Luther rekurriert auch an dieser Stelle417 auf das Bild von den im eroberten Land Kanaan verbliebenen Jebusitern, welche die Söhne Israels vertreiben mussten, was nicht einfacher war, als das Land einzunehmen. Ebenso ist es für die Christen nicht leichter, »per poenitentiam perpetuam reliquum peccati persequi, quam a principio incoepisse destari« (350,28–33). Luther formuliert ausdrücklich das simul, wenn ihm zufolge die »sancti et iusti« – durch den gottgewollten Dienst des Gesetzes – über die Sünde trauern und dennoch (tamen) – zugleich (so könnte man ergänzen) – in der Gnade stehen und sich in Gott freuen dürfen (350,34–37).418 Dieser Schmerz über die Sünde erfüllt die sancti auch dann, wenn sie sich keiner Tatsünde bewusst sind, eben weil er wesentlich im tiefer liegenden peccatum reliquum gründet: »Imo nullum actuale peccatum allegant, et tamen mirabiliter clamant et petunt gratiam Dei, ut est in Psalmis videre.« (350,37 f.) Dies führt dann zu der Konsequenz, dass die Buße nicht nur das ganze Leben über währt, sondern sich auch auf das ganze Leben bezieht, weil in all seinen Fasern die Erbsünde noch präsent ist. In diesem Sinn ist die Buße nicht »stucklich und bettelisch«.419

Vgl. 39,I,396,24–397; 409,16 ff.; BSLK 447,7–10. Weil der Glaubende Christus derart »im Rücken hat«, ist seine continua poenitentia nicht mühsam und beschwerlich, sondern »iucunda et facilis«: 39 I,398,14 ff. 417 Ebenso schon 1,554,33–555,5 (s. o. Anm. 404). 418 Auch beim späten Luther stellt sich mitunter die Gefahr ein, dass – ähnlich wie in der Römerbriefvorlesung – die Trauer und der Schmerz über die bleibende Sünde die Freude über die empfangene Gnade und Vergebung zu dominieren drohen: »Plus est tristitiae in piis mentibus de peccatis et metu mortis, quam gaudii de donata vita et inennarabili gratia per Christum. Luctantur quidem contra diffidentiam istam et per fidem eam vincunt, tamen semper redit iste spiritus tristiciae. Ideo manet poenitentia in ipsis usque ad mortem.« (39 I,394,23–395,4) Luther erblickt darin freilich eine unvollkommene Faktizität des Christenlebens, die es durch Glaube und Buße zu bekämpfen gilt, keinen Idealzustand. Dennoch gehört es für ihn – unter Berufung auf Staupitz – zum christlichen Leben, den Tod herbeizusehnen, weil nur er das Ende des Sündigens bringen kann (394,21 ff.). 419 Vgl. BSLK 446,15–24: »Diese Buße lehret uns, die Sunde erkennen, nämlich dass mit uns allen verloren, Haut und Haar nicht gut ist und mussen schlechts neu und ander Menschen werden. Diese Buße ist nicht stucklich und bettelisch wie jene, so die wirklichen Sunde bußet, und ist auch nicht ungewiß wie jene; denn sie disputiert nicht, welchs Sunde oder nicht Sunde sei, sondern stoßt alles in Haufen, spricht es sei alles und eitel Sunde mit uns. Was wollen wir lange suchen, teilen oder unterscheiden?«; 453,10 f. Nach Fagerberg, Theologie, 223 ff., 234 f., gründet die Auffassung von der contritio als totales Gericht über unser Leben für die Reformatoren neben dem Schriftzeugnis und der Rechtfertigung sola fide in der »Anthropologie des Luthertums und seiner Lehre von den Affekten«: »Die böse Lust ist Sünde, ganz gleich, ob sie die Zustimmung des menschlichen Willens findet oder nicht. […] Da der Mensch durch das Spiel der Affekte Gottes Forderung auf der ersten Gesetzestafel nicht erfüllen kann, gilt das Gericht seinem ganzem Leben.« (224) Siehe auch Haikola, Studien, 151 f.; Axt-Picalar, Taufe, 183. 416

Buße 237 Luther beruft sich in den Folgethesen 17–27 ebenfalls auf das Vaterunser (explizit allerdings nur auf die ersten drei Bitten420), das »poenitentiae pars« und »doctrina legis plena« ist (351,1 f.). Jeder, der dieses Gebet wahrhaftig spricht, bekennt damit, dass er gegen das Gesetz sündigt und Buße tut (351,3 f.). Ist es doch gerade der Inhalt dieser Bitten, der den innersten Kern des Gesetzes ausmacht, und beweist doch die Form der Bitte, dass ihm noch nicht vollkommen Genüge geschehen ist, die Beter also Sünder sind. »Hanc orationem oportet ab Ecclesia tota orari usque in finem mundi et a quolibet sancto usque ad mortem. Quia tota Ecclesia sancta est et agnoscit sese peccatum habere et perpetuo poenitentiam agendam esse.« (351,17–20) Die (von Christus her) heilige Kirche erkennt also, dass sie (von sich her) Sünde, und zwar nicht nur Tatsünde, hat und deshalb beständig Buße tun muss. Dies geht ihr im Beten des Vaterunsers auf, welches so Teil der Buße und Vollzug des überführenden Werks des Gesetzes ist. Auch für den späten Luther gründet folglich die lebenslange Buße des Christen bzw. der Kirche und die fortdauernde Funktion des Gesetzes in der Kirche wesentlich im bleibenden peccatum originale, in der Wirklichkeit des simul. Dabei ist auch in den Antinomerthesen offenkundig, dass nur der Gerechtfertigte Buße im Vollsinn tun kann, er aber auch wegen seines bleibenden Sünderseins Buße tun muss.

3.2 Die Situation konkreter Buße als Erkenntnisgrund des »simul« Der vorangegangene Abschnitt führte zu dem Ergebnis, dass für Luther die Notwendigkeit lebenslänglicher Buße beim Christen in der bleibenden Sünde und damit im simul gründet. Dieses ist gleichsam der Seins- oder Realgrund solcher Buße. Für Luther besteht aber noch ein zweiter Zusammenhang zwischen simul und Buße: Die Situation konkreter Buße bildet ihrerseits den Erkenntnisgrund für das simul bzw. für die zeitlebens bleibende Sünde. An einer konkreten schweren Verfehlung geht dem glaubenden Menschen auf, wie sehr er immer noch Sünder ist. Dies wird gut deutlich an Luthers Auslegung des 51. Psalms aus dem Jahr 1532, die Veit Dietrich auf der Grundlage von Georg Rörers Nachschrift bearbeitet und 1538 veröffentlicht hat und welche einen der wichtigsten Texte der Theologie des späten Luther darstellt. Der Psalm handelt Luther zufolge von der Buße, erläutert in diesem Zusammenhang aber die »Hauptstücke unserer Religion«, nämlich Buße, Sünde, Gnade und Rechtfertigung samt des Gottesdienstes, den wir Gott darzubringen haben (40 II, 315,22.28 ff.).421 So gestaltet sich auch Luthers Kommentierung des Psalms zu einer großen Behandlung des Grundthemas seiner Theologie: der Lehre von Sünde und Rechtfertigung, die es gegen die römischen Vgl. dazu Anm. 410. Alle Zitate beziehen sich, wenn nicht anders notiert, auf 40 II. Zu Luthers Kommentierung von Ps 51 in der Enarratio vgl. Brush, Gotteserkenntnis, 127–237; Batka, Peccatum. 420 421

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und schwärmerischen Verzeichnungen in ihrem Wahrheitsgehalt zu sichern gilt. Die Lehre von der wahren Buße (Luther gebraucht jetzt den weiten Bußbegriff) umfasst für ihn zwei Stücke: die Erkenntnis der Sünde und die der Gnade (»cognitio peccati et cognitio gratiae«) bzw. die Furcht Gottes und das Vertrauen auf seine Barmherzigkeit (»timor Dei et fiducia misericordiae«; 317,34–37; vgl. 318,19 f.). Expliziert der Psalm die »Lehre der geistlichen Religion«, die »allgemeine Lehre des Gottesvolkes« zu allen Zeiten, so deshalb, weil er die »cognitio Dei et nostri« lehrt (326,31 ff.), wie ja auch das spezifische Grundthema der Theologie der sündenverklagte und verlorene Mensch und der rechtfertigende und rettende Gott ist.422 Die Situation konkreter Buße wird zum Erkenntnisgrund für das simul bzw. für die bleibende Präsenz der Sünde im gläubigen (bzw. christlichen) Leben. Wie man zu dieser These kommt, wird deutlich, wenn man mit Luther die Überschrift des Psalms in dessen Verständnis einbezieht: Sie bestimmt den Psalm als Bußgebet des Königs David nach seinem Ehebruch mit Batseba, der Frau des Hetiters Urija, den David an die Kriegsfront schickte, um sich seiner auf diese Weise zu entledigen. Ein Plan, der gelingt, aber Davids Sünde wird durch eine Gleichniserzählung des Propheten Nathan aufgedeckt und der König so zu Selbsterkenntnis und Buße geführt (vgl. 2.Sam 11–12). Für Luther ist in dieser Überschrift durchaus etwas Richtiges erkannt, aber man darf bei ihr nicht, wie die römischen Gegner es tun, stehen bleiben. Denn entscheidend ist, dass dieser Psalm bzw. David selbst den Schritt tut von der Erkenntnis der schweren Tatsünden hin zur Erkenntnis der sündigen Verfasstheit bzw. des Sünderseins der Person, das auch bei einem so frommen König wie David nicht verschwunden ist und welches gleichsam die Wurzel und Ursache dafür darstellt, dass er eine so schwere Tatsünde wie Ehebruch und Mord begehen konnte. Luther wehrt sich folglich dagegen, den Psalm ausschließlich oder primär auf die Aktualsünde (peccatum actuale) und die auf diese bezogene Buße zu beziehen. Sünde wird dann verstanden als Wort, Tat oder Gedanke gegen das göttliche Gesetz. Aber diese Definition ist viel zu eng, als dass sie Größe und Kraft der Sünde in den Blick bekäme: »Altius enim peccatum inspiciendum et radix impietatis seu peccati clarius ostendenda erat, non simpliciter erat resistendum in actibus elicitis.« (316,32 ff.)423 Dieses tiefere Verständnis der Sünde, von dem für Luther auch das rechte Verständnis der Gnade abhängt, stellt sich aber dann ein, wenn man den Schritt von den Früchten zum Baum und dessen Wurzel, d. h. von der Aktualsünde zur Ursprungs- oder Personsünde tut: »Sed nobis longius progrediendum est nec resistendum in peccatis illis exterioribus, sed tota peccati natura, fons et origo intuenda est: loquitur enim Psalmus de toto peccato seu de radice peccati, non solum de externo opere, Vgl. 327,17–328,20, bes. 328,17 f.: »Nam theologiae proprium subiectum est homo peccati reus ac perditus et Deus iustificans ac salvator hominis.« 423 Die Hs ist hier prägnanter als der Dr: »Non inspexerunt profundius definitionem peccati: esse radicem et morbum ipsum; non ista cogitaverunt, quamquam propheta claris verbis diceret: ›In peccatis conceptus sum‹.« (316,10–12) 422

Buße 239 quod ceu fructus ex arbore peccati et radice enascitur.« (319,21–24)424 Luther will nicht bestreiten, dass der Psalm auf die ganze, sich an den Ehebruch anschließende Kette von Tatsünden Davids Bezug nimmt – der König sündigt fast gegen den ganzen Dekalog und verdrängt und leugnet zunächst sogar seine Sünde –425, er will nur festhalten, dass der Blick tiefer, auf den bösen Quellgrund des Ganzen, das peccatum radicale, durchdringen muss. Wichtig ist für Luther nun, dass so etwas David passiert, der dadurch mit seiner Sünde zum leuchtenden Beispiel der Gnade und Sünde wird. Denn wenn die Schrift selbst uns das alles nicht berichtete, wer würde jemals glauben, dass ein solcher »vir tam sanctus«, erfüllt vom Heiligen Geist und allen göttlichen Gaben, so tief zu fallen vermag (320,28 ff.)!426 Doch derart biblisch bezeugt, wird Davids Geschichte uns zum exemplarischen Fall, der uns trösten kann, wenn wir selbst in Sünde fallen oder die Gewissen den Zorn und das Gericht Gottes spüren. Denn hier scheint wie in einem Brennpunkt die Güte und Barmherzigkeit Gottes auf, der vergeben und rechtfertigen will, wenn wir nur unsere Sünde nicht leugnen (321,17–23). Dass der Heilige in so große Tatsünde geraten kann, offenbart aber – als den Möglichkeitsgrund all dessen – das bleibende Vorhandensein der Erbsünde. Auch der glaubende Mensch ist weiterhin Sünder und deshalb von einem derart schrecklichen Fall ständig bedroht, vor ihm niemals völlig gesichert. An der Erkenntnis seiner konkreten Sünde wird David seine sündige Natur offenbar: »Nam in his suis peccatis videt David ceu in speculo totius naturae impuritatem. […] Ex uno igitur peccato venit in cognitionem totius peccati, quasi diceret: Si ego, tantus vir, sic quasi de coelo in infernum usque prolapsus sum, an non magnum mihi et aliis hic lapsus documentum est, nihil boni esse in carne mea?« (321,35–322,18)427 Luther legt Wert darauf, dass Vers 6 des Psalm im Präsens zu verstehen ist: »An dir allein sündige ich!« Also nicht nur: »An dir allein habe ich gesündigt.« Geht es doch um die Erkenntnis Davids, dass er weiterhin Sünder ist und deshalb so schwer sündigen kann! »›Tibi soli pecco‹, hoc est, agnosco me coram te nihil Vgl. 319,8 ff. (Hs): »dicimus, psalmum ultra loqui de toto peccato et radice. Ipsi solum de fructibus peccati interpretati, nos de arbore.« Äußerst ernüchternd ist die Feststellung 365,4 (Hs): »kans morgen wol wider tun.« Nach Brush, Gotteserkenntnis, 157, wird David zur »Wahrnehmung der Grundsituation des Menschen« geführt. Ferner Batka, Peccatum, 93–106. Mit dieser Interpretationslinie kehrt Luther das Gefälle der vorreformatorischen, vorwiegend auf die peccata actualia zielenden Auslegungstradition von Ps 51 um. Dazu Brush, a. a. O., 73 f. Vgl. auch 21,256,23–35. 425 Vgl. 320,9 ff. (Hs): »Das Exempel ist gut et historia etc., quia leufft per totum decalogum, quia tam bonus non fuisset, ut venisset ad cognitionem sui, sed occultando, dissimilando etc.« 426 Vgl. 320,15–321,2 (Hs): »Sic posse revera labi virum sic repletum donis dei, divina cognitione, sapientia, prophetia et omnibus dotibus, et tamen sic cadit.« 427 Vgl. 322,4 f. (Hs): »Ergo scientia in posterum, scire, simpliciter nihil esse in nobis quam peccatum.« 424

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esse quam peccatorem. […] Ad hunc modum mutatio temporis praeteriti in praesens abducit nos ab actuali peccato in peccatum universale.« (365,35–366,17)428 Dieses »peccatum universale«, das alle Schichten des Menschen und die ganze Menschheit erfasst hat (366,9 f. [Hs]), ist zugleich ein »perpetuum peccatum«, das erst mit dem Tode aufhört.429 Dass der David des Psalms diesen Erkenntnisweg zurücklegt, wird Luther an Vers 7 vollends deutlich, einem der loci classici der traditionellen Erbsündenlehre: »Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.« David nennt hier die Ursache der Sünde, gleichsam das Fundament der ganzen Sache, warum er sich als Sünder bekennt und Gottes Barmherzigkeit erfleht: »Non dicit: Occidi Uriam, Non dicit: Commisi adulterium, sed totam humanam naturam ceu uno fasce complexus dicit: ›In peccatis conceptus sum‹.« (380,18 f.) David geht mithin in der konkreten Bußsituation angesichts schwerer Tatsünden die erbsündige Verfasstheit der menschlichen Natur überhaupt auf, welche gleichsam die Wurzel der bösen Tat ist, ohne dass er selbst dadurch entschuldigt wäre. In der Situation des Gebets und des Schuldbekenntnisses kann der Mensch sich vor Gott nur als Sünder bekennen – und zwar, wie die angeführten Zitate belegen, als totus peccator!430 Dieses Sündersein des Menschen lässt sich nun aber in der Perspektive Luthers nicht auf den unbekehrten, nichtglaubenden Menschen beschränken, ist David doch als frommer König ein Heiliger, ein herausgehobenes Glied des Gottesvolkes. David ist ein Glaubender, einer der aus der Rechtfertigung Gottes lebt! Es liegt also hier ein echtes simul iustus et peccator vor.431 Auch läßt Vgl. auch 365,16–32; 362,5–15 (Hs) zu Ps 51,5: »›Quia peccatum coram‹, ligt mit auff dem hals, kans nicht los werden. Psalmus debet intelligi de universali peccato, non solum de adulterio Davidis. […] perdite vixi, so sols heissen; quicquid facio et feci, das ist mit trecke versigelt. Si non accipis psalmum universaliter, non wird hin durch reissen. […] Nihil potest dici coherenter, nisi accipias peccatorem universalem et peccatam suam [peccatum suum?] totam vitam cum suis iusticiis.« 429 Vgl. 368,7 f. (Hs): »qui casus [die Sünde Davids] fuit fructus istius perpetui peccati, in quo vivimus et moriemur.« 430 Vgl. dazu Abschnitt 3.4. 431 Allerdings ist für Luther (vgl. BSLK 448,19–449,4) David durch seine offensichtlichen Kapitalvergehen aus dem Stand des simul herausgefallen, weil damit eo ipso auch eine Verleugnung des Glaubens und eine Abweisung des Heiligen Geistes vorlag. Die Sünde hat erneut die Oberhand gewonnen und den Menschen ganz ergriffen. Deshalb darf die These von der lebenslangen Buße und täglichen »Bekehrung« des Christen nicht so ausgelegt werden, als ob Luther überhaupt keinen Unterschied zwischen der Bekehrungsbuße und der Christenbuße kenne. Denn er differenziert sehr wohl zwischen der Situation offenkundiger Gottlosigkeit und elementarer Verletzung göttlicher Gebote, habitueller Selbstgerechtigkeit und Verstockung (z. B. »offenbärliche halsstarrige Sunder«, über die der Kirchenbann verhängt werden kann [BSLK 456,22–457,4]) einerseits und der Situation des permanenten Mitgesetztseins von Unglaube und Ichsucht in Glaube und Liebe und den daraus resultierenden leichten täglichen Vergehen andererseits. Nur Letzteres be428

Buße 241 sich die Permanenz der Sünde nicht auf das Alte Testament abdrängen in dem Sinn: Was für David gilt, trifft nicht für die Christen zu! Nein, David spricht für Luther im Namen aller Heiligen, des ganzen über die Zeiten hin sich erstreckenden Gottesvolkes.432 Dieses vereint Juden und Christen im Glauben an Christus, sei es an den kommenden oder an den gekommenen.433 David ist darum für Luther ein an Christus Glaubender, sofern er überhaupt ein glaubender Mensch ist. Somit lebt er aus der Rechtfertigung durch Christus. Von daher können und müssen die von ihm im Psalm getroffenen Aussagen über das Zugleich von Sünde und Gerechtigkeit auch auf die Christen übertragen werden.434

3.3 Das »simul« in der Auslegung von Bußpsalmen In diesem Abschnitt untersuchen wir das Vorkommen und die spezifische Akzentuierung des simul in »Bußtexten« Luthers, d. h. in seinen Auslegungen der Bußpsalmen. Dazu ziehen wir neben der späten Auslegung des Psalms 51 auch Luthers Auslegung der sieben Bußpsalmen aus dem Jahr 1517 heran, die als »authentisches Kompendium« seiner frühen Theologie435 gelten kann. Dabei gehen wir auf die theologischen Differenzen zwischen beiden weit auseinanderliegenden Luthertexten nicht ein. Bei einem Vergleich dürften sich jedoch ganz ähnliche Ergebnisse einstellen, wie wir sie oben für die Römerbriefvorlesung und den Gro-

schreibt für Luther den Stand des simul! Insofern ist auch innerhalb der Buße zumindest gedanklich zu differenzieren, ohne dass dieser Unterschied empirisch jederzeit greifbar wäre. Vgl. O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 170 f., 183; Christe, Gerecht, 74. Deshalb sind die Ausführungen Haikolas, Studien, 145 f., 153 f., einzuschränken, der aufgrund der Permanenz der christlichen Buße zu dem Schluss kommt: »Deshalb braucht Luther keinen Unterschied zwischen ›Bekehrungsbuße‹ und ›Christenbuße‹ machen. Die wahre Buße ist immer beides in einem.« (145 f.) 432 Vgl. 365,17 f.: »David loquitur in persona omnium sanctorum«; 364,11 f. (Hs): »Psalmus loquitur in persona omnium sanctorum, qui etiam nihil fecerunt.« 433 Vgl. zu dieser von Luther oft geäußerten Auffassung 400,18–21; 401,16 ff.; 403,22–39. 434 Vgl. 408,33–36. – Diese hermeneutische Ausweitung wird schon in der Auslegung der sieben Bußpsalmen von 1517 vollzogen: In ihnen – gerade auch in den Aussagen über die bleibende Sünde der Heiligen – spricht und betet Christus selbst, aber für uns, an unserer Stelle, so dass auch die gegenwärtigen Christen in und mit seinen Worten sich als Sünder erkennen und bekennen müssen. Vgl. 1,158,1 f.; 159,32 f.; 175,17–22. Dazu Bayer, Promissio, 145 f. 435 So Bayer, Promissio, 144, 146 f. Zu dieser ersten Publikation Luthers vgl. ebd., 144– 158; Aland, Weg, 85–102; Süß, Bußpsalmen; Florin, Hass; Brush, Gotteserkenntnis, 112– 125 (zu Ps 51). Florin, a. a. O., 195–257, führt einen detaillierten Vergleich der Fassung von 1517 mit der Neubearbeitung des Textes 1525 (18,479–530) durch, wobei er stärker als Aland, der zwischen beiden Fassungen die reformatorische Wende ansetzt, die Kontinuität betont.

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ßen Galaterkommentar gewonnen haben.436 Die Situation der Buße, in Gebet und Bekenntnis der Sünde vor Gott artikuliert, ist Luther ein »klassischer« Ort, das simul zur Sprache zu bringen. Dabei steht es hier immer so, wie schon angedeutet: Der Christ kann seine eigene Situation in der des ursprünglich alttestamentlichen Beters wiedererkennen und diese Texte im eigenen Gebet nachsprechen.

3.3.1 Die sieben Bußpsalmen (1517) Zu Ps 6,2 (»Ach Gott, strafe mich nicht in deinem Zorn«) führt Luther 1517 aus, dass Gott auf eine doppelte Art zu strafen vermag: einmal in Gnaden, als guter Vater und zeitlich begrenzt und zweitens im Zorn, als strenger Richter und ewig. Der Psalmist bittet nun darum, dass Gott ihn in der ersten Weise strafen möge – wie ein Kind vom Vater gestraft werde. Die Tatsache, dass hier Gott noch straft, beweist, dass diese Worte von einem Sünder bzw. von Christus im Namen der Sünder gesprochen werden, denn Gott straft nicht, wo Gerechtigkeit vorliegt. Da es andererseits Heilige sind, die den Psalm beten, schließt Luther: »darumb mußen alle heyligen und christen sich sunder erkennen und gottis gericht furchtenn, dann dißer psalm allen gemeyn ist und niemand aus tzeugt.« (1,159,35 f.) Das Schlimmste wäre, sich nicht zu fürchten, die Sünde nicht zu fühlen und selbstsicher dem Gericht Gottes entgegenzugehen, »vor wilchem doch keyn gut werck genugsam seyn kann« (1,160,1 f.). Auch im Leiden bewahren die Heiligen Gott gegenüber die »Gunst«, die sie das Lob Gottes an die erste Stelle setzen lässt. Das allein rettet sie, »sunst seyn sie allerweys gleych den vordampten« (1,162,7 f. 10 ff.; zu Ps 6,5). Bei der Behandlung von Ps 32,6 (»Um ihretwillen [der Sünden] werden auch alle deine Heiligen vor dir bitten«) heißt es, »darumb werden sie heylig seyn, das sie yr boßheit dir clagen und gnade bitten, und mercklich vor dir« (1,170,31 f.). Die Heiligen wissen, dass vor Gott ihre Heiligkeit nichts gilt, »sundern demutig deiner gnaden warten« (1,170,34). Die Heiligen sind also nicht »in sich« heilig, sondern gerade deswegen, weil sie ihre Sünde vor Gott klagen und um Gnade bitten – und sind so Heilige und Sünder zugleich.437 Demgegenüber sind gerade Selbstsicherheit und Nichterkenntnis der eigenen Sünde die Kennzeichen der falschen, nur »scheinenden« Heiligen.438 In der Kommentierung von Ps 38,5 kommt es zu einer paradoxen Formulierung des simul. Die sich ganz der Sünde hingeben oder aber ihre innere Sünde Die offenkundigen Differenzen betreffen v. a. das Verhältnis von Demut und Glaube, Sündenbekenntnis und Sündenvergebung bzw. von Gesetz und Evangelium. 437 Vgl. auch 1,167,18 ff. (zu Ps 32,1); 1,167,26 ff. (zu Ps 32,2): »selig ist der, dem got nit sund zurechnet, das gote nichts bewust sey umb seyne sund. Das seyn die, die yn selb zurechnen steticklich sund und gebrechen mangfeltig«; 1,197,1–3 (zu Ps 102,3): Dieser Psalm »beschreybt zum ersten das ynnewendige leyden das die heiligen yrher sunde wegen tragen yn eym rewigen geist, darnach das vorfolgen der andern umb desselben gecreutzeten lebens willen«. 438 Vgl. 1,182,31–183,3; 186,32–36. Dazu Pinomaa, Die Heiligen, 130–134, bes. 130. 436

Buße 243 (d. h. ihre Gottesfeindschaft) durch ihre geheuchelte Heiligkeit verbergen, fühlen ihre Sünde nicht – im Unterschied zu denen, die sie fühlen und bekennen, denen sie aber deswegen vergeben wird. »Darumb ists eyn wunder dinck. wer do keyn sunde hat [sc. wem sie vergeben ist], der fulet und hat sie, und wer do sund hat [sc. wem sie nicht vergeben ist], der fulet sie nit und hat keyne. dan es were nit muglich das er uber und widder die sund clagete, wan er nit ynn der gerechtickeyt und gnaden lebte. […] unnd ist doch unmuglich das er solt an sunde seynd, der widder sie schreyt. dann er muß yhe nit mit ertichten worten vor gotte reden, Muß war seyn das er sund hatt, als er sagt, unnd doch auch war, das er an sunde sey.« (1,177,4–12) Luther leitet hier das simul aus der Gebetssituation, der Klage über die Sünde ab: Der Beter muss einerseits in Gottes Gerechtigkeit und Gnade stehen, sonst könnte er nicht über die Sünde klagen. Andererseits müsste er über die Sünde nicht klagen, wenn er nicht selbst wirklich Sünder wäre. Also ist er Sünder und Gerechter zugleich! Luther bringt hiermit zum Ausdruck, dass das simul ein Heilsstand ist, da im totalen Verfallensein an die Sünde ihre klare Erkenntnis nicht möglich wäre.439 Dabei versteht Luther das Zugleich an dieser Stelle so, dass der Beter Sünder ist und Sünde hat, aber kraft Gottes Nichtanrechnung der Sünde gerecht und ohne Sünde ist. Für das Verständnis dieser Paradoxie greift Luther auf die christologische Analogie der Idiomenkommunikation zurück: »und alßo gleych wie Christus tzu gleych lebendig und todt warhafftig was, also zu gleych mußen sie voll sunde und an sunde seynd, die recht christen seyn.« (1,177, 12–14)440

3.3.2 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538]) In der uns schon bekannten Enarratio Psalmi 51 entwickelt Luther zu Beginn – in Absetzung von anderen anthropologischen Disziplinen – die beiden Grundthemen der Theologie: Sie handelt einmal vom »homo peccati reus et perditus«. Das Sündersein ist sozusagen das spezifische Merkmal, unter dem die Theologie den Menschen in den Blick nimmt. Dann geht es aber zweitens auch um die Erkenntnis des diesen Menschen rechtfertigenden und begnadigenden Gottes.441 Luther kann das, was hier statisch als die beiden »Objekte« der Theologie beschrieben ist, aber auch dynamisch, als das Geschehen der Rechtfertigung, interpretieren, mit dem es die Theologie dann wesensmäßig zu tun hat: Der Mensch soll durch die Erfahrung des »Gesetzes«, der unerfüllten und unerfüllbaren Forderung Gottes, zur Erkenntnis seiner sündigen Natur und zur Verzweiflung geführt werden. Alles, worauf er sich vor Gott berufen könnte, wird ihm aus der Hand geschlagen. Ist der Mensch aber soweit gekommen, dann muss der »andere Teil der Erkenntnis« So auch Florin, Haß, 70 f. Siehe auch 1,207,26–31, wo von der Gleichzeitigkeit von Furcht (vor dem Gericht) und Hoffnung (auf die Gnade) die Rede ist, welche in der Kopräsenz von altem und neuem Menschen gründet. Dazu Florin, Haß, 71 ff. 441 Vgl. die bekannte Definition der Theologie in 40 II, 328,17 f. (zit. in Anm. 422). 439

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

folgen: die Erkenntnis der Gnade und der Rechtfertigung durch Gott. Dadurch wird der niedergedrückte Geist aufgerichtet und kann von der Gnade her freudig bekennen: »Si sum peccator in me, in Christo non sum peccator, qui nobis factus est iusticia, sed sum iustus et iustificatus per iustum et iustificantem Christum.« (40 II, 327,31–34) Luther expliziert hier die beiden Hinsichten, unter denen das simul gilt: in me – in Christo. Das simul erklärt sich also aus unterschiedlichen Blickrichtungen bzw. Relationen. Erneut ist das simul die Beschreibung des Heilsstatus, also ein positiver Zustand. Eine ausführliche Erörterung des simul findet sich im Zusammenhang der Auslegung von Ps 51,4, wo Luther den Akzent auf das »amplius« des Vulgata-Textes legt: »Amplius lava me ab iniquitate mea, et a peccato meo munda me.« Das »mehr« oder »weiterhin« Gewaschen- bzw. Gereinigtwerden bezieht sich auf das sukzessive Ausfegen der Sünde nach dem Empfang der Sündenvergebung.442 Hatte der Psalm bisher von der Bitte um die Gnade und Sündenvergebung gehandelt, so geht es nun um die sich daran anschließende »Abwaschung« der Sünde. Das führt in den Sündenbegriff nach der von Luther zuvor entwickelten Unterscheidung von »peccatum sensibile« und »peccatum insensibile« eine weitere Distinktion ein: die von »peccatum per gratiam remissum» und »peccatum reliquum in carne« (351,23 f.).443 Die Sünde ist zwar vergeben, ihr ist dadurch ihre verdammende, von Gott trennende Kraft genommen, das Haupt der Schlange ist zertreten, aber sie zuckt noch und trachtet danach, den Menschen von neuem zu erfassen. Es bleibt der »Sündenrest«, der wahrhaft Sünde ist und uns in Sünde fallen läßt.444 Er besteht in der Konkupiszenz und den anderen »vicia« (351,30–352,15) oder – wie es in der Der Dr kann auch von den »zwei Teilen der Rechtfertigung« sprechen: 357,35–358,19. »Rechtfertigung« ist dann in einem weiteren, Rechtfertigung und Heiligung übergreifenden Sinn verstanden. Vgl. das Äquivalent 358,11 f. (Hs). 443 Vgl. 352,10 (Hs): »Peccatum est duplex apud Christianos: Remissum peccatum et lavandum.« 444 Es bleibt die »res ipsa, quae vere peccatum est«, von aber Gott »toleriert« wird (351,30 f.), bzw. die »res seu natura peccati« (352,20). Vgl. Brush, Gotteserkenntnis, 147 ff.; Batka, Peccatum, 232–238. – Gen 3,15, das sog. Protevangelium, enthält für Luther die erste und zentrale christologische Weissagung des Alten Testaments und damit das gesamte Evangelium in nuce. Deshalb rechtfertigt sie ante Christum die, welche an sie glauben, an erster Stelle Adam und Eva. Weiter sieht Luther in Gen 3,15 exemplarisch die simul-Struktur der christlichen Existenz grundgelegt: Das Haupt des Teufels, also Sünde, Tod und Hölle, ist zwar durch Christus zertreten und ihm damit seine von Gott trennende Kraft genommen. Aber in gewisser Weise sind die Verderbensmächte in ihrem Leib bzw. Schwanz noch lebendig, ja das bereits zertretene Haupt trachtet danach, die Glaubenden erneut zu beißen und über sie Einfluss zu gewinnen. »Aliquid serpentis remanet, hoc in corde adhuc sentimus.« (14,147,12 f.) D. h. im Blick auf die Sünde: Sie bleibt noch als Unglaube und böses Begehren, ist jedoch niedergehaltene und beherrschte Sünde. Gleichwohl versucht sie in ihrem Todeskampf den Christen permanent dazu, wieder auf sie einzugehen und sich mit ihr zu verbünden. Das im Glauben ergriffene Wort schafft somit nicht sofort den vollkommenen Christen, sondern es bleibt der lebenslange Kampf, die mortificatio 442

Buße 245 Handschrift heißt – in der »imperfecta scientia Christi et socordia verbi« (352,2 f.), also in der Unvollkommenheit und Schwäche des Glaubens.445 Eine Nachlässigkeit im Kampf gegen den Sündenrest kann zum Rückfall in die alte »Gottlosigkeit« (impietas), d. h. zum Herausfallen aus dem simul führen (354,25 ff.). Luther zitiert Augustin: »Peccatum […] actu manet, reatu autem transit.« Deshalb gilt: »Vellemus igitur non solum peccatum remitti, sed totum aboleri.« (351,28 ff.) Im Blick auf die eingeführte Unterscheidung von peccatum remissum und peccatum reliquum bzw. lavandum kann Luther das simul formulieren: »Ergo utrunque ve­ rum est, Quod nullus Christianus habet peccatum et Quod omnis Christianus habet peccatum. […] Peccatum remissum et peccatum reliquum, quod exstirpandum et abluendum est.« (352,24–27)446 Das simul – beides ist zugleich wahr! – wird an dieser Stelle mit der eingeführten Differenzierung im Sündenbegriff (remissum – reliquum [lavandum]) plausibel gemacht, was sich wieder auf die Perspektive: im Blick auf Gott, in der Relation zu Gott bzw. Christus und im Blick auf mich zurückführen läßt. Dabei hat Luther wohl bei dem peccatum remissum den Totalaspekt im Blick (ich bin vor Gott ganz gerecht, alle Sünde ist mir vergeben und insofern »habe« ich sie nicht mehr), dagegen bei dem peccatum reliquum mehr den Partialaspekt: Der Glaubende wird gewahr, dass in ihm neben der anfänglichen Gerechtigkeit noch »Reste« der Sünde sind. Dem korrespondiert, dass die göttliche Barmherzigkeit bzw. die rechtfertigende Gnade nicht ein habitus oder eine qualitas im Herzen des Menschen ist – der Christ ist nicht »formaliter« gerecht –447, sondern eine relationale Bestimmung: ein »divinum beneficium«, das uns durch den Glauben an die Sündenvergebung geschenkt wird. Unsere Gerechtigkeit ist »aliena iustitia, quae tota consistit in alterius indulgentia et merum donum est Dei miserentis et propter Christum faventis« (353,14–21 f.).448 Luther sagt dann auch explizit, dass der Christ nicht gerecht ist nach der Kategorie der Substanz oder Qualität, sondern »secundum

carnis. Vgl. 14,146,1–148,32; 24,98,13–100,31; 110,9–111,22; 42,146,18–147,39; 43,309,3–6 (jeweils zu Gen 3,15). 445 Vgl. 40 II,352,30 ff., wo es von den »Früchten« der bleibenden Sünde heißt: »ut simus securi, ingrati, ignorantes Dei, sicut prius fuimus. Hi sunt conatus reliquarum peccati in nobis, quos etiam sentiunt sancti, sed per Spiritum sanctum eis non indulgent«; 354,21– 25; 355,21 ff. 446 Die Formulierung steht auch in Hs: »Nullus Christianus habet peccatum et omnis Christianus habet peccatum. Peccatum est duplex apud Christianos: Remissum peccatum et lavandum. Est remissum, non est accusans peccatum, sed suppullulans.« (352,8 ff.) 447 Die anfängliche Gerechtigkeit ist ja nicht die iustitia coram Deo, die »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«! 448 Vgl. auch 352,36–353,14: Der Christ ist »iustus et sanctus aliena seu extrinseca sanctitate, […] hoc est, est iustus misericordia et gratia«; Brush, Gotteserkenntnis, 149 f., 197, 202 f.: Die relational verstandene Gnade »beinhaltet keine strukturelle Veränderung des Selbst, sondern bloß [sic!] eine faktische Veränderung der Situation, in der das empirische [wahre?] Selbst sich von Augenblick zu Augenblick aktualisiert« (150).

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praedicamentum ad aliquid [also nach Kategorie der Relation], nempe respectu divinae gratiae tantum et remissionis peccatorum gratuitae« (353,36–354,17).449 Nur innerhalb eines relationalen Denkens und in Abhebung von substanzontologischen Vorstellungen läßt sich deshalb das simul auch denken:450 »Manifesta igitur haec confessio est, quod Christiani sint peccatores. Nam ubi requiritur lotio [wie in Ps 51,4)], ibi significatur inquinamentum et sordes.« (356,24 f.)451 Genau aber diese »discordantia« (Christiani – peccatores) können die scholastischen Gegner nicht zur Eintracht bringen (concordare), weil sie die Gnade als eine qualitas, einen habitus im Herzen verstehen und zwei kontradiktorische habitus nicht »zugleich« vorliegen können. Ist der Gnadenhabitus gegeben, so muss – wie sie folgern – der ganze Mensch heilig sein. Hören sie dagegen, dass Paulus einerseits erwählt (electus) und dennoch wegen der reliquiae peccati Sünder (peccator) ist, so meinen sie, eine Chimäre, ein unwirkliches Zwitterwesen vor sich zu haben und halten die das simul Vertretenden für Häretiker und drohen mit dem Feuertod.452 Aber es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass David nach dem Empfang der Sündenvergebung und der Rechtfertigung bittet, dass er gereinigt werde. Man könnte sagen: Die im Gebet artikulierte Notwendigkeit der Heiligung über die Sündenvergebung hinaus beweist das Bleiben der Sünde! »Nam David habens remissionem peccatorum et existens in gratia, quem nullum peccatum accusat nec damnat, tamen adhuc est immundus et habet adhuc immundum peccatum, cui nihil deest, cur non vere peccatum sit, quam quod non potest damnare. Ergo David iustus et iustificatus adhuc habet peccatum et pro parte adhuc est iniustus. Ideo orat donum maximum Spiritus sancti ad has sordes expurgandas.« (356,35– Vgl. 354,2–5 (Hs): »Ideo Christianus non est sanctus intrinsece et formaliter. Nec Sanctitas est in praedicamento substantiae sed relationis, est gratuita misericordia, simpliciter per Confessionem et agnoscentiam, quod praedicaret deum misericordem peccatoribus«; 421,22–28 (Dr): Die gratia als göttlicher favor gehört »ad praedicamentum relationis, quod dixerunt Dialectici minimae entitatis et maximae virtutis esse, Ne putetis esse qualitatem, sicut Sophistae somniarunt.« Die Sündenvergebung hängt schlechthin an der göttlichen promissio, welche der Glaube ergreift. 421,6 f. (Hs) sagt: »Dilectio versatur in praedicamento relationis, quod minimae entitatis, tamen etc.« Gemeint ist hier wohl die göttliche dilectio. 450 Das gilt zumindest für das Verständnis von Gnade und Gerechtigkeit, nicht notwendig für die Sünde, die Luther offenbar substantial (als etwas im Menschen) und relational (als Widerspruch zur Gottesbeziehung) zugleich denkt. So auch Pesch, Simul, 162 f. Vgl. ders., Hinführung, 217 ff. 451 Prägnanter 356,7 ff. (Hs): »Christiani sunt peccatores, quia, ubi sanctificatio, ibi est prophanatio; quod sanctum, non opus, ut sanctificetur. Si ergo Christianus vult mundari, habet sordes, est immundus.« 452 Vgl. 356,25–32; 356,9–357,1 (Hs): »Sophistae ista duo non possunt concordare. Non cogitant aliter de iusticia, quam quod sit habitus in corde; quando ille aderit, tum totus homo est Sanctus. Sic fingunt Paulum, quasi nihil fuerit in eo purgandum, fingunt Christianos in corde et spiritu sanctificatos. Si etiam audiunt aliter praedicare, wird ratio tol et toricht et sunt in alieno mundo et clamant: ignis! haeretice!« 449

Buße 247 357,21)453 Deshalb darf man die bleibende Sünde in ihrem sündigen Charakter nicht abschwächen, denn sonst »schwächt« man den »purgator« und das »donum purgandi«, den Heiligen Geist. Der Beter nennt die Sündenreste Sünde (peccatum) und Gottlosigkeit (impietas), obwohl es nicht dieselbe Sünde wie vor der Sündenvergebung ist, weil ihr Haupt durch die Letztere zertreten ist (357,22–27). Was innerhalb einer Substanzontologie unmöglich zu vereinbaren ist, wird innerhalb einer relationalen Ontologie denkbar: Das Gerechtsein des Christen gründet in einer neuen Relation Gottes zu ihm (die Sünde ist vergeben), welche im Menschen den Glauben, die neue Beziehung zu Gott weckt. »In sich«, in seiner Vorfindlichkeit hat der Mensch aber noch den im formellen Sinne als Sünde zu betrachtenden »Rest«, welcher, obwohl eine »Teilwirklichkeit« (pro parte) an ihm, ihn doch ganz als Sünder qualifiziert. Luther hat dieses relationale Verständnis deutlich entwickelt anlässlich von Ps 51,9: »Wasche mich, dass ich schneeweiß werde.« Wie kann das geschehen, da doch der Glaubende als ganzer Mensch, als Geist und Fleisch die Sündenreste an sich trägt?454 Wir sind deshalb nie so rein und heilig, wie wir es sein müssten, haben aber doch das Wort, die Taufe und das Blut Christi (gedacht ist dabei wohl an das Abendmahl) empfangen, alles Dinge, die von höchster Reinheit sind. Von Christus gilt: »qui profecto etiam est purissimus« (407,24 f.). Deshalb kann gefolgert werden: »Secundum hanc puritatem, quam spiritu et fide habemus ex Christo et Sacramentis ab eo institutis, recte dicitur Christianus purior nive, imo purior sole et stellis, etiamsi adhaerescant illa inquinamenta spiritus et carnis.« (407,25–28)455 Unsere Reinheit ist eine fremde Reinheit, Christus schmückt und kleidet uns mit seiner Gerechtigkeit, »in sich« betrachtet besitzt der Christ keine Reinheit, sondern nur »teuflische Schwärze«: »Est autem diligenter notandum, quod haec puritas est aliena puritas. Christus enim sua iustiticia nos ornat et vestit. Quodsi Christianum intuearis seclusa Christi iusticia et puritate, qualis in se sit, etiam cum est sanctissimus, tum invenies non solum mundiciem nullam, sed diabolicam, ut sic vocem, nigredinem.« (407,30–34)456 Der Mensch darf von Vgl. 357,1–5 (Hs): »Ideo oportet diligenter statuere: propheta orat post remissum peccatum, ubi habet misericordias et miserationes, mundari; quem nullum peccatum accusat, terret, contristat, Ille est immundus propter peccatum, ergo Christianus habet vere peccatum, mundandum ert purgandum.« 454 Luther versteht an dieser Stelle »Fleisch« und »Geist« (in Anspielung auf 2.Kor 7,1) dichotomisch, im Sinne von Leib und Seele (Geist), und nicht in dem von ihm sonst verwendeten ganzheitlichen Sinn dieser Begriffe. Zu den »Verunreinigungen« des Geistes zählt er: »dubitatio de gratia, imperfecta fides, murmurationes contra Deum, impatientia, imperfecta cognitio voluntatis Dei« (407,16 ff.). 455 Vgl. 407,2–7 (Hs): »Credens est purior quam nix in oculis dei, non obstante, quod ›inquinamentum spiritus et carnis‹, quo laboramus, ut ea lavemus. […] Nos laboramus, ut servemus primitias istius puritatis.« 456 Vgl. 407,12–408,2 (Hs): »Et sic vocor albior nive, non propter formam sed Christum […] Si soli, sumus diaboli.« 453

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Christus, der Taufe, dem Hören des Evangeliums und den Verheißungen Gottes nicht – wie der Papst es mit seiner Lehre tut – getrennt werden, sonst bleibt keine Reinheit, sondern nur Sünde übrig. »Homo considerandus est, non qualis in se est, sed qualis est in Christo.« (407,39–408,17) Die verbleibenden Sündenreste dürfen für den Christen kein Grund sein, an seiner Reinheit zu zweifeln: »At tota mundicia haec aliena esse debet, nempe Christi et sanguinis eius, non debet esse nostra, quam ipsi nobis cirumdamus. […] huc defigendi sunt oculi, qualis [Christianus] e Baptismo sit retractus, non qualis e parentibus sit natus.« (408,20–28) Der Christ ist also in seiner Christusrelation (in Christo) zu betrachten, da ist er ganz rein und heilig durch eine fremde Reinheit. In sich, in seiner eigenen Qualität gesehen, ist er ganz Sünder.

3.4 Die Totalität der bleibenden Sünde im Sündenbekenntnis 3.4.1 Enarratio Psalmi 51 (1532 [1538]) Mit den Ausführungen am Ende des letzten Abschnitts ist der jetzt folgende Aspekt schon angeschnitten: Es ist auffällig, dass Luther in den Auslegungen der Bußpsalmen zu Formulierungen gelangt, die in besonderer Weise die Radikalität und Totalität der bleibenden Sünde betonen. Dies liegt sicher an den vorgegebenen biblischen Texten: Vor Gott stehend, im Gebet kann der Mensch, der Christ nicht anders, als sein fundamentales Verfallensein an die Sünde zu bekennen und Gott allein Gerechtigkeit zuzusprechen. Würde der Mensch sich vor Gott irgendeine eigene Gerechtigkeit zuerkennen, so würde er diese damit eo ipso widerlegen, denn er wollte vor Gott etwas Eigenes, ja selbst sein wie Gott. Darin besteht aber gerade das Merkmal der Sünde!457 Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass solche Totalitätsaussagen allein an die Redeform des Bußgebets gebunden wären oder nur in dessen Überschwänglichkeit gründeten und von daher keinerlei ontologische bzw. dogmatische Relevanz besäßen.458 Denn der eigentliche Grund Vgl. Link, Ringen, 79 f.; Hermann, Rechtfertigungslehre, 380 f. In diese Richtung könnte man Link, Ringen, 77–82, missverstehen, wenn er den Ursprung der simul-Aussage in das betende Stehen vor Gott verlegt, das nicht anders kann als im Bekenntnis Gottes rechtfertigendes Handeln am Menschen und zugleich des Menschen Verlorenheit auszusprechen – und zwar jeweils unter dem Aspekt: totus iustus – totus peccator (ebd., 87 f. 91 f.). Vgl. oben Einleitung, Kap. 5.3. Ähnlich Schlink, Struktur, 78. Auch Pesch sieht im simul primär eine »Gebetsrealität«, demgegenüber das simul als theologische Formel sekundär sei. Letztere sei schlüssig innerhalb einer »existentiellen«, nicht aber in einer »sapientialen« Theologie. Vgl. oben Einleitung, Kap. 5.7. Nur als »Gebetserfahrung«, nicht als »wohlausbalanciertes theologisches Theorem« bzw. nur als »praktischen Erfahrungssatz« (Rechtfertigung, 362; vgl. ebd., 361–373) will Pöhlmann das simul bei Luther verstanden wissen und setzt diese Deutung massiv für einen Konsens 457

458

Buße 249 eines solchen Bekenntnisses liegt in der Notwendigkeit, vor Gott den strengen Maßstab anlegen zu müssen: Was von dem Meinen kann bzw. lässt mich vor Gott bestehen? Hier kann die Antwort nur lauten: Christus allein!459 Und dies deshalb, weil ich von mir her nicht nur dieses oder jenes Böse tue, sondern noch Sünder bin! Freilich darf auch nicht übersehen werden, dass der Totalität der bleibenden Sünde die Totalität der geschenkten Gerechtigkeit durch Gott gegenübersteht. Wie radikal Luther hier reden kann, ist schon zuvor deutlich geworden: Betrachtet man den Christen, der ganz aus der fremden Heiligkeit und Gerechtigkeit Christi leben darf, wie sie ihm in Wortverkündigung, Taufe und Abendmahl entgegentritt, nicht in Relation zu dieser Christuswirklichkeit, sondern »in sich«, im Blick auf seine Qualität, so findet man nur, selbst bei dem Allerheiligsten, »teuflische Schwärze« (diabolica nigredo: 407,33 f.). Dem entspricht in der Handschrift die Wendung: »Si soli, sumus diaboli.« (408,1 f.) Von diesem radikalen Urteil vermag offenbar auch nicht das anfanghafte Neuwerden des Christen unter dem Wirken des Heiligen Geistes abzuhalten. Gerade David erkennt im 51. Psalm angesichts seiner schweren Einzelsünde seine immer noch vorhandene sündige »Natur«, das peccatum universale et perpetuum. Es geht nicht so sehr um die Einzelsünde, sondern um deren Wurzelgrund, um das in den reliqua peccati sich manifestierende Sündersein.460 So kommt es zu der schroffen Gegenüberstellung, an Gott gerichtet: »Scio me esse malum et peccatorem, te [Deum] autem esse iustum.« (338,34 f.) Das Gebet kann sich und soll sich nicht im Vertrauen auf die eigene Würdigkeit an Gott richten, sondern im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und Verheißung. Allen Anfechtungen des Satans (»Du darfst zu dem heiligen Gott nicht beten!«) kann man entgegenhalten: »Si sum peccator, quid tum? Deus est misericors. Si sum propter peccata ad orandum ineptus, bene est, nolo fieri aptior; nam, proh dolor, plus satis ad orandum aptus sum, qui nimium sum peccator.« (339,23–25)461 mit dem Trienter Rechtfertigungsdekret hinsichtlich des simul ein. Zumindest tendenziell reduziert Pöhlmann zudem das simul peccator Luthers auf immer wieder vorkommende Tatsünden des Christen bzw. die Versuchlichkeit dafür. Demgegenüber ist zumindest auch auf dem ontologischen Status der simul-Aussage bei Luther zu bestehen. Dies resultiert schon aus der von ihm als permanent im Christen gedachten sündigen Konkupiszenz, ohne dass Luther damit eine »Balance« zwischen Sünde und Gerechtigkeit im Getauften annähme. Vgl. Christe, Gerecht. 459 Vgl. auch 8,79,17–80,8, wo Luther das Vertrauen auf irgendeine Guttat vor Gott ins Gebet transponiert und damit die Absurdität solchen Vertrauens erweist. 8,81,9–15 zeigt er, ebenfalls in die Anrede an Gott übergehend, dass wir Gott nur sein Wort bzw. Christus entgegenhalten können. Dazu Christe, Gerecht, 69 ff. 460 Vgl. 40 II,339,33–36: »Nam etsi actualia, ut vocant, desint, quod perrarum est, tamen non deerit Originale peccatum. Quia autem semper in peccatis, ergo semper quoque orandum est«; 339,6–9 (Hs): »Quod sollen da hin erbeiten, ut simus absque peccatis, nihil; quanquam ab actualibus liberi, tamen odium, displicentia, dei contemptus etc. Ergo semper orandum, quia semper sumus peccatores. Sic etiam Christiani affecti.« 461 Vgl. 337,38 f.: »Sed ob hanc unam causam mihi potissimum orandum esse video, quia sum maximus peccator et opus habeo misericordia.«

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Weil wir bleibend Sünder sind, sind wir ganz auf das Erbarmen und die Barmherzigkeit Gottes angewiesen (so führt Luther angesichts des »Misere mei!« in Vers 3 aus) und haben keinerlei Verdienst, keinerlei Gerechtigkeit vorzuweisen. Den Dekalog können wir – seiner eigentlichen, auf das Herz zielenden Intention nach – nur anfangsweise erfüllen, wir haben nur die Erstlinge des Geistes: »Facimus legem per Spiritum sanctum, et tamen manet verbum ›Misere‹, hoc est manemus peccatores, et opus habemus gratuita remissione peccatorum per Christi meritum. […] in summa, quod omnis nostra vita est misericordia, quia tota nostra vita est peccatum nec potest opponi iudicio aut irae Dei.« (340,33– 341,22)462 Im weiteren Verlauf der Auslegung von Ps 51,3 kommt es nochmals zu der uns schon bekannten Gegenüberstellung des gerechten Gottes und des sündigen Menschen: »Ego sum peccator, Deus est iustus et iratus mihi peccatori.« (346,35) Hier vermag sich das Gewissen nicht selbst herauszuhelfen und Gott und den Sünder zusammenzubringen. Das kann nur im Heiligen Geist geschehen, der David sich in die allumfassende und unendliche Barmherzigkeit Gottes werfen lässt (347,16 f.). Das Bekenntnis der eigenen Sünde, das keinen Raum läßt für eine eigene Heiligkeit, bekennt ineins damit doch zugleich die nochmals größere Barmherzigkeit Gottes. Luther bezieht sich hier auf die Vulgatafassung des Textes, wo von der »magna misericordia tua« und von der »multitudo miserationum tuarum« die Rede ist. Hier zeigt sich eine Tendenz von Luthers Auslegung des 51. Psalms, die sich ähnlich auch in der Großen Galatervorlesung beobachten ließ: Verbunden mit der Betonung der Radikalität und Totalität menschlicher Sünde463

Vgl. 340,4–7 (Hs): »Ergo Christianus discat, quod sua vita sit coram deo mera gratia. […] Caro et omnia, sollen wir heissen peccatores.« 463 Vgl. 365,36–366,24, bes. 366,24: »Coram te nihil sum nisi peccator«; 369,19 ff.; 370,14–17; 40 III,343,34–348,29 (zu Ps 130,3); 28,12,16–31. – Dass die Situation konkreter Buße, in der die eigene Schuld vor Gott gebracht wird, dazu hindrängt, mich als totus peccator und das ganze Leben als sündig zu bekennen, hat Luther ebenso in den Schmalkaldischen Artikeln betont. Vgl. BSLK 446,15–24, bes. 15–18: »Diese Buße lehret uns, die Sunde erkennen, nämlich das mit uns allen verloren, Haut und Haar nicht gut ist und mussen schlechts neu und ander Menschen werden«; 447,4–7: »Desgleichen kann die Beicht auch nicht falsch, ungewiß oder stucklich sein; denn wer bekennet, dass alles eitel Sunde mit ihm sei, der begreift alle Sunde, lässt keine außen und vergisset keine.« Ein solches Bekenntnis des Sünderseins befreit gerade von der Gewissensqual, in der Beichte eine vollständige Aufzählung der Einzelsünden leisten zu müssen, ohne freilich zur Nivellierung schwerer Tatsünden zu führen. Ein lückenloses Sündenbekenntnis ist dem Menschen unmöglich, weil er nach Ps 19,13 sich selbst und die bis ins Gute hineinwirkende Selbstsucht nicht bis auf den Grund durchschaut. Es ist aber auch nicht nötig, da, so der seine Frühtheologie hier modifizierende Luther, die Kraft der Beichte nicht im menschlichen Bekenntnis, sondern im Vergebungswort Gottes liegt. Vgl. BSLK 440,25– 441,13; 448,20–449,4; 452,9–453,12; 517,20–26. Ferner 1,322,22–323,9; 2,59,24–60,26; 721,24–722,6; 7,117,18–118,24; 31 I,344,17–35. 462

Buße 251 vollzieht sich der Lobpreis der buchstäblich die Sünde ganz umfassenden, nochmals größeren Gnade Gottes.464

3.4.2 Die sieben Bußpsalmen (1517) Ähnlich radikal wie in der späten Auslegung des 51. Psalms fielen die Urteile über die bleibende Sünde im Christen bzw. im alttestamentlichen Beter schon in der frühen Auslegung der sieben Bußpsalmen aus.465 Nach Ps 38,8 sieht der Beter, »das ich ynnewendig yn mir nit dan sunde und boße neygung habe«. Er wird »der hertzen und boß grundlich unreinickeit« gewahr (1,178,6–9). Er erkennt und bekennt, »das ich ein sunder sey« »das ich voll sunde bynn«, und führt darauf auch sein Leiden als verdiente Strafe zurück (1,182,25–27). In der Auslegung zu Ps 51 wird ebenfalls die Sünde als ein mich vom Beginn des Lebens an begleitendes Existential verstanden, das aus meiner Adamsherkunft herrührt. Zu Ps 51,7 schreibt Luther: »Sihe, so war ists das ich vor dir ein sunder byn, das auch sunde mein natur, mein anhebendes weßen, meyn empfengniß ist, schweyg dan die wort, werck und gedancken und nachfolgend leben. Eyn boßer baum byn ich, und von natur ein kind des tzorns und der sunde. und darumb alßo lange als die selb natur und weßen yn und an uns bleybt, alßo lang seynn wyr sunder unnd müssen sagen, vorlaß uns unßer schuld etc. byß das der leichnam sterbe und undergehe. dan Adam der muß sterben und vorweßen, ee dan Christus gantz erstee.« (1,188,12–19)466 Von daher ist eine Einschränkung des »Gedenkens der Sünde« (Ps 51,5) auf die (vergangene) Tatsünde unmöglich, wie mit Röm 7,17.23 erhärtet wird. Die Sünde bezieht sich auf die Seele und das Leben (183,1–8).467 Zu Vers 12 desselben Psalms führt Luther aus, dass das reine Herz, die »ynnerlich gerechtickeit« (1,190,34) irdisch nur anfanghaft erlangt werden können. »Eyn krummer geyst ist des fleysches und Adams geist, der yn allen dingen sich ynn sich selb boget, das seyne suchet, der ist uns angeboren.« (1,191,2–4) Da letztlich niemand ein reines Herz hat – das ist allein »des schepfers unnd gotlicher gewalt werck« – bekennt die Schrift, dass »all vor gott sunder seien« (1,190,31 f.).468 Schließlich ist Vgl. 40 II,347,22–30; 348,38–349,31, bes. 349,29 ff.: »Sicut peccatum sua natura maximum et gravissimum est, ita etiam gratiam seu misericordiam immensam et inexhaustam esse credamus.« 465 Vgl. die grundsätzliche Einschätzung 1,212,9–11: »Alle psalmen, alle schrifft rufft nach der gnaden, preysset die gnade, sucht Christum und allein gottis werck lobet, aller menschen werck aber vorwirfft sie.« – In der hellsichtigen Wahrnehmung des peccatum remanens stimmen der frühe und reife Luther – anders als in der Sicht von Glaube und Rechtfertigung – überein. Ja, insbesondere die Frühtheologie ist prädestiniert, das totus peccator des Christen zu erkennen, da ihr zufolge gerade das permanente Sündenbekenntnis vor Gott rechtfertigt. 466 Vgl. dazu Brush, Gotteserkenntnis, 118 ff. 467 Röm 7,17.23 gilt von Paulus, »ßo er doch nit ubels, sunder vill guts außerhalb thet« (183,2 f.). 468 Vgl. auch 1,160,15 ff.: »Wan nun der mensch alßo undergehet und zu nichte wirt yn 464

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

das Gott Lob und Ehre, Gerechtigkeit und Weisheit Zukommenlassen reziprok daran gebunden, dass dem Menschen nur Sünde zugesprochen wird: »dan niemant kan dich eeren und loben, er scheld und schend sich selb, Niemant kan dir zu schreiben weyßheit und gerechtickeit, er nehm sie dan von yhm und schreyb yhm zu eytel sunde und torheit.« (1,193, 6–8) Ist die Sünde also auch noch ein bleibendes Existential des von Gott gerechtfertigten Menschen, so besteht für Luther das Kennzeichen dieses Menschen – im Unterschied zu aller fromm-heuchlerischen Verdrängung (1,188,24–29) – nicht darin, dass er keine Sünde hat, sondern dass er um diese seine Sünde weiß, sie erkennt und bekennt. Ja, das demütige Sündenbekenntnis scheint gerade – charakteristisch für die Frühtheologie Luthers – die Rechtfertigung durch Gott zu bewirken und auszulösen bzw. in sie umzuschlagen. Oder vorsichtiger formuliert: Gott rechnet dem die Sünde nicht zu bzw. spricht den gerecht, der sie im Glauben bekennt. So notiert Luther zu Ps 32,2 (»Selig ist der Mensch, dem Gott die Sünde nicht zurechnet«): »das seyn die, die yn selb zurechnen steticklich sund und gebrechen mangfeltig.« (1,167,27 f.)469 Und wenig später: »aber die rechten Menschen bergenn nit yre bosheyt […]. unnd das seyn die seligen, den got ir ungerechtickeit erlest und vorneynt. Darumb das sie die bekennen und vorjahen, und weil sie yre sunde nit decken ader bergen, so decket und birget sie gott.« (1,170,4–10)470 Die Heiligen werden deshalb heilig sein, weil »sie yr bosheit dir clagen und gnade bitten, und mercklich vor dir. […]. [Sie] wissen das yhre heylickeit vor dir nichts ist. […] der heylig der also steet nit auff seyner heilickkeit, sundern auff dem felß deiner gerechtickeit, die Christus ist, auff wilche gegrundet ist eynn iglicher der seynn selbs vorcleger, streffer und richter ist.« (1,170,31–34; 171,4–6; vgl. Prov 18,17)471 Die Unterscheidung zwischen den wahren und scheinbaren Heiligen besteht gerade darin, dass Erstere »sehen yhre gebrechen, dass sie nit seyn was sie seyn sollen und wollen [!], und darumb urteylen sie sich selb, unnd nit sich allen seynen crefften, wercken und weßen, das nit mehr dann eyn elender, vordampter, vorlaßner sunder da ist, dann kummet die gotlich hilff und sterck.« 469 Vgl. 1,167,18–20: Denen sind die Missetaten bedeckt, »die sie nit selb zudecken, nit selb yn erlassen, vorgeben, vorgessen, sundern ansehen, kennen, wißen, gedencken und straffen«. Dahinter steht der Gedanke, dass der Sünder durch Erkenntnis und Bekenntnis seiner Sünde dem Urteil und Gericht Gottes quasi »zuvorkommt«, mit ihm übereinstimmt und ihm so »entgeht« und gerecht wird. Vgl. 1,170,19–23; 200,6–9; 211, 10–13; Bayer, Promissio, 148. 470 Vgl. 1,182,25 f.: »Ich wil bekennen und nit leugken, das ich ein sunder sey, und mir nit gerechtickeit zuschreyben«, obwohl der Beter doch äußerlich das Gute tut (182,36–183,8). 471 Luther weiß aber auch darum, dass es dem »Heiligen« nicht leicht fällt, sein eigener Verkläger zu sein und alles Eigene als nichtig und ungerecht hinzustellen. Die »geistliche hoffart« steht dem entgegen. »darumb hatt nie kein heylge ßo küne gewest, das er von ym selb sagete, das seyne weißheit und gerechtickeit vor ym nichts sey, sundern ym hadder lygen sie und mit ynn selbs uber den dingen streyten.« (1,220,7–11) Der »Streit mit sich selbst« im Blick auf die eigene Selbsterkenntnis ist ebenfalls ein Ausdruck des simul. Vgl. 1,214,8: »dass er selb seyn feynd werde«.

Buße 253 mit den andern bekummern« (1,186,33 f.). Jene aber erkennen ihre Sünde nicht, sondern urteilen über das Unrecht anderer Leute und sehnen sich deshalb auch nicht nach der Sündenvergebung durch Christus. Luther sieht diese Gefahr gerade bei denen gegeben, in welchen das neue Leben einen Anfang genommen hat. »Darumb wer do nyme will ein sunder sich halten und gehalten werden, der wil got zu eym lugener machen und sich zur warheit, das die schwerst sund ist, und abgotterey ob allen abgottereyn.« (1,187,37 ff.)472 Das »Innere und Verborgene« der Weisheit, von der Ps 51,8 spricht, bedeutet nichts anderes, »dan gruntlich erkennen sich selb, und also sich selb hassen, und alle gerechtickeit nit bey sich, sundern bey got suchen, altzeit seyn vordrießen, und nach gote senen, das ist demutig got lieben und sich lassen.« (1,189,5–8)473 Vor Gottes Angesicht werden die verworfen, die sich nicht selbst verwerfen. »Diße [die Beter des Psalms] aber fulen und wissen, dass sie billich seyn vorwerflich yrer sund halben. darumb kommen sie zuvorn mit forcht und bitten das abe mit demut, das die andern mit heylickeit erwunnen zu haben meinen.« (1,191,13–16)

Luther verweist anschließend (1,187,40–188,2) auf 1.Joh 1,8.10. Vgl. 1,213,32 ff.: »do die hoffertigen nit wollen leyden, das yhr warheit und gerechtickeit nichts sey, und derhalben vorfolgen die rechtfrummen menschen, die in gottis warheit und gerechtickeit allein leben.« 472

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4 Gute Werke

Einen weiteren Themenbereich, bei dem Luther auf das simul zu sprechen kommt, bilden die im Glauben getanen guten Werke, welche eben zugleich gut und sündig sind. Luther hat dieses simul bei den guten Werken in die provozierende These gefasst: »omne opus bonum est peccatum.« (z. B. 8,93,18 f.) Gemeint ist damit: Weil die Sünde nach der Taufe »bleibt«, obschon sie vergeben ist, der Gerechte als Person zeitlebens Sünder ist, deshalb sind auch seine guten Werke noch Sünde – oder schwächer formuliert: ist in seinen guten Werken noch Sünde. Um das, was Luther unter guten Werken versteht, wenigstens kurz zu umreißen, sei auf den Sermo de duplici iustitia (1518) verwiesen, wo Luther unter diesen Begriff die »mortificatio carnis« bzw. »crucifixio concupiscentiarum«, die »charitas erga proximum« sowie »humilitas ac timor erga deum« subsumiert (2,146,37–147,4). Diese Aufzählung, die an der Unterscheidung zwischen Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis orientiert ist, fasst unter dem Terminus »bona opera« den Kampf gegen die bleibende Sünde, den Dienst am Nächsten und offenbar auch das, worin sich äußerlich das gläubige Gottesverhältnis manifestiert, zusammen. Da die dritte Ebene in Konkurrenz zum rechtfertigenden Glauben treten könnte und noch sehr der Terminologie der Frühtheologie Luthers verhaftet ist, sind für ihn in der Folge ausschließlich die beiden ersten Felder, also Selbst- und Weltverhältnis, für die inhaltliche Fassung der bona opera leitend geworden.474

4.1 Die These: »omne opus bonum est peccatum« Luther hat die These von der bleibenden Sünde und von der daraus folgenden Sündhaftigkeit des guten Werks des Glaubenden erstmals ausführlich und zusammenhängend in den Resolutiones zu den Thesen der Leipziger Disputation (1519) entwickelt. Er kann dabei zurückgreifen auf Ausführungen in der Heidelberger Disputation und deren Vorarbeiten (1518),475 ja sogar in der Römerbrief Allerdings hat Luther noch in seinem »Sermon von den guten Werken« (1520) den Glauben bzw. die Erfüllung des ersten Gebots als das höchste und edelste, für alle anderen Werke schlechthin entscheidende »gute Werk« bezeichnet, z. B. 6,204,25 f.; 209,1 f.; 209,37–210,1. Für die inhaltliche Füllung des Begriffs der guten Werke bietet diese Schrift Luthers reiches Material. 475 Th. 6–7 (1,357,25–358,26). Th. 3 u. 5 (356,15–31; 357,18–24) handeln von den Werken der unbekehrten, also ganz unter der Sünde stehenden Menschen. Aus den Vorarbeiten siehe 1,366,26–371,2. Ferner 1,322,39 f. 474

Gute Werke 255 vorlesung (1515/15) finden sich dazu schon Überlegungen.476 Verteidigt hat er sie dann in der Assertio (1520) bzw. in »Grund und Ursach« (1521) gegen die Bann­ androhungsbulle und in großem Stil ausgeführt in der Schrift gegen Latomus (1521). Auf diese Schriften werden wir uns im Folgenden vor allem beziehen, ohne dass damit gesagt sein soll, dass Luther diese These später nicht mehr vertreten hätte.477 Die erste Conclusio der Leipziger Disputation lautet: »Quottidie peccat omnis homo, sed quottidie poenitet.« (2,403,6; vgl. 160,30 ff.) Die zweite Conclusio formuliert dann: »In bono peccare hominem et peccatum veniale non natura sua sed dei misericordia solum esse tale aut in puero post baptismum peccatum remanens negare, hoc est Paulum et Christum semel conculcare.« (2,410,35–38; vgl. 160,33 ff.) Luther bringt hier einen dreifachen Sachverhalt zum Ausdruck: 1. Im guten Werk ist Sünde, 2. diese Sünde ist nicht ihrer Natur nach, sondern durch die göttliche Barmherzigkeit »lässlich«, und 3. nach der Taufe bleibt Sünde zurück (vgl. 2,411,1–3). Gut, d. h. von Gott angenommen, wird das Werk deshalb nicht aus sich heraus, sondern nur kraft der göttlichen Barmherzigkeit und der non-imputatio der Sünde. Es gilt, wie Luther in der Schrift gegen Latomus ausführt: »bona nos­ tra opera non esse bona, nisi regnante super nos misericordia eius [sc. dei], quae ignoscat« (8,66,36 f.) bzw. »omne opus bonum esse peccatum, nisi misericordia ignoscat« (8,93,18 f.).478 Die Notwendigkeit der göttlichen Vergebung ist also schon in die Definition des guten Werks mit aufgenommen.479 Es nimmt daher nicht Wunder, dass Luther mehrfach in der Erörterung dieser These das simul explizit formuliert: »Si iustus in gratia non potest facere bonum, quin simul peccet, quanto magis iniustus non facit bonum!« (2,408,30 f.) »Hic [sc. in Röm 7] idem unus homo Paulus, sanctus Apostolus, plenus gratia, simul delectatur in lege dei, simul repugnat legi dei, simul vult bonum secundum spiritum, non tamen agit propter carnem, sed contrarium: ergo peccat, dum bene facit.« (2,412,14–17; vgl. 1,367,18 f.) Da wir erst in der Heilung begriffen und noch nicht vollkommen geheilt sind, sind auch unsere Werke »partim egra, partim sana« (2,413,34 ff.). Von Hiob sagt Luther: »Est ergo verissime peccator Iob, sicut vere confitetur: est etiam verissime iustus, Vgl. 56,289,14–32 (zu Röm 4,7), bes. 18 ff.: »Idcirco enim bene operando peccamus, nisi Deus per Christum nobis hoc imperfectum tegeret et non imputaret.« 477 Vgl. nur 30 II,661,29 f. (1530): »Sic omnis sanctus peccator est corpore et peccat in omni opere bono.« 478 Vgl. auch 8,58,7 f.; 59,2; 69,4 ff.: »Stat […] opus bonum natura sua esse immundum, ablata nube gratiae, quod sola misericordia ignoscente purum, laude et gloria dignum habetur.« 479 Vgl. Zschoch, Argumentation, 31. Wenn Zschoch, ebd., 30 f., allerdings meint, Luthers These sogar umkehren zu können (»nicht nur jedes gute Werk ist Sünde, sondern auch jede Sünde ist gutes Werk«) so ist dies weder sachlich richtig noch trifft es die Auffassung Luthers, selbst dann nicht, wenn man veranschlagt, dass die Sünde unter der göttlichen Vergebung steht. Denn der Sachverhalt, dass der Gerechte im Guten sündigt, ist von demjenigen Sachverhalt zu unterscheiden, dass er im bösen Tun sündigt. 476

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sicut deus eum commendat: quomodo haec conveniet, nisi quod revera peccator fuit, sed sola dei ignoscente misericordia iustus?« (2,418,30–34)480 Die Zitate zeigen, dass Luther – wie schon angedeutet – primär von der Person, dem Sein des Menschen her denkt und von dorther auch seine Taten geprägt sieht: Ist die Person noch sündig, müssen es auch die an sich guten Werke sein. So formuliert die Assertio explizit: »Ac per hoc [durch das doppelte Streben] persona ipsa iusti partim est iusta, partim peccatrix. Si ergo omnis persona simul peccatrix est, dum iusta est, quid evidentius sequi potest quam ut opus quoque partim sit bonum, partim malum?« (7,137,17–20) Umgekehrt muss sich die Person zuschreiben lassen, was von ihren »Teilen« bzw. Vollzügen gilt: »Die weil fleisch und geist eyn mensch ist, szo wirt yhm zu gerechent beyderlei, ob sie wol widdernander sein, art, werk, lieb und lust. Und des geistes halben ist er [der Mensch] frum, des fleisches halben hat er sund.« (7,331,36–333,2)

4.2 Wie versteht die These das »simul«? Fragen wir zunächst: Was meint Luther damit, wenn er sagt, dass, wer Gutes tut, eben darin sündigt? Klar ist dabei, was wir schon mehrfach betont haben: Die nach der Taufe bleibende Sünde impliziert nicht, dass Christen nicht nach moralischen Maßstäben bzw. coram hominibus ein gutes Leben führen. Gewiss kommt es auch bei ihnen immer wieder zu Tatsünden, aber in der Regel vollbringen sie für Luther keine crimina. Sie tun wirklich gute Werke! Das soll also durch die These nicht bestritten werden.481 Luther ist vielmehr der Auffassung, dass aufgrund der bleibenden Wurzel- oder Grundsünde auch dem Guten ein Fehler anhaftet, der das gute Werk deshalb zugleich sündig sein lässt. Dieser selbst als Sünde im strengen Sinn zu qualifizierende Fehler ist die concupiscentia, die letztlich im Unglauben wurzelt.482 Sie führt dazu, dass wir Gottes Gebot niemals Vgl. 7,107,16 f.: »Quomodo enim sunt [discipuli] mundi et simul immundi, ut purgari egeat, qui nisi mundi essent, fructum non afferent?« (zu Joh 13,1); 7,111,8–11: »ut vere dixerit S. Jacobus [1,18], Nos esse initium creaturae dei, nondum complementum, partim iusti, partim peccatores, hoc uno salvi et ab impiis discreti, quod peccatum agnoscimus, confitemur et expugnamus, cui illi potius obediunt.« 481 Vgl. 8,81,27–82,9, wo Luther betont, dass die Konstatierung des simul für die guten Werke nicht die Gewissheit darüber, was gute Werke sind, aufhebt. Diese sollen moralisch auch nicht disqualifiziert werden: »Quare nobis optime consulit deus, ut nos de utroque certificaret, opera bona manifesta docens esse […]. Rursum, ea non sine vitio et peccato esse (ne in illis esset fiducia nobis), certos nos faciens, ut non dubia et fallacia confessione possimus in omni opere nos agnoscere peccatores, et misericordiae viri inveniamur.« (8,82,3 f.6–9) 482 Vgl. 7,111,2 f.: »Omitto hic dicere, quod originale peccatum, ut omnia peccata, ita et incredulitas est.« Die Konkupiszenz als böse Lust ist eine Folge des Unglaubens. Zu ihrer näheren Kennzeichnung siehe 7,105,34–13; 110,33–111,8. Dazu unten Teil III, Kap. 4.2. 480

Gute Werke 257 ganz erfüllen, ja nicht erfüllen können, weil wir es nicht restlos auf jenes letzte Ziel aller Handlungen, die ungeteilte Gottesliebe, hinzuordnen vermögen. Wir tun das Gute, aber auf schlechte Weise!483 Was Luther im Anschluss an Augustinus von den Tugenden und Werken der Heiden sagt, dass sie das Ihre und nicht das, was Gottes ist, suchen, dass sie Gott nicht zum letzten Ziel haben und ihn nicht über alles lieben (2,408,4–10),484 das gilt in gewisser Weise auch noch von den Werken, die innerhalb der Gnade getan werden: Jeder Christ tut täglich Buße, weil er täglich sündigt – »non quidem perpetrando crimina, sed non perficiendo mandata dei« (2,408,34 ff.). Wie denkt Luther dieses Zugleich von Sünde und »Gutheit« im guten Werk des Gerechtfertigten? Im Anschluss an Röm 7,19.22 schreibt er: »At dum vult [sc. Paulus] hoc bonum, eo ipso non facit hoc bonum, sed malum contrarium: cum ergo nunquam sit sine repugnantia, nunquam sine vitio bene facit, nunquam ergo plene implet legem dei. Quare, ut sic dixerim, Noluntas illa legis dei in carne semper est, quando voluntas est legis dei: per hanc bene facit, per illam male facit. Nolle est ex carne, velle ex spiritu.« (2,412,18–23)485 Luther geht hier offenkundig von zwei Willensrichtungen im Christen aus, die miteinander im Streit liegen:486 Da ist zum einen das Wollen und Bejahen des Gotteswillens, wie es aus dem »Geist« hervorgeht, also aus jener durch die Rechtfertigung und den Glauben gewirkten Ausrichtung auf Gott. Man könnte auch formulieren: Diese voluntas ist der reine, gottgewirkte Willensimpuls, der dem Glauben entspringt. Zum andern ist da aber jenes Nichtwollen, jenes Widerstreben (repugnantia, resistentia), das aus der caro, der ichsüchtigen Verkrümmtheit des Menschen, hervorgeht und jenen guten Willensimpuls trübt und einschränkt.487 So kommt es zwar zur Ausführung des Vgl. 2,408,21.26: »[homines] bona sed non bene fecerunt. […] bona faciunt, sed non bene.« 484 Vgl. schon 56,237,12 ff.: »Quia homo non potest, nisi que sua sunt, quaerere et se super omnia diligere. Que est summa omnium vitiorum.« Dazu Dieter, Luther, 80–107. 485 Das »ut sic dixerim« verweist auf die Präparation zur Heidelberger Disputation, 1,367,8–38, bes. 19 ff.: »Hoc itaque contrarium quaedam est noluntas, quae semper est, quando est voluntas. Per hanc bene facit, per illam male facit.« – Das »facere« des Zitats im Haupttext scheint Luther – wie in der Römerbriefvorlesung (s. u. Kapitel 5.2) – als Streben und intentionales Aussein auf, nicht aber als Ausführen der Tat zu verstehen. Denn es geht ja gerade um das böse Streben, nicht um Realisierung des bösen Werkes! 486 Vgl. 7,103,25: »utraque concupiscentia«; Saarinen, Klostertheologie, 282 ff.; Christe, Gerecht, 75 ff. 487 Vgl. auch 56,447,13–19, wo das Verhältnis des Menschen zum göttlichen Willen ebenfalls in einem Zugleich von Wollen und Nichtwollen beschrieben wird und von Petrus, ja von Christus gesagt wird: »Mira res! Petrus ducitur, quo non vult, et tamen, nisi vellet, non clarificaret Deum, sed peccaret potius. Simul ergo vult et non vult. Sic Christus in agone suo noluntatem suam […] ferventissima voluntate perfecit. Ita enim in omnibus sanctis agit Deus; ut facit eos summa voluntate facere, quod summe nolunt«; 8,95,32–35: »Nam hoc malo impedimur, ne toti simus in lege, et pars nostri, quae nobiscum pugnat, legi eius adversatur. Tamen promisit [deus] misericordiam et ignoscentiam omnibus, qui saltem 483

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guten Werks, aber der innere Willensimpuls, aus dem es hervorgeht, ist verunreinigt, partialisiert, mit einem Widerstreben vermischt. Luther vermag der scholastischen Terminologie, wonach der Mensch »difficilis ad bonum und pronum ad malum« sei, bei ihm eine difficultas vorliege, »quae impedit hilarem et liberam legis dilectionem«, zuzustimmen, nur kann er nicht mehr folgen, wenn trotzdem die Sündenfreiheit des guten Werks verfochten wird (2,412,25–29). Luther zieht daraus vielmehr die Konsequenz: »Est ergo omne opus bonum vitiosum cuius­ cunque hominis in hac vita propter servitutem peccati, qua tenetur captivus in carne, ut legi dei semper debitor et peccator maneat.« (2,412,34 ff.) Es gibt also im irdischen Leben kein restlos gutes Werk, auch beim Christen nicht.488 Gut ist das Tun des Christen nur deshalb, weil Gott es als solches ansieht und annimmt. Dabei ist das Tun des Christen insofern vom Tun des nichtchristlichen Menschen unterschieden, als bei Letzterem jener ichsüchtige Wille ausschließlich das Feld beherrscht oder ein solcher Mensch durch das Gesetz allein äußerlich zum Guten gezwungen bzw. vom Bösen abgehalten wird. Seine Sünde gilt vor Gott!489 Beim Christen dagegen herrscht der Geist über das Fleisch, d. h. er willigt in Letzteres nicht ein. Sünde ist für Luther alles, was gegen das Gesetz Gottes verstößt. Die Konkupiszenz verstößt aber gegen das neunte und zehnte Gebot: »At concupiscere contra spiritum peccatum est, quia prohibitum praecepto dei ›Non concupisces‹«.

non consentiant huic parti, sed pugnent adversus eam et abolere studeant.« »pars« meint hier nicht einen »Teil« oder eine »Schicht« im Menschen, sondern ein die ganze Person in allen ihren »Schichten« bestimmendes Wollen. Ferner 8,116,8–11, wo jenes böse Wollen als Widerstand und Kampf gegen das Gute bzw. als Mühe und Arbeit bei dessen Tun gedeutet wird: »Ideo enim peccatum est pronitas, quia resistit et negocium facit martyribus, quanquam hinc virtus gratiae elucescat magis. Non debet hoc negocium esse, si iudicium dei spectes. Misericordiae est, quod parcitur, doni divini est quod vincitur.« 488 Vgl. 1,367,25 f.; 2,413,21 f.: »Tota autem voluntas in hac vita non est.« Luther gebraucht für diesen Sachverhalt 2,413,27 f. ein Bild: »Quare iustus est velut instrumentum corrosum rubigine, quod deus suscepit expoliendum, quod ubi corrosum est, male secat, donec perfecte sit expolitum.« Ähnlich schon 1,357,36 ff. 489 Vgl. 1,367,25; 2,413,19 f.: »Quod si sit tota noluntas, iam ibi est peccatum mortale et aversio.« Ein Zustand, in den auch der Christ zurückfallen kann. – Wenn Luther die bleibende Sündhaftigkeit des guten Werks bei den Christen herausstellt, verfolgt er häufig folgende Argumentationsstrategie: Wenn der Gerechte immer zugleich auch sündigt, wie sündig und der Sünde verfallen ist dann erst der außerchristliche Mensch! Das simul steht so im Dienst des Erweises der totalen Heillosigkeit des Menschen, seiner totalen Angewiesenheit auf Christus. Ihm geht jedes liberum arbitrium, sich auf die Gnade zu disponieren, ab. Vgl. 2,408,30 f.: »Si iustus in gratia non potest facere bonum, quin simul peccet, quanto magis iniustus non facit bonum«; 2,410,16 ff.: »Ex quo (daraus, dass die ersten drei Vaterunser-Bitten, welche Sünde voraussetzen, von den sanctissimi gebetet werden) ulterius sequitur […], omnem actum hominis esse malum extra gratiam, quando etiam actus iustorum in gratia non est bonus nec implet mandatum dei«; 2,586,33–36; 1,356,23 f.; 6,92,35 f.; 7,359,18–35; 18,783,6–9.

Gute Werke 259 (2,409,26 f.; vgl. 2,413,4) Zwar ist im positiven Wollen der Widerstand gegen dieses concupiscere mitgesetzt, Letzteres kann aber von jenem nicht überwunden, sondern nur an der tathaften Ausführung gehindert werden: »Volunt [sancti] legem dei servare, ne concupiscant aliquid contra legem dei, sed non faciunt nec implent hoc velle: ideo manent peccatores et non unum saltem opus faciunt, in quo nihil sit debiti aut defectus a lege.« (2,413,5–8) Luther kann den Sachverhalt schließlich auch quantifizierend ausdrücken: »Igitur tantum est ibi peccati, quantum noluntatis, difficultatis, repugnantiae, Et tantum ibi meriti, quantum voluntatis, libertatis, hilaritatis. Mixta sunt haec duo in omni vita et opere nostro.« (2,413,16 ff.) Zwar gibt es hienieden kein gutes Werk, in welchem die genannte repugnantia null ist, aber dass im christlichen Leben beides, die voluntas und die noluntas, in jeweils unterschiedlichen Intensitäten und »Mischungsverhältnissen« vorliegen können, scheint in dem Zitat vorausgesetzt zu sein.490 Luther zielt damit auf den mit der partim-partim-Formel anvisierten Sachverhalt des simul. Wenn Luther von dem Nebeneinander zweier Willensrichtungen, von voluntas und noluntas gegenüber dem göttlichen Willen bzw. von Geist und Fleisch spricht,491 dann muss das als strenges Zugleich in einem Menschen verstanden werden: Zur selben Zeit ist beides in einer Person. Luthers Formulierungen gehen dann oft in Richtung eines symmetrischen Parallelismus bzw. Dualismus, wobei für ihn natürlich im Christen wesensgemäß die positive Willensausrichtung überwiegt und obsiegt, insofern ja dem bösen Streben nicht nachgegeben wird, es zur Ausführung des guten Werkes kommt und die böse Willensausrichtung nur das intentionale Aussein auf das Gute beeinträchtigt und »verunreinigt«. Einige Zitate aus »Grund und Ursach« mögen dies belegen: Paulus »spricht klerlich, das sie [die Galater] fleysch und geyst und zweyerley widderspenstige begirde oder lust yn yhn haben« (7,329,21 f.). »Das ist, das geist und fleisch widdernander streitten, aber der geist, wie wol mit muhe und erbeit sol oben ligen und das ungehorsam fleisch unterdruken.« (7,331,9 f.) Insbesondere Röm 7,25 gibt Luther zu solch parallelen Wendungen Anlass: »Ist das nit klar gnug, das eyn eyniger mensch zwey stuck ynn yhm selb findet: durch den geyst will er das gutte und dienet dem gesetz gottes und ist frum, hat auch lust unnd lieb dar ynn, aber durch das widderspenstige fleisch wil er das bosze und hat lieb und lust darynnen, dem selben zu dienen.« (7,331,32–35) Da aber Fleisch und Geist, beiderlei Wollen in einer Person vereinigt sind, die Person selbst beides ist, wird auch beides dem einen Menschen zugerechnet: »Unnd alszo, die weil fleisch und geist eyn mensch ist, szo wirt yhm zu gerechent beyderley, ob sie wol widdernander sein, art, werck, lieb und lust. Und des geistes halben ist er frum, des fleisches halben hat er sund. Vgl. 1,367,26 f.: »Ideo semper peccamus, dum benefacimus, licet quandoque minus, quandoque magis.« 491 Saarinen, Klostertheologie, 283, spricht vom »gemischten Willen« bzw. vom Willen »im ›gemischten‹ Zustand«. 490

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

[…] Den die weyll das edliste, beste, hohiste stuck des menschen, der geyst, durch den glawben frum unnd gerecht bleibt, rechnet yhm got nit zum vordamnisz die ubrige sund des geringsten stucks, des fleisches.« (7,331,36–333,7) Dabei muss erwähnt werden, dass das simul der beiden Willenstendenzen bei Obsiegen des Geistes über das Fleisch für Luther einen Heilsstand bedeutet: Kämpfen gegen die Sünde und dem Fleisch widerstreben: das vermag allein der Geist in der Gnade der Rechtfertigung. »Szo ists nit muglich, das widder und von den sunden bitte odder begere, denn die do schon frum seinn. Der angehabene geist, und das erste stuck der gnaden hat allein die art, dass es widder die ubrigen sunde erbeittet. […] Den wilche nit angefangen haben frumm zu sein, die streitten nit, klagen nit, bitten nit widder yhr fleisch und sund.« (7,337,4–10) Dass die konfliktreiche Duplizität der beiden Intentionalitäten im Menschen nicht mit dem Zustand vor der Taufe zu vergleichen, sondern eindeutig ein anderer ist ist, bringt Luther im Antilatomus mit der im Anschluss an Röm 6,12 ff. entwickelten Distinktion zwischen peccatum regnans und peccatum regnatum zum Ausdruck.492 Die Sünde, also die böse Konkupiszenz, obwohl sie ihrer Natur und Substanz nach dieselbe bleibt, ist durch die Taufe von einer herrschenden zu einer beherrschten geworden. Sie ist zwar vorhanden, aber ihrer Mächtigkeit beraubt. »Aliud scias esse, peccatum regnare et aliud, peccatum regnari. […] vos [sc. Latomus und die Seinen] valde probatis, non esse in sanctis vel operibus eorum peccatum regnans, sed non probatis, non esse peccatum regnatum.« (8,94,4–10) Luther visiert mit dem peccatum regnatum einen doppelten Sachverhalt an: Zum einen ist die Sünde, obwohl sie ihrem »Wesen« nach dieselbe bleibt, durch Christus ihrer anklagenden und verdammenden Macht vor Gott beraubt – und damit eben ihrer vornehmlichen Mächtigkeit über den Menschen. Das Reich Gottes ist angebrochen, das Reich der Sünde gespalten, der Schlange ist durch Christus das Haupt zertreten.493 Zum anderen kann die Sünde aber auch als Folge davon im Menschen nicht mehr herrschen und ihn zu sündigen Taten treiben, weil der Getaufte ihr zu widerstehen vermag, ihr nicht mehr zustimmt und gegen sie kämpft. Die böse Willensrichtung ist im Stand des simul also eindeutig von der guten dominiert. Luther betont immer wieder, dass es eine Verzeichnung seiner Position darstellt, ihm zu unterstellen, er lehre das Vorhandensein des peccatum regnans in den Heiligen, wo er doch nur vom Bleiben der Sünde im Sinne des peccatum regnatum ausgeht (8,94,13 f.).494 Vgl. zum Folgenden 8,92,5–37; 94,2–37; 96,18–24. Siehe auch 56,320,22–25; 20,659,1– 5; 42,199,11–39 (zu Gen 4,7); 51,177,18–186,9; Peters, Mensch, 41. 493 Zu dieser Anspielung auf Gen 3,15 s.o. Anm. 444. 494 Luther beschreibt die jeweilige Mächtigkeit der Sünde anhand der aristotelischen Kategorientafel (vgl. 8,88,9–93,17): Hinsichtlich der Substanz, also ihrer Natur als Sünde nach, bleibt sie vor und nach der Taufe dieselbe: Sie ist ein gottwidriges Wollen, eine Verletzung des göttlichen Gesetzes. Verändert wird sie aber hinsichtlich der Kategorien der Quantität, Qualität, Aktivität, Passivität, des Raumes und der Zeit. »Ita peccatum nobis post baptismum vere peccatum est naturaliter, sed in substantia, nec in quantitate, nec 492

Gute Werke 261 Luther bringt den Wechsel vom peccatum regnans zum peccatum regnatum mit zwei Bildern zum Ausdruck: Zum einen – dieser Vergleich begegnet bei Luther schon früh – ist es wie bei der Landnahme des Volkes Israel. Die Israeliten konnten einen Teil der Völker, obwohl deren Könige getötet wurden, nicht vertreiben, sondern dieser »Rest« lebte unter ihnen weiter, nicht herrschend, sondern unterworfen und tributspflichtig. Erst David vermochte ihn zu vernichten (8,89,1–10). Oder mit der durch Christus (als unserem David) zwar verdammten, aber noch vorhandenen Sünde verhält es sich wie mit einem Räuber, der gefangen und in Ketten gelegt ist und so an einem neuen Raub gehindert wird, sein Todesurteil schon empfangen hat, der aber dennoch seiner Natur nach weiter dieser Räuber ist. Und so wie dieser unschädlich gemachte, aber weiter handlungsbereite Räuber erneut zur Tat schreiten würde, wenn er wieder frei käme, so ist die gefangene und ohnmächtige Sünde für den Christen eine Gefahr, wenn er sich wieder auf sie einlässt. Denn ihrer Substanz nach ist die Sünde dieselbe (8,91,31–40).495 Von den bisherigen Ergebnissen her lässt sich nun die Frage klären: Will Luther sagen, dass jedes gute Werk des Glaubenden (ausschließlich) Sünde ist, oder will er nur behaupten, dass in jedem guten Werk noch Sünde ist? Das Sünde-Sein eines guten Werks ist nicht gleich dem Sein von Sünde in einem guten

qualitate, nec in actione, in passione vero totum. Nam idem prorsus est motus irae et libidinis in pio et impio, idem ante gratiam et post gratiam, sicut eadem caro ante gratiam, et post gratiam, sed in gratia nihil potest, extra gratiam praevalet.« (8,91,35–40) Die Beendigung ihres vor Gott anklagenden und verdammenden Charakters fällt in die Kategorie der Relation, so wie man die Beschneidung ihrer Herrschaft im Menschen (Erzwingung eines Konsensus zu den bösen Neigungen und Regungen) den anderen Kategorien zuordnen kann. Für Luthers Begriff der Restsünde (peccatum reliquum) bedeutet dies, dass er damit nicht das sündige »Wesen« der postbaptismalen Konkupiszenz negiert. – Nicht ganz zu der von Luther behaupteten Identität der Sünde nach ihrer Substanz vor und nach der Taufe passt 8,93,3–6: »Non ergo dicendum, quod baptismus non tollat omnia peccata, vere omnia tollit, non secundum substantiam, sed plurimum secundum substantiam, et totum secundum vires eius, simul quottidie etiam tollens secundum substantiam, ut evacuetur.« Luthers Absicht, die Korrektheit der Textüberlieferung einmal vorausgesetzt, ist indessen klar: Er will es nicht bei der Alternative belassen: Die Taufe nimmt die Sünde non secun­ dum substantiam, sed secundum reatum weg, nicht effektiv, sondern forensisch, sondern möchte auch festhalten: auch zumeist hinsichtlich der Substanz und völlig hinsichtlich der Kräfte. Durch Gottes in der Taufe empfangene Vergebung wird die »Substanz«, das gottwidrige Wesen der Sünde angegriffen, seiner Wirklichkeitsmacht beraubt, wenngleich es als solches noch bleibt. Gottes Urteil bzw. die Nichtanrechnung der Sünde wirkt sich auf das Sein des Menschen aus, es leitet seine effektive Gerechtmachung ein. Dennoch ist die Redeweise von der Wegnahme bzw. Verminderung der Sünde ihrer Substanz nach inkonsequent. Vgl. Joest, Gesetz, 83 f. 495 Freilich vermag Luther auch im Blick auf das Gottesverhältnis von der bleibenden Sünde zu sagen: »Sic enim verissime dicunt [patres], peccatum illud gratiae […] prorsus neminem reum constituere, non damnare, non nocere, prorsus nihil commune habere cum peccato extra gratiam.« (8,102,5–8)

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Werk.496 An einer Stelle in »Grund und Ursach« geht Luther explizit auf diese Pro­blematik ein. Im Anschluss an ein Zitat Gregors des Großen führt er aus: »Solltestu [sc. Gregor] sagen thuren, das alle unszer gutte werck eyttel sund seinn? du bist ynß Bapts bann und ein ketzer viel erger den Luther, wilcher sagt nur, das ynn allen gutten wercken sund sein, und du machst eytel sund drauß.« (7,437,11–14) Abgesehen von der Frage, ob Luther hier Gregor richtig gedeutet hat,497 erhellt für seine eigene Position jedenfalls, dass er nicht behaupten will, dass das gute Werk des Gerechten schlechthin Sünde sei. Dann wäre es ja auch vom Tun des Menschen außerhalb der Gnade nicht mehr zu unterscheiden bzw. sein Gegensatz gegen die Sünde nicht mehr fassbar.498 Wenn im guten Werk tatsächlich – wie oben gezeigt – zwei Willensrichtungen koexistieren, die des Fleisches und die des Geistes, so ist ja auch nichts anderes zu erwarten. Dennoch kann natürlich nicht übersehen werden, dass Luther auch formulieren kann: »omne opus bonum est peccatum«, was eine Identität beider nahelegt. So heißt es ebenso in »Grund und Ursach«: »Darumb muß ich dissen Artikel auch widerruffen und sage alszo. Ein gut werck, auffs beste gethan, ist ein teglich sund nach der barmhertzickeit, und ein todsund nach dem gestrengen gericht gottes.« (7,439,5–8)499 »Drumb musz ich den Artickel auch widderruffen unnd nu alzo sagen: Es soll niemant dran zweiffelnn, das alle unszer gute werck todsund sein, szo sie nach gottes gericht unnd ernst geurteilt und nit allein ausz gnadenn fur gut angenommen werden.« (7,445,17–20)500 Luther bedient sich hier der von ihm öfter gebrauchten Argumentationsform des Widerrufs durch Überbietung und verschärft mithin seine Aussagen.501 Jedoch gibt er auch eindeutig die Hinsicht an, unter der gilt: »omne opus bonum est pec Vgl. Joest, Paulus, 303. Saarinen, Klostertheologie, 275, weist darauf hin, dass für Gregor schon die ersten, außer unserer Kontrolle stehenden (und vielleicht in der Folge abgewiesenen) schlechten Willensregungen lässliche Sünden sind. 498 So auch Joest, Paulus, 303: »Nicht dies ist die Meinung, daß das Werk des Geistes im Glaubenden nicht ein wirklicher Gegensatz gegen die Sünde wäre; wohl aber, daß dieses Werk des Geistes, indem es in seine Person eingeht, von der in der Person wesenden Sünde her, indem es sich gegen diese wendet, immer zugleich auch gebrochen und getrübt wird. Die Person des Sünders vermag das reine Werk des Geistes gleichsam nur unrein aufzufassen. So zieht in dieses Werk, das von seinem Ursprung her der Sünde entgegengesetzt ist und ihr auch im Glaubenden entgegengesetzt bleibt, gleichwohl die Sünde mit ein.« Joest (ebd., 303 f.) weist auch daraufhin, dass die von Luther anvisierte Ambivalenz des guten Werkes nicht der Heuchelei, also der »pharisäischen« Inkongruenz von innerer Haltung und vorgespiegeltem äußerem Verhalten gleichgesetzt werden darf. Diese liegt außerhalb des simul-Standes! Der Mensch will ja aus dem Geist Gottes heraus das Gute, und dennoch ist der Gegenwille dazu noch da. 499 Der ursprüngliche Satz Luthers lautete: »Ein gut werck, auffs aller beste gethan, ist dennoch ein tegliche sund.« (7,437,33 f.) 500 Vgl. auch hier die ursprüngliche These Luthers: »Niemant ist gewisz, das er nit alzeit todlich sund umb des allerheimlichsten lasters willen der hoffart.« (7,445,2 f.) 501 So Härle, Einleitung zu LDStA 1, XX–XXI. 496 497

Gute Werke 263 catum mortale«, nämlich sofern das Werk vor das strenge Gericht Gottes gestellt wird. Nach der Perspektive der göttlichen Barmherzigkeit ist es dagegen eine vergebene, »lässliche« bzw. »tägliche« Sünde.502 Man wird Luther so verstehen dürfen, dass unter dem strengen Gericht Gottes das in jedem guten Werk präsente böse Wollen auch das gute, gottgewirkte Wollen hemmt und verunreinigt und so das Werk als Ganzes zur Sünde macht, ja den Menschen selbst ganz als Sünder qualifiziert.503 Die Partialperspektive wird zur Totalperspektive!504 Insofern sind wir ganz und bleibend auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen. Blickt man aber – nicht streng rechtfertigungstheologisch, sondern anthropologisch – auf die beiden Willensrichtungen als solche, so kann davon gesprochen werden, dass in jedem guten Werk noch Sünde ist, eben weil es neben der konkupiszenten auch die geistbestimmte Intentionalität gibt. Eine undifferenzierte Identität von opus bonum und peccatum vertritt Luther also keinesfalls. Durch diesen Befund wird gut erklärbar – und dies ist für das Verständnis des simul von eminenter Bedeutung –, wie Luther die Total- und Partialperspektive ohne logischen Widerspruch gleichzeitig vom Christen aussagen kann: Letztere beschreibt quasi die anthropologische Verfasstheit (besser: das Kampfgeschehen) des Christenmenschen als Mit- und Gegeneinander zweier Streberichtungen, welche in quantitativ unterschiedlicher Intensität ineinander liegen. Erstere blickt dagegen streng rechtfertigungstheologisch auf das Verhältnis des Christen zu Gott, auf das, was ihn vor Gottes Gericht bestehen lässt, was »vor Gott gilt«.505 Und hier vermögen eben die guten Werke aus sich heraus nicht zu bestehen, nicht zu rechtfertigen, weil das ihnen zugrunde liegende Wollen gebrochen und gespalten ist und deshalb als Ganzes hinter Gottes Willen zurückbleibt. Hier rettet deshalb solus Christus! Denn: »quae [lex dei] non nisi puro et libero amore impletur.«

Vgl. auch 2,60,14 ff.: »[…] das auch unsere gute werck, wenn sie got mit seinem ernst und nicht mit seiner gutigen barmhertzickeyt richtet und urteylt, todlich unnd verdamlich seint.« 503 So wie das Werk von der Person qualifiziert wird, so schlägt es umgekehrt auf die Person wieder zurück: Es vermag die Person coram nicht zu rechtfertigen, sondern bestimmt sie (trotz des partim-partim) coram deo als totus peccator. Der Mensch bleibt, von Christus »abstrahiert«, »legi dei semper debitor et peccator« (2,412,36 ff.). Diesen Totalaspekt im Blick auf die Werke formuliert scharf 1,357,26 f.; 358,2 f.: »Non sic sunt opera Dei merita (de his quae per hominem fiunt loquimur), ut eadem non sunt peccata. […] Iustorum operum essent [peccata] mortalia, nisi pro Dei timore ab ipsismet iustis ut mortalia timerentur.« Vgl. auch 358,13–16. 504 Vgl. Kroeger, Rechtfertigung, 92 ff., bes. 93: »Was die ›Reste‹ im Fleisch tun, macht den ganzen Menschen zum Sünder«; 94: »Der kleinste ›Rest‹ genügt, um vor dem unendlich fordernden Gesetz […] zum totus peccator zu werden«; Prenter, Heiligung, 69 f. Bei Saarinen, Klostertheologie, 284, 289 f., wird dieser Gedanke nicht klar akzentuiert. 505 Nach Dieter, Luther, 102, handelt es sich bei der Partialperspektive um eine Spannung zwischen Teilen und Kräften im Menschen, welche der Erfahrung zugänglich ist, wogegen die Totalperspektive ein Glaubensurteil darstellt. 502

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(2,412,28 f.) Luther ist dabei von der Überlegung bestimmt, dass es gerade die verweigerte Ganzheit in der Liebe zu Gott ist, die den Menschen ganz zum Sünder macht. »Was nicht ganz vollkommen ist, ist ganz unvollkommen. Gibt es im Menschen einen Widerstand gegen Gottes Willen, so ist die vom Gebot erforderte Ganzheit nicht erreicht und das Gebot übertreten. Damit erweist sich der ganze Mensch als Sünder.«506 Luther führt dies selbst auch explizit aus: »Quicunque minus facit quam debet, peccat. […] oportet ex totis viribus diligere Deum, aut peccamus. […] quod non ex totis viribus diligamus, supra probata est, Quia no­ luntas in carne et membris impedit hanc totalitatem, ut non tota membra seu vires diligant Deum, sed resistit interiori voluntati Deum diligenti.« (1,368,10–20)507 Für die Prädikation des totus peccator im Blick auf den Christen ergibt sich daraus, dass dieser totus peccator zeitlebens nicht nur deshalb ist, weil sein neues Leben vollständig in Gott bzw. in Christus gründet und er von sich aus nur die Sünde »einbringt«508, sondern der Christ bleibt auch deshalb totus peccator, weil aufgrund der Permanenz der Sünde das neue Leben selbst, obwohl gottgewirkt, jederzeit »Geist« und »Fleisch« ist und so als Ganzes hinter der Intention Gottes zurückbleibt.509 Dieter, Luther, 97. Siehe ebd., 100 f., 102 f. Ähnlich Pesch, Theologie, 298 f. Die von uns zitierten Passagen sind Teil eines voll ausgeführten Syllogismus, der als Ganzer zu vergleichen ist. Wie sich hier mit dem Partialaspekt des simul der Aspekt des totus peccator notwendig verbindet, bleibt bei Peura, Mensch, 262–265, konsequent außer Betracht. 508 Luther vermag dies natürlich auch zu sagen. Vgl. 10 I/2,29,6–10: »Ey horistu nit, das keyn thun, keyn anfahen ynn dyr ist frum tzu werden, als wenig als auch tzunehmen und vollenden ynn dyr ist, Gottis alleyn ist anfahen, foddern und vollenden. Alles was du anfehist ist sund und bleybt sund, es gleysse wie hubsch es wolle, du kanst nichts denn sundigen, thu wie du willt«; 28,12,16 ff.20 ff.29 ff.: »Was ynn mir und alle meinen krefften ist ausser der gnade, ist alles sunde und verdampt. […] So weit gnade und glaube regiret, so byn ich from durch Christum, wo aber solches wendet, so weis und bekenne ich, das nichts guts bey und ynn mir ist. […] Da ist nichts guts was ich rede denke thue und lebe on deine gnad und Göttliche krafft, wenn ich gleich aller Mönche heilickeit hette.« 509 Es stellt deshalb eine Abschwächung der Position Luthers dar, wenn Joest, Ontologie, 268, schreibt: »Die eigentliche Paradoxie des simul Luthers ist also nicht die, daß eine Gerechtigkeit als bloße Amnestie behauptet wird, während das Leben und Verhalten des Menschen davon unberührt von Sünde ausgefüllt bleibt. […]. Das eigentliche Paradox, das hinter der simul-Formel steht, liegt vielmehr darin, daß ein Geschehen im Verhalten des Menschen behauptet wird, dessen kausales Woher nicht nur, sondern dessen wirkliches und aktuelles Subjekt Gott bleibt. In diesem Sinne sind und bleiben wir nur durch ›aliena iustitia‹ gerecht – besser gesagt: In und mit uns wird es recht und durch uns geschieht Rechtes von dem Mitsein dessen her, der allein der Gerechte ist.« Joest ist selbstverständlich darin zuzustimmen, dass das geistliche Wollen in uns Gott selbst zum bleibenden Subjekt hat und wir es streng genommen nicht von uns selbst aussagen können. Es ist relational begründet und wird nicht zu einer qualitas in uns. Wenn er dies aber so zu verstehen scheint, dass dieses geistliche Wollen als Gottgewirktes Gerechtigkeit vor Gott ist, dann übersieht er (oder notiert zumindest nicht explizit), dass für Luther jenes andere 506 507

Gute Werke 265 Luther belegt seine These »omne opus bonum est peccatum« mit zahlreichen Schriftstellen, welche er auch andernorts oft für das simul anführt.510 Neben Jes 64,5; Röm 7,19 ff.; Gal 5,17; Lk 10,30 ff.; Mt 10,33 führt er auch Eccl. 7,21 an, eine Stelle, die in unserem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist, weil sie Luthers Aussageintention klar hervortreten lässt, wenngleich ihm offenbar im Antilatomus exegetische Zweifel an ihrer Beweiskraft gekommen sind. Im Zusammenklang mit den anderen, eindeutigeren Stellen hält er sie jedoch für beweiskräftig (8,73,21–74,23). Eccl 7,21 (= Pred 7,20) lautet in der Vulgata-Fassung: »Non est iustus in terra, qui faciat bene et non peccet.« Gemeint ist hier Luther zufolge nicht, dass der Gerechte manchmal, hin und wieder auch aktuell (aliquando: 2,411,40–412,1; 8,76,36–77,7; 78,1–7) sündigt, und zwar dann, wenn er nicht das Gerechte tut, was durchaus vorkommt.511 Dann hätte der Prediger analog zu Prov 24,16 stattdessen nur gesagt: Es gibt keinen Gerechten, der nicht (auch) sündigt. Das »qui faciat bene« wäre in diesem Fall tautologisch und überflüssig, denn jeder Gerechte tut per definitionem Gutes. Eccl 7,20 zeigt deshalb vielmehr das gottwidrige vitium (2,412,4), das Gebrechen in den guten Taten, im Tun des Guten auf. Indem der Gerechte Gutes tut, sündigt er eo ipso simultan. Luther wendet sich also gegen ein Verständnis der Stelle, »wonach die Sünde bloß gelegentlich schlechten Taten des Gerechten zuzusprechen sei«, »bene facere« und »peccare« bilden ihr zufolge vielmehr die »gleichzeitigen Bestimmungen des Handelns des Gerechten«512.

sündige Wollen in uns genau dies verhindert. Vgl. zum Ganzen Joest, Ontologie, 258–269; ders., Gesetz, 90, 212244. 510 Vgl. 2,411,4–415,33. Im Antilatomus erhärtet Luther seine These durch breite Exegesen von Jes 64,5 (8,59–73); Eccl 7,21 (8,73–99) und Röm 7 (8,99–126). 511 1,357,28–38, bes. 29: »His [zu den Worten von Eccl 7,21] ab aliis dicitur, quod iustus quidem peccet, sed non quando benefacit«; 367,2–368,9, bes. 367,2: »Quod iustus etiam inter bene operandum peccet«; 8,78,6; 33 f.: »nihil hic de robustis illis peccatis disputamus, quibus aliquando sancti peccant, sed de quottidiano inhaerente.« 512 Zschoch, Argumentation, 22, 27. Vgl. 8,74,30 f.: »Deinde, quod sequitur [sc. qui bene faciat], explicat, quod talis etiam peccet bene faciendo.« – Dass die Schriftstelle sachlich nicht im Sinne des aliquando-Sündigens gemeint sein kann, sondern eben als simul von Gutsein und Sündigsein des Werks, begründet Luther im Antilatomus mit einer hamartiologischen Überlegung: Latomus versagt darin, einen Gegenstand oder Begriff sowohl substantiell, also seinem Wesen und den darin implizierten Eigenschaften nach, als auch akzidentiell, seinen nicht-wesentlichen Eigenschaften nach, zu bestimmen: »Deficit in modis praedicandi per se et per accidens.« (8,77,8 f.) Latomus hatte argumentiert, Gutes tun und sündigen schließe sich ebenso aus, wie dass ein Mensch lebt und zugleich stirbt. Für Luther dagegen ist die Sünde wesenhaft im guten Werk zugegen. Vorausgesetzt ist natürlich, dass dies für den Menschen in statu corruptionis, nicht von der Schöpfung her gilt. »Peccatum […] volui et nunc dico praedicatione perseitatis inesse operi bono quamdiu vivimus, sicut risibile inest homini.« (8,77,9 ff.) Der simul-Schluss ist immer nur dann logisch richtig, wenn die zweite Eigenschaft »praedicatione perseitatis« bzw. als »propria passio«, nicht »praedicatione per accidens« dem Menschen zugehört. Was eben beim Ster-

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4.3 Die Denkbarkeit des »simul« mittels der Unterscheidung von »gratia« und »donum« In seiner Schrift gegen Latomus, welche fast vollständig der Verteidigung des »omne opus bonum est peccatum« gewidmet ist, versucht Luther das simul durch die im Anschluss an Röm 5,15 entwickelte Unterscheidung von gratia und donum plausibel zu machen.513 Sie dient ihm dort zur Widerlegung eines gegen den simul-Gedanken gemachten Einwandes und soll verdeutlichen, wie es sein kann, dass der Getaufte einerseits von Gott her ganz gerecht, ganz angenommen ist, andererseits aber in ihm noch Sünde bleibt und bekämpft wird. Das Problem lautet also: Wie lässt sich die Totalitätsperspektive des iustus esse mit der Partialsicht partim iustus – partim peccator, welche das totus peccator impliziert, vereinbaren? Worin besteht der von Latomus gemachte Einwand? Aus der Glaubenswahrheit, dass in der Taufe alle Sünden vergeben werden, folge doch – so Latomus – die Vernunftüberlegung (ratio), dass nach der Taufe keine Sünde mehr vorhanden ist. Dieser ratio ist auch von Luther her zuzustimmen. Doch das Problem entsteht daraus, dass Paulus sich dadurch nicht abhalten ließ, den postbaptismalen Rest dennoch Sünde zu nennen. Die Gegner lösen dieses Problem – für Luther allerdings nicht überzeugend – mit einer Differenzierung im Begriff der Sünde: Sünde im Getauften meine nur Schwachheit (infirmitas) und damit Hinneigung zur Sünde, nicht aber Sünde im strengen Sinne (vgl. z. B. 89,18–21; 100,1–3; 101,34 ff.). Doch diese Unterscheidung ist für Luther nicht schriftgemäß, vielmehr ein »humanum inventum« (103,1). Er beansprucht nun mit unverkennbar triumphalem Gestus, unter der Erleuchtung des Heiligen Geistes eine Lösung gefunden zu haben, die sowohl der Glaubenswahrheit und jener Vernunftüberlegung Genüge tut, als auch das Wort des Paulus (Sünde) nicht umdeutet, sondern in seiner strengen Bedeutung stehen zu lassen vermag. Diese Lösung liegt in der Unterscheidung von gratia und donum. Dazu ist aber zunächst eine andere Unterscheidung, sozusagen das negative Gegenbild von gratia und donum, zu entfalten, da die Schrift zu unserem Heil (als der Befreiung von der Sünde) auf die Sünde in zweifacher Weise eingeht, nämlich durch Gesetz und Evangelium. Nach Röm 3,20 trägt das Gesetz dazu in der Weise bei, dass es die Sünde offenbart und zwar wiederum in doppelter Hinsicht: Es offenbart einmal die sich aus der Sünde des Protoplasten im Menschen selbst ergebende Folge, die ben nicht zutrifft, sondern nur von der Sterblichkeit. »Tamen ut sequitur: Homo vivit, ergo est risibilis, comesticus, dormitivus, mortalis et cetera, ita sequitur, Homo benefacit, ergo peccat, quia homo benefaciens est subiectum, et peccatum eius passio.« (8,77,14–18 ) 513 Vgl. für das Folgende 8,102,31–110,36 (alle Zitate nun nach WA 8); Hermann, These, 68–108; Prenter, Spiritus, 46–57; Matthias, Rechtfertigung; Schloenbach, Glaube; Rogge, Gratia; Iserloh, Gratia; zur Mühlen, Nos extra nos, 204–210; Vind, Streit. Zur Kontroverse mit Latomus überhaupt: Hermann, Kontroverse; Vercruysse, Jacobus Latomus.

Gute Werke 267 »corruptio naturae«. Diese Verderbnis der Natur besteht in der Grundsünde der concupiscentia und war als solche vor dem sie als Sünde qualifizierenden Gesetz zwar vorhanden, aber – anders als die Tatsünden – den Menschen unbekannt. Denn erst das Gesetz sagt nach Röm 7,7: »Non concupisces!« Luther begreift die Grundsünde der concupiscentia als »radicale illud fermentum« (104,6), als wurzelhaften Sauerteig und Nährbunden für die Tatsünden.514 Diesem »internum malum« korrespondiert nun als »externum malum« der göttliche Zorn, der sich im Schrecken vor Tod und Hölle äußert. Der Zorn ist gleichsam der göttliche Widerstand gegen die Sünde und verhindert, dass der Mensch in dieser Frieden findet und sich mit der corruptio naturae arrangiert. Beide Aspekte kann man auch als Strafe und Schuld der Sünde differenzieren, und die guten Taten stehen ebenfalls unter der ira Dei, da auch sie von der Sünde der Konkupiszenz infiziert sind und deshalb nur einen Schein des Guten an sich tragen.515 Im Unterschied zu dem bei der Sünde behaftenden Gesetz macht das Evangelium von ihr frei, indem es ebenfalls ein Zweifaches verkündet und bringt, nämlich donum und gratia, die – parallel zum malum internum bzw. externum – ein »bonum internum« und ein »bonum externum« bilden und jeweils auf ihr negatives Gegenstück einwirken. Das donum oder die Gerechtigkeit im Menschen ist der Glaube an Christus, welcher als innerste Wurzel der guten Werke begriffen wird und so die Verderbnis der Natur heilt und jener Wurzelsünde entgegenarbeitet: »Per iustitiam sanat [Evangelium] corruptionem naturae, Iustitiam vero, quae sit donum dei, fides scilicet Christi. […] Et haec iustitia peccato contraria in scripturis ferme pro intima radice accipitur, cuius fructus sunt bona opera.« (106,1–6) Die Gnade dagegen als die Gunst Gottes (favor dei) richtet sich gegen den Zorn: »Huic fidei et iustitiae comes est gratia seu misericordia, favor dei, contra iram, quae peccati comes est, ut omnis qui credit in Christum habet deum propitium.« (106,6 ff.) Wie aus diesen Zitaten ersichtlich wird, hat der Glaube eine »Doppelfunktion« bzw. steht in einer doppelten Relation: Er ist einerseits eng mit der menschlichen Erneuerung verbunden, insofern er selbst Gerechtigkeit im Menschen ist und Gerechtigkeit in ihm hervorbringt, zum anderen ergreift er aber auch die in Christus angebotene Gnade Gottes und appliziert sie dem Menschen.516 Die Gnade versteht Vgl. 104,26–29: Nach der Schrift besteht die schuldhafte Sünde bzw. das internum malum in der »universa illa corruptio naturae […], in omnibus membris, mala et ad malum prona ab adolescentia nostra«. 515 Vgl. 105,13–16: »Sola igitur lex ostendit, non quidem esse ista [bona] mala per se, cum sint dona dei, sed esse in malo usu propter radicale illud peccatum occultissimum, quo in illis confidebant, placebant, gloriabantur insensibili malo, sicut et nunc et semper facit hoc intimum peccati malum.« 516 Zu diesem doppelten Aspekt des Glaubens vgl. Prenter, Heiligung, bes. 68 f., 74; DB 7,11,6–16: »Aber Glaube ist ein göttlich werck in uns, das uns wandelt und new gebirt aus Gott, Johan. j. Und tödtet den allten Adam, machet uns gantz ander Menschen von hertzen, mut, sinn und allen krefften, und bringet den heyligen Geist mit sich […]. Er fraget auch 514

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Luther streng als Gunst Gottes (favor), welche nicht wie in der Scholastik zu einer qualitas, zu einem habitus auf Seiten des Menschen wird. Sie bleibt, anders als die Gabe, extern. Solche Gnade schenkt den wahren Frieden des Herzens, lässt den Menschen spüren, dass er einen gnädigen Gott hat, und schenkt ein fröhliches, sicheres und unerschrockenes Gewissen, das selbst dem Tode trotzt – »in fiducia istae gratiae dei« (106,10–15). In der Gabe der Gerechtigkeit allein würden wir dagegen nicht hinreichend fröhlich werden und auch diese Gabe nicht recht preisen, wenn nicht die Gabe (als Glaube) uns gerade die Gnade Gottes vermittelte (reconciliaret). Gleichwohl ist der Mensch auch »a corruptione sua sanatus« (106,12),517 der Glaube ist das bonum internum, das der Sünde entgegengesetzt ist und diese ausfegt (expurgat), er ist jener Sauerteig des Evangeliums (fermentum illud Evangelicum), der den ganzen Menschen durchwirkt, aber dennoch gilt: »Sicut ira maius malum est, quam corruptio peccati, ita gratia maius bonum, quam sanitas iustitiae, quam ex fide esse diximus. […] Nam remissio peccatorum et pax proprie tribuitur gratiae dei, sed fidei tribuitur sanitas corruptionis.« (106,15–20) Diese Sätze sind für das Verhältnis von gratia und donum und damit auch für die Relation von imputativer und sanativer Rechtfertigung entscheidend. Sie artikulieren nämlich klar, dass das eigentliche Fundament unserer Rechtfertigung vor Gott, der Grund unseres Bestehens in seinem Gericht und damit unserer Heilsgewissheit in der externen gratia bzw. remissio peccatorum liegt. Hierin allein gründet unser frohes Gewissen und die Zuversicht, einen gnädigen Gott zu haben, nicht aber in der in uns anfangenden Heilung und Glaubensgerechtigkeit. Wenn Luther davon spricht, dass die Gnade der Begleiter (comes) der Gabe sei (so wie der Zorn die Verderbnis der Natur begleitet),518 dann impliziert das keine Herabstufung, sondern eine Aufwertung der gratia: Das donum hat, um vor Gott bestehen zu können, ständig die Begleitung der gratia nötig.519 Man könnte auch formulieren: Allein die gratia ist die »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«, nicht aber das donum als anfängliche, unvollkommene, von der Sünde noch durchwirkte Gerechtigkeit in uns.520 nicht, ob gute werck zu thun sind, sondern ehe man fraget, hat er sie gethan, und ist ymer im thun. […] Glaube ist eyn lebendige, erwegene zuuersicht auff Gottes gnade.« 517 Luther hätte hier präziser formulieren müssen (sanandus bzw. sanatur), denn sanatus ist der Mensch doch erst im Eschaton. 518 Vgl. neben 106,6 ff. auch 106,30 ff. mit Bezug auf Joh 1,17: »Ita veritas ex Christo in nos fluens fides est, gratia fidem comitatur ob gratiam Christi.« 519 Vgl. Hermann, These, 85; Schloenbach, Glaube, 18. 520 Vgl. Matthias, Rechtfertigung, 139 f., 144. Siehe schon 8,80,29–82,218, bes. 81,3 f. 18 ff.: »Et tamen, qui coram hominibus et conscientia sua irreprehensibiles sunt, non iustificantur coram deo in hoc, sed in alio quopiam, nempe Christo. […] Denique pro verbo mori debemus tam certi, quod pura veritas sit, sed pro opere suo bono, quod sine omni vitio sit, quis audeat mori?« Luther bezieht sich hier u. a. auf 1.Kor 4,4; 82,9 f.: »Porro, ut pacem haberemus infallibilem, [deus] verbum suum in Christo nobis dedit, in quod cum fiducia nixi, securi essemus ab omni malo.«

Gute Werke 269 Entscheidend für Luthers Argumentationsgang ist nun, dass die Gnade, da sie extern bleibt, sich auf den ganzen Menschen bezieht (und beziehen kann), das gnädige Urteil Gottes umgreift den ganzen Menschen – wie das der Zorn ebenfalls tut. Wen Gott begnadet, den begnadet er als Ganzen, so wie der Mensch auch als Ganzer unter dem Zorn steht. Die Gnade und der Zorn totalisieren mithin und richten sich jeweils auf die Person, schließen sich deshalb aber auch gegenseitig aus und stehen nicht im Verhältnis des simul zueinander:521 »Iam sequitur, quod illa duo ira et gratia, sic se habent cum sint extra nos ut in totum effundantur, ut qui sub ira est, totus sub ira est, et qui sub gratia, totus sub gratia est, quia ira et gratia personas respiciunt. Quem enim deus in gratiam recipit, totum recipit, et cui favet, in totum favet. Rursus, cui irascitur, in totum irascitur.« (106,37–107,3) Demgegenüber werden die Gaben sehr wohl partialisiert: Gott vermag dem einen diese, dem anderen jene Gabe zuzuteilen, und er kann eine Gabe in unterschiedlicher »Quantität« geben, ja wachsen lassen, obwohl doch alle in derselben Gnade stehen. Dabei besteht nun zwischen sündiger Verderbnis und Zorn sowie zwischen Begabung und Gnade nicht automatisch ein Proportionalitätsverhältnis: Wer ganz, als Person unter dem Zorn steht, muss deshalb nicht ein völlig verwerflicher Mensch sein sowie umgekehrt der ganz Begnadete nicht eine Fülle von guten Werken vorweisen können muss.522 Die Gnade ist ja wirklich Gnade, die zwar nicht ohne das donum als Folge bleibt, aber nicht aufgrund des donum gegeben wird! »Ut longe, sicut dixi, gratia a donis secernenda sit, cum sola gratia sit vita aeterna.« (107,11 f.) Luther hebt damit erneut hervor, dass im Blick auf die Heilsfrage allein die gratia entscheidend ist. Luther hat nun die Voraussetzungen geschaffen, um seine versprochene »Lösung« zu präsentieren: Der Gerechte und Glaubende hat gratia und donum. Die Gnade begnadet ihn ganz, so dass die gesamte Person von Gott angenommen ist und der Zorn keinen Raum mehr hat.523 Die Gabe heilt ihn dagegen sukzessiv von der Sünde und der Verderbnis seiner Natur. Während die Gnade sofort die ganze Person umfasst, ist die Heilung durch das donum ein prozesshaftes Geschehen, welches das ganze Leben bis zum Tode währt. Der Glaubende ist folglich ohne Sünde, wenn man auf die Vergebung schaut, er hat aber sehr wohl noch Sünde, wenn man auf den Prozess seiner Heilung blickt: »Quid enim ibi peccati, ubi deus favet, et nullum nosse vult peccatum, totusque totum acceptat et sanctificat? Sed hoc non est referendum ad nostram puritatem, ut vides, sed ad solam gratiam faventis dei. Remissa sunt omnia per gratiam, sed non omnia sanata per donum.« Vgl. Prenter, Spiritus, 46: »Gnade und Zorn sind total, Glaube und Sünde partiell. Ein Mensch ist nämlich immer ganz unter der Gnade oder ganz unter dem Zorn. Aber der Mensch, der ganz unter der Gnade ist, ist niemals ganz Glaube, sondern immer zugleich Sünde, so daß der Glaube unter der Gnade in ständigem Kampf mit der Sünde steht«; Matthias, Rechtfertigung, 140, 142. Anders H. Bornkamm, Luther, 22 f. 522 Vgl. Hermann, These, 96 f. 523 Vgl. 107,14 f.: »gratiam, quae eum totum gratificet, ut persona prorsus accepta sit, et nullus irae locus in eo amplius.« 521

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(107,18–21)524 Dass also keine Sünde mehr da ist, kann und muss wirklich von der Gnade Gottes, von seinem rechtfertigenden Urteil her gesagt werden. Dieses entmächtigt nämlich die Sünde hinsichtlich ihres vor Gott anklagenden, von ihm trennenden Charakters. Im Blick auf uns aber ist noch Sünde da, allerdings so, dass sie nun gerade aufgrund unserer Annahme durch Gott im Glauben bekämpft wird. Während des Prozesses der Heiligung durch den Glauben kann und muss der Sündenrest aber im strengen Sinn Sünde genannt werden,525 die Sünde vor und nach dem Gnadenempfang besitzt dieselbe »Natur«, nur dass sie jetzt anders »behandelt« wird, in einem anderen Kraftfeld steht, insofern sie vergeben ist und bekämpft wird: »Nihil differt peccatum a seipso, secundum naturam suam, ante gratiam et post gratiam, differt vero a sui tractatu. Aliter enim nunc tractatur quam antea. Quomodo antea tractatur? Ut esset et cognosceretur, et obrueret nos, nunc tractatur, ut non sit et eiiciatur. At non ob hoc non est vere peccatum.« (107,26–31)526 Luther beansprucht, dass mittels der Distinktion zwischen gratia und donum die drei zunächst nicht zu harmonisierenden Aspekte sich nicht mehr widersprechen: einmal der nicht als infirmitas umdeutbare paulinische Terminus »Sünde« für den postbaptismalen »Rest«, dann die pietas fidei, wonach alle Sünden in der Taufe vergeben sind, und schließlich jene ratio, die daraus schließt, dass keine Sünde mehr da ist.527 Alles löst sich, wenn die beiden »Behandlungsweisen« der

Vgl. 107,32 f.: »Gratia quidem nullum ibi peccatum habet, quia persona tota placet. Donum autem peccatum habet quod expurget et expugnet«; 96,8 ff. (Unterscheidung von schon geschehener remissio und tätig herbeizuführender und erwarteter abolitio peccatorum). 525 Diesen Differenzpunkt zwischen Luther und Latomus nivelliert Iserloh, Gratia, 77. Vgl. aber 8,93,7–17. 526 Vgl. Matthias, Rechtfertigung, 141 f. – Dieselbe Unterscheidung von gratia und donum findet sich auch DB 7,9,10–22: »Gnade eigentlich heisset Gottes hulde oder gunst, die er zu uns treget bey sich selbs, aus welcher er geneiget wird, Christum und den Geist mit seinen Gaben in uns zu giessen.« Die Gnade ist der Grund der Gaben. Christus selbst wird hier offenbar »gegeben«, insofern er im Glauben in uns wohnt. Wie im Antilatomus wird die Gabe partialisierend bzw. quantifizierend, die Gnade dagegen totalisierend gedacht: »Ob nu wol die Gaben und der Geist in uns teglich zunemen, und noch nicht volkomen sind, das also noch böse lüste und sünde in uns uberbleiben, welche wider den Geist streiten […]. So thut doch die Gnade so viel, das wir gantz und fur vol gerecht fur Gott gerechnet werden. Denn seine gnade teilet und stücket sich nicht, wie die gaben thun, sondern nimpt uns gantz und gar auff in die hulde umb Christus unsers Fürsprechers und Mittlers willen und umb das in uns die Gaben angefangen haben.« Luther hat diese Distinktion später immer wieder aufgegriffen, so z. B. 30 III,577,37–579,32; 40 II,353,28–31; 357,35–358,26; 421,1–19; 50,599,25–600,2. Der Antilatomus fokussiert das donum stark auf den Glauben, während die zuletzt genannten Belege mehr das ethische Neuwerden bzw. den Kampf gegen die Sünde im Blick haben und oft von donum im Plural (dona) sprechen. 527 Vgl. Schloenbach, Glaube, 9: »Es ist nach Luthers Erkenntnis kein Widerspruch, unter 524

Gute Werke 271 Sünde nach Gesetz und Evangelium unterschieden werden, in denen sie dennoch dieselbe Sünde bleibt, das eine Mal aber vor Gott gilt und den Menschen bis ins Innerste zerstört, das andere Mal aber bei Gott vergeben ist und insofern nicht mehr da ist, als bleibende Sünde aber in der Kraft des Glaubens bekämpft wird (108,10–15). Für das Thema der guten Werke ist deshalb aber die These »omne opus bonum est peccatum« erhärtet: »Ita dico et doceo, ut omnis homo in omni opere suo sciat se tantum habere de peccato, quam in ipso nondum est eiectum peccatum.« (107,2 f.) Wir fokussieren das Ausgeführte auf die Frage der Denkbarkeit des simul.528 Luther gibt zwei unterschiedliche Hinsichten an, unter denen das simul gilt: In der gratia ist die ganze Person von Gott angenommen und von der Sünde frei, die »vis peccati« ist beseitigt. Das donum dagegen hat es noch mit der bleibenden und zu bekämpfenden Sünde zu tun, weil die »substantia peccati« geblieben ist. Luther bringt also mittels der Unterscheidung von gratia und donum den Totalaspekt des Gerechtgesprochenseins sowie den Partialaspekt des teils Gerecht- und teils Sünderseins zusammen. Da aber allein die Gnade uns vor Gott gerecht sein lässt, ist der Aspekt des totalen Sünderseins des Gerechten darin impliziert, wenn auch nicht explizit ausgesprochen. Das partim iustus oder in der Terminologie des Antilatomus: die Glaubensgerechtigkeit vermag für unsere Gerechtigkeit vor Gott nicht aufzukommen!

4.4 Was ist der Grund der Rechtfertigung: »gratia« und/oder »donum«? So sehr von den bisher besprochenen Partien des Antilatomus her sich dieses Ergebnis nahelegt, ist dennoch die in der Überschrift dieses Abschnitts benannte Frage an diese Lutherschrift zu richten, gibt es doch in ihr zwei kaum zu harmonisierende Aussagereihen, in denen sich unschwer Luthers imputatives Rechtfertigungsverständnis und der augustinische Einschlag seiner Rechtferti-

der Taufgnade zu stehen und trotzdem Sünder zu sein. Und dieses Sündersein braucht nicht erst durch theologische Menschenweisheit zu Schwachheit umgefälscht zu werden, um die Gnade möglich zu machen.« 528 Dieses wird 107,35 f. prägnant formuliert: »Deus non fictos, sed veros peccatores salvos facit, non fictum, sed verum peccatum mortificare docet.« Ähnlich, aber noch zugespitzter schreibt Luther an den verzagten und skrupulösen Melanchthon am 3. August 1521: »Si gratiae praedicator es, gratiam non fictam, sed veram praedica; si vera gratia est, verum, non fictum peccatum ferto. Deus non facit salvos ficte peccatores. Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi. Peccandum est, quamdiu hic sumus.« (Br 2,372,82–86) Vgl. auch den Brief an Georg Spenlein (8. April 1516; Br 1,35,28–36); an Georg Spalatin (21. August 1544; Br 10,639,32–41). Ferner 1,370,9–13; 5,476,32–35; 8,94, 29 f.

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gungslehre wiedererkennen lässt. Das Problem lässt sich auch wie folgt umreißen: Bekommt die anfangende Glaubensgerechtigkeit des Menschen irgendeine Bedeutung für die Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, oder bleibt der Mensch hier allein und zeitlebens auf die zugesprochene, angerechnete Gerechtigkeit Christi angewiesen? Die eine Aussagereihe liegt auf der Linie des Bisherigen: Für Luther kann unser Heil und dessen Gewissheit niemals auf die guten Werke gegründet werden, weil ihnen immer noch die Sünde inhäriert, auch nicht auf die Gabe des Glaubens, sofern dieser ein Vollzug im Menschen ist, sondern nur auf Christus und seine Gerechtigkeit, also auf die Gnade. Deshalb dürfen wir auch nicht auf uns selbst, auf die uns geschenkten Gaben, ja nicht einmal auf unsere Gläubigkeit blicken und reflektieren, sondern der wahre Glaube ist gerade der, der nichts als reine Bezüglichkeit, reine Intentionalität auf Christus hin sein will. Nur insofern rettet er uns vor dem göttlichen Zorn! Darum dürfen wir in der empfangenen Gabe nicht genügsam und sicher werden, das wäre geistliche »Hurerei« (112,10 f.), sondern müssen täglich in Christus hineingerissen und hineintransformiert werden. Luther wendet sich folglich gegen einen Glauben, der auf seine eigene Gläubigkeit und die beginnende sittliche Erneuerung vertraut. Der wahre Glaube ist vielmehr ganz auf Christus und seine Gerechtigkeit ausgerichtet, bezieht von daher sein Vertrauen. Und dennoch ist das Zufluchtnehmen bei der externen und fremden Gerechtigkeit Christi nicht zu trennen vom »transformari in Christum«, das doch auch das eigene, ganz von Christus erwirkte Neuwerden einschließt. Nur dass mich dieses nicht coram Deo bestehen und die Gewissheit meines Heils gewinnen lässt.529 Vgl. 111,27–112,14: »Certos autem nos esse oportet, ideo deus in gratia sua nobis providit hominem, in quo confideremus, et non in opera nostra. Nam quamvis per donum fidei nos iustificarit, et per gratiam suam nobis factus sit propitius, tamen ne vagaremus in nobis ipsis et in his suis donis, voluit ut in Christum niteremur, ut nec iustitia illa cepta nobis satis sit, nisi in Christi iustitia haereat et ex ipso fluat, ne quis insipiens, semel accepto dono, iam satur et securus sibi videatur, sed in illum nos rapi de die in diem magis voluit, non in acceptis consistere, sed in Christum plane transformari. […] Ecce fides non satis est, sed fides quae se sub alas Christi recondat, et in illius iustita glorietur. […] Sed ea demum fides est, quae te pullastrum Christum gallinam facit, ut sub pennis eius speres. […] ut scilicet non in fide accepta nitaris, hoc est enim fornicari, sed fidem esse scias, si ei adheseris, de ipso praesumpseris, quod tibi sanctus iustusque sit. Ecce haec fides est donum dei, quae gratiam dei nos obtinet, et peccatum illud expurgat, et salvosque facit, non nostris, sed Christi operibus.« Die Formulierung »per donum fidei nos iustificaret« ist eigentlich ungenau, muss sie sich doch auf den Empfang des donum als iustitia Dei beziehen. Im strengen Sinn rechtfertigt nur die gratia. Sie allein schenkt einen gnädigen Gott. Zum Ganzen siehe auch 10 I/1,126–3–127,6; bes. 126,3 f.14 f.: »Er [Paulus] spricht nitt: durch unßernn glawben, sondernn: durch desselben Christus gnade, […] bleyb nit auff dyr selb oder auff deynem glawben, kreuch inn Christum«; 281,11–282,3; 26,164,39–165,7, bes. 164,40 f.: »Es ist gar viel ein ander ding, den glawben haben und sich auff den glawben verlassen«; Matthias, Rechtfertigung, 143 f.; Schloenbach, Glaube, 14, 19; Prenter, Spiritus, 54 ff.; ders., Heiligung, 66 f.; Hof, Unterscheidung, bes. 255–258, 276 f. 529

Gute Werke 273 Die Relation zwischen gratia und donum veranschaulicht Luther in der Folge durch das Bild zweier Befestigungsringe, die Gott gegen die Sünde und ihre verdammende Wirkung aufgestellt hat,530 und damit kommt die zweite Aussagelinie ins Spiel: Der eine, sozusagen innere Festungsring ist Christus, das Sühnopfer für unsere Sünden, unter dessen Gerechtigkeit die Glaubenden sicher sind, nicht weil sie glauben bzw. die Gabe besitzen, sondern weil dieser Glaube sich ganz auf Christus und seine Gnade richtet, also keine sakramental eingegossene Qualität in der Seele darstellt, sondern reine Relationalität ist. Es gilt deshalb: »Nullius enim fides subsisteret, nisi in Christi propria iustitia niteretur, et illius protectione servaretur.« (114,20 f.) Der Grund der Unzulänglichkeit all dessen, was auf Seiten des Menschen zu stehen kommt, liegt in der bleibenden Sünde und im göttlichen Gericht: »Scilicet tam magna res est hoc peccatum reliquum, sic intolerabile iudicium dei, ut nisi eum [Christum] pro te opponas, quem sine omni peccato esse nosti, subsistere nequeas, id quod facit fides vera.« (114,25 ff.) Der andere, gleichsam äußere Festungsring besteht darin, dass die Christen, welche die Gabe, d. h. den Glauben empfangen haben, nicht nach dem Fleisch wandeln und der Sünde nicht gehorchen. Luther bemerkt, dass beide firmamenta nicht gleichwertig seien: »prius illud principale et robustissimum est, licet et alterum sit aliquid, sed in virtute prioris.« (114,29 f.) Gott hat nun für die, welche auf diese Weise in Christus sind, einen »Pakt« beschlossen, »ut si pugnent contra seipsos et peccatum suum, nihil sit damnationis« (114,30 ff.). Luther interpretiert dabei diese aus Röm 8,1 entnommene Wendung (»nihil sit damnationis«) nicht wie Latomus, wonach in den Glaubenden oder im guten Werk keine an sich verdammenswürdige Sünde mehr vorhanden wäre, sondern deshalb ist nichts Verdammliches mehr in ihnen, »quia sunt […] in Christo Ihesu, et non ambulant secundum carnem« (114,34 f.). In unmittelbarem Anschluss daran streicht Luther nochmals kräftig die Priorität des ersten Festungsrings heraus: Gegenüber aller Abschwächung der postbaptismalen Sünde durch die scholastischen Theologen ist festzuhalten, dass Gott diese Sünde so groß macht, damit man ihm selbst seinen eigenen Sohn entgegenstellt, ja er treibt durch dieses harte Gericht alle Menschen zu dem rettenden Christus. Gegenüber den Vorstellungen von guten Werken ohne Sünde, vom eingegossenen und erworbenen Glauben und vom freien Willen ist klar zu sagen, dass allein die Ausrichtung auf Christus zählt: »In Christum tete rapi opportet […]. Magnitudo protectionis satis indicat, quantum sit peccatum istud. […] Omnes sancti tremunt hoc iudicium, et nisi Christum opertorem habeant, pereunt.« (115,14–20)531 Zwar stellt Luther hier nochmals eindeutig Christus bzw.

Vgl. 114,16 ff.: »Deus enim eis providit duo robustissima munitissimaque firmamenta, ne hoc peccatum eis sit in damnationem.« Also beide Befestigungen richten sich gegen die verdammende Wirkung der Sünde! 531 Vgl. 25,331,2–10: »Neque enim potest conscientia secura esse, si non peccata procul e conspectu remota sint. Sic autem removenda sunt e conspectu, ut non factum tuum, non vitam, non conscientiam tuam sed Christum inspicias, ita fiet, ut transferaris extra te in 530

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das In-Christus-Sein als den einzigen Grund unseres Bestehenkönnens vor Gott heraus, lässt aber mit der Konzeption des alterum firmamentum dennoch den Gedanken zu, dass, wenn schon nicht unsere guten Werke, so doch unser gottgewirkter Kampf gegen die Sünde, unser gegen das »Fleisch« gerichteter Wandel hierbei eine sekundäre Funktion übernimmt, eben ein zweites »firmamentum« gegen die vor Gott verdammende Wirkung der bleibenden Sünde bildet.532 Man kann nicht umhin, zuzugestehen, dass Luthers Aussagen schwer auszugleichen sind und ein großes Problem der Lutherinterpretation darstellen, das in vielen Lutherarbeiten entweder gar nicht gesehen oder vorschnell harmonisiert bzw. konstruktiv-systematisch gelöst wird:533 Luther sagt einerseits immer wieder klar, dass vor Gott allein die Gnade, die Gerechtigkeit Christi zählt und mich gerecht sein lässt. Darauf allein ruht meine Heilsgewissheit. Was hier zählt, ist also die imputatio der Gerechtigkeit Christi. Andererseits macht er aber doch mein Angenommensein durch Gott abhängig von der Gabe, vom Glauben und seinem Kampf gegen die Sünde – und dies, obwohl Luther nicht müde wird, zu betonen, dass mein Glaube und alle Glaubensfrucht vor Gottes Gericht nicht beChristum et transplanteris ex oleastro, ut cum Paulo loquar, et ex mundo in Christum. […] Neque est Christianismus aliud quam perpetuum huius loci [Jes 53,5] exercitium, nempe sentire te non habere peccatum, quamvis peccaris, sed peccata tua in Christo haerere, qui est salvator in aeternum a peccato, morte et inferno.« 532 Ähnlich argumentiert 8,95,23–96,6: Unsere Werke sind nicht deshalb gut vor Gott, weil keine Sünde mehr in ihnen wäre, sondern deshalb, weil sie im Kampf gegen die Sünde geschehen, wir ihren concupiscentiae nicht gehorchen und sie daher nicht mehr herrscht. »Fatemur opera nostra deo placere omninoque per ea nos salvari (!), sed non sic sunt bona, quod sine peccato sint, sed quia adversus peccatum pugnando facta sunt.« (95,25 ff.) Gott begnügt sich gleichsam mit diesem niedrigeren Maßstab (Richtung gegen die Sünde), obwohl er die Sündenfreiheit der Werke und die kampflose Ausrichtung auf das Gute fordern könnte. Dies ist uns aber nicht möglich, wegen des »Teiles« (pars) in uns, d. h. dem fleischlichen, ichsüchtigen Streben, das gegen uns kämpft und dem Gesetz Gottes Feind ist. Barmherzigkeit und Vergebung ist all denen verheißen, die wenigstens diesem »Teil« nicht zustimmen und ihm widerstehen. Zugleich sagt Luther aber auch, dass dieses Bemühen nicht aus sich heraus Gott gefällt, sondern »quia ipse indulsit et acceptare promisit. […] hac enim miserente, non te currente, bona sunt opera tua« (95,35 f.; 96,1 f.). 533 Siehe aber schon die Problemanzeigen bei Loofs, Leitfaden, 729 ff., für den bei Luther letztlich doch das »propter Christum« das Entscheidende ist, und bei O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 143–149, der in den missverständlichen Formulierungen Luthers eine »ungenaue Redeweise« (143) erblickt, welche die ethische Verantwortung des Getauften betonen wolle und letztlich synekdochisch gemeint sei: Man schreibt dem Ganzen (der Rechtfertigung im weiteren Sinn) zu, was streng genommen nur von einem Teil (der Rechtfertigung im engeren Sinn) gilt (149). Das Problem der Verhältnisbestimmung von gratia und donum hat Prenter, Spiritus, 48 f., scharf gesehen, wenn er feststellt, auf Grund bestimmter Lutherstellen könne es so scheinen, als sei das donum bzw. der Glaube die Bedingung für die Gnade bzw. Letztere eine Folge des Glaubens. Der Glaube würde dann aber zum verdienstlichen Werk. Andererseits rede Luther so, dass die Gnade bzw. der favor Dei das Primäre sei. Zu seinem Lösungsversuch siehe ebd., 49–52, 56–57.

Gute Werke 275 stehen können und in jedem guten Werk noch die nicht groß genug zu machende Sünde präsent ist.534 Es kehrt hier dasselbe Problem wieder, das uns schon oben bei der Interpretation des propter Christum und propter initium creaturae novae begegnete.535 Klar ist wohl: Da Luther die Exklusivität der imputatio der Gerechtigkeit Christi (bzw. der unio mit Christus) im Blick auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, so akzentuiert hervorhebt, darf und kann hinter diese Aussage nicht zurückgegangen werden.536 Da aber andererseits in unmittelbarer Nähe zu ihr eben auch jene anderen Aussagen angetroffen werden, ist nicht davon auszugehen, dass Luther hier einen bestehenden Widerspruch übersehen bzw. bewusst in Kauf genommen hätte. Freilich ist auch festzuhalten, dass er selbst, von Andeutungen einmal abgesehen, die systematische Hinsicht, unter der beide Aussagenreihen zusammenstimmen, nicht angegeben hat. Daher können im Folgenden unter Aufgreifen jener wenigen Hinweise nur konstruktive Mutmaßungen darüber angestellt werden, wie Luther beide Aussagereihen konsistent verbunden wissen wollte. Erstens: Die anfangende Gerechtigkeit im Menschen (Glaube, Kampf gegen die Sünde, gute Werke) gründen in der Rechtfertigung durch Gott kraft der im Luthers Position lässt sich an dieser Stelle nicht darauf reduzieren, dass die neue Lebenspraxis nur den Erkenntnisgrund für die Rechtfertigung sola fide bilde. – Wir stellen die diesbezüglichen »sperrigen« Stellen aus dem Antilatomus nochmals zusammen: 92,39 f.; 93,9–12; 107,34 f.: »persona non placet nec habet gratiam, nisi ob hoc donum hoc modo peccatum expurgare laborans«; 111,29 f.; 114,16 ff.30 ff.; 118,32–35; 119,16 f.; 121,5–8; 123,7 f.; 124,16 f.; 126,31 f. Entsprechende Passagen finden sich auch in der »Vorrede zum Römerbrief«: Gottes Gnade »nimpt uns gantz und gar auff in die hulde, umb Christus unsers Fursprechers und Mittlers willen, und umb das in uns die Gaben angefangen sind.« (DB 7,9,20 ff.) Es ist »nichts verdamlichs an denen, die in Christo sind, der unuolkomenen Gaben und des Geistes halben. Umb des ungetödten Fleisches willen, sind wir noch Sünder, Aber weil wir an Christo gleuben, und des Geistes anfang haben, ist uns Gott so günstig und gnedig, das er solche sünde nicht achten noch richten will, Sondern nach dem glauben in Christo mit uns fahren, bis die sünde getödtet werde.« (DB 7,9,24–29) »Es ist sünde da, Aber sie wird nicht zur verdamnis gerechnet, umbs glaubens willen, der mit jr streittet.« (DB 7,19,21 f.) Wir sind dennoch Gottes Kinder, »wie hart auch die Sünde in uns wütet. So lange wir dem Geiste folgen, und der Sünde widerstreben sie zu tödten.« (DB 7,23,17 ff.) – Dass Luther dazu kommt, den Kampf gegen die Sünde als für die Gewährung bzw. Bewahrung der Rechtfertigung relevant zu erachten, hat gewiss auch mit seiner der Vulgata folgenden, heute nicht mehr haltbaren Lesart von Röm 8,1 zu tun: »Nihil ergo nunc damnationis est iis, qui sunt in Christo Iesu: qui non secundum carnem ambulant.« Dazu Luthers Interpretation 8,114,11–16. 535 Vgl. oben Kap. 1.3.1. 536 Dies gilt auch von daher, dass es gerade den Skopus der Unterscheidung von gratia und donum darstellt, die Externität der rettenden Gnade herauszustellen und sie von allem, was im Menschen ist, selbst vom Glauben, abzuheben. Die gratia wird nie eine qualitas im Menschen, sondern ist Gunst, eine neue, von Gott eröffnete Beziehung. Vgl. Schloenbach, Glaube, 11 f., mit Verweis auf 2,511,14–21 (1519), wo die divina reputatio bzw. der favor noch gratia und donum, das forensische und das effektive Moment umgreift. 534

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putatio der Gerechtigkeit Christi bzw. der Christusgemeinschaft. Die Erstere ist Folge und Frucht aus dieser und wird von ihr umgriffen.537 Für Luther sind diejenigen, die nicht nach dem Fleisch wandeln, schon in Christus Jesus. Die Botschaft, dass die Sünde vor Gott nicht mehr anklagen und verdammen kann und damit in ihrem innersten Lebensnerv getroffen ist, weckt Glauben, der seinerseits spontan gute Werke tut. Die anfangende Gerechtigkeit ist deshalb zweitens nicht einer in sich stehenden, meritorischen Eigenleistung des Menschen zuzuschreiben, sondern hier wirkt Gott bzw. Christus durch seinen Geist in uns, allerdings nicht – anders als bei der Rechtfertigung im engeren Sinn – ohne unsere cooperatio. Es geht um dona, Gegebenes, Geschenktes!538 Drittens ist das Zentrum der dona der von Gott selbst gewirkte Glaube, der die Werke als Früchte aus sich entlässt und in einer Doppelfunktion erscheint: als im strengen Sinn rechtfertigender, weil auf Christus gerichteter Glaube und als innerste Wurzel der Erneuerung und der guten Werke. Viertens kann Luther – wie schon gezeigt – offenbar zwei Blickwinkel einnehmen, aus denen er die Rechtfertigung sieht:539 Der eine ist sozusagen der alles Folgende umfassende Anfangspunkt der Rechtfertigung (ihr erstmaliges Geschehen in der Taufe), bei welchem alles ausschließlich von Gott her geschieht, das In-Christus-Sein wird konstituiert. Der andere Blickwinkel ist der auf den schon gerechtfertigten Menschen, der seiner bleibenden Sünde und der Geringfügigkeit seines donum ansichtig wird und begreift, dass er zeitlebens ganz auf Gottes Gnade angewiesen ist und sein darf, wofern er nur selbst gegen die Sünde kämpft. Dabei steht aber diese zweite und durch den Menschen quasi mitbedingte non-imputatio der Sünde auf dem Boden jener grundsätzlichen, ganz in Gott gründenden ersten Annahme des Menschen.540 Es geht hier darum, dass der Mensch die Gnade Gottes nicht bequem und verantwortungslos zum Nichtstun missbraucht bzw. zum Deckmantel des Bösen macht. Die Gefahr des Rückfalls unter die Sünde, die dann wieder zur herrschenden würde und ihre Mächtigkeit zurückerhielte, ist im Blick auf den Menschen nicht ein für allemal gebannt. Wer die Sünde nicht bekämpft und sich bei der Gnade beruhigt, ist damit ipso facto auch aus dem Glauben herausgefallen!541 Und schließlich wird man als Hinsicht, So auch Pöhlmann, Rechtfertigung, 354 f. Vgl. 92,39–42, wo durch passivische Wendungen die Aktivität Gottes betont wird: »Revera enim si a piis removeris misericordiam, peccatores sunt et verum peccatum habent, sed quia credunt et sub regno misericordiae degunt, et damnatum est et assidue mortificatur in eis peccatum, ideo non imputatur eis.« Andererseits betont Luther die Verantwortung des Menschen: »quas [reliquias peccati] nostro marte abolere debemus.« (89,9) Vgl. Schloenbach, Glaube 19, 31–35, 43; Vind, Streit, 453–459. 539 Vgl. dazu Walther, Konstruktionen, 52, 54 f., 61; Iwand, Rechtfertigungslehre, 56 ff., 70; Seils, Grund, 42. 540 So Jetter, Taufe, 320. 541 Das ergibt sich z. B. aus dem Abschnitt über den Glauben in der Vorrede zum Römerbrief, DB 7,9,30–11,27, bes. 11,9 f.12 f.21 f.: »O es ist ein lebendig, schefftig, thettig, mechtig ding umb den glauben, das unmüglich ist, das er nicht on unterlas sollte guts wirken. […] 537

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Gute Werke 277 die beide Aussagereihen zusammenbringt, angeben können: Der Kampf des Menschen gegen die Sünde, die guten Werke, ja sein Glaube als »Gläubigkeit«, worin überall noch die Sünde als Misstrauen und Ichsucht kopräsent ist, ist nicht so sehr in Anschlag zu bringen für die Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, für unsere Heilsgewissheit sowie unser Bestehen im göttlichen Gericht,542 als vielmehr für Gott selbst und seine Absicht mit dem Menschen: Da er die vollständige Erneuerung seines Geschöpfes und dessen vollendete Gerechtigkeit will, ist es für ihn wichtig und unverzichtbar, dass der Mensch – gewiss unvollkommen und von der Sünde noch durchwirkt – dorthin auf dem Weg ist. Diese seine Absicht hat Gott beim Rechtfertigungsurteil propter Christum, das zwar total gilt, aber dennoch ein Interim darstellt, mit im Blick und schaut auf das Ende des ganzen Weges.543 Und nur von dieser eschatologischen göttlichen »Blickrichtung« und Teleologie her ist Gottes paradoxes Heilshandeln zu verstehen: dass er den Sünder ganz gerecht spricht, obwohl dieser danach noch Sünder bleibt und als simul iustus et peccator lebt; dass in der Kraft des Gottesgeistes die Sünde zwar bekämpft wird, aber die daraus entstehende partielle »Gerechtigkeit« niemals eine solche werden kann, »die vor Gott gilt«.544 Wer aber nicht solche werck thut, der ist ein glaublöser Mensch. […] Also, das unmüglich ist, werck vom glauben scheiden.« 542 Sie erbringen nicht die dort geforderte Ganzheit (totalitas). Vgl. auch Schloenbach, Glaube 14, 19; Ellwein, Leben, 53–58, 62 f.; Prenter, Spiritus, 75–106, 225–238 – Siehe auch Luthers spätes Disputationsvotum: »Paulus duo complectitur ad Rom. 5 in iustificatione, gratiam et donum. Non igitur solum oportet nos esse iustos, sed etiam novam obedientiam in nobis inchoari.« (39 II,202,28 ff.) Luther räumt zwar ein, dass Paulus Röm 5,15 unter Rechtfertigung sowohl gratia als auch donum begreife. Er erkennt aber den Titel »iustus« dem Menschen allein von der Gnade bzw. imputatio her zu. Das zweiteilige Ganze der Rechtfertigung trägt also strikt genommen den Namen nur von einem Teil des Ganzen her. 543 Vgl. die wichtigen Bemerkungen von Matthias, Rechtfertigung, 141: »Es liegt alles an der Gnade und nicht an der Gabe, wenn man auf das ewige Heil des Menschen, es liegt sehr viel an der Gabe, an dem sanare corruptionem naturae, wenn man auf den Willen Gottes mit dem Menschen schaut«; 144: Die Änderung des Lebens ist die »Geschichtlichwerdung der imputativen Rechtfertigung«; die irdisch unvollkommenen Gaben »bestätigen«, ja »verifizieren« geradezu das Rechtfertigungsurteil, eine »Verifizierung«, die freilich gekennzeichnet ist »durch die Gebrochenheit und durch die Kreuzesgestalt des irdischen Christenlebens«. 544 Vgl. 8,92,42–93,3 heißt es von der »remissio baptismi gloriosissima«: »si spectes rem diligenter, fere maius est eum pro iusto haberi, qui adhuc peccatis infectus est, quam qui omnino purus est.« – Eine dem hier vorgelegten Interpretationsversuch konträre Deutung bietet Peura, Gunst (= ders., Verständnis). Er bezieht aufgrund der in der Tat mehrdeutigen Ausführungen Luthers das donum in den locus iustificationis mit ein. Gratia und donum machen, unbeschadet der Partialität des Letzteren, die Gerechtigkeit des Sünders aus, was man nur auf die iustitia coram deo beziehen kann (346 f., 348). Gratia und donum setzen sich nach Peura zudem wechselseitig voraus – und zwar in derselben Hinsicht der Rechtfertigung: Nicht nur bedingt die gratia das donum, sondern auch das donum die gratia – offenbar notwendig, wenn auch nicht hinreichend (351 f.). Peura meint damit

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Zur Erhärtung unserer Interpretation werfen wir einen Blick auf einen zentralen Passus in der Assertio (7,109,24–110,4). Bei der Behandlung der »reatu« vergebenen, aber »actu« nach der Taufe verbleibenden Sünde hebt Luther hervor, dass diese »aus doppeltem Recht(sgrund)« (duplici iure) (7,109,34) nicht schade. Zunächst aber führt er aus: »Haec ipsa enim gratia novi testamenti et misericordia dei est, quod, quia geniti sumus verbo veritatis et renati baptismate, ut simus initium aliquod creaturae eius, interim favor dei nos suscipit et sustinet, non imputans ad mortem quod reliquum est peccati in nobis, licet vere peccatum sit et imputari possit, donec efficiamur perfecte nova creatura: ad finem enim purgationis patris misericordia respicit, propter quem intermedias peccati immunditias statuit misericorditer ignoscere, donec penitus aboleantur.« (7,109,24–30) Wir sind mithin wiedergeboren durch das Hören des Wortes und den Empfang der Taufe, also (erstmalig) gerechtfertigt und von Gott ganz angenommen. Insofern stellen wir auch einen gewissen Anfang der neuen Schöpfung Gottes dar (Jak 1,18). Nun fällt aber der Blick auf die bleibende Sünde: Die göttliche Gunst nimmt uns zwischenzeitlich, vorerst an und erträgt uns, rechnet uns den Sündenrest nicht als Sünde zu, bis wir vollkommen Gottes neue Kreatur sind. Als Grund für dieses göttliche Verhalten wird genannt, dass der Vater in seiner Barmherzigkeit auf das Ende der Reinigung von der Sünde blicke.545 Zweierlei wird hier sichtbar: Luther differenziert tatsächlich zwischen dem ersten, umfassenden Empfang der Rechtfertigung durch gläubiges Hören des Wortes und Taufe und der göttlichen non-imputatio danach angesichts des Faktums der bleibenden Sünde.546 Erstere ist ein Geburtsgeschehen, d. h. von Seiten des Menschen völlig passiv. Als Grund der Nichtanrechnung der bleibenden Sünde wird dann zweitens angegeben, dass Gott auf den finis purgationis blicke, bei dessen Erreichung wir vollständig neugeschaffen sind und die Sünde ganz vernichtet ist. Diese Stelle ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass Gott nach Luther bei der Rechtfertigung (zumindest in deren »zweiter Phase«) die von ihm herbeizuführende und ihm gewisse seinshafte Gerechtigkeit des Menschen berücksichtigt. Man wird indessen, besonders wenn man auf das Folgende achtet, nicht soweit wie Holl gehen dürfen, dies zum zumehr als die auch von uns bei Luther festgestellte Perspektive, dass das Bleiben in der empfangenen Rechtfertigung auch von der Erneuerung auf Seiten des Menschen abhängt, diese selbst sich aber ganz der ersten Annahme durch Gott verdankt. Von den logischen Schwierigkeiten, die Peuras Deutung mit sich bringt, abgesehen (zirkuläres Verhältnis von gratia und donum), scheint sie uns mit dem Gesamtduktus der Theologie Luthers unvereinbar: Das Heil wird mit abhängig gemacht von der gnadenhaften Erneuerung und damit eine Heilsgewissheit letztlich unmöglich. Dies wird auch nicht anders durch Peuras Verwurzelung beider Momente in der unio cum Christo (348–351, 352 ff.). 545 Das »propter quem« kann sich grammatisch nur auf »ad finem« beziehen. Walther, Konstruktionen, 54, paraphrasiert: Gottes Barmherzigkeit »habe, um dieses [Ziel der angefangenen Reinigung] zu erreichen, beschlossen, die bis dahin noch bleibende Sünde zu verzeihen«. 546 So auch Walther, Konstruktionen, 53 ff. (gegen Holl).

Gute Werke 279 reichenden, eigentlichen Grund der Rechtfertigung zu erklären und deshalb das Rechtfertigungsurteil zu einem die Gerechtmachung antizipierenden bzw. analytischen Urteil zu qualifizieren.547 Aber dass Gott den Sünder gerecht spricht, ihm den Sündenrest nicht zurechnet: dies hat auch damit zu tun, dass es Gottes Absicht und Ziel ist, ihn ganz gerecht zu machen und die Sünde völlig zu vernichten. Der Zustand unter dem favor Dei stellt ein Interim dar! Nach einer kurzen Auslegung von Röm 8,1 spricht Luther nun, wie schon angedeutet, davon, dass die Sünde »duplici iure« nicht schade: »Primo, quia sunt per fidem in Christo Iesu, quo mediatore eis ignoscitur quicquid peccati inest, Secundo, quia non secundum carnem ambulant, id est, pugnant contra peccatum, ut extinguant, quo studio, quia inviti habent peccatum in se, pro non habentibus deus illos habet, non tamen nisi gratuita misericordia, ne superbiat quisquam in oculis dei de munditia sua, sed in humilate suae miseriae servetur.« (7,109,34–40). Als ersten Grund für die non-imputatio der bleibenden Sünde nennt Luther hier den Glauben an Christus, der aber nicht kraft seiner subjektiven Qualität in Anschlag gebracht wird, sondern insofern er auf den Mittler Christus gerichtet ist, der uns die Sündenvergebung »vermittelt«. Als zweiter Grund wird aber – unter Rekurs auf die Vulgata-Lesart von Röm 8,1 – der Kampf gegen die Sünde namhaft gemacht. Diesen berücksichtige Gott aber nur aus gnädiger Barmherzigkeit! Luther gewichtet hier also genauso wie im Antilatomus bezüglich der beiden firmamenta gegen die Sünde. Konsequent ist der Hinweis auf die gratuita misericordia im Blick auf den Sündenkampf insofern, als er – wie wir aus jener Schrift wissen – stets unvollkommen und von Sünde durchsetzt ist. Überblickt man den gesamten Passus, so scheinen uns Luthers Ausführungen durch die Annahme Konsistenz zu erlangen, dass die Veranschlagung des »non secundum carnem ambulare« letztlich nicht für das gegenwärtige Bestehen des Menschen coram deo erfolgt, sondern wichtig ist für die auf ein volles Gerechtsein des Menschen zielende Absicht Gottes: Der Vater blickt bei der Rechtfertigung auf den finis purgationis, und für dieses Ziel ist dann auch der Weg dorthin, der unvollkommene Kampf gegen die Sünde, wichtig, weil er signalisiert, dass der Mensch durch das Wirken Gottes dorthin schon unterwegs ist.548 So allein kann, trotz vielfach ambivalenter Aussagen Luthers, das solus Christus sowie das sola gratia bei der Vgl. Holl, Verständigung, 158–161. Holl macht für die Frage, warum Gott vergibt, das folgende »per fidem in Christo Jesu esse« und »non secundum carnem ambulare« ganz von der göttlichen Gewissheit vollkommener Erneuerung des Menschen abhängig. Zudem bestreitet er das Vorliegen der Perspektive einer »zweifachen Rechtfertigung« bei Luther, weil dieser die »erste« Rechtfertigung als sich je neu im Leben des Christen ereignend betrachte. Dies mag sachlich richtig sein, macht aber nicht ungeschehen, dass Luther mitunter die erstgenannte Blickrichtung einnehmen kann. 548 Dabei ist dieses »Signal« nicht nur für Gott von Bedeutung, sondern darf auch vom Menschen verstanden werden: Das ernstgenommene »non secundum carnem ambulare« wird ihm zur Konsequenz und zum Zeichen des von Gott in ihm geweckten Glaubens und des göttlichen Wirkens in ihm auf das Endziel hin. 547

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Rechtfertigung aufrechterhalten werden. Und erneut scheint es so zu sein, dass die »Logik« des rechtfertigenden Handelns Gottes von diesem Ende und Telos her verstehbar und nachvollziehbar wird.549 Unsere Interpretation wird ebenfalls bestätigt durch die beiden Sermone De triplici iustitia (1518) und De duplici iustitia (1519 [oder 1518 und vor dem Sermo de triplici iustitia?]), in denen Luther wie im Antilatomus versucht hat, das Verhältnis von imputativer und effektiv-sanativer Gerechtigkeit zu klären. Man kann mit gutem Grund die These vertreten, dass in der wenige Jahre späteren Schrift gegen Latomus an die Stelle der »duplex […] iustitia Christianorum« (2,145,7) die Unterscheidung von gratia und donum getreten ist.550 Luther nimmt eine doppelte Gerechtigkeit bei den Christen an, entsprechend der doppelten Sünde bei den Menschen. Die erste und grundlegende ist die fremde und von außen eingegossene (»aliena et ab extra infusa«) Gerechtigkeit Christi, welche im Glauben die unsere wird (2,145,9 f.).551 Der Mensch empfängt diese Gerechtigkeit (erstmalig) in der Taufe und anschließend in jedem Moment der Buße. Diese Gerechtigkeit ist zwar eine »fremde«, uns imputierte, aber dies muss zusammengedacht werden mit der engen Gemeinschaft und unio, die zwischen Christus und dem Sünder im Glauben entsteht: Alles, was Christus ist und getan hat, ja Christus selbst, wird dem Menschen zu eigen, wozu Luther auf das Bild der Ehe zurückgreift. Dabei kann sowohl Christus unsere Gerechtigkeit genannt werden als auch der Glaube, da er jene Gerechtigkeit Christi ergreift. Da Christi Gerechtigkeit die Sünde sogleich »absorbiert« und verschlingt, hat auch der Glaubende keine Sünde mehr, da er mit Christus innigst verbunden ist und dessen Gerechtigkeit die seine geworden ist. Das Verhältnis zur effektiven Gerechtigkeit bestimmt Luther durch den Satz: »Et haec iustitia est prima, fundamentum, causa, origo omnis iustitiae propriae seu actualis, quia vere ipsa datur pro originali iustitia in Adam perdita et operatur id, immo maius quam illa iustitia originalis fuisset operata.« (2,146,16–19) Die »erste Gerechtigkeit« tritt also an die Stelle der verlorenen Urstandsgerechtigkeit, ja überbietet diese, sie ist die Wiederherstellung der durch die Ursün Die parallelen Ausführungen in »Grund und Ursach« (7,343,35–345,21) sind um einiges ungeschützter und sorgloser, die »zwo […] ursach« (345,13) der non-imputatio der Sünde werden unvermittelt nebeneinandergestellt. – Eine ähnliche »Theologik« wie die soeben entfaltete lässt schon 1,370,9–13 erkennen: »Haec est dulcissima Dei Patris misericordia, quod non fictos, sed veros peccatores salvat, sustinens nos in peccatis nostris et acceptans opera et vitam nostram omni abiectione digna, donec nos perficiat et consummet. Interim igitur in protectione et umbra alarum eius vivimus, Et iudicium eius effugimus per misericordiam eius, non per iusticiam nostram.« 550 So Iserloh, Gratia, 78. Zur Interpretation der beiden Sermone vgl. zur Mühlen, Nos extra nos, 185–191; von Loewenich, Duplex iustitia, 2–13. Zur Datierungsfrage ebd., 9–13. 551 Im Sermo de triplici iustitia nennt Luther sie »iustitia […] natalis, essentialis, originalis, aliena, quae est iustitia Christi (2,44,32 f.). Haec fit nostra per fidem. […] Hanc qui habet, etiam si peccet, non damnatur.« (2,45,5.9) 549

Gute Werke 281 de verlorenen rechten Gottesbeziehung. Sie wird folglich der Erbsünde »entgegengesetzt«, welche genauso wie die erste Gerechtigkeit eine fremde ist, die uns ohne unser Zutun, allein durch die Zeugung angeboren und auf uns übertragen wurde. Dabei wird die Gerechtigkeit Christi offenbar nicht nur so der Ursünde entgegengesetzt, dass diese vergeben, sondern auch von Christus aktiv durch das Wachsen des Glaubens bekämpft wird: »Et ita Christus expellit Adam de die in diem magis et magis, secundum quod crescit illa fides et cognitio Christi. Non enim tota simul infunditur, sed incipit, proficit et perficitur tandem in fine per mortem.« (2,146,32–35) Diese Sätze erstaunen, würden wir doch das christusgewirkte Wachsen des Glaubens und das Abnehmen des alten Adam eher der sanativen Gerechtwerdung zuschreiben. Stark ist jedenfalls die Aktivität Christi betont: Er ist das eigentliche (und offenbar einzige) Subjekt beim Wachsen des Glaubens, das damit vom Wachsen in der »zweiten Gerechtigkeit« abgehoben wird.552 Die »zweite Gerechtigkeit« ist nun unsere eigene (»nostra et propria«: 2,145,36)553, nicht, dass wir sie alleine bewirkten, sondern dass wir hier mit der ersten und fremden Gerechtigkeit zusammenwirken (»cooperemur«: 2,146,37). Sie besteht – wie schon erwähnt – im Wandel in guten Werken, den Luther nach Tit 2,12 dreifach nach Selbstverhältnis, Bezug zum Mitmenschen und Gottesbezug spezifiziert: einmal in der Tötung des Fleisches und der Kreuzigung der Begierden, dann in der Liebe gegenüber dem Nächsten und schließlich in der Demut und Furcht gegenüber Gott. Luther stellt nochmals das unumkehrbare Begründungsverhältnis heraus: »Haec iustitia est opus prioris iustitiae et fructus atque sequela eiusdem.« (2,147,7 f.) Gleichzeitig formuliert er aber auch missverständlich: »Haec iustitia perficit priorem, quia semper laborat, ut Adam perdatur et destruatur corpus peccati.« (2,147,12 f.)554 Wenige Zeilen später führt Luther dagegen aus, dass In den beiden Sermonen kommt der Glaube allein als gottgewirkte Rezeptionsform der Gnade bzw. der iustitia aliena vor, er erscheint nicht auf Seiten der iustitia actualis. Das entspricht der uns von Luther her vertrauten Sicht, die den Glauben der Rechtfertigungsgnade zuordnet und die guten Werke bzw. die Heiligung als deren Folge und Frucht versteht. Im Antilatomus kompliziert sich der Sachverhalt dadurch, dass der Glaube hier primär auf die Seite des donum rückt, also das Neuwerden im Menschen betrifft. 553 Vgl. 2,46,1: »Iustitia huic [sc. peccato actuali] contraria est actualis, fluens ex fide et iusticia essenticialis.« Diese iustitia actualis ist folglich nicht durch Taten hervorgebracht, sondern wird im Glauben empfangen, äußert sich aber in Taten. 554 Vervollkommnen bzw. vollenden (perficere) kann die zweite Gerechtigkeit die erste insofern, als auch sie gegen den alten Adam, die bleibende Grundsünde vorgeht, nicht aber in dem Sinn, dass sie synergistisch unsere Gerechtigkeit coram Deo ergänzt. Prenter, »Synergismus«, bes. 224–234, möchte aus dem missverständlichen cooperari der zweiten mit der ersten Gerechtigkeit eine auch für den späteren Luther noch gültige Konzeption ableiten, wonach es ein, wenngleich nicht verdienstliches und deshalb nicht »synergistisches«, heilvolles Mitwirken des Menschen in loco iustificationis gebe. Wie ist das aber mit dem von Luther oft geäußerten und von Prenter (23330) selbst angeführten Gedanken vereinbar, dass alle iustitia actualis bzw. incepta nur um Christi willen vor Gott bestehen kann? 552

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die sanative Gerechtigkeit der eigenen Tatsünde entgegengestellt wird, die analog zur zweiten Gerechtigkeit eben die unsere ist, wobei – wie die Zitate zeigen – die jeweilige Zuordnung der beiden Gerechtigkeiten zu den beiden Arten von Sünden von Luther nicht ausschließlich gemeint ist.555 Im Sermo de duplici iustitia wird nicht die Frage angesprochen, ob die iusti­ tia actualis eine gleichsam rückwirkende Bedeutung für die iustitia essentialis besitzt – oder anders formuliert: ob und wie sie beim göttlichen Rechtfertigungsurteil berücksichtigt wird. Hier hilft uns der Sermo de triplici iustitia weiter. Er sagt von der Christus- bzw. Glaubensgerechtigkeit: »Haec est de qua nuper dixi, quod sit sors, capitale, fundamentum, petra nostra et tota substancia nostra, in qua gloriamur inaeternum.« (2,44,39 f.) Sie allein ist ewig wie Christus und weicht – im Unterschied zur aktuellen – niemals. Jede Verdienstlichkeit der guten Werke wird von Luther abgelehnt: »Fides est meritum totum.« (2,46,6) Die sich in der Schrift findenden Zeugnisse einerseits über die völlige Unwürdigkeit des Lebens der Gerechten und der Verheißung von Lohn für ihre Werke andererseits lassen sich nur so harmonisieren, dass der Christ in Christus die Gewissheit haben kann und muss (sonst sündigt er, weil er ohne Glauben handelt!), dass alle seine Werke Gott wohlgefallen, sie aber in sich betrachtet Sünde sind.556 So kann gesagt werden: »Ideo opera nostra si sola aspicias peccata sunt, et ita iudicium tibi est precandum (id est, ne sola sine Christo discutiantur), sed in Christo confidas ea placere deo, quae ipsa sola placere non possunt, ut orat ecclesia. Ideo sive pecces sive non, semper firmiter nitere super Christum et iustitiam illam naturalem. […] Sic ergo de Christo non debes dubitare, quin placeat, ita nec de operibus tuis, quin placeant propter Christum in quo credis, et sic sunt opera talis fidei et gratissima, licet apud te et in seipsis indignissima.« (2,46,26–38)557 Die aktuelle Gerechtigkeit Vgl. 2,45,34: »Tercium peccatum est actuale, quod est fructus originalis.« Das Begründungsverhältnis zwischen Ur- und Tatsünde ist folglich dem von essentieller und aktueller Gerechtigkeit analog. – Im Sermo de triplici iustitia differenziert Luther zwischen einer dreifachen Sünde bzw. Gerechtigkeit. Zur Christus- bzw. Glaubensgerechtigkeit, der die Ursünde korrespondiert, sowie zur sanativen Gerechtigkeit und ihrem Pendant, der Tatsünde, fügt er an erster Stelle jene Gerechtigkeit hinzu, die eigentlich nur die »species iustitiae« darstellt und ausschließlich in äußerer Rechtschaffenheit besteht, aber für sich alleine nur Heuchelei ist, weil das Innere böse ist, sie nur zur Vermeidung von Strafe oder Erlangung von Lohn vollbracht wird und zur Selbstgerechtigkeit neigt. Ihr entspricht das »(peccatum) criminale« bzw. »manifeste malum«. So 2,43,4–44,13. 556 Vgl. 2,46,26–29: »Quomodo simul iudicium deprecabimur et gloriam petemus?« Luther vergleicht dies mit den beiden Cherubim auf dem Deckel der Bundeslade im Tempel, die im Blick auf das propiciatorium, den »Gnadenstuhl« Christus, die Angesichter einander zuwenden, während diese sonst von einander abgewandt sind. »Sic illae auctoritates contrariae inter se in Christo concordant.« Siehe auch 2,497,13 ff. 557 Ähnlich Br 1,145,9–146,52 (15.2.1518, an Georg Spalatin), bes. 145,13 ff.18 ff.37–40: »Intentio desperationis & confidentie tibi semper habenda est in quocunque opere. Despera­ tionis quidem propter te & tuum opus. Confidentie vero propter deum & misericordiam eius. […] Quoties sacrificare vel operari voles, scito sine omni scrupulo firmiter credens 555

Gute Werke 283 bzw. die guten Werke können also niemals zur Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, werden, ihr Gut- und Gerechtsein lebt vielmehr umgekehrt von dieser, ist von ihr gleichsam zu Lehen genommen. Ohne Christus betrachtet sind unsere Werke indignissima, weil noch von der Ursünde »infiziert«.

4.5 Christus unsere einzige »reale Gerechtigkeit« – der Gerechtfertigte von sich her lebenslang »totus peccator« Wir fassen in diesem Abschnitt zunächst die bisherigen Ergebnisse dieses Kapitels zusammen, um uns anschließend der noch nicht hinreichend geklärten Frage nach dem totus peccator speziell im Antilatomus zuzuwenden. Luthers These »omne opus bonum est peccatum«, derzufolge in jedem guten Glaubenswerk die Sünde noch präsent ist, weil die »geistliche« Streberichtung jederzeit von der »fleischlichen« begleitet wird, macht verständlich, warum ein solches Glaubenswerk dennoch ganz Sünde ist, ja der Täter selbst trotz dieses partialen Sachverhaltes totus peccator bleibt. Nämlich deshalb, weil das gute Werk des Glaubens mit seinem relativen partim-partim zweier Willenstendenzen hinter der absoluten Forderung des göttlichen Gesetzes, der Ganzhingabe an Gott, zurückbleibt und so als Ganzes vor Gott nicht zu bestehen vermag. Gut sind unsere Werke vor Gott nur, wenn Christus sie mit seiner Gerechtigkeit »bedeckt«. Von daher vermag die effektive, reale bzw. sanative Gerechtigkeit – Luther nennt sie »zweite Gerechtigkeit« oder donum –, obwohl gottgewirkt, niemals für unsere Gerechtigkeit coram deo aufzukommen. Diese ist zeitlebens vielmehr ganz in der im Glauben ergriffenen Christusgerechtigkeit begründet und auf diese angewiesen. Legt man den strengen Maßstab der Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, an, also des Bestehens vor dem göttlichen Gericht, dessen, was uns einen gnädigen Gott bringt und unsere Heilsgewissheit begründet, dann ist Christus unsere einzige effektive, reale Gerechtigkeit.558 Luther wahrt folglich das solus Christus, sola gratia und sola fide. Wie wir gesehen haben, gilt dieses Urteil auch trotz der viel-

tale opus tuum prorsus non posse placere quantumcunque bonum, magnum, laboriosum fuerit, sed reprobatione dignum. […] Ita omnino docebit te B. Aug.[ustinus], Quod omnes sancti sunt peccatores. Igitur sic de te desperatus & idipsum domino humiliter confessus iam sine scrupulo tibi praesumendum est de misericordia eius.« 558 So formulieren wir im Anschluss an Prenter, Spiritus, 75–106, 225–238, ohne uns freilich seiner die Bedeutung der empirisch greifbaren Erneuerung marginalisierenden Lutherinterpretation anzuschließen. Moderater äußert sich Prenter, Heiligung, bes. 70 ff., jedoch nie ganz den Verdacht ausräumend, Heiligung doch mit der je neu geschehenden Ganzrechtfertigung im Glauben zu identifizieren, anstatt sie nur dadurch bedingt sein zu lassen. Noch weiter entfernt Prenter sich von seinem ursprünglichen Ansatz in »Synergismus«.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

fach ambivalenten »augustinischen« Formulierungen Luthers, welche den Kampf gegen die Sünde, das »non secundum carnem ambulare« scheinbar für die iustitia coram deo mit veranschlagen. Denn solche Äußerungen beziehen sich letztlich nicht auf die Dimension dessen, »was vor Gott gilt«, sondern auf die neben dem propter Christum freilich sekundär in das Rechtfertigungsurteil einbezogene Realisierung der eschatologischen Absicht Gottes mit den Menschen. Sie indizieren, dass die wegen der bleibenden Sünde freilich jetzt noch unvollkommene und fragmentarische Realisierung dieses Zieles im Gange ist. Schließlich ergab sich, dass der Blick auf jene Endabsicht Gottes mit den Menschen auch den Verstehensschlüssel für Gottes paradoxes, irdisch den Status des simul iustus et peccator tolerierendes neuschaffendes Handeln darstellt. Dass Luther sowohl die Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, als auch die uns geschenkte werdende Gerechtigkeit des Christen oft mit ein und demselben Terminus »Gerechtigkeit«, iustitia oder »Frömmigkeit« belegt und man von daher in der Lutherforschung zwischen forensisch-imputativer und realer, effektiver Gerechtigkeit unterschieden hat, darf nicht verunklaren, dass im Blick auf unser Gottesverhältnis für jetzt allein die erstere zählt und jene iustitia incepta an sich betrachtet verdammenswert ist und zu keiner Zeit unser totales Angewiesensein auf die Gnade Christi aufheben kann. Gleichwohl vermag sie, weil sie in Ersterer begründet und deren notwendige Folge ist, diese äußerlich darzustellen und bis zu einem gewissen Grade gewisszumachen.559 Luther unterscheidet sie deshalb auch als »innere« und »äußere« Gerechtigkeit. Man könnte nun – um auf Luthers Antilatomus zurückzukommen – gegen unsere Deutung dieser Schrift einwenden, dass in ihr doch – anders als das totus iustus und das partim iustus/ partim peccator – das totus peccator des Gerechtfertigten nicht explizit ausgesprochen sei. Insofern sei es auch nicht begründet und nicht nötig, das totus peccator so scharf zu prononcieren und damit gleichzeitig eine interkonfessionelle, gerade sich der Latomusschrift bedienende Einigung auf eine primär sanative Rechtfertigungskonzeption zu erschweren. Demgegenüber ist zuzugestehen, dass das totus peccator im Antilatomus zwar expressis verbis nicht vorkommt, gleichzeitig muss aber darauf insistiert werden, dass dieser als Qualifizierung des Christen so anstößige Begriff in allen Ausführungen dort implizit vorausgesetzt ist. Um dies an einem markanten Beispiel aufzuzeigen, wenden wir uns Luthers Auslegung von Jes 64,5 zu, einer Stelle, die für ihn hinsichtlich der These »omne opus bonum est peccatum« hohe exegetische Beweiskraft besitzt (8,59,6).560 Luther tritt allen von Latomus angeführten abschwächenden und restriktiven Deutungen dieses Verses entgegen, mittels deren Luthers These und damit auch Vgl. Ellwein, Leben, 55: »Letzteres [das initium iustitiae] bezeugt das Getroffensein unserer Existenz von der Wirklichkeit der Gerechtigkeit Christi.« 560 Zu Luthers Exegese dieser Stelle vgl. Hermann, These, 116–132; ders., Kontroverse, 260–263. 559

Gute Werke 285 das simul widerlegt werden soll. Der Vers, historisch auf die Judenschaft des babylonischen Exils zu beziehen, wird – so Luther – von gläubigen, auf Gottes Gnade vertrauenden Juden gesprochen, nicht von einem ungläubigen, sich seiner Gesetzesgerechtigkeit vor Gott rühmenden Volk. Weiter lässt Luther es nicht zu, dass die universalisierenden Formulierungen (immundi omnes nos – universae iustitiae nostrae) ausschließlich auf einige Glaubende bzw. auf einige gerechte Taten zu beziehen seien, weil hier die Redeform der Synekdoche vorliege, welche in diesem Fall vom Ganzen rede, obwohl sie nur einen Teil meine. Denn Redefiguren, die in der Bibel durchaus zahlreich vorkommen, dürfen nur dann als vom Verfasser intendiert angenommen werden, wenn ein wörtliches Verständnis keinen Sinn ergibt oder der Kontext dies erfordert. Schließlich ist die Universalität von Jes 64,5 dahingehend zu wahren, dass der Vers von den Gläubigen aller Zeiten, also auch von den Christen spricht, welche gemeinsam mit den Glaubenden des Alten Bundes zu dem einen Leib Christi gehören.561 Es ist derselbe Geist, der in beiden Heilsstadien wirkt und spricht. Für Luther lässt sich Jes 64,5 deshalb nicht anders als durch das simul erklären bzw. durch die These »omne opus bonum est peccatum«. Es handelt sich ja um glaubende, also um gerechtfertigte Menschen, denen zudem aus diesem Glauben ein anfängliches Gerechtsein zukommt. Und dennoch gilt: »Et facti sumus immundi omnes, et universae iustitiae nostrae, quasi pannus menstruatae.« Dennoch erfahren solche Menschen Gottes hartes Gericht wie z. B. das der babylonischen Verbannung. Luther knüpft hieran eine schwierige geschichtstheologische Überlegung an, die nun das totus peccator des glaubenden Menschen unterstreicht. Auszugehen ist davon, dass Gottes Gericht gerecht ist und er jedem nach seinen Werken vergilt. Die Schrift bezeugt aber (Ps 143,2), dass selbst der Gerechte vor Gott nicht bestehen kann, und die Erfahrung zeigt ebenfalls, dass selbst die Frommen und Gerechten von Gottes Strafgericht getroffen werden. Ist Gottes Gericht aber gerecht, so folgt daraus, dass auch die Gerechten ungerecht, dass auch ihre guten Werke nicht gut sind, sondern Sünde sein müssen. Gut sind sie dann nicht in sich selbst, sondern nur, wenn und weil Gottes verzeihende Barmherzigkeit über ihnen regiert. Es gibt nun offenbar Zeiten – und die Gerechten in der babylonischen Verbannung haben genau dies erfahren und erlitten –, in denen Gott seine Barmherzigkeit zurückzieht und auch über den Glaubenden seinen Zorn, sein Gericht walten lässt. Gott hält sich gewissermaßen nur an das nackte An-sich-Sein der Menschen und ihrer Werke und behandelt die Glaubenden genauso wie die Sünder. Und daran manifestiert sich eben, dass sie zugleich gerecht und doch unrein sind: »In quo tamen iudicio, quia [deus] iuste iudicat et vere, necessarium est simul eos esse iustos et tamen immundos.« (67,13 f.) Gerecht sind sie durch die Barmherzigkeit Gottes, unrein in sich selbst – und vor Gott, wenn er seinen Zorn walten lässt. Vgl. 71,31: »ego autem probarim, id [Jes 64,5] fidelibus ipsisque optimis maxime convenire.« 561

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Luther gelangt somit zu einer radikalen Fassung des simul: Wir sind einzig und allein durch Gottes Barmherzigkeit ganz gerecht, was an uns keinerlei Anhalt hat! Sichtbar wird das daran, dass Gott diese seine Barmherzigkeit zeitweilig zurückzieht und er dann völlig zu Recht sein Gericht an uns ausübt. Luther sieht darin eine heilsame, hoffnungsvolle Lehre, weil sie das Heil allein an Gott festmacht und nicht an den menschlichen Werken.562 Luther konfrontiert uns an dieser Stelle mit einem wenig berücksichtigten Sachverhalt seiner Rechtfertigungslehre: dass es ihm zufolge offenbar »Zeiten der Rechtfertigung« gibt, in denen überindividuell ein Zugang zu dieser möglich ist, und Zeiten, in denen dieser Zugang zur rechtfertigenden Gnade gleichsam strukturell verschlossen ist.563 Von Gott her denkbar wird das für Luther dadurch, dass in den Glaubenden, ihren guten Werken sowie ihrer effektiven Gerechtigkeit die Grundsünde immer noch präsent ist und sie deshalb von sich her toti peccatores sind. Darum ist das Gnadenurteil Gottes bleibend reine Gnade und kann auch zuweilen, ohne dass Gott damit ungerecht handelte, suspendiert werden. Luther beschreibt solche Zeiten des göttlichen Zorns als ein transpersonales Verhängnis, das über den Menschen liegt und aus dem sie sich durch eigenes Bemühen nicht befreien können, ja alle derartigen Bemühungen müssen scheitern und lassen sie nur umso mehr unter den Zorn Gottes geraten. Deutlich wird das an den »factores« bzw. »autores iustitiae«, von denen Jes 64,4 die Rede ist. Das sind solche Menschen (etwa Könige, Propheten, Helden), die nicht nur operarii iustitiae sind (also individuell das Gute tun), sondern die aufgrund ihrer öffentlichen Stellung die Gerechtigkeit unter den Menschen schöpferisch-innovativ voranbringen Vgl. 67,8–16.20 ff.: »In quo iudicio et si sint pii et iusti viri, quorum iustitia extra iudicium, munda esse poterat sub regno misericordiae, nunc adeo nihil prodest illis, ut similes sint novissimis et immundissimis peccatoribus. Non enim agnoscit eos dominus in isto furore, sed simul tradit iustum et impium. Nec sinit se teneri, quo quid aliud facit, quam quod eos qui iusti sunt, sic habet et sic apparere facit, ac si iusti non essent. In quo tamen iudicio, quia iuste iudicat et vere, necessarium est simul eos esse iustos et tamen immundos. Et ita ostendit, quam nullus in sua iustitia, sed sola misericordia eius niti debeat. […] Verissima est iustitia et tamen velut immunda, quod patitur omnia eorum, quae immundi patiuntur, non innocenter apud iustum deum, licet innocenter coram hominibus et in conscientia nostra.« 563 Rogge, Gratia, 146, spricht von »Perioden, Weltzeiten sub ira oder sub gratia«, Hermann, These, 125, von der »Sperrung der verzeihenden Barmherzigkeit für eine bestimmte geschichtliche Periode«. Allerdings schränkt Hermann ein: Gott nehme nicht die Verzeihung zurück, sondern unterbinde nur das »Weiterwirken der Vergebungsgnade« (123). – Erinnert werden darf hier auch an Luthers Vergleich des Wortes Gottes mit einem »fahrenden Platzregen« und seine diesbezügliche Warnung »hin ist hin«. Vgl. 15,32,4–14, bes. 6–9.11 ff. »Braucht Gottis gnaden und wort, weyl es da ist. Denn das sollt yhr wissen, Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewest, aber hyn ist hyn, sie haben nu nichts. […] Und yhr deutschen duerfft nicht dencken, das yhr yhn ewig haben werdet, Denn der undanck und verachtung wird yhn nicht lassen bleiben.« Ähnlich 17 II,179,28–180,2. 562

Gute Werke 287 können.564 »Prospera […] et leta tempora« liegen dann vor (67,40–68,1). In Zeiten des Zorns vermögen die viri heroici dagegen solche Gerechtigkeit nicht aufzurichten, auch sie können den Zorn Gottes nicht stillen und aufhalten, ja werden selbst mit den Sündern dahingerafft; ihre eigene Gerechtigkeit gilt für nichts, weil der Zorn Gottes ihren Bemühungen keinen Erfolg schenkt. Umgekehrt ist in den »leta tempora« und dem Blühen der Gerechtigkeit ein Gottesverhältnis von Seiten der Menschen lebbar, weil Gott es gnädig eröffnet und ermöglicht. In den »tristia […] tempora« und dem Wüten des Zorns gilt indessen: »nihil nisi peccatores sumus.« (68,12 f.) Gott lässt sich dann nicht begegnen, weshalb man sich auch an ihn nicht halten kann. Ja, die Guten und Gerechten, die durchaus da sind, wagen es nicht, Gott anzurufen oder Gott zu loben, sie verharren in der Klage. So verfallen sie aber erst recht dem Zorn Gottes, ja werden auch zu faktischen Sündern und können nichts tun, um den Zorn Gottes abzuwenden. Gott lässt die Gerechten erfahren, »quod peccata meruerunt, ut quasi immundi simus omnes« (68,21).565 So sehr wir mit solchen geschichtstheologischen Überlegungen, die geradezu eine Theodizee enthalten, heute unsere Schwierigkeiten haben, so zeigen sie doch überdeutlich, wie sehr Luther an dieser Stelle vom totus peccator beim gerechtfertigten Menschen her denkt: Dieser Gedanke ist der Nerv seiner Ausführungen und bewahrt davor, das göttliche Handeln zu reiner Willkür werden zu lassen. Darüber hinaus wird nochmals sichtbar, wie sehr Luther relational denkt: Der Mensch ist nur gerecht, wenn er unter der Barmherzigkeit Gottes steht, steht er dagegen unter dem Zorn und Gericht Gottes, kann er auch mit seinem Besten vor Gott nicht bestehen. Es gilt, »omnesque omnium iustitias esse pollutas, et omnes homines esse immundos citra dei misericordiam« (72,31 f.).566 Vgl. dazu Pinomaa, Sieg, 71 f., 203; ders., Die Heiligen, 127–130; Seils, Gedanke, 176 f. Das »quasi« deutet eine gewisse Zurückhaltung an, die Gerechten als Sünder zu qualifizieren, ist aber nicht als ein »als ob« zu verstehen, sondern weist auf die andere Seite des simul hin. Ähnlich 68,21–27: »Sic misericordia ablata iniquitates nostrae sicut ventus auferunt nos, nihil valentibus adversus eum universis iusticiis nostris. […] Sic iram dei tam magnam quaeritur [propheta], ut universas omnium piorum iustitias sic tractet quasi peccata et immunditae sint, nec possint eum invocare aut flectere.« – Es geht wirklich um ein faktisches Schuldigwerden der Gerechten und gerecht Lebenden, weil Gott seine Gnade abzieht: »Hic iustitias sinceras confitetur esse, et questio est eas pollutas et immundas fieri.« (68,36 f.) Es entsteht dann ein anderes simul: »Iustum ergo simul et iniustum vastat furor et iudicii rigor, sola misericordia servat quicunque servantur.« (68,40–69,1) Ungerecht handelt Gott hier deshalb nicht, weil ja auch die Gerechten von sich her ganz Sünder sind. 566 Zum relationalen Denken vgl. auch 66,36 ff.: »ideo sequi bona opera non esse bona, nisi regnante super nos misericordia eius, quae ignoscat, esse vero mala intentato super nos iudicio eius quod reddit unicuique«; 67,32 ff.: »Omnes ergo coram eo peccamus si iudicet, et perimus si irascatur, qui tamen si misericordia nos operiat, innocentes et pii sumus, tam coram eo quam omni creatura«. – Zum Ganzen siehe auch Luthers »Summa des christlichen Lebens« (1532), bes. 36,362,37–375,14. Er legt hier dar, dass der Christ mit seinem Lebenswandel sehr wohl »vor den Leuten« tadellos dastehen soll, sonst ist er streng 564 565

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Exkurs: Zur Interpretation der Rechtfertigungslehre Luthers durch Reinhold Seeberg Unsere hier vorgelegte Interpretation des Verhältnisses von Gerechterklärung und Gerechtmachung bei Luther unterscheidet sich fundamental von der älteren Deutung dieser Relation durch Reinhold Seeberg.567 Denn der große Dogmenhistoriker versteht Rechtfertigung im Sinne Luthers primär als Gerechtmachung568 bzw. als Gerechtsprechung des Gerechtwerdenden569. Seebergs Ausgangspunkt ist freilich der Gedanke, dass durch Christi stellvertretendes, genugtuendes Leiden nach Gottes Willen ein »Prinzip« oder eine allgemeine »Ordnung« der Gnade bzw. Sündenvergebung in Kraft gesetzt wurde. Insofern gründet objektiv gesehen alle subjektive Gnadenwirkung im Menschen in dieser Vergebungsordnung. Dennoch gilt für den einzelnen Menschen: Rechtfertigung ist zuerst Gerechtmachung durch den schöpferisch an ihm handelnden Gott. Als Anfang der Neuschöpfung wirkt Christus bzw. der Heilige Geist in dem sich ausschließlich passiv verhaltenden Menschen durch das Wort den Glauben, der für Seeberg zunächst als »Rezeptionsglaube« in den Blick kommt, sofern er, selbst die erste Gnadenwirkung, Gottes weiteres Gnadenwirken in der realen Sündentilgung aufnimmt. Diese erste Gerechtigkeit des Menschen ist einerseits, weil von Christus gewirkt, Christi bzw. Gottes Gerechtigkeit, andererseits aber, weil vom Glauben hingenommen, Glaubensgerechtigkeit. Aus ihr folgt nun aber die zweite Gerechtigkeit, die »ak­ tive Lebensgerechtigkeit«570, welche sich – nun unter Mitwirkung des Menschen – genommen noch kein Christ (363,28). Er vermag damit aber nicht »vor Gott« zu bestehen, sondern steht hier vielmehr als totus peccator da (»weil wir noch fur Gott imer sunder bleiben«: 363,19), insofern die Liebe an einem inneren Defekt, nämlich der Selbstsucht krankt (364,25–28), welcher – als dem eigenen Herzen und Gewissen nicht unverborgen – zur fremden Gerechtigkeit Christi bzw. vom Richt- zum Gnadenstuhl fliehen lässt. Das partiale Böse macht den Menschen ganz zum Sünder! »Ob ich gleich fur den leuten ein gut gewissen habe und die liebe aus reinem hertzen ube, So ist und bleibt dennoch der alte Adam, das sundige fleisch und blut jnn mir, das jch nicht gar heilig und rein bin. […] Also bleibt ein ewiger kampff und widderstand jnn uns, das jmer viel unreines mit unter leufft umb desselben halben stucks willen unser person, und nicht kan eitel reinigkeit noch gut gewissen und volle liebe sein, on was fur den leuten sein mag, Aber fur Gott ist noch viel mangels und strefflichs jnn uns, obs gleich fur den leuten aller ding volkomen were.« (364,19–22.29–33) Für Gott ist niemand so heilig, »den er nicht konne mit recht veruteilen, der verdamnis werd« (365,2 ff.); »Da sol mein hertz und gewissen, Gott gebe, wie rein und gut es fur den leuten ist odder werden kan, alles nichts und kurtz zugedeckt sein und druber geschlagen ein gewelb, ja ein schoner himel, der es gewaltiglich schutze und verteidinge«. (367,10–13) 567 Vgl. R. Seeberg, Lehrbuch IV/1, 105 f., 124–135, 294–308; ders., Grundriß, 127 ff., 134 ff. Ähnlich sein Sohn E. Seeberg, Theologie (1940), 117–125. 568 Vgl. nur R. Seeberg, Lehrbuch IV/1, 126, 128. 569 Vgl. ebd., 305: »Niemand ist also im Urteil Gottes gerecht, er werde denn wirklich gerecht.« 570 Ebd., 297.

Gute Werke 289 in der Liebe und den guten Werken sowie im Kampf gegen die bleibende Konkupiszenz äußert. Insgesamt ist Rechtfertigung für Seeberg ein erst im Eschaton vollendeter Prozess und in diesem Sinne ein »dauernder Vorgang«571. Nun bedarf aber der in diesem Rechtfertigungsprozess stehende Mensch auch der Gewissheit der Sündenvergebung, welche er jedoch aus der Gerechtmachung selbst nie (zweifelsfrei) gewinnen kann, da diese wegen der bleibenden Sünde irdisch immer unvollkommen ist. Deshalb sagt Gott ihm zu, dass er diese verbleibende Sünde um Christi willen nicht anrechnen bzw. ihn für gerecht erklären wolle.572 Doch dieses propter Christum versteht Luther Seeberg zufolge ursprünglich nicht im Sinne der Anrechnung der fremden, satisfaktorischen Gerechtigkeit Christi, sondern im Sinne des Christus, der im Glaubenden wohnt, hier erneuernd wirkt und diese Erneuerung einmal vollenden wird.573 Seeberg begreift also – und das ist der entscheidende Punkt – die partiale Gerechtigkeit (= den Christus in mir) als reale Gerechtigkeit coram deo, deren Unvollkommenheit durch die non-imputatio der Restsünde quasi »aufgefüllt« wird.574 Deshalb vermag Seeberg – und darin liegt die Stärke seiner Sichtweise – auch all jene sperrigen Lutherstellen, welche die Erneuerung des Glaubenden bzw. seinen Kampf gegen die Sünde bei der Rechtfertigung quasi konditional mitveranschlagen, sowie Luthers frühe Rechtfertigung des Demütigen als adäquaten Ausdruck der Rechtfertigungskonzeption Luthers zu werten, ohne sie meritorisch deuten zu müssen, da ja alle Gerechtwerdung von Christus gewirkt ist. Erst später (der Zeitpunkt bleibt bei Seeberg unbestimmt, ist aber, wie seine Belege anzeigen, schon zu Beginn der zwanziger Jahre anzusetzen) greife Luther dann verstärkt auf die Anrechnung (imputatio) der eigenen Gerechtigkeit Christi bzw. seiner Genug­-

Ebd., 128. Seeberg hält freilich weiterhin (im Sinne eines notwendigen, nicht zureichenden Grundes) daran fest, dass »der Sünder zum subjektiven Bewußtsein der Sündenvergebung [kommt], sofern Gnadenwirkungen sich in ihm realisieren« (ebd. 105). 573 Vgl. ebd., 130 f.: Es gilt, »daß die Gerechtigkeit Gottes oder Christi die von Gott oder Christus in der Seele gewirkte Gerechtigkeit ist. […] Weil Christus die reale Iustifikation in dem Menschen begonnen hat und der gläubige Mensch sich hierdurch in der Entwicklung zur Gerechtigkeit befindet und dieser in demütigem Glauben nachstrebt, deshalb rechnet Gott einem solchen Menschen die durch Christus gewirkte und im Glauben ergriffen werdende Gerechtigkeit so an, daß der Mensch um ihretwillen vor Gott als gerecht zu stehen kommt. […] Die reale Mitteilung der Gnade an den Menschen geht dem subjektiven Erleben der Imputation bzw. der Acceptation seitens Gottes voran. Nicht also die Gerechtigkeit, die Christus persönlich eigen war, wird uns imputiert, sondern die Gerechtigkeit, die er in allmählicher Entwicklung in uns wirkt, wird von Gott als Grund unserer Gerechtigkeit angesehen. Der iustificandus wird also, sofern das neue Leben in ihm wirklich begonnen hat, von Gott zu einem iustificatus erklärt.« Vgl. ebd., 133. 574 Vgl. ebd., 132, 296, 298 f. Nur in diesem Sinn ist auch Seebergs Unterscheidung zwischen »realer« und »idealer« Gerechtigkeit (132) zu verstehen: Letztere ist die durch die non-imputatio ergänzte anfängliche reale Gerechtigkeit. 571

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tuung am Kreuz, also auf die vorausgesetzte objektive Gnadenordnung zurück und wende sie auf den einzelnen Menschen an. Der Glaube werde deshalb auch deutlicher als Fiduzialglaube konzipiert. Das Motiv für diese nach Seeberg mit Luthers ursprünglichem Ansatz letztlich nicht inkompatible Akzentverlagerung wird in Luthers Anliegen, die Heilsgewissheit stärker fundieren zu wollen, verortet.575 Es ist evident, dass Seebergs Lutherdeutung das simul, welches er explizit nur selten erwähnt,576 allenfalls im partialen Sinn zu integrieren vermag (die verbleibende »Restsünde« wirkt sich ja nicht auf alles im Menschen aus), denn dessen Totalsinn richtet sich erwiesenermaßen gegen jede reale Gerechtigkeit coram deo auf Seiten des Gerechtfertigten selbst.577 Wir verstehen unsere anders gelagerte Lutherdeutung implizit als Widerlegung der durchaus bestechenden Konzeption Seebergs, die ihren Skopus darin hat, in der konkreten Heilsordnung das Verhältnis von Gerechtwerdung und Gerechtmachung bei Luther umzukehren.578 Letztlich geht es dabei um die Frage, welche Deutung die schon früh bei Luther angelegte Vielschichtigkeit seiner Rechtfertigungskonzeption sachlogisch mit der größten Konsistenz zu erklären vermag, so sehr sie sich historisch aus dem Zusammentreffen von Luthers konsequent imputativem Rechtfertigungsverständnis mit der sanativen Konzeption Augustins erklärt. Nicht integrierbar scheinen uns bei Seeberg v. a. die simul-Aussagen im

Vgl. ebd., 299–308. Einen Widerspruch erblickt Seeberg hier deshalb nicht, weil auch der die fremde Gerechtigkeit Christi ergreifende Glaube ein Neuwerden im Menschen darstellt (302, 306). 576 So ebd., 132; Grundriss,128. 577 Ähnliches trifft natürlich für Karl Holls Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre Luthers zu, nur dass dieser stärker als Seeberg die Gerechterklärung auf das Ende des Rechtfertigungsprozesses gründet. Aber es liegt auch in der Logik von Holls Sichtweise, schon die werdende Gerechtigkeit als Gerechtigkeit vor Gott zu verstehen und so das simul nur im Partialaspekt zulassen zu können. Dagegen spricht nicht, dass Luther nach Holl die Rechtfertigung in einer doppelten Betrachtungsweise beschreibt: von Gott und vom Menschen her. Während Gott in der imputatio der Gerechtigkeit nur deren Vollendung antizipiere bzw. diese für ihn als den Ewigen schon wirklich ist, stelle sich die Rechtfertigung für den Menschen lebenslang als Rechtfertigung des Sünders, also des simul peccator (im Sinne unseres Totalaspektes) dar, da diesem sein innerer Stand vor Gott und die Erlangung des Rechtfertigungszieles verhüllt und ungewiss sei. »Der Mensch sieht, je ernsthafter er ist, nur die Sünde auf seiner, nur die vergebende Gnade auf Gottes Seite.« (Holl, Rechtfertigungslehre im Licht, 532) Doch warum sollte sich der glaubende Mensch eine Perspektive aneignen, die schon der reflektierende Theologe durch die Perspektive Gottes zu relativieren vermag? Vgl. Holl, ebd., 530 ff.; ders., Rechtfertigungslehre, 114, 129, 139–142. 578 Vgl. Seeberg, Grundriß, 128: »Christus wohnt in uns, ein neues Leben zusammen mit dem Bewußtsein der Sündenvergebung wirkend«; 135: »Das Werk der Gnade an uns vollzieht sich in der Wiedergeburt und Rechtfertigung.« Objektiv gilt freilich die Reihenfolge: »Die Gnade erweist sich in der Sündenvergebung und in der Erneuerung.« (134) 575

Gute Werke 291 Totalsinn sowie das doch auch schon früh bei Luther anders als im Sinne des in uns Gerechtigkeit wirkenden Christus gemeinte propter Christum.579 Gerade aus diesem Grund ist Seeberg auch nicht in der Lage, einen präzisen Zeitpunkt für die von ihm angenommene intensivere Hinkehr Luthers zum externen propter Christum anzugeben.

Vgl. nur 1,370,26–371,2. – An Seebergs Lutherdeutung wird deutlich, dass Luthers Rede vom »Christus in uns« mehrdeutig ist: Neben dem in mir die Neuschöpfung wirkenden Christus nimmt sie auch Christus in den Blick, sofern er mir aufgrund der unio mit ihm seine eigene und mir insofern extern bleibende Gerechtigkeit kommuniziert. Beides hängt zusammen, ist aber nicht identisch. In die Nähe von Seeberg gerät Mannermaa, Glauben, bes. 62–70, mit seiner Deutung des »Christus in nobis« vom ostkirchlichen Paradigma der Theosis her: Er unterscheidet zwar beim »Christus in nobis« Christus als favor und donum Dei, interpretiert aber die christusgewirkte anfängliche Gerechtigkeit in uns als »reale Gerechtigkeit« coram Deo. Von daher bedeutet das totus peccator für Mannermaa nicht, dass der Christ, abgesehen von Christus als favor Dei, auch mit seiner werdenden Gerechtigkeit ein solcher ist, sondern nur, dass er in sich, d. h. abstrahiert von Christus als favor Dei und der christusgewirkten realen Gerechtigkeit, als totus peccator zu stehen kommt. Vgl. 64: »Wir werden gerechtfertigt, nicht aufgrund dessen, was seinen Ursprung in uns hat, sondern um Christi willen, der im Glauben in uns ist. […] Der Glaube ist die Grundlage der Rechtfertigung eben deshalb, weil der Glaube die reale Gegenwart der Person Christi, das heißt der Gunst und Gabe Gottes bedeutet. Mit anderen Worten: Christus, der im Glauben im Christen wohnt, ist die christliche Gerechtigkeit, wegen derer Gott Gerechtigkeit zurechnet«; 66: »›Vollends Sünder‹ ist er [der Christ] an sich, im Hinblick auf den ›alten Adam‹, d. h. auf den Menschen getrennt von der Person Christi«; 69: »Das von Christus im Glauben begonnene Werk der ›Durchsäuerung‹ ist und bleibt das eigene Werk des im Glauben real gegenwärtigen Christus. […] Der Christ ist an sich, ohne Christus, Sünder, aber in der Christus-Gabe wirklich gerecht.« Dass Luther selbst mitunter ambivalent formuliert, sei nochmals konzediert. Nicht integriert ist das totus peccator auch in der Untersuchung des Theosis-Gedankens beim frühen Luther durch den Mannermaa-Schüler Peura, Mensch. Zwar betont Peura den irdisch anfänglich-partiellen Charakter der »real-ontischen« Vergöttlichung des Christen durch die Einwohnung Christi und stellt pointiert deren kreuzestheologische Dimension heraus, insofern sie zeitlebens die stets neue Tötung des amor sui impliziere und sub contrario verborgen bleibe. Der Theosis-Gedanke schließt also für Peura das peccatum manens nicht aus. Jedoch gilt dies nur im Sinne eines prozessualen partim-partim, das zwar die Notwendigkeit der (ergänzenden) imputativen Rechtfertigung erkennen lässt, nicht aber das totus peccator Luthers erreicht. Konsequent fällt bei Peura auch die Differenzierung zwischen einer Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, und einer solchen, von der dies nicht gesagt werden kann, aus. Vgl. ebd., bes. 79–85, 144–174, 244–270. 579

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

4.6 Die ethische Valenz der guten Werke – auch Gott gegenüber Freilich muss neben dieser »Hauptlinie« der strengen Beurteilung der guten Werke bzw. der sanativen Gerechtigkeit in loco iustificationis (wie der späte Luther sagt), bei ihm noch eine »Nebenlinie« beachtet werden, mittels derer er gleichwohl die ethische Bedeutsamkeit der guten Werke, ja ihre Anerkennung vor Gott zu sichern sucht. Luther vermag nämlich die guten Werke auch extra locum iustificationis zu betrachten, eine Perspektive, die nichtsdestoweniger in das Gottesverhältnis hineinreicht.580 Luther sagt nämlich unter Bezugnahme auf die biblischen Lohnverheißungen, die von Paulus und anderen Frommen auch im Angesicht Gottes ausgesprochene Untadeligkeit vor den Menschen und dem eigenen Gewissen sowie die Erwartung des Gerichts nach den Werken, dass die (guten) Werke am Ende (ja anfanghaft schon zeitlich) von Gott die ihnen entsprechende Beurteilung und den ihnen zukommenden Lohn erhalten. So heißt es schon 1521 in De votis monasticis, ohne damit die allen gemeinsame Rechtfertigung durch Christus einschränken zu wollen: »Scimus enim et nos in domo patris esse mansiones multas et stellam differe a stella in claritate, et unumquemque accepturum mercedem secundum laborem suum.« (8,652,37 ff.)581 Luther spricht darüber hinaus von der Legitimität des Sich-Rühmens gegenüber dem Teufel, den Feinden und dem Fleisch im Blick auf den eigenen gerechten Lebenswandel, ein Sich-Rühmen, das auch Vgl. dazu Peters, Glaube, 113–136, bes. 122–130; Modalsli, Gericht, 52–73, 89–96, der bei Luther einen locus iustificationis, in dem allein der Glaube besteht, und einen locus iudicii operum unterscheidet. Ferner Althaus, Theologie, 372–385, der (bes. 378) allerdings das Gericht nach den Werken coram deo (im Unterschied zum erga deum) letztlich nur auf das coram hominibus bezieht. Viele Passagen in Althaus’ Bezugstext (36,416–477) legen das zwar nahe, setzen aber voraus, dass sich der entscheidende Rechtsstreit des Gerechten mit den irdischen Instanzen beim Jüngsten Gericht und d. h. vor Gott abspielt. Vgl. auch 36,363,10–16: Der Christ soll die Tadellosigkeit seiner Liebe rühmen können »fur Gott widder idermann« (363,15 f.). Gegen Althaus argumentiert Modalsli, Gericht, 70 f. 581 Wie die Fortsetzung und der ganze Kontext von De votis ausweist, tangiert dies, wie gesagt, nicht die allen gemeinsame Rechtfertigung solo Christo: »Et vere sunt nomina et loca inter filios et filias et inter sese in domo meliora et maiora, sed inter deum ipsum et eunuchos [als von Jes 56,4 f. hergeleitetes ein Beispiel einer Auszeichnung unter Menschen = die Ehelosigkeit um des Herrn willen] nullum est nomen nisi unum et commune, quod est Christi. Hoc enim custodit sabbata, eligit placita et severat federa domini, nomen autem Eunuchi nullum horum facit, sed potius fit ex ipsis.« (8,653,14–19) Ferner 39 I,303,5–305,4; 306,10–16; 328,5 ff.: »Illa omnia [die Lohnverheißungen] sunt dona filiorum et dicta filiis, Ich will euch woll bezalen, lieben Kinder, sorget nicht, seit nur from, filiis dabo dona pro singulis operibus. Haec est benevolentia patris erga nos«; 18,693,30–696,11, bes. 693,38 f.; 694,5 f.: »Si dignitatem spectes, nullum est meritum, nulla merces. […] Si sequelam spectes, nihil est, sive bonum sive malum, quod non suam mercedem habeat.« Luther scheint umgekehrt auch Graduierungen innerhalb der Strafen in der Verdammnis anzunehmen: 2,43,28 ff. 580

Gute Werke 293 vor Gott im Jüngsten Gericht artikuliert werden darf, insofern sich die Anklagen der feindlichen Instanzen dann vor dem Richterstuhl Gottes erheben.582 Luther nimmt damit nicht seine Auffassung von der bleibenden Sündigkeit unserer guten Werke zurück: Sie bestehen vor Gott nur im Glauben an die Gerechtigkeit Christi, der unser »Hauptruhm«, unsere »Hauptfreudigkeit« vor Gott ist. In loco iustificationis kommt den Werken keine Mitsprache zu. Vielmehr gilt hier streng 1.Kor 4,4: Aus meiner Tadellosigkeit folgt nicht meine Rechtfertigung! Aber innerhalb der Klammer dieser bergenden Zuflucht zur fremden Gerechtigkeit Christi, also extra locum iustificationis und abgesehen von ihrem strengen Beurteilungsmaßstab, kann Gott den Werken ihren je unterschiedlichen Lohn zukommen lassen.583 Insofern ist also auch die unterschiedliche ethische Wertigkeit menschlichen Handelns coram deo nicht irrelevant oder gar nivelliert (weil ja doch alles Sünde sei), sondern wird zur Geltung gebracht. Um diesen Sachverhalt auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen, bildet Luther gelegentlich die Unterscheidung zwischen erga deum (Was rechtfertigt vor Gott, was schenkt die Sündenvergebung und das ewige Leben?) und coram deo (Was wird auch vor Gott als moralisch gut anerkannt, obwohl es noch von der Selbstbehauptung gegenüber Gott und der Not des Nächsten »infiziert« ist?).584 Eine gewisse Inkongruenz liegt freilich Vgl. 39 I,303,13–304,4; 304,10 f.: »Imo non solum [Variante 303,32: coram Deo] licet, sed etiam debemus contra adversarios de vita, de doctrina vera gloriari, quod oportet nos certos esse, quod simus in eo vitae genere, ea doceamus, agamus, quae Deo propter Christum placent. Cum igitur sic sumus in misericordia, seu sub alis miserentis Dei, possumus iure gloriari et statuere certo, quod nos, qui verum ducem sequimur, vere, sancte (salva tamen oratione dominica) pie ac iuste vivamus […]. Sic necessarium est confiteri et gloriari in domino, sed tamen non propterea iustificatus sum.« Es folgt 1.Kor 4,4. Ferner 109,5–110,25; 305,7–306,5; 327,2–11; 40 II,149,32–155,25 (zu Gal 6,4 f.); K. Bornkamm, Auslegungen, 353–358. 583 Vgl. 36,477,7 f. (Hs): Wir sollen »in inferiori gradu fiduciam haben«; 40 II,154,25–30: »Porro observandum est nos hic non versari in loco iustificationis, ubi nihil valet nisi mera gratia et remissio peccatorum, quae sola fide accipitur, Ubi omnia opera, etiam illa, quae sunt optima et secundum divinam vocationem facta, opus habent remissionem peccatorum, quia perfecte non facimus ea. Sed haec alia causa est. Non agit hic [Paulus] de remissione peccatorum, sed confert vera et hypocritica opera.« Der gradus inferior besteht nicht nur darin, dass es hier ausschließlich um die Rechtfertigung irdischen Instanzen gegenüber geht, sondern auch darin, dass Gott selbst von jenem partiellen inneren Infiziertsein der guten Werke durch die Grundsünde des Unglaubens und der Ichsucht absieht, ohne dass Luther damit einen Perfektionismus auf der ethischen Ebene für möglich gehalten hätte. 584 Vgl. 36,416–477, bes. 446,5 f. (Hs): »Istam gloriam [eines tadellosen Lebens] mus ich auch bringen, vel deus wird mir freundlich nicht zw sprechen«; 448,2–5 (Hs): »Sic sunt discernenda opus et fides, quando kompt zu der heuptfreydigkeit erga Deum, Ibi fides zw schwach et charitas […] Ibi nheme ich den man Christus Jesus und setz in zwisschen mir und deum. Das ist die allergroste fiducia, dies allein thut, quia nihil habeo, darauff ich trotz quam Christum«; 452,7 (Hs): »Sic coram deo [im Blick auf gute Werke], sed non erga Deum, der rhum fidei est alia.« 455,1–4 (Hs): »Das ist der heupt rhum und der hochste 582

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darin, dass Luther zumeist das coram deo für den strengen Gesichtspunkt der Rechtfertigung bei Gott reserviert und diesem das coram hominibus bzw. coram meipso gegenüberstellt. Für die Frage nach dem simul iustus et peccator bedeutet dies, dass mit dieser Kurzformel für die christliche Existenz keine moralische »Einebnung« der guten Werke auch coram deo verbunden ist, so sehr sie in den locus iustificationis selbst wegen des peccatum remanens niemals eingehen können.

trotzte, drauff wir baptizati et in quo mori etc. 2. Etiam fur Gott, non gegen Gott, sollen auch trotzen und ein hochmut und stoltz haben gegen die schendlich welt.« Vgl. aber 450,4 ff. (Hs): »Coram deo nihil mea gloriatio nisi Christus, sed post istam capitalem gloriam, So will ich fur dich tretten cum Corinthiis, Wittenbergensibus, quod pure praedicarim«; 462,4 f. (Hs): »Coram te [deo] sum peccator, sed quia ingrato mundo servivi, propter hoc dabit mihi coronam, quanquam per hoc non salvatur.« Luther führt also die Unterscheidung zwischen erga Deum und coram Deo nicht konsequent durch, sondern greift auf seine sonstige Verwendung von coram Deo zurück. Ähnlich 448,8 f.; 449,1 (Hs). Zum Ganzen Peters, Glaube, 122 ff. Weil Prenter, »Synergismus«, 238–243, erga Deum und coram Deo nicht klar voneinander abhebt, gelangt er zur These »von einem Zusammenwirken zweier Subjekte, eines göttlichen und eines menschlichen, in demselben Heilswerk« (243; Hv.), nämlich in loco iustificationis, wenngleich er das Mitwirken des Menschen daran nicht als verdienstlich betrachtet.

5 Anthropologie

Eines der vornehmlichsten Felder für das Auftreten der simul-Formel bzw. der simul-Thematik bei Luther sind Texte, in denen er sich mit Fragen der theologischen Anthropologie befasst. Dies verwundert auch nicht, stellt doch das »Gerecht und Sünder zugleich« gleichsam die Abbreviatur für seine theologische Anthropologie dar. Dabei sind Luthers anthropologische Ausführungen – sieht man einmal von der Disputatio de homine (1536) ab – zumeist durch die Exegese bestimmter biblischer Texte veranlasst. Den ersten Platz nimmt hierbei Röm 7 ein, ein Text, der uns schon mehrfach als entscheidender Beleg Luthers für das simul begegnet ist und den er insbesondere in seiner Römerbriefvorlesung (1515/16) und im Antilatomus (1521) ausführlich interpretiert hat. Daneben steht die Auslegung von Gal 5,16 ff., einer Schriftstelle, der Luther sich u. a. in seinen Galaterbriefauslegungen 1516/17, 1519 und 1531 zugewandt hat. Damit sind auch schon die wesentlichen Texte benannt, mit denen wir uns in diesem Kapitel auseinandersetzen werden.

5.1 Von wem spricht Römer 7? In der Auslegungsgeschichte von Röm 7 ist bis heute strittig, von wem der Text (genauer Röm 7,14–25 bzw. für Luther schon Röm 7,7–13) eigentlich handelt: vom Menschen unter dem Gesetz, also vom vorchristlichen (jüdischen oder adamitischen) Menschen oder vom Menschen unter der Gnade, also vom Christen. Wenngleich besonders unter deutschsprachigen Neutestamentlern die Frage heute eindeutig zugunsten der letzteren Position entschieden ist, wird etwa im angelsächsischen Raum weiterhin die interpretatio christiana von Röm 7 vertreten. Die Diskussion darüber ist also keineswegs beendet. Wir werden uns ihr im dritten (exegetisch-systematischen) Teil unserer Arbeit zuwenden.585 Wie an dieser Stelle optiert wird, ist für die theologische Anthropologie von entscheidender Bedeutung: Trifft die in Röm 7,14 ff. beschriebene Zerrissenheit zwischen Wollen und Nichtvollbringen des Guten, zwischen dem Gesetz Gottes im Gemüt und dem Gesetz der Sünde in den Gliedern bzw. im Fleisch auf den Christen selbst zu oder liegt sie gerade als seine vorchristliche Verfasstheit hinter ihm? Lebt der Christ im »Zugleich« der beschriebenen Antithesen oder hat er es schon überwunden?

Dazu siehe unten Teil III, Kapitel 2.

585

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Luther hat zeitlebens daran festgehalten, dass in Röm 7,7–25 Paulus von sich selbst und damit vom Christenmenschen überhaupt spricht – und zwar nicht in dem Sinn, dass Paulus, vom christlichen Glauben erleuchtet, auf seine eigene vorchristliche Vergangenheit zurückblickt, sondern in dem Sinn, dass er seine gegenwärtige Verfasstheit beschreibt.586 Luther schließt sich damit der Position des späten Augustin an, der seine anfängliche Auslegung von Röm 7 auf den vorchristlichen Menschen korrigiert hat und jetzt der beste Gewährsmann dafür ist, »quod Apostolus ab hoc textu [7,7] vsque in finem loquatur in persona sua et spiritualis hominis et nequaquam in persona tantum carnalis« (56,339,5 ff.).587 Luther will dies aber auch aus dem Paulustext selbst erhärten, und ein Großteil seiner Auslegung von Röm 7 besteht 1515/16 in der Kommentierung von zwölf Paulusworten aus Röm 7, die beweisen, dass hier der »spiritualis homo« gemeint ist (339,5–347,14; 342,28 f.: »spiritualissimus homo«). Die Argumentationsstruktur ist dabei immer dieselbe: Die Situation der Spannung und des Kampfes zwischen Geist und Fleisch, innerem und äußerem Menschen ist an sich schon eine So Grundmann, Römerbrief, 121. Zu Luthers Auslegung von Röm 7 vgl. ebd., 119–125, sowie Ellwein, Leben, 162–190; Hamel, Luther II, 68–76; Althaus, Paulus, 50–67; Hübner, Rechtfertigung, 117–129. Als spätere Belege für Luthers konstante Sicht von Röm 7 vgl. 7,103,9–106,28; 40 II,89,11–90,11. 587 Vgl. das Urteil Hamels, Luther II, 68: »Luther stimmt in der Auslegung des Kapitels 7 des Römerbriefes mit Augustin so gut wie vollständig überein, so daß er sich fortlaufend auf ihn berufen kann.« Kritischer urteilt Grane, Modus, 52–60, 94–100, der auf Luthers gegenüber Augustin radikalisierten Konkupiszenzbegriff sowie auf das bei Luther neue totus iustus/totus peccator verweist. Im Gegenzug dazu minimalisiert Grane aber bei Luther den augustinisch-sanativen Aspekt der Rechtfertigung. Wichtig ist seine Beobachtung (53 ff.), dass Augustin nur Röm 7,14 ff. und nicht schon Röm 7,7–13 auf den geistlichen Menschen bezieht. Hier irre Luther also und führe selbst für die christliche Lesart von Röm 7,7–25 nur Verse ab Röm 7,14 an. – Zu Augustins Auslegung von Röm 7 vgl. Kümmel, Römer 7, 76 f., 90–94; Jonas, Augustin, 41–63; Dinkler, Anthropologie, 267–274; Hamel, Luther II, 60–67; Lichtenberger, Ich, 21–24. Augustin hatte noch im Jahr 397 Röm 7,14 ff. – wie bis dahin üblich – auf den homo sub lege bezogen. Ab 419, also mitten im pelagianischen Streit (seit 412), ist dann seine Applikation dieses Textes auf den homo sub gratia greifbar. Als Argumente für seinen Wandel benennt Augustin das »nunc autem« von Röm 7,17, das temporär gedeutet und auf den Gnadenstand bezogen werden müsse. Zum anderen sind ihm die positiven Aussagen, die vom redenden Ich getroffen werden (z. B. Röm 7,22), für den homo sub lege schwer vorstellbar, während alle Aussagen über die Macht der Sünde im Ich (etwa 7,14) beim homo sub gratia dann plausibel werden, wenn sie (nur) die innere Konkupiszenz betreffen. Während Jonas die Positionsänderung Augustins ausschließlich mit seinem Antipelagianismus in Verbindung bringt (Röm 7, vom Christen geltend, belege das Fortwirken der Erbsünde in ihm und radikalisiere die Heillosigkeit des homo sub lege, akzentuiere also insgesamt die Bedeutung der gratia), führen die anderen Autoren ihn auch auf den Einfluss des Ambrosius und eine neue Vertiefung in Paulus zurück, so dass Augustins Kehre in der Exegese von Röm 7 schon unabhängig vom pelagianischen Streit eingeleitet, durch diesen aber profiliert worden wäre. – Alle Zitate im Folgenden nach WA 56. 586

Anthropologie 297 Heilssituation, die im vor- und außerchristlichen Menschen nicht besteht. Folglich kann Röm 7, wo es genau um eine solche konfliktive Verfasstheit geht, nur vom Christen, vom »geistlichen Menschen« sprechen. Dabei zeigt sich das Positive des in Röm 7 beschriebenen Menschen in einer zweifachen Weise:588 Zum einen besitzt dieser Mensch eine klare Selbsteinschätzung und Selbsterkenntnis: Er weiß darum, dass er noch Sünder ist und das Fleisch noch an sich trägt. Sich selbst als Sünder zu erkennen, um seine bleibende ichsüchtige concupiscentia zu wissen, das vermag man aber nur von einem Gegründetsein im Guten bzw. Distanziertsein vom Bösen, also vom Christsein aus. Der reine Sünder bzw. der vorchristliche Mensch ist zu dieser Selbsterkenntnis nicht fähig, ja er leugnet geradezu seine Sünde und hält sich für gut und geistlich. Den Satz: »Ich bin fleischlich!« (Röm 7,14) kann der homo carnalis deshalb nie sprechen, dieses Wissen um und Missfallen an sich selbst besitzt nur der homo spiritualis. Nur er kann diese kritische Selbstbeurteilung und Selbstunterscheidung an sich vollziehen. Eben dies bedeutet aber für Luther, dass das Zugleich von Geist und Fleisch nur beim Christen gegeben ist und nur von ihm auch artikuliert werden kann: »Quia spiritualis et sapientis hominis est scire se esse carnalem et sibi displicere, se ipsum odire et legem Dei commendare, quod sit spiritualis. Rursum Insipientis et carnalis est scire se spiritualem vel sibi placere.« (340,25–28)589 Dabei richtet sich streng genommen diese Selbstreflexion des geistlichen Menschen nicht auf sein Geistlichsein, sondern auf sein Fleischlich- bzw. Sündersein. Ersteres vermag er sich selbst gerade nicht, sondern nur dem Gesetz zuzuschreiben. Von daher ist auch die in Röm 7,24 sich aussprechende Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit nur dem geistlichen Menschen möglich, ebenso das daraus folgende Herbeisehnen des die Sünde ganz vernichtenden Todes sowie die die eigene Selbstverurteilung aussprechende Haltung der Demut: »Perfecta enim cognitio sui ipsius perfecta humilitas est, perfecta autem humilitas perfecta sapientia, perfecta sapientia perfecta spiritualitas est. Igitur perfecte spiritualis dicit: ›Infelix ego homo‹. Carnalis autem non cupit liberari et dissolui.« (346,19– 23)590 Dabei weiß Luther sehr wohl, dass auch bei den Christen diese Selbster Vgl. Althaus, Paulus, 50 f. Vgl. 345,23–28: »Nemo enim malum suum agnoscit, nisi sit in bono super malum con­ stitutus, vnde Iudicare et discernere potest suum malum, Sicut tenebras non nisi per lucem decernimus et contrarium contrario metimur et vilius preciosiore Iudicamus. Si ergo non esset in luce spiritus, malum carnis sibi adiacere non videret nec gemeret.« Siehe auch Hermann, Theologie, 103 f., 111; Ellwein, Leben, 181. Luther vermag das auch so zu formulieren, dass allein vom Glauben aus die Sünde erkennbar wird: Vgl. 68,25: »Igitur sola fide dicitur: ›Quoniam iniquitatem meam ego cognosco‹«; 229,20–25; 231,8–12, bes 8 ff.: »Quia sicut per fidem Iustitia Dei vivit in nobis, ita per eandem et peccatum vivit in nobis, i. e. sola fide credendum est nos esse peccatores.« Der Glaubende gibt dem Urteil Gottes Recht, dass wir Sünder sind und »wird« so gleichsam in sich selbst erst zum Sünder. 590 Anz, Exegese, 4, spricht von drei Gründen, die Luther zur interpretatio christiana 588 589

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kenntnis noch keine »perfecta cognitio sui ipsius« ist, und zwar deshalb, weil es auch dem Glaubenden unmöglich ist, die ganze Abgründigkeit und Tiefe der Sünde bei sich selbst zu durchschauen. Zwar ist der Standpunkt des Redenden in Röm 7 nicht der totaler Verfinsterung, sondern setzt anfängliche Erkenntnis des Gesetzes voraus, doch spricht der Apostel »de ipsa obfuscatione profundissima cordis nostri, Qua etiam sancti et sapientissimi viri sui ipsius cognitionem perfecte non habent ac per hoc nec legis« (68,13 ff.). Erkenntnis des Gesetzes setzt (volle) Erkenntnis der (eigenen) Sünde voraus, so wie das Gesetz seinerseits die Sünde aufdeckt.591 Doch zu solch restloser Selbsterkenntnis gelangen selbst die Heiligen nicht, da niemand das Gesetz: »Non concupisces!« in seiner ganzen Abgründigkeit bei sich erkennt.592 Luther will damit wohl sagen: Der Prozess einer wachsenden Selbst- und Gesetzeserkenntnis ist zwar nur innerhalb des Christseins denkbar, nicht vorher oder außerhalb seiner, aber er ist auch hier erst anfänglich gegeben, da zur bleibenden Sünde immer auch die Verblendung über die Sünde gehört. Das Positive des in Röm 7 in den Blick genommenen Menschen, der deshalb nur der homo spiritualis sein kann, zeigt sich zweitens auch daran, dass in ihm ein Wollen des Guten, ja eine Lust an Gottes Gesetz (7,22) gegeben ist, wenngleich diese vom Wollen des Fleisches noch bedrängt wird und mit ihm in Streit liegt. Ja, es verhält sich sogar so, dass das gute Wollen, der Geist, die Oberhand über das negative Wollen, das Fleisch, innehat. Denn der Geist stimmt dem Fleisch nicht zu, versagt ihm den consensus, so dass es äußerlich nicht zur Ausführung der bösen, sondern der guten Tat kommt. Jenes böse Begehren ist zwar Sünde, aber sozusagen gegen das bessere Wollen des Menschen noch in ihm. Beim homo carnalis liegt dagegen kein simul zweier Willensrichtungen vor, er ist ganz dem Wollen des Bösen, dem Fleisch verfallen: »Quod totus ille textus [von Röm 7,7 an] expresse iudicat gemitum et odium contra carnem et dilectionem ad bonum et ad legem. Hoc autem carnali homine nullo modo conuenit, qui potius odit legem et ridet ac sequitur carnem per prona. Spiritualis enim pugnat cum carne et gemit, quod non tantum potest quantum vult. Carnalis autem non pugnat, sed cedit atque consentit.« (340,6–11) Man könnte sagen: Gerade die Spannung und von Röm führen: 1. Allein der geistliche Mensch ist der inneren Zustimmung zum Gesetz fähig; 2. nur der geistliche Mensch entdeckt den Grundwiderspruch in seinem Willen; 3. die die eigene Verurteilung aussprechende Stimme der Demut ist nur vom neuen Sein des geistlichen Menschen her denkbar. Anz beruft sich für den dritten Grund auf die oben zitierte Stelle. Wir subsumieren ihn unter Grund Nr. 2 (Luther: »perfecta enim cognitio sui ipsius perfecta humilitas est«). 591 Luther geht hier offenbar von einem reziproken Verhältnis aus: Einerseits deckt das Gesetz die Sünde auf, andererseits ermöglicht aber auch erst die vollständige Selbst- und Sündenerkenntnis das adäquate Verständnis dessen, was das Gesetz fordert. Vgl. 68,16 f.: »Cum sit impossibile legem intelligere, quin omne peccatum intelligatur. Lex enim omne peccatum tangit.« 592 Vgl. 68,20 ff.: »Sed excepto Christo quilibet Iustus, sicut proficit ad puritatem de concupiscentia, ita etiam proficit ad intellectum huius legis de ignorantia.«

Anthropologie 299 der Kampf zweier Willenstendenzen im Menschen, der Widerspruch im Wollen ist das Zeichen dafür, dass die Macht der Sünde, des Fleisches gebrochen ist, was eben nur beim Christen möglich ist. Wohingegen der homo carnalis spannungslos existiert, d. h. ganz dem Fleisch, dem negativen Wollen verfallen ist und zustimmt. Im reinen Sünder gibt es kein simul! Da gilt vielmehr: »omnino totus homo caro est, quia non permansit in eo spiritus Dei.« (343,24 f.)593 Für den »geistlichen« Apostel trifft dagegen zu: »Ideo etiam [Apostolus] non peccat, quia cum dissensu suo caro concupiscit, immo proprie ipse non concupiscit, quia dissentit concupiscentie carnis.« (342,31 ff.) Luther deutet an dieser Stelle an, dass das eigentliche Wollen des Paulus bzw. des homo spiritualis das Wollen des Guten ist, er selbst das Gute intendiert, aber eigentlich nicht das Böse begehrt, weil er ihm Widerstand leistet. Womit Luther freilich – wie wir noch sehen werden – nicht bestreitet, dass auch das negative Wollen dem Christen als Person zugehört und insofern ihm selbst zuzusprechen ist. Jedoch passt es zu der festgestellten Asymmetrie, dass Luther das Subjekt der beiden Willensausrichtungen als homo spiritualis, ja homo spiritualissimus bezeichnet, der homo carnalis ihm dagegen der vorchristliche Mensch ist.594 Luthers Hauptargument für die interpretatio christiana von Röm 7 ist – wie wir sahen – seine Auffassung, dass der sich in Wollen und Erkenntnis artikulierende und seiner selbst durchsichtig werdende Stand des simul zweier Intentionalitäten per se ein Heilsstand ist. Heil bedeutet für ihn irdisch also immer eine Spannungs-, ja Widerspruchseinheit konträrer Momente. Gerade der in sich Vgl. die Fortsetzung 343,25 ff.: »Ideo carnalis homo non potest dicere: ›in me id est in carne mea‹, quasi ipse aliud a carne per voluntatem sit, Sed est idem cum carne per consensum in concupiscentias eius.« Ferner 343,5 ff.: »Carnalis autem vtique, quia consentit legi membrorum, vtique ipse operatur, quod peccatum operatur. quia iam non tantum vnius sunt personae mens et caro, Sed etiam vnius voluntatis«; 345,31–346,1: »Quia sine spiritu totus homo est vetus et exterior.« 594 Vgl. 343,9 f.: »Vide, quomodo carnem, partem sui, sibi tribuit, quasi ipse sit caro.« – Auch Hübner, Rechtfertigung, 119–129, interpretiert Geist und Fleisch im Sinne Luthers als zwei konträre Willensrichtungen. Er legt aber großen Wert auf das asymmetrische Verhältnis beider im Christen: »Es gibt also im geistlichen Menschen ein Wollen, das spontan auf das Gute gerichtet ist; dieses Das-Gute-wollen macht das Innerste des gerechtfertigten Menschen aus.« (120) »Das Fleisch ist nicht der Gerechtfertigte selbst.« Es ist »nicht inte­ grierender Bestandteil dieses eigentlichen Ichs, sondern nur das, was dieses eigentliche Ich hindert« (121; vgl. 122). So sehr dieser Interpretationslinie zuzustimmen ist, darf dadurch doch nicht die Paradoxie abgeschwächt werden (so tendenziell 124 f.), dass Luther auch davon spricht, dass der ganze Mensch noch Fleisch ist, ja dass das Fleisch seine Person mit ausmacht. Auch von einer anfanghaften »ontischen Gerechtigkeit« zu sprechen, ist solange missverständlich, als nicht klar ist, dass diese keine Gerechtigkeit coram deo ist. Denn sie wird ja gerade durch das widerstrebende sündhafte Ich-Wollen so tangiert, dass sie vor Gott nicht bestehen kann, der Christ von sich her also totus peccator bleibt. Es ist wohl kein Zufall, dass bei Hübner – wie schon erwähnt – in seiner Unterscheidung von personaler und ontischer Ebene das totus peccator des Gerechtfertigten nicht denkbar ist. 593

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zerspaltene, im Widerspruch mit sich selbst lebende Mensch ist hienieden der heilvolle Mensch, weil die »Harmonie« des Sünderseins aufgebrochen ist.595 Durch Spannungslosigkeit ist für Luther sowohl das reine Sündersein gekennzeichnet (totus caro) als auch der Stand eschatologischer Vollendung, wo der Mensch als totus spiritus ganz von der Sünde befreit ist. Wenn Luther Röm 7 – also die Situation des inneren Zwiespaltes und Kampfes zwischen Gut und Böse – auf den Christen appliziert, dann zieht das – wie wir gesehen haben – eine gesteigerte negative Bewertung des vor- und außerchristlichen Seins nach sich: Es besteht dann nicht – wie bei der Deutung von Röm 7 auf das Sein vor Christus – im inneren Zerrissensein, sondern in dem spannungslosen, totalen Verfallensein an die Sünde, in dem auch die Erkenntnis der Sünde nicht möglich ist. Der Sünder wird höchstens äußerlich durch das Gesetz vom Bösen abgehalten bzw. zum Guten ge­zwungen.596

5.2 Wie zeigt sich der Gegensatz von Geist und Fleisch? – »Facere« und »perficere« Im letzten Abschnitt wurde bereits deutlich, dass Luther im Christen den Streit zwischen Fleisch und Geist als zweier konträrer Streberichtungen gegeben sieht. Beide sind simul, »zugleich« noch im homo spiritualis vorhanden, wenn auch der Geist die Oberhand besitzt. Wir fragen nun: Wie versteht Luther diese Widerspruchseinheit von Fleisch und Geist im Christen genauer? Wie wird in diesem Kontext das simul interpretiert? Dabei orientieren wir uns zunächst an der Römerbriefvorlesung von 1515/16 und richten dann unsere Aufmerksamkeit auf den Galaterkommentar von 1519.

Vgl. zu diesem Aspekt umfassend die Arbeit von Brand, Leben, 107–310, mit der eine nähere Auseinandersetzung leider nicht mehr möglich war. Ferner Rieger, Freiheit, 72, 79 f.: »Die Spaltung des Menschen in sich selbst, die Nicht­identität, ist nach Luther durch die Gnade Gottes bewirkt, damit der Mensch von seiner sünd­haften Natur befreit werden könne. Weil der Mensch von Natur aus verdorben ist, wäre die Bewahrung der Identität mit sich selbst sein Untergang.« Das christliche Leben ist von daher ein Kampfesgeschehen. Vgl. z. B. 346,10–14: »Ex quo patet se [Paulum] loqui vt pugilem inter duas contrarias leges, Non autem vt victum, cui non repugnant, lex memborum legi mentis, Sed mens dedit manus, Qualis est in carnali homine. Immo indicat se vni lege servire et deditum esse atque aliam repugnantem sibi sustinere ac non ei seruire, Sed potius reluctari«; 350,5–17. 596 Vgl. Althaus, Paulus, 51, die Position der Reformatoren gegen Paulus abhebend: »Erst vom Christen gilt, daß er Mensch im Widerspruch ist.« Ebenso ders., Theologie, 140. Jonas, Augustin, 57, urteilt über Augustins späte Interpretation von Röm 7: »Jetzt ist der ›Mensch unterm Gesetz‹ so schlecht, daß ihm nicht einmal mehr seine eigene Schlechtigkeit als solche begegnen kann – und seine Freiheit besteht jetzt nur noch in der delectatio peccati, der Lust am Sündigen.« 595

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5.2.1 Römerbriefvorlesung (1515–1516) Zunächst ist auf einen Sachverhalt bei Luther hinzuweisen, der unmittelbar damit gegeben ist, dass Luther Röm 7 vom Christen versteht: Wenn Paulus davon spricht, dass er fleischlich, unter die Sünde verkauft, das Gesetz aber geistlich sei oder dass er nicht tut, was er will, sondern vielmehr tut, was er hasst (Röm 7,14 f.), dann bezieht Luther das mit Augustin nicht auf die äußeren schlechten Taten, die er beim Christen in der Regel nicht gegeben sieht. Im Allgemeinen führt der Christ ein moralisch gutes Leben und hält die Gebote Gottes, faktisch tut er nicht das Böse, ohne dass damit kleineres Fehlverhalten ausgeschlossen wäre.597 Ein wirklich schweres Vergehen (crimen) stellt für ihn ein gleichzeitiges Herausfallen aus dem Glauben dar und insofern auch ein Herausfallen aus dem Stand des simul. Vielmehr geht es Luther und ihm zufolge auch Paulus bei dem Zwiespalt und Widerstreit von Röm 7 um ein inneres Geschehen, eben der Mächte von Geist und Fleisch als zweier konträrer Willensausrichtungen.598 Deshalb notiert Luther gleich zu Beginn der Kommentierung von Röm 7: »Patet itaque, Quod Apostolus non metaphysice neque moraliter de lege loquitur, Sed spiritualiter et theologice, […] sc. Quoad interiorem hominem et voluntatem respicit, non quoad opera in exteriori homine respicit.« (334,3–6) Paulus spricht also nicht »moralisch« vom Gesetz, nicht vom äußeren Vollzug böser oder guter Taten, auch nicht »metaphysisch«, d. h. nicht ontologisch, sofern der Mensch Träger bestimmter Eigenschaften und Werke ist. Sondern es kommt ihm nach Luthers Auffassung auf die innere Grundhaltung bzw. den Willen an, der dem äußeren Tun zugrunde liegt. Und da ist eben jene simultane Duplizität zweier Streberichtungen bzw. das Widereinander von Fleisch und Geist gegeben. Allem guten Tun des Christen – und auch seinem durchaus vorhandenen Wollen desselben – haftet noch das böse Begehren, der Ichwille, die concupiscentia an, welche ihn nicht völlig, d. h. innerlich gut sein lässt.599 Der Christ kann dieses sündliche Begehren bekämpfen, ihm nicht zustimmen – und insofern wird es ihm nicht als Sünde angerechnet –, aber restlos auslöschen kann er es nicht. Es kommt also primär nicht auf das faktische Sündigen an, sondern auf die bleibende sündige Grundhaltung. Luther expliziert diesen Gedanken, indem er im Anschluss an Augustinus die Begriffe »facere« und »perficere« in Röm 7,15–20 wie folgt unterscheidet: Das Tun des Bösen und das Nichttun des Guten dürfen nicht »moraliter« und »metaphysice« verstanden werden, als ob der Apostel nichts Gutes, sondern lauter Böses tue. Das wäre eine Interpretation nach dem sensus humanus. »Sed vult [dicere], quod non tot et tantum bonum nec tanta facilitate faciat, quantum et quanta vult. Vult enim purissime, liberrime et letissime, sine molestiis repugnantis carnis

Vgl. 8,8,33 f.: »Nihil hic de robustis illis peccatis disputamus, quibus aliquando sancti peccant, sed de quottitiano inhaerente [peccato].« 598 Vgl. Hermann, These, 189; Saarinen, Klostertheologie, 282 f. 599 Vgl. Anz, Exegese, 6. 597

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agere, quod non potest.« (341,30–33)600 Im Christen ist also, obwohl er das Gute will, gleichzeitig (simul) und konstant noch eine hemmende, beschwerende, nach unten ziehende Kraft am Werk, eine falsche Ichgebundenheit, die mit dem geistgeführten Wollen des Guten im Streit liegt und es »infiziert«. Diese nennt Paulus nach Luther »facere«: »›Facere‹ enim hic pro conari, machinari, desideria mouere, velle etc. accipitur, Qualia sine intermissione caro contra spiritum et spiritus contra carnem operatur.« (342,7–10)601 »Facere« – das es demnach auch beim Geist gibt (vgl. Gal 5,17) – meint also nicht »opere implere« (= perficere), sondern nur ein inneres »Aussein auf«. Denn der Apostel hat wirklich Wohlgefallen am Guten, einen Willen, der durch die geistgewirkte Liebe bereit ist zum Guten, und einen Hass gegen das Böse.602 »Et tamen resistente carne et aduersa concupiscentia non potest hanc voluntatem implere et perficere. Si enim perficeret et impleret, sine resistentia bonum operaretur et delectabiliter; hoc enim vult voluntas eius. Nunc autem non ita operatur; ideo quod vult, non facit, Sed quod non vult, facit.« (342,15–19) Dem bekehrten Menschen gelingt es nur, bis zum äußerlichen Tun des Guten vorzudringen, er bleibt aber in der inneren Bejahung desselben gebrochen, gespalten. Hier liegen zwei Willen im Streit, hier spielt sich die »pugna inter carnem et spiritum« ab. Deutlich ist mithin, wie Luther das facere auf eine innere Bewegung und Intention hin umdeutet, um so den paulinischen Text im Sinne seines simul auf den Christen applizieren zu können.603 Im Blick auf den Vorsatz vollkommener Keuschheit gilt: »Sed non sinitur a carne, que suis motibus et cogitationibus facit molestissimam castitatem et agit sua immunda desideria, etiam Inuito spiritu. Oder: Qui Vigilare, orare, operari proximo proponit, semper Inueniet rebellem carnem et alia machinantem atque cupientem.« (342,1–5) 601 Vgl. 71,6 f.14 ff.: »Hoc ›facere‹ significat non opus implere, sed conari et cupere facere. Vnde et distinguit ›facere‹ et ›perficere‹. […] Vt ›facere‹, ›agere‹, ›operari‹ significet non opera, Sed motus et desideria ad opera producere seu conari facere, ›perficere‹ autem operibus ea implere atque desideria perficere.« Es folgen als Zitat Gal 5,16; Röm 6,12. Ferner 70,6 (zu ›facio‹ [Röm 7,15]): »non opere, sed quia concupiscentia fit et surgit, etiam invito spiritu; 70,9 f. bringt explizit das simul: Ideo simul sum peccator et Iustus, quia facio malum et odio malum, quod facio.« 602 Vgl. 342,13 f.: »Habet beneplacitum et voluntatem per spiritum diffusa charitate promptam ad bonum et odium ad malum.« Es schließt unser obiges Zitat an. 603 Darauf weist auch Althaus, Paulus, 52 f. hin. – Zum Wollen des Guten, das nicht »vollendet« werden kann vgl. 344,24.28–31: »Istud ›Velle‹ est promptitudo spiritus, que ex Charitate est […], Sed ›perficere‹, sc. hoc bonum legis, resistente carne [Apostolus] non potest. Quia Vult non concupiscere et bonum Iudicat non concupiscere et tamen concupiscit et non perfecit hoc velle suum Et ita secum ipse pugnat«; 345,5 ff.: »Respondet, Quod facit, Sed non perficit bonum, quia non extinguit concupiscentiam carnis.« – Da die böse Konkupiszenz vom Christen nicht bejaht wird, gilt: »Ideo etiam non peccat, quia cum dissensu suo caro concupiscit, immo proprie ipse non concupiscit, quia dissentit concupiscentie carnis. […] Vtrunque ergo verum, Quod ipse et non ipse operatur.« (342,31 ff.; 343,2) Zur Gegenüberstellung des spiritualis und carnalis homo bzw. interior et exterior homo vgl. 345,30–346,6. Luther betont hier stark die Positivität des guten Wollens: »Ecce expresse dicit [Apostolus] se habere interiorem hominem. Hic autem non est nisi spiritualis, Quia 600

Anthropologie 303 Wiederum ist der Heilsstand des simul von den beiden Extrempunkten abzugrenzen: Das völlig ungeteilte innere Wollen (= »Tun«) des Guten im Sinne des »perficere« ist der eschatologischen Vollendung vorbehalten: »Spiritus perficit, quod vult bonum, quando sine rebellione operatur secundum legem Dei, quod non est huius vite, quia ›perficere non Inuenio‹.« Beim Menschen unter der Sünde findet sich diese Spannung zwischen »Wollen« und »Tun« ebenfalls nicht, allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen: Er gibt seinem »Tun«, d. h. dem sündlichen Begehren kampflos nach, bejaht es und »vollbringt« es: »Caro autem perficit, quando cum delectatione sine repugnantia et difficultate operatur secundum concupiscentias.«  (342,23–26)604 Wir stellen der Übersichtlichkeit und Klarheit halber die von Luther besprochenen existentiellen Möglichkeiten nochmals schematisch nebeneinander: »Das Böse nicht erfüllen« (non perficere) heißt: dem bösen Begehren (facere) wird nicht zugestimmt, es kommt nicht zur bösen, sondern zur guten Tat. »Das Gute nicht erfüllen« bedeutet: Es kommt zur guten Tat, aber weil das böse Begehren (facere) auch noch da ist, geschieht sie nicht mit völliger Willigkeit und Freude. »Das Erfüllen (perficere) des Bösen« meint: dem bösen Begehren (facere) zustimmen und es in der Tat auch ausführen (= der Mensch unter der Sünde, nicht der Christ).605 »Das Erfüllen (perficere) des Guten« heißt: dem guten »facere« zustimmen und sine spiritu totus homo est vetus et exterior. Est autem interior mens et conscientia pura et volens in lege Domini. […] Ista delectatio est ex spiritu sancto per Charitatem.« Vgl. Hermann, Theologie, 105–109, bes. 107. 604 Auch beim homo carnalis ist die totale Verfallenheit an das Böse nicht primär auf der moralischen Ebene zu lokalisieren. Vgl. 341,20–25: Vom homo spiritualis heißt es zunächst: »Quia lex vult bonum et ipse vult bonum, ergo consentiunt. Luther fährt dann fort: Hoc non facit Carnalis homo, Sed semper dissentit legi et mallet (si fieri posset) non esse. Ideo non vult bonum, Sed malum. Et licet operetur bonum […], non tamen sapit ipsum, quia timore seruiliter coactus operatur Semper habens desiderium contrarium, si liceret Impune.« 605 Oder der Christ, sofern er dem bösen Begehren zustimmt und nachgibt. Hermann, These, 139 f., 171 ff.; ders. Theologie, 107 ff., erblickt in diesem Fixiertsein auf das non consentire gegenüber dem bösen Begehren, d. h. auf die Vermeidung der Tat, einen Rest augustinisch-monastischer Denkweise, die Luther nicht mehr zu unterstellen sei. Demgegenüber sei zu sehen, dass es eben doch beim Christen immer wieder zur bösen Tat komme, die aber nicht überbewertet werden dürfe und das non consentire nicht unmöglich mache. Denn dieses sei für Luther letztlich nicht im Sinne des »Es nicht zur Tat kommen lassen« zu interpretieren, sondern des Durchhaltens des Glaubens, des Gegründetseins in Christus. »Wenn Luther sagt: non consentit voluntas, ist etwas tiefer Reichendes gemeint: Die Sünde hat nicht die Herrschaft inne. Das heißt, das Nicht-Zustimmen läßt es – selbst wenn es zur bösen Tat eben doch gekommen ist – zur Hingabe an sie, zum Aufgehen in ihr nicht kommen. Die voluntas non consentiens ist das Gegründetbleiben auf den Felsen Christus. Gott hält die Festung, und wir halten mit, nämlich in der fides. Was vorherrscht, ist der Kampf […]. Aber das nolle kann sich nicht durchsetzen. Das Fleisch kommt nicht zur Herrschaft.« (Theologie, 109) Indessen darf nicht übersehen werden, dass für Luther sehr wohl die willentliche und tathafte Zustimmung zum bösen Begehren in einer gravie-­

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die gute Tat in dieser Haltung ausführen (= eschatologische Vollendung). Luther gebraucht demnach das Wort »(non) perficere« in doppeltem Sinn: einmal als faktisches (Nicht-) Ausführen des Bösen und zum andern als ungetrübte Reinheit des Wollens.

5.2.2 Kleiner Galaterkommentar (1519) Luther hat die Unterscheidung von facere und perficere auch im Kontext der Auslegung von Gal 5,16 f. entfaltet, was nur schlüssig ist: Denn wer Röm 7 auf den Christen hin deutet, muss in Gal 5,16 f. dieselbe Situation ausgesprochen finden. So verweist Luther – wie wir gesehen haben – in seiner Exegese von Röm 7 auf die Galaterstelle, wie er umgekehrt bei der Kommentierung von Gal 5,16 f. mehrfach auf Röm 7 Bezug nimmt. 1519 führt Luther zu Gal 5,16 aus: »quod facere concupis­ centias est eas habere, titillari et moveri ab illis sive ad iram sive libidinem, sed perficere est consentire et eas implere: haec sunt opera carnis. Sed eas non habere aut non facere tunc erit […], quando nec mortalem carnem habebimus.« (2,584,12–16) Von Gal 5,17 her vermag Luther noch stärker als in der Römerbriefvorlesung herauszustellen, dass es auch ein concupiscere des Geistes gegen das Fleisch gibt, so dass man von zwei concupiscentiae sprechen könnte: »Sic concupiscentia spiritus ipsa charitas concupiscit, ut possit non concupiscere secundum carnem, sed non perficit, quia non potest non habere carnis concupiscentiam.« (2,584,18 ff.) So wie das concupiscere des Geistes nicht »vollendet« wird, weil immer noch die concupiscentia carnis mit im Spiel ist, so »vollendet« sich andererseits auch nicht die concupiscentia carnis: »Non perficiuntur carnis desyderia, si non consentiatur eis, quamvis agantur motibus, non tamen perficiuntur operibus.« Im Blick auf Röm 7,18 konstatiert Luther: »Quia facere bonum est post concupiscentias non ire, perficere autem bonum est non concupiscere.« So ergibt sich folgender zunächst paradox klingender Satz: »Sic concupiscentiae carnis non perficiuntur, quamvis fiant, nec nostra bona opera perficiuntur, quamvis fiant.« (2,584,22–27) Luther formuliert an dieser Stelle auch explizit das simul: Aufgrund der beschriebenen Situation seien alle Heiligen »adhuc carnales ex parte, licet secun­ dum hominem interiorem sint spirituales« (2,584,17 f.). Man sieht hier deutlich, wie Luther das simul iustus est peccator in den Gegensatz von Fleisch und Geist als zweier konträrer Willensrichtungen (»duae concupiscentiae«) transformiert.606 renden Sache den Verlust der Rechtfertigungsgnade mit sich bringt, d. h. den Verlust des Glaubens einschließt. 606 Vgl. 2,586,37 f.: »Satis dictum est de diversitate spiritus et carnis: neutrum extinguit alterum in hac vita, et si spiritus invitam carnem domet sibique subiiciat […]«; 57 II,102,14–18: Da die Christen die concupiscentiae nicht nicht haben bzw. nicht nicht »tun« können, gilt: »Inde omnes sanctos dicit [Augustinus] adhuc ex parte esse carnales, […] licet secundum interiorem hominem sunt spirituales. Ex quibus patet, quomodo vita christiana non stet in esse, sed in fieri, non in victoria, sed in pugna, non in iustitia, sed in iustificatione, non in comprehendisse, sed in extendere, non in puritate, sed in purificatione.«

Anthropologie 305 Für die gute menschliche Handlung bedeutet das: »omnem actum bonum adhuc simul ex parte malum esse« (2,584,36). Gut ist, dass das Gute geschieht, böse im Sinne von wahrhafter, wenngleich unvermeidbarer Sünde ist,607 dass es nicht, wie vom Gesetz Gottes verlangt, »vollendet«, d. h. ungeteilt gewollt wird. Dahinter bleiben alle Heiligen zurück und sündigen deshalb in jedem guten Werk. Luther betont von daher erneut den Kampfescharakter des christlichen Lebens: Die vita christiana ist »tentatio, militia et agon« (2,584,28 f.). Der actus peccati bleibt also, wenngleich der reatus weggenommen ist. Würde Gott uns, wie er zu Recht könnte, den bleibenden actus anrechnen: »totum mortale et damnabile esset« (2,585,4–7). Man sieht an dieser Stelle wieder klar, wie Luther trotz der Duplizität und Partialität der Streberichtungen dennoch sagen kann, dass der Mensch von sich aus – abgesehen von der non-imputatio Gottes – totus peccator ist.608 Im Galaterkommentar von 1519 äußert Luther freilich auch Zweifel an der durchgängigen Anwendbarkeit seiner Definition von facere und perficere bei Paulus.609 In Gal 5,17d (»ut non quaecunque vultis, illa faciatis«) wahre Paulus die Unterscheidung beider Verben nicht, da er anstelle von »non faciatis« eigentlich »non perficiatis« schreiben müsste. Weil Geist und Fleisch gegeneinander sind, kommt es nicht zum ungeteilten Wollen (perficere) dessen, was wir dem Geist Vgl. 2,584,33 f.: »Non concupiscere nemo potest, sed non obedire concupiscentias possumus.« 608 Man könnte durchaus erwägen, das totum im letzten Zitat auf ein zu ergänzendes hominem anstatt auf ein hinzuzudenkendes actum zu beziehen. – Luther hat das schwer verständliche »ut non quaecumque vultis, illa faciatis« (Gal 5,17d) als Negation des liberum arbitrium ausgelegt – und zwar nicht im Sinne der formalen Wahlfreiheit, sondern der Entschiedenheit zum Guten. Letztere spreche Paulus nicht nur dem Menschen extra gratiam ab, sondern sie sei auch bei denen, die spiritu gratiae leben, wegen des gegenläufigen Wollens nicht (vollständig) gegeben. Es folgt dann nach Zitation von Röm 7,14 die uns schon bekannte Argumentationsfigur: »Si iustus et sanctus sic quaeritur de peccato, ubi peccator et impius apparebunt cum operibus suis de genere bonorum et moraliter bonis? Gratia dei nondum perfecit liberum arbitrium, et ipsummet seipsum liberum faciet? quid insanimus?« (2,586,33–36) 609 Dies scheint an dieser Stelle singulär zu sein. Obwohl Luther auf diese Distinktion im Antilatomus 1521 explizit nicht eingeht, sie aber doch implizit voraussetzt bzw. andeutet (vgl. 8,121,21–122,21), hält er an ihr auch später explizit fest. Zwar spiegelt sie sich nicht in seiner Übersetzung von Röm 7 wider (er bleibt beim deutschen »tun«), aber eine Marginalglosse zu Röm 7,14, die sich unverändert im Septembertestament 1522, in der ersten deutschen Vollbibel 1534 sowie in der letzten Bibelausgabe von Luthers Hand 1546 findet, erklärt: »Thun heisset hie nicht das werck volnbringen, sondern die lüste fülen, das sie sich regen. Volnbringen aber ist, on lust leben, gantz rein, das geschicht nicht in diesem Leben.« (DB 7,50 f.) In 40 II,88,17–27 (zu Gal 5,17) unterscheidet Luther 1531 im Blick auf die concupiscentia allerdings zwischen sentire einerseits und consentire und perficere (= facere!) andererseits. – Nach Kümmel, Römer 7, 92, hat die von Augustin eingeführte Differenzierung zwischen facere und perficere nur an einer Inkonsequenz der Vulgata, nicht aber am griechischen Urtext Anhalt: κατεργάζεσϑαι wird einmal mit perficere, dann mit operari übersetzt. 607

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nach schon wollen. Ebenso müsste es in Röm 7,19 (»quod volo bonum, non facio«) statt »facio« »perficio« heißen, während, wenn es im selben Vers lautet: »quod odi malum, hoc facio«, Paulus die besagte Unterscheidung wahre. Luther stellt deshalb die von Augustin übernommene Differenzierung zwischen facere und perficere dem Leser frei. Nur müsse der Sinn festgehalten werden: »esse in nobis pugnam spiritus et carnis, qua impediti non implemus perfecte legem, ideoque peccatores nos esse, quamdiu in carne sumus, atque in omni opere bono egere ignoscente misericordia dei.« (2,587,15 ff.)610

5.3 In Römer 7 ist von wirklicher Sünde die Rede Es gilt nun einen Aspekt besonders herauszustellen, der uns im Laufe unserer bisherigen Untersuchungen schon mehrfach begegnet ist: Luther zufolge ist in Röm 7 als der Beschreibung der anthropologischen Verfasstheit des Christen von wirklicher Sünde und nicht nur von Sündenfolge als Sündenstrafe und Schwäche die Rede. Der postbaptismale Rest kommt nicht nur aus der Sünde und treibt zu ihr (als neuem peccatum actuale) wieder hin, sondern ist selbst Sünde und trennt abgesehen von der göttlichen Vergebung und Nichtanrechnung von Gott. Dieses Urteil Luthers hängt – wie wir ebenfalls schon feststellen konnten – wesentlich an seiner Interpretation von Röm 7,7: »Sed peccatum non cognovi nisi per legem: nam concupiscentiam nesciebam, nisi lex diceret: Non concupisces.« Hier wird für Luther durch das von Paulus seiner konkreten Objekte entkleidete und deshalb grundsätzlich gefasste neunte bzw. zehnte Gebot des Dekalogs die Konkupiszenz als solche eindeutig als Sünde qualifiziert und gegen alle menschliche Verschleie­rung dieses Sachverhalts manifest gemacht. Im Unterschied zu den anderen Geboten ist an dieser Stelle nicht von den Tatsünden, sondern eben von jener fundamentalen Begierde und Ichsucht die Rede.611 In seinem literarischen Streit mit Luther war es eine der Grundthesen des Löwener Theologen Jakob Latomus, der im übrigen Röm 7 ebenfalls auf das christliche Leben deutete, dass das, was nach der Taufe zurückbleibt nur Schwachheit (infirmitas) bzw. Sündenstrafe (poena) sei, die von Paulus in Röm 7 zwar Sünde Der Passus zeigt erneut den Schluss vom Partialaspekt (caro und spiritus bzw. die unvollkommene Gesetzeserfüllung) auf den Totalaspekt: peccatores sumus. 611 Vgl. 56,68,9–69,23; 348,24–27: »Ideo Cum lex dicat: ›Non concupisces‹, adeo profunde est concupiscentia prohibita, vt quidquid concupiscatur preter Deum, etiamsi propter Deum concupiscitur, peccatum sit«; 8,103,37–104,12. Dazu Althaus, Paulus, 87–90, bes. 88: »Für Luther aber ist die Begierde, die auch nach der Taufe in dem Christen lebendig bleibt, in vollem Sinne Sünde, die des ewigen Todes schuldig macht und der Vergebung bedarf. […] Er bestritt, daß erst der bewußte Willensakt der sittlichen Beurteilung als gut oder böse im strengen Sinn unterliegt. Auch das Unwillkürliche, das heimliche Spiel der Empfindungen und Wünsche, steht unter Gottes Urteil und ist bei uns Sünde, die vor Gott schuldig macht.« 610

Anthropologie 307 genannt werde, es aber eigentlich nicht ist, wenn man ihr nicht durch aktuelles Sündigen in bewusstem Wollen und Tun zustimmt.612 Deshalb darf weder diese infirmitas »peccatum damnabile« genannt werden, noch sündigt der Christ in jedem guten Werk und er dient auch nicht der Sünde. Für Luther ist dagegen – wie er in seiner Interpretation von Röm 7 im Antilatomus ausführt –613 unbedingt am Vgl. 8,82,32–83,2: »Deinde negat [Latomus] peccatorem dici eum, qui habet peccatum secundo modo, id est concupiscentiam seu motum eius post baptismum. […] qui [die Gegner] velut melius locuturi ipsum negant peccatum, sed nunc imperfectionem, nunc poenam, nunc vicium volunt appellari«; 100,1–6. Alle Zitate beziehen sich, wenn nicht anders notiert, nun auf WA 8. 613 Vgl. 99,25–126,14. – Dass Paulus in Röm 6–8 die auch im Christen noch verbleibende concupiscentia als Sünde im eigentlichen Sinne versteht, hatte Luther schon vorher 82,19–99,24, bes. 89,18–24 ausgeführt. Luther wendet sich hier gegen die Aufspaltung des Sündenbegriffs in verschiedene Bedeutungen (Ursache, Wirkung der Sünde, Opfer für die Sünde und sündhafte Tat bzw. Schuld) und sieht darin schriftwidrige »Äquivokationen«, welche die Möglichkeit bieten sollen, die Konkupiszenz selbst nicht im engeren Sinn als Sünde zu verstehen, sondern nur als Ursache oder Wirkung der Sünde. Luther fühlt sich dagegen in dieser »cardo totius ferme quaestionis« (83,18) an das für ihn eindeutige Schriftzeugnis gebunden, wenn er die im Getauften verbleibende Konkupiszenz Sünde nennt. Der einfache Wortsinn, welchen die Schrift mit dem Wort peccatum verbindet, ist aber: »id quod non est secundum legem dei« (83,28 f.). Auch bei den in der Schrift zahlreich vorkommenden figürlichen Redeformen wie etwa der Metapher ist zu beachten, dass diese nicht zu mehreren Grundbedeutungen eines Wortes führen, sondern die eine Grundbedeutung eines Wortes festhalten und auf etwas anderes »übertragen«. Durch die Metapher wird also ein Wort nicht um seine semantische Eindeutigkeit gebracht. Genau dies trifft auch für das Wort Sünde zu, etwa wenn Christus metaphorisch als »für uns zur Sünde gemacht« bezeichnet wird (»factus est peccatum metaphorice«: 86,32; vgl. 2.Kor 5,21): Er ist in allem einem Sünder gleich, unsere Sünde ist auf ihn real »übertragen«, nur dass er nicht selbst gesündigt hat. Ist die postbaptismale Konkupiszenz aber Sünde im formellen Sinn, Sünde in der Grundbedeutung des Wortes, dann ist sie, wenngleich von einer herrschenden zu einer beherrschten, entmächtigten geworden, der Substanz, dem Wesen nach vor und nach der Taufe dieselbe. Deshalb darf sie nicht in bloße Sündenstrafe, Schwachheit oder Unvollkommenheit umgedeutet werden: »Peccatum citra metaphoram, ubi ubi fuerit, vere peccatum est natura sua, nec unum magis peccatum quam aliud iuxta proprietatem substantiale, quae non suscepit magis neque minus, licet unum sit maius et fortius alio. […] Hoc vero substantiale peccatum […] post baptismum et infusam virtutem dei sic se habet, ut nondum penitus nihil sit, contritum tamen est et subiectum, ut iam non possit quod potuit.« (88,10–13.25–28) Vgl. 96,28–32: »Et ego aliud nihil peto, quam ut mihi permittant hoc modo peccatum vocare illud reliquum baptismo, […] quod misericordia egeat et natura sua malum et vitium sit, cui si consentias etiam regnare fecisti et servisti ei ac mortaliter peccasti.« – Für Luther konzentriert sich in der Frage des simul im Antilatomus letztlich alles auf das Zeugnis des Paulus in Röm 6–8. Er misst Latomus daran und stellt sich selbst unter dieses Schriftzeugnis: »Summa responsionis Lutheriana et confutationis Latomianae est haec. Si peccatum in locis Apostoli Pauli citatis probari potest, non esse vere et proprie peccatum, ruit Lutherus. Si non potest probari, ruit Latomus. At probari non potest nisi per quaedam patrum dicta, sibi etiam pugnantium, insuper humana, si non pugnarent etiam, quibus praeferri debent divina, sine quorum autoritate nihil est asse612

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unverfälschten Sprachgebrauch des Paulus festzuhalten, der eben im Blick auf das »reliquum baptismo« von Sünde und nicht von Schwachheit spricht und durch den Gott bzw. Gottes Geist selber redet. Wie denn die Schrift überhaupt das Wort Sünde in einem einheitlichen Sinn als das gegen Gottes Gesetz gerichtete Wollen oder Tun versteht.614 Da dieses Schriftzeugnis Vorrang vor aller menschlichen Tradition besitzt, kann dagegen nicht angeführt werden, dass die Kirchenväter – den an dieser Stelle nicht ganz eindeutigen Augustinus vielleicht ausgenommen –615 diesen nach der Taufe verbleibenden Sündenrest nicht Sünde genannt hätten. Luther sagt seinem Kontrahenten: »Volo […] peccatum dicere quod vos defectum vel imperfectionem dicitis, numquid me aliter coges? […] Paulus peccatum vocat id quod reliquum est baptismo, patres non peccatum, sed infirmitatem et imperfectio­ nem vocant. Hic in bivio stamus. Ego Paulum, tu patres sequeris.« (101,29 f.34 ff.) Die in Röm 7,7 als Sünde qualifizierte Konkupiszenz behält Luther zufolge vor und nach der Taufe dieselbe Natur bzw. Substanz, d. h. sie bleibt ein gegen Gott und sein Gebot gerichtetes Wollen, aber sie steht nach der Taufe gleichsam in einem anderen »Kraftfeld«: Sie tritt aus dem Kraftfeld des göttlichen Zornes in das der Gnade und Gabe Gottes, wodurch sie von einer herrschenden zu einer beherrschten wird, d. h. sie verdammt und trennt nicht mehr von Gott, ist vergeben und wird von ihm nicht angerechnet. Deshalb stimmen die Glaubenden ihr auch nicht mehr zu, willigen in sie nicht mehr ein: »Ita hoc peccatum verum peccatum est, quod alios omnes irae subiicit, hos [fideles] non subiicit, quia hi, non illi, antidoton habent, nempe donum dei in gratia unius hominis Ihesu Christi, quo imbuti non ambulant secundum carnem.« (118,32–35)616 Die Schrift spricht rendum, quare ruit Latomus et omnia sua et stat Lutherus cum omnibus suis.« (97,27–33) Bemerkenswert ist auch, dass Luther sich für die Wertung des postbaptismalen Restes als Sünde und nicht bloß als poena, infirmitas und imperfectio neben der Schrift auf die »ipsa experientia quottidiana nostra et omnium sanctorum beruft« (98,15 f.). 614 Vgl. 83,28 f.: »Peccatum vero nihil aliud est, quam id quod non est secundum legem dei«; 117,27 ff.: »Nullo enim loco scriptura ›peccatum‹ pro poena ista, sed contra ubique pro malo legi dei adversario accipit.« Siehe auch 83,5 ff.: »Incredibile est enim, quam torqueat sophistas Paulus Ro. vi. et vii. et viii., quod ibi peccatum et non poenam appellarit concupiscentiam superstitem baptismo«; 89,10 ff.: »De hoc reliquo peccato mihi cum sophistis quaestio est, an sit censendum vere peccatum nec ne«; 123,16 ff.: »Non est (ut sophistae delyrant) nullum peccatum, tam furens adversarius legi dei, non est poena, non est infirmitas, sed magnum peccatum.« Siehe auch 2,414,19 ff.: »Nihil ergo differt peccatum fomitis a quolibet crimine post vel ante baptismum, cum sit eque contra legem dei sicut quodlibet aliud, nisi quod non imputatur«; 7,103,9–16; 108,4–33. 615 Augustin nenne das reliquum baptismo zumeist vicium und iniquitas (101,36 f.) bzw. vitium und peccatum (89,35 f.). So bleibt, wie Luther richtig erkannt hat, dessen Einschätzung durch den Kirchenvater letztlich ambivalent. Er ist ihm deshalb in dieser Frage auch nicht absolut verlässliche Autorität: 89,35–90,12. 616 Vgl. 120,11–14: »Ita hic non ideo non est proprie peccatum, quia non totum hominem occidit, damnat, irae subiicit: Gratia enim et donum conservant hominem ut non possit peccare, id est, consentire huic peccato et perire«; 123,8–15. Neben dieser Betonung der

Anthropologie 309 immer von der wesensmäßig selben Sünde, gebraucht das Wort mithin nicht – wie Latomus meint – in einem äquivoken Sinn, sondern »behandelt« sie nur unterschiedlich. So wird in Röm 7 die Sünde »unter der Gnade« beschrieben, während sie anderswo in ihrer ungebrochenen Herrschaft geschildert wird, immer aber ist sie wesensmäßig ein und dieselbe Sünde.617 Dabei verhält es sich so, dass gerade die Getauften und Glaubenden die Wirksamkeit und Größe dieser nicht tathaften, sondern sich in bösen Gedanken, Regungen und Haltungen wie böse Lust, Neid, Trägheit, Stolz und Überheblichkeit äußernden Sünde in sich besonders stark erfahren, stärker sogar als die unbekehrten Sünder. Dies rührt daher, dass die Glaubenden ihr Widerstand leisten und sie bekämpfen, Letztere sich ihr aber ganz ergeben und unterordnen, ihr also kampflos das Feld überlassen. So wird die Konkupiszenz angesichts des Widerstandes, der ihr entgegengesetzt wird, gerade in den Christen zu neuer Aktivität angestachelt und aufgereizt, sie wütet wie ein wildes Tier in ihnen. Dabei artikuliert sich die Grundsünde nicht ständig in derselben Leidenschaft (passio), dennoch schläft bzw. ruht sie niemals. Sie sucht sich laufend andere Felder der Aktualisierung und verfolgt uns bis in die unbewussten Regungen des Schlafes hinein, ohne freilich die Christen, da sie ihr nicht zustimmen und nicht in sie einwilligen, verdammen und von Gott trennen zu können (122,42–123,10).618 Aber Identität der Sünde vor und nach der Taufe (»idem peccatum«: 123,11) vermag Luther aber auch die durch die Taufe eingetretene Veränderung der Sünde hervorzuheben: Er erwägt, dass die Kirchenväter das reliquum peccati deshalb nicht Sünde genannt haben, weil sie das Wort Sünde terminologisch auf die Sünde extra misericordiam positum eingegrenzt haben, damit aber nicht den sündigen Charakter des reliquum peccati leugnen wollten. Er folgert daraus: »Sic enim verissime dicunt, peccatum illud gratiae […] prorsus neminem reum constituere, non damnare, non nocere, prorsus nihil commune habere cum peccato extra gratiam.« (102,5–8) Vgl. 89,29–35. Ferner 15,309,19 f.: »Sed remissum peccatum heist billich khein sund.« 617 Vgl. 120,19–26: »Scriptura peccatum ubique eodem modo accipit, sed non ubique eodem modo tractat seu tractari describit. […] Ita hoc loco [sc. Röm 7] peccatum, quid faciat et patiatur in gratia describitur, non negatur peccatum esse, imo supponit peccatum factum et esse. Hic victum rebellare spiritui dicitur, quod alibi victor regnare scribitur, idem prorsus peccatum ubique, sed non ubique valens, faciens et paciens.« 618 Vgl. 124,9–13: »Quia caro res viva est, in assiduo motu est, qui mutatur, mutatis obiectis. In somno vero, quod non peccatum sit, etiam gratiae dei est, non naturae, peccatum scilicet damnabile non est ibi, nec obstat quod usus rationis non assit. Peccatum est, quod pure dormire non possumus. Quare non mansimus in rectitudine, in qua pure dormire et omnia pura facere poteramus?« – Dass die Deutung von Röm 7,14 ff. auf den Christen auch Luther Schwierigkeiten bereitet, wird an seiner Kommentierung von Röm 7,23 sichtbar: Von einem Gefangengenommenwerden des »Ich« im Gesetz der Sünde kann Luther streng genommen nicht sprechen, da die Sünde im Christen ja peccatum regnatum ist (125,3–12). Er muss also diesen Vers umdeuten: »Captivare autem dicit, non quod spiritualis [homo] captivetur, sed quod ex parte peccati est, nihil omittitur, quo captivetur spiritualis. […] Ideo non dicit hic ›repugnat et captivatus sum‹: ›captivat‹, sed ego non captivor. Quodsi etiam hoc dixisset, cogeret sententia intelligere quo ad carnem, sicut venundatum sese

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gerade durch die Größe, ja »Unendlichkeit« der Sünde wird die Größe der sie entmächtigenden Gnade erkannt und ins rechte Licht gestellt. Wer darum die Sünde »verniedlicht« sowie den postbaptismalen »Rest« verharmlost, der schmälert eo ipso die Gnade Gottes und die Erlösungstat Christi, ja er macht zudem die Menschen im Kampf gegen die Sünde selbstsicher und nachlässig.619 An Luthers drastischer Schilderung der Wirksamkeit der inneren Grundsünde gerade in den Glaubenden erhellt weiter, dass die Konkupiszenz sich ihm zufolge unwillkürlich und unvermeidlich im Menschen regt und ihre Wirkung ausübt – der Christ fühlt sie »invitus et nolens« (123,2) in sich, sie aber dennoch gleichwohl Sünde, d. h. Schuld vor Gott und der Mensch ohne die Taufgnade von Gott getrennt ist.620 Luther weist deshalb ausdrücklich die Einschränkung des Sündenbegriffs auf das willentlich vollzogene peccatum actuale durch Latomus zurück.621 Denn die Tatsache, dass jene böse Neigung, jener Widerstand gegen das Wollen des Guten durch mich nicht willentlich kontrollierbar ist, schließt nicht aus, dass er gegen Gottes Gesetz ist und dass ich es bin, der hier agiert. Dieses böse Begehren ist zwar notwendig, weil unwillkürlich in mir, aber dennoch werde ich dabei nicht gezwungen, es ist auch für mich als Christ »Teil« meiner Person. Freilich geht Luther auf Latomus’ anders gearteten Sündenbegriff und die damit verbundene Anfrage nicht hinreichend ausführlich ein, sondern fragt, verbunden mit polemischen Anwürfen, nur zurück, warum Gott, wenn bei ihm nur willentliche Sünde als solche gelte, denn auch ungetaufte Kinder und Unwissende verdamme (116,16 f.; vgl. 124,16 f.).622 Luther vermag durchaus zuzugestehen, dass Latomus und er im Resultat ihrer Überlegungen, gleichsam »unterm Strich« übereinstimmen: der nach der Taufe verbleibende »Rest« verdammt und trennt nicht von Gott. Luther wendet sich deshalb vehement gegen die Unterstellung, er schreibe dem Getauften noch ein peccatum damnabile zu (100,18 f.; 101,18–22; 115,33 f.). Jedoch ist für ihn die Diskussion auf die Frage zu fokussieren, warum denn das reliquum baptismi so

dixit et carnalem secundum carnem, et haec mihi significatio, ut simplicior, magis placet.« (123,19–27) 619 Vgl. 114,36–115,11, bes. 115,4–7: »Neque enim malum eius [peccati] ullus hominum unquam investigare aut comprehendere potuit, cum sit infinitum et aeternum, ut rursus opera dei cognoscas in Christo tecum facta esse immensa.« Die Kennzeichnung der Sünde als »unendlich und ewig« ist freilich bedenklich. Ferner 122,35–38; 124,28–34. 620 Vgl. 122,33 ff.: »Repugnantem vero dicit [Paulus voluntatem], certe malum indicans non poenae, sed culpae. Malum enim est legi dei repugnare.« 621 Vgl. 116,13 f.: Latomus’ Auffassung sei, »peccatum non esse non nisi voluntarium, praesertim actuale, ergo in opere bono non est peccatum. Dagegen gilt: Sicut sine carne non sumus, ita sine carne non operamur, ita nec sine vitiis carnis sumus, nec sine eis operemur.« (124,4 f.) 622 Latomus hatte neben dem Unwillentlichen auch Unwissen bzw. fehlenden Vernunftgebrauch als Grund dafür angeführt, dass etwas, was eigentlich gegen Gottes Gesetz sei, nicht als Sünde anzusehen sei: 115,23–26.

Anthropologie 311 bewertet werde. Und dann bricht sofort die Differenz auf: Ist für Latomus der von Gott nicht trennende Charakter des reliquum peccati in dessen Natur als bloßer Disposition zur Sünde, die nur uneigentlich Sünde genannt werde, begründet, so gewinnt der postbaptismale Rest für Luther selbst, der sich hierfür auf Paulus beruft, diesen Charakter nur durch die Barmherzigkeit und Nichtzurechnung Gottes, so dass der Christ darum zeitlebens auf Gottes Gnade angewiesen ist und diese Angewiesenheit irdisch nicht zu transzendieren vermag: »An tale peccatum seu, ut tu vis, infirmitas, natura sua vel sola misericordia ignoscente non sit contra deum et legem eius. Nonne haec est summa disputationis nostrae?« Die Konkupiszenz ist »contra deum […] (nisi ignoscatur) natura sua«. (101,38–102,2)623 Infolgedessen besteht für Luther ein enger Zusammenhang zwischen dem simul iustus et peccator und dem sola gratia (wie auch – wie wir oben gesehen haben – zwischen dem simul iustus et peccator und dem sola scriptura). Eben dieses sola gratia wird nach Luthers Meinung geleugnet bzw. auf den Anfang des Christseins reduziert, wenn der Sündenrest seiner Natur nach nicht als Sünde, d. h. nicht als gegen Gott gerichtet gilt. Er ist Letzteres nur sola gratia, sola misericordia ignoscente!624 Luther hat – das ist abschließend festzuhalten – Latomus also so verstanden, dass dieser die Konkupiszenz ohne willentliche Zustimmung prinzipiell nicht für Sünde erachte, d. h. nicht nur jene Konkupiszenz so einschätze, die sich noch im Getauften findet.

5.4 Das Ineinander und Gegeneinander von Geist und Fleisch in der Person des Christen In Abschnitt 2 dieses Kapitels hatten wir das simul als Zugleich zweier Willensrichtungen bestimmt, nämlich der (idealtypisch) obsiegenden guten, geistgewirkten und der dagegen opponierenden selbstsüchtigen, im Fleisch gründenden. Vgl. 112,16–25: »Dices autem: ›Videmini verbi controversia torqueri, quando in summa convenitis, neutri asserentes damnabile esse illud reliquum baptismi, sive peccatum sit sive poena‹. Respondeo: de fine concordamus, esse scilicet innoxium, sed nusquam de causa ipsa. Nam ipsi naturae tribuunt, quod gratiae dei est, quod ferendum non est. Minuunt etiam mysterii Christi notitiam, per hoc et laudem et amorem dei, dum non considerant effussisimae gratiae bonitatem super peccatores expansam, sed innocentem naturam faciunt, atque si nihil aliud obstaret, sine scripturis loquuntur, tum scripturae synceritatem sine causa perdunt et intelligentiam rerum obscrurant«; 116,8–11: Luther bestimmt hier das peccatum als »pronitas [ad malum], quia resistit et negocium facit martyribus, quanquam hinc virtus gratiae elucescat magis. [Nämlich insofern die Martyrer durch die Gnade diesen Widerstand der Sünde überwinden.] Non debet autem hoc negocium esse, si iudicium dei spectes. Misericordiae est quod parcitur, doni divini est quod vincitur.« Nicht von Gott trennend ist die bleibende Sünde also nur durch die misericordia. 624 Vgl. 124,15 f.: »Quare nihil nobis nostra gratia indulgetur, nihil ex nobis mundum est, sed ex sola gratia et dono dei.« 623

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Der Christ – wie er sich in Röm 7 für Luther darstellt – ist eine Spannungs- und Widerspruchseinheit von Fleisch und Geist. In diesem Abschnitt fragen wir, wie Luther das Ineinander und Gegeneinander von Geist und Fleisch in der einen Person des Christen anthropologisch genauer denkt. Nicht zu umgehen ist dabei, dass wir uns intensiver den Fragen und Problemen der Anthropologie Luthers zuwenden müssen.

5.4.1 Vororientierung Um das Folgende besser zu verstehen, geben wir zunächst eine natürlich zu bewährende anthropologische Vororientierung: Wir haben festgestellt, dass Luther die Fragestellung des simul iustus et peccator in die Begrifflichkeit von spiritus und caro transponiert – im Sinne zweier im Christen gleichzeitig vorhandener Streberichtungen unter der Vorherrschaft des Geistes. Luther überträgt somit die Fragestellung aus der Terminologie der Rechtfertigungslehre im engeren Sinne in die der Anthropologie. Er schaut dann nicht so sehr auf die Relation Gott – Mensch, sondern auf den Menschen selbst und die durch die Rechtfertigung in diesem hervorgerufene Zerspaltung.625 In der Römerbriefvorlesung – und von da an immer klarer und verstärkter – ist Luther auf dem Wege, die Begriffe spiritus und caro nicht mehr im Sinne des platonischen Dualismus als zwei Teile oder Schichten im Menschen (bzw. in der Seele) zu interpretieren, sondern im Licht der biblisch-paulinischen Anthropologie versteht er sie zunehmend als existentiell-soteriologische Rücksichten, die jeweils den ganzen Menschen in den Blick nehmen.626 Es ist immer der ganze Mensch, der als »Geist« auf Gott ausgerichtet

Vgl. Hermann, Theologie, 91: »Während aber der Mensch im Rechtfertigungsglauben von sich weg und ganz auf Gott in Christus schaut, sich gleichsam zu diesem Forum erheben darf, kehrt er mit den dort gefundenen Glaubensprädikaten: Geist und Fleisch, zu sich zurück und weiß um das Bild des Menschen im Lichte Gottes«; Prenter, Heiligung, 70 (im Kontext der Verhältnisbestimmung von Total- und Partialaspekt des simul): »Derselbe Glaube, der den Menschen ganz an Christus, an die Gnade, an die Heilsgeschichte verweist, vollzieht im Menschen den Bruch, konstituiert die Zerspaltung des Menschen in Fleisch und Geist.« Althaus, Theologie, 234, unterscheidet das »seinshafte Nebeneinander von Geist und Fleisch, des neuen und alten Menschen im Gerechtfertigten« vom »Miteinander von Gottes gnädigem Urteil, das den Menschen als gerecht und heilig ansieht, und seinem empirischen Sündersein«. – Zu Luthers totus-homo-Anthropologie vgl. Hermann, Theologie, 91–116. 626 Die herkömmliche Anthropologie sprach sowohl von drei Schichten im Menschen (corpus bzw. caro, anima, spiritus) als auch von drei Seelenvermögen (sensus, ratio, intellectus). Für Luthers Auseinandersetzung mit der traditionellen Anthropologie und seinen mühsamen Weg zur biblischen totus-homo-Anthropologie vgl. Joest, Ontologie, 138–232, bes. 165: »Luthers Auseinandersetzung mit diesem ganzen Fragenkomplex führte ihn zu einer Trennung des anthropologischen Konstitutionsproblems: anima zwischen corpus und spiritus, von dem soteriologischen Problem: der Mensch zwischen caro und spiritus. […] Auch für ihn tritt dann schließlich der Gegensatz von Fleisch und Geist in Beziehung 625

Anthropologie 313 ist und dem Nächsten dient, und immer der ganze Mensch, der als »Fleisch« auf sich selbst vertraut, Gott ablehnt und selbstsüchtig dem Nächsten schadet. Man spricht deshalb von einer totus-homo-Anthropologie. Luther vermag diese Alternative in mehreren Begriffspaaren auszudrücken: geistlich – leiblich, Seele (Geist) – Fleisch, innerer – äußerer Mensch, neuer Mensch – alter Mensch. Entscheidend ist nun, dass Luther diese Totalbegriffe nicht nur zur Unterscheidung des vorchristlichen vom christlichen Menschen verwendet,627 sondern dass er weiter der Überzeugung ist, dass der Wechsel vom einen zum anderen Status so vor sich geht, dass irdisch im Christen zwei Totalitäten, spiritus und caro, gleichzeitig gegeben sind, während der Christ ausschließlich spiritus erst im Eschaton ist, so wie er vor seiner Taufe nur caro war. Es ist folglich ein und derselbe Mensch, der eine und einzige Mensch, der beides zugleich ist: Fleisch und Geist, und der auf diese Weise gleichsam zwei ganze Menschen in sich vereint.628 Gleichwohl ist zu betonen, dass Luther in der Römerbriefvorlesung zu dieser totus-homo-Anthropologie erst unterwegs ist und sich bei ihm auch später noch Passagen finden, in denen er spiritus und caro als anthropologische oder seelische Schichten auffasst, wobei dann der Ursprung der Sünde primär in der caro gesucht wird und der spiritus der Gnade näher steht. So kommt es zu einem schwer durchschaubaren Ineinander von anthropologischen Konstitutionsbegriffen und existentiell-soteriologischen Ganzheitsbegriffen.629 Aus der Fassung der Begriffe spiritus und caro im Sinne der totus-homo-Anthropologie ergibt sich folgende komplizierte und paradoxe anthropologische »Konstellation«: Im christlichen Menschen finden sich zwei »Totalitäten«, die jeweils den ganzen Menschen, d. h. alle seine Vermögen und Schichten bestimmen und qualifizieren. Der Mensch ist als Ganzer zugleich Geist und Fleisch. Dennoch sind diese Totalitäten aber auch partial zu verstehen, also als »Teile« im Menschen, weil sie jeweils durch die andere Totalität begrenzt werden und deshalb nicht ausschließlich gelten. Anders gesagt: Der ganze Mensch, alle seine Konstitutionsdimensionen sind sowohl von spiritus als auch von caro bestimmt, die ihn jeweils ganz qualifizieren, sofern sie nicht auf eine Konstitutionsebene beschränkt sind (etwa die caro auf die Sinnlichkeit oder Leiblichkeit und der spiritus auf den zu der Konstitution des Menschen so, wie er sie versteht.« Peters, Mensch, 32–43, bes. 32, differenziert zwischen dem »anthropologischen Übereinander von Leib, Seele, Geist« und dem »theologischen Gegeneinander von Geist und Fleisch«. Heidler, Lehre, 31 f., 84 f., stellt die Dimension menschlicher Konstitution der Dimension seiner (faktischen) Situation und Destination gegenüber. 627 So etwa in De servo arbitrio. Dazu s. u. Abschnitt 5.5.1.3. 628 Vgl. Hermann, Theologie, 95. 629 Zur Mühlen, Nos extra nos, 155–150, spricht stattdessen vom fortschreitenden Übergang von einem »metaphysisch-psychologischen Verständnis der Unterscheidung von homo interior und exterior« zu einem »existential-theologischen Verständnis im Sinne zweier alternativer Existenzweisen« (160; Hv.), die dann doch im Christen »zugleich« gegeben seien.

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Geist bzw. die Seele). Gleichzeitig stehen sich aber im ganzen Menschen, also auf allen seinen Konstitutionsebenen, Geist und Fleisch konkurrierend, miteinander streitend gegenüber und sind insofern partial. Festzuhalten ist deshalb: Die auch bei Luther noch vorkommende Redeweise vom »Teil« im Menschen ist zumeist nicht so gemeint, dass damit eine anthropologische »Region« intendiert wäre, sondern eben der ganze Mensch unter einer bestimmten (partiellen) Rücksicht, insofern es eben noch eine andere den ganzen Menschen partiell bestimmende Perspektive gibt.630 Luther gebraucht hier also den Totalitätsbegriff im Sinne von »in tota persona, aber nicht ausschließlich geltend«, nicht aber in der Bedeutung von Ausschließlichkeit und Alleingeltung (»totaliter«).631

5.4.2 Der Christ selbst sündigt – und doch nicht er selbst Doch treten wir nach dieser Vororientierung in die Analyse einzelner Texte ein. Luther kann in der Auslegung von Röm 7 zwei anthropologische Aussagereihen treffen:632 Weil der Christ dem »Fleisch« in ihm nicht zustimmt, begehrt und sündigt nicht er, sondern das »Fleisch« bzw. die Sünde in ihm. In diesem Sinne nämlich, dass der Christ sich davon in seiner guten Streberichtung (»seiner besseren Hälfte«) distanziert, es also noch eine andere »Totalität« gibt, begehrt und sündigt ein »Teil von ihm«. Sofern aber ein und dieselbe Person, eben der ganze Mensch in all seinen Fasern »Geist« und »Fleisch« ist, kann der Christ sein »Fleisch« nicht auf einen äußeren, niederen Bereich abdrängen, während sein eigentlicher, geistiger Bereich davon unberührt wäre, sondern er ist es selbst, der begehrt und sündigt. »Quia eadem persona est spiritus et caro; ideo quod facit carne, totus facere dicitur. Et tamen, quia resistit, totus non facere, Sed pars eius etiam recte dicitur. Utrunque ergo verum, quod ipse et non ipse operatur.« (342,33–343,2) Die Person ist also in sich selbst gespalten, »geteilt« in konträre Dimensionen bzw. zwei Willen, im Streit und Aufruhr mit sich selbst,633 ohne dass die Rede vom Vgl. Gyllenkrok, Rechtfertigung, 85 f.: »Nondum spiritus bedeutet ›noch nicht ganz Geist‹. Das schließt nicht aus, daß der Mensch als ganzer (im psychophyischen Sinne) sowohl spiritus wie caro ist. […] Zwar redet Luther in diesem Zusammenhang von caro als pars hominis. Aber das bedeutet nichts anderes als die Teilfunktion des Unglaubens, welche von spiritus als Glaubensfunktion begrenzt wird. Derselbe Christenmensch ist Glaube und Unglaube; was er im Unglauben tut, tut er als ganzer psychophysischer Mensch, aber weil er gleichzeitig Widerstand durch seinen Glauben leistet, ist nur ein Teil (= der Unglaube) tätig«; 95–98. So sehr Gyllenkrok hier einsichtig macht, wie Luther anthropologisch Totalität und Partialität bei spiritus und caro zusammensieht, scheint ihm doch (90 f.) der hier bestehende Totalaspekt mit dem rechtfertigungstheologischen totus iustus/totus peccator zusammenzufallen. Differenzierter allerdings ebd., 97 f. 631 Zu dieser Differenzierung vgl. Dieter, Luther, 331 f. 632 Diese sind in Röm 7,17.20 und 7,25 angelegt. Der letzte Vers (»Hoc omnium expressisimum est«) hebt denn für Luther auch besonders stark und explizit das simul hervor (56,347,1–14). Alle Zitate nun wieder nach WA 56. 633 Vgl. 344,29 ff.: »Quia Vult non concupiscere et bonum Iudicat non concupiscere, et 630

Anthropologie 315 »pars eius« platonisch entschärft und auf einen inferioren Sektor begrenzt werden dürfte. Sie meint die Distanz zu sich selbst in einer bestimmten Rücksicht, ohne doch zugleich das personale Beteiligtsein abstreiten zu können.634 »Vide, quomodo carnem, partem sui, sibi tribuit, quasi ipse sit caro. […] Propter carnem est carnalis et malus, quia non est bonum in eo et facit malum; propter spiritum est spiritualis et bonus, quia facit bonum. […] Sed quia ex carne et spiritu idem vnus homo constat totalis, ideo toti homini tribuit vtraque contraria, que ex contrariis suis partibus veniunt.« (343,9–18) Luther sah diese Auffassung besonders durch Röm 7,25b bestätigt, also jenen Vers, in dem Paulus die vorangehenden Ausführungen zusammenfasst und das Beteiligtsein des sprechenden Ich an beiden Streberichtungen derart deutlich herausstellt, dass spätere Exegese die Stelle als nichtpaulinische Glosse zu erklären suchte: »Igitur ego ipse mente servio legi Dei: carne autem legi peccati.« Luther glossiert den Text: »Igitur egoipse i. e. vnus et idem simul spiritualis sum et carnalis, quia mente i. e. interiore homine et spirituali seruio legi dei: i. e. non concupisco, Sed diligo Deum et que Dei sunt carne autem exteriore homine legi peccati, fomiti et concupiscentie, quia concupisco et odio, que Dei sunt.« (73,7–11) Im entsprechenden Scholion heißt es dann: »Vide, vt unus et idem homo simul servit legi Dei et legi peccati, simul Iustus est et peccat! Non enim ait: Mens mea seruit legi Dei, Nec: Caro mea legi peccati, Sed: ego, inquit, totus homo, persona eadem, seruio utranque seruitutem.« (347,2–6) Wüsste man nicht aus dem Kontext, dass für Luther dieser symmetrische Parallelismus bzw. Dualismus durch die Dominanz der geistlichen Willensstrebung durchbrochen, das eigentliche Wollen des Christen also der Geist ist, so würde man diese so sehr die unio personalis von spiritus und caro, iustus und peccator betonende Stelle im Sinne einer vollständigen Gleichgewichtigkeit beider Momente deuten, zumal Luther von einer »utraque servitus« des ganzen Menschen bzw. ein und derselben Person spricht.

tamen concupiscit et non perficit hoc velle et ita secum ipse pugnat«; Ellwein, Leben, 174 f., bes. 174: »Der Zwiespalt ist also bis in das innerste Zentrum des Menschen hineingetragen. Der Mensch ist in seiner Existenz sozusagen aufgerissen.« 634 Luther bringt als Vergleich das Bild eines Reiters, dessen Pferd nicht ganz nach seinem Wunsch dahintrabt: »ipse et non ipse facit, quod [equus] non incedit taliter. Quia non est equus sine eo nec ipse sine equo.« (343,3–7) – Vgl. auch 344,31–345,2: »Sed quia spiritus et caro coniunctissime sunt vnum, licet diuerse sentiant, ideo vtriusque opus sibi toti tribuit, quasi simul sit totus caro et totus spiritus.« Die »Aktivität« von Fleisch und Geist wird hier dem Christen jeweils als Ganzem (in tota persona) zugeteilt, er ist deshalb »zugleich« totus caro und totus spiritus. Luther schwächt diese harte Formulierung durch ein »quasi« ab, weil der Geist den Christen »eigentlicher« bestimmt. Es bleibt freilich zu erwägen, ob Luther an dieser Stelle, so sehr er auf eine Wirkung von Fleisch und Geist auf die ganze Person abzielt, Fleisch und Geist nicht doch noch als anthropologische Regionen bzw. Teile (Sinnlichkeit und Geist) interpretiert und er mit dem quasi totus die Ungewöhnlichkeit seiner Redeweise von dorther benennt. Zu dieser Ambivalenz s. u.

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Zu beachten ist, dass Luther im Kontext seiner Kommentierung von Röm 7,25b an seine Ausführungen über das simul im Scholion zu Röm 4,7 erinnert: »Vide nunc, quod supra dixi, Quod simul Sancti, dum sunt Iusti, sunt peccatores; Iusti, quia credunt in Christum, cuius Iustitia eos tegit et eis imputatur, peccatores autem, quia non implent legem, non sunt sine concupiscentia, Sed sicut egrotantes sub cura medici, qui sunt re vera egroti, Sed inchoatiue et in spe sani seu potius sanificati i. e. sani fientes.« (347,8–13) Auffällig ist, dass nun wieder ganz die Terminologie der Rechtfertigung vorherrscht und von spiritus und caro nicht die Rede ist. Veranlasst wird Luthers Reminiszenz an das früher Gesagte durch das simul, das in beiden Aussagebereichen vorkommt, allerdings in unterschiedlichen Bedeutungsnuancen: Im rechtfertigungstheologischen Kontext wird es mehr vom Totalaspekt, im anthropologischen Feld mehr vom Partialaspekt her verstanden, was Luther selbst in seiner Kommentierung von Röm 7,25 so nicht offenlegt.635 Wir sehen in dieser Erinnerung an das Scholion zu Röm 4,7 einen weiteren Beleg für unsere These, dass die iustitia coram deo für Luther ausschließlich in der im Glauben ergriffenen Gerechtigkeit Christi gründet, während die sancti von sich her, im Blick auf ihre anfängliche Erfüllung des Gesetzes toti peccatores bleiben. Und dies deshalb, weil die gute, geistliche Willensrichtung, die in ihnen sehr wohl vorhanden ist, durch die gegenläufige ichsüchtige so tangiert und gehemmt wird, dass von einer Erfüllung des göttlichen Willens nur uneigentlich gesprochen werden kann und alles Wollen und Tun der »Bedeckung« durch Christi Gerechtigkeit bedarf. Die erforderte Ganzheit (totalitas) wird nicht erbracht. Wie der Text zeigt, schließt dies das sanative Moment der Rechtfertigung nicht aus, sondern ein: »sed inchoative et in spe sani seu potius sanificati i. e. sani fientes«. Man spürt richtig, wie Luther hier um die adäquate Formulierung ringt, und auf engstem Raum bringt er in diesem Text die totale Gerechtsprechung mit dem partialen Gerechtwerden sowie dem eschatologischen Gerechtsein zusammen.636 Nur hebt das partiale Gerechtwerden weder das »sunt

Unsere Interpretation setzt voraus, dass das unmittelbar vorausgehende »simul Iustus est et peccat« (347,3 f.) die partiale Gerechtigkeit und Sünde meint, was nahe liegt, da Luther davor und danach vom gleichzeitigen doppelten Gesetzesdienst spricht: gegenüber dem Gesetz der Sünde und dem Gesetz Gottes. – Es dürfte nicht zutreffen, wenn Lichtenberger, Ich, 27, 268, in dem »simul Iustus est et peccat« eine Differenz zu simul iustus et peccator meint konstatieren zu können: Ersteres beziehe sich nur auf das aktuelle Sündigen, Letzteres auf das Sündersein. Der ganze Kontext der ersten Wendung macht es unzweifelhaft, dass auch sie das Sündersein, die Sündenknechtschaft des Christen aussagt. Luthers simul meint nicht nur, dass der Christ, obgleich von der Sünde befreit, hin und wieder sündigt. 636 Luther spielt in dem zitierten Passus auf Lk 10,30–35 an, wie er auch noch an einer anderen Stelle seiner Auslegung von Röm 7 darauf zurückgreift: Dies erfolgt dort mit der Absicht, die im Anschluss an Augustinus formulierte These zu stützen, dass wir, da unsere Konkupiszenz als infirmitas zum Guten zwar in sich strafwürdig ist, uns aber dennoch nicht schuldig macht, wenn wir nicht zustimmen und durch die Tat sündigen 635

Anthropologie 317 peccatores« noch das »non implent legem«, noch das »re vera egroti« auf. Und dies deshalb, weil alles sanative Gerechtwerden irdisch die Ebene der iustitia coram deo nicht erreicht, sondern höchstens eine iustitia coram hominibus darstellt, die allenfalls auf die iustitia coram deo als ihre Ursache hinzuweisen, zu dieser selbst aber nichts beizutragen vermag. Der Partialaspekt des simul kann also niemals dessen Totalaspekt aufheben und transzendieren, ohne dass damit jede Dynamik ausgeschlossen wäre: Eben weil der Mensch immer nur partiell das Gute will, ist er vor Gott bleibend ganz Sünder, so sehr es auch im Bereich des Partialen eine Entwicklung geben mag.637 (»nisi consentientes et operantes«), zugleich »rei […] et non rei« seien (351,12 f.). Etwas Schuldhaftes wird vergeben, bleibt aber als schuldhafte Wirklichkeit in uns bestehen. Dies kann nicht dadurch entschärft werden, dass man das »rei esse« auf einen inferioren Sektor der Person eingrenzt: »Quia Infirmitas illa nos ipsi sumus, Ergo ipsa rea et nos rei sumus, donec cesset et sanetur. Sed non sumus rei, dum non operamur secundum eam, Dei misericordia non imputante reatum infirmitatis, Sed reatum consentientis infirmitati voluntatis.« (351,14–17) Hier wird die ganze Person von dem die schuldhafte Grundsünde nicht zurechnenden Gott gerecht gesprochen und ist insofern schuldlos. Zugleich ist angenommen, dass der Christ ihr nicht zustimmt, insofern also schon anfänglich effektiv »gerecht« ist. Luther erläutert dies nun mit dem Samaritergleichnis: »Quia Samaritanus Infundens vinum et oleum non statim sanauit, sed incepit sanare. Tunc ille egrotus idem homo est infirmus et sanandus. In quantum Sanus, bona cupit, Sed vt infirmus alia cupit et cogitur infirmitati cedere, que non vult ipse [!].«  (351,18–22) Es ist wichtig zu sehen, dass die erste Intention Luthers hier darin besteht, mit Hilfe des Gleichnisses den idem homo, die eadem persona herauszustellen, der Gegensätzliches (»rei sumus et non rei«) zugesprochen wird und die so der Ort des simul ist. Erst in zweiter Linie wird daran das sanative Moment der Rechtfertigung erläutert. – Zur Illustration der Einheit des Subjekts unter konträren Aspekten und Dimensionen greift Luther auf ein weiteres Bild zurück: Bei einem in Trümmer zerfallenen Haus (»Domus […] collapsa ruinis«), das aufgebaut wird (»incipit instaurari«), sind auch nicht »eius constructio Vel status« und seine noch vorhandene imperfectio zu trennen. »Eadem res est: eadem domus propter suum construi bene dicitur esse et proficere in domum, Sed propter imperfectionem simul dicitur nondum esse et deficere a proprietate domus.« Auf die Glaubenden übertragen: »Sic nos ›primitias habentes spiritus‹, ›initium facti creature Dei‹ […], ›superedificamur domus spiritualis‹. Et sic constructa edificatio ›crescit in templum sanctum in Domino‹.« (352,13–20) Hier ist ebenfalls zunächst das simul von Konträrem im Blick und erst dann das progressive Gerechtwerden. 637 Vgl. Grundmann, Römerbrief, 125: »Der von uns erkannte Zusammenhang zwischen dem imputativ-forensischen und dem sanatorischen Element in der Rechtfertigungslehre führte dazu, daß Luther einerseits in der Formel zugleich Sünder und Gerechter den Zustand eines Christen fixierte und daß er auf der anderen Seite von einem Fortschreiten in der Heiligung und einem Wachsen im Glauben sprechen konnte« (Hv.); Hermann, Theologie, 115: »Einen Fortschritt gleichsam oberhalb des Zugleich gibt es nicht.« D. h.: aber sehr wohl unterhalb! – Luthers Abhängigkeit von Augustin bei der Auslegung von Röm 7 zeigt sich nicht nur in der weitgehenden Übernahme von dessen Argumenten für die christliche Lesart dieses Textes, sondern auch in der bei der Exegese vorherrschenden sanativ-prozesshaften Rechtfertigungskonzeption: Durch den Heiligen Geist wird Gottes

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

5.4.3 Die Zwei-Naturen-Lehre als Analogie – Luthers schrittweise Ablösung vom Substanzdualismus Luther interpretiert die Widerspruchseinheit von spiritus und caro im Christen von der christologischen Zwei-Naturen-Lehre und der sich aus dieser ergebenden Idiomenkommunikation her. Wenn in Christus nach der Definition des Konzils von Chalcedon eine unio personalis von göttlicher und menschlicher Natur vorliegt, dann müsse es – so dieses Denkmodell – auch zu einer wechselseitigen Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen in Christus kommen – oder doch zumindest zu einer Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen an die eine Person Jesu Christi. Die göttliche Idiomenkommunikation konnte so entweder in abstracto (auf die Naturen bezogen) oder in concreto (auf die eine Person gerichtet) gedacht werden. Weiter konnte sie real (als wirkliche Mitteilung) oder bloß nominal (als Aussageweise) aufgefasst werden.638 Luther wendet dieses Denkmodell nun auf die beiden Prädikate Geist und Fleisch an, die der Person des Christen zugleich zukommen, wobei er offenbar eine reale Idiomenkommunikation in concreto im Blick hat: »Sic enim fit communio Ideomatum, Quod idem homo est spiritualis et carnalis, Iustus et peccator, Bonus et malus. Sicut eadem persona Christi simul mortua et viua, simul passa et beata, simul operata et quieta etc. propter communionem Ideomatum, licet neutri naturarum alterius proprium conueniat, Sed contrariissime dissentiat.« (343,18–23) Man sieht, wie Luther streng die Unterscheidung der Naturen wahren will, da es ihm darauf ankommt, den Unterschied, ja das Gegeneinander der beiden Willensrichtungen von Geist und Fleisch nicht zu verwischen.639 Der Rekurs auf die Idiomenkommunikation artikuliert aber dennoch gut, dass »Fleisch« und »Geist« wirklich in einer Person sind, einem Subjekt zukommen und so dieses Subjekt selbst von beiden innerlich betroffen ist und sie von sich prädizieren muss, ohne dass damit – wie wir gesehen haben – ein symmetrisches Gleichgewicht zwischen beiden Streberichtungen entstünde oder beide zu einer verschmelzen würden.640 Gnade bzw. Liebe als neues Wollen in uns eingegossen, welche das alte Wollen mehr und mehr verdrängt. Siehe nur 336,14–17; 338,14–26; 342,13–19; 346,5 ff. 638 Vgl. Weber, Grundlagen II, 145–148. 639 Im späteren innerreformatorischen Streit um das Abendmahl hat Luther darüber hinaus auch eine reale Idiomenkommunikation in abstracto gelehrt, wenn er der menschlichen Natur Christi Ubiquität zuschrieb. 640 Bei der Betonung der spannungsvollen Einheit von spiritus und caro in einer Person kann Luther sogar soweit gehen, dass Fleisch und Geist Aspekte aneinander sind, genauer: dass das Fleisch einen Aspekt am Geist bildet, nämlich seine Schwäche, Gehemmtheit und Mühsamkeit im Blick auf das Gute. Luther illustriert das mit dem Bild von Wunde und Fleisch, die zwar begrifflich zu unterscheiden sind, doch nichts anderes als »ipsa vulnerata caro seu infirma« bilden. Dabei wird dem Fleisch beigelegt, was der Wunde zugehört. Analog gilt: »Est autem Notandum, Quod Apostolus non velit intellegi spiritum et carnem esse quedam velut duo, Sed vnum omnino, Sicut vulnus et caro sunt unum. […] Sic idem homo simul est spiritus et caro. Sed Caro est eius infirmitas seu vulnus, Et inquantum

Anthropologie 319 In einem schwierigen Textabschnitt verfolgt Luther die Analogie der Idiomenkommunikation noch weiter: Beim homo carnalis liegt das Verhältnis einer »hypostatischen Union« zweier konträrer Willensrichtungen (»Naturen«) nicht vor. Vielmehr gilt hier: »totus homo caro est, quia non permansit in eo spiritus Dei.« (343,24 f.) Der Sünder als ganze Person ist völlig eins mit seinem Fleisch, weil er in dessen Begierden einwilligt. Mann und Weib sind in ihm gleichsam »ein

diligit legem Dei, Spiritus est; inquantum autem concupiscit, est infirmitas spiritus et vulnus peccati, quod sanari incepit.«  (350,22–351,1) So sehr Fleisch und Geist widereinander sind, sie tangieren sich doch wechselseitig kraft der Idiomenkommunikation: Der Geist ist wegen des hemmenden Einflusses des Fleisches infirmus, wie umgekehrt das Fleisch nicht zum Zuge kommt. – Zum simul von Geist und Fleisch in der einen Person des Christen vgl. auch Luthers Kommentierung von Röm 7,14 ff. im Antilatomus, bes. 8,119,8–125,17. Abgesehen von der interpretatio christiana dieses Textes verfolgt Luther hier zwei Ziele: Auch wenn das bleibende Fleischlich-Sein (= Sündersein) nur einen »Teil« des Christenmenschen betrifft, liegt doch Sünde im strengen Sinn vor. Und, Ersteres offenbar begründend: Dieser »Teil« tangiert das ganze Ich, die Person. Das Ich ist zwar geteilt in zwei ungleich starke Willensrichtungen, doch beide betreffen das ganze Ich und nicht nur eine Region desselben. Insofern kann gesagt werden, dass Paulus nicht ganz carnalis, nicht ganz spiritualis sei, weil es jeweils noch den anderen Gesichtspunkt gibt (partiale Sicht). Gleichwohl durchdringen beide Mächte den ganzen Menschen (Totalperspektive, obwohl Luther im Antilatomus die Formel simul totus spiritus/totus caro nicht bringt). Insofern muss Paulus sich einerseits mit seinem bösen Wollen identifizieren, er selbst ist es, der so will, andererseits kann er sich aber kraft der Gnade Gottes von diesem Wollen distanzieren, es ist das Fleisch bzw. die Sünde, die in ihm wirkt, der (d. h. seinem alten Ich) er als neues Ich gegenübersteht. Um die Einheit der Person zu wahren, kann Luther sogar sagen: »Non te hic fallat Latomus, duas faciens voluntates.« (119,13 f.) Luther weist an dieser Stelle die Interpretation von Geist und Fleisch als zweier Willensrichtungen deshalb zurück, weil Latomus sie apersonal verstand und ihm zufolge erst die Zustimmung zu einem von beiden die Person selbst als geistlich oder fleischlich qualifiziert. Folglich ist für Latomus auch das böse Wollen nicht schon an sich Sünde. Vgl. zum Ganzen 95,32–35; 119,10–16: »Carnalem [Paulus] vero se dicit, non quia totus sit carnalis, sed mente est spiritualis, carne carnalis, sicut mente liber a peccato, carne venundatus sub peccato. […] Unus est homo Paulus, qui utrumque de se confitetur, alio et alio respectu, sub gratia est spiritualis, sub lege carnalis, Idem idem Paulus utrobique«; 119,35: »Neque enim non proprie carnalis dicitur, qui ex parte carnalis est«; 120,33–36: »Mira compositio: consentit legi bonae, sed non totus, quia facit non totus, quod vult non totus, neque consentiens, neque faciens, neque nolens hic totus est, sed idem qui consentit bonae legi, facit quod non vult, id est contrarium legi bonae, quam vult«; 122,23 ff.: »Non est enim alius, qui vult facere bonum, et alius cui malum adiacet. Spiritualis vult facere bonum totus, sed carnalis adiacet malus ipse minus totus.« Dieses komplexe Verhältnis von Ganzem und Teil illustriert Luther (erneut) durch das Beispiel eines verletzten Körperteils, das den Träger selbst verletzt sein lässt, sowie durch das Bild der menschlichen Hand, durch welche der Mensch selbst handelt: 120,8–11; 120,36–121,5, bes. 121,1 ff.: »Ita sane, quia me invito id faciat [manus; sc. einen anderen verletzen], et secundum hoc aestimor, vere tamen ego facio, quia pars mea facit, sed iam non secundum eam aestimor.« Vgl. zum Ganzen Hermann, These, 207–228.

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Fleisch« (Gen 2,24). Die Aussage, dass der homo carnalis totus caro ist, ist also von der Feststellung zu unterscheiden, dass auch der homo spiritualis noch totus caro genannt werden kann, eben weil Letzterer zugleich auch totus spiritus ist. Beim Ersteren bedeutet diese Aussage, dass alle Konstitutionsebenen soteriologisch betrachtet caro, d. h. gottabgewandt sind.641 Beim homo spiritualis ist dagegen gemeint, dass die caro zwar noch alle Ebenen des Menschen bestimmt, aber von einer anderen Totalität, dem spiritus dominiert ist. Luther wendet mithin auf den homo carnalis den strengeren Totalitätsbegriff im Sinne des »totaliter« und der Ausschließlichkeit an,642 während beim Christen in statu viatoris Totalität nur im Sinne des »in tota persona« vorliegt. Doch scheint Luther nun auch beim homo carnalis eine einseitige Idiomenkommunikation anzunehmen. Er führt das in einer Kombination von Gen 2,24 und dem in seinem Sinn erklärten Gleichnis von Mann und Frau in Röm 7,2–3 aus: Paulus hat die »identitas personae« im Auge und sieht in jedem Menschen ein »coniugium«, wonach das Fleisch (caro) das Weib, die Seele (anima) bzw. der Geist (mens) der Mann ist. Wenn diese beiden sich gemeinsam der vom Fleisch ausgehenden Konkupiszenz hingeben, sind sie »ein Fleisch«. Also – so kann man interpretieren – ist auch die mens Fleisch geworden. Die Eigenschaften der caro haben auf sie »abgefärbt«. Das schöpfungsmäßig in den Menschen hineingelegte Verhältnis von mens und caro, wonach die mens in diesem coniugium der dominante Teil ist, d. h. die caro lenkt und leitet, ist also in sein Gegenteil verkehrt. Wenn nun aber die »mens« in der Rechtfertigung geistlich stirbt, dann hat dies Folgen für die ganze Person und für die caro. Die Eigenschaften der Naturen werden ja der einen Person mitgeteilt, ja sogar wechselseitig den Naturen selbst, wie Luther jetzt zu insinuieren scheint. Infolgedessen ist von dem geistlichen Sterben und Freiwerden der mens die ganze Person und auch die caro betroffen, sie dient nicht mehr dem Gesetz und der Sünde – eben aufgrund der Idiomenkommunikation und des »coniugium«. Gemeint ist wohl: Die caro, obwohl mit ihrem bösen Begehren noch vorhanden, kommt nicht mehr zum Zuge, sie vermag von Gott nicht mehr zu trennen. Wir bringen den zentralen Text in extenso: »Si autem moriatur mens, vir carnis, morte spirituali, iam nos mortificati sumus in tota persona legi, Et sic Liberati etiam in tota persona. Licet alterum respiciat carnem, alterum spiritum, idem tamen ipsi sumus nos, vir mortificatus et mulier liberata a lege, que faciebat hunc

In diesem Sinne ist das totus auch 345,30–346,2 gemeint: »Ecce expresse [Paulus] dicit se habere interiorem hominem. Hic autem non est nisi spiritualis, Quia sine spiritu totus homo est vetus ex exterior. Est autem interior mens et conscientia pura et volens lege Domini.« Hier ist die totus-homo-Anthropologie wohl angezielt – und doch scheint der interior homo der mens bzw. der conscientia näherzustehen und diese als Konstitutionsbegriff aufgefasst zu werden. 642 Dieses Verständnis von Totalität ist auch auf den eschatologisch vollendeten Menschen anzuwenden: Er ist ganz und ausschließlich, d. h. totaliter Geist. 641

Anthropologie 321 virum et hoc coniugium, i. e. irritatione sua auxit concupiscentiam et mentem cum carne consentire occasione sui fecit. Ergo nos, mulier propter carnem i. e. carnales, et vir propter spiritum carni consentientem, simul sumus mortui et liberati. Quia persone prouenit hec vtilitas vtraque, licet partes sint diuerse, propter quas prouenit. Communicant enim ideomata partes toti suo singulas suas. Ideo ait : ›Itaque et vos‹, ait, ›mortificati estis‹, cum tamen solum secundum interiorem mortificati simus et Liberati seu soluti a lege. Quod itidem conuenit toti propter interiorem hominem et communicatur et carni seu exteriori. Quia nec ipsa legi seruit seu peccatis, sed Liberata est propter interiorem hominem Liberatum, cum quo idem sit homo, cui est et erat mulier.«  (344,8–22)643 Luther hält hier fest, dass jeweils die ganze Person (tota persona) von der Ausrichtung ihrer »Teile« betroffen ist, ja die »Teile« sich gegenseitig beeinflussen. Sie bilden zusammen den idem homo. Dennoch gleitet er in die substanzdualistische Terminologie ab, welche das »Fleisch« als konkupiszente Sinnlichkeit versteht und die mens als menschlichen Geist deutet. Der Ursprung der Sünde wird folglich in die als caro gedeutete Sinnlichkeit verlegt, die den Geist erst überwinden muss und nachträglich zur Einstimmung verführt. Ebenso steht die mens dann der Gnade, dem göttlichen Geist näher, der geistliche Tod betrifft in erster Linie sie. Obwohl Luther diesen Schritt nicht geht, müsste dennoch in der Logik dieser Anthropologie das Leben »im Geist« dann als Rückgewinnung der schöpfungsmäßigen Dominanz des Geistes über die Sinnlichkeit interpretiert werden. Wie wir schon angedeutet haben, versteht Luther folglich in der Römerbriefvorlesung Fleisch und Geist einerseits biblisch als soteriologische Totalbestimmungen, andererseits ist der Ursprung der Sünde, der Sitz der Konkupiszenz noch primär im »Fleisch« (Leib, Sinnlichkeit) lokalisiert, welches den Geist mitreißt (so wie Eva Adam verführt) und auf diese Weise den ganzen Menschen als carnalis qualifiziert. Die Ablösung des soteriologischen Gegensatzes caro–spiritus von der anthropologischen Konstitutionsdichotomie Leib–Geist ist also noch nicht vollkommen durchgeführt.644 Obwohl Luther damit zugleich das simul von caro und spiritus verdunkelt, zielt er doch letztlich auch in diesem ambivalenten Text genau darauf: Auch als geistlich Gestorbene, als Gerechtfertigte sind wir caro und spiritus. Aber: Die caro, die Konkupiszenz ist durch den spiritus selbst verändert und verwandelt. Wie sehr für Luther aber dennoch die Richtung klar ist,645 die er in der theologischen Anthropologie anzielt, zeigt ein Passus am Ende der Exegese von Röm 7. Es ist zu erwägen, ob bei dem Satz »Ergo nos, mulier propter carnem i. e. carnales, et vir propter spiritum carni consentientem, simul sumus mortui et liberati« als Konjektur zu lesen ist: »et vir propter spiritum carni non consentientem«. Denn die Passage scheint eindeutig die Heilsgegenwart zu beschreiben, und nur so ist auch »simul sumus mortui et liberati« verständlich, was für den Sünder nicht gelten kann. 644 So urteilt auch Joest, Ontologie, 197 ff., bes. 1983. 645 Vgl. auch 325,4–8: »Non autem ›vetus homo‹ tantum dicitur, quia opera carnis operatur, Sed etiam magis, dum Iuste agit et Sapientiam tractat ac in omnibus spiritualibus 643

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Luther wendet sich hier gegen die »metaphysici theologi«, welche es nicht für möglich halten, dass gegensätzliche »appetitus« in ein und demselben Subjekt vereint sind,646 und welche die anthropologischen Konstitutionsschichten als abgeschlossene, voneinander unberührte Bereiche deuten. Sie bilden sich ein, »spiritum sc. rationem rem seorsum velut absolutam et in genere suo integram atque perfectam, Similiter et Sensualitatem seu carnem ex opposito aliam con­ trariam, eque integram atque absolutam [esse]«. Sie vergessen dabei, »Quod Caro sit ipsa infirmitas velut vulnus totius hominis, qui per gratiam in ratione seu spiritu ceptus est sanari«. (352,5 ff.) Luther wendet sich nicht nur gegen ein Verständnis von Geist und Fleisch (Sinnlichkeit) als für sich bestehender »Teile« oder »Seelenvermögen«, die sich nicht wechselseitig beeinflussen, sondern zielt auf ihre Deutung als totus-Begriffe: »quod caro sit ipsa infirmitas velut vulnus totius hominis.«647 Die Wunde ist etwas, das wie Krankheit und Gesundheit den ganzen Menschen betrifft, und beim genesenden Menschen liegen Krankheit und Gesundheit gleichzeitig vor. Dennoch spricht Luther selbst davon, dass die Heilung des Menschen in ratio bzw. spiritus ihren Anfang nimmt, diese zu ihr also eine größere Affinität besitzen. Jetzt ist also wieder von einer Konstitutionsdichotomie die Rede. Durch dieses Schwanken wird auch die simul-Aussage verunklart, weil mit dem als Wertestufung verstandenen Konstitutionsgegensatz von Geist und Leib vermischt. Eine eindeutige Klärung kann hier nur erreicht werden, wenn soteriologische Totalbegriffe und anthropologische Konstitutionsbegriffe eindeutig voneinander unterschieden werden. Denn auf jede ontologische Differenzierung des Menschen will und kann Luther offenbar nicht verzichten.

5.4.4 Zwei ganze Menschen in einem Menschen Wie lässt sich das Zugleich von Geist und Fleisch im Sinne zweier konträrer Streberichtungen im Christen anthropologisch denken? Wir haben gesehen, wie Luther einerseits die Dualität betonen kann: Es sind zwei Willen im Menschen, die sich wechselseitig bekämpfen, wobei idealtypisch der Geist je neu über das Fleisch obsiegt. Insofern kann der Christ sich von seinem »Fleisch« als »pars eius« distanzieren. Andererseits hebt Luther aber hervor, dass beides sich gleichzeitig in ein und demselben Menschen »abspielt«, dieser also auch selbst an seiner negabonis se exercet, immo dum etiam ipsum Deum diligit et colit. Ratio est, Quia in omnibus fruitur donis Dei et vtitur Deo.« 646 Das ist für Luther mit dem simul offenbar der Fall. Vgl. 2,584,35 ff., wo Luther sich gegen die »impropriistae« wendet (er nennt sie so, weil die postbaptismale Konkupiszenz für sie nur »uneigentlich« Sünde ist), »qui negant omnem actum bonum adhuc simul ex parte malum esse«. 647 Damit werden eine Lokalisierung der Sünde allein in der Sinnlichkeit bzw. der Leiblichkeit und eine Abschottung der ratio von ihr unmöglich. Denkbar wäre freilich auch, dass Luther nur sagen will: Die caro als Sinnlichkeit tangiert mit ihrer Sünde den ganzen Menschen, auch die mens. Die totus-homo-Anthropologie liegt klar vor 1,146,14–25 (1516).

Anthropologie 323 tiven Willensrichtung beteiligt ist, ja beide bilden im Grunde die eine gehemmte und gebrochene Intentionalität auf das Gute. Im Galaterkommentar von 1519, in dem Luther in seinen anthropologischen Aussagen insgesamt weiter fortgeschritten ist, finden sich dazu erhellende Ausführungen. In der Auslegung von Gal 5,17 wendet er sich zunächst gegen eine von Origenes und Hieronymus herkommende Deutung von Fleisch und Geist im Sinne anthropologischer Konstitutionsbegriffe, die womöglich noch durch einen dritten mittleren, den der anima, zu ergänzen seien, wobei Letztere sich als gleichsam neutral zwischen caro und spiritus zu entscheiden habe. In dieser Deutung sind also spiritus und caro als anthropologische Termini zugleich als Wertbegriffe aufgefasst. Luther reduziert zunächst die Trichotomie auf eine Dichotomie (Seele und Geist bzw. Seele und Fleisch sind ihm identisch), wobei sich Fleisch und Geist wechselseitig beeinflussen, zielt dann aber auf eine soteriologische Interpretation der Begriffe als ganzheitlicher Totalbestimmungen des einen Menschen: »Ego mea temeritate carnem, animam, spiritum prorsus non separo. Non enim caro concupiscit nisi per animam et spiritum, quo vivit, sed spiritum et carnem intelligo totum hominem, maxime ipsam animam.« (2,585,31 ff.)648 Luther versteht nun von Gal 5,17 her die Totalbegriffe spiritus und caro als zugleich im Christen vorliegend649 und illustriert dies mit drei verschiedenen Bildern, welche neben dem Zugleich das sanative Moment der Rechtfertigung herausstellen. Zunächst wieder das Bild von der Wunde: Das verwundete und kranke, aber in der Heilung begriffene Fleisch kann sowohl krank als auch gesund genannt werden. »Ita idem homo, eadem anima, idem spiritus hominis, quia affectu carnis mixtus et vitiatus est, quatenus sapit quae dei sunt, spiritus est, quatentus carnis movetur illecebris, caro est, quibus si consenserit, totus caro est […], rursum, si consenserit toti legi, totus spiritus est, quod fit, quando corpus erit spirituale.« (586,4–9) Luther gibt hier eine klare Definition von Geist und Fleisch im Sinne der totus-homo-Anthropologie (»quatenus sapit quae Dei sunt«/»quatenus carnis movetur illecebris«), was ihn aber nicht hindert, in lockerer Weise ontologische Differenzierungen im Menschen weiterhin anzunehmen. Zugleich werden die Zustände diesseits und jenseits des simul anvisiert: einmal das totus caro esse, wenn den illecebrae (Verlockungen, Reizungen) des Fleisches nachgegeben wird, man also aus dem simul in den vorchristlichen Status zurückfällt.650 Dann das eschatologische totus spiritus esse der völligen Übereinkunft mit dem göttlichen Willen, die aber irdisch nicht erreicht wird. Deutlich

Alle Zitate, wenn nicht anders notiert, beziehen sich auf WA 2. Vgl. DB 7,22,11 ff.: Vom Christen gilt nach Röm 7, dass »doch der gantz mensch selbs alles beydes, geyst und fleysch [ist], der mit yhm selbs streyttet bis er gantz geystlich werde«. 650 Dieser komplexe Sachverhalt (spiritus und caro als beim Christen in tota persona zugleich geltende Bestimmungen und als einander ausschließende Qualifizierungen [»totaliter«] beim reinen Sünder bzw. vollendeten Christen) ist bei zur Mühlen, Mensch, 203, verkannt, da er die Stelle nicht korrekt übersetzt. 648 649

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

sind auch die zweierlei Totalitätsbegriffe: Das totus caro bzw. spiritus esse als den Menschen ausschließlich (»totaliter«) bestimmende Realitäten und das simul zweier Totalitäten in dem Sinne, dass zwei Streberichtungen im ganzen Menschen (»in tota persona«), in allen seinen Konstitutionsebenen miteinander konkurrieren.651 Das zweite Bild von der Morgendämmerung, die zwar weder Tag noch Nacht ist, aber doch je nach Blickrichtung so genannt werden kann, unterstreicht die Einheit des Menschen: »Non ergo duo isti homines diversi imaginandi sunt, sed velut crepusculum matutinum, quod dies neque nox est, utrunque tamen dici potest, magis autem dies, ad quam de tenebris noctis vergit.« (586,9 ff.) Interessant ist, wie Luther trotz des Zugleich das dynamische Moment betont: Es geht auf den Tag zu, deshalb kann die Dämmerung treffender (»magis«) Tag genannt werden. Das letzte Bild ist wieder der semivivus aus Lk 10,30–35, der vom Samaritaner zwar zur Heilung aufgenommen wurde, aber »nondum tamen plene sanus factus est, ita et nos in ecclesia sanamur quidem, sani autem plene non sumus: ob hoc caro, ob illud spiritus vocamur« (586,13 ff.). Luther bringt dann den zweiten, den irdischen Christen prägenden Totalitätsbegriff (»in tota persona«) ins Spiel, der von der Totalität des reinen Sünders sowie des eschatologisch vollendeten Menschen (»totaliter«) abzuheben ist: »Totus homo est qui castitatem amat, idem totus homo illecebris libidinis titillatur.« Und er gelangt dann zu der paradoxen Formulierung: »Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibiipsi pugnet contrariusque sit, vult et non vult. Atque haec est gloria gratiae dei, quod nos fecit nobisipsis hostes.« (586,15–19)652 Der Christenmensch ist folglich von einer inneren Gespalten- und Zerrissenheit seiner selbst geprägt, die so grundlegend ist, alle Fasern seiner Person durchzieht, dass man von »zwei ganzen Menschen«, von zwei Ichen sprechen kann. Und dennoch handelt es sich um den einen ganzen Menschen, der beides in sich Vgl. Hirsch, Lutherstudien I, 119 f., zu dieser zentralen Stelle: »Die Hauptsache aber ist, daß man den Menschen unter solchen Bestimmungen [Seele, Geist] als eine Ganzheit, eine Einheit fassen muß. Er kann mit einer und derselben Seele Fleisch sein und Geist sein und Widerspruchseinheit von Fleisch und Geist sein. Es ist immer einer und derselbe ganze Mensch, der gegen Gott und der auf Gott gerichtet ist. Mit diesen Aussagen ist der Sinn der ganzen alten anthropologischen Gliederung verschwunden. Die für die seelischen Erscheinungen im weitesten Sinne gebrauchten Begriffe bezeichnen nun tatsächlich nicht mehr besondere Kräfte, Vermögen oder dgl., sondern lediglich Richtungen, Tätigkeiten, Bewegungen eines und desselben Menschen im Verhältnis zu Gott und zu den Menschen, und die Aufmerksamkeit Luthers geht allein darauf, das jeweils in der besonderen Brechung zum Ausdruck kommende Totalitätsverhältnis zu erfassen.« So treffend solche Feststellungen sind, zu fragen ist jedoch, ob damit die fortdauernde Bedeutung der anthropologischen Konstitutionsbegriffe für Luther sowie seine Neigung, trotz klarer Unterscheidung Letzterer von den soteriologischen Distinktionen, beide auch später weiterhin zu vermischen, hinreichend gesehen ist. 652 Vgl. schon 1,81,7 ff.: »Igitur sicut Adam in suis semper auget malum, ita Christus in suis semper bonum. Igitur hi sunt duo homines in nobis, Adam et Christus, ille vetus, ille novus.« 651

Anthropologie 325 trägt, um ein Subjekt, das eben im Kampf mit sich selbst liegt, sich selbst entgegen steht, sein eigener Feind geworden ist.653 Gleichwohl ist gerade dieses Sich-selbstzum Feind-Gewordensein – wie wir schon wiederholt feststellten – für Luther der christliche Heilsstand, durch die göttliche Gnade erwirkt und im Status des reinen Sünderseins undenkbar. Hier gilt vielmehr: totus (= totaliter) caro! Dabei steht das Ganze sehr wohl in einer Dynamik auf den Geist hin: Die Sünde, das Fleisch wird jetzt schon besiegt und beherrscht, indem wir ihnen durch den Geist nicht zustimmen, und wir befinden uns bereits in der Richtung eschatologischer Vollendung, wo wir ganz Geist und ohne Sünde sein werden.654 Erdmann Schott hat in einer wichtigen Studie »Fleisch und Geist nach Luthers Lehre« aus dem Jahr 1928655 v. a. im Anschluss an die soeben besprochene Passage aus dem Kleinen Galaterkommentar, wo einerseits vom unus totus homo bzw. vom idem homo, andererseits aber von den duo toti homines die Rede ist, die These entwickelt, dass man von Luther her von einem »neutralen Ich« sprechen müsse, das den Menschen als natürliche, psychologische Bewusstseinseinheit meine. Andernfalls würde die Rede von den duo toti homines, den zwei Streberichtungen, die den Menschen zugleich ganz bestimmen, unsinnig. Dieses »neutrale Ich« stelle das Subjekt, die Personeinheit und Personganzheit dar, dem alle unsere Erkenntnis-, Wollens- und Gefühlsinhalte zugeschrieben werden müssen, das aber

Vgl. Schott, Geist, 102; Gyllenkrok, Rechtfertigung, 95–98. Ferner H. Bornkamm, Mensch, 191 ff., der allerdings sowohl die Einheit des unus homo als auch die duo toti homines ganz von der Perspektive bzw. dem Urteil Gottes, also nicht von den zwei konträren Streberichtungen her denkt. Bornkamm stellt allerdings gut heraus, dass die »beiden ganzen Menschen« wegen ihrer Simultaneität sich nicht in der Lebensgeschichte des Menschen ablösen, d. h. nicht vor bzw. nach der Bekehrung anzusetzen sind. Hermann, Theologie, 97, sieht hinter den zwei Menschen »das Ich mit seinem Wegstreben von Gott und das Ich dank seines zu ihm Gehörens« stehen, also letztlich Glaube und Unglaube. 654 Luther begreift die Gnade als sich sukzessiv siegreich im Menschen auswirkende Kraft: »Sic enim superat [gratia] peccatum, sicut Gideon superavit Madian, gloriosissimo videlicet triumpho, ut hostes seipsos trucident. Sic aqua vino infusa in altari primum pugnat cum vino, donec absorbeatur et vinum fiat: ita gratia, et, ut supra dictum est, fermentum in satis tribus absconditur, donec fermentetur totum.« (586,19–23) Dialektisch dazu hält er auch 586,37–587,3 fest: »neutrum [spiritus et caro] extinguit alterum in hac vita, et si spiritus invitam carnem domet sibique subiiciat: quo fit ut nemo audeat gloriari, se mundum habere cor aut mundum esse sordibus: non enim caro mea aliquid facit, quod non ipse facere dicar. At si cor immundum est, iam nec opus mundum est.« Vgl. auch Schott, Geist, 69–72: Nur für den Glaubenden ist das Ich »doppeldeutig«, während der »fleischliche« und der geistlich vollendete Mensch ein freilich jeweils in anderer Weise »eindeutiges Ich« haben. 655 19692 mit einem Nachtrag. Vgl. hier bes. 1–3, 50–72, 97–102.­ Siehe die ähnlichen, aber damit nicht identischen Differenzierungen im Ich-Begriff bei Gyllenkrok, Rechtfertigung, 86–89. Er unterscheidet zwischen dem Ich als Christenmenschen und dessen beiden Dimensionen, dem geistlichen, in Christus lebenden Ich und dem fleischlichen, von Adam herkommenden Ich. 653

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immer nur eine potentielle Ganzheit erreicht, da diese Bewusstseinsinhalte nie abgeschlossen vorliegen, sondern ständig erweitert werden.656 Das »neutrale« Ich hält sich bei der Bekehrung und Rechtfertigung des Menschen durch und garantiert gleichsam das Kontinuum zwischen dem vorchristlichen und dem christlichen und in diesem Sinne zwischen altem und neuem Menschen. Es bildet dann auch den »Träger« der duo toti homines, jener beiden mit dem Glauben gesetzten Iche, nämlich des fleischlichen und des geistlichen.657 Die Rede vom »neutralen Ich« selbst sieht aber vom Gegensatz Fleisch-Geist, gerecht-Sünder ab, in diesem Sinne ist sie »neutral«. Schott will mit diesem Begriff also nicht sagen, dass es neutrale Bereiche im Menschen gebe, die nicht von Fleisch oder Geist berührt wären. Insofern ist der Begriff also eine gedankliche, aber notwendige Abstraktion.658 Eben weil jenes »neutrale Ich« zumindest logisch gesondert zu betrachten ist, muss und kann der homo spiritualis sich seine Sünde selbst noch zurechnen, so sehr er als Glaubender sich davon distanzieren kann und nicht mehr restlos damit identifizieren muss.659 Die Theologie stellt nun dieses psychologische, »natürliche« Ich durch den Glauben in Beziehung zu Gott, coram deo, als von Gott durch sein Wort angesprochenes.660 Die Theologie sieht den Menschen – so darf man Schott interpretieren – also relational. Sie gelangt eben dadurch zu einem doppelten Begriff vom ganzen (und d. h. auch: wirklichen ganzen) Ich, weil Gottes Wort den Menschen zweifach anspricht, als Gesetz und Evangelium, und dabei jeweils – wie Schott im Anschluss an den Antilatomus ausführt – ein Ganzheitsurteil über den Menschen fällt, so aber, dass das Evangelium die Anklage des Gesetzes überwindet. »In dem Urteilsspruch nun, den Gott mir verkündet, liegt ein Doppeltes, und das ist der Grund für die Doppelheit meines Ich; denn das Doppelte des göttlichen Wortes betrifft, jedes von beiden, mich selbst ganz. […] Gottes Urteil über mich lautet nämlich: Ein begnadigter Sünder; ein Sünder zwar, aber begnadigt.« (66; vgl. 68) So sehr wir uns dieser konstruktiven Lutherdeutung Schotts prinzipiell anschließen, sind doch zwei kritische Bemerkungen zu machen: Schott entwickelt – das ist das Erste – die Problematik der duo toti homines in dem einen totus homo zu ausschließlich in der Sprache der Rechtfertigung, d. h. vom doppelten Urteil Gottes her: Der Mensch wird als Sünder beurteilt und doch gerechtgesprochen. Die Begriffe Geist und Fleisch bezeichnen aber bei Luther zumeist zwei Willensrich Vgl. ebd., 57 f., 63 ff. Vgl. ebd., 3, 51 f. 658 Vgl. ebd. 97. 659 Vgl. ebd., 54 f.: »Die Tatsache, daß ich in der Rechtfertigung mit mir selbst identisch bleibe, ist nämlich der Grund, warum auch der Gerechtfertigte sich seine Sünde noch als seine zurechnet. […] Fleisch und Geist sind ein und derselbe Mensch. Das ist der Grund, warum der neue Mensch sich auch noch die Sünden des alten Adam zurechnen muß. […] In dem Sinne ›neu‹ ist das geistliche Leben nicht, daß nicht das animalische und psychische Leben noch mein Leben wäre.« 660 Vgl. ebd., 58 f. 656 657

Anthropologie 327 tungen bzw. Intentionalitäten, deren konfliktreiche Aufspaltung gerade die Folge der Rechtfertigung darstellt: die eine, die in dem im Glauben angenommenen göttlichen Rechtfertigungsurteil gründet, und die andere, die sich aus dem bleibenden Sündersein herleitet. Gewiss, auch dies ist bei Schott angedeutet,661 aber eben nur angedeutet und nicht explizit von der die iustificatio coram deo anzielenden Unterscheidung »gerecht und Sünder« abgehoben. Zum andern ist vielleicht stärker, als Schott selbst dies getan hat, zu akzentuieren, dass das »neutrale Ich« eben tatsächlich eine logische Abstraktion ist und konkret nur in Relationen existiert, ja nur existieren kann. Die Rede vom »neutralen Ich« darf den Menschen nicht als isoliert in sich ruhendes Wesen verstehen. Vielmehr ist der Mensch als Subjekt für Luther nicht nur durch seine Relation zu Welt und Mitmensch, sondern gerade durch seine Gottesrelation konstituiert. Er existiert (als durch das Wort des Schöpfers ins Sein gerufen) irdisch nur im Angesprochensein durch Gottes Wort in Gesetz und Evangelium, d. h. er existiert entweder als Sünder oder als Gerechter und Sünder zugleich. Also so, dass er die Gottesrelation entweder von sich aus in eine falsche Selbstbezüglichkeit, ein falsches Selbstsein-Wollen umbiegt oder durch sie im Glauben neu geschaffen, neu konstituiert, eben ein anderer Mensch wird, wobei die alte sündige Negation dieser Relation in ihm und von ihm her freilich noch fortdauert und sich konfliktiv zu jener neuen Relation verhält. Das impliziert weiter, dass auch das neue Wollen des Glaubenden relational begründet ist: Es entsteht und lebt aus der neuen Gottes- und Christusbeziehung. Und dennoch handelt es sich um denselben Menschen, von dem dies alles zu prädizieren ist.

5.5 Zum Verhältnis von anthropologischen Konstitutionsbegriffen und soteriologischen Ganzheitsbegriffen Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels wollen wir uns explizit einem schwierigen Problem der lutherischen Anthropologie zuwenden, das uns schon wiederholt begegnet ist: Wie verhalten sich die von Luther immer klarer herausgearbeiteten existentiell-soteriologischen Ganzheitsbegriffe (Fleisch/Geist, alter/ neuer Mensch, äußerer/innerer Mensch) zu den von ihm offenbar nicht völlig aufgegebenen Termini, welche die Konstitution des Menschen qua Mensch betreffen. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, dass Luther nur in einem mühsamen Prozess beide Begriffsreihen, die in der Tradition mannigfach ineinander verwoben waren, entflechten konnte. Erst dadurch wird es aber möglich, wirklich zu soteriologischen Ganzheitsaussagen zu kommen, die jeweils den Menschen insgesamt im Blick auf Heil oder Unheil beschreiben, und sich von einem anthropologischen Dualismus zu lösen, welcher Aussagen über Heil und Unheil im Men-

Vgl. ebd., 102.

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schen a parte potiori mit bestimmten anthropologischen Konstitutionsschichten in Verbindung brachte. Der Mensch ist diesem Dualismus zufolge dann im Heil, wenn die geistig-vernünftige »Schicht« die leiblich-sinnliche dominiert, er steht dann im Unheil, wenn die letztere als der Ursprungsort der Sünde die erstere übermächtigt und in ihr böses Begehren mit hineinzieht.662 Dabei steht einer eindeutigen Unterscheidung beider Begriffsreihen der Umstand im Wege, dass die soteriologischen Ganzheitsbegriffe eben ursprünglich Konstitutionsbegriffe waren und damit ihre Herkunft aus jenem Dualismus verraten. Deshalb vermag Luther die Bedeutung der soteriologischen Begriffe oft nur zu klären, indem er dabei auf deren traditionelle konstitutionelle Bedeutung zurückgreift. Für ein adäquates Verständnis des simul iustus et peccator hängt von der klaren Unterscheidung der existentiell-soteriologischen Begriffe von den Konstitutionstermini viel ab: Denn nur dann wird es möglich, den Menschen als Ganzen zugleich als gerecht und Sünder bzw. als Geist und Fleisch zu verstehen und den Gegensatz von gerecht und Sünder bzw. von Fleisch und Geist nicht mit dem von Geist und Leib ineinszusetzen – etwa dahingehend, dass wir schon im Geist gerecht seien, aber eben in unserem Leib noch sündig bzw. nur im Leib neues und altes Wollen noch koexistierten.663

5.5.1 Geist und Fleisch als Aussagen über den totus homo 5.5.1.1 Kleiner Galaterkommentar (1519) Eine klare Einsicht über den Totalaspekt der biblischen Begriffe von Geist und Fleisch hat Luther – wie wir schon sahen – im Galaterkommentar von 1519 erreicht,664 die er dann in der Galatervorlesung von 1531 wiederholt und bekräftigt. Zu Gal 3,3 (»ut cum spiritu coeperitis, nunc carne consummemini?«) führt Luther Vgl. Joest, Ontologie, 164, 196 f. Nach dieser Konzeption besteht der Heilsweg des Menschen in seiner fortschreitenden Vergeistigung und Entleiblichung. 663 Vgl. Luthers Position in den Resolutiones zur Leipziger Disputation (1519), 2,415,6–10, in Auseinandersetzung mit der eben referierten Tradition: »Causa erroris est, quod subiectum gratiae dant solam animam eiusque nobiliorem partem, Deinde quod carnem et spiritum distinguunt metaphysice tamquam duas substantias, cum totus homo sit spiritus et caro, tantum spiritus, quantum diligit legem dei, tantum caro, quantum odit legem dei. Sicut sanitas et morbus iuxta sunt in eodem corpore aut eodem loco carnis.« Luther verbindet hier den Partialaspekt des simul mit der Totalität von spiritus und caro als alle Dimensionen den Menschen zugleich tangierend (»in tota persona«). Davon ist zu unterscheiden das totus caro esse des Sünders (»totaliter«): »caro, id est affectus carnis et concupiscentia, […] totum hominem corrupit. Non permanebit spiritus meus in homine, quia caro est, inquit [deus in 1.Mose 6,3], non carnem habet, quia toto affectu cordis carnem sapit.« (2,415,12–15) 664 Vgl. dazu Joest, Ontologie, 199–202; zur Mühlen, Nos extra nos, 265–268; ders., Vernunftkritik, 88 f.; Ebeling, Lutherstudien II/2, 241–245; Hägglund, Anthropologie, 64 f. – Prinzipiell, wenngleich nicht in derselben Klarheit, ist diese Position schon in der Vorlesung 1516/17 erreicht. Vgl. 57 II,41,5–8; 77,17–79,2; 103,10–104,3. An den Ausführungen 662

Anthropologie 329 1519 aus: »Ex quo loco claret, carnem non modo pro sensualitate seu concupiscentiis carnis accipi, sed pro omni eo, quod extra gratiam et spiritum Christi est.« (2,509,21 f.)665 Deutlich wird hier die Position abgewiesen, dass das Fleisch es nur mit Sinnlichkeit und (sexueller) Triebhaftigkeit zu tun hätte, Fleisch bezeichnet vielmehr alles, was außerhalb der Gnade und des Geistes Christi ist. Letzterer meint also den von Christus ausgehenden Heiligen Geist, nicht den menschlichen Geist. Zugleich ist erkennbar, dass Luther die ganzheitliche Bedeutung von Fleisch nicht erheben kann, ohne abgrenzend den traditionellen caro-Begriff im Sinne von Leib bzw. Körper zu verwenden. Luther begründet seine Neubestimmung der Begriffe Geist und Fleisch damit, dass die Galater ja nicht deshalb »im Fleisch enden«, weil sie sich sinnlichen Ausschweifungen oder unsittlichem Lebenswandel hingegeben hätten, sondern weil sie nach den Werken des Gesetzes und nach der Gerechtigkeit ohne den Glauben trachteten (»relicta fide«). Gerechtigkeit und Gesetzeswerke sind aber nicht nur res sensuales, denn zu ihnen gehören auch opinio und fiducia, welche im Herzen ihren Sitz haben (»quae in corde sunt«: 509,25 f.).666 Zum »Fleisch« gehören also höchst geistige Dinge, so dass Luther zu einer umfassenden Bestimmung von caro gelangt, nämlich als »Glaubenslosigkeit«667: »Quicquid igitur ex fide non est, caro est.« (509,27) Fleisch ist der Mensch, sofern er von Adam herkommt, was durchaus auch noch das Selbst des Christen tangiert, wie Paulus Röm 7,18 von sich bekennt: »Idem ergo ipsemet et caro sua, quantum est ex Adam.« (509,30 f.) Schließt so die caro das Geistige, ja Personale des Menschen mit ein, sofern er sich nicht von Gott, vom Glauben her bestimmen lässt, so schließt umgekehrt das Geistliche auch das Leibliche nicht aus. Es kann vielmehr vom »Geist des Glaubens« gewirkt und in Dienst genommen werden: »Rursum, nihil tam carnale est et externum, quin, si operatore fidei spiritu fiat, spirituale sit.« (509,37 f.)668 Die Unterscheidung von Fleisch und Geist läuft also quer zu der von Leib und Geist. In ihr geht es letztlich um Grundhaltungen, Grundbestimmungen, um »Affekte«, die alles im Menschen durchwalten und dem rationalen

77,17–79,2, wo Luther einen auf den anthropologischen Exkurs der Magnificat-Auslegung vorausweisenden und 1519 weggelassenen Passus über die drei Menschen anfügt, wird deutlich, dass das Zueinander der soteriologischen Begriffe Geist und Fleisch zur Konstitutionstrichotomie noch diffus ist. 665 Alle Zitate im Folgenden nach WA 2. 666 Vgl. 510,1 f.: »Consummantur ergo Galatas carne, dum affectum et opinionem accipiunt operum legis quorumcunque, praesertim relicta fide.« 667 So Joest, Ontologie, 199. – Die Bestimmung des Fleisches primär als Unglaube erfolgt auch DB 7,12,13 ff. 668 Dieser Gedanke findet sich auch später häufiger bei Luther. Vgl. DB 7,12,5–21; 17 II,8,11–15; 23,189,8–22; 203,7–11: Aus der Bibel lernen wir, »das alles geist, geistlich und des geistes ding ist und heist, was aus dem heiligen geist kompt, es sey wie leiblich, eusserlich, sichtbarlich es ymer sein mag, Widderumb fleisch und fleischlich alles, was on Geist aus natürlicher krafft des fleisschs kompt, Es sey wie ynnerlich und unsichtbar es ymer sey.«

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Einsichts- und Erkenntnisvermögen vorausliegen.669 Im »Affekt« des Fleisches ist der Mensch von Gott abgewandt, auf sich bezogen bzw. verkrümmt, er sucht das Seine und hat deshalb auch nicht im Blick, was dem Nächsten dient. Im »Affekt« des Geistes ist der Mensch demgegenüber im Glauben auf Gott ausgerichtet und in der Liebe dem Mitmenschen geöffnet. In der Exegese von Gal 5,17 stellt Luther ebenfalls programmatisch fest: »Sicut ›spiritus‹ hoc loco non significat solam castitatem, ita necesse est, ut ›caro‹ non solam significet libidinem.« Luther hält diese Feststellung für notwendig, weil sich bei fast allen der Brauch eingestellt habe, »carnis concupiscentiam pro libidine tantum accipi« (585,10–13). Luther wendet sich in der Folge – wie schon erwähnt – gegen die auf Origenes zurückgehende und von Hieronymus übernommene Vorstellung von den drei Schichten im Menschen (spiritus, anima, caro) bzw. von den drei Menschen (spiritualis, animalis, carnalis homo), wobei die mittlere Größe, die anima, eine gleichsam neutrale Stellung einnimmt und sich zwischen spiritus und caro zu entscheiden hat. Obwohl nach Luther 1.Thess 5,23 für eine solche Trichotomie spricht, neigt er in der Fassung des Kommentars von 1519 eher dazu, von 1.Petr 2,11 her spiritus und anima zu identifizieren, wogegen er in der zweiten Auflage 1523 dazu tendiert, unter Berufung auf 1.Kor 2,14 den homo animalis dem homo carnalis zuzuordnen und damit alles auf die soteriologisch gemeinte Zweiteilung von caro und spiritus zuzuspitzen.670 Auf den zentralen Passus zu Gal 5,17 (585,31–586,23) sind wir oben schon im Zusammenhang mit der Konzeption der duo homines in der Person des Christen eingegangen. Luther entwickelt an dieser Stelle nicht nur die totus-homo-Begrifflichkeit, sondern zeigt auch, dass beide Totalbegriffe (Fleisch und Geist) vom Christen zugleich zu prädizieren sind – eben im Sinne des Denkmodells »duo toti homines et unus totus homo« (586,16 f.). Dabei benötigt er zur Explikation von Fleisch und Geist als jeweils den ganzen Menschen erfassende Begriffe erneut

Vgl. 2,575,23 ff.: »Non ergo carni hoc loco allegorice sed proprie accipitur pro vitiis carnis seu carne, in qua sunt vitia, quibus movemur ad quaerenda ea, quae nostra sunt, et negligenda ea, quae proximi sunt«; 588,26–589,3, wo Paulus unter die »Werke des Fleisches« höchst geistige, ja pseudo-geistliche Dinge zählt: »Hic omnium manifestissime patet, carnem non pro libidinosis accipi tantum concupiscentiis, sed pro omni prorsus eo, quod contrarium est spiritui gratiae. Nam haereses seu sectae et dissensiones sunt vitia subtilissimarum mentium et sanctissima specie fulgentium. Quod ideo dico, ut stabiliam quae supra dixi, per carnem totum hominem significari, per spiritum aeque totum, atque hominem interiorem et exteriorem seu novum et veterem non distingui iuxta differentiam animae et corporis, sed iuxta affectus. Nam cum fructus seu opera spiritus sint pax, fides, continentia etc. et haec in corpore fiant, quis potest negare spiritum et fructum eius in corpore membrisque carnalibus esse […]? Ecce non tantum anima, sed membra quoque sunt spirituale templum. […] Contra, quando invidiae, inimicitiae vitia sunt animorum, quis negabit, carnem esse in anima? Igitur spiritualis homo totus homo est, quantum sapit quae dei sunt, carnalis totus, quantum sapit quae sua sunt«; 571,7 ff.; 414,12–15. 670 Vgl. 585,22–30 mit Variante 1523 im Apparat. 669

Anthropologie 331 die traditionellen Konstitutionsbegriffe (z. B. caro im Sinne von Leiblichkeit)671 und betont, dass bei allem Begehren der Mensch als Ganzer, mit allen Konstitutionsschichten (Leib, Seele und Geist) beteiligt ist und die Schichten in einer unscheidbaren Einheit stehen. Insofern ist bei der Konkupiszenz der caro (= Leib bzw. Körper) immer das geistige Moment, der Mensch selbst beteiligt: »Non enim caro concupiscit nisi per animam et spiritum, quo vivit.« (585,32) Im Kleinen Galaterkommentar sind also die soteriologischen Totalbegriffe spiritus und caro klar erfasst, es bleibt aber offen, wie deren Verhältnis zu den herkömmlichen (soteriologisch besetzten) Konstitutionsbegriffen gedacht werden soll: Möchte Luther auf Letztere völlig verzichten oder will er sie modifiziert und von Ersteren unterschieden beibehalten? Anders gefragt: Wendet sich Luther gegen eine differenzierte anthropologische Konstitution des Menschen überhaupt oder nur gegen die einseitige soteriologische Wertung der jeweiligen Konstitutionselemente? Im zuletzt analysierten Text scheint sich in der anima der Mensch als Ganzer zu versammeln, diese also das Personzentrum zu bilden, in dem die Entscheidung über die Grundausrichtung, den Grundaffekt (spiritus oder caro; vgl. 586,5: »affectu carnis«) fällt. An anderen Stellen fungiert dagegen das Herz (cor) als dieses Personzentrum.672 Doch wird dies bis jetzt eher nur angedeutet als explizit ausgeführt.

Vgl. 586,6 f.: Das Geistsein des Menschen wird mit »quatentus [homo] sapit quae Dei sunt« angegeben, das Fleischsein aber mit »quatenus carnis movetur illecebris«, nicht aber z. B. mit »quatenus sapit quae sua sunt«. Auf diese Weise aber wird caro als Konstitutionsbegriff verstanden, welcher caro als totus-homo-Begriff erklären soll. Man könnte darin ein letztes Relikt der Verhaftung an das dualistische Denken sehen, welches die Sünde primär in der caro lokalisiert. Vgl. dagegen die Stellen in Anm. 668 sowie 2,415,8 ff. (zit. Anm. 663); 18,742,19 f.: »Omnia sunt caro, quia omnia sapiunt carnem, id est quae sua sunt, vacant gloria Dei et spiritus Dei.« 672 Vgl. Joest, Ontologie, 201; 2,576,24–31: »At hoc praeceptum [das Liebesgebot] quanto compendio, quam cito, quam efficaciter omnia absolvit! ad caput, ad fontem, ad radicem horum omnium mittit manum, ad cor, inquam, unde iuxta Sapientem aut vita aut mors procedit, siquidem inter opera hominis alia magis vel interiora vel exteriora, nullum vero intimius est dilectione, ultra quam nihil in humano corde secretius invenitur. Quo affectu in rectitudinem posito iam nullis praeceptis indigent alia membra. Omnia enim ex hoc affectu fluunt: qualis hic, talia et omnia, sine quo alia universa sunt labores stulti«; 578,30–34: Gegen die Vorstellung, wir wüssten nicht, ob wir in der Liebe seien, führt Luther aus: »Cogunt [theologi isti] sane nos imaginari, charitatem esse velut quietam latentemque qualitatem in anima. Quo somnio quid moliuntur, nisi quod negant, nos sentire praesentissimum et vivacissimum illud quod in nobis est, ipsum videlicet pulsum vitae, hoc est affectum cordis?« Zu dieser präreflexiven »affektiven« Grundbestimmtheit bzw. -bewegtheit in der Personmitte des Menschen siehe Joest, Ontologie, 210–232, bes. 216 ff.; zur Mühlen, Affektenlehre, 113–117. 671

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

5.5.1.2 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) Bevor wir die angedeutete Problemstellung mit Hilfe anderer Luthertexte zu klären versuchen, werfen wir einen Blick auf Luthers späte Galatervorlesung aus dem Jahr 1531, in der noch stärker als schon 1519 der articulus iustificationis in den Mittelpunkt der Auslegung gestellt wird. Dies zeigt sich auch in den einschlägigen Passagen über Geist und Fleisch. Wir finden jetzt nicht mehr ähnlich prinzipielle Aussagen wie 1519, wo Luther zu einer neuen Anthropologie anhand von Paulus sich allererst durchgerungen hat. Vielmehr wird die damals erkämpfte Position bestätigt, aber nochmals rechtfertigungstheologisch zugespitzt. So führt Luther mehrfach – insbesondere natürlich bei der Exegese von Gal 5 – aus, dass Paulus mit Fleisch nicht nur die (falsche) sinnliche Lust, sondern eben das Böse des ganzen Menschen, also auch seiner Vernunft und seines Geistes meine.673 Das impliziert aber die Pointe, dass gerade die ratio des Menschen und ihr Sinnen und Trachten als Fleisch anzusprechen ist, weil sie ihrer (verderbten) Natur nach sich nur eine Rechtfertigung aus den Werken und den eigenen Frömmigkeitsleistungen vorstellen kann und deshalb gegen die iustitia ex sola fide vorgeht. Die Vernunft ist der Anwalt des Gesetzes und der Selbstrechtfertigung und gerade deshalb ist sie caro! So führt Luther aus, dass es vordergründig eine geringe Sache sei, das Gesetz zu lehren und die Werke als Heilsweg zu statuieren. Aber dies bringt tatsächlich einen immensen Schaden mit sich, weil es die Erkenntnis der Gnade verdunkelt, Christus und seine Wohltaten beseitigt und das ganze Evangelium umstößt. Und dies alles gründet in der caro: »Huius autem tanti mali causa est caro nostra quae peccatis immersa non videt aliam rationem, qua sese explicet ex ipsis, quam per opera. Ideo vult vivere in iustitiis legis et niti fiducia operum suorum.« (40 I,115,21–24)674 An sich ist die Sache der Rechtfertigung höchst gewiss und sicher, aber im Blick auf uns ist sie unsicher, ja »schlüpfrig« (lubrica), weil unsere Vernunft bzw. unser Fleisch immer dagegen steht und wir deshalb für die Anfechtung durch das Gesetz, das Wort des göttlichen Zorns, der Trauer und des Todes zugänglich sind (40 I,129,19–130,12). Luther möchte mit Paulus die groben sinnlichen Vergehen aus dem Begriff des Fleisches keineswegs ausschließen, sieht aber dessen »Spitze« und »Zentrum« doch in etwas Geistig-Vernünftigem, nämlich im Aufrichten der eigenen Gerechtigkeit und damit im Unglauben: »Caro est ipsa iustitia, sapientia carnis ac cogitatio rationis, quae per legem vult iustificari. Quidquid ergo optimum ac praestantissimum est in homine, Paulus vocat Carnem, scilicet summam sapientiam rationis et ipsam iustitiam legis.« (40 I,347,26–29) Vgl. 40 II,111,32 ff.: »Ex his satis constat, Paulum vocare Carnem, quidquid est in homine, complectendo omnes tres potentias animae, scilicet voluntatem concupiscibilem, voluntatem irascibilem et intellectum«; 112,13–16: »Vocabulum Carnis in toto regno Papae sic obscuratum fuit, ut opus carnis nihil aliud illis significaverit quam concubitum seu expletam libidinem. Inde necessario sequebatur, quod non potuerint intelligere Paulum.« Zu »Geist und Fleisch« im Großen Galaterkommentar siehe Mannermaa, Glauben, 70–84. 674 Vgl. auch 40 II,60,21–26. 673

Anthropologie 333 Dies führt dann zu der polemischen Spitze, dass gerade das, was die zeitgenössische Frömmigkeit für das zuhöchst Geistliche hält, nämlich das asketische, zölibatär-monastische Leben, zum Inbegriff des Fleisches, weil der Rechtfertigung aus den Werken wird. Zwar wird das Mönchtum im Papsttum für einen »actus spiritualissimus« gehalten, gleichwohl ist aber festzustellen: »et tamen ista spiritualissima res, ut ratio iudicat, est iuxta Paulum opus carnis.« (40 II,110,14– 22)675 Und umgekehrt wird das im Glauben geführte Leben des Weltchristen zu einem geistlichen Vollzug erhoben. Das Verdikt, Fleisch zu sein, trifft nach Luther letztlich aber auch jede andere Religion, weil sie auf dem menschlichen Tun und nicht auf dem Glauben aufbaut und deshalb eine Religion außerhalb des Wortes Gottes ist.676 Freilich lässt sich – in gewisser Gegenläufigkeit zu dieser das »Fleischliche« gerade im Geistigen und Pseudogeistlichen aufsuchenden Tendenz – in der späten Galatervorlesung (sowie überhaupt beim älteren Luther) beobachten, wie Luther durchaus freimütig und offen betonen kann, dass zu den Werken des Fleisches nach Paulus die sinnlich-geschlechtliche Lust natürlich auch zählt.677 Gleichwohl bleibt es aber bei der Pointe, nicht nur in den grassa vitia, sondern gerade in der geistig-geistlichen Sphäre, in den superiores affectus das Fleisch aufzuspüren. Deshalb gehören Hochmut, Haß, Geiz, Ungeduld sowie Götzendienst, Häresie, Vgl. insgesamt 40 II,110,13–112,28; bes. 112,21 ff. heißt es von der religio Papistica: »Sed quamlibet videatur sancta et spiritualis, nihil tamen aliud est quam opus carnis, abominatio et idolatria contra Euangelium, fidem et verum cultum Dei.« 676 Vgl. 40 I,244,14–23; 347,21–348,19: »Paulus hic [Gal 3,3] opponit spiritum et carnem. Neque appellat carnem libidinem, passiones beluinas seu appetitum sensitivum, quia hoc loco non disputat de libidine aut de aliis concupiscentiis carnis, Sed de remissione peccatorum, de iustificanda conscientia, de paranda iustitia coram Deo, de liberatione a lege, peccato, morte, Et tamen hic dicit, quod deserto Spiritu iam consummentur carne. Itaque caro est ipsa iustitia, sapientia carnis ac cogitatio rationis, quae per legem vult iustificari. […] Spiritus est, quicquid in nobis geritur per spiritum; Caro, quidquid in nobis geritur secundum carnem extra spiritum. Quare omnia officia Christianorum, ut diligere uxorem, alere liberos, regere familiam, honore afficere parentes, obedire Magistratui etc., quae ipsis saecularia et carnalia sunt, sunt fructus spiritus«; 40 II,30,20–24. 677 Spiegeln sich hier Erfahrungen und Verantwortung des um den ethischen Missbrauch der Rechtfertigungsbotschaft sowie um den geistlich-sittlichen Aufbau der neuen evangelischen Gemeinden besorgten Reformators wider? Luther grenzt sich aber 40 II,85,26–86,17 (zu Gal 5,16) von einer Leibfeindlichkeit ab: Wir sollen das »Fleisch« (d. h. den Leib) nicht auslöschen, denn es gehört zu den irdischen, gottgewollten Lebensbedingungen, bei welchen Gott um des bejahten geschöpflichen Lebens willen auch die daran haftende Sünde duldet. Es folgt dann eine Formulierung des simul: »Itaque si carnem spectemus, peccatores sumus, si Spiritum, iusti. Atque ita partim peccatores, partim iusti sumus. Uberior tamen iusticia nostra est.« Vgl. 85,12–86,4 (Hs): »Ergo tantum est, quod praedicavi: ›Hoc dico‹, ne obediatis carni et motibus vel concupiscentiae carnis. Nolo praedicare, ut carnem exuatis; deus vult, ut generatio hominum maneat, ad hoc mus caro da bleiben, ergo etiam peccatum. Si ergo spectas carnem, sumus peccatores, Si spiritum, es iustus. Sic omnis Christianus peccator et iustus, hoc nolunt audire.« 675

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Unglaube, Verachtung Gottes, Misstrauen und Verzweiflung zum Fleisch. Eine Fixierung auf die libido greift zu kurz. Die Werke des Fleisches umfassen die tota concupiscentia sowie die universa politia peccati, welche gegen die politia spiritus kämpft. Gegenüber dem »Lasterkatalog« des Paulus in Gal 5,19 ff. kann man deshalb bei Luther eine gewisse Ausweitung der inneren Regungen beobachten, was seinem »verinnerlichten«, weil radikalisierten Sündenverständnis korrespondiert.678

5.5.1.3 De servo arbitrio (1525) Im Kontext unserer Arbeit würde es zu weit führen, ausführlich auf den großen anthropologischen Exkurs zur totus-homo-Anthropologie in De servo arbitrio (1525) einzugehen (vgl. 18,733,22–764,12).679 Hingewiesen sei aber doch auf den bemerkenswerten Umstand, dass Luther hier nur unter einer speziellen Rücksicht auf diese Thematik eingeht, die gerade nicht zu einer Profilierung des simul iustus et peccator führt. Luther geht es in dieser Schrift darum, gegenüber Erasmus aufzuweisen, dass der menschliche Wille in soteriologischer Hinsicht unfrei und völlig ohnmächtig ist, er nichts – und sei es auch nur vorbereitend – zu seinem Heil beitragen kann. Man kann nun sagen, dass die totus-homo-Anthropologie in den Dienst der These vom servum arbitrium bzw. der totalen Angewiesenheit auf Gottes Gnade in Christus gestellt wird.680 Deshalb legt Luther vor allem dar, dass der biblische Begriff des »Fleisches« den ganzen Menschen, auch mit seinen besten und höchsten geistigen Kräften, meint und ihn in seiner Gottferne und als dem Geist Gottes entgegengesetzt charakterisiert. Mit »Geist« ist dann der Geist Gottes gemeint, der den Menschen neu schafft, und seltener dieser Mensch selbst, sofern er vom Geist Gottes erfüllt ist. Gemäß seiner Themenstellung (Erweis des servum arbitrium) konzentriert sich Luther darum auf den Begriff des Fleisches, um dessen doppelte biblische Bedeutung als totus-homo-Begriff (im Gegenüber Vgl. 40 II,83,34–84,26: »Sophistae concupiscentiam carnis interpretantur libidinem. Verum quidem est, quod nemo ex piis, praesertim qui maturam aetatem nondum attigerunt aut caelibem vitam agunt, libidine careat. Imo coniuges, tam corrupta et pestilens est caro, sine libidine [zu einer anderen Frau bzw. zu einem anderen Mann] non sunt. […] Ideo non nego concupiscentiam carnis complecti libidinem, Non tamen solam libidinem sed omnes etiam alios vitiosos affectus complectitur, quibus pii laborant, alii tamen ferventius, alii remissius, quales sunt superbia, odium, avaricia, impacientia etc. Imo inter opera carnis non solum illa crassa vitia, sed etiam idolatriam, Haereses etc., qui sunt superiores affectus, infra recenset Paulus. […] non solum ergo loquitur de libidine, superbia, sed etiam incredulitate, diffidentia, desperatione, odio, contemptu Dei, idolatria, Haeresibus etc.«; 40 II,89,26–90,21; 109,23–31; 111,19–112,28. Dazu Peters, Mensch, 40. 679 Vgl. den Kommentar zu diesem Abschnitt von Iwand, in: Mü3 Erg.Bd. 1, 304–307. 680 Vgl. Iwand, Mü3 Erg.Bd. 1, 304: »Der ganze Mensch mit seinen geistigen und natürlichsinnlichen Vermögen ist gemeint, wenn die Bibel sagt, daß der Mensch Fleisch, caro, ist. D. h. er ist in seinen niederen und höheren Kräften unfähig, die Dinge Gottes aufzunehmen und seinen Willen zu tun.« 678

Anthropologie 335 zum göttlichen Geist) und als absolut gebrauchtem Konstitutionsbegriff im Sinne von Leib er gleichwohl weiß.681 Sein theologisches Interesse liegt dabei aber nicht auf dem simul von Geist und Fleisch (als totus-homo-Begriffe verstanden) beim Christen, sondern auf der durch den Gottesgeist allein im Menschen herbeigeführten Neugeburt und sein Gewendetwerden vom Fleisch- zum Geistsein, also am Nacheinander der Begriffe. Folglich geht Luther auf die simul-Thematik nur nebenbei an drei Stellen ein: In 1. Kor 3,3 spreche Paulus mit dem »adhuc carnales estis« einen doppelten Sachverhalt an: einmal, dass noch impii, also Scheinchristen unter den Korinthern sind, welche von der caro als impius affectus und impietas (18,735,28) primär bestimmt sind. Und zum anderen das eigentliche simul bei den Christen selbst: Paulus meine auch, »pios, quantenus sapiunt carnalia, carnales esse, licet spiritu sint iustificati« (18,735,30 f.). Mit dem carnales esse ist hier das eigensüchtige Streben gemeint, geht es doch um die Einheit der Gemeinde verletzende Spaltungen. Das Gerechtfertigtsein im Geist meint das Gerechtfertigtsein als glaubende Menschen durch den Gottesgeist, welches als Folgemoment ein neues »geistliches« Wollen freisetzt. Luther geht weiter auf einen Einwand des Erasmus ein, in welchem dieser die Frage nach der Realität der neuen Schöpfung bei Luther stellt: Wenn der ganze Mensch (totus homo), auch der durch den Glauben wiedergeborene, nichts ist als Fleisch: wo ist dann der Geist, aus dem Geist geboren, wo der Sohn Gottes, wo die neue Kreatur? Dass der »spiritus natus e spiritu« nichts anderes als caro sei, stellt natürlich eine Missdeutung Luthers dar, die dieser zurückweist: »Quis ita insaniat, ut nihil nisi carnem esse dicit eum, qui natus est ex spiritu? Nos manifeste separamus carnem et spiritum tanquam res pugnantes, dicimus cum oraculo divino, hominem, qui non est renatus per fidem, esse carnem. Deinde renatum non amplius carnem esse dicimus, quam secundum reliquias carnis, quae adversantur primiciis accepti spiritus.« (745,5–10) Man hätte an dieser Stelle und

Vgl. 18,735,8–736,5. – Den ganzheitlichen Sinn der Begriffe Fleisch und Geist im Sinne soteriologischer Wertungen hat Luther auch im Abendmahlsstreit mit Zwingli und seinen Anhängern anhand des Verses Joh 6,63a, den man gegen die leibliche Anwesenheit Christi im Abendmahl ausspielte, deutlich gemacht. Nach Luther ist hier überhaupt nicht von Christi Fleisch bzw. Leib (als anthropologischem Konstitutionsbegriff) die Rede, sondern – in Antithese zum Geist Gottes – von der gottwidrigen Denkart des ganzen Menschen. Diese Denkart, die auch das Abendmahl kapernaitisch (= als physisches Fleisch essend) auffasst, »nützt nichts«. Christi Fleisch bzw. Leib gehört dagegen ganz auf die Seite des Geistes, ist es doch vom Geist empfangen und vom Geist durchwirkt. Die Bedeutung der Begriffe ist also immer kontextuell zu erheben, auf keinen Fall aber von dem an die biblischen Texte herangetragenen platonisch-humanistischen Dualismus Zwinglis von Materie und Geist her! Vgl. 23,167,28–205,31; 26,349,35–378,27. Ferner 10 I/2,301,27–32: »Das flaisch haist der gantze mensch mit leyb und seel, vernunft und willen, Und yedermann hat flaischlichen sinn, müt, lust und willen, der nit uß dem geist geporn ist. Denn die seel ist also tieff gesenckt yn das flaisch, das sie es will behüten und beschützen, das es nit schaden leyde, also das sie mer flaisch ist denn das flaisch selber.« 681

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zu diesem Einwand ausführliche prinzipielle Ausführungen zum simul erwartet. Luther bietet aber nur eine kurze Erklärung: Dass auch der Glaubende nur Fleisch sei, ist falsch, sein Zustand ist dem des außerchristlichen Menschen nicht vergleichbar. Fleisch und Geist stehen vielmehr in erster Linie jeweils für den unbekehrten Sünder und den Wiedergeborenen insgesamt. Wir sahen ja schon früher, dass die These Luthers, dass auch der Glaubende ganz Fleisch sei, nicht bedeutet, dass er nur Fleisch sei. Es heißt dies vielmehr, dass noch alle seine Konstitutionsschichten vom Fleisch betroffen sind, obwohl sich darin der Geist als siegreiche Gegenkraft bemerkbar macht (insofern auch totus spiritus). Anders formuliert: Es gibt im Glaubenden nur noch reliquia carnis, die den Erstlingen des Geistes, der anfänglichen Gerechtwerdung widerstreiten. Die Stelle ist ein Beleg, wie Luther auch in Zusammenhängen, wo man eine explizite, ausführliche Erörterung des simul erwartet, sich nur mit einigen, sogar abschwächenden Hinweisen begnügen kann, weil sein theologisches Argumentationsziel ein anderes ist. Schließlich kommt Luther am Ende von De servo arbitrio auf das simul im direkten Kontext der genannten theologischen Stoßrichtung, nämlich der Plausibilisierung des vom Menschen rein passiv erfahrenen Machtwechsels, zu sprechen (18,782,30–783,17). Dies zeigt, dass das simul in das primäre Anliegen dieser Schrift sehr wohl integriert ist, ihm also auf keinen Fall widerspricht, wenn es auch von ihm her nicht besonders akzentuiert werden muss:682 In der Welt liegen, so führt Luther aus, zwei einander feindlich gesonnene Reiche miteinander im Streit: das Reich des Satans und das Reich Christi. Der Wechsel des Menschen aus dem Reich des Satans in das Reich Christi erfolgt ausschließlich durch die göttliche Gnade bzw. den Heiligen Geist und ist dem Menschen selbst völlig unverfügbar. Um nun die Absolutheit des servum arbitrium im Reich des Satans zu demonstrieren, argumentiert Luther sozusagen mit einem Schluss a meliore ad peius: »Rom 7. [14 ff.] et Gala. 5. [16 f.] Paulus docet, in sanctis et piis esse pugnam spiritus et carnis tam validam, ut non facere possint, quae vellent.« (18,783,4 ff.) Selbst die in das Reich Christi versetzten Heiligen sind also noch durch das Zugleich zweier Streberichtungen, das freilich ein erbittertes Gegeneinander ist, Weil Umbach, Christus, 33–38, 313, diesen Zusammenhang nicht beachtet, gelangt er zu dem Fehlurteil, in De servo arbitrio sei, vorbereitet durch den Antilatomus, das simul der Römerbriefvorlesung von Luther zugunsten des Paradigmas vom Machtwechsel aufgegeben worden: Der Mensch sei nunmehr entweder unter der Macht der Sünde oder unter der Macht Gottes. »Die Rede vom simul iustus, simul peccator gehört also, von De servo arbitrio her gesehen, als Beschreibung des Gläubigen nicht unbedingt zum status confessionis eines ›Lutheraners‹, sondern ist ›volkstümliches‹, bis heute wirksames Nebenprodukt einer im Grunde noch aus der ›katholischen‹ Phase Luthers stammenden Denkfigur der communicatio idiomatum.« (34) Der für Luther in der Taufe erfolgende Wechsel aus dem Reich des Satans in das Reich Christi (hier gibt es in der Tat kein simul!) schließt aber das rechtverstandene simul von iustitia und peccatum regnatum (!) nicht aus, was erneut zeigt, wie sehr Luther den status des simul als Heilsstand gesehen hat. Umbachs These wird natürlich ebenso durch die Belege für das simul bei Luther nach 1525 widerlegt. 682

Anthropologie 337 gekennzeichnet. Auch in den durch den Gottesgeist Wiedergeborenen opponiert die menschliche Natur bzw. das Fleisch noch gegen den Geist. Wie sollte sich aber bei dieser Sachlage der Mensch im Reich des Satans von sich aus auf das Gute ausrichten können? Wie sollte in ihm ein liberum arbitrium zu finden sein? »Si igitur caro istis [malis] affectibus pugnat contra spiritum in sanctis, multo magis contra Deum pugnabit in impiis et in libero arbitrio.« (18,783,13 ff.)683 Anders formuliert: Wenn die Sünde selbst noch in den Glaubenden »zurückbleibt« und wirksam ist, um wieviel mehr wird sie in geistlicher Hinsicht in den Unbekehrten herrschen? Fazit: Der Mensch kann folglich zu seinem Heil nichts beitragen! Um jede Einschränkung dieser Feststellung auszuschließen, fügt Luther den Hinweis an, dass Paulus bei »Fleisch« nicht nur an die grassi affectus denke, sondern unter die »Werke des Fleisches« Häresie, Götzendienst, Zwietracht und Streit subsumiere, »quae utique in summis illis viribus, puta ratione et voluntate regnant« (18,783,9–13).

5.5.2 Die Verhältnisbestimmung selbst 5.5.2.1 Auslegung des Magnificat (1521) Zu Beginn seiner Magnificat-Auslegung trifft Luther 1521 grundsätzliche an­ thropologische Feststellungen (7,550–553), in denen er einerseits darlegt, welche konstitutionellen Differenzierungen er im Menschen gegeben sieht, andererseits aber klärt, wie diese zu den existentiell-soteriologischen Begriffen Geist und Fleisch stehen. Luther hat hier den mühsamen Prozess der Ablösung der Begriffe Fleisch und Geist von den anthropologischen Vermögen vollendet und eine sachliche Klarheit erreicht, die seinen Aussagen großes Gewicht gibt.684 Veranlasst durch Lk 1,46b (und indirekt natürlich auch durch Lk 1,47), behandelt Luther zwei anthropologische Unterscheidungsreihen und ihr Verhältnis zueinander. Nach 1.Thess 5,23 gliedert die Schrift den Menschen »ynn drey teil« (7,750,20): Geist, Seele und Leib. Darüber hinaus wird aber bei jedem dieser »Teile« sowie beim ganzen Menschen noch eine Teilung »ynn zwey stuck« (7,550,24) vorgenommen, die folglich dazu querläuft: nämlich nach Geist und Fleisch. Während die erste Differenzierung eine solche der »natur« nach ist, stellt die zweite eine solche nach der »eygenschaff« (7,550,25 f.) dar, so dass man sagen kann: Die Natur des Menschen hat drei »Stücke«: Geist, Seele, Leib, und diese können gut Die Wendung »in libero arbitrio« ist natürlich ironisch gemeint. Vgl. dazu Schott, Anthropologie, 585–589; Haikola, Studien, 24–31; Joest, Ontologie, 183–187; zur Mühlen, Vernunftkritik, 89 f. Siehe auch die verwandten Ausführungen über Fleisch und Geist in der Römerbrief-Vorrede (1522), DB 7,12,5–21, bes. 12,5–9: »Fleysch und geyst mustu hie nicht also verstehen, das fleysch alleyn sey, was die unkeuscheyt betreffe, und geist, was das ynnerliche ym hertzen betreffe, sondern fleysch heyst Paulus, wie Christus Johan. 3 alles was aus fleysch geporn ist, den gantzen menschen, mit leyb und seele, mit vernunft und allen sinnen. Darumb, das alles an yhm nach dem fleysch trachtet.« 683

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oder böse, d. h. Geist und Fleisch sein.685 Unschwer erkennt man in den beiden Di­ stinktionsreihen die Konstitutionstrichotomie sowie die soteriologische Dualität wieder. Wichtig ist zu sehen, dass der Begriff »Geist« in doppelter Bedeutung (konstitutionell und soteriologisch) vorkommt, wie es ja auch eine zweifache Bedeutung von Fleisch (als selbstsüchtige, gottfeindliche Haltung und als Leib) gibt – je nachdem, ob man sich in der Drei- oder Zweiteilung befindet.686 Luther handelt in der Auslegung von Lk 1,46b – wie er ausdrücklich bemerkt – nur von der ersten Teilung.687 »Geist« ist ihm zufolge der höchste, tiefste und edelste Teil des Menschen, womit dieser die unsichtbaren, ewigen Dinge erfassen kann. Er ist das »hausz, da der glawbe und gottis wort innen wonet« (7,550,30 f.). Man könnte deshalb sagen: Geist ist der Mensch, sofern er in Relation zu Gott oder coram deo steht, d. h. auf Gott so bezogen ist, dass er zu einer ausdrücklichen Gottesbeziehung fähig ist. Nur der Mensch vermag Gottes Wort zu hören und im Glauben oder Unglauben darauf zu antworten.688 Im Geist hat er – wie Luther formuliert – kein eigenes Licht (7,551,20), da er hier in reinem Empfangen auf die Erleuchtung durch eine externe Lichtquelle angewiesen ist. Mit Geist meint Luther mithin das Personzentrum des Menschen, das er sonst auch Herz oder Gewissen nennen kann und welches den Ort der geistlichen Entscheidung bzw. die »geistliche Entscheidungssphäre« selbst bildet.689 »Seele« ist nun derselbe Geist, aber in einer anderen Hinsicht und Funktion, nämlich sofern »er den leyp lebendig macht und durch ynn wircket« (7,550,36– 555,1). Seele ist der Geist, sofern er nach unten gerichtet und den Menschen und der Welt zugewandt ist. Anders als der Geist im engeren Sinn ist die Seele nicht auf die unbegreiflichen Dinge bezogen, sondern auf das, was die Vernunft zu Vgl. 7,550,26 f.: »Die natur hat drey stuck: geist, seel, leip, und mugen alle sampt gut oder bosz sein, das heißt denn geist und fleysch sein.« Luther gebraucht »Teil« und »Stück« wechselweise und ordnet sie nicht exklusiv der Drei- oder Zweiteilung zu. Die Terminologie ist freilich der Sache eher hinderlich bzw. muss übertragen verstanden werden: »Stück« und »Teil« insinuieren gerade jene Anthropologie, die Luther überwinden will, nämlich die der Schichten oder Seelenvermögen im Menschen. Luther zielt aber auch fundamental-anthropologisch darauf ab, Geist, Seele und Leib relational zu interpretieren, so dass mit ihnen jeweils der ganze Mensch unter einem bestimmten Aspekt in den Blick kommt. 686 Vgl. Haikola, Studien, 29 ff. 687 Vgl. als Vorstufen dieser Überlegungen 57 II,77,18–79,2 und die Ausführungen zum homo tricameratus 57 III,158,18–160,2. Luther unterscheidet hier jeweils homo sensualis, rationalis und spiritualis. Dazu H. Bornkamm, Mensch, 195 f.; Hirsch, Lutherstudien I, 117 ff.; Joest, Ontologie, 178–183; zur Mühlen, Vernunftkritik, 85–88. 688 Zur Unterscheidung zwischen Bezogenheit (als vorgegebener Struktur) und durch diese ermöglichter konkreter Beziehung vgl. Härle/Herms, Rechtfertigung, 82 f.; Härle, Philosophie, 215 f. 689 Vgl. Joest, Ontologie, 196, 210 f.; Schott, Anthropologie, 587: »Der Geist ist die Beziehung des Menschen zu Gott, sei es im Glauben, sei es im Unglauben. […] ›Seele‹ ist der Mensch in seiner Beziehung zur Welt.« 685

Anthropologie 339 erkennen und zu ermessen vermag. Seele ist der Mensch als animal rationale. Dementsprechend ist auch die Vernunft das erhellende Licht in diesem Bereich. Allerdings fällt die Vernunft in Irrtum, wird pervertiert, wenn nicht der Geist vom Glauben als einem »hohern liecht« (7,551,7) erleuchtet ist. »Denn sie ist zu geringe ynn gotlichen dingen zu handelln.« (7,551,8 f.) Die Vernunft besitzt zwar ihre Eigenständigkeit als Erkenntnis- und Handlungsprinzip, sie ist aber in ihrem Wohl und Wehe abhängig von der im Geist, dem Personzentrum, gegebenen Grundentscheidung bzw. Grundorientierung in Glaube oder Unglaube. Von der Bestimmung der Seele als Vernunft her (Welterkenntnis und Welthandeln) wird deutlich, dass der Mensch im Geist wesentlich passiv ist: In der Relation Wort Gottes/Glaube ist Gott allein der Handelnde und Aktive, der Geist erleidet ihn, »lässt« Gott an sich handeln. In seiner Grundbestimmtheit ist der Mensch folglich passiv konstituiert. Der »Leib« mit seinen Gliedern bildet das letzte Element. Seine Werke sind nur »ubungen und prauch« (7,551,13) dessen, was die Vernunft bzw. Seele erkennt (und will) und der Geist glaubt. Leib ist der Mensch als sichtbares Tatwesen bzw. als »Ausführungsorgan des seelischen Weltverhältnisses«690. Luther verdeutlicht die anthropologische Trichotomie mit einer allegorischen Auslegung von 2.Mose 26,33 f. und 40,1 ff. In dieser »Figur« ist der Christenmensch dargestellt, denn Geist, Seele und Leib verhalten sich wie sanctum sanctorum, sanctum und atrium der Stiftshütte. Der Geist, das dunkle Allerheiligste, ist »gottis wonung ym finsternn glawben on liecht« (7,551,20)691, denn der Geist glaubt, was er weder sieht noch fühlt, noch begreift. Die Seele, dem Heiligen mit den sieben Leuchtern vergleichbar, besitzt »allerley vorstannt, underscheid, wissen unnd erkenntnisz der leiplichen, sichtlichen dinger« (7,551,22 f.). Der Körper (der »Vorhof«) ist jedermann offenbar, man kann sehen, was einer tut und wie er lebt. Es geht also – auf die Person gesehen – um einen fortschreitenden Weg von innen nach außen, vom Passiven zum Aktiven und im Blick auf die intendierten »Objekte« um einen Weg vom Unsichtbaren zum Sichtbaren. Wir erwähnten schon, dass der Geist als das Personzentrum über die Ausrichtung des ganzen Menschen bzw. über die anderen Vermögen entscheidet – oder präziser: im Geist wird darüber entschieden.692 Alles, der ganze Mensch, soll – wie Luther von 1.Thess 5,23 her ausführt – heilig sein. Aber: »Wenn der geist nit mehr heilig ist, szo ist nichts mehr heilig.« (7,551,28 f.) Die Heiligkeit des Geistes ist So Joest, Ontologie, 186. Und doch kann Luther den Glauben auch ein »höheres Licht« nennen (551). Beides widerspricht sich aber nicht: Der Geist besitzt kein eigenes Licht, ist ganz auf die Erleuchtung durch eine fremde Lichtquelle angewiesen. Und solch empfangenes Licht ist eben das Licht des Glaubens. 692 Vgl. 7,552,34–553,2: Wenn der Geist ausschließlich aus dem Glauben lebt, »mag darnach auch die seele und der leip on yrthum und bosze werck bleiben, sonst ists nit muglich, wo der geist glawblosz ist, das da die seel und gantzes lebenn nit unrecht und yrrhe gahen sollt«; Schott, Anthropologie, 588; Joest, Ontologie, 185, 187. 690 691

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also nicht mit ihm als solchem gegeben, sie ist vielmehr umstritten und gefährdet. Sie besteht ausschließlich im »blossen lautternn glawben« (7,551,30), also in der Passivität gegenüber Gott, im Sich-Empfangen von Gott her. Diese Heiligkeit geht aber dann verloren, wenn der Geist meint, sie aus den eigenen Werken und dem Tun heraus zu erlangen. Der Geist überträgt dann gleichsam das Wesen der Seele und des Leibes, nämlich das coram mundo legitime Handlungsprinzip zu sein, auf sich selbst bzw. auf das Stehen coram deo. Statt beide, Seele und Leib, zu bestimmen, lässt er sich von ihnen bestimmen, wird quasi ihr »Doppelgänger«.693 Damit fällt er aber aus seinem Wesen heraus, der Geist ist tot vor Gott, ist doch der Glaube verloren.694 Der Geist ist »glawblozs« (7,552,1) und damit – so könnte man sagen – Fleisch geworden. Wir fassen zusammen: In der Magnificat-Auslegung hat Luther erstmals klar und eindeutig die existentiell-soteriologischen Begriffe von den konstitutionellen unterschieden. Dadurch wird die Aussage möglich, dass Letztere sich jeweils auf jedes Moment der konstitutionellen Differenzierung bzw. den ganzen Menschen beziehen. Der Leib bzw. die Sinnlichkeit wird infolgedessen nicht abgewertet bzw. per se oder a parte potiori für die Sünde verantwortlich gemacht. Ja, der Ursprung der Sünde liegt vielmehr im »Geist«, sie ist primär eine »Krankheit im Geist« (Kierkegaard), und zwar so, dass der Geist sich das Wesenselement von Seele und Leib, das Handeln, auch coram deo zu eigen macht. Im Guten wie im Bösen ist somit die zentrale Stellung des (geistigen) Personzentrums klar herausgestellt. Obwohl Luther im anthropologischen Exkurs der Magnifikat-Auslegung auf das simul nicht Bezug nimmt – die Daseinsmächte »Fleisch« und »Geist« werden eher als sich ablösende Lebensstadien verstanden –, ist gleichwohl durch ihn die Voraussetzung geschaffen, das simul iustus et peccator im anthropologischen Sinn als Zugleich von Geist und Fleisch bzw. zweier Streberichtungen, die jeweils den ganzen Menschen betreffen, auszusagen.695 Wenn Luther das Begriffspaar Vgl. E. Jüngel, Freiheit, 133 f. Vgl. 7,551,29–552,4: «Nu ist der groste streit unnd die groste far ynn des geistis heilickeit, wilche nur ynn dem blossen lauternn glawben steet, die weil der geyst nit mit begreiflichen dingen umbgaht […]. Szo kommen denn falsche leerer unnd locken den geist erausz, einer gibt fur das werck, der ander die weisze, frum zu werden. Wo denn der geist hie nit bewaret wirt und weisze, ist, szo fellet er erausz und folget, Kumpt auff die eußerlichen werck und weißen, und meinet da mit frum zu werden: so bald ist der glawb verlorenn und der geist tot fur got.« – Man wird bei der von Luther ins Auge gefassten Pervertierung des Geistes neben dem Vertrauen auf das eigene Tun auch das damit eng verbundene Vertrauen auf das Sichtbare und Verfügbare einschließen dürfen. Denn Luther betont stark, dass der Glaube sich auf das Unsichtbare richtet. Dass es geradezu das Kennzeichen des Fleisches ist, aus dem Sichtbaren und Fühlbaren zu leben, betont Schott, Fleisch, 6–13, 20–36; ders., Anthropologie, 588 f. 695 7,550,26 f. heißt es nur: »Die natur hat drey stuck: geist, seel, leip, und mugen alle sampt gut oder bosz sein, das heist denn geist und [d. h. oder] fleysch sein.« Das ist insofern mit der simul-Struktur des Christen kompatibel, als bei diesem die bestimmende Macht der Geist ist. 693 694

Anthropologie 341 Fleisch und Geist wieder biblisch als Aussagen über den totus homo auslegt, d. h. über die Grundausrichtung der Person, sie also nicht mehr als Dualismus von Geist und Leib auffasst, so gibt er damit dennoch nicht den Wahrheitsgehalt der trichotomischen bzw. dichotomischen Teilung des Menschen auf.696 Freilich lässt sich bei ihm die Tendenz erkennen, die Konstitutionsbegriffe weniger als Teile, Elemente oder Bereiche im Menschen zu denken, sondern sie als Relationen zu begreifen, in denen jeweils der ganze Mensch steht. Dies wird z. B. daran sichtbar, dass für Luther Geist und Seele im Grunde eins sind, sie sich nicht »nach der natur«, sondern nur dem »werck« nach unterscheiden (7,550,35 f.): Seele ist der Geist in einer anderen Relation bzw. Funktion. Nimmt man weiter hinzu, dass Seele und Leib sich gleichermaßen auf den Weltbezug des Menschen richten, so steht hinter Luthers Dreiteilung letztendlich die Zweiheit von Gottes- und Weltrelation.697 Darüber hinaus sollte speziell der »Geist« als Chiffre für die Bezogenheit auf Gott nicht als »Vermögen« oder »Kraft« im Menschen interpretiert werden, ist er doch gerade der »Ort« des passiven Konstituiertseins durch Gott im Glauben, hier »kann« der Mensch nichts.698 Der Geist steht somit letztlich für die konstitutive Relationalität und Bezogenheit des ganzen Menschen auf Gott, die zwar als Bestimmung zum Wesen des Menschen gehört, deren Verwirklichung im Glauben aber nicht per se gegeben ist, sondern sich erst in der Begegnung mit dem Wort Gottes einstellt. Vorher ist diese Bestimmung je schon im Unglauben pervertiert. Dass Luther diese Bezogenheit auf Gott, die auch im Unglauben nicht abgestreift wird, mit dem Geistigen und Innerlichen zusammenbringt, will also nicht sagen, dass diese Sphäre per se schon in der »richtigen« Gottesbeziehung stünde, sondern qualifiziert die Gottesrelation als die eigentliche Wesensbestimmung des Menschen.

Das betont auch zur Mühlen, Mensch, 204. Zum diesbezüglichen Befund in der Disputatio de homine (1536) vgl. Joest, Ontologie, 188–193, 202–210. 698 Das hebt Joest, Ontologie, 185, hervor: Heißt der Ort des Glaubens »Geist«, »so ist dieser Begriff hier jedenfalls durchaus ent-intellektualisiert und überhaupt von der Vorstellung einer aktiven Potenz entleert. Man möchte sagen: er ist wirklich nur noch ›Ort‹.« Vgl. ebd., 215 f., wo Joest die geistliche Entscheidungssphäre als »Einheit von Ort und Vollzug« charakterisiert. »Vollzug« meint dabei wesentlich das Angegangenwerden des Menschen von Gott oder Satan, spiritus oder caro. – Wenn Luther sagt, dass er in dem anthropologischen Abschnitt der Magnificat-Auslegung nur von der Teilung der Natur nach, nicht aber der Eigenschaft nach handeln will, dann besteht die Pointe seiner Ausführungen gerade darin, dass Ersteres streng genommen ohne das Zweite gar nicht möglich ist, weil die ontologische Struktur des Menschen ganz davon lebt, welchen soteriologischen Daseinsmächten sie untersteht. Eine in sich bestehende neutrale, soteriologisch nicht qualifizierte anthropologische Verfasstheit gibt es nicht, auch nicht im Blick auf den Geist oder die Vernunft. Vgl. Ebeling, Lutherstudien II/2, 247–250. Ebd., 267 f., spricht Ebeling von der Aufsprengung der »Anthropologie der Seelenvermögen« zu einer »Anthropologie der Daseinsmächte«. 696 697

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In Luthers Aussage, dass die Grundbestimmtheit des Geistes in Glaube oder Unglaube auch über Leib und Seele, also über den ganzen Menschen entscheidet, ist eine Bewegung von innen nach außen, eine fortschreitende »Inkarnation des Glaubens«699 in alle Personbereiche impliziert. Die Vorstellung ist die, dass die »geheilte«, zu ihrer Bestimmung gebrachte Gottesbeziehung als das Innere sich »nach außen« auswirkt. Die Frage ist nun, wie sich dieses Denkmodell zu Luthers anderem Gedanken verhält, wonach der Mensch zeitlebens in dem Sinn Sünder und Gerechter bleibt, dass alle Dimensionen der Person davon betroffen sind, also doch auch der Geist bzw. die Gottesrelation, in der neben dem Glauben immer auch der Unglaube anzutreffen ist (totus spiritus – totus caro). Alle Dimensionen des Menschen bedürfen demnach der fortschreitenden Durchdringung durch den Gottesgeist.700 Vielleicht könnten beide von Luther verwendete und nicht ganz kongruente Denkmodelle so miteinander verbunden werden, dass einerseits jene Inkarnationsbewegung, jene Richtung von innen nach außen, vom Personzen­ trum in die Peripherie ihr Recht behält, andererseits es aber doch dabei bleibt, dass auch der »Geist« (bzw. das »Herz«) unter dem simul von Sünde und Gerechtigkeit, vom Wollen des Guten und des Bösen steht: Die Heilung des Menschen setzt zwar im »Geist« bei der Gottesbeziehung an und wirkt sich von da aus fortschreitend auf die anderen Dimensionen der Person (Vernunft, Wille, Leib) und deren Weltbezüge aus, aber auch der »Geist« ist weiterer Heilung bedürftig. Dabei kann es durchaus offen bleiben, ob solches »Nacheinander« nur im logischen oder auch zeitlichen Sinn zu verstehen ist. Nur darf diese Interpretation nicht ausschließen, dass trotz der behaupteten Priorität des Geistes auch dieser noch vom simul betroffen bleibt. Andernfalls wäre doch wieder eine Höherwertigkeit des Geistigen vor dem Leiblichen im Blick auf das Heil behauptet.

Vgl. Joest, Gesetz, 104–108. Zu ersterem Denkmodell vgl. 2,497,18–498,13, bes. 498,18–21.38 f.: »Fides enim ipsa, ubi nata fuerit, hoc sibi negotii habet, ut reliquum peccati e carne expugnet […], ut lex dei non modo in spiritu et corde placeat et impleatur, sed et in carne. […] qui [homo interior] deo conformis persequitur, odit et crucifigit peccatum in carne sua«; 562,9 ff.; 570,5–20; 576,24–31; 10 I/1,233,7–12; 39 II,243,30–34; beide Sichtweisen unausgeglichen nebeneinander: 2,414,29–415,17. Einerseits wird hier die auf den totus-homo zielende Bedeutung von caro und spiritus und deren Simultaneität im Getauften herausgestellt (415,10 f. durch ein Bild veranschaulicht: »Sic sanitas et morbus iuxta sunt in eodem copore aut eodem loco carnis«), andererseits aber betont: »Fermentum novum, quae est charitas, rursum miscetur huic fermento veteri, ut ipsum e toto homine eiiciat, primum de corde, deinde de toto copore et omnibus membris.« Vgl. zum Ganzen Schloenbach, Heiligung, 56 f.: »Die Herrschaft [des Glaubens], die den Menschen ganz umfaßt, gewinnt ihm wohl keine Provinzen hinzu. Doch die vorhandenen kann sie stärker durchdringen. […] Allerdings gibt es […] bei Luther eine Reihe von Aussagen, die doch das Bild einer gebietsweisen Eroberung des Menschen durch den Glauben nahelegen. Und die zudem auch eine Reihenfolge solchen Durchdringens angeben, von der man z. T. nicht ohne weiteres sagen kann, sie sei nur logisch, nicht auch zeitlich gemeint«; Peters, Mensch, 48 f. 699 700

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5.5.2.2. Freiheitstraktat (1520) a) Totus-homo-Anthropologie oder doch Substanzdualismus? Mit diesen Ergebnissen, gewonnen durch eine Interpretation des anthropologischen Exkurses der Magnificat-Auslegung, wenden wir uns nun Luthers ein Jahr vorher geschriebenem Traktat »Von der Freiheit eines Christenmenschen« zu.701 Dies geschieht vor allem deshalb, weil die Anthropologie dieser zentralen Lutherschrift entweder den Erkenntnisstand der Magnificat-Auslegung noch nicht erreicht zu haben scheint – oder bei Luther weiterhin diesbezüglich eine sachliche Unklarheit bzw. Unentschiedenheit vorliegt. Der Verdacht, der sich aufdrängt, lautet: Hält Luther nicht doch – allen Beteuerungen etwa im Galaterkommentar von 1519 zum Trotz – am platonischen Leib-Seele-Dualismus fest702 und sieht das Geistig-Seelische näher und enger mit dem Heil verbunden, wogegen das Leibliche ihm bleibend und vorrangig der Sitz der Sünde ist? Damit wäre auch das simul iustus et peccator in seinem anthropologisch-partialen Sinn dem Gegensatz von Geist bzw. Seele und Leib angenähert. Ein weiterer Grund, auf den Freiheitstraktat einzugehen, liegt in dem in der Forschung bis heute kaum hinreichend wahrgenommenen Tatbestand, dass zu den verschiedenen von Luther zur Beschreibung des Christenmenschen eingeführten und zugleich geltenden Distinktionen auch die Distinktion »Sünder und gerecht« gehört.703 Und die Pro-

Er liegt uns in einer längeren lateinischen und kürzeren deutschen Fassung vor, wobei noch immer strittig ist, welche Fassung zuerst entstanden ist. In seinem Kommentar zur Freiheitsschrift (5–12) votiert Rieger mit plausiblen Gründen für die Priorität der deutschen Version. Da es uns nicht auf einen Vergleich beider Versionen ankommt, sondern auf die Erhebung der Sachposition Luthers, verwenden wir sowohl den lateinischen als auch den deutschen Text, je nachdem, welcher klarer erscheint oder exklusiv einen bestimmten Gedanken bringt. Einen Vergleich führen wir nur dann durch, wenn gewichtige Unterschiede zwischen beiden Fassungen vorliegen. Zur Interpretation der Freiheitsschrift vgl. Maurer, Freiheit, bes. 48–78; Jüngel, Freiheit, bes. 115–160; Ebeling, Lutherstudien II/2, 250–256; zur Mühlen, Nos extra nos, 268–273; ders., Bedeutung; Gebhardt, Heil, 77–117, bes. 83–91; K. Bornkamm, Christus, 159–214; Rieger, Freiheit; ferner die Aufsätze von Korsch, Ringleben, Saarinen, Holm und Liedke in: NZSTh 40 (1998), 139–213. 702 So Korsch, Freiheit, 143. 703 Erkannt ist dies bei Maurer, Freiheit, 50, 56 f., 64. Maurer betont die Verwurzelung des simul in der bei Luther radikalisierten christologischen Zweinaturenlehre: Christus, Gott und Mensch, ist in Übernahme der menschlichen Sünde nach seiner menschlichen Natur selbst zum Sünder geworden. Damit gilt auch für ihn das »Gerecht und Sünder zugleich«, so aber, dass er durch Vernichtung der Sünde kraft seiner Gerechtigkeit den Gegensatz bei sich augenblicklich (je neu) aufhebt und ihn gerade dadurch beim Sünder lebenslang konstituiert. Vgl. 57: »Während nun beim Menschen das ›simul iustus et peccator‹ zeitlebens Gültigkeit behält […], wird in Christus jene unerträgliche Spannung augenblicklich und total beseitigt, um dann freilich in jedem neuen Liebesakt stellvertretenden Eintretens für den Sünder von neuem akut zu werden.« Auch Rieger, Freiheit, 60 f., 68–80, 87, 238, stellt heraus, dass neben dem Gegensatzpaar Freiheit/Knechtschaft das von Gerechtigkeit und Sünde, auch als simultanes, Luthers Schrift durchzieht. Wicks, 701

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blematik des Textes – so könnte man sagen – liegt gerade in ihrem Verhältnis zu den anderen Differenzierungen. Bekannt ist Luthers markante Doppelthese von Freiheit und Dienstbarkeit des Christen zu Beginn des Traktats, hinter der – wie in der Folge deutlich wird – die Unterscheidung von Glaube und Liebe bzw. von Person und Werk steht: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr ueber alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman untertan.« (7,21,1–4) Um die Vereinbarkeit dieser zugleich geltenden und deshalb zunächst widersprüchlich erscheinenden Gegensätze aufzuweisen,704 rekurriert Luther auf die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen bzw. von Leib und Seele,705 die aber – und das ist das Problematische – sofort mit soteriologischen Wertungen verbunden wird, oder in der Terminologie der Magnificat-Auslegung gesprochen: Die Teilungen nach der »Natur« und nach der »Eigenschaft« werden vermischt oder doch ihre Elemente zumindest eng einander zugeordnet: »Diße zwo widderstendige rede der freyheyt und dienstparkeyt zuvornehmen, sollen wir gedencken, das eyn yglich Christen mensch ist zweyerley natur, geystlicher vnd leyplicher. Nach der seelen wirt er eyn geystlich, new, ynnerlich mensch genennet, nach dem fleysch vnd blut wirt er eyn leyplich, allt vnd eußerlich mensch genennet. Und umb dißes vnterschiediß willen werden von yhm gesagt yn der schrifft, die do stracks widdernander seyn, wie ich itzt gesagt, von der freyheyt und dienstparkeit.« (7,21,11–17) Der Seele korrespondiert also der neue, innerliche Mensch, dem Leib der alte und äußere Mensch, wobei »innerlich« und »äußerlich« zwischen allgemein anthropologischer und soteriologischer Bedeutung schillert. Interessante Nuancen bietet der lateinische Text: »Homo enim duplici Living, 76 f., geht freilich zu weit, wenn er die Paradoxie von Freiheit und Knechtschaft mit der des simul iustus et peccator identifiziert. 704 Dass es – in verschiedener Hinsicht – um die simul-Thematik geht, lässt sich auch daran festmachen, dass Luther neben 1.Kor 9,19; Röm 13,8; 2.Kor 4,16 (nur im lateinischen Text) als Beleg für die Dialektik des Christenmenschen auch Gal 4,4 heranzieht sowie in der lateinischen Version auf Phil 2,6 f. anspielt. Dadurch wird die christologische Analogie der Zwei-Naturen-Lehre bemüht, auf die Luther beim simul oft rekurriert: »sic et Christus, quanquam omnium dominus, factus tamen ex muliere, factus sub lege, simul liber et servus, simul in forma dei et in forma servi.« (7,50,2 ff.) Vgl. auch die Formulierung der Doppelthese in der die Vorlage für den Freiheitstrakt bildenden Auslegung von Ps 13 (14),1 in den Operationes in Psalmos (1519–1521), 5,392,5–408,24, hier 407,42–408,3: »Vide ergo, quam omnia sunt libera nobis per fidem et tamen omnia serva per charitatem, ut simul stet servitus libertatis et libertas servitutis, quod nulli quicquam debemus, nisi ut diligamus invicem.« Dazu Maurer, Freiheit, 11–48; Rieger, Freiheit, 32 ff. 705 Vgl. dazu H. Bornkamm, Mensch; zur Mühlen, Mensch. Dass insbesondere der Begriff des inneren Menschen bei Luther später zurücktritt, führt zur Mühlen, ebd., 207; ders., Nos extra nos, 272 f., neben dem Interesse an der Ganzheit des Menschen auf die Verwendung dieses Begriffs im Sinne unmittelbarer Geisteinwirkung bei den Täufern und Spiritualisten zurück. Luther weiche auf Alternativbegriffe wie Person, Herz und Gewissen aus.

Anthropologie 345 constat natura, spirituali et corporali; iuxta spiritualem, quam dicunt animam, vocatur spiritualis, interior, novus homo; iuxta corporalem, quam carnem dicunt, vocatur carnalis, exterior, vetus homo.« (7,50,5–8) Luther beruft sich dafür – im deutschen Text fehlt dieser Schriftbeleg – auf 2.Kor 4,16 und fährt dann fort: »Haec diversitas facit, ut in scripturis pugnantia de eodem homine dicatur, cum et ipsi duo homines in eodem homine sibi pugnent, dum caro concupiscit adversus spiritum, et spiritus adversus carnem.« (7,50,10 ff.) Die lateinische Fassung spricht – anders als die deutsche – allgemein vom homo, nicht vom Christenmenschen und unterstreicht damit, dass es bei der zweifachen Natur um eine fundamental-anthropologische Unterscheidung geht,706 ordnet aber eben deshalb auch um so eindeutiger die soteriologischen Begriffspaare den allgemein menschlichen Unterscheidungen zu. Mit der Bezugnahme auf Gal 5,17 ist vollends klargestellt, dass es bei dem widersprüchlichen Zugleich im Christen auch um das von Sünde und Gerechtigkeit bzw. der zwei konträren Willenstendenzen in ihm geht. Das belegt auch die uns schon im Galaterkommentar von 1519 begegnete Wendung von den zwei sich bekämpfenden Menschen in dem einen Menschen. Das Zugleich von Freiheit und Dienstbarkeit im Christen, von Glaube und Liebe (bzw. Person und Werk) hat also auch etwas mit dem Zugleich von gerecht und Sünder zu tun.707 Und die zentrale Frage ist, wie sich gerade Letzteres zu den »natürlichen« Distinktionen von innen und außen, von Seele und Leib verhält. Als unstrittig darf dabei wohl gelten, dass Luther im Freiheitstraktat ausschließlich dichotomisch denkt, während er in der späteren Magnificat­ auslegung trichotomisch argumentiert. Dies lässt aber vermuten, dass 1520 der Begriff Seele (anima) für das steht, was 1521 dann der Begriff Geist leisten soll, was wiederum zur Folge hätte, dass die Funktion der Seele im Sinne der Magnificatauslegung in der Freiheitsschrift noch dem äußeren Menschen bzw. dem Leib zugeordnet wäre. Dies an sich stellt schon eine bedeutsame Korrektur des traditionellen Leib-Seele-Dualismus dar. Lässt sich das angesprochene Problem – die unbefriedigende und Luthers doch 1519 schon erreichten Reflexionsstand unterbietende und 1521 klar aufgegebene Vermischung der beiden Begriffsreihen (allgemein anthropologisch: Seele/Leib; soteriologisch: Geist/Fleisch) durch eine weitere Analyse des Freiheitstraktats aufhellen?708 Das »vocatur« zeigt an, dass Luther bei der Begrifflichkeit in (neu)platonisch, augustinisch-mystischer Tradition steht, wie er überhaupt zu erkennen gibt (»dicant«), dass er traditioneller Terminologie folgt. Dazu Jüngel, Freiheit, 126, 157–160; zur Mühlen, Mensch, 199 ff. 707 Vgl. Ebeling, Freiheit, 166: »Was den Anschein eines allgemein anthropologischen Dualismus erweckt, wird jedoch von Luther sogleich paulinisch auf das Widereinander von altem und neuem Menschen gedeutet, auf einem Kampf ›zweier Menschen in demselben Menschen‹.« Ähnlich ders., Lutherstudien II/2, 251 f. 708 Eine frühe Vorstufe zur Dialektik der Freiheitsschrift findet sich im Scholion zu Röm 13,1 der Römerbriefvorlesung: 56,476,2–26; 480,18 ff. Luther visiert hier, obschon in vielem noch undeutlich, offenbar folgende Konzeption an: Die anima steht für die Personmitte 706

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b) »Innerer Mensch« Wir setzen bei der Rede von der Seele bzw. dem inneren Menschen ein. Anders als der deutsche Text nimmt sich die lateinische Version die Frage vor, »qua nam ratione [homo] iustus, liber, vereque Christianus, hoc est spiritualis, novus, interior homo, fiat« (7,50,13 ff.). Der innere Mensch ist offenbar nicht immer schon gegeben bzw. in seiner Fülle und Vollendung nicht immer schon da, sondern er wird.709 Wodurch aber »wird«, entsteht der geistliche Mensch? Luther legt alles Gewicht darauf, »das keyn eußerlich ding mag yhn frey, noch frum machen […], denn seyn frumkeyt und freyheit, widerumb seyn boeßheyt und gefenckniß, seyn nit leyplich noch eußerlich. […] Dißer ding reychet keyniß bis an die seelen, sie zu befreyhen oder fahen, frum oder boeße zu machen.« (7,21,20–27) Diese Stelle sagt nicht nur, dass weder äußere Freiheit noch Gesundheit oder Nahrung, noch religiöse Übungen oder gute Werke den inneren Menschen frei machen bzw. deren Gegensätze ihn unfrei machen, sondern noch viel grundsätzlicher, dass auch in der Seele, im inneren Menschen die Alternative von Freiheit und Unfreiheit besteht, diese also nicht einlinig dem äußeren Menschen zugeordnet werden kann. In der Seele selbst fällt die Entscheidung zwischen Freiheit und Gefängnis, sie kann fromm (= gerecht, gut) oder böse sein. Die Seele ist also nicht per se gut oder im Heil, sondern sie ist der Ort der Entscheidung zwischen diesen Alternativen, so wie Luther in der Magnificat-Auslegung den Geist in dieser Entscheidung stehen sieht. Die Sünde als Knechtschaft kann also auch die Seele besetzen! Freiheit und Frömmigkeit müssen der Seele – und zwar durch kein »äußerlich Ding« – allererst »gebracht« und »gegeben« werden (7,21,34), weil sie je schon verloren sind.710 Was die Seele nun wirklich fromm und frei macht, ist das Wort Gottes als das Evangelium von Christus: Es »hatt die seele keyn ander dinck, widder yn hymel noch auff erden, darynnen sie lebe, frum, frey und Christen sey, den das heylig Evangely, das wort gottis von Christo geprediget. […] on das wort gottis ist yhr mit keynem ding beholffen. Wo sie aber das wort hatt, ßo darff sie auch keyneß andern dings mehr.« (7,22,3–12) Das Wort Gottes begegnet der Seele freilich in des Menschen, welche durch zwei Relationen zugleich bestimmt ist: »secundum spiritum« (Gottesrelation) und »secundum corpus« (Relation zur Welt). Spiritus und corpus werden also nicht als anthropologische Bereiche, sondern als Lebensbeziehungen interpretiert und ihnen die Freiheit im Glauben und die Dienstbarkeit an der Welt zugeordnet: »Anima est medium inter corpus et Spiritum; Vt ergo ostendat [Paulus], Quod fidelis simul et semel est exaltatus super omnia et tamen subiectus, Et sic gemellus duas in se formas habens, sicut et Christus. Nam secundum spiritum est super omnia.« (56,476,5–8) Vgl. Joest, Ontologie, 167–173, bes. 170; Rieger, Freiheit, 19–22. 709 Im deutschen Text soll nur geklärt werden, was dazu gehört, »dass er [der inwendige, geistliche Mensch] eyn frum, frey, Christen mensch sey und heysse.« (7,21,19 f.) Ansonsten besteht zwischen beiden Fassungen gleichwohl kein Unterschied. 710 Der innere Mensch ist der Entscheidungsort zwischen Glaube und Unglaube: 7,51,35– 52,4. Vgl. Bayer, Kritik, 26; Jüngel, Freiheit, 127–135; zur Mühlen, Bedeutung, 333 f.; Liedke, Freiheit, 210 f.; Gebhardt, Heil, 88 f.

Anthropologie 347 doppelter Gestalt: als das Wort des die Sünde aufdeckenden und den Menschen schuldig sprechenden Gesetzes711 und als das Wort der »vorheyschung und zusagung« (7,24,10)712: »Das du aber auß dir und von dir, das ist auß deynem vorterbenn, kommen mügist, ßo setzt er dir fur seynen lieben ßon Jhesum Christum, vnd leßsit dir durch seyn lebendigs trostlichs wort sagen: Du solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben, vnd frisch ynn yhn vortrawen. So sollen dir vmb desselben glaubens willen alle deyne sund vorgeben, alle deyn vorterben vberwunden seyn.« (7,22,31–23,2) Das, was das Wort des Evangeliums schenkt und bringt, wird der Seele also im Glauben zugeeignet, ja geht in sie ein und vereinigt sie damit, so dass sie Anteil erhält an dem, was sie glaubt. Unser Zitat spricht deutlich aus, dass alles in uns, also auch die »höchsten Produkte des Seelischen«713 außerhalb des Glaubens vor Gott nichts sind, alles im Menschen dem Verderben preisgegeben und der Sünde unterworfen ist.714 Man wird von diesen Textbelegen her deshalb mit vollem Recht behaupten können, dass der geistliche Mensch, die Seele für Luther – analog wie später der Begriff des Geistes – für den ganzen Menschen in seiner Relation zu Gott steht, für die Personmitte des Menschen, in der die geistliche Grundentscheidung zwischen Glaube und Unglaube fällt.715 Dabei wird Luther nicht müde zu betonen, »dass allein der glaub on alle werck frum, frey und selig machet« (7,23,27), die Seele sich im Glauben also wesentlich passiv »verhält« oder – wie Luther in einer schönen Wendung sagt: sie »lessit mit yhr handeln wie er [Gott] will« (7,25,13).716 Luther betont, dass die Seele nichts außer dem Wort habe, worin sie lebe, fromm und frei sei.717 Man könnte dies nun dahin verstehen, dass die Seele durch das Wort im strengen Sinn als Seele eigentlich erst entsteht bzw. konstituiert wird.718 Sie lebt sozusagen erst in der Relation zum Wort Gottes auf und ist nicht

Vgl. 7,22,26 ff.: »[…] Wie alle deyn leben und werck nichts seyn fur gott, sondern mueßist mit allen dem das ynn dir ist ewiglich vorterben.« 712 Zu dieser Doppelgestalt des Wortes vgl. 7,23,24–24,21. 713 Ebeling, Freiheit, 166. 714 Vgl. 7,50,32 ff.: »Et ut omnia reiiciamus, etiam speculationes, meditationes et quicquid per animae studia geri potest nihil prodest. Una re eaque sola opus est ad vitam, iustitiam et libertatem Christianam. Ea est sacrosanctum verbum dei, Evangelium Christi«; 51,27 ff.: »Ideo dum credere incipis, simul discis, omnia quae in te sunt esse prorsus culpabilia, peccata, damnanda.« Dazu Ebeling, Lutherstudien II/2, 255: »Denn so, wie er [der homo interior] von sich aus je schon ist, ist er der vetus homo.« 715 Vgl. auch 7,51,35: »Cum ergo haec fides non nisi in interiore homine regnare possit […].« 716 Gebhardt, Heil, 86: Die »Unverfügbarkeit und Passivität scheint der entscheidende Aspekt des ›inneren‹ Menschen zu sein«. 717 Vgl. auch 7,51,22 f.: »Ideo clarum est, ut solo verbo anima opus habet ad vitam et iustiam, ita sola fide nullis operibus iustificatur.« 718 So Ringleben, Freiheit, 161. Vgl. 28,180,2 f.: »Ubi enim fides non est, ibi non internus homo.« 711

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eine natürlich, d. h. von der Schöpfung her gegebene »Region« in der menschlichen Person. Gleiches gälte dann für den inneren Menschen, der gerade als innerer von außen her konstituiert wird.719 Eine solch radikale Lösung würde natürlich die enge Verquickung des anthropologischen Begriffs Seele mit den positiv soteriologischen Wertungen wie neuer, innerer bzw. geistlicher Mensch erklären und Luther vom Verdacht einer Repristinierung des platonischen Dualismus befreien. Sie könnte sich zudem auf den deutschen Text berufen: »ein yglich Christen mensch ist zweyerley natur, geistlicher und leyplicher.« (7,21,12 f.) Jedoch hat diese »Lösung« klar die lateinische Version gegen sich: »Homo enim duplici constat natura, spirituali et corporali« (7,50,5 f.), von dem zur anthropologischen Dreiteilung der »Natur« nach in der Magnificat-Auslegung sich einstellenden Widerspruch einmal ganz abgesehen. Dies alles zusammengenommen spricht doch dafür, dass eine solche Engführung nicht Luthers Meinung sein kann. Vielmehr geht er davon aus, dass Seele bzw. innerer Mensch zu sein, dem Menschen einerseits schon von Natur aus, d. h. von der Schöpfung her zukommt. Er ist als Mensch das Wesen coram deo, d. h. das Wesen, das in einer solchen Bezogenheit auf Gott existiert, die darauf angelegt ist, in einer bewussten Beziehung zu Gott gelebt zu werden. Nur dass diese Beziehung gerade durch die Sünde bzw. den Unglauben faktisch von Seiten des Menschen je schon gestört und pervertiert ist, so dass sie in ihm nur noch als seine nicht abzustreifende Bestimmung »fortlebt«. Und es ist andererseits genau jene im Glauben sich ereignende Begegnung mit dem Wort und mit Christus, in welcher diese Bezogenheit auf Gott ihre Erfüllung und Identität findet, so dass dann die Seele, der innere Mensch allererst in ihr wahres Wesen gekommen sind und man doch gerade so ein »anderer Mensch« (vgl. 7,51,32 f.) bzw. neu geboren wird. Dadurch wird auch das terminologische Schwanken zwischen Christenmensch und Mensch überhaupt erklärlich, ja darüber hinaus erhellt sogar, wieso Luther Seele, innerer, neuer und geistlicher Mensch so eng zusammenbringen kann, ohne konstitutionelle und existentiell-soteriologische Begriffe zu identifizieren.720

Vgl. Ebeling, Freiheit, 166: »Es genügt also nicht etwa der bloße Rückzug in die Innerlichkeit; ein solcher hält vielmehr den alten Menschen gerade bei sich selbst fest.« Ferner Jüngel, Freiheit, 133 ff.; zur Mühlen, Mensch, 207. Die Externität des Wortes Gottes ist also von dem »äußerlich Ding«, das der Seele nicht helfen kann, abzuheben. 720 Diese Interpretation vertritt letztlich auch Gebhardt, Heil, 88 ff., bes. 90: »Die Pointe der Freiheitsschrift besteht […] gerade darin, dass das, was schöpfungsmäßig gewollt ist, sich soteriologisch erfüllt. Das Menschsein entspricht im Heilwerden und im Freiwerden seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung.« Siehe auch H. Bornkamm, Mensch, 196–199, der einerseits betont, dass der innere Mensch »kein Stück des Ich« ist, sondern erst durch das Wort geschaffen wird, andererseits aber annimmt, dass der Mensch von der Schöpfung her unwiderruflich »Gewissen« ist. 719

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c) »Äußerer Mensch« Wir wenden uns jetzt zur weiteren Klärung unserer Problemstellung dem Begriff des Leibes bzw. äußeren und alten Menschen zu. Der hier aufkommende Verdacht liegt darin, dass eben doch das Leibliche, Triebhafte, gar Sexuelle als primärer Ort oder Einfallstor der Sünde verstanden wird. Die Frage nach dem simul tangiert dies insofern, als Luther im zweiten, dem leiblich-äußeren Menschen gewidmeten Teil der Freiheitsschrift über die bleibende Sünde des Christenmenschen spricht. Was aber versteht Luther unter dem Leib bzw. äußeren Menschen? Während der innerliche Mensch zu seiner Freiheit und »heubt gerechtigkeit« (7,29,32) keines Gesetzes noch Werkes bedarf, ist der Leib offenbar der Ort und Bereich der Werke und des Handelns. Schon zu Beginn der Schrift hieß es, dass der Seele nicht durch all die guten Werke geholfen ist, »die durch und ynn dem leybe geschehen mochten ewiglich« (7,21,32 f.).721 Der äußere Mensch ist für Luther folglich sehr wohl der Leib bzw. Körper, den man sehen und sinnlich wahrnehmen kann und welcher Ort und Organ bzw. Instrument des Handelns ist. Die Thematisierung des äußeren Menschen vermag deshalb auch dem gegnerischen Einwand gegen die Rechtfertigung allein aus Glauben zu begegnen, dass, diese vorausgesetzt, nicht mehr einzusehen wäre, warum die Werke geboten seien und woraus sich eine sittliche Verpflichtung ableiten ließe. Denn Luther begründet die Notwendigkeit, im und durch den Leib zu handeln, mit der aus der Rechtfertigungslehre herrührenden und den Werdecharakter des christlichen Lebens artikulierenden Terminologie für die Spannung von »schon und noch nicht«: »Es wer wol also [dass wir nichts tun müssten], wen du allein ein ynnerlich mensch werist, und gantz geystlich und ynnerlich worden, wilchs nit geschicht biß am Juengsten tag. Es ist und bleybt auff erden nur ein anheben und zu nehmen, wilchs wirt in yhener welt volnbracht. Daher heyssets der Apostell primitias spiritus, das sein die ersten fruecht des geysts.« (7,30,3–7)722 Genau in jener Situation des gesetzten Anfangs bei noch ausstehender Vollendung liegt für Luther nun die jedermann dienstbare, sich in vielfachem Tun manifestierende Knechtschaft des Christen begründet, obwohl er doch, sofern er im Glauben frei ist, nichts zu tun hat. Wie die verwendete Begrifflichkeit nahelegt, gründet die Notwendigkeit des Handelns zunächst aber in der bleibenden Sünde des Christenmenschen: Obwohl im Glauben frei und vollkommen gerechtfertigt, ist er noch Sünder, noch nicht ganz geistlich und innerlich. Er kämpft zwar schon gegen die Sünde, und es gibt diesbezüglich auch (allerdings nicht in die Gerechtigkeit vor Gott einfließende) Fortschritte, aber dieser Kampf gegen die Sünde währt bis zum Jüngsten Tag. Zum anderen hat Luther Vgl. 7,50,26 f.: »opus quodcunque per corpus et in copore fieri potest«. Vgl. 7,59,28–33: »Vere quidem sic haberet res ista [dass wir nicht handeln müssten], si penitus et perfecte, interni et spirituales essemus, quod non fiet, nisi in novissimo die resurrectionis mortuorum: donec in carne vivimus, non nisi incipimus et proficimus, quod in futura vita perficietur, propter quod Apostolus Ro.8. [23] appellat primitias spiritus, quod in hac vita habemus, accepturi scilicet decimas et plenitudinem spiritus in futuro.« 721

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als zweiten Grund für die Notwendigkeit christlichen Handelns den Nächsten und seine Not im Blick: Der Christ ist dienstbarer Knecht und jedermann untertan. Dass er noch nicht ganz geistlich und innerlich geworden ist, bedeutet deshalb auch, dass das irdische Leben noch weitergeht723 und immer wieder vor Situationen des liebenden Dienstes am Mitmenschen stellt. Luther fasst diese beiden Handlungsbegründungen anschließend auch explizit zusammen: »So bleybt er [der nach der Seele durch den Glauben gerechtfertigte Mensch] doch noch ynn dißem leyplichen lebenn auf erdenn, und muß seynen eygen leyp regiern vnd mit leuthen umbgahen. Da heben sich nu die werck an.« (7,30,14 ff.)724 Ist der Mensch der Seele nach in seiner Relation zu Gott in den Blick genommen, so steht der Leib für seine aktiv zu gestaltende Relation zur Welt und den Mitmenschen.725 Gleichwohl ist der Leib auch Anlass und Ort eines Selbstverhältnisses, insofern der Mensch an ihm seiner bleibenden Sünde ansichtig wird und ihn deshalb »regieren« muss. Dass Luther die bleibende Sünde hier an den Leib bindet, ist nicht zu übersehen und wird in der Forschung oft zu schnell übergangen.726 Dennoch ist es eindeutig: Auf den Leib sich richtende Askese (Fasten, Wachen, Arbeiten und sonstige Disziplin) gründet für Luther zwar nicht mehr in der Gewinnung des Heils, aber eben im Zurückdrängen und Bekämpfen der als Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit bleibenden Sünde.727 Es gilt, den Leib und Diesen Sinn hat – über die Bedeutung von Leib hinausgehend – die Wendung der lateinischen Version: »donec in carne vivimus«. Vgl. auch 5,401,22–25; 402,29 f.: Menschliche Zeremonien sind notwendig, weil wir »in corpore«, im irdischen, sozial verfassten Leben stehen. Sie sind freilich auch dem eigenen corpus dienlich: 401,30 ff. 724 Vgl. 7,60,1 f.: »Tamen [homo] manet in hac vita mortali super terram, in qua necesse est, ut corpus suum proprium regat, et cum hominibus conversetur.« – Die eine Simultaneität zweier Hinsichten artikulierende Wendung 7,59,35 f.: »Qua enim parte liber est [Christianus], nihil operatur, qua [parte] autem servus est, omnia operatur« schließt also beide Distinktionen ein: gerecht und Sünder sowie Glaubensfreiheit und Fortdauer des irdischen Lebens. 725 Vgl. 7,36,6 ff.: »Darumb wie uns gott hatt durch Christum umbsonst geholffen, alßo sollen wir durch den leyp und seyne werck nit anders dem nehsten helffen.« 726 Vgl. nur Gebhardt, Heil, 85 f., der zwar alle wesentlichen Momente des homo exterior benennt, dann aber quasi definitorisch zusammenfasst: »So ist der ›homo exterior‹ vorläufig zu bestimmen als der Mensch, als der er von seiner Umwelt wahrnehmbar ist, als der er mit ihr in Beziehung ist und sie gestaltet. Er ist konstituiert durch den Weltbezug des Menschen.« Das Irritierende ist doch aber, dass Luther mit all dem auch die bleibende Sünde verbindet. Dazu Ringleben, Freiheit, 165: »Der Leib als dies eigene Andere ist nur so mit mir eins, dass er zugleich auch selbständig ist bzw. zu sein tendiert. Es gibt Spannungen und Widerstreit zwischen dem Selbst und seiner Leiblichkeit. Die Einheit mit der eigenen Leiblichkeit ist eine Aufgabe; von hier aus sind Luthers Andeutungen zu einer funktional-asketischen Leibes-Erziehung zu verstehen«; zur Mühlen, Bedeutung, 336 f. 727 Von daher allein gewinnt sie deshalb auch ihr Maß. Vgl. 7,60,30–33: »Hac ratione [d. h. dass die Werke nicht der Rechtfertigung dienen, sondern aus freier, dankbarer Liebe und Verpflichtung gegenüber Gott geschehen] quisque seipsum erudire facile potest, qua mensura aut discretione (ut dicunt) corpus suum castigare debeat: tantum enim ieiunabit, 723

Anthropologie 351 seinen widerstrebenden Willen in ein Entsprechungs- und Gehorsamsverhältnis zum inneren Menschen zu bringen: »das er dem ynnerlichen menschen und dem glauben gehorsam und gleychformig werde, nit hyndere noch widderstreb, wie sein art ist, wo er nit getzwungen wirt, denn der ynnerliche mensch ist mit gott eyniß, froelich und lustig, umb Christus willen, der yhm ßovil than hat, und stett alle seyn lußt darynn, das er widderumb mocht gott auch umbsonst dienen ynn freyer lieb, ßo findt er ynn seynem fleysch eynen widerspenstigen willen, der wil der welt dienen und suchen was yhn lustet. Das mag der glaub nit leyden, und legt sich mit lußt an seynen halß, yhn zu dempfen und weren.« (7,30,17–25)728 Diese Stelle ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass für Luther hinter der die Freiheitsschrift eröffnenden Doppelthese von Freiheit und Knechtschaft nicht nur die Distinktion von Glaube und Liebe bzw. von Person und Werk, sondern auch die des simul iustus et peccator steht. Denn die tätige Bindung und Dienstbarkeit beginnt für den Christen schon mit der am äußerlich-leiblichen Menschen festgemachten Permanenz der Sünde.729 Zugleich wird deutlich, dass Luther in die Terminologie der zwei entgegengesetzten Willensrichtungen übergeht, was die anschließende Zitation von Röm 7,22 f. und Gal 5,24 bestätigt. Dies alles weckt die Vermutung, dass Luther den Bereich des im engeren Sinn Leiblich-Äußerlichen verlässt (trotz der Zitation von 1.Kor 9,27) und er den »widerspenstigen willen, vigilabit, laborabit, quantum satis esse viderit ad corporis lasciviam et concupiscentiam premendam.« Es gilt ausschließlich auf die »mortificatio concupiscentiarum« zu achten: 7,60,34. 728 Vgl. 7,60,3–13: »ut corpus […] exerceatur et spiritui subdatur, ut homini interiori et fidei obediat et conformis sit, nec ei rebellet aut ipsum impediat, sicut est ingenium eius, si coercitus non fuerit. Interior enim homo conformis deo et ad imaginem dei creatus per fidem et gaudet et iucundatur propter Christum, in quo tanta sibi collata sunt bona, unde et hoc solum negocii sibi habet, ut cum gaudio et gratis deo serviat in libera caritate. Hoc cum agit, ecce in carne propria offendit voluntatem contrariam, quae mundo servire et quaerere quae sua sunt nititur, Id quod spiritus fidei ferre non potest neque valet, et aggreditur hilari studio ad opprimendam et coercendam eam.« 729 Gleichwohl ist zu betonen, dass der Gegensatz iustus et peccator nicht den von Glaube und Liebe dominiert, da Luther hervorhebt, dass letztlich alles Regieren des Leibes und aller Kampf gegen die Sünde um des besseren Dienstes am Nächsten willen geschieht. Der Christ treibt folglich keine isolierte Nabelschau, sondern steht – auch mit seinem Kampf gegen die eigene Sünde – ganz in der Richtung Gottes und Christi auf die Welt hin, in der er sozusagen ein Christus nachgeordnetes Vermittlungsglied bildet: Was er von Christus empfangen hat, soll er an seine Mitmenschen weitergeben und diesen so selbst gleichsam zum Christus werden (7,35,34 f.; 66,3 f.). Expliziter als die deutsche stellt die lateinische Version heraus, dass die Finalität des Kampfes gegen die Sünde im Dienst am Nächsten besteht. Vgl. 7,64,13–23, bes. 15–18: »Non enim homo sibi vivit soli in corpore isto mortali ad operandum in eo, sed et in omnibus hominibus in terra, immo solis aliis vivit et non sibi. In hoc enim corpus suum subiectum facit, quo syncerius et liberius queat aliis servire«; 67,29–68,3, bes. 67,34 ff.: »ut per haec [opera quisque] non iustitiam, sed corporis sui subiectionem exerceret aliis in exemplum, qui et ipsi opus habent corporis sui castigatione.« Ähnlich schon 5,408, 4–13, bes. 7 ff.

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der […] der Welt dienen [wil] und suchen was ihn lustet« (7,30,23 f.)730, doch auf den ganzen Menschen bezieht, sofern er eben dem Glauben (der ja der eigentlich kämpfende Akteur ist) als der rechten Gottesbeziehung und der Liebe als der rechten Beziehung zur Welt widerstrebt. »Leib« wäre dann zu einer der Tradition entnommenen, aber anders, weil ganzheitlich gedeuteten Chiffre für den Menschen als Sünder geworden. Deshalb kann man ebenfalls in Erwägung ziehen – zumal aufgrund des angeführten Verses Gal 5,24 –, dass für Luther das Wort Fleisch bzw. caro von der Bedeutung Leib bzw. Körper in die biblisch-ganzheitliche Bedeutung (gott- und nächstenfeindliche Selbstsucht) hinübergleitet.731 Freilich wird das Schwebende der soeben interpretierten Stelle durch den nächsten Absatz wieder zurückgenommen und alles auf den Leib fokussiert, wenn Luther hier nochmals einschärft, dass die auf den Leib gerichteten Werke nicht mit soteriologischer Intention getan werden dürften, »sondernn nur yn der meynung, das der leyp gehorsam werde und gereynigt von seynen bosen lüsten, und das aug nur sehe auff die bosen lüsten, sie auß zu treyben, Denn die weyl die seel durch den glauben reyn ist und gott liebet, wolt sie gern, das auch also alle ding reyn weren, zuvor yhr eigen leyp, und yderman gott mit yhr liebt und lobt. So geschichts, das der mensch seyns eygen leybs halben nit kann müßsig gehen, und muß vil guter werck drober uben, das er yhn zwinge.« (7,30,34–31,4)732 Vgl. 7,60,10 f.: »voluntas contraria, quae mundo servire et quaerere quae sua sunt nititur«. 731 Luthers Exegese von Gal 5 hat ihren Skopus gerade darin, den ganzheitlichen biblischen Sinn von caro herauszustellen und von einer Fixierung und Engführung auf das Leiblich-Sexuelle wegzukommen. Dazu s. o. Für unsere These spricht ebenfalls, dass der lateinische Text fast unbemerkt die Antithese spiritus (fidei) – caro einführt und damit auf den soteriologischen Gegensatz hinweist. 732 Vgl. 7,60,21–27: »sed solum ea opinione [sollen die guten Werke geschehen], ut corpus in servitutem redigatur et purificetur a concupiscentiis suis malis, ita ut [fides] oculum non nisi vertat ad concupiscentias expurgandas. Cum enim anima per fidem purgata sit et amans dei facta, vellet omnia pariter purgari, praecipue corpus proprium, ut omnia secum amarent et laudarent deum. Ita fit, ut homo exigente corporis sui causa ociari non possit, cogaturque ob id, multa bona operari, ut in servitutem redigat.« Vgl. dazu Liedke, Freiheit, 207: »Die Rede vom Leib in diesem Teil des Traktats ist semantisch kaum auf den Nenner des totus homo zu bringen. Vielmehr ist hier die klassische Leib-Seele-Distinktion impliziert.« Zur an dieser Stelle bestehenden Ambivalenz bei Luther vgl. ebd., 205–209: Luther überwinde einerseits durch die totus-homo-Betrachtung den Leib-Seele-Dualismus, schreibe ihn andererseits aber fort. Dass Luther anthropologisch überhaupt dualistisch denkt, nämlich im Sinne des Antagonismus bzw. der Simultaneität zweier Mächte bzw. Willen im (Christen)Menschen, macht ihn allein nicht schon gegenüber Herbert Marcuses Vorwurf eines verinnerlichten Freiheitsverständnisses anfällig. Gegen Liedke, Freiheit, 206 f., 209. Die Problematik der zumindest partiellen Fortschreibung des anthropologischen Substanzdualismus durch Luther wird bei Rieger, Freiheit, bes. 64–68, 73 f., 87 f., 89 f., unterschätzt. Rieger geht davon aus, dass Luther in der Freiheitsschrift immer wieder an Begriffe einer philosophischen Anthropologie (Leib/Seele; innerer/äußerer Mensch) anknüpfe, diese dann aber ins Theologisch-Soteriologische (Geist/Fleisch; alter/neuer 730

Anthropologie 353 Freilich könnte hier, um dem platonischen Leib-Seele-Dualismus doch noch zu entkommen, erwogen werden, ob Luther, weil er im Freiheitstraktat anthropologisch nur dichotomisch denkt, den Bereich der »Vernunft« als der Regelung des Weltverhältnisses nicht doch dem »Leib« zuordnet und im Grunde mit Seele ausschließlich die Gottesrelation des Menschen meint, so dass der Leib bzw. äußere Mensch alles außer dieser einschlösse.733 Damit wäre aber noch nicht jene schon erwähnte Inkonsequenz und Spannung bei Luther beseitigt, wonach er einerseits sagt, dass der ganze Christenmensch in allen seinen Dimensionen einschließlich seiner Gottesbeziehung Geist und Fleisch zugleich ist, andererseits er aber ganz im Zuge der angenommenen Bewegung von innen nach außen vom Personzentrum zu dessen das Seelisch-Vernünftige einschließenden Peripherie, anzunehmen scheint, dass dieser Personkern schon ganz rein und ohne Sünde ist. Freilich hieß es im obigen Zitat, dass die Seele durch den Glauben rein ist, was doch heißen könnte: weil und sofern sie glaubt! Dass die Freiheit des inneren Menschen selbst strittig ist und verloren gehen kann und am kontingenten Christusbezug hängt, haben wir oben schon gesehen. Es sind zwei Beobachtungen, die in diese Richtung weisen und unsere Vermutung stützen können. Da ist zum einen Luthers Aussage, dass neben der tätig herbeizuführenden Konformität des äußeren zum inneren Menschen auch der Glaube des Letzteren wachsen muss, also offenbar noch mit dem Unglauben zugleich (simul) koexistiert. Zwar ist der Mensch durch den Glauben ganz gerechtfertigt, der Christ hat alles, was er haben soll, »on das der selb glaub und gnugde muß ymer zunehmen bis ynn yhenes leben« (7,30,13).734 So geschehen auch die Werke des Christen – darin denen Adams und Evas im Paradies vergleichbar – nicht, um damit die Rechtfertigung zu erlangen, sondern damit der Leib nicht untätig sei.735 Sie sind wahrhaft freie Werke, allein Gott zum Wohlgefallen getan, »nisi quod nondum plene recreati sumus perfecta fide et caritate, quas augeri

Mensch) wende bzw. »transformiere«, so dass sie eine neue Bedeutung erhalten und ihrer ersten Verstehensebene letztlich nur metaphorische Bedeutung eigne. Das minimalisiert einerseits die bleibend fundamental-anthropologische Bedeutung dieser Gegensatzpaare bei Luther, die Rieger in einem relationalen Sinn (Seele, innerer Mensch: Selbstbezogenheit; Bezogenheit auf Gott; Leib, äußerer Mensch: Weltverhältnis) selbst zugesteht (80 f., 87, 235–249). Zum anderen maginalisiert es eben Luthers bleibende Anfälligkeit für den metaphysischen Leib-Seele-Dualismus und dessen primäre Konnotation der Sünde mit dem Leiblichen, was Rieger ebenfalls selbst andeutet (87 f., 241–249). 733 In diese Richtung geht auch Gebhardt, Heil, 86. 734 Vgl. 7,59,38 f.: »nisi quod hanc ipsam fidem et opulentiam oportet de die in diem augescere usque in futuram vitam«. Das Wachsenmüssen des Glaubens widerspricht keineswegs seinem Reichtum, seinem Genügen im Blick auf die Rechtfertigung, weil er ja nicht kraft seiner eigenen Qualität oder Intensität rechtfertigt, sondern kraft seiner Intentionalität auf das Wort bzw. Christus. Vgl. auch 7,32,1: »des glauben mehrung«. 735 Allerdings spielt bei den paradiesischen Menschen der Kampf gegen die Sünde als Motiv ihres Tuns keine Rolle.

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oportet, non tamen per opera, sed per seipsas« (7,61,16 f.). Hier ist nochmals die »Unvollkommenheit« unseres Glaubens wie auch der Liebe betont, die allerdings nicht durch Werke, sondern nur durch sich selbst wachsen können. Niemand kann sich durch sein Tun selbst zum Glaubenden oder Liebenden machen. Er kann das nur je neu von Gott erbeten und empfangen. Der Glaube als er selbst und als Wurzel der Liebe hat aber gerade in der Seele seinen »Sitz«, so dass diese selbst, wenn der Glaube zeitlebens unvollkommen bleibt, immer auch noch von Unglauben und Lieblosigkeit »besetzt« ist. So gälte also auch in der Seele, im geistlichen Personzentrum das simul, unbeschadet jener beschriebenen Bewegung von innen nach außen. Das zweite Indiz für diese These besteht darin, dass der von Luther so eindringlich und mit dem Bild der Ehe zwischen Christus und der Seele kombinierte »frölich wechsel und streytt« (7,25,34), bei welchem alle Gerechtigkeit Christi der Seele zugeeignet und alle Sünde der Seele auf Christus übertragen und in ihm verschlungen, d. h. vernichtet wird, offenbar nichts Einmaliges, sondern etwas sich immer wieder Ereignendes darstellt, eben weil es doch auch die Seele und nicht nur der Leib noch mit der Sünde zu tun hat und sie dies in der Anfechtung erfährt.736 »Denn wer will eynem solchen [gläubigen] hertzen schaden thun oder erschreckenn? felt die sund und der todt daher, ßo glaubt es, Christus frumkeyt sey sein, und sein sund seyn nymmer sein, sondern Christi, ßo muß die sund verschwinden fur Christus frumkeyt ynn dem glauben.« (7,29,23–26) Hier wird doch nichts anderes als der Kampf zwischen Glaube und Unglaube im Herzen (7,59,9 f.: cor bzw. conscientia), also in der Seele bzw. im inneren Menschen beschrieben. Sollte es hier nur um die Sünden gehen, die die Seele im äußeren, leiblichen Menschen erblickt? Wohl kaum! Schon vorher hatte Luther von der »glaubigen seelen sund« (7,25,36) gesprochen, welche von Christus übernommen werden. Kraft der Ehe mit Christus ist es nicht möglich, »das die sund sie vordampne, denn sie ligen nu auff Christo, und sein ynn yhm verschlunden, so hat sie ßo ein reyche gerechtickeyt ynn yhrem breuetgam, das sie abermals wider alle sund bestahn mag, ob sie schon auff yhr legen.« (7,26,7–10) Der Kampf mit den Sünden, die solche der Seele sind und zu welchen wesentlich der Unglaube gehört, ist je neu im Gläubigen durch das Sich-Festmachen an Christus zu bestehen, ist doch die Sünde etwas bleibend Gegenwärtiges. Die zitierten Stellen belegen nicht nur den Sachverhalt des simul, sondern auch das noch bestehende Involviertsein der Seele selbst in die Sünde!737

So auch Gebhardt, Heil, 115 f., der vom »iterativen Prozess« der Heilsmitteilung spricht. 737 Dass die simul-Struktur auch noch in das Personzentrum selbst eingreift, ließe sich auch anhand einer Stelle aus der Adventspostille von 1522 zeigen (10 I/2,51,30–57,5), wo Luther ähnlich und doch anders als in der Freiheitsschrift mit der Distinktion von innerem und äußerem Menschen arbeitet. 736

Anthropologie 355 Man wird das, was die Seele noch bleibend bedroht und anficht, Selbstsucht und der Welt Dienenwollen, auch so formulieren können, dass die Seele bzw. der innere Mensch, deren Identität und Wesen im passiven Vernehmen des Wortes Gottes besteht, das Wesen des äußeren Menschen, nämlich das aktive Umgehen mit den Werken, in das Gottesverhältnis übernehmen und so gleichsam kopieren möchten, und der innere Mensch so zum »Doppelgänger des äußeren Menschen«738 wird. Sollen »alleyn das wort und der glaube regiren ynn der seelen« (7,24,33), so werden Wort und Glaube durch die Werke aus der Seele verdrängt bzw. es kommt zu einem simul von beiden »Prinzipien«. Das Entsprechungsverhältnis, welches eigentlich vom inneren zum äußeren Menschen verlaufen sollte, ist dann umgekehrt: Der äußere Mensch hat den inneren Menschen sich angeglichen bzw. ihn vereinnahmt. Und in nichts anderem als im Leben aus der eigenen Leistung coram deo, im fehlenden Vertrauen ihm gegenüber besteht ja der Unglaube.739

d) Zusammenfassung Versuchen wir die vielschichtigen Beobachtungen, die sich bei einer intensiven Lektüre der Freiheitsschrift einstellen, zusammenzufassen: Der Vorwurf, dass Luther einfach den platonischen Leib-Seele-Dualismus repristiniere und eine innere Freiheit der Seele der äußeren Unfreiheit des Leibes gegenüberstelle, also Gut und Böse bzw. Heil und Unheil, Gerechtigkeit und Sünde einseitig auf die Seele und den Leib verteile, lässt sich so nicht aufrechterhalten. Allerdings machen es sich auch jene Luther-Interpreten zu einfach, die quasi dekretorisch feststellen, dass Leib und Seele, innerer und äußerer Mensch für Luther nur die Gottes- bzw. die Weltrelation des Christen meinen und mit jener platonischen Dualität anthropologischer »Regionen« nichts mehr zu tun haben.740 Vielmehr ist zu konstatieren, dass Luthers Operation mit der Distinktion Leib/Seele, innerer/ So Jüngel, Freiheit, 133 f., der diese Wendung allerdings in etwas anderer Nuancierung gebraucht. 739 Vgl. Gebhardt, Heil, 90 f. Jüngel, Freiheit, 134, betont, dass der innere Mensch seine Bestimmung »nicht etwa durch sein Verhältnis zur Welt«, sondern »durch seinen Unglauben, also durch sein negatives Verhältnis zu Gott« bzw. zum Wort Gottes verfehlt. Genau dies für Luther so wichtige Moment verunklart er selbst aber durch seine primäre Lokalisierung der Sünde im Leib bzw. äußeren Menschen. 740 Hirsch, Lutherstudien I, 1203, geht auf die Freiheitsschrift nur mit dem Satz ein: »Der innerliche Mensch ist der, der zum Glauben gerufen ist, der Mensch im Gottesverhältnis; der äußerliche der, der hier auf Erden seinen Leib regieren und mit Leuten umgehen muß.« Ähnlich Maurer, Freiheit, 49 f.; Hägglund, Anthropologie, 65. Auch zur Mühlen, Mensch, harmonisiert zu sehr, wenn er die Distinktion innerer/äußerer Mensch auf die Gottes- und Weltrelation bzw. auf zwei konträre Seinsweisen des ganzen Menschen konzentriert. Diese Unterscheidung meine »primär das Sein des ganzen Menschen entweder unter der Macht des Geistes oder unter der Macht des Fleisches und [hat] nicht nur Teil­ aspekte des Menschen im Blick« (205). »So interpretiert Luther den ›inneren und äußeren Menschen‹ nicht als zwei Schichten ein und derselben Substanz, sondern als das Sein des ganzen Menschen, dessen Wahrheit innen in seiner Relation zu Gott und außen zum 738

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

äußerer Mensch der anvisierten Sache nicht immer angemessen, sondern eher hinderlich, weil Missverständnisse auslösend ist.741 Es verhält sich wohl einfach so, dass Luther diese der augustinischen bzw. mystischen Tradition entstammende Unterscheidung überfrachtet und überladen hat:742 Sie soll die Gegensatzpaare Nächsten bzw. zur Welt auf dem Spiel steht.« (207) Auf die Frage des simul von innerem und äußerem Menschen geht zur Mühlen nicht ein. 741 Wir schließen uns dem Urteil Bayers, Kritik, 32, an: »Freilich gibt Luthers eigene Begrifflichkeit, in der er, durch alte Tradition bestimmt, vom ›inneren Menschen‹ redet, zu Marcuses Missverständnis Anlass. Sie ist aber dem Sachverhalt, den sie bezeichnet, keineswegs angemessen. […] Im Ganzen geht es Luther darum, Glaube und Liebe (in der unangemessenen Begrifflichkeit: den ›inneren‹ und den ›äußeren‹ Menschen) zu unterscheiden, nicht aber darum, eine innere Freiheit und eine äußere Unfreiheit dualistisch auseinanderzureißen, jeweils in sich befestigt und sich damit einander stützen zu lassen.« Gleichwohl wird man gegen Bayer betonen müssen, dass die Unangemessenheit von Luthers Terminologie nicht nur in der insinuierten Ineinssetzung von Glaube und Liebe mit innen und außen besteht, sondern auch in der Pluralität der Aspekte, welche die Rede vom homo interior bzw. exterior abdecken soll: nämlich auch die Gegensatzpaare Sünder/Gerechter, Fleisch/Geist, was Bayer an dieser Stelle nicht erwähnt. Auch Jüngels engagiertes Plädoyer für Luthers Rede von inneren und äußeren Menschen soll nach seiner eigenen Intention letztlich nicht so verstanden werden, dass die damit bezeichnete Sache notwendig in ihr zur Sprache kommen muss. Vgl. ders., Freiheit, 117 f., 120, 136, 150. Jüngel geht ebenfalls nicht explizit auf das simul im Sinne von »Gerecht und Sünder zugleich« ein. Vgl. aber ebd., 154. Zum Ganzen auch Liedke, Freiheit, 209–212. 742 Das gilt insbesondere für den Begriff des Leibes. – Es gibt einen eindeutigen Beleg (nämlich die Predigt über Röm 12,1–5 in der Fastenpostille von 1525 [17 II,5,1–15,18]) dafür, dass für Luther »Leib« einfach eine Chiffre für den alten Menschen mit seinen oft hochgeistigen Sünden sein kann. Vgl. 11,32–12,6: »Hiraus folget, das durch den leyb hie S. Paulus nicht alleine verstehet die groben euserlichen stucke, als ist fressen, tödten, hurerey etc., sondern alles, was nicht new geporn ist aus dem geyst, und was der allte mensch ist mit seynen besten und hoehisten krefften, beyde euserlich und ynnerlich, als da sind die tieffsten boßheytt des eygen synnes, dunckels, vernunfft, weysheyt, vermessenheyt ynn gutten wercken, geystlichem leben, und was denn mehr Gottis gaben ynn den menschen sind. Des nym zum exempel die aller geystlichsten und klügisten itzt auff erden, der wol ettliche yhren leyb eusserlich zuchtig hallten, aber ym hertzen sind sie voll hohmutts, vermessenheyt, eygens synnes und wohlgefallens an yhrem leben und wesen oder weyßheyt. Dieser ynnwendiger tiefer boßheyt ist keyn heilige gantz und gar los, drumb mus er sich ymmer opffern und solchen allten schalck toedten.« Ähnlich 13,37–14,3; »Und sonderlich nennet er den sinn, damit er selb deuttet, was er durch den leyb will, den er opfern heyst. Denn auch droben gnug gesagt ist, was synn heysst ynn der schrift, nemlich den duckel, der das heupt ist entweder aller laster odder aller tugend. […] Wo nue solcher synn nicht recht ist, da ist gewissen und glaube aus.« Warum all dies in der Schrift missverständlich »Leib« bzw. »den Leib opfern« genannt wird, begründet Luther wie folgt: »Es heysst aber den leyb opfern, darumb das die so Christen sind, schon mehr den die helfft ym geyst leben, und was noch an ihnen zu toedten, gibt er dem leybe als dem untersten und geringsten teyl zue, da noch nicht geyst ist.« (12,6–9) Man darf das wohl so verstehen: Es ist allgemein sprachliche, allgemein anthropologische Übereinkunft, dass der Geist innerhalb einer anthropologischen Tricho- oder Dichotomie das Höhere

Anthropologie 357 der Gottes- und Weltrelation, von Glaube und Liebe, Person und Werk, Geist und Fleisch, gerecht und Sünder abdecken. Dies vermag sie schlechterdings aber nicht zu leisten und produziert so einerseits den Verdacht, die Freiheit des Glaubens sei etwas rein Innerliches und die Unfreiheit etwas ausschließlich Äußerliches bzw. andererseits den Argwohn, als ob die Seele, das Geistige, wenn nicht schon per se im Heil, dem Wort Gottes zumindest doch näher stünde und der Leib der Ursprung und bleibende Sitz der Sünde sei. So wird insinuiert, als sei auch der Ort des simul nur noch der Leib, nicht aber die Seele. All dies meint Luther nicht, kann er nicht meinen, da seine differenzierte anthropologische Position aus anderen, der Freiheitsschrift zeitlich nahestehenden Publikationen ersichtlich ist. Festzuhalten ist schließlich weiter – gegen Marginalisierung und schweigendes Übergehen in der Forschung –, dass neben dem Begriffspaar Glaube und Liebe auch die Distinktion Gerechter und Sünder in der Freiheitsschrift hinter der Zweiteilung von äußerem und innerem Menschen bzw. Leib und Seele steht, die Luther trotz manch anderslautender Formulierungen als konfliktreiche Unterscheidung versteht, welche den ganzen Menschen betrifft. Freilich wird man konzedieren müssen: Dass Luther von Seele und Leib redet und er den Glauben und die Freiheit von der Sünde der Seele, dem Bereich des Geistig-Seelischen zuordnet, dem Leib dagegen die bleibende Sünde, impliziert ein Zweifaches: Einmal, dass für Luther der Glaube, das Leben in der Gottesbeziehung die personale Geistigkeit voraussetzt und an sie gebunden, wenn auch nicht auf sie beschränkt ist. Ihre Funktion kann nicht an den Leib delegiert werden. Sofern die traditionelle Rede von der Geist-Seele (anima rationalis) dies intendiert, hat sie ihr bleibend unbestreitbares Recht.743 Zum anderen, dass Luther wohl doch und der Leib das Geringere, ja Unterste bezeichnet. Dies wird biblisch-theologisch rein terminologisch übernommen, ohne den damit verbundenen sachlichen Implikationen und Wertungen beizupflichten und um damit etwas anderes metaphorisch auszudrücken: Dass nämlich die Christen schon und sogar größtenteils aus dem Höheren (= dem Geist Gottes, dem Glauben und der Rechtfertigung) leben und die noch verbleibende Sünde das demgegenüber Geringere und auf dem Rückzug Befindliche darstellt. 743 Wie sehr Luther von der leib-seelischen Verfasstheit des Menschen her denkt und beide Dimensionen in die Gottesbeziehung hineinnimmt, wird im Abendmahlsstreit mit Zwingli deutlich: Luther verteidigt hier die manducatio oralis und begründet die Heilsvermittlung in Wort und Sakrament mit der Leib-Seele-Struktur. Vgl. 23,179,7–204,31, bes. 181,7–15: »Der mund, der leiblich Christus fleisch isset, weis freylich nicht, was er isset oder was darynn das hertze isset. Dem selbigen were es auch fur sich selbs nichts nuetze, Denn er kan die wort nicht fassen noch vernemen, Aber das hertze weis wol, was der mund isset, Denn es fasset die wort und isset das geistlich, welchs der mund leiblich isset. Weil aber der mund des hertzens gliedmas ist, mus er endlich auch ynn ewigkeit leben umb des hertzens willen, welchs durchs wort ewiglich lebt, weil er hie auch leiblich isset die selbige ewige speyse, die sein hertz mit yhm geistlich isset«; 23,189,31–37: »Weil nu unser leib mit solchen wercken sol leiblich umbgehen und kan doch das wort nicht vernemen, Widderumb, die seele nicht kan eraus faren und leiblich mit dem werck umbgehen, So teylets Gott also nach beyderley masse und gibt das wort für die seele und das werck fur den

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der Auffassung ist, dass der Leib mit seiner durch das Hungergefühl, den sexuellen Trieb sowie das Bedrohtsein von Krankheit und Tod bedingten »natürlichen Selbstzentriertheit«744, wenngleich nicht der primäre Ort und Ursprung der Sünde ist, so doch eine bleibende Anfälligkeit, ein ständiger Anlass für die »geistige« Sünde darstellt. Insofern kann er sehr wohl zur Chiffre, ja zum Realsymbol für die bleibende Unerlöstheit des Menschen werden.745 Dies würde auch erklären, wieso Luther, so klar er die Unterscheidung zwischen den anthropologischen Konstitutionsbegriffen (Dreiteilung der Magnificat-Auslegung) und den ganzheitlichen soteriologischen Termini (Zweiteilung der Magnificat-Auslegung) vollzogen hat, doch immer wieder dazu neigt, gleitend vom einen zum anderen überzugehen bzw. beides umstandslos zu verbinden und damit für die Leser jene diffizilen hermeneutischen Probleme schafft.746

leib, auff das sie beide selig werden und einerley gnade geniessen unter zweyerlei weise, eim iglichen sein bescheiden teil«; 23,191,10–28. Dazu Schott, Anthropologie, 589–602. 744 So Korsch, Freiheit, 150. 745 Darin dürfte Luther mit Paulus übereinstimmen. Vgl. E. Lohse, Brief, 239 (zu Röm 8,13): »Ohne einer Leibfeindlichkeit das Wort zu reden, macht der Apostel doch darauf aufmerksam, dass das σῶµα das Einfallstor der Versuchungen ist, denen der Christ zu widerstehen hat.« 746 Für die Missverständlichkeit von Luthers Terminologie spricht schon die folgende Überlegung: Heutige Lutherexegese muss mühsam das von Luther Gemeinte eruieren und vor Missverständnissen schützen. Dazu werden aber zumindest die nichttheologischen Leser der deutschen Version der Freiheitsschrift nicht in der Lage gewesen sein. Müssen sie nicht automatisch die Rede vom inneren und äußeren Menschen, von Leib und Seele »platonisch« verstanden haben? Dass Luther überhaupt in terminologischen Fragen sehr unbekümmert ist und sich hier nicht festlegt, sondern variabel bleibt, ist bei ihm allerdings öfter zu beobachten. Das zeigt sich schon an der unterschiedlichen Funktion des Begriffs »Seele« in der Freiheitsschrift und der Magnificat-Auslegung. Letztlich geht es ihm auch nicht um die explizite Entwicklung einer allgemeinen Ontologie bzw. Anthropologie, sondern Elemente einer solchen werden in theologischem Kontext, oft anlässlich oder mit Hilfe von Schriftexegese, »nebenbei« entwickelt.

6 Gesetz

Ein oberflächliches Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre könnte der Auffassung sein, als spiele das Gesetz im Leben des Christen keine Rolle mehr. Der Christ, durch Gottes Gnade im Glauben allein um Christi willen gerechtfertigt, sei doch frei von der Anklage und der Verurteilung durch das Gesetz.747 Freigesprochen von seinem Fluch tue der Christ aus dem Glauben heraus spontan den Willen Gottes, ohne auf die Direktive durch ein irgendwie kodifiziertes Gesetz angewiesen zu sein. So richtig solche Aussagen sind, so müssen sie doch mit dem überraschenden Tatbestand zusammengedacht werden, dass in der Theologie Luthers das Gesetz eine große Rolle spielt – und zwar gerade als im Leben des Christen vorkommendes! Wir erinnern uns an den aus dem Rechtfertigungskapitel bekannten Sachverhalt, dass Rechtfertigung, also der Freispruch von der Anklage des Gesetzes, sich für Luther nicht nur einmal, etwa bei der Bekehrung oder der Taufe, sondern immer wieder im christlichen Leben ereignet. Und dies deshalb, weil der Christ zeitlebens auch Sünder, eben simul iustus et peccator ist und darum je neu, ja täglich den transitus vom Sünder zum Gerechtfertigten zu vollziehen hat. Ist dem aber so, dann kommt auch dem Gesetz im Leben des Christen – zumindest als lex accusans – eine dauerhafte Aufgabe zu. Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist nicht das eines einmaligen Übergangs, einer einmaligen Ablösung, sondern das einer realen Dialektik im Sinne des ständigen Wechsels vom einen zum anderen. Von daher wird man wie von selbst zu der These geführt, dass die bleibende Funktion des Gesetzes, ja die Fortgeltung des Gesetzes beim Christen in dessen bleibendem Sündersein, in seinem Status als simul iustus et peccator begründet ist – ein Zusammenhang, den Wilfried Joest in seiner Arbeit »Gesetz und Freiheit« ausführlich herausgestellt hat.748 Diese These wird schon durch den Umstand nahegelegt, dass für Luther Gesetz und Sünde

Unter »Gesetz« versteht Luther nicht nur die alttestamentliche Tora und hier insbesondere den Dekalog, sondern alles, was Gottes Willen kundtut und dem Menschen sein schuldhaftes Zurückbleiben hinter diesem Willen offenbart. Dieses anklagende Moment gehört per definitionem zum Gesetz. Vgl. 39 I,348,25–30: »Quicquid ostendit peccatum, iram seu mortem, id exercet officium legis […]. Revelare enim peccatum est aliud nihil nec aliud esse potest, quam esse legem, seu effectum et vim legis propriissimam. Lex et ostensio peccati, seu revelatio irae, sunt termini convertibiles«; 358,26 f.: »Lex non damnans est lex ficta et picta, sicut chimaera aut tragelaphus«; 535,2–5. Zum »Gesetz« bei Luther vgl. nur Seils, Gesetzesverständnis. 748 Vgl. Joest, Gesetz, zusammenfassend 55 ff., 88, bes. 57: »Das Geheimnis des bleibenden Gesetzes ist das Geheimnis des Simul iustus et peccator.« 747

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in einem Korrelationsverhältnis zueinander stehen: Das Gesetz tritt da auf, hat da sein Amt auszuüben, wo die Sünde ist, wie umgekehrt die Sünde durch das Gesetz, wenngleich nicht erst in die Welt gebracht, so doch als solche kenntlich gemacht und gesteigert wird. Luther hat diesen Zusammenhang von Gesetz und Sünde in der 5. Thesenreihe gegen die Antinomer zum Ausdruck gebracht: »Lex dominatur in homine, quanto tempore vivit.« (39 I, 354,17; vgl. 354,17–355,6) Das Gesetz herrscht über den Menschen, solange er lebt. Will er vom Gesetz freikommen, so muss er sterben. Dies ist deshalb so, weil die Herrschaft des Gesetzes in der Herrschaft der Sünde über den Menschen begründet ist, welche nur durch den Tod völlig ausgelöscht wird. Sofern der Mensch im Glauben an Christus schon gekreuzigt und gestorben ist, ist er von Gesetz, Sünde und Tod frei. Sofern er aber noch lebt, ist er nicht in Christus und steht deshalb unter Gesetz, Sünde und Tod.749 Luther hat hier in einer geschliffenen, zugespitzten Prägnanz die »lebenslängliche« Funktion und Bedeutung des Gesetzes für das menschliche Leben überhaupt und das christliche Leben im Besonderen zum Ausdruck gebracht. Zugleich hat er die einschränkende Hinsicht (»sofern wir noch leben und deshalb extra Christum stehen«) benannt, unter der dies für den Christen gilt. Sie wird im Folgenden näher zu explizieren sein. Deutlich ist aber schon, wie das Vorkommen des Gesetzes in der christlichen Existenz im simul begründet ist.750 Will man die aus dem simul resultierende Fortgeltung des Gesetzes im christlichen Leben näher erhellen und von daher auch das simul selbst tiefer verstehen, so ist die angedeutete reale Dialektik von Gesetz und Evangelium genauer in den Blick zu nehmen. Wir tun dies, indem wir sie unter einem dreifachen Doppelaspekt darstellen: zwei Gerechtigkeiten (6.1), zwei Zeiten (6.2), zwei Relationen (6.3). Anschließend befassen wir uns in einem Exkurs mit Luthers Interpretation der für sein Gesetzesverständnis zentralen Bibelstelle 1.Tim 1,8 f. und versuchen abschließend (6.4) die Frage zu klären, ob Luthers Theologie auch mit einer Fortgeltung des Gesetzes beim Christen abgesehen von seinem Sündersein rechnet (tertius usus legis). Die Luther-Texte, auf die wir uns dabei stützen, sind – neben den Exegesen von 1.Tim 1,8 f. – die beiden Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531 sowie Luthers späte Disputationen.

39 I,355,1 f.: »At si vivimus, in Christo nondum sumus, sed extra Christum sub lege, peccato et morte agimus.« 750 Vgl. auch 39 I,351,31 f.: »Quare et ipsa oratio Dominica docet legem esse ante, sub et post Evangelion et ab ipsa inchoandam esse poenitentiam«; 39 I,353,37 f.: »Lex enim nulla nostra necessitate, sed de facto iam invitis nobis adest, ante et in principio, medio, fine et post iustificationem.« Das Gesetz ist also – ohne dass wir etwas dazu tun und ob wir wollen oder nicht – faktisch immer schon da, eben weil die Sünde da ist. 749

Gesetz 361

6.1 Zwei Gerechtigkeiten Wir kommen in diesem Abschnitt nochmals auf die zusammenfassende Darstellung des Grundgedankens des Galaterbriefs (Argumentum Epistolae) zurück, wie Luther sie zu Beginn des Großen Galaterkommentars gegeben hat (40 I,40–51).751 Luther entfaltet hier die Konzeption zweier Gerechtigkeiten, die klar zu unterscheiden sind und nicht vermischt werden dürfen, aber doch je ihre eigene Legitimität haben. Die eine ist die iustitia activa, worunter Luther die politische, die religiös-zeremonielle und die Gerechtigkeit des Dekalogs rechnet (40,19–27). Sie heißt deshalb iustitia activa, weil sie durch das Tun und Handeln des Menschen, durch seine Werke erworben wird, sei dies nun mit oder ohne Hilfe der göttlichen Gnade. Davon zu unterscheiden ist die fidei seu Christiana iustitia. Diese Gerechtigkeit betrifft unser Gottesverhältnis, sie ist »mere passiva iustitia« (41,18), weil der Mensch sie nicht durch sein Tun erwerben, sondern nur von Gott im Glauben empfangen kann. Sie ist eine uns um Christi willen »imputierte« Gerechtigkeit, und wir verhalten uns dabei ausschließlich rezeptiv, »erleiden« einen anderen, nämlich Gott, als in uns wirkend. Die aktive Gerechtigkeit ist demgegenüber eine »iustitia legis«, eine Gesetzesgerechtigkeit, die vom Menschen bestimmte Dinge fordert, andere verbietet und ihn je nach Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm als gerecht oder ungerecht qualifiziert. Das Verhältnis dieser beiden Gerechtigkeiten ist nun im christlichen Leben ein konfliktreiches, ihre rechte Beziehung muss immer neu im Kampf errungen werden. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die aktive Gerechtigkeit in das Gebiet der passiven Gerechtigkeit einzudringen, also ihrerseits die Gottesbeziehung zu bestimmen sucht, was einerseits illegitim und eine Grenzüberschreitung darstellt, andererseits aber nicht jeder Legitimität entbehrt. Zunächst und eigentlich ist es für Luther die Aufgabe der aktiven Gerechtigkeit bzw. des Gesetzes, den Bereich des irdischen Lebens zu ordnen und zu regeln, wozu auch gehört, dass sie dem Tun der Bösen und Uneinsichtigen Schranken setzt. Luther hat diese Aufgabe des Gesetzes im Argumentum epistolae nur angedeutet, etwa wenn er von der politischen, zeremoniellen oder Dekalogsgerechtigkeit sagt, ihnen komme keine coram deo rechtfertigende Kraft zu, sondern sie stünden im Dienst politischer und kirchlicher Ordnung. In ähnliche Richtung weist auch, dass Luther die beiden Gerechtigkeiten zwei Welten, der irdischen und der himmlischen, zuordnet: »Nos vero duos mundos constituimus, unum coelestem, alterum terrenum. In illos collocamus has duas iustitias disiunctas et inter se maxime distantes. Iustitia legis est terrena, de terrenis agit, per hanc facimus bona opera.« (46,19–22; vgl. 207,20–208,25) Luther hat hier offenbar »zwei Reiche« vor Augen, das Reich des irdischen Lebens und das des Gottesverhältnisses, und Ersterem wird die iustitia

Vgl. oben Kap. 1.2.1. Alle Zitate im Folgenden beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf WA 40 I. 751

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legalis zugeordnet.752 Gegen Ende des Argumentum Epistolae wird ausgeführt, dass der aus der Rechtfertigung durch Christus lebende Mensch wie der die Erde befruchtende Regen vom Himmel niedersteigt, um in den irdischen Bereichen zu wirken: »prodeo foras in aliud Regnum et facio bona opera quaecunque mihi occurrunt.« (51,22 f.) Er geht seinen Berufs- und Standesaufgaben nach und unterwirft sich den irdischen Ordnungen und Gesetzen.753 Obwohl Luthers Formulierungen hier etwas Schwebendes an sich haben, wird man nicht fehlgehen mit der Annahme, dass er hier all das zusammenfasst, was er an anderer Stelle des Kommentars den usus civilis oder politicus legis nennt.754 Dabei betont Luther an dieser Stelle dessen positiv ordnende und aufbauende Seite, nicht so sehr dagegen dessen das Böse im Zaum haltenden Charakter. Auf jeden Fall hat auch der Christ mit diesem usus legis noch etwas zu tun. Dies gründet vorrangig nicht in der eigenen, bleibenden Sünde des Christen, sondern darin, dass er sich aus Liebe diesem usus legis unterwirft, weil der Nächste in einer sündigen Welt darauf angewiesen ist.755 Dennoch widerspricht es nicht der Intention Luthers, auch mit dem Fall zu rechnen, dass der Christ selbst, um seine immer noch vorhandenen sündigen Neigungen einzudämmen, dieser ordnenden Macht des Gesetzes bedarf.756 Im Bereich des Gottesverhältnisses kommt es nun zu dem angedeuteten konfliktiven Verhältnis der beiden Gerechtigkeiten. Die iustitia passiva soll als Glaubensgerechtigkeit das Gottesverhältnis bestimmen bzw. das Gewissen regieren, und zwar, sozusagen im Idealfall, ausschließlich.757 Da sie eine Gerechtigkeit der Gnade, der Barmherzigkeit und der Sündenvergebung ist, die uns ohne unser Vgl. 42,22–25: Dem Gesetz wird jede das Gewissen befriedende Funktion abgesprochen, gleichwohl gilt von ihm: »est summum omnium quae sunt in mundo.« Ähnlich 43,26 ff. 753 Vgl. 51,27–31: »is [der in Christus Gerechtfertigte] non solum ex animo et cum gaudio bene operatur in vocatione sua, sed subiicit se quoque per charitatem magistratibus, etiam impiis legibus eorum, et omnibus praesentis vitae, si res ita postulet, oneribus atque periculis, Quia scit Deum hoc velle et ei placere hanc obedientiam.« 754 Z. B. 479,17–480,31; 528,6–11. 755 Vgl. 570,18–21. Nach 673,14–33 bedeutet die Abrogation des Mosegesetzes nicht, dass die Christen nicht den Gesetzen ihres politischen Gemeinwesens unterworfen wären. Vielmehr sollen sie sich diesen unterwerfen, wie auch in der Kirche selbst eine gewisse Ordnung bestehen muss. Anders geht es in diesem leiblich-irdischen Leben nicht. Ähnlich 40 II,177,36–178,11: Gesetze dienen nicht der Rechtfertigung, sondern der guten Ordnung in rebus corporalibus et civilibus. Auch in der Kirche gewährleisten sie eine solche. 756 Siehe etwa 205,8 f.: »Sic conscientia libera sit a lege, corpus autem obediat legi«; 207,29–208,9; 213,30 f. 757 Vgl. 40 II,19,25–32: Eine »Kohabitation« von Gesetz und Christus im Herzen ist nicht möglich oder führt zur Pervertierung Christi zum Teufel: »Ergo impossibile est Christum et legem simul habitare in corde. Aut igitur legem aut Christum cedere oportet. Si vero in ea persuasione es, Christum et fiduciam legis cohabitare posse in corde, tum certo scias non Christum, sed diabolo in corde tuo habitare sub larva Christi accusantis et perterrefacientis te ac exigentis Legem et opera tua ad iusticiam.« Für das Folgende siehe Bühler, 752

Gesetz 363 Werk und Verdienst von Gott gewährt wird, ist der Christ hier völlig frei von jeder Anklage, jedem Schuldspruch des Gesetzes. Auch die verbleibende Sünde ist in Christus vergeben und wird nicht angerechnet. Diese Gerechtigkeit bezieht sich auf den im Glauben geschaffenen neuen Menschen. So kann gesagt werden: »Summa igitur ars et sapientia Christianorum est nescire legem, ignorare opera et totam activam iustitiam. […] Mira autem res est et mundo inaudita, docere Christianos, ut discant ignorare legem, utque sic vivant coram Deo, quasi penitus nulla sit.« (43,25–30; vgl. 204,21–27) Mit dem Regieren der iustitia passiva im Gewissen und der damit gegebenen Freiheit vom Gesetz hat es nun aber eine besondere Bewandtnis: In der tatsächlichen christlichen Existenz ist dies höchstens annäherungsweise oder zeitweise erreicht, ja es muss je neu in der Anfechtung errungen und erkämpft werden – und dies hat entscheidend mit dem bleibenden Sündersein des Christen zu tun. In der Situation der Anfechtung – Luther denkt hier nicht in erster Linie an die Versuchung zu einer bestimmten bösen Tat, sondern an den Verlust bzw. das Schwachwerden des Glaubens, an das Abwenden des Blickes von Christus und der passiven Gerechtigkeit –758 gelingt es dem Gesetz und seiner Gerechtigkeit, gleichsam »in das Gewissen aufzusteigen« (50,28), sich in das Gottesverhältnis einzudrängen, den Menschen anzuklagen und zur Verzweiflung zu bringen sowie Abhilfe allein von der Gesetzeserfüllung bzw. der Besserung des Lebens in Aussicht zu stellen. Das Gesetz nimmt hier also seine verurteilende, die Sünde offenbarende Funktion wahr, die Luther sonst im Großen Galaterkommentar als usus legis theologicus seu spiritualis bezeichnet.759 Wenn der Christenmensch hier nicht beide Gerechtigkeiten exakt zu unterscheiden weiß, seine Zuflucht zur passiven Gerechtigkeit nimmt und der aktiven jedes Recht im Gewissen verweigert, ist es um ihn geschehen und er fällt der völligen Verzweiflung anheim.760 So Anfechtung, 111–121; Pinomaa, Anfechtung, passim; ders., Gesetz, 258–262; ders., Sieg, 108–114; Keilus, Gesetz, 173–218. 758 Vgl. 47,21–29: Im Glauben an Christus gilt: »Ibi nullum peccatum cernitur, nullus terror, nullus remorsus conscientiae sentitur. Quia in hanc iustitiam Christianam non potest cadere peccatum. Nam ibi nulla lex, ibi nec praevaricatio. Cum ergo hic peccatum non habeat locum, certa nulla est conscientia, nullus pavor, nullus tristicia. […] Si autem adest conscientia vel pavor, signum est, iustitiam hanc ablatam, gratiam amissam esse e conspectu et Christum obscuratum non videri. Sed ubi vere videtur Christus, ibi necesse est gaudium plenum et perfectum in Domino adesse, et pacem cordis.« 759 Z. B. 480,32–482,21; 528,6–20. 760 Vgl. 42,26 ff.: »Quare nullum remedium habet afflicta conscientia contra desperationem et mortem aeternam, nisi apprehendat promissionem gratiae oblatae in Christo, hoc est hanc fidei, passivam seu christianam iustitiam.« 42,6 f. (Hs) sagt lapidar: »Tamen aliud non est remedium: aut mors aeterna, aut passiva iustitia apprehenda.« – 50,24–51,13: »Discamus igitur diligentissime hanc artem distinguendi inter has duas iustitias, ut scia­ mus, quatenus legi parere debeamus. Diximus autem supra, quod lex in Christiano non debeat excedere limites suos, sed tantum habere dominium in carnem quae ei subiecta sit et sub ea maneat. Hoc ubi fit, consistit lex intra limites suos. Si vero vult ascendere

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

sehr der bedrängte Christ aufgerufen wird, selbst die beiden Gerechtigkeiten zu unterscheiden und sich erneut an der iustitia passiva festzumachen, hat er doch dieses Geschehen nicht »im Griff«, es ist nicht psychologisch-technisch beherrschbar.761 Der Schritt aus der Verzweiflung zu neuem Glauben übersteigt seine Kräfte und ist letztlich das Werk des Heiligen Geistes (42,18–25). Dabei hat es mit diesem Aufsteigen des Gesetzes ins Gewissen eine ambivalente Bewandtnis: Es ist einerseits illegitim, weil der Christ ja aus dem Glauben und der passiven Gerechtigkeit Christi leben darf und soll. Es handelt sich daher um eine Grenzüberschreitung des Gesetzes, die freilich durch den schwachen oder erloschenen Glauben ermöglicht wurde. Das Eindringen des Gesetzes ins Gewissen besitzt aber andererseits auch ein gewisses Recht, da die bleibende Sünde dem Gesetz eine Gelegenheit bietet, den Menschen als Sünder anzuklagen, was wiederum nicht möglich wäre, wenn der Mensch seinen Blick fest auf Christus im Glauben gerichtet hielte. Eine verstärkende Rolle spielt zudem noch, dass die durch die Sünde verblendete Vernunft der Gesetzesgerechtigkeit bzw. dem Verdienstgedanken auch im Gottesverhältnis von Natur aus zugetan ist und der Teufel die Anklage des Gesetzes ins Immense steigert, um sie zu seinen Absichten, dem Zerstören des Glaubens und dem Abfall von Christus, zu benutzen.762 Die Anklage des Gesetzes darf für Luther nur zeitlich begrenzt walten, bis auf den kommenden Christus und den künftigen Glauben hin, also bis zur erneuten Rechtfertigung des ganzen Menschen: »Habet enim [lex] suos limites usque ad Christum.« (45,21 f.) Wir haben hier also klar das angesprochene dialektische Verhältnis von Gesetz und Evangelium vorliegen, welche sich im Leben des Christen nicht ein für allemal (etwa bei der Taufe oder der Bekehrung) ablösen, sondern welche gleichsam zeitlebens um den Christen ringen. Der Christ bzw. das Gewissen steht im Kampffeld von Gesetz und Evangelium bzw. der beiden Gerechtigkeiten.763 Neben in conscientiam et ibi dominari, vide ut tum sis bonus dialecticus et recte dividas neque plus tribuas legi, quam ei tribuendum est, et dicas: Lex tu vis ascendere in regnum con­ scientiae et ibi dominari, et eam arguere peccati, et gaudium cordis tollere quod habeo ex fide in Christum, et me in desperationem adigere, ut peream. Hoc praeter officium tuum facis. Consiste intra limites tuos, et exerce dominium in carne. Conscientiam autem ne attingas mihi.« – Dass der angefochtene Christ hier die Herrschaft des Gesetzes auf das »Fleisch« begrenzen soll, kann in diesem Zusammenhang nicht die anklagende Funktion des Gesetzes (usus theologicus) meinen, diese soll ja gerade zurückgewiesen werden. Es ist wohl eher an dessen ordnende, disziplinierende Funktion gedacht, also an den usus civilis. 761 Vgl. Schloemann, Gesetz, 110–113, bes. 110. 762 Vgl. 42,12–17: »Nec potest ratio humana […] ex hoc spectro iustitiae activae seu pro­ priae evolvere et attolere sese ad conspectum iustitiae passivae seu christianae, sed simpliciter haeret in activa. Atquae istas cogitationes abutens naturae infirmitate auget et urget Satan«; 204,15–21. – Zur Rolle des Teufels in der Anfechtung vgl. auch 40 I,50,12–23: Er macht aus dem »Christus salvator« einen »legislator«. 763 Im Gewissen stoßen beide Gerechtigkeiten aufeinander. Die Unterscheidung zwischen beiden ist deshalb nicht nur theologisch-lehrmäßig, sondern existentiell zu vollzie-

Gesetz 365 der oben erwähnten regulierenden, die Sünde äußerlich eindämmenden Funktion des Gesetzes hat auch dessen anklagende Funktion noch ihr – man könnte paradox formulieren – »illegitimes Recht«. Und dies hängt mit der bleibenden Sünde des Christen zusammen, die sozusagen dann eine offene Flanke für das Gesetz bietet, wenn der Christ von Christus weg auf sich blickt, also der Glaube in den Unglauben umschlägt. Luther kann nun davon sprechen, dass das Gesetz in seinem zweiten Brauch dem alten Menschen im Christen, nicht aber dem neuen Menschen in ihm gilt. Es hat deshalb nicht nur die für Luther offenbar nicht mehr oder noch nicht als Christen geltenden »Verhärteten« und »Hochmütigen« durch seine Anklage zu schrecken und zu demütigen, sondern vollzieht diese Aufgabe auch noch an den Christen als alten Menschen: »E contra in mundo sic urgeri lex et opera debent, quasi prorsus nulla sit promissio aut gratia, et hoc propter praefactos, superbos et indomitos quibus nihil aliud ob oculis ponendum est quam lex, ut terreantur ut humilientur. Est enim data lex, ut induratos perterrefaciat et occidat utque veterem hominem exerceat.« (44,12–16)764 Man könnte nun durch das »exerceat« der Druckfassung verleitet sein, beim vetus homo an eine disziplinierende, die sündigen Neigungen eindämmende Funktion des Gesetzes zu denken. Aber die handschriftliche Fassung, in der das »exerceat« fehlt, zeigt eindeutig, dass es Luther an dieser Stelle ausschließlich um den usus theologicus des Gesetzes geht – und zwar auch beim Christen als vetus homo: »Econtra mus ich, si deberem iustiticiam legis praedicare, superbis humiliare et nihil ob oculos ponere nisi legem. […] doctrina legis ad terrendum, humiliandum, vexandum. […] Lex et vetus homo gehorn zu samen. Ad spiritum gehort kein lex.« (44,3–45,1) Neben den superbi steht folglich auch der Christ qua vetus homo unter der Anklage des Gesetzes, während er als neuer Mensch, als »Geist« vom Gesetz und seiner Anklage frei ist und spontan das Gute tut.765 Obwohl Luther das simul im Argumentum hen: Es gilt jetzt zu glauben, dass Gottes Vergebung mir gilt. Vgl. 49,31–34: »Est quidem [distinctio Iustitiae legis et Christi] dictu facilis, sed experientia et usu est omnium difficillima, etiamsi diligentissime eam acuas et exerceas, Quia in hora mortis vel agonibus conscientiae proprius concurrunt hae duae iustitiae, quam tu optes et velis«; 209,16–32. – 671,28–672,28 weist darauf hin, dass nach Paulus durch Christus das ganze Gesetz, also nicht nur das Judizial- und Ritualgesetz, sondern auch das Moralgesetz (Dekalog) als Anklageinstanz »abrogiert« worden ist, dies aber nicht undialektisch verstanden werden darf, sondern immer wieder errungen werden muss. Nur das je neue, »rechtzeitige« Hinzutreten des Evangeliums verhindert, dass das Gesetz seine Anklage- und Verdammungsmacht voll auszuüben vermag. Ähnlich 128,32–129,26; 207,17–208,25. 764 Das »lex in mundo« hat hier also eine andere Bedeutung als die oben erwähnte. 765 Dass es sich bei den superbi und dem vetus homo um unterschiedliche Personengruppen handelt, zeigt eindeutig der Kontext, in dem es um die Anfechtung geht, in welcher die superbi ja gerade nicht stehen. Die Aussage, dass der Christ qua vetus homo noch dem Gesetz untersteht, will (neben dessen Ausschluss von der Rechtfertigung) das zeitweilige Bedrängtwerden des Christen durch das Gesetz im Gewissen erklären und zugleich begrenzen.

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Epistolae nicht explizit als Formel erwähnt, steht es doch im Hintergrund seiner Ausführungen: Der Christ ist als Gerechtfertigter, als unter der iustitia passiva Stehender, völlig vom Gesetz frei, »ultra et supra legem« (44,23; 204,26; 272,20), sofern er aber weiterhin Sünder ist, steht er deshalb zugleich bleibend unter dem usus theologicus legis.766 Nun stellt sich aber ein in der Luther-Forschung oft nicht hinreichend erkanntes Problem. Es lässt sich zwar leicht sagen: Der Christ qua neuer Mensch und »Geist« ist vom Gesetz frei, während der Christ qua alter Mensch und »Fleisch« noch unter dem Gesetz steht. Beides gelte also, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, zugleich. Dass Luther oft die Vorstellung einer abstrakten Halbierung des Christen in den alten und neuen Menschen, in Fleisch und Geist nahelegt, die dennoch gleichsam in Personalunion gegeben sind, wird man, wenn man das simul als strenges zeitliches Zugleich denkt, gelten lassen müssen. Indessen ist zu bedenken, dass Luther auch betont, dass das Evangelium bzw. die Gnade und das Gesetz bzw. der Zorn Gottes jeweils Urteile darstellen, die den ganzen Menschen qualifizieren und deshalb gerade nicht gleichzeitig gelten können. Wer unter Gottes Zorn steht, steht ganz unter ihm, wer dagegen unter seiner Gnade steht, steht ganz unter ihr.767 Es handelt sich also um einander ausschließende Totalurteile (totus = totaliter), ein simul ist hier – wie gesagt – gerade nicht denkbar. Alles andere würde zudem die göttliche Vergebung und Rechtfertigung entwerten bzw. relativieren,768 welche sich nach Luther ja nicht nur auf die vergangenen Sünden, sondern auch auf die bleibende, gegenwärtige Sünde beziehen. Weiterführen kann hier Luthers Hinweis, dass in seelsorgerlicher Hinsicht im Blick auf Gesetz und Evangelium gilt: »Utrumque verbum recte secari debet.« (44,16 f.; vgl. 2.Tim 2,15) Das Wort muss recht »geteilt« werden, nämlich nach Gesetz und Evangelium. Der Seelsorger hat mithin darauf zu achten, dass das Gesetz in seinen Grenzen bleibt,769 d. h. es darf ihm keine coram deo rechtfertigende Kraft zugeschrieben werden, es dürfen beide Gerechtigkeiten nicht vermischt werden. Er muss v. a.

Vgl. 48,21 ff.: »Ita utrumque manet dum hic vivimus: Caro accusatur, exercetur, contristatur et conteritur iustitia activa legis, Sed spiritus regnat, laetatur et salvatur passiva iustitia.« 48,1–6 (Hs) spielt deutlicher auf das simul an. 767 So 8,106,36–107,12. Ähnlich 8,119,16–19. Dazu oben Kapitel 4.3. Siehe auch 40 I,114,12–21, bes. 14 f.: »Christus et Lex nullo modo possunt simul convenire et dominari in conscientia.« 768 Elert, Gnade, 132, formuliert dies so: »Für Paulus wie für Luther stehen Gesetz und Evangelium im realdialektischen Gegensatz. Redet das Gesetz, so schweigt das Evangelium; redet das Evangelium, so muss das Gesetz verstummen.« Beide können mithin nicht gleichzeitig sprechen, ein Sachverhalt, der jedes echte Gespräch (διαλέγεσϑαι) kennzeichnet. Zwischen beiden besteht eine »realdialektische Divergenz«; 135: »Gesetz und Evangelium sagen Entgegengesetztes und können daher niemals unisono reden.« Vgl. ders., Ethos, 389 f. 769 Vgl. 44,18 f.: »Hic igitur prudens et fidelis pater familias requiritur qui sic legem moderetur, ut intra suos limites maneat.« 766

Gesetz 367 ein Gespür dafür entwickeln, wann welches der beiden Worte einem Menschen zu sagen ist. Luther bezieht sich dafür erneut auf die Distinktion zwischen altem und neuem Menschen: »Cum autem venio ultra veterem hominem, iam etiam sum ultra legem. Caro enim seu vetus homo, lex et opera coniuncta sunt, sic etiam spiritus seu novus homo, promissio et gratia.« (44,22 ff.) Entscheidend ist nun – und das bringt unser Problem einer Lösung näher –, dass Luther das Zugleich von Gesetz und Evangelium als zeitliches Nacheinander interpretiert: Ist ein Mensch hinreichend durch das Gesetz erschreckt und angefochten worden, sehnt er sich nach dem Trost des Evangeliums, dann ist es Zeit, dass das Gesetz und die aktive Gerechtigkeit schweigen und ihm stattdessen die passive Gerechtigkeit des Evangeliums verkündet wird.770 Infolge dieses Umschlags von dem einen zum anderen Wort, die also nicht gleichzeitig verkündet und gehört werden, ist der Mensch nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade, er ist von neuem ganz gerechtfertigt. Freilich kann dieser Prozess durch eine in der bleibenden Sünde wurzelnde erneute Anfechtung von neuem in Gang kommen. Luther deutet also an dieser Stelle die Zuordnung des Gesetzes zum alten Menschen und des Evangeliums zum neuen Menschen nicht als gleichzeitiges Stehen unter zwei kontradiktorischen Urteilen, sondern als zeitliche Abfolge von Anklage des Gesetzes und Freispruch des Evangeliums, eine Dialektik, die sich aber je neu ereignet, so dass man die christliche Existenz mit Lennart Pinomaa als »Hin- und Herschwingen«, als »Pendelbewegung« zwischen beidem charakterisieren kann und insofern natürlich als ein simul von beidem.771 In diesem Sinn will Luther dann verstanden sein, wenn er nochmals sagt: »Iustitia christiana pertinet ad novum hominem, iustitia legis ad veterem hominem qui natus est ex carne et sanguine. Huic tanquam asino debet imponi sarcina qua prematur, Vgl. 45,1–3: »Quare video hominem satis contritum premi lege, terreri peccato et sitire consolationem, ibi tempus est, ut removeam illi ex oculis legem et iustitiam activam et propono per evangelium passivam«; 49,35–50,12: Luther ermahnt seine Zuhörer als künftige Seelsorger, sich darauf vorzubereiten, »ut in tentatione possitis conscientias, et vestras et aliorum, erudire et consolari et reducere a lege ad gratiam, ab activa iustitia ad passivam, In summa a Mose ad Christum«. 771 Vgl. Pinomaa, Charakter, 170: »Eine Teilung dagegen ist unmöglich. Statt der Teilung des Menschen tritt ein Schwingen vom Gerichtetsein zum Begnadigtsein ein. Man kommt somit zu dem Ergebnis, daß das ›simul‹ nicht einem starren Sein Ausdruck gibt, sondern das Schwingen zwischen Sündenbekenntnis und Rechtfertigung bedeutet«; 163–170, 195 (»Pendelbewegung«, »Schwingen des Glaubenslebens«). Ähnlich Keilus, Gesetz, 184 f., bes. 184: »Der simul-Struktur des Christen korrespondiert ein Wechsel von Anfechtung und Frieden, nicht so allerdings, dass beide zugleich im Herzen wohnen würden, sondern derart, dass der Friede wieder und wieder gegen die Anfechtung erkämpft werden will«; 195 ff., 206 f. – Nicht ganz eindeutig an dieser Stelle ist Althaus, Theologie, 234. Modalsli, Gericht, 174, ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass »das Prinzip conscientia in evangelio in diesem Leben nie völlig verwirklicht«, weil prinzipiell angefochten ist. Zumindest unpräzise ist aber der Satz: »Aus dem simul iustus et peccator folgt, daß zugleich mit dem Evangelium immer auch das Gesetz mit seinem Fluch im Gewissen wirkt.« (170 [Hv.]; vgl. 229 f.) 770

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neque debet frui libertate spiritus vel gratiae, nisi novum hominem induerit per fidem in Christum (quod plene non fit in hac vita).« (45,27–31)772 Das Gesetz hat sein Recht, seine Zeit immer nur bis auf Christus, bis auf den neuen Glauben hin. Dann wahrt es seine Grenzen.773 Es übersteigt sie aber, wenn es diese seine Zielbestimmung nicht mehr einhält und unter diabolischem Einfluss zu maßloser, »zeitloser« Verzweiflung führt. Mit diesem Ergebnis sind wir freilich schon bei der Thematik des folgenden Abschnitts angelangt.

6.2 Zwei Zeiten Sowohl für Luthers Lehre vom Gesetz überhaupt als auch für die Frage nach der Fortgeltung des Gesetzes im Leben des Christen als simul iustus est peccator ist seine Auslegung von Gal 3,19–25 im Großen Galaterkommentar von großer Wichtigkeit (478,14–538,35). Insbesondere ist es die Aussage des Paulus, dass das Gesetz »hinzugekommen [ist] um der Sünde bzw. Übertretungen willen« (Gal 3,19), sowie der paulinische Gedanke vom Verschlossensein unter dem Gesetz als Zuchtmeister auf den Glauben bzw. den kommenden Christus hin (Gal 3,23–25), an denen Luther sich orientiert.774 In diesem Kontext entwickelt er nun das Verhältnis von Gesetz und Evangelium im Sinne zweier je neu aufeinander folgender Zeiten. Luther deutet das in Gal 3,19 angezielte Ende des Gesetzes – das Gesetz ist hinzugekommen, bis der Nachkomme da sei, dem die Verheißung gilt – in einer doppelten Weise, nämlich »ad literam« und »spiritualiter« (492,11). Für beide Deutungsmöglichkeiten gilt, dass das Gesetz nicht »in aeternum, sed ad certum tempus« sein Amt ausübt (491,17 f.). »Ad literam« wird das Gesetz in einem chronologisch-heilsgeschichtlichen Sinne beendet, d. h. in objektiver Weise ist Christus mit seinem Versöhnungswerk an die Stelle der mosaischen Ordnung getreten. Weitaus wichtiger ist Luther aber das geistliche, existentielle Ende das Gesetzes, das sich nicht nur einmal, sondern je neu »kairologisch« im Gewissen einstellt.775 Das Ende des Gesetzes ist nicht einfach ein weltgeschichtliches Datum, sondern ereignet sich immer wieder in der christlichen Existenz. Denn aufgrund der blei Vgl. 45,11–46,1 (Hs): »Ideo bene disce istas 2 iusticias; Iustitia legis necessaria, sed suis finibus, scilicet in veterem hominem, in carnem, in hominem qui natus ex carne et sanguine, dem sol man den Stecken auflegen, non debet frui libertate spiritus et gratiae in hac vita. Si wird from, sol er’s haben.« 773 Vgl. 45,20 f.: »Quomodo non sub lege? Secundum novum hominem ad quem lex nihil pertinet. Habet suos limites usque ad Christum. Illo veniente cessat Moses cum lege.« 774 Luther sieht in diesen Versen vornehmlich den usus legis theologicus ausgesprochen: 480,25 f.; 491,15 ff. Speziell zu seiner Auslegung von Gal 5,24 vgl. Schott, lex paedagogus. 775 Zur theologischen Rezeption der Unterscheidung zwischen Chronos (Zeit als kontinuierlicher, messbarer Ablauf) und Kairos (Zeit als gefüllte, qualifizierte Zeit, in der etwas »an der Zeit«, d. h. möglich und notwendig ist) vgl. Elert, Ethos, 370–378, 388 ff. 772

Gesetz 369 benden Sünde wird der Christ zeitlebens angefochten und durch das Gesetz in seinem theologischen Brauch angeklagt und verurteilt. Dies ist in gewisser Weise auch berechtigt, ja heilsam, eben weil der Christ noch Sünder ist und bleibt, er nicht selbstsicher werden, sondern bei der Gnade festgehalten werden soll.776 Aber dieser usus legis darf nur eine begrenzte Zeit dauern. Das Gesetz, welches die Sünde und den Zorn Gottes offenbart, muss für die, die es ernsthaft erfahren, in seiner Wirkung limitiert sein, da ansonsten die derart Angefochtenen vergehen würden: »Oportet igitur praefigi modum et tempus legi, ultra quod non dominetur.« (491,22 f.) Hat das Gesetz sein anklagendes Amt vollzogen, gilt: »ibi praescriptum modum, tempus et finem habet lex, ut desinat suum Tyrannidem exercere.« (492,20 f.) Es folgen dann »Zeit und Stunde des gesegneten Samens« Christus, ihm muss das Gesetz die Herrschaft übergeben (492,25–30). Was sich nach Luther hier im Gewissen bzw. in der Existenz des Christen abspielt, ist die neue Begegnung mit dem Gnade, Frieden und Sündenvergebung bringenden Christus bzw. die neue Entstehung bzw. Kräftigung des Glaubens. Gelangt der Angefochtene nicht zu diesem Ende des Gesetzes, dann wird er in die völlige Verzweiflung und den geistlichen Tod geführt, hat doch das Gesetz die Neigung, sich über die ihm zugemessene Zeit gleichsam »hartnäckig im Gewissen festzusetzen«, eine Tendenz, welcher sich der Einzelne in seiner Einsamkeit kaum erwehren kann.777 Die Begegnung mit dem göttlichen Gnadenwort bzw. die Neukonstitution des Glaubens ist deshalb wesentlich vermittelt durch den tröstenden Zuspruch des Bruders, denn das rettende Wort kann der Mensch sich nicht selbst sagen: »Hic nisi accedat fides quae iterum erigat, aut […] adsit frater qui consoletur verbo Dei sic oppressum et contusum lege, certa desperatio et mors sequitur.« (493,17 ff.)778 Es gilt also in der Erfahrung der Anfechtung jene dem usus theologicus legis theoretisch eignende und seine verurteilende Funktion zeitlich begrenzende »pä Zu diesem Aspekt der Anfechtung vgl. 321,17–26; 40 II,61,15–22. Die Anfechtung ist für Luther einerseits ein Zeichen des Unglaubens, andererseits aber dem Glauben geradezu notwendig. Dazu Pinomaa, Anfechtung, 102 ff. 777 Vgl. 493,11 ff.: »Sed ista legis duratio spiritualis tenacissime haeret in conscientia; ideo difficillimum est homini qui Theologico usu legis exercetur, finem legis attingere«; 520,12 f.: »Non est enim in potestate hominis, hos terribiles terrores quos lex efficit, aut aliam cordis tristitiam excutere.« 778 522,19–27 formuliert Luther dies explizit als seelsorgerlichen Zuspruch: »Frater, conclusus quidem es; sed scias hoc non agi, ut in perpetuo in isto carcere conclusus tenearis, quia scriptum est Concludi nos in futuram fidem. […] Lege occideris, ut per Christum vivificeris. Quare ne desperes ut Cain, Saul et Iudas. […] Vide, ut ista conclusione recte utaris, scilicet in futuram fidem.« – Sowohl das Gesetz als auch das Evangelium haben also in der Existenz des Christen ihren Kairos (und deshalb auch ihren begrenzten Chronos), das Entscheidende ist, zu erkennen, was jeweils »an der Zeit ist«. Vgl. Elert, Ethos, 389: »Infolgedessen sind auch die zwei Zeiten des Gesetzes und des Evangeliums nicht chronologische Abschnitte unseres Lebens, die aufeinander folgen, sondern die jedes Mal so oder so qualifizierte Totalität unseres Lebens.« 776

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dagogische« Intention und Finalität durch Begegnung mit oder Rückbesinnung auf das Evangelium zu erkennen und an sich praktisch wahr werden zu lassen. Das Gesetz klagt mich – wie Luther unter Berufung auf Gal 3,23 nicht müde wird zu betonen – immer »in futuram fidem« an, »in Christum, qui est finis legis« (520,21 ff.29–33).779 Luther bringt die vom Christen je neu zu durchlebende Sequenz vom Gesetz zum Evangelium, von der Totalwirklichkeit der Sünde zur Totalwirklichkeit der Rechtfertigung, also (mit Wilfried Joest zu reden)780 den je neuen »Transitus«, explizit auf den Begriff der zwei Zeiten, zwischen denen der konkrete Christenmensch als simul iustus et peccator hin und her schwingt. Wenn wir nach Gal 3,23 auf den Glauben hin, der offenbar werden soll, unter dem Gesetz verschlossen sind, so fordert Luther auf, dies nicht nur auf die damalige Zeit bezogen zu denken, sondern als »affektiv« jederzeit gegenwärtig zu erkennen. Was sich einmal historisch ereignet hat, das Kommen Christi und die Freiheit vom Gesetz, das geschieht geistlich und täglich beim einzelnen Christen, in dem sich wechselweise die Zeit des Gesetzes und der Gnade einstellen:781 »Est igitur in Christiano utrumque tempus legis et gratiae in affectu. Legis tempus est, quando lex me exercet, divexat, contristat et redigit in cognitionem peccati ac illud auget. Ibi tum lex est in vero usu quem Christianus subinde sentit, donec vivit. […] Tempus gratiae est, cum cor iterum erigitur promissione gratuitae misericordia Dei.« (524,32–525,10)782 Dass der Christ nicht einfach ungetrübt in der Zeit der Gnade,

Zu dieser Finalität des usus theologicus legis vgl. schon 488,11–490,24. – Luther kann die zeitlich erfahrene Dialektik von Gesetz und Evangelium auch so ausdrücken, dass der Christ zwar noch die Schrecken und Anklagen des Gesetzes im Gewissen erfährt, sie ihn aber nicht verdammen und zur Verzweiflung treiben, weil das aufrichtende Wort des Glaubens sie beendet. Das Amt des Gesetzes erscheint hier also in seinem letzten Vollzug gleichsam aufgehalten zu sein. Vgl. 672,18–24; 40 II,4,14–5,9: »Sicut enim ira Dei non potest perterrefacere nos, nam Christus ab ea nos liberavit, ita lex, peccatum etc. accusare ac condemnare non possunt, Et quanquam lex arguat et peccatum perterrefaciat nos, tamen non possunt nos in desperationem adigere, quia fides, victrix mundi, mox dicit: Illa nihil ad me pertinent, Christus enim liberavit me ab his. […] Ideo imbuendus est animus, ut, cum sentit accusationem legis, terrores peccati, horrorem mortis, iram Dei, illa tristia spectra ex oculis removeat et in locum horum ponat libertatem Christi, remissionem peccatorem, iustitiam, vitam et misericordiam sempiternam, Et quanquam fortis sit sensus contrariorum, tamen certo statuat eum non diu duraturum. […] Sed hoc factu difficillimum est. Sic certa a firma fide apprehendi posset, nullus furor aut terror mundi, legis, peccati, mortis, diaboli etc. tam magnus esse posset, qui non statim ceu scintilla a mari, ab ea absorberetur«; 40 II,60,13 f.; 99,33–36. 780 Vgl. Joest, Gesetz, 60 ff. 781 Vgl. 524,13 ff.: »Quod gestum est historice et temporaliter […], Hoc privatim quotidie fit Spiritualiter in quolibet Christiano, in quo subinde invenitur per vices tempus legis et gratiae.« 782 Vgl. 488,30–33: »Sed hoc opus, hic labor est, ut sic exterritus et contusus lege possit sese iterum erigere et dicere: Iam satis contritus et conturbatus sum, satis afflixit me 779

Gesetz 371 sondern in der »Strittigkeit der Zeit«783 lebt, führt Luther mit Röm 7,23 auf das »Gesetz in den Gliedern«, also auf die bleibende Sünde zurück. Dabei denkt er nicht primär an grobe Vergehen wie Mord, Ehebruch oder Diebstahl, sondern an innere Sünden wie Ungeduld, Murren, Hass und Lästerung gegenüber Gott, aber auch sinnliche Konkupiszenz, Hochmut, Sucht nach Ruhm und Reichtum oder Geiz sind dazu zu zählen. Gelangen diese auch nicht zur Tat, weil der Christ ihnen widerstrebt, so sind sie doch als unwillkürlicher, unvermeidbarer Trieb oder innere Regung in uns und führen zu jenem Wechsel der Zeiten. Gleichwohl kommen sie mit ihrem »Anfechtungspotential« nur zum Zuge durch den unvollkommenen Glauben bzw. den Unglauben. Denn von Christus her ist unser Heil vollkommen gegeben, von daher gibt es für uns keine Anklage des Gesetzes mehr, und im Glauben gewinnt das Gewissen daran Anteil. Da wir aber Christus nie vollkommen ergreifen, unser Glaube oft schwach ist und unser Blick sich auf das Fleisch und den alten Adam in uns fixiert, klagt uns das Gesetz noch an, verstört das Gewissen, das doch eigentlich im Blick auf Christus von ihm völlig frei sein müsste: »Si igitur Christum et rem quam gessit aspexeris, nulla amplius Lex est. […] Quare si possemus Christum qui legem abrogavit et nos peccatores Patri sua morte reconciliavit, perfecte apprehendere, nihil prorsus iuris in nos haberet paedagogus ille. Defectus igitur non est in Christo, sed in nobis, qui nondum exuimus carnem, in qua, donec vivimus, haeret peccatum.« (535,22–536,11)784 Luther kann diesen Sachverhalt auch im Kontext der sanativen Gerechtwerdung zum Ausdruck bringen, die gleichsam durch die je neu sich ereignende Ganzrechtfertigung vorangebracht wird, aber immer partial ist: »Ideo quod ad nos attinet, partim liberi a lege partim sub lege sumus.« (536,11 f.; mit Verweis auf Röm 7,25) Kurz darauf vergleicht er Christus mit dem Sauerteig, der den Menschen ganz durchwirken soll, aber dies nur prozesshaft tun kann – wegen des dem Menschen anhängenden Fleisches. Im Blick auf den »Sauerteig« Christus ist der Mensch natürlich schon ganz rein, im Blick auf sich selbst aber hat er bis jetzt nur die Erstlinge des Geistes: »Si inspicio fermentum, nihil video nisi merum fermentum, si corpus massae, nondum est merum fermentum. Sic, si Christus inspicio, totus sanctus et purus sum, nihil plane sciens de lege, Christus enim est fermentum meum. Si vero meam carnem inspicio, sentio avaritiam, libidinem,

tempus legis. Iam tempus est gratiae et audiendi Christi«; 209,24–28, bes. 25 ff. (mit deut­ lichem Bezug auf Pred 3,1–8): »Est tempus moriendi, est tempus viviendi, Est tempus legem audiendi, est tempus legem contemnendi, Est tempus Evangelium audiendi, est tempus nesciendi Evangelium«; 20,759,20–762,11 (Wechsel von »tempus belli« und »tempus pacis« beim Christen). 783 Ebeling, Lutherstudien II/3,428. Vgl. ebd., 535 f. 784 Vgl. 564,15–25, bes. 21–25: »Sancti nondum penitus deposuerunt carnem, ea autem repugnat spiritui. Ideo subinde redeunt terrores legis, pavor mortis et alia spectra tristia quae fidem impediunt, ut tanta certitudine beneficium Christi, qui nos a servitute legis redemit, non apprehendat, quanta deberet.«

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

iram, superbiam […].« (537,22–27)785 Entscheidend für die Frage, in welcher Zeit der Christ jeweils steht, in der Zeit der Gnade oder der des Gesetzes, ist also, worauf der Christ schaut und blickt: auf sich und seine sündige Wirklichkeit oder auf Christus, d. h. ob er glaubt oder nicht glaubt.786 Da es sich bei dem Wechsel der Zeiten zwar um ein Nacheinander, aber um ein sich immer wieder einstellendes Nacheinander handelt, vermag Luther es auch als simultanes »Geteiltsein« des Christen selbst zu deuten: »Sic ergo Christianus divisus est in duo tempora. Quatenus caro, sub lege est, quatenus Spiritus, sub Evangelio est.« (526,21 f.) Im Blick auf diese beiden Zeiten gilt, dass sie nicht nur theoretisch (»verbis«), sondern existentiell-affektiv (»affectu«) sorgfältig zu unterscheiden sind, gerade weil sie im Gewissen so eng verbunden sind: »Quanquam enim distinctissima sunt illa duo, tamen etiam coniunctissima sunt etiam in corde.« (527,21–24; vgl. 520,25 ff.; 521,13 ff.) Es kommt also auf das Gespür an, welche Zeit im Gewissen jetzt gilt.787

Luther kombiniert an dieser Stelle die Partialsicht des simul mit dem totus iustus von Christus her, erwähnt aber nicht explizit das totus peccator, das im partim-partim impliziert ist. 786 Dadurch wird das, was der Unglaube erblickt, nicht zur subjektiven Einbildung, sondern es ist so, wie und weil der Unglaube es so sieht – gemäß Luthers Grundsatz: »glaubstu, so hastu, glaubstu nit, so hastu nit.« (7,24,13) Vgl. 40 I,444,13–27, bes. 14: »Quatenus igitur hoc credis, eatenus habes«; 40 II,342,16–343,9 (Hs). Ferner 40 I,538,14–26: »Verum est, quatenus Christum inspicies, re vera lex et peccatum abolita sunt. Sed Christus nondum venit tibi, aut si venit, tamen adhuc reliquiae peccati in te sunt, non fermentatus es totus. Ubi enim est concupiscentia, tristitia spiritus, pavor mentis etc., ibi adhuc lex et peccatum est, Christus nondum vere adest qui veniens expellit timorem et tristiam et adfert pacem et securitatem conscientiae. Quatenus igitur Christum fide apprehendo, eatenus abrogata est mihi lex. Sed caro mea, mundus et diabolus non permittunt fidem esse perfectam. Velim quidem, quod parvula lux fidei in corde diffusa esset per totum corpus et omnia membra. Non fit, non statim diffunditur, sed coepta est diffundi. Interim ea est consolatio nostra, quod primitias Spiritus habentes incepimus fermentari, fermentabimur autem toti, cum corpus hoc peccati dissolvitur et novi cum Christo resurgemus.« 787 Von der Konzeption der einander ablösenden, also nicht simultanen Zeiten des Gesetzes und des Evangeliums, der Erfahrung des Zorns und der Gnade, ist es konsequent, dass Luther unter Verweis auf 1.Tim 1,9 ausdrücklich betont, dass das Gesetz »non esse positam iustis, sed, ut alibi Paulus docet, iniustis« (528,7 f.). Die Ungerechten sind aber in doppelter Weise zu differenzieren: in solche, die zu rechtfertigen sind und solche, die das (noch) nicht sind. Die Letzteren werden durch den usus civilis legis im Zaum gehalten. Dieser usus legis hört in der sündigen Welt (oder bei diesen Menschen) niemals auf. Die zu Rechtfertigenden werden dagegen durch den usus theologicus nur »ad tempus«, auf Zeit beschwert – »non enim perpetuo durat [usus theologicus legis] ut civilis, sed respicit in futuram fidem et veniente Christo finitur.« Luther fährt dann fort: »Ex his satis constat omnes sententias in quibus tractat Paulus spiritualem usum legis, intelligendas esse de iustificandis, non de iustificatis. Hi enim, ut iam saepe dictum est, longe extra et supra omnem legem sunt. Imponenda est igitur lex iustificandis.« (528,12–17) Hier ist durch den Kontext des beim Christen als simul iustus et peccator sich zeitlebens ereignenden 785

Gesetz 373 Wir sehen jetzt deutlich, dass nach Luther das simul iustus et peccator zumindest auf der Erfahrungsebene für den Christen sich als zeitliches Nacheinander darstellt, als je neu durchlebte Sequenz der Erfahrung der Anklage des Gesetzes und der Erfahrung des Freispruchs durch das Evangelium.788 Dadurch wird das strenge zeitliche Zugleich der zwei Willensrichtungen auf der anthropologischen Ebene (Geist und Fleisch) sowie das im Glauben geltende rechtfertigungstheologische simul totus iustus et totus peccator nicht aufgehoben. Man gewinnt freilich den Eindruck, dass Luther in der Exegese von Gal 3,19–21 auf der anthropologischen Ebene nun nicht – wie früher aufgewiesen – von einer kontinuierlichen Parallelität der beiden Willensrichtungen bzw. von Sünde (Unglaube) und Glaube her denkt, sondern er den Glauben als je neu entstehend auffasst, während die Sünde des Christen, die ihrerseits natürlich auch den Unglauben einschließt, ja letztlich Unglaube ist, sozusagen kontinuierlich »mitläuft«. Folglich ist auch in dem neu erstarkten Glauben der Unglaube immer »zugleich« noch mitgegeben, so dass auch auf der psychologisch-existentiellen Ebene der Glaube immer nur als Dominanz des Glaubens über den Unglauben erfahren werden kann, andernfalls wäre der Mensch hochmütiger Selbstsicherheit verfallen. Luther kann das Modell des Zeitenwechsels schließlich durch den je neu sich ereignenden »Advent« Christi im Geist umschreiben. Dabei scheint er mit diesem »täglichen Kommen Christi« im Geist zweierlei zu verbinden: Einmal ereignet

Wechsels der Zeiten klar, dass das Gesetz auch für den Christen als immer wieder nicht Gerechtfertigten gilt, also nicht nur für nichtchristliche iniusti oder Scheinchristen. Der Christ als Christ steht freilich nicht unter dem Gesetz. Vgl. auch 530,20–25 (Hs); 534, 18 ff. 788 Vgl. K. Bornkamm, Auslegungen, 217 f., bes. 218: »Das Nebeneinander von Gesetz und Gnade, die ihn als alten und neuen Menschen betreffen, ist dem Menschen erfahrbar in der zeitlichen Folge des Nacheinander. Die zeitliche Interpretation des Verhältnisses beider Gerechtigkeiten beschreibt die Aneignung des simul iustus et peccator, sie ist die Übersetzung des simul in die Erfahrbarkeit des Menschen: Nicht indem jeweils eine Ganzheit aufgehoben wird, doch so, daß sich für die Erfahrung des Menschen die Akzente von einer Ganzheitsaussage auf die andere so verschieben, daß beide Aussagen im Nacheinander erkannt werden.« Zur »Zeitlichkeit« von Gesetz und Evangelium vgl. auch Schulken, Lex, 208; Keilus, Gesetz, 142. – Nicht unerwähnt sei allerdings, dass Luther an zahlreichen Stellen des Großen Galaterkommentars die Zuordnung des Evangeliums zum Gewissen und des Gesetzes zum Fleisch nicht als zeitliche Sequenz, sondern im Sinne zweier »Hälften« bzw. zweier Seiten im Menschen zu verstehen scheint, womit das erwähnte Problem der simultanen Geltung zweier kontradiktorischer Urteile entsteht. Als Ausweg böte sich an, das vom Gewissen auf das Fleisch verwiesene Gesetz seiner Anklage nach auf ein bloßes Zeigen der Sünde abzuschwächen (man wäre dann sachlich auf dem Weg zu einem tertius usus legis) oder es im Sinne des usus civilis zu deuten (so z. B. 207,17–208,25; 210,16–19). Existentiell gesehen ist für Luther die Aufteilung von Gesetz und Evangelium auf zwei Schichten im Menschen oft ein Weg, die Ansprüche des Gesetzes auf das Gewissen abzuwehren. Vgl. zum Ganzen 270,20–271,20; 279,31–280,11 f.; 431,21–25; 469,19–31; 559,22–27; 594,25–595,34.

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sich durch dieses je neue Empfangen Christi wieder die Rechtfertigung des ganzen Menschen, das neue Erstarken des Glaubens und die Freiheit von der Anklage des Gesetzes, zum anderen ist Christus aber eben dadurch der, der mir im Kampf gegen die Sünde bzw. das Fleisch beisteht und diesen vorantreibt: »Christus enim, ut semel secundum tempus corporaliter venit, […], Ita spiritualiter sine intermissione ad nos venit et ista [das Fleisch mit seinen bösen Regungen] perpetuo in nobis exstinguit atque occidit.« (537,31–34; vgl. 538,30–33) Die Zeit wird folglich in doppelter Weise erfüllt: Einmal durch den Advent Christi im Fleisch in historisch fixierbarer, von Gott festgelegter Zeit, in der er für alle das Heil erworben hat – und dann durch den geistlichen Advent »quotidie et singulis horis«, dessen Notwendigkeit explizit mit der bleibenden Sünde begründet wird: »Quia nondum perfecte puri sumus, haerent enim adhuc in carne nostra reliquiae peccati, Item caro militat contra spiritum etc., Ita quotidie venit [Christus] spiritualiter et indies magis magisque absolvit tempus praefinitum a patre, abrogat et tollit legem.« (550,26–29) Dabei scheint Luther erneut neben dem Aufrichten des Gewissens ein Wachstum des Glaubens und einen Fortschritt im Kampf gegen die Sünde anzunehmen: »Ipsa [sc. conscientia] tamen semper iterum erigitur quotidiano adventu Christi […], qui […] quotidie spiritualiter ad nos venit hoc agens, ut in fide et cognitione ipsius crescamus, ut conscientia de die in diem perfectius se, Christum, apprehendat et in dies magis magisque minuatur Lex carnis et peccati, pavor mortis et quidquid malorum Lex secum affert.« (536,25–537,1)

6.3 Zwei Aspekte oder Relationen: Der Christ ein »Doppelwesen« Wir wenden uns jetzt den sog. Antinomerdisputationen aus den Jahren 1537–40 zu, in denen Luther auf die schon ein Jahrzehnt dauernde Auseinandersetzung mit seinem früheren Schüler und Freund Johann Agricola akademisch reagierte. Die Frage des simul iustus et peccator spielt in den Disputationsthesen und Disputationsvoten eine zentrale Rolle, geht es doch in ihnen um das kontroverse Thema der Fortgeltung des Gesetzes in der Kirche. Der Streit entzündete sich an der Frage, ob die Buße aus dem Gesetz oder – wie Agricola unter Berufung auf den frühen Luther behauptete –789 nur aus dem Evangelium, aus der »violatio filii«, d. h. aus dem Anblick des für mich gekreuzigten Gottessohnes, der mich meiner Sünde, meines Unglaubens überführt, zu lehren sei. Luther verteidigte vehement die These, dass die Hinführung zur Buße die ureigenste Funktion des Gesetzes im Unterschied zum Gnadenwort des Evangeliums sei, wenngleich er zugestand, dass die Erkenntnis eigener Sünde sich durchaus am Evangelium Zur Position Agricolas und zu Luthers Auseinandersetzung mit ihm vgl. KjeldgaardPederson, Gesetz; Eisenroth, Luther; Keilus, Gesetz, 134–140; Brecht, Antinomerdisputationen; Sparn, Lex. 789

Gesetz 375 entzünden könne, aber dann wirke das Evangelium als Gesetz und nicht in seiner eigentlichen Bestimmung als Evangelium. In den Antinomerdisputationen geht es – darauf hat Christian Schulken nachdrücklich hingewiesen –790 nicht nur um die bleibende Wirklichkeit des Gesetzes im Leben bzw. Gewissen des Christen,791 sondern um die Predigt des Gesetzes in der Kirche, also um seine sprachliche Artikulation. War in den früheren Auseinandersetzungen mit der römischen Seite nicht das Faktum der Gesetzeswirklichkeit, sondern ihr Modus beim Christen strittig (Luther leugnete die Funktion des Gesetzes bei der Rechtfertigung und explizierte die beiden legitimen usus des Gesetzes), so tritt nun im Disput mit den Antinomern, welche das Gesetz im christlichen Kontext als Anachronismus betrachteten, die Notwendigkeit stärker in den Blick, das Gesetz allererst sprachlich, d. h. durch die Predigt voll ins Bewusstsein zu heben. Damit ist für Luther natürlich nicht bestritten, dass dafür an eine mehr oder weniger deutliche Präsenz des Gesetzes im Gewissen (lex naturae) angeknüpft werden kann und muss. Die Notwendigkeit der Gesetzespredigt in der Kirche resultiert nun für Luther wesentlich, aber nicht ausschließlich, aus der bleibenden Seinsbestimmung des Christen als simul iustus et peccator. Die hierbei gemachte Einschränkung weist auf einen zweiten Grund für die Gesetzespredigt hin, der sogleich sichtbar werden wird. Bevor wir in die Analyse einzelner Texte eintreten, sei noch eine Vorbemerkung vorausgeschickt: Es geht im Folgenden nicht um eine Darstellung der antinomistischen Streitigkeiten an sich, schon gar nicht um eine eigenständige Erfassung der Position von Luthers Kontrahenten Johann Agricola. Unsere Fragestellung dreht sich allein um die Thematisierung des simul in Luthers Reaktion auf die von Agricola intendierte Verbannung des Gesetzes aus dem Kontext christlichen Lebenszusammenhangs. So tritt der Antinomismus v. a. in der Perspektive Luthers in den Blick. Es wird sich dabei zeigen, dass Luther die Simultaneität von Gesetz und Evangelium im Christen nicht mehr bzw. nicht vorrangig als je neue Sequenz zweier Zeiten darstellt, sondern von zwei Aspekten bzw. Relationen am Christen spricht. Zu prüfen ist hierbei natürlich, ob das nicht zu jener logisch nicht möglichen Parallelität bzw. undifferenzierten Gleichzeitigkeit von Gesetz und Evangelium im Christen führt, die quasi auf zwei Hälften bzw. Schichten in ihm aufgeteilt werden. Wir fragen in der Folge zuerst nach Luthers grundsätzlicher Einschätzung des Antinomismus (6.3.1), untersuchen anschließend die Begründung der kirchlichen Gesetzespredigt (6.3.2) sowie das Vorkommen der simul-Thematik in den Antinomerdisputationen (6.3.3) und stel-

Vgl. Schulken, Lex efficax, bes. 43–83. Während Schulken ausführlich die Gründe für diese Neuakzentuierung im Gesetzesbegriff untersucht, geht die ältere Studie von Schloe­ mann, Gesetz, darauf nicht ein, sondern arbeitet nur die (inhaltliche und funktionale) Einheit von lex naturalis und lex praedicata bei Luther heraus. Vgl. aber schon Heintze, Predigt, bes. 66–101; Josuttis, Predigt. 791 Dieser Gesichtspunkt dominierte – wie wir gesehen haben – noch in der Vorlesung über den Galaterbrief 1531. 790

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len sodann die zur Explikation des simul verwandten Aspekte bzw. Relationen vor (6.3.4). Schließlich soll nach ihrem Verhältnis zum Modell der »zwei Zeiten« gefragt werden (6.3.5.)

6.3.1 Die zwei Prinzipien der Antinomer In der Vorrede zur dritten Antinomerdisputation führt Luther aus, dass den Antinomern zwei Prinzipien oder Dogmen eigen seien,792 von denen her ihre These der totalen Abrogation des Gesetzes herzuleiten sei: »Nam inter alia deliramenta haec duo ponunt principia: Primo, quod Christus formaliter sustulit omne peccatum. […] Et tunc sequitur alterum principium seu paradoxon, quod fingunt, suam ecclesiam sic puram et integram esse sine omne macula et labe, ut fuit Adam iamiam creatus in paradiso et integer. Ita constituunt et faciunt suos etiam impios formaliter iustos.« (39 I,490,6–13)793 Nach der Meinung Luthers gehen die Antinomer einmal von einer Kirche der Reinen aus, in der sich ausschließlich Gläubige und Bekehrte, aber keine Heuchler und groben Sünder mehr finden.794 Zum andern sind sie der Überzeugung, dass im Christen selbst die Sünde formaliter, d. h. wirklich, eigentlich, also im Blick auf die Zuständlichkeit des Christen, durch Christus beseitigt sei.795 Während das erste Prinzip mehr die nüchterne Realität der empirischen Kirche als eines corpus permixtum überspielt, besteht das zweite Prinzip vorwiegend in der Leugnung der bleibenden Sünde im Christen selbst, also in der Leugnung des simul peccator. In beiden Prinzipien erblickt Luther eine sich den Menschen konform machende, sie in falscher Sicherheit wiegende Verharmlosung der Realität der Sünde – der von der Sünde schon freie Christ hat es nur noch mit der Bedrohung durch künftige Sünde zu tun –, welche eben zu jener Vernachlässigung der Gesetzespredigt führt. Aber nach Luther lehrt die Erfahrung und erst recht das Wort Gottes anders über die Sünde und die Kirche in der Welt. Im Blick auf die Kirche ist festzuhalten, dass in ihr nach dem Wort Christi, das die Kirche mit einem Netz mit guten und bösen Fischen vergleicht (Mt 13,47), immer Gute und Böse zugleich, d. h. auch Heuchler und Scheinchristen zu finden sind. Die Kirche kann zwar heilig und Zum Folgenden vgl. Eisenhuth, Luther, 29 f., 34 f. Vgl. 39 I,493,21 ff.: »Nam duas res ipsi intendunt et conantur efficere et persuadere hominibus, quod Ecclesia pura sit et sancta, et deinde peccatum nihil esse aut certe tale, quod non sit curandum«; 514,12–15: »Et fingunt, homines christianos perfecte esse sanctos neque posse contra Deum facere, quod non est verum. Nos autem contra docemus, Ecclesiam quidem esse sanctam, et tamen habere multos admixtos hypocritas, imo etiam ipsos sanctos, qui sunt in Ecclesia, habere adhuc peccatum«; 43,308,3–310,10; 51,173,23–187,15. 794 Die Annahme einer solchen Kirche der Reinen ist von der rigoristischen Schaffung einer solchen Kirche nicht zu trennen: »Multi omnibus temporibus fuerunt, qui conati sunt, talem quandam ecclesiam constituere, in qua nullum crimen, nullum peccatum conspici potest et omnia pura et sancta essent.« (39 I,490,27–491,2) 795 Zum Gebrauch von formalis bzw. formaliter bei Luther im Sinne von »wesenhaft«, »wirklich« im Gegensatz zu imputative vgl. Seeberg, Lehrbuch IV/1, 2991. 792

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Gesetz 377 rein genannt werden, aber das gilt immer nur »per synekdochen«, d. h. aufgrund des heiligen Teils in ihr, also der Gläubigen.796 Aber auch diese sind nicht aus sich selbst heilig und gerecht (»formaliter«), sondern »imputative et reputative«, und stehen wegen der bleibenden Sünde zeitlebens in schärfstem Kampf und Streit mit ihr. Die nicht explizit ausgesprochene, aber als Skopus der ganzen Überlegungen im Hintergrund stehende Konsequenz ist natürlich: In der Kirche ist das Gesetz zu predigen!797 Luther lässt erkennen, dass die beiden Prinzipien der Antinomer – Leugnung der Kirche als corpus permixtum und Bestreiten des simul – bzw. seine Gegenposition dazu sozusagen verschränkt zu denken sind: Die Kirche ist für die Antinomer auch deshalb heilig, weil die Sünde bei den Christen formal weggenommen ist, nicht nur weil keine Scheinchristen mehr in ihr sind. Und für Luther gilt: Die Kirche ist bleibend auch deshalb sündig, nicht nur weil sie ein corpus permixtum darstellt, sondern auch weil in den Christen selbst die Sünde »am Fleisch hängt«. Dabei lehnt Luther natürlich nicht jedwede real-sukzessive, im Kampf gegen die Sünde sich einstellende Gerechtwerdung der Christen ab, bestreitet aber, dass diese vor dem göttlichen Gericht bestehen kann: »Nos etiam sumus puri et sancti, sed primo per imputationem, quia non imputatur nobis peccatum. Secundo sumus Vgl. 39 I,493,24 f.: »Sancta est ecclesia propter partem, quae est in ea, per synekdochen.« Vgl. 544,3–11. 797 Vgl. 39 I,491,13–492,4: »Sed Antinomi nostri fingunt Ecclesiam […] prorsus puram et sanctam et quae tantum opus habet, ut admoneatur exemplo et gratia Christi de futuro peccato. Ego autem dico, quod etiam docenda est Ecclesia et admonenda (de sancta et vera ecclesia loquor) de peccato praesente et haerente adhuc in carne nostra, etiam eorum, qui veri sancti sunt, ne dicam, quod interim, dum est Ecclesia in mundo, non possit liberari aut separari ab hypocritis et peccatum haerens in natura non nisi morte aboleri. […] Hoc itaque primum est, quod falsum est, ecclesiam esse prorsus puram. Alterum vero est, quod inde sequitur, peccatum non esse ita formaliter sublatum, ut isti insani homines sentiunt, sed reputative seu imputative, hoc est, misericordia et gratia Dei sustulit peccatum. […] Ita sumus reputative iusti, sed ita tamen, ut constituamur in alienis [aciem?] et pugnandum nobis est contra reliquum peccatum in carne haerens.« – Zur Übertragung des simul auf die Kirche (diese ist heilig und sündig zugleich a) wegen der Heuchler in ihr, b) wegen der Sünden der Christen selbst, die von Christus her ganz heilig sind und in sich anfanghaft heilig werden, wozu auch die gesteigerte Sensibilität für die eigene Sünde gehört) vgl. noch 34 I,208,11–14: »Christiana ecclesia ist heilig, sed incepit. Christiana ecclesia soll sagen: Ego sum in peccatis, peccatrix et tamen Sancta, quia credo, quod corpus et sanguis pro me data et quod semper duret ista remissio peccatorum, quia semper peccatum durat«; 276,7–12: »Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia. Quomodo haec est Sancta et peccatrix? Credit remissionem peccatorum et dicit: ›debita dimitte.‹ Hoc nemo dicit, nisi qui sit sanctus, et spiritus sanctus ista loquitur verba. […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscant peccata«; 39 I,51,26–35, bes. 32 f.: »Et tota ecclesia, petens Dominica oratione, sanctificari nomen Dei, et remissionem peccatorum etc., hoc ipso fatetur, sese peccatricem esse«; 351,17–20; 514,25–515,5; 40 I, 68,25–71,28; 197,21–198,16, bes. 197,23 f. (nur Dr): »Est quidem ecclesia sancta, tamen simul peccatrix est«; 40 II,106,19–107,15; 50,473,4 ff. 796

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etiam formaliter iusti, ut quando per primitias istas et spiritum sanctum mihi datum de coelo per fidem incipio luctare et pugnare cum peccato et blasphemia.« (493,25–494,3) Im Blick auf diese »formale« Gerechtigkeit gilt aber der Satz: »nihil est in tota natura hominis, quae opponi possit iudicio Dei.« (493,1 f.) Die Position der Antinomer stellt für Luther letztlich eine illegitime Vorwegnahme dessen dar, was erst eschatologisch gegeben ist. Sie überspielen den Kampfescharakter des christlichen Lebens und vernachlässigen die Unterscheidung zwischen kämpfender und triumphierender Kirche. Mit ihrem triumphalistischen Kirchenverständnis tun sie so, als wären wir schon im Himmel.798

6.3.2 Die doppelte Begründung der kirchlichen Gesetzespredigt Da die Kirche nach Luther sowohl aus Christen als auch aus Scheinchristen besteht und auch in den Christen die Sünde noch präsent ist, ergibt sich eine doppelte Begründung für die Unverzichtbarkeit der Gesetzespredigt in der Kirche: Das Gesetz ist einmal den Hartherzigen und Unbußfertigen zu predigen, damit sie ihre Sünde erkennen und sich zu Christus bekehren, dann aber auch den Christen selbst, sofern sie noch Sünder sind und neu des Zuspruches des Evangeliums bedürfen. Allein im letzten Fall ist für Luther die Gesetzespredigt im simul begründet, da ein Zugleich von Gerechtigkeit und Sünde bei der ersten Gruppe nicht vorliegt, sondern ein völliges Verfallensein an die Sünde. Diese Duplizität der Begründung der Gesetzespredigt durchzieht die ganzen Antinomerdisputationen:799 »Lex igitur necessaria est primum propter praefactos et insensatos, ut illi coercentur, secundo propter fideles, qui habent adhuc reliquias peccati.« (374,20–23)800 Da die Glaubenden – im Unterschied zur eschatologischen

Vgl. 490,24: Die Antinomer lehren, als ob die Kirche »iam prorsus cum Christo ex mortuis resurrexerit« (vgl. 502,21–503,1). Luther akzentuiert demgegenüber die Kampfessituation christlichen Lebens und weist auf den Unterschied zwischen ecclesia militans und triumphans hin (492,2–15; 496,4–18). Vgl. zur Position Luthers Eisenhuth, Luther, 30, 35. Ebd. 35 f. ist von der »Doppelheit des Heiligen und des Sünders in einem Menschen« die Rede und von der »gleichen Doppelgestalt der Kirche«. 799 Vgl. Schloemann, Gesetz, 122 f.; Schulken, Lex, 55–64. Freilich ist diese Duplizität der Begründung nicht immer in derselben Eindeutigkeit ausgesprochen. Siehe nur 39 I,361,1–363,20; 414,8–415,6, wo man die Betroffenheit auch der Christen vom Gesetz nur erschließen kann. Es dominiert – im Kontext der Entfaltung der Distinktion von Gesetz und Evangelium – die allgemein-menschliche Betroffenheit durch das Gesetz. 800 Vgl. 375,9–12: »Cum igitur maior pars sit dura et impoenitens, et sancti in hac vita non penitus exuant veterem hominem et sentiant legem in membris suis rebellantem legi mentis ipsorum et captivantem, non est lex removenda ex ecclesia, sed retinenda et fideliter inculcanda«; 455,8–456,18; 497,5–13; 500,9–16; 514,20–515,5; 575,12–576,3. Ferner 43,36,18–31. – Luther differenziert hier nicht zwischen verschiedenen usus legis, wie überhaupt die usus-Lehre, anders als in der Großen Galatervorlesung, in den Antinomerdisputationen nur am Rande vorkommt (z. B. 39 I,441,2 f.). Im Unterschied zu den 798

Gesetz 379 Vollendung – das Gesetz noch nicht vollständig erfüllen,801 bedürfen auch sie der Ermahnung durch das Gesetz (»ut lege admoneantur«), wenngleich ihnen die Forderung (exactio) des Gesetzes »iucunda, possibilis in primitiis, tamen non decimis« wird. Das Gesetz bleibt bei ihnen, nicht sofern sie Glaubende, sondern sofern sie noch »Fleisch« sind: »Ideoque debet doceri [lex] apud christianos, non tamen propter fidem, quae habet spiritum legi subiectum, sed propter carnem, quae resistit spiritui in sanctis. […] Quatenus illa vivit, eatenus non abrogata est lex, non tamen regnat [sc. caro], sed servituti spiritus esse cogitur.« (374,12–20) Die Predigt des Gesetzes wird also bei den Glaubenden in deren bleibender Sünde, den Sündenresten, dem Fleisch bzw. dem alten Menschen verankert, nicht aber sofern sie Glaubende bzw. Geist oder neue Menschen sind.802 Die damit aufscheinende Doppelschichtigkeit des Christen, auf welche Freiheit vom Gesetz und Fortgeltung des Gesetzes gleichsam aufgeteilt werden, wird uns später ausführlich beschäftigen. In jedem Fall will Luther aber betonen, dass, obwohl die Glaubenden mit den Nichtglaubenden unter dem Gesetz stehen, dennoch dieses esse sub lege ein anderes ist: Es gilt zum einen nicht mehr total, betrifft nur die caro, zum anderen wird ihnen die exactio legis »iucunda«, ja anfänglich »possibilis« im Blick auf die Erfüllung des Gesetzes. Es scheint bei ihnen schon jenes Verhältnis zum Gesetz wieder auf, das einst im Paradies herrschte und eschatologisch restituiert wird: »Sic Christi officium est etiam in hac vita restituere genus humanum in amissam illam innocentiam et obedientiam legis iucundam, quae erat in paradiso in positivo. […] Hoc modo fit nobis lex, obedientia aliquomodo iucunda, quam illic in superlativo praestabimus.« (375,4–9)803 Was das für die Frage eines anderen, spezifisch christlichen Umgangs mit bzw. Angegangenseins durch den Willen Gottes jenseits des kritisch überführenden »Gesetzes« bedeutet, wird im übernächsten Abschnitt zu bedenken sein. Für Luther lässt sich ein Aufhören der kirchlichen Gesetzespredigt selbst dann nicht folgern, wenn man ein schon gegenwärtiges doppeltes Ende des Gesetzes konzediert, wobei als Prämisse gilt: Da das Gesetz seine anklagende Macht nur über Sünder ausübt, kann es diese auch nur insoweit verlieren, als die Sünde weggenommen wird.804 Zum einen sind wir »imputative« durch Christus im Glauben von der Sünde und deshalb auch »imputative« vom Gesetz frei; die bleibende Sünde wird uns nicht »angerechnet«. Zum andern hört die Sünde in uns anfanghaft und fortschreitend »formaliter et expurgative« auf, insofern wir sie in der pii könnte bei den impii an manchen Stellen (z. B. 374,20 f.; 500,10 f.) deshalb neben dem usus theologicus legis auch an den usus civilis gedacht sein. 801 Vgl. 374,11 f.: »Sub Christo igitur lex est in fieri esse, non in facto esse.« 802 Vgl. 542,5 ff. (mit explizitem Verweis auf das simul): »Lex promiscue docenda est tam piis, quam impiis, quia pii sunt partim iusti sunt, partim peccatores. Et quatenus iusti sunt, non sunt sub lege et sunt arguendi, donec reliquias peccatorum mortificaverint.« 803 Ähnlich 373,1–7. 804 Vgl. 431,5 ff.: »Ubi cessat peccatum, cessat lex, et in quantum cessavit peccatum, tantum cessavit lex, ut in futura vita simpliciter debet cessare lex, quia tunc erit impleta.«

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Kraft des Heiligen Geistes »de die in diem magis ac magis« ausfegen und töten. Auf diese Weise werden wir auch mehr und mehr vom Gesetz formaliter und expurgative frei (431,10–435,13). Daraus folgt für Luther aber nicht, dass deshalb das Gesetz in der Kirche überhaupt nicht mehr zu predigen wäre, sondern er schließt erneut die zweifache Begründung für die gegenteilige Ansicht an: »quia vulgus pro maxima parte ferox, superbum, rude, fallax, indomitum et vanum est, nec sine praedicatione legis sua vitia et peccata cognosceret. Imo ipsi sancti opus habent lege quasi monitore quodam, cum perpetuum bellum sit in eis spiritus et carnis. […] Ita sancti sunt sub lege et sine lege.« (432,11–15) Die Simultaneität von esse sub lege und esse sine lege, die zunächst Kontradiktorisches zusammenordnet, wird mit dem sich als Kampf darstellenden Zugleich von Geist und Fleisch in den sancti begründet. Weiter scheint Luther in gewisser Weise die elenchtische Funktion des Gesetzes bei den sancti von der beim vulgus abheben zu wollen. Diese Tendenz wird in einer weiteren Reihe von Stellen deutlich, die man als »mitigatio-Stellen« bezeichnen könnte und die in der Forschung umstritten sind, weil sie als Beleg für einen tertius usus legis bei Luther geltend gemacht werden. Mitigatio-Stellen kann man sie deshalb nennen, weil in ihnen von einem »abgemilderten« Gebrauch des Gesetzes bei den Christen die Rede ist. Die ausdrücklichste Stelle dazu findet sich im 21. Argumentum der zweiten Antinomerdisputation: Auf den Einwand, dass doch die Gläubigen, die zur Freude bestimmt sind, durch das Gesetz nicht mehr erschreckt werden dürfen, antwortet Luther: »Lex est iam valde mitigata per iustificationem, quam habemus propter Christum, nec deberet ita terrere iustificatos.« (474,8–11) Wenn die Gläubigen dann dennoch durch das Gesetz mitunter erschreckt werden, ist dies dem Satan zuzuschreiben. Daraus darf jedoch nicht die Konsequenz einer völligen Abrogation des Gesetzes gezogen werden: »Sed tamen ideo non est tollenda lex ex templis et non docenda, quia etiam sancti habent reliquum peccatum in carne, quod lege purgandum est, donec expurgatum fuerit totum.« (474,16–19) Vor der Rechtfertigung, d. h. bei den Nicht-Gerechtfertigten beherrscht und schreckt das Gesetz alle, die es trifft. »Sed non sic docenda est lex piis, ut arguat, damnet, sed ut hortetur ad bonum. Non enim debeo dicere aut praedicare: Vos non estis sub remissione peccatorum. Item: Tu damnaberis, Deus odit te etc. Nam hae voces non pertinent ad illos, qui receperunt Christum, sed praefactos ac feroces spectant. Itaque lex mollienda est et quasi exhortationis loco docenda est.« (474,21–475,2) Luther führt dann einige neutestamentliche Paränesen als Beispiel solcher Gesetzespredigt bei den Frommen an. Dieser Text spricht mithin von der Notwendigkeit der Gesetzespredigt bei Frommen und Unfrommen, sieht sie aber bei Ersteren durch die Rechtfertigung »gemildert«. Sie soll keine strenge Strafpredigt mehr sein, sondern gleichsam eine freundliche Ermahnung und Bestärkung. Gleichwohl gründet auch diese in dem »reliquum peccatum in carne«, das in lebenslangem Kampf auszufegen ist. Vieles spricht für den Interpretationsvorschlag Gerhard Ebelings, der in solchen Passagen keinen tertius usus legis gegeben sieht, sondern eine Differenzierung

Gesetz 381 innerhalb des usus elenchticus:805 Der Prediger soll sich als kluger Seelsorger vergegenwärtigen, zu wem er spricht, und nach den unterschiedlichen Adressaten seine Predigt abmessen. Dann gestaltet sich der usus elenchticus bei den impii als strenge Bußpredigt, die sie in ihrer Selbstsicherheit erschüttern will, bei den pii dagegen als aufmunternde und bestärkende exhortatio. In beiden Fällen werden aber Menschen angesprochen, die – wenn auch in unterschiedlicher Weise – noch Sünder sind, und insofern, als sie noch Sünder sind.806 Auch bei den pii verliert das Gesetz deshalb seine erschreckende Macht nie völlig. Ebeling sieht in dieser Differenzierung des usus theologicus einen Reflex der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Gesetzespredigt selbst. Es ist zu differenzieren zwischen Predigthörern, die dem Evangelium geöffnet, und solchen, die ihm verschlossen sind.807

Vgl. Ebeling, Lehre, 67 f.: »So handelt es sich also um eine Unterscheidung in der Ausrichtung der Gesetzespredigt innerhalb des usus theologicus. […] [Luther differenziert], wie das Gesetz im usus theologicus am impius und am pius wirkt und wie es diesem und jenem zu predigen ist. Hier greift die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ein in die Lehre vom usus legis. […] Hier wird die Lehre vom usus legis von homiletischer und seelsorgerlicher Relevanz, so daß man geradezu sagen könnte, daß der Prediger das Subjekt des uti lege wird im recte secare verbum dei, jedoch nicht in der Weise verschiedener usus legis, sondern in der konkreten Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung von Gesetz und Evangelium«; ders., Luther II, RGG3 Bd. 4, 514. Ähnlich Haikola, Usus, 130–135, 141 f. Eine gewisse Unsicherheit in der Interpretation bleibt freilich: Hat Luther nicht, wenn auch keinen tertius usus legis, so doch eine im Evangelium implizit enthaltene Mahnung, Weisung oder Paränese im Blick? Dafür sprächen die schon erwähnten angeführten neutestamentlichen Adhortationen, dagegen, dass Luther von Gesetz spricht. Vgl. die Variante 39 I,474,25–475,21. Zu dieser Frage s. u. Abschnitt 6.4. 806 Als pii im engeren Sinn stehen diese nicht unter dem Gesetz, sondern erfüllen es in freier Spontaneität. Vgl. 46,18 f.28 ff.; 354,1–6. 807 Vgl. 443,1 ff., wo sich eine ähnliche Reflexion auf den »pius praedicator« findet: »Itaque pius praedicator ita loquatur de lege, ne piae mentes coniiciantur in desperationem, sed magis, ut desinant contristari et apprehendunt Christum.« Ferner 513,4–10: »Quare [d. h. weil sie nichts vom Kampf gegen die Sünde wissen] impii obtundendi sunt legis lumine, ut tandem perterrefacti discant Christum quaerere et piis est etiam docendi lex monendi et cohortandi causa, ut in pugna et concertatione permaneant, nec patiantur se vinci oblatratu et insultationibus carnis suae. […] Sic Christianis quidem docetur lex, sed cum aliqua praerogativa, quia trimphant de his, non succumbunt, neque peccatis, si quando opponuntur, neque legi.« Die »Prärogative« der Christen besteht hier wohl darin, dass sie in der Anfechtung durch Sünde und Gesetz schneller und leichter zur ihnen schon vertrauten Evangeliumsbotschaft Zuflucht nehmen können, ohne dass dadurch die Gesetzesanfechtung ihren Ernst verliert. Vgl. auch 399,4 ff.: »Est enim necessarium et utile officium eius [legis] perpetuo, tum propter duros terrendos, tum etiam propter pios admonendos, ut in coepta penitentia usque ad finem vitae perdurent.« Grund für diese lebenslange Buße der pii sind die reliquiae peccati. 805

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6.3.3 Thematisierungen des »simul« Es verwundert nun nicht, dass Luther in den Antinomer-Disputationen mehrfach den simul-Sachverhalt auch explizit ausspricht, begründet er doch – wie wir sahen – mit dem simul die Notwendigkeit der Gesetzespredigt bei den Frommen: »Lex promiscue docenda est tam piis quam impiis, quia pii partim iusti sunt, partim peccatores.« (542,22 f.)808 Diese Gesetzespredigt gilt auch ihnen, sofern sie Sünder sind, als Gerechte stehen sie nicht unter dem Gesetz. Bei der Behandlung von Luthers Anthropologie der zwei Willensausrichtungen von Geist und Fleisch ist uns der Sachverhalt begegnet, dass die partim-partim-Wendung den Totalaspekt nicht unbedingt ausschließen muss, weil beide Streberichtungen im Verhältnis zur jeweils anderen partial sind, d. h. nicht ausschließlich gelten, aber sich dennoch auf alle Konstitutionsmomente des Menschen beziehen (»in tota persona, sed non totaliter«).809 An der soeben zitierten Stelle ist nun zu vermuten, dass Luther mit dem partim-partim nicht in erster Linie ein quantitatives Verhältnis von Gerechtigkeit und Sünde im Christen anspricht, sondern er damit die rechtfertigungstheologische Totalperspektive des simul zum Ausdruck bringen will, deren beide Momente iustus bzw. peccator zwar den ganzen Menschen zugleich qualifizieren (»in tota persona«), aber weil es zwei sind, auch teils-teils vorliegen (»non totaliter«). Für diese Interpretation lässt sich anführen, dass Luther in unmittelbarem Anschluss das Evangelium von der Sündenvergebung den oft drastischen Vergehen, die Paulus in den von ihm gegründeten Gemeinden vorfindet und tadelt, gegenüberstellt. Luther bringt dann auch die Charakterisierung des Christen als Doppelwesen, als Zwilling oder Thomas (vgl. Joh 20,24–29) und leitet von daher die Fortgeltung des Gesetzes ab: »Cum itaque […] christianus sit vere Thomista vel gemellus, partim sanctus, partim peccator, manent interea lex, peccata et mors.« (463,17 ff.)810 Stimmt unsere Deutung, dann hätten wir hier ein Beispiel dafür, dass Luther mit der partim-partim-Wendung die Totalperspektive des simul artikuliert: simul totus iustus et totus peccator. Ebenfalls auf den Totalaspekt bezogen ist ein Passus aus der uns schon bekannten Vorrede zur dritten Antinomer-Disputation: »Verum vos scitis nos esse

Es ist das simul von Sünde und Gerechtigkeit im einzelnen Christen wie in der Kirche als Ganzer, welches dazu nötigt, dass in der Kirche Gesetz und Evangelium zugleich (»utrumque simul«: 430,7) gepredigt werden müssen. 809 Vgl. oben Kapitel 5 (4.1). 810 Vgl. 504,6 ff.: »Sic audistis supra, christianum esse vere Thomam Thomistam seu gemellum«; 504,24 f.: »Christianus est gemellus, est partim triumphans, partim militans.« In diesem Sinn ist auch das »partim sumus iusti et partim iniusti« (561,11) zu interpretieren: »Certissimum est, nos esse partim iustos, partim peccatores, quia nobiscum circumferimus carnem patris nostri Adae peccato originis infectam, in quo concepti et nati sumus. […] Iusti autem, quia certum est, nos baptizatos esse in sanguine Christi et receptos a patre in gratiam propter Christum, in quem credimus, hic prorsus sancti et iusti sumus imputative, quia non imputatur nobis peccatum.« (562,10–563,1) 808

Gesetz 383 quidem iustos, puros, sanctos, esse etiam peccatores, iniustos et damnatos. Sed diverso respectu sumus enim iusti, quod ad reputationem seu misericordiam Dei in Christo promissam, hoc est propter Christum, in quem credimus, […] sed secundum formam aut substantiam, seu secundum nos sumus peccatores in­ iusti et damnati, quia certe nihil est in tota natura hominis, quod opponi possit iudicio Dei.« (492,19–493,2) Hier wird klar die die ganze Person umgreifende Gerechtigkeit aus dem Glauben an Christus der sündigen Wirklichkeit des Menschen entgegengesetzt, dergestalt, dass zwar ein anfängliches Neuwerden beim Christen nicht geleugnet wird, aber dieses nicht der »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« zugerechnet werden darf, weil es eben immer unvollkommen und hinter dem Willen Gottes zurückbleibt und deshalb vor Gottes Gericht nicht besteht. Insofern ist dann der Christ totus peccator (und totus iustus). Explizit wird der Totalaspekt in einer bekannten Passage ausgesprochen, die in dieser Deutlichkeit wohl singulär ist. Im dritten Argumentum der dritten Antinomerdisputation wird folgender Einwand vorgebracht: Die Wohltat Christi, Rechtfertigung, Lebendigmachung und Befreiung erstreckten sich doch auf die ganze Person (»ad totam personam«), also sei hier keine Partikularität, d. h. kein partim iusti und partim iniusti zuzulassen, sondern wir sind entweder totaliter iusti oder totaliter peccatores, aber eben nicht beides zugleich! Totalität wird hier folglich im Sinne der Exklusivität bzw. des »totaliter« aufgefasst, denn nur dann wird ein partim-partim, sei es als quantitatives Verhältnis oder sei es (woran hier eher zu denken ist) als Zugleich zweier Totalitäten (»in tota persona«), unmöglich. Luther verteidigt denn auch die simultane Totalität des Sünder- und Gerechtseins, indem er mit einem anderen Totalitätsbegriff als der Opponent operiert, nämlich mit jenem, der einen zwar in tota persona, aber nicht ausschließlich geltenden Sachverhalt erfasst. Für Luther ist dabei »totaliter« gleichbedeutend mit »in tota persona«: »Nam hoc verum est, quod reputatione divina sumus revera et totaliter iusti, etiamsi adhuc sit peccatum. […] Sic etiam revera sumus et totaliter peccatores, sed quod ad nos respiciendo et prima generatione, sed e contra quoad, quod Christus pro nobis datus est, sumus sancti et iusti totaliter, ita diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel.« (563,13–564,7) Luther geht an dieser Stelle gar nicht auf den von ihm anderwärts ja tatsächlich behaupteten quantitativen Partialaspekt ein, sondern rechtfertigt die Simultaneität zweier Totalitäten mit der Angabe zweier unterschiedlicher Hinsichten, unter denen diese jeweils gelten: Im Blick auf die göttliche reputatio bzw. auf Christus und seine Hingabe für uns sind wir ganz gerecht, im Blick auf uns und unsere Herkunft von Adam her sind wir ganz Sünder, also beides zugleich (simul)! Wenn Luther nicht ganz stimmig den simultanen doppelten Totalitätsaspekt durch die Redeweise der Syn­ ekdoche erklärt, wonach ein Teil für das Ganze steht,811 so nimmt dies nicht die Luther führt dafür 564,1 ff. zwei medizinische Beispiele an, deren erstes nicht ganz eindeutig ist: »ut quando aliquis vulneratus est et iam sanatus [zu lesen ist mit 564,16 »sanatur«], tum dicitur totus homo sanatus. Item dicimus, quod homo laesus sit, cum ta811

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behauptete Totalität des Sünder- bzw. Gerechtseins zurück, sondern besagt nur, dass die eine Totalität von der ganzen Person prädiziert werden muss, obwohl gleichzeitig von ihr eine zweite Totalität auszusagen ist und jede der beiden insofern partial ist.812 Deutlich ist somit auch hier, »dass »die ›partim‹- und die ›totus/ totaliter‹-Ausdrucksweisen für Luther inhaltlich zusammenlaufen«.813 Von dieser Stelle aus sind auch alle jene Zuspitzungen zu verstehen, in denen Luther provozierend insinuiert, dass beim simul die Regeln der Logik, insonderheit der Satz vom Widerspruch aufgehoben seien. So entfaltet er etwa, dass der Christ zwar noch bleibende Sünde im Sinne der bösen Konkupiszenz, der bösen Regungen und Triebe hat, ihnen aber nicht zustimmt, d. h. sie nicht durch die Tat ausführt und ihm diese Sünde um Christi willen nicht zugerechnet wird. Das wird kommentiert: »Quid hoc? Quomodo haec consentiunt? Quomodo concordant,

men vix unum membrum laesum sit.« Verhält es sich aber überhaupt so, dass ein sich im Heilungsprozess befindlicher Mensch schon ganz gesund genannt werden kann? Darüber hinaus liegt bei der Redeweise vom simul totaliter iustus et totaliter peccator als einer auf die tota persona zielenden Doppelprädikation doch wohl keine Synekdoche vor. Vgl. auch 522,4–9 sowie Dieter, Luther, 332. 812 Ähnlich ist das partim-partim 561,17–563,6 verstanden: Auf den Einwand, dass bei teilweisem esse sub lege und non esse sub lege der Heiligen (partim-partim) der Zweifel (dubitatio) bleibt und den Glauben ungewiss (incerta) macht, antwortet Luther, dass der Glaube als Lehre bzw. hinsichtlich seines Inhaltes oder Grundes höchst gewiss ist, aber als menschlicher Vollzug schwach und gebrechlich sein kann. Und dies hängt mit dem simul zusammen, liegt also nicht am Glauben als solchem: »Nos non dicimus, quod sit incertum [nämlich dass Christus Gottes Sohn ist], neque quod lex neque quod fides sit incerta, quia certissimum est, nos esse partim iustos, partim peccatores, quia circumferimus carnem patris nostri Adae peccato originis infectam, in quo concepti et nati sumus. […] Iusti autem, quia certum est, nos baptizatos esse in sanguine Christi et receptos a patre in gratiam propter Christum, in quem credimus, hic prorsus sancti et iusti sumus imputative, quia non imputatur nobis peccatum […]. Hoc verum est, fides potest esse infirma, sed non incerta et dubia, quae longissime inter se distincta sunt. Quare hoc sciendum et tenendum perpetuo est, quod doctrina, fides, lex, evangelium certissima sint, ut nihil posset esse certius, sed tamen fidem posse etiam esse infirmam et inbecillem, sed non incertam.« (562,9,-563,6) Vom simul her wird die Heilsgewissheit dann selbst dialektisch: Der Mensch »hat« sie, sofern er glaubt. Sie ist demnach, sofern der reale Christ gleichzeitig ein Nicht-Glaubender (jetzt Partialaspekt) ist, mit Ungewissheit »vermischt« bzw. es schwingen Gewissheit und Ungewissheit zeitlich hin und her. Die Christen haben sozusagen eine »doppelte Gewissheit«: vom Evangelium her die Heilsgewissheit, vom Gesetz die Gewissheit der eigenen Sünde. Vgl. 497,16 f.: »Itaque [lex] certificat iustos, ut sciant, se adhuc habere reliquum in carne peccatum et non ita puros esse«; 498,21 f.: »In summa lex certificat de peccato, quod adhuc haereat in carne nostra.« Vgl. Pinomaa, Anfechtung, 104 f., 107 f., 110 f. 813 So Dieter, Luther, 332. Vgl. ebd., 331 f., bes. 331 (im Blick auf die beiden Bedeutungsmöglichkeiten des partim-partim): »Mit ›partim-partim‹ betont Luther entweder, dass dem Menschen nicht eine Totalbestimmung ausschließlich zukommt, oder er bringt gleichsam die ›simul‹-Bestimmung in Bewegung.«

Gesetz 385 sanctum esse et orare pro peccato? Mira profecto res est. Es ist warlich ein fein ding. Reim da, wer reimen kann. Duo contraria in uno subiecto et eodem puncto temporis. Si sanctus, cur clamas?« (507,19–508,2) Oder wenig später: »Sanctus es et ora pro iniquitate. Reime du es zusammen.« (515,10 f.) Luther insistiert zwar auf der Gleichzeitigkeit der konträren Momente Sünde und Gerechtigkeit in einem Subjekt, gibt aber doch jeweils – wie gleich noch näher zu zeigen ist –814 unterschiedliche Aspekte oder Rücksichten an, unter denen sie dem einen Subjekt zugleich zukommen. Daher liegt das Erstaunliche, ja »Widersprüchliche« nicht auf der Ebene der formalen Logik und der Vernunft, sondern auf der theologischen Ebene, dass bei Gott so etwas möglich ist. Es geht um das Wunder der göttlichen Vergebung und Annahme des Sünders, der dann freilich als solcherart Angenommener in sich selbst nochmals einen existentiellen Widerspruch (simul iustus et peccator) austragen muss! Luther möchte also mit dem simul keineswegs das Widerspruchsprinzip außer Kraft setzen, sondern geht gerade von dessen unumstößlicher Geltung aus!815 Dass Luther, ohne das sanative Moment der Rechtfertigung zu leugnen, in den Antinomerdisputationen den Aspekt des totus peccator so prononciert vorträgt und die Begründung für das totus iustus ganz in die imputatio Gottes verlegt, überrascht nicht, soll doch gerade die bleibende Präsenz der Sünde stark herausgestrichen und so die Notwendigkeit des Gesetzes in der Kirche einsichtig

Vgl. nur die schöne Formulierung des simul 552,13–553,3: »Quoad Christum dominum nostrum et remissionem peccatorum in Christo sumus vere sancti, mundi et iusti, ut vel ipse Gabriel in coelis, per fidem, et vere constituti in coelestibus cum Christo. Verum quod ad me et carnem meam, sum peccator.« In der ersten Hinsicht ist der Christ über Gesetz, Tod und Teufel gestellt, in der zweiten bleibt das Gesetz und der Christ ist ein Kämpfer Christi gegen die Sünde und ihre concupiscentiae. 815 Vgl. 523,4–7: »Haec autem utcunque contraria sunt, tamen reconciliata in christiano sunt, quod idem christianus sit sanctus et peccator, mortuus et vivus; omne peccatum et nullum peccatum, infernus et coelum sunt correlativa«; 519,5 f. wo es von der Freiheit vom bzw. der Gebundenheit an das Gesetz heißt: »Esse liberum et esse servum, sunt contraria, quae non possunt simul et semel in eodem subiecto esse. Estque bonum argumentum«; 89,14–21, bes. 19 ff.: »Opposita non possunt simul esse eodem respectu, […]; sed secundum diversum respectum bene possunt simul esse et in eodem subiecto consistere«; 56,253,12 f.: »Quia non possunt circa idem duo contraria simul stare«; 43,598,31–34. Dazu Dieter, Luther, 305–308, der ebenfalls betont, dass Luther beim simul »geradezu penibel darauf bedacht ist, den Satz vom Widerspruch nicht zu verletzen« (307). Dieter wendet sich damit gegen Joest, der (Gesetz, 58, 207162) für den Totalaspekt des simul konstatierte, Luther lehre »mit voller Absicht in flagrantem Widerspruch zu den Grundlagen aller Logik« (207162). Joests Feststellung ist umso erstaunlicher, als er selbst ebd., 58, sofort anschließt, dass die zunächst kontradiktorisch erscheinenden Aussagen von Luther als »diverso respectu« geltend verstanden werden. Missverständlich ist allerdings folgende Äußerung Luthers: »hoc bene notandum est: Etsi id rationi, quae ubique in rebus et operibus Dei vult sapere, non probatur, duo contraria esse in uno et eodemque subiecto. Sed tamen reipsa sic est et sic in hoc regno [Dei] et scriptura sic loquitur.« (515,5–8) 814

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gemacht werden. Jedoch kann er auch ganz unbefangen einem gradativ-partiellen Verständnis des simul das Wort reden, und zwar gerade um den logischen Problemen des simul zu begegnen. Im achten Argumentum der ersten Disputation argumentiert der Opponent: Schmerz (über die Sünde) und der Glaube bzw. der Vorsatz eines besseren Lebens sind konträre Momente und können deshalb nicht zugleich im selben Subjekt bzw. in dessen Buße vorhanden sein: »contraria non possunt simul et semel esse in eodem subiecto.« (375,18 f.) Luther respondiert hier nun nicht durch die Angabe unterschiedlicher Hinsichten, sondern macht unter Zuhilfenahme physikalisch-medizinischer Beispiele geltend, dass gegensätzliche Dinge zwar nicht im jeweils höchsten Grad, sehr wohl aber in unterschiedlichen Graden koexistieren können.816 Ein gewisses Maß an Kälte vermag mit einem gewissen Grad von Wärme, ein gewisser Grad an Gesundung mit einem gewissen Grad an Krankheit zusammen zu sein. So seien auch jeweils Sündenschmerz und Glaube, Sünde und Gerechtigkeit mit unterschiedlicher Intensität in uns, und zwar mit dem Richtungssinn, dass die positiven Elemente ihren graduellen Anteil steigern: »Sic utrumque est in nobis, peccatum et iustitia, non tamen eodem gradu, sed diverso. Fides pugnat contra peccatum, contra suggestiones diaboli, atque ita, quamquam [non] in summo gradu dominatur. […] Peccatum contra fidem pugnat, sed non vincit. Sic in diversis gradibus contraria bene possunt esse in eodem.« (376,8–11)

6.3.4 Aspekte oder Relationen, unter denen das simul ausgesagt wird Wir erwähnten schon, dass Luther zwar im Blick auf das simul iustus et peccator sagt: »Duo contraria in uno subiecto et eodem puncto temporis« (508,1 f.). Hier wird jede gradative Vermittlung der beiden Größen ausgeschlossen, sie werden scheinbar kontradiktorisch gegeneinandergestellt. Gleichwohl gibt Luther immer wieder unterschiedliche Rücksichten (respectus) an, unter denen sie jeweils dem einen Subjekt zukommen und insofern liegt dann eben doch kein logischer Widerspruch vor. Erkennbar wird das an den sich häufenden Wendungen quatenus/ eatenus bzw. inquantum/inquantum. In den Antinomer-Disputationen liegen verschiedene Versuche vor, diese Rücksichten zu benennen; sie alle wollen artikulieren, inwiefern der Christ noch Sünder und doch schon kein Sünder mehr ist, inwiefern er noch unter dem Gesetz steht und doch vom Gesetz bereits frei ist. Wir versuchen im Folgenden, diese Distinktionen zu erfassen, wobei sie sich wechselseitig überschneiden und berühren können.

Vgl. zur Stelle Joest, Gesetz, 66, der – gemessen am Einwand – von einem »geradezu enttäuschend quantitativen Ausgleichsversuch« auf der Ebene des psychologisch Verständlichen spricht. Anders Dieter, Luther, 333 f. 816

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6.3.4.1 Geist – Fleisch Luther arbeitet zum einen mit der Unterscheidung von Geist bzw. Glaube und Fleisch. Nach dem Geist bzw. Glauben oder dem Gewissen gilt das Gesetz für die Christen nicht mehr, wohl aber nach dem Fleisch, also sofern sie noch Sünder sind und sei es auch nur im Sinne der inneren Konkupiszenz, der bösen Regungen und Gedanken, kurz: sofern sie noch reliquiae peccati im Fleisch besitzen. »Ideoque debet doceri [lex] apud Christianos, non tamen propter fidem, quae habet spiritum legem subiectum, sed propter carnem, quae resistit spiritui in sanctis. […] Quaentus illa vivit, eatenus non abrogata est lex, non tamen regnat, sed servituti spiritus subiecta esse cogitur.« (374,16–20; vgl. 204,16–19, 356,5 f.; 357,27 f.) Der Text sowie der explizite Verweis auf Gal 5,17 (374,18) zeigen, dass im Hintergrund die uns schon bekannte Vorstellung von den zwei Willensausrichtungen, der guten und der bösen, steht, wobei die letztere der ersteren subordiniert ist. Luther kann auch sagen, dass wir in diesem Leben durch Christus den Willen zum Tun des Gesetzes nach dem Geist haben, während das Fleisch noch widersteht, im künftigen Leben jedoch werden wir das Gesetz sowohl dem Geist als auch dem Fleisch nach tun: »Datque [Christus] voluntatem ut faciant [credentes] eam [legem], hic spiritus. In futura autem vita habebunt voluntatem faciendi legem non tantum spiritu, sed etiam in carne, quae dum hic vivit, adversatur huic delectationi. […] Quantum igitur spiritus est in nobis, tantum etiam delectationis in lege. Quantum autem carnis, tantum etiam manet lex.« (373,4–10)817 Insofern wir durch den Glau Die Stelle ist freilich missverständlich, als man unwillkürlich das Verständnis von caro und spiritus als Leib und Geist assoziiert. Gemeint ist aber: Im ewigen Leben erfüllen wir das Gesetz als ganze Menschen, auch mit dem, was vorher caro, d. h. sündige Willensrichtung war, die es dann allerdings nicht mehr gibt. Der Begriff des Geistes oszilliert zudem zwischen guter Willensrichtung im Menschen und Heiligem Geist. – Vgl. auch 500,14 ff.: »Sic sancto et iusto Paulo adhuc est posita [lex] non in quantum est iustus et sanctus, sed in quantum est caro, et debet argui per legem«; 521,11–522,2: »Sic itaque sumus sancti et liberi, sed in spiritu, non in carne, sub umbra alarum, id est gallinae nostrae versantibus nobis in sinu gratiae, sed pedes restant adhuc lavandi, qui, cum immundi sunt, mordendi et exercendi sunt a sathana, donec mundentur.« Luther entwickelt hier, wo gewiss auf Joh 13,10 angespielt wird, ein eindrückliches, gleichwohl nur schwer präzise zu deutendes Bild: Der Christ ist und lebt diverso respectu. Einmal: »Homo credens in Christum est reputatione divina iustus et sanctus, versatur estque iam in coelo misericordiae.« Andererseits: »Sed dum hic ferimur in sinu patris vestiti veste optima, pedes nostri mihi extra pallium descendunt, quos quantum potest, mordet sathan, dar zappelt das Kindlein et clamat et sentit, se adhuc carnem et sanguinem habere et diabolum adhuc adesse, qui iam exercet, donec totus homo sanctus fiat et eripiatur ex hoc saeculo nequam et malo.« (521,3–11) Die Füße des Kindes, welche unter dem den Menschen deckenden Mantel der göttlichen Gnade noch hervorschauen, repräsentieren die noch unter Sünde, Teufel und Gesetz stehende Seite der menschlichen Existenz (letztlich: ihren Unglauben), gegen die der Christ sein ganzes Leben ankämpfen muss, wohl wissend, dass die endgültige und totale Befreiung davon nur eschatologisch zu erhoffen und zu empfangen ist. Und doch kann aller Kampf, alle Reinigung nur dadurch geschehen, dass der Mensch sich noch mehr, 817

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ben an Christus dem Gesetz und der Sünde schon gestorben sind, insofern sind die Sünden für uns schon tot. Aber: »Quatenus vero [credentes] carnem habent, eatenus habet dominium in eos lex et peccatum.« (392,14 f.)

6.3.4.2 Im Blick auf Christus – im Blick auf mich Eine weitere Weise, Sünder- und Gerechtsein und damit Geltung und Aufhebung des Gesetzes zusammenzudenken, besteht darin, dass Luther die Relation auf Christus und die Beschaffenheit bzw. Qualität der eigenen Person miteinander kontrastiert. Man könnte auch sagen: Der Blick auf Christus und der Blick auf mich selbst werden unterschieden. Im Blick auf Christus bin ich gerecht und heilig und so vom Gesetz frei – im Blick auf meine eigene Person bin ich Sünder und stehe noch unter dem Gesetz: »Quoad Christum dominum nostrum et remissionem peccatorum in Christo sumus vere sancti, mundi et iusti, ut vel ipse Gabriel in coelis, per fidem, et vere constituti in coelestibus cum Christo. Verum quod ad me et carnem meam, sum peccator. Ut autem ibi fio dominus omnium, ita in regno cum Christo supra legem, mortem et diabolum, ita hic fio omnium servus et miles Christi contra peccatum et omnes concupiscentias.« (552,13–553,6)818 An anderer Stelle bringt Luther diese Unterscheidung auch explizit mittels der Kategorien der Relation und Qualität zur Sprache: »Christianus est dupliciter considerandus, in praedicamento relationis et qualitatis. Si consideratur in relatione, tam sanctus est, quam angelus, id est imputatione per Christum. […] Sed christianus consideratus in qualitate est plenus peccato.« (39 II,141,1–6)819 Luther spricht es zwar nicht direkt aus, aber sinngemäß ist zu ergänzen: Im Prädikament der Relation ist der Christ vom verdammenden Gesetz frei, in der Kategorie der Qualität ist er ihm dagegen weiterhin unterstellt. Sogar an jener Stelle, wo Luther am schärfsten das totus peccator und totus iustus artikuliert (simul et semel), sagt er ausdrücklich, dies gelte »diverso respectu«, nämlich »quod ad nos respiciendo et prima generatione und quoad, quod Christus pro nobis datus est« (564,3–7).820 eben mit seiner ganzen Existenz, auch mit den »Füßen«, unter der göttlichen Gnade birgt, d. h. mehr und intensiver glaubt: »Denn du must das fußlein mit unntter den mannttel ziehen, sonst hastu kein friedt.« (522,2 f.) 818 Vgl. 508,6–9: »quatenus respicio ad me et peccatum meum, sum miser et peccator maximus. Ita in Christo non est peccatum et in carne nostra non est pax et quies, sed pugna perpetua, dum hic vetus Adam atque haec corrupta natura manet, et quae non nisi in eadem morte aboletur«; 514,18–21: »Non quia nos tales simus revera iusti et sine peccato, sed quia sic reputamur propter Christum dominum, salvatorem et pontificem nostrum. Quia autem tales quoad nos non sumus, quales esse debeamus, necesse est in Ecclesia retineri legem.« 819 Vgl. 39 II,192,1–5; 212,11–14 : »Sancti habent peccatum, sed non imputatur propter Christum. Iam igitur sunt iusti non propter suas qualitates, sed propter Christum remittentem. Iam sequitur minor: Sancti sunt iusti, scilicet imputatione.« 820 508,18 f. kann Luther die beiden Hinsichten auch einfach als in Christus und in Adam bezeichnen: »Sursum in Christo est victoria, deorsum in Adam non est pax aut quies, sed pugna et militia.«

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6.3.4.3 Christianus triumphans – christianus militans Ein dritter Weg, die konträren Aspekte zu koordinieren, liegt in der Einführung der Distinktion zwischen dem »christianus triumphans et militans«, d. h. dem Christen, sofern er in Christus gerechtfertigt ist, und demselben Christen, sofern er noch Sünde hat und gegen sie kämpft. Dass die Christen ein gutes Gewissen haben und deshalb nicht mehr unter dem Gesetz stehen können, welches das Gewissen ja gerade beunruhigt, wird von Luther voll konzediert, aber nur im Blick auf den christianus triumphans: »Sicut audistis supra, christianum esse vere Thomam Thomistam seu gemellum, videlicet christianus militans et triumphans, in quantum triumphans, et versatur sub umbra alarum domini sui […], nihil hic est rei cum legibus. […] Itaque christianum, in quantum est talis, laß man zufrieden, unnd unvorworren. Non possunt enim simul stare accusari seu argui et iustum esse et reputari iustum. Sed christianus per fidem in Christum iustus est et reputatur iustus, quamvis adhuc habeat peccatum haerens.« (504,6–19) Im Blick auf dieses peccatum haerens kommt man nun in den Bereich, den »Zirkel« des christianus militans:821 »Hic igitur venio ad aliud circulum longe diversum a superiori ad christianum militantem et adhuc versantem in carne, et venio ad me et ad meam personam.« (504,20–23)822 Als unter der Anklage des Gesetzes stehend gilt es hier, gegen die bösen Regungen und Neigungen, die gar nicht zu vermeiden sind, noch zu kämpfen, sie nicht zur Tat werden und so nicht herrschen zu lassen.

Luther hat hier offenkundig die Vorstellung zweier konzentrischer oder übereinander liegender Kreise. 822 Vgl. die Variante 503,26–504,24 f.: »Christianus triumphans est extra lege. […] Christianus est gemellus, est partim triumphans, partim militans.« Vgl. 520,14 ff.; 542,17 ff., 552,1–3; 498,10–18: »Quare lex debet manere et diligenter acui in parte militante, hoc est, quatenus hic in carne et inter homines vivimus et agimus. Nam dum in hac vita versamur, nunquam sic puri, quin aliquid macularum, imo plurimum lex in nobis inveniat. Ab adolescentia enim proni sumus ad malum. Ita lex pertinet ad partem militantem, non autem ad triumphantem, hoc est, quando agitur de iustificatione et pace conscientiarum, quia hic sumus in Domino, qui noster sponsus est, nec patitur, ut quisquam in tam augusto lecto condormiat.« Eine gewisse Spannung in Luthers Gedankenführung ist unverkennbar: Einerseits sagt er, dass dem Gesetz bei der Rechtfertigung keine Funktion zukomme und es nicht ins Gewissen eindringen dürfe, wo Christus allein herrschen will. Deshalb wird das Gesetz vom christianus triumphans zum christianus militans oder zur caro verwiesen. Aber hier tut das Gesetz nichts anderes, als die Sünde und die Nichterfüllung des Gesetzes anzuklagen und zu verurteilen. Eine Reduktion auf ein bloßes »Zeigen« der Sünde ist schwer möglich. Vgl. aber 410,14 ff. Die Anklage erfolgt natürlich sub necessitate salutis und dringt sehr wohl ins Gewissen ein – und dies sogar mit einem gewissen Recht, blickt man auf die noch sündige Existenz des Christen. Was Luther also so »harmonisch« auf zwei Hälften aufteilt, ist in Wahrheit ein Kampfgeschehen. Vgl. dazu auch 575,6576,2. 821

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

6.3.4.4 Der Christ als Christ – der Christ als Sünder Schließlich finden sich zahlreiche Stellen, in denen Luther die von den Antinomern (und ihm selbst ja ebenfalls) behauptete Freiheit von Sünde und Gesetz dem Christen als Christen bzw. dem Gerechten als Gerechten zuspricht, diese Aussage aber verneint, sofern der Christ noch Sünder ist. Hierbei appliziert er 1.Tim 1,9 (»lex iusto non est posita, sed iniustis«) gleichsam auf die beiden »Hälften« des Christen, sofern dieser den iustus und iniustus in sich vereint. So schon in den Thesen zur Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann: »Imo fatemur, iustis non esse positam legem, quatenus iusti sunt et spiritu vivunt. Sed quatenus in carne sunt, et corpus peccati habent, esse sub lege, et facere opera legis, id est non esse iustos, nec facere opera bona.« (204,16–19) In der Disputation der These wird dann vom Respondenten ganz im Sinne Luthers ausgeführt: »Iustus, quatenus iustus est, ex Deo natus, non peccat neque est sub lege.« (249,21 f.) Luther selbst präzisiert dies dann dahin, dass der Gerechte als Gerechter dem Gesetz nicht nur nach seiner verdammenden, sondern auch nach seiner verpflichtenden Funktion nicht unterworfen sei: »Impossibile est, quod iustus manens sub misericordia sit sub lege, si crediderit. Et quoad obligationem etiam non habet legem, ibi enim nulla est obligatio est conscientia. Ergo omnis iustus est extra omnem legem quamcunque simpliciter sive accusantem sive iustificantem sive obligantem, in quantum scilicet est iustus, quia est talis, qualem Deus vult habere in hac vita imputatione, in futura autem vitam per formam talem.« (249,26–250,22) Sündigt der Gerechte dagegen schwer und verletzt das Gesetz, dann ist er kein Gerechter mehr, vermag also auch nicht mehr als unter dem simul stehend begriffen zu werden. Jede schwere Sünde ist eo ipso auch Glaubensabfall! Zieht er sich dagegen aus Schwäche oder Übermacht des Satans leichte Vergehen zu, dann werden ihm diese propter Christum nicht zugerechnet (249,9–250,2). Er verbleibt mithin innerhalb des simul!823 In den Antinomerdisputationen selbst findet sich dann mehrfach diese Distinktion, oft mit den uns schon bekannten kombiniert: »christiano non dominatur lex, scilicet in quantum est eiusmodi. Neque enim christianus triumphans, sed militans adhuc in carne est onerandus legibus.« (503,19–504,1; vgl. 519,19 ff.; 520,13–521,3) Der Christ ist eben ein Doppel- bzw. Zwillingswesen (gemellus, Thomista), von dem gilt: »In  quantum christianus non est peccator, quia ex Deo natus est. […] Ubi sum christianus, ibi sanctus, sed ubi homo et filius Adae, peccator sum.« (506,21–508,18). Kurz darauf heißt es: »Christianum, inquantum est talis, lass in zufrieden, unnd unvorworren [mit dem Gesetz].« (504,15 f.) Und am Ende dieser Responsio wird die zunächst im Blick auf das simul insinuierte Aufhebung des Satzes vom Widerspruch schließlich zurechtgerückt: »Ita, in quantum christianus, eatenus enim sum iustus, pius et Christi, sed quatenus respicio ad me et peccatum meum, sum miser et peccator maximus.« (508,5 ff.) Schließlich in In gewisser Weise belebt Luther an dieser Stelle wieder die traditionelle Unterscheidung zwischen lässlicher und Todsünde. 823

Gesetz 391 etwas anderer Perspektive (von Röm 7,25 her): »Pius autem est mortuus legi neque servit legi, in quantum talis in sinu gratiae est reputatione divina. Sed quantum est in carne, servit legi cuinam? Peccati, ut ait sanctus Paulus.« (522,12–15)824 Als man 1.Tim 1,9 gegen die fortlaufende Predigt des Gesetzes in der Kirche in Stellung bringt, stellt Luther die doppelte Sinnspitze dieses Verses heraus: Das Gesetz sei den offenkundigen Sündern in der Kirche zu predigen, aber eben auch dem Gerechten, sofern er selbst noch Sünder ist. Nur qua Gerechter sei er vom Gesetz frei: »Quare iusto non est lex posita, id est, in quantum iustus. Lex itaque posita est et non posita. In quantum iustus, sublata est lex, in quantum peccatores, manet lex.« (552,10–13)

6.3.5 Non esse sub lege – esse sub lege: aspekthaft-relationales oder temporäres Verständnis? Die soeben vorgestellten Distinktionen, mit Hilfe deren Luther einerseits die Freiheit des Christen vom Gesetz, andererseits dessen Fortgeltung für ihn zusammendenken will, laufen letztlich auf die Doppel- bzw. Zwillingsexistenz des Christen als Sünder und Gerechter hinaus.825 Luther versucht so einerseits dem Anliegen der Antinomer (»Das Gesetz ist durch das Evangelium abrogiert!«) gerecht zu werden, andererseits aber die falsche Konsequenz daraus (»Also gibt es in der Kirche keine Gesetzespredigt mehr!«) abzuweisen. Luthers Argumentation hat deshalb – wie Christian Schulken herausgearbeitet hat – die Gestalt der »präzisierten Konzession« (ja – aber).826 So häufen sich in Luthers Formulierungen Vgl. 575,6–576,4: »Quatenus sunt Christiani, recte dicuntur iusti et non sunt sub lege, quia iusto lex non est posita, quatenus est iustus. […] Quatenus sunt recti, dicuntur iusti et non sub lege, quia iusto lex non est posita«; 39 II,142,12 ff.: »Deinde non praedicamus legem christianis, quatenus sunt christiani. Christianus enim est pius homo, qui habet remissionem peccatorum, estque liber a lege et diabolo.« 825 Die Vorstellung vom Christen als gemellus findet sich schon 56,476,4 f. (zu Röm 13,1: »Quod fidelis simul et semel est exaltatus super omnia et tamen subiectus, Et sic Gemellus duas formas habens, sicut et Christus.«) und im Fragment zu Ps 4,4 (AWA 1,502,4–503,6; wahrscheinlich 1516/17): Gott handelt wunderbar an seinen Heiligen in doppelter Weise: Zuerst wird der Christ »per crucem« (502,9 f.), d. h. durch das Kreuz Christi, zu einem gemellus, einem Doppelwesen: im Fleisch ein Tor, im Geist ein Weiser, wohlgestaltet nach dem Inneren, ohne Schönheit nach dem Äußeren, außen verworfen, innen verherrlicht – »sicut in Christo gemello et forma omnium gemellorum« (502,14). Zweitens zeigt sich Gottes wunderbares Wirken an den Heiligen aber nicht nur »in cruce, sed etiam in peccato« (502,9): »In peccatis, quod [deus] nullum reputat iustum, nisi qui sit peccator […]. Mirabilia itaque, quod homo idem tunc iustus, quando peccat, tunc bonus, quando malus, tunc ve­ rax, quando mendax, tunc sapiens, quando insipiens.« (502,23–503,3) Luther wendet hier zwar die Metapher des gemellus explizit nur auf die Kreuzesexistenz des Christen an, sie kann aber analog auf das simul iustus et peccator übertragen werden. Vgl. Pinomaa, Die Heiligen, 38 f.; zur Auslegung von Ps 4,4 durch Luther siehe ebd., 38–42. 826 Vgl. Schulken, Lex, 329–370. Schulken ist freilich der Auffassung, dass Luther in den Antinomerdisputationen mit dem Versuch scheitere, die Gegensätze, ja Widersprüche rein 824

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

die Wendungen quatentus/eatenus bzw. quatentus/quatenus. Wir kommen jetzt nochmals auf das damit zusammenhängende Problem zu sprechen: Luther trifft in all diesen Fällen eine anthropologische Unterscheidung beim Christen, die er als strenges zeitliches Zugleich verstanden wissen will. Der Christ stellt quasi ein »Doppelwesen« aus zwei »Hälften« dar.827 Dass diese nicht als zwei Schichten im Menschen, sondern als zwei Aspekte, die jeweils seine ganze Existenz betreffen, zu verstehen sind, ist schon klar geworden. Die Schwierigkeit besteht aber darin, dass die daraus gewonnene Folgerung »Der Christ steht also sowohl unter dem Gesetz und ist zugleich frei vom Gesetz« als strenges simul nicht gedacht werden kann, da es sich hierbei um kontradiktorische göttliche Urteile, um Gnade und Zorn Gottes handelt, die – nach Luthers eigener Aussage im Antilatomus –828 sich jeweils auf die ganze Person beziehen, sich deshalb wechselseitig ausschließen und so nicht »simul« gelten können. Der Mensch steht entweder ganz unter dem Zorn oder ganz unter der Gnade Gottes! Würde man an dieser Stelle ein strenges Zugleich zulassen, so würde das die Totalität des jeweiligen Urteils aufheben, insbesondere also die Gnaden- und Vergebungszusage relativieren. Im Großen Galaterkommentar 1531 löste Luther dieses Problem so, dass er von zwei Zeiten sprach, die der Christ ständig durchläuft, als Hin- und Herschwingen zwischen Anfechtung und Glauben. Das Gesetz bricht immer wieder – angesichts der bleibenden Sünde, des schwachen Glaubens und der Wirkmacht des Satans – im Gewissen als Realität auf. In den Antinomerdisputationen spielt dieses Denkmodell aber – von einigen Andeutungen, auf die wir sogleich eingehen, abgesehen – keine vergleichbare Rolle. Die Frage ist also: Setzt Luther hier dieses Denkmodell stillschweigend voraus oder vollzieht er in den Antinomerdisputationen eine Verschärfung seiner Position, dergestalt, dass er tatsächlich sagen will: Es gilt für

logisch stillzulegen, eben weil die argumentative Vernunft an ihre Grenzen komme und das Widereinander (im recht verstandenen Miteinander) von Gesetz und Evangelium sich rational-logisch nicht vermitteln lasse. Luther gehe deshalb immer wieder in den Dialog bzw. die (Anfechtungs-) Erzählung über. Ob Schulken selbst nicht insgesamt die Möglichkeiten der argumentativen Vernunft bei Luther unterschätzt, ist eine andere Frage, die hier nicht erörtert, sondern nur angezeigt werden kann. 827 Vgl. Althaus, Theologie, 234. 828 Vgl. Anm. 767; 594,16 f.: »Non possunt enim simul stare accusari seu argui et iustum esse et reputari iustum.« Dem widerspricht nicht 8,96,2–6: »Aliud ergo de te iudicabis secundum rigorem iudicii dei, aliud secundum benignitatem misericordiae eius. Et hos duos conspectus non separabis in hac vita. Secundum illum, omnia opera tua polluta et immunda sunt propter partem tui adversariam deo. Secundum hanc vero totus mundus et iustus.« Die eine Sicht stellt sich ein, wenn ich »künstlich« vom Glauben abstrahiere und auf mich und meine empirische Realität allein schaue. Dies ist aber letztlich der Blick des Unglaubens. Die andere Sicht ergibt sich von Gottes Gnade her, der ich im Glauben zugewandt bin. Luther will also nicht sagen, dass beides gleichermaßen und zugleich gilt, sondern er will die absolute Gratuität der im Glauben geltenden »Perspektive« herausstellen.

Gesetz 393 den Christen als simul iustus et peccator tatsächlich beides zugleich: die göttliche Gnade und der göttliche Zorn? Eben sofern der Christ immer zugleich glaubt und nicht glaubt, das Seine sucht und das, was Gottes ist, Geist und Fleisch, neuer und alter Mensch ist. Luther lässt mitunter erkennen, dass es für das esse sub lege letztlich auf Glaube oder Unglaube ankommt: »Si lex invenit hominem credentem, nulla est lex, si vero incredulum invenit, iubet suum officium.« (220,28 f.) Oder: »Impossibile est, quod iustus manens sub misericordia sit sub lege, si cre­ diderit.« (249,26 f.) Jedoch sprechen diese Stellen eher für das Modell der zwei Zeiten: Wenn und sofern der Mensch glaubt, und sei sein Glaube auch zugleich mit dem Unglauben vermischt, dann steht er nicht zugleich unter dem Gesetz, sondern ganz unter der Gnade! Er fällt erst unter das Gesetz zurück, wenn und sofern er nicht mehr glaubt, sondern zweifelt bzw. sein Glaube vom Unglauben dominiert ist. Blicken wir also auf jene wenigen Hinweise in den Antinomerdisputationen, die sich, wenngleich sie dieses Denkmodell nicht explizit vertreten, zumindest im Sinne der zwei Zeiten (der des Gesetzes und der des Evangeliums) interpretieren lassen. Hatte Luther im Großen Galaterkommentar dieses Modell anhand von Gal 3,19 ff. entwickelt, so rekurriert er jetzt dafür auf Mt 11,13 (»Omnes enim prophetae et lex usque ad Ioannem prophetaverunt.«)829, eine Stelle, welche die Antinomer im Sinne der prinzipiellen, einmalig-geschichtlichen Ablösung des Gesetzes durch das Evangelium gegen Luther vorgebracht hatten. Nach Luther spricht dieser Vers vom Unvermögen des Menschen, das zu leisten, was das Gesetz fordert, von dessen Erfüllung die Propheten aber gleichwohl weissagen. Mit Christus ist diese Erfüllung des Gesetzes eingetreten, und Johannes hat auf das Lamm, das die Sünde der Welt wegnimmt, hingewiesen. Damit ist die Forderung und Anklage des Gesetzes an ihr Ende gekommen. Für den Einzelnen wird dies jedoch nur dann »wirklich«, wenn und sofern er Christus im Glauben ergreift. Dann ist für ihn das Gesetz erfüllt!830 So ereignet sich das Ende von Gesetz und Propheten (»usque ad Ioannem«) gleichsam existentiell bzw. »privatim« im Zum-Glauben-Kommen: »Ideo tempore Ioannis cessaverunt lex et prophetae, quo Christus apparuit. Sic privatim fit cum quolibet homine. Quamdiu non credit digito ac voci Joannis, qui testatur, agnum Dei Christum implevisse legem, tam diu sub imperio et tyrannide legis servit. […] Non potest [lex] ostendere eum, qui implet, donec evangelium veniat aut dicat, Christum hoc fecisse.« (367,13–368,2) Es liegt nun nahe, diese Passage, die fast wörtlich an ähnliche aus der großen Galatervorlesung erinnert, in deren Sinn zu interpretieren: Dass eben dieses Ende von Gesetz und Propheten beim Einzelnen sich je neu im Entstehen des Vgl. schon 40 I,492,12 f., wo Mt 11,13 erwähnt wird, freilich in erster Linie auf das Ende des Gesetzes »ad literam« (im Unterschied zu »spiritualiter«) bezogen. 830 Vgl. 39 I,367,4–7: »Ideo impossibile est homines praestare, quod lex exigit et prophetae de impletione eius futura praedicant, nisi habeant fide apprehensum Christum etc. Credentes autem habent, quod lex exigit et prophetae promittunt.« 829

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Glaubens aus der Anfechtung heraus ereignet, also in jener Sequenz der Zeiten des Gesetzes und des Evangeliums.831 Nur dann gewinnt Luthers Argumentation überhaupt Schlagkraft gegen die antinomistische These einer weltgeschichtlich einmaligen Abschaffung des Gesetzes mit dem Kommen Christi: Denn das Gesetz übt sein Amt auch post Christum aus, wo immer Unglaube ist, also nicht nur bei den impii, sondern auch bei den Christen, sofern sie nicht glauben!832 Für diese Interpretation von Luthers Rekurs auf Mt 11,13 lassen sich auch all jene Stellen anführen, an denen er davon spricht, dass das Gesetz immer wieder aktuell und im Rückblick zeitlich fixierbar die Glaubenden angreift und erschreckt, sie aber, weil sie Christus haben und zu ihm fliehen, nicht in Verzweiflung und Verdammnis führen kann: »Sicut enim peccatum et mors nunquam quiescunt, sed subinde perturbant et contristant pios, dum hic vivunt, ita subinde lex redit et perterrefaciat conscientias piorum.« Luther fügt ausdrücklich hinzu: Erst mit der Auferstehung werden wir ganz vom Gesetz frei sein (374,22–375,3).833 Das Auftreten des Gesetzes wird also hier nicht als permanente Gleichzeitigkeit mit dem Evangelium, sondern als je aktueller, temporär begrenzter, aber nicht »kalkulierbarer« Angriff und Widerspruch gegen Letzteres gefasst, eben »subinde«, d. h. von Zeit zu Zeit, immer wieder. Das spricht für eine zeitliche Abfolge, nicht für ein zeitliches Zugleich der beiden Gottesworte. Für unsere Deutung von Luthers Rekurs auf Mt 11,13 sprechen auch jene Passagen, in denen er diesen Bibelvers ausdrücklich als Trost in der Anfechtung versteht. Das »usque ad Ioannem« wird so dem »ad futuram fidem« bzw. »ad Christum futurum« der Galatervorlesung von 1531 parallel gesetzt und bezeichnet wie dieses die Finalität, d. h. Ziel und Begrenzung des officium legis: Das Gesetz übt sein anklagendes Amt auf den künftigen Glauben, auf das Evangelium hin aus. Im Text selbst heißt es freilich nur: »Impiis tamen manet lex requirens et pios quidem etiam accusat et terret, sed nequit eos in desperationem adigere et damnare.« (367,11 ff.) 832 Es ist auffällig, dass Luther diesen Skopus seiner Argumentation nicht explizit erwähnt, sondern allgemein mit der Fortdauer der Anklage des Gesetzes für den Unglauben überhaupt schließt. So könnten seine Aussagen auch im Sinne eines einmaligen und nicht eines permanenten Konstituiertwerdens des Glaubens verstanden werden. 833 Zum Verhältnis Gesetz und Evangelium als aktueller Abfolge vgl. auch 392,11–15; »Sed propter Christum legis impletorem credentes non adiguntur in desperationem accusatione et terrore legis, sed verbo ipsius eriguntur. Deinde propter eundem Christum victorem peccati sunt mortui peccato et peccatum illis.« Freilich heißt es dann auch zusammenfassend und vom konkreten Vollzug abstrahierend: »Quatenus vero carnem habent, eatenus habet dominium in eos lex et peccatum.« Ferner 537,11–14, wo dem Angefochtenen, dem das Gesetz selbst in der Gestalt des Evangeliums mit seinen Schrecken begegnet (was nach Luther möglich und legitim ist, aber dann gleichwohl das Evangelium hier als Gesetz, nicht als Evangelium wirkt und Christus nicht in seinem proprium officium ist) tröstend gesagt wird: »Hic tempus est ut sequatur digitum Ioannis Baptistae monstrantis agnum Dei tollentem peccata mundi. Hic enim Christus venit cum proprio suo officio, evangelizator pauperum. Mi frater, noli desperare, sed propera ad hunc Christum.« Siehe auch 43,171,7–16. 831

Gesetz 395 Andernfalls, d. h. als zeitlich nicht terminierte und deshalb todbringende Verzweiflung, missbraucht und überschreitet es sein Amt. Das unterscheidet etwa die Buße eines Kain, Saul und Judas von der des Petrus: »Legis quidem est accusare, arguere, perterrefacere, damnare peccata, deducere ad inferos ac morti obiicere. Sed in desperationem adducere ac prorsus occidere, ut Iudam, Cain, Saul et alios, non concedimus ei, quia debet quidem esse paedagogus et exactor, non in infernum, sed in Christum […]. Itaque extra illos fines si sese lex extenderit, valeat et caveat sibi.« (410,4–10)834 In der zweiten Antinomerdisputation wird Mt 11,13 noch deutlicher auf die Situation der Anfechtung durch das Gesetz bezogen. Die einfache Bedeutung dieses Wortes sei, so Luther, dass Gesetz und Propheten interimistisch bis zum Kommen Christi »erklingen« sollen. Er fährt fort: »Estque profecto haec sententia plenissima consolationum, vel hoc nomine, quod sciant illam exactionem, terrorem et damnationem legis non perpetuo duraturam.« (455,1–3) Freilich dürfe daraus nicht die Konsequenz abgeleitet werden, dass das Gesetz aus den Kirchen und Predigten auszuschließen sei,835 denn wegen des »peccatum in carne« bei den Heiligen und der Rohheit der meisten Menschen ist es noch zu predigen (455,10–13). Und seine Forderung und Anklage ist durchaus ernst zu nehmen, es kann einem dadurch »die weite Welt zu enge« werden (456,7 f.). Hier vermag nur Christus zu helfen, der den angefochtenen Gewissen vor Augen zu stellen ist, damit sie wissen: »Lex et prophetae usque ad Ioannem.« Und dann spricht Luther das Gesetz direkt an: »Est quidem tuum, o lex, exigere, cruciare et perterrefacere, sed ad tempus, donec veniat semen. Christus ecce hic iam adest [,] sine me.« (456,10 ff.; vgl. 579,21–580,18) In jedem Fall ist deutlich geworden, dass Luthers Exegese von Mt 11,13 ihn dazu führt, Gesetz und Evangelium nicht als zeitliches Zugleich im Menschen, sondern als dynamisches Geschehen, als konfliktive Abfolge, ja als Kampf, in dem immer neu das eine dem anderen weichen muss, zu verstehen. Luther hat das ebenfalls am Verhältnis von Glaube und Zweifel im Christen illustriert: Der Glaube der Christen wird immer wieder vom Zweifel angefochten, und zwar nicht zu jeder Zeit, sondern in zeitlichen Abständen. Während die certitudo des Glaubens dem Evangelium zu verdanken ist, ist die dubitatio das Werk des Gesetzes, das auf die bleibende Sünde hinzeigt und so den Vergebungszuspruch des Evangeliums als mir geltend fraglich macht: »Dubitatio manet in sanctis et renatis et viget in illis, etsi non semper, tamen per intervalla. Est autem dubitatio opus legis.

In Sinne dieses rettenden Naheseins des Evangeliums dort, wo das Gesetz erschreckt, kann Luther formulieren: »Itaque non debent haec duo [Gesetz und Evangelium] longe inter se separari, ut fecerunt papistae, sed se invicem comitari.« (39 I,410,18 f.) Dies hebt aber nicht den Satz auf: »Haec qui bene novit distinguere, bonus est theologus.« (552,12 f.) Vgl. 410,28–411,26: »Lex et prophetae sint usque ad Ioannem, id est, lex nihil amplius debet requirere, non debet amplius accusare conscientiam praesente Christo.« 835 Vgl. 455,8 ff.: »Sed tamen inde non sequitur, quod ideo explodenda sit lex e templis et concionibus.« 834

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Nam lex efficit dubitationem animarum, Evangelium vero consolatur et certificat animam. Pugnant autem haec duo accerime inter se, certitudo et dubitatio. […] Ita tamen pugnant inter se, ut semper superet certitudo remurmurante dubitatione.« (39 II,163,14–164,4)836 Auch hier wird mithin das Verhältnis von Gesetz und Evangelium im Christen nicht als konstantes Zugleich, sondern als zeitliches Kampfgeschehen, in welchem jeweils das eine Moment das andere verdrängen will, aufgefasst. Ein expliziter Rekurs auf Gal 3,24 (das Gesetz als »paedagogus noster in Christum«) findet sich im achten Argumentum der zweiten Antinomer-Disputation. Im Kontext der Abweisung jedweder Funktion des Gesetzes bei der Rechtfertigung führt Luther aus, dass das Gesetz von sich aus nur Verzweiflung wirken könne. Schlägt diese in eine heilsame, d. h. zu Christus hinführende Verzweiflung um, so liegt das nicht am Gesetz als solchem, sondern ausschließlich am Hinzutreten des Evangeliums bzw. des Heiligen Geistes. Allein der Heilige Geist macht aus dem Gesetz als Räuber und Teufel den guten Pädagogen auf Christus hin (445,11–13). Und nun schildert Luther ein solches Aufeinandertreffen des Evangeliums und des Gesetzes inmitten der Anfechtung, bei dem das Evangelium das Gesetz durch direkte Anrede in die Schranken weist: »Cum docetur lex, succedit seu subintrat Evangelium: Audi, inquiens, o lex, vide, ne extra tuas regiones aut saepta transilias. Tu paedagogus esse debes, non latro, perterrefacere potes, sed cave, ne prorsus occidas!« (445,14–17)837 Luther macht hier nicht nur geltend, dass das Gesetz nicht per se, sondern nur durch das Evangelium seine »pädagogische« Funktion auszuüben vermag, sondern sieht das Verhältnis von Gesetz und Evangelium auch als zeitliche Abfolge: Erst übt das Gesetz sein officium aus, dann folgt und tritt dazwischen das Evangelium, weist das Gesetz in Schranken und führt zurück zu Christus.838

Vgl. die Variante 39 II,163,22–164,16, die explizit von tentatio spricht: »Dubitatio manet in sanctis, si non perpetuo, tamen in intervallo et in hora tentationis. Dubitatio est motus legis, Evangelium consolatur; sed sicut lex et Evangelium pugnant, ita et certitudo et dubitatio. Illa duo pugnant, sic tamen, ut certitudo vincat dubitationem, qumavis dubitatio remurmuret.« Dieser Kampf ist erst eschatologisch zu Ende. 837 Vgl. 445,20–446,5: »Lex enim per sese tantum potest terrores incutere et decucere ad inferos. Sed deinde venit Evangelium et aufert cuspidem legi et facit ex ea paedagogum. […] Evangelium sua virtute facit ex latrone paedagogum et rapit illum occisum per legem et reducit ad Christum.« 838 Zur Anfechtungssituation vgl. auch 425,29–430,11. Luther legt hier dar, dass vom Evangelium aus, also rückwirkend betrachtet, die Anfechtung unter dem Gesetz als notwendig begriffen werden muss, weil Gott gerade so sein Heilswerk wirkt (427,18 ff.). Es handelt sich bei Gesetz und Evangelium um zwei Worte Gottes, die in der Kirche gepredigt werden müssen und aufeinander folgen (430,1–7). Insbesondere der 428,1–6 erwähnte doppelte Auftrag und Wille Gottes ist als zeitliches Nacheinander zu verstehen: »Utrumque enim mandatum et voluntas Dei est, credere, quod tenearis iure divino sub poena aeternae damnationis, et credere, quod velit, ne de divina erga te misericordia desperes, 836

Gesetz 397 Es finden sich somit in allen drei Antinomerdisputationen Belege für das Denken Luthers in zwei Zeiten. Die Situation der Anfechtung, als Geführtwerden unter das Gesetz, dem der erneute rettende Freispruch des Evangeliums folgt, ist überall präsent. Luther interpretiert also auf der Ebene der konkreten Erfahrbarkeit beim einzelnen Christen das Zugleich von iustus und peccator, von Gesetz und Freiheit vom Gesetz mit Hilfe der Sequenz verschiedener Zeiten. Der Gerechte wird immer wieder unter das Gesetz geführt und durch das Evangelium je neu freigesprochen. Insofern ist der schon angeführten Deutung Pinomaas zuzustimmen, dass es bei der Simultaneität von esse sub lege und non esse sub lege um ein Pendeln bzw. Hin- und Herschwingen der Glaubensbewegung geht, nicht jedoch um ein Zugleich zweier Hälften. Vielleicht lässt sich die Parallelität der Aussage: »Der Christ ist zugleich sub lege und nicht sub lege« aus der distanzierten theoretischen Betrachtung erklären, welche die Geltung und Predigt des Gesetzes auch bei den Frommen rechtfertigen möchte, dabei aber von deren zeitlich-seelsorgerlicher Situationsbedingtheit zuweilen abstrahiert839 und zu dem Modell der zwei »Hälften« vorstößt: Nach dem Geist, dem Glauben, dem neuen Menschen ist der Christ frei vom Gesetz, dagegen nach dem Fleisch, dem Unglauben, dem alten Menschen steht er unter dem Gesetz. Damit soll aber – so möchten wir Luther letztlich verstehen – keineswegs die gerade nicht simultane Realisation des sub lege und non sub lege bestritten werden. Freilich könnte der Versuch unternommen werden, Luthers oft ohne explizite Bezugnahme auf das temporäre Modell vorgenommene Simultanisierung von »non esse sub lege« und »esse sub lege« selbst nochmals relational-aspekthaft zu interpretieren, ohne dass ein logischer Widerspruch von zwei kontradiktorischen Urteilen entsteht: Im Glauben an das Evangelium steht der Christ nicht mehr unter dem Gesetz bzw. dem Zorn Gottes, sondern allein unter der Gnade. Wenn er aber auf sich schaut, also von seiner Christusrelation bzw. vom gnädigen Urteil Gottes absieht, dann muss er bekennen, dass er jederzeit unter der Anklage des Gesetzes und dem Zorn Gottes steht bzw. von ihnen »betreffbar« ist.840 Er ist jederzeit einer, der von sich aus im Glauben bedroht und angefochten sein könnte. Insofern könnten beide Aussagen (non esse sub lege – esse sub lege) zugleich sed contritus et perterrefactus discas confugere ad misericordiam promissam in Christo, etiam cum quoad te nihil nisi peccatum, nihil nisi mortem videas.« 839 Luther hat immer wieder betont, dass den Verzagten und Angefochtenen nicht das Gesetz, sondern das Evangelium zu predigen sei, dagegen den Hochmütigen, Selbstsicheren und groben Sündern das Gesetz und nicht das Evangelium. Vgl. z. B. 571,10–575,2. 840 So Hof, Lehre, 101 ff., bes. 101: »Das tempus legis und das tempus gratiae stehen im Leben des Christen nicht im Verhältnis des exklusiven Nacheinanders, sondern der Gleichzeitigkeit. Der Christ ist iustus et peccator simul, darum vom Gesetz betreffbar und zugleich nicht.« (Hv.) Vgl. 2,93,7 f.25 f.34 f.; 100,1–4: Dem Christ geht im Gebet auf, »das goth, so er wolt der gerechtikeyt nach mit im handelen, in aller billikeit als einen ungehorsamen, durch sein eygenn mund bekandt und ubertzeugt, alle augenblick vordammen und vorwerffen mocht«; 122,8–14.

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getroffen werden, ohne dass sie in der Glaubensperspektive selbst zugleich gelten würden. Denn dieser Blick auf mich selbst stellt ja eine Abstraktion dar, die zuweilen hypothetisch vollzogen werden kann (»Wenn ich nicht zu Christus gehörte, dann träfe mich die volle Strenge des Gesetzes!«), um die absolute Gratuität des im Glauben mir Zugesagten herauszustellen, die aber auf der Hut sein muss, nicht in die Perspektive des Unglaubens umzuschlagen.841

Exkurs: Luthers Interpretation von 1.Timotheus 1,8–9 Zur Begründung seiner Lehre vom doppelten usus legis beruft Luther sich wiederholt auf 1.Tim 1,8 f., eine Schriftstelle, welche die Herausbildung der usus-Lehre zumindest mit inspiriert haben dürfte. Eine ausführliche Exegese dieser Verse hat Luther in einer Predigt über 1.Tim 1,8–11 aus dem Jahr 1525 gegeben, welche zusammen mit einer Predigt über 1.Tim 1,3–7 unter dem Titel »Sermon von der heuptsumma Gottes gepots, dazu vom misbrauch und rechtem brauch des gesetzs« auch gedruckt wurde.842 Die Predigt ist ein Indiz dafür, dass 1525 die Lehre vom duplex usus legis – nachdem sie vorher nur in Ansätzen vorlag – inhaltlich und terminologisch voll entfaltet ist. Luther hat sie in Abgrenzung von der katholischen Rechtfertigungslehre und vom Gesetzesverständnis der Schwärmer entwickelt. Der genannten Predigt gilt unser Interesse deshalb, weil in ihr der Zusammenhang von Geltung des Gesetzes beim Christen und simul paradigmatisch herausgearbeitet wird und sie deshalb unsere bisherigen Ergebnisse vertiefen kann. 1.Tim 1,8 f. (Vulg.) lauten: »Scimus autem, quia bona est lex, si quis legitime utatur: sciens hoc quia lex iusto non est posita, sed iniustis.« Auf das legitime uti des Gesetzes kommt nach Luther alles an, der rechte Brauch des Gesetzes ist von seinem Missbrauch abzugrenzen. Um den rechten Brauch des Gesetzes zu verstehen, »mustu den menschen yn zwey stueck teilen und beude wol scheiden, nämlich yn den alten und newen, wie yhn Paulus geteilt hat. Den newen menschen las nur gar unverworren mit gesetzen, Den alten treibe on unterlas mit gesetzen und las yhm kein ruege darvon, so hastu es recht und wol gebraucht. Dem newen Menschen ist gar nicht zu helffen mit wercken, er mus etwas höhers haben, nemlich Christum, der ist kein gesetz noch werck, sondern ein gabe und geschenck, lauter gnade und guete Gottes, wenn der yns hertz durch den glauben koempt, werden wir fuer Gott from.« (122,24–32) Luther greift hier auf die paulinische Unterscheidung des alten und neuen Menschen zurück und bezieht die in 1.Tim 1,8 ausgesprochene Freiheit vom Gesetz auf den neuen Menschen: Dieser wird nicht durch das Gesetz bzw. durch die Werke, sondern durch den Glauben an Christus gerecht. Dagegen steht der alte Mensch unter dem Gesetz und ist unablässig mit ihm zu konfrontieren. Darin liegt der rechte Gesetzesbrauch! Schreibt Vgl. oben Anm. 828. 17 I,102–134 bringt sowohl die Hs als auch den Dr. Wir zitieren, wenn nicht anders vermerkt, nach dem Dr; Zitate im Text alle nach WA 17 I. 841

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Gesetz 399 man dagegen dem Gesetz die Rechtfertigung zu, ist dies als Missbrauch seiner Funktion zu beurteilen. Wie der Fortgang der Predigt zeigt, versteht Luther an dieser Stelle die Distinktion von altem und neuen Menschen von unterschiedlichen Menschen bzw. von zwei Personengruppen, also von den Nichtchristen bzw. Christen, d. h. noch nicht von einer Differenzierung im Christen selbst. Die Hs bringt das durch die pluralische Formulierung auch explizit zum Ausdruck: »Vetus homo i. e. qui Christum non habent.« (123,3)843 Der alte Mensch, d. h. der, der nicht Christ ist, steht nun in doppelter Weise unter dem Gesetz. Da dort, wo Christus einen Menschen nicht bestimmt, dieser von Grund auf böse und ihm alles Böse zuzutrauen ist, bedarf es eines Schutzes dagegen: »Derhalben ist not, das da das gesetze kome und dem boesen werhe, Da zu dienet es allein, ist auch nichts anders denn ein were, damit man die boesen auffhalte, das sie nicht thuen, was sie gerne woellten.« (123,25–28)844 In diesen Worten erkennt man unschwer den usus civilis legis, der die Menschen nicht von innen her bessert und ändert, sondern allein durch die äußere Rechtsordnung das Böse und seine Folgen eindämmt und begrenzt. Er bewirkt allein eine Gerechtigkeit vor den Menschen.845 Der alte Mensch steht aber noch unter einem anderen Brauch des Gesetzes, nämlich dem usus theologicus: »Nu ist noch ein brauch, den Paulus an andern orten austreichet, der ist etwas subtiler, das das gesetz die sünd erkennen leret, nemlich, wenn also geprediget wird, das eitel suend an uns ist, was wir sind und thuen, das ein mensch auch nichts dencken, begeren und reden kann, es ist alles widder Gott und verdampt. Das also durch diesen gesetz brauch niddergeschlagen werde alle grosse schöne werck der weltheiligen, die dem gesetz fuer Gott wollen genug thuen.« (126,20–26) Der theologische Brauch des Gesetzes führt also zur Selbsterkenntnis als Sünder – und zwar nicht in erster Linie bei denen, die Gottes Willen öffentlich und sichtbar übertreten, sondern bei denen, die diesen Willen äußerlich erfüllen, ja als fromm gelten, es aber innerlich, mit dem Herzen nicht sind, eben weil ihr rechtschaffenes und frommes Tun der Selbstrechtfertigung und insofern dem Eigennutz dient und nicht der selbstlosen Liebe zu Gott und den Menschen entspringt. Der zweite Gesetzesbrauch vollzieht sein Werk an den »sancti peccatores«, den Heuchlern, die aus der Gerechtigkeit vor den Menschen

Vgl. 123,18 f. (Dr) formuliert im Singular: »Der alte mensch aber, der on glauben und nicht von reinem hertzen ist und Christum nicht hat […].« 844 Vgl. 123,6 f. (Hs): »Cum ergo extra Christum, sub diabolo, kein guts an im hat et inclinatus ad malum, opus est lege, ut huic wer. […] Lex est ergo ein wher, quo reprimuntur mali, ne faciant.« 845 Vgl. 124,23–27: »Dis ist ein brauch und nutz des gesetz, das es die leut schrecke und straffe mit allem unglueck leibs und seele, die boesheit zustewren und auswendig zu weren, da zu ist es gut, nicht das es from mache, es machet allein ein euesserlichen schein fuer den leuten, das man sich der werck enthelt, ynwendig bleibt es doch damit ungeweret«; 124,8 (Hs): »Hic unus usus legis, ut mali cohercentur.« 843

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eine solche vor Gott machen, ja welche dem Heiligen Geist, der allein vor Gott rechtfertigen kann, in sein Amt eingreifen.846 Im Blick auf den zweiten usus legis kann Luther dann paradox formulieren: »Da hat das gesetz mit zuschaffen und abermal zu weren, will diese [die heiligen Sünder] nicht lasen from seyn, wie es jhene [die öffentlichen Sünder] nicht wolt lassen böese seyn, hie verwirfft es guete werck, dort verbeuet es boese werck.« (127,10–13)847 Mit dieser Fassung des usus theologicus, der mehrfach besonders bei den Mönchen verortet wird, bezieht sich Luther auf christliche Personengruppen im engeren Sinn, die aber eben in ihrem innersten Personkern keine Christen sind, weil sie aus der eigenen Werk- und nicht aus der Glaubensgerechtigkeit leben. Luther spricht beim elenchtischen Gesetzesbrauch auch des Öfteren in der inklusiven Wir-Form, bezieht also sich selbst und die hörende Gemeinde mit ein. So wird er auch bei den zuerst genannten Personen, die Gottes Willen bzw. die Rechtsordnung sichtbar übertreten, ebenfalls an Christen gedacht haben, die sich aber eben durch solches Verhalten extra Christum stellen. Luther hält nun erneut fest, dass das Gesetz, das den alten Menschen in dieser doppelten Weise betrifft, dem neuen Menschen, dem Gerechten nicht gegeben ist – und zwar deshalb, weil dieser im Glauben an Christus gerechtfertigt ist und aus einem neugeschaffenen Herzen das Gute in innerer Freiheit und Freudigkeit tut. Ein Gesetz, das ihm das Gute zu tun gebietet, ist deshalb nicht mehr nötig. Der Gerechte, frei vom Gesetz, erfüllt das Gesetz! Luther bringt das auch an dieser Stelle mit naturhaften Bildern zum Ausdruck: »Wenn ein ding gehet, als es gehen soll, darf es niemand treiben, Wenn es thuet, was man haben will, darff mans nicht heissen, gebieten noch verbieten. Der sonne darff man kein gesetz geben, das sie leuechte und am hymel lauffe, Noch dem wasser, das sie [es?] fliesse, Noch dem feuer, das es brenne, Oder eim bawm, das er grune und wachse. […] Gesetz aber mus allein dar auff gegeben werden, das noch nicht da ist oder nicht gehet, wie es gehen soll. Wenn es aber koempt und furhanden ist, mus es auff horen und abfallen.« (130,13–27; vgl. 131,21–27) Das Gesetz kann mithin sein Werk ausschließlich an den Sündern und Ungerechten vollbringen, an den Gerechten hat es dafür keinen Angriffspunkt mehr. Luther muss sich in der Folge aber dem Einwand stellen, dass es dann eigentlich keine Gerechten auf Erden gäbe, denn auch im Neuen Testament, etwa in Form der apostolischen Ermahnungen, findet sich »Gesetz«, das offenbar auf die Christen Vgl. 126,10 f. [Hs]: »cohercentur sancti peccatores, qui non occidunt et malam vitam furen coram mundo.« 847 Vgl. 127,2: »1. non vult boss sein et illos nit from.« – Vgl. auch die Zusammenfassung der beiden usus legis 128,32–129,15: Das Gesetz ist dazu gegeben, »das es were, das man nicht boeses thue und erzwinge ein eusserliche fromkeit für der welt und widderumb, das es derselben weltlicher froemickeit were fur Gott zu tretten und bringe sie da hin, das sie sich fuer Gott bekenne ein suender und verdampt, kuertzlich, das man wisse, das es fuer yhm nichts gilt des gesetzs werck eusserlich zu halten«; 129,31 ff.: »Den ungerechten aber mus man gesetz aufflegen, Wazu? Das man yhn were oder sie lere erkennen, was sie sind.« 846

Gesetz 401 zielt. Hat also das »lex iusto non est posita« keinen irdisch realen Träger? Kann ein Mensch gerecht und ungerecht zugleich sein?848 Luther löst diese Problematik mit dem simul iustus et peccator bzw. damit, dass er die zuvor entwickelte Differenzierung von altem und neuem Menschen auf den Christen selbst anwendet: Der Christ selbst ist durch die Simultaneität von altem und neuem Menschen, von Fleisch und Geist (Herz, Gewissen), außen und innen konstituiert. So lautet Luthers Antwort auf den vorgebrachten Einwand: »Also schleuessit er [Paulus] selb, das sie beide [= sowohl], gerecht und ungerecht sey, und bleibt auch darbey, das auff erden niemand gerecht ist, es kann kein frommer man auff erden leben, er muss in hymel.« (132,25 ff.)849 Der Himmel ist hier nicht im zeitlich-eschatologischen, auf das ewige Leben gedeuteten Sinn verstanden, sondern meint die Existenz des Christen als Glaubenden, der ein reines und zum Guten williges Herz besitzt. Eben dieser Christ ist aber auch noch Fleisch, das samt Zunge und Faust unrein und dem Bösen verhaftet ist: »Der dreck bleibt ymmer neben dem glauben, das er sich damit schlage und ausfege, Weil nu solchs noch da ist, rechnet uns die schrifft ynn dem stueck gleich den ungerechten und sündern, da wir eben so viel nach dem fleisch gesetz müssen haben als jhene, des fleischs lust zu weren und sie zu dempffen.« (133,15 ff.) Im Unterschied zu den Sündern, die noch ganz dem Fleisch unterstehen, geschieht dieser Kampf gegen das Fleisch bei den Christen aus der Lust des Geistes heraus, mit dem zum Guten willigen und fröhlichen Herzen, also aus dem Glauben heraus, und deshalb rechnet Gott ihnen – anders als bei jenen – die bleibende Sünde nicht an. Luther spricht hier klar aus – in früheren Texten ist das oft nur implizit vorausgesetzt –, dass der Christ als alter Mensch bzw. Fleisch (oder »auswendig«) noch unter dem Gesetz steht, eben deswegen, weil er noch Fleisch und Sünder ist. Luther denkt – obwohl er das in der Predigt nicht eigens betont – hierbei vorwiegend an den elenchtischen Brauch des Gesetzes.850 Als Glaubender und mit der Lust am Guten Begabter ist derselbe Christ dagegen dem Gesetz entnommen, tut er doch spontan und frei gute Werke. »Nach dem das er [der Gerechte] entpfangen hat, darff er kein gesetz und ist rein, Nach dem aber, das er noch nehmen sol, darf er des gesetzs noch. Also teile ein Christen ynn zwey stueck, das er zugleich gerecht und ungerecht ist. Der heilige Geist woenet ym hertzen, aber nicht im fleisch, da woenet der Vgl. 132,6 ff. [Hs]: »Si nullus iustus in terris, cur dicit [Paulus]: ›Iusto lex non est‹? Et dicit caput esse cor purum, quo fatetur esse iustos? Num homo potest esse iustus et iniustus?« 849 Vgl. 132,9–15 (Hs): »Quia datur, ut vides hic, lex iustis, concludit Paulus, quod iusti sunt sancti et non sancti et legem habent et non. […] Accipiamus hunc hominem, qui cor purum etc. sed si habeo, nondum caro pura. Si conscientia pura, tamen manus impura. Vetus Adam adhuc adest, fides, quae trahit me ad deum, da muss khein gsetz sein. Ibi frolicher mut et cor omnibus paratum et habeo omnia satis.« 850 Freilich heißt es 133,33 f., der Mensch (gemeint ist der Christ) werde »auswendig« durchs Gesetz gezwungen, »dass er nichts Böses thu«, was für den usus civilis spräche. Doch ist dieser Satz durch die Hs nicht gedeckt. 848

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Teueffel mit seinem samen.« (133,28–32)851 Diese Doppelexistenz des Christen – »das er auswendig mit dem gesetz gedrungen und gezwungen werde, das er nicht boeses thu, aber nach dem geist ungezwungen bleibe, denn er von yhm selbs gutes thuet« (133,33 ff.)852 – vermag irdisch nicht transzendiert zu werden, das geschieht erst am Jüngsten Tag, wo wir an Leib und Seele rein und ohne böse Lust sind. Luther wird also – veranlasst insbesondere durch das Faktum der neutestamentlichen Paränese –853 dazu geführt, die zunächst anvisierte Interpretation von 1.Tim 1,8 f. auf zwei Personengruppen auf eine Simultaneität zweier Aspekte im Christen selbst zu erweitern.854 Dabei versteht er unter dem vom Gesetz freien Geist, Herzen oder neuen Menschen den Christen als Glaubenden, der seine Gerechtigkeit von Gott empfängt und »unter den Schatten Christi tritt« (133,27). Als solcher will er in froher Spontaneität das Gute. Der alte Mensch bzw. das Fleisch

Vgl. 133,10–134,2: »Ergo homo propter carnem est peccator, propter spiritum est spiritualis, donec in extremo die cessant Cupiditates, tum plena erit terra et celum bonis, nemo mali cupit alteri. […] Hic tamen cessant [cupiditates] in corde und reynen unss subinde.« 852 Vgl. 134,22–25: »Nach dem geist ist kein gesetz da, nach dem fleisch ist gesetz da, denn das thuet nicht, was es thuen sol, Der geist aber thuet alles. So verstehe nu den spruch von dem gesetz geben und die zween brauch des gesetzs«; 134,5 f. (Hs): »Secundum spiritum non habet in se legem, secundum carnem habet, quia nondum penitus puri.« 853 Sie versteht Luther an dieser Stelle folglich im Licht des duplex usus, besonders des usus elenchticus. 854 Diese Differenzierung ist nicht gesehen bei Haikola, Usus, 123 f., der bei der Her­ anziehung der Predigt nur auf die Simultaneität der Aspekte im Christen selbst eingeht. – In der Vorlesung über 1.Tim aus dem Jahr 1528 (vgl. die Exegese von 1.Tim 1,8 f. [26,13,17–18,35]) entwickelt Luther im Horizont einer allgemeinen usus-Lehre den duplex usus legis, spricht von der Freiheit des Gerechten vom Gesetz, treibt die Auslegung aber nicht bis zum simul voran. Der Christ ist nur insofern dem Gesetz unterworfen, als er, der eigentlich vom Gesetz frei ist, sich aus Liebe zum Nächsten vielen Gesetzen unterwirft: »Nobis posita est lex charitatis et praecepta caeremonialia propter charitatem. Imo Christianus servus omnium, omnibus legibus subiectus, num lex etc. Omnibus legibus subiecti, sed sponte subiicimus in charitate et fraternitate omnibus omnium legibus, sed non ut illi [Papistae] ponunt ad iustificandum. Distinguimus nos Christianam vitam in fidem et charitatem. Fides est regina super omnes leges, Christianus per solam gratiam vult iustificari, sic liber ab omnibus legibus.« (26,17–27,34) Allenfalls im Folgenden könnte man einen Hinweis darauf erkennen, dass der Christ auch qua Sünder dem Gesetz noch untersteht: Im Gewissen hat nach Paulus der Glaube, nicht das Gesetz zu herrschen. »In altera parte Christianus est subiectus omnibus legibus, portat legem, onera legis secun­ dum veterem hominem, quaerit servitutem, bonum proximi.« (26,17,35 ff.) Die Vorlesung von 1528 scheint sich somit wieder dem Sermon von den guten Werken (1520) anzunähern, wo Luther, was die Betroffenheit durch das Gesetz anlangt, eher nach Menschengruppen unterscheidet, als verschiedene Dimensionen im Christen selbst anzuvisieren. Das simul würde in dieser Perspektive dann nicht akzentuiert werden. Auf die Frage, warum es trotz der Handlungsspontaneität des Glaubens noch so viele geistliche und weltliche Gesetze und Zeremonien gebe, antwortet Luther: »Eben darumb, das wir den glauben nit allesampt haben odder achtenn.« (6,213,18 f.) Ist hier daran gedacht, dass nicht alle Glaubende 851

Gesetz 403 sind – oder ebenso daran, dass auch im Glaubenden sich noch der Unglaube findet? Jedenfalls teilt Luther dann die Menschen in vier Gruppen (213,22–214,11; vgl. schon 5,401,5–407,32): 1. die Gerechten, denen nach 1.Tim 1,9 kein Gesetz gegeben ist und die freiwillig aus dem Glauben heraus alles Gute tun, 2. die, welche die christliche Freiheit zur Faulheit missbrauchen und durch das Gesetz getrieben und ermahnt werden müssen, 3. die offenkundig Bösen, die mit geistlichen und weltlichen Gesetzen zu zwingen sind, 4. die Unmündigen, welche mit einer äußeren Disziplin und Ordnung zum Glauben zu führen sind. Die erste Gruppe steht jedenfalls nicht unter dem Gesetz, es sei denn die Grenzen zwischen den Gruppen sind durchlässig. Ist bei der zweiten Gruppe an den usus elenchticus oder einen usus practicus evangelii (s. u.) gedacht, bei der dritten und vierten Gruppe an verschiedene Formen des usus civilis oder gar (bei 4) an einen eigenen usus puerilis (Albrecht Peters)? Wahrscheinlich sind Luther zu dieser Zeit solche Systematisierungen fremd. Ähnlich stellt sich die Sachlage auch in »Von weltlicher Obrigkeit« (1523) dar: Luther teilt hier (11,249,24–250,34) die Menschen in zwei Gruppen, die, welche dem Reich Gottes, und die, welche dem Reich der Welt zugehören. Die Ersten sind die unter Christus stehenden Gläubigen, die des weltlichen Regiments nicht bedürfen, da sie jedermann mit Liebe begegnen und gerne Unrecht leiden. Wäre »alle welt rechte Christen, das ist, recht glewbigen« (249,37), so wäre kein weltliches Regiment nötig. Dieses ist allein der Ungerechten wegen erforderlich, damit sie in ihrer Bosheit eingeschränkt werden. Dem Christen selbst ist nach 1.Tim 1,9 kein Gesetz gegeben, er tut das Gute spontan, von Natur, bringt wie ein guter Baum von selbst, ohne Gesetz gute Früchte hervor: »Also sind alle Christen durch den geyst und glawben aller ding genaturt, das sie wol und recht thun mehr denn man sie mit allen gesetzen leren kann, und duerffen fur sich selbs kein gesetzs noch rechts.« (250,18–21) Der Christ ordnet sich freilich aus Liebe, weil der Nächste dessen bedarf, dem weltlichen Regiment unter, ja übernimmt in ihm Verantwortung (253,17–254,26). Das Amt des Gesetzes ist ausschließlich um der Ungerechten willen notwendig: »Spricht Paulus, das gesetz sey umb der ungerechten willen geben, das ist das die yhenigen, so nicht Christen sind, durchs gesetz eußerlich von boesen thatten gezwungen werden […]. Nu aber keyn mensch von natur Christen oder frum ist, sondern altzumal sunder und boese sind, weret yhnen Gott allen durchs gesetz, das sie eusserlich yhr boßheyt mitt wercken nicht thueren nach yhrem muttwillen uben. Datzu gibt S. Paulus dem gesetz noch eyn ampt Ro. 7 vnnd Gal. 2 das es die sund erkenn leret, damit es den menschen demuetigt zur gnad unnd zum glauben Christi.« (250,24–31) Deutlich ist hier der duplex usus legis angesprochen. Dass auch den Christen beide usus betreffen, nämlich wenn er sich schwerer Vergehen schuldig macht, er dem usus civilis verfällt, dann aber auch aus dem simul herausfällt, und er wegen der bleibenden Sünde noch dem usus theologicus untersteht, kann nur indirekt erschlossen oder ergänzt werden (so Ebeling, Luther, 210), ist aber nicht explizit ausgeführt. Wenn Luther schließlich Mt 5,39, also eine radikale Weisung der Bergpredigt, als Beispiel für den letzteren usus benennt und dann fortfährt: »da mit er [Christus] das gesetz verkleret und leret, wie ein recht Christen solle unnd müsse geschickt sein« (250,31–34), so sprengt dieser Satz den usus elenchticus und geht zur positiven, erfüllbaren Weisung an den Christen über. In diesem Sinn legt Luther die Bergpredigt in dieser Schrift auch aus. Freilich rechnet er mit dem wahren Christen eher als Ausnahme: »Denn syntemal wenig glewben und das weniger teyl sich hellt nach Christlicher art, dass es nicht widderstrebe dem ubel, Ya das es nicht selb vbel thue […]. Syntemal alle wellt boese und unter tausent kaum eyn recht Christ ist […]. Denn die wellt und die menge ist vnd bleybt unchristen, ob sie gleych alle getaufft und Christen heyssen. Aber die Christen wonen […] fern von eynander.« (251,2 ff.12 f.35–252,1) Luther arbeitet hier ersichtlich mit einem doppelten Begriff des Christen.

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ist dagegen die böse, ichsüchtige, glaubenslose Willensrichtung (man wird im Sinne Luthers ergänzen dürfen: die sich aus den eigenen Werken, aus dem Gesetz rechtfertigen will), welche noch unter der anklagenden, überführenden Macht des Gesetzes steht. Auf die sich natürlich auch hier einstellende Problematik der Simultaneität von esse sub lege und non esse sub lege im Sinne zweier göttlicher Urteile gehen wir hier nicht erneut ein, sondern stellen nur fest, dass sich in der analysierten Predigt keinerlei Hinweise auf eine zeitliche Interpretation dieser Duplizität finden und sie die Spannung wohl mittels der oben855 angedeuteten aspekthaft-relationalen Sicht als gelöst ansieht.856 Vgl. Abschnitt 6.3.5. (Ende) Die unserer Predigt vorausgehende über 1.Tim 1,3–7 bereitet Luthers Argumentation in vielem vor: 105,26–107,28 wird ausgeführt, dass Werke und Glauben zu scheiden seien. Der Glaube gehört ins Gewissen oder Herz (bzw. in den Himmel) und betrifft die Relation zu Gott, hier hat das Gesetz nichts zu suchen. Die Werke aber betreffen den Leib und die Erde bzw. den Nächsten und stehen unter dem Gesetz. Luther denkt dabei daran, dass der im Gewissen vom Gesetz Freie sich um des Nächsten willen vielen Gesetzen unterwerfen kann. 113,27–117,17 wird die Frage erörtert, wie der Mensch im Unterschied zu menschlichen Gesetzen vom spezifisch göttlichen Gesetz, etwa dem Dekalog, frei zu werden vermag, das ja nicht einfach im Sinne der Nichtgeltung aufgehoben werden kann, und so ein reines Herz und gutes Gewissen hat. Luther vollzieht in der Antwort ebenfalls mittels zweier Unterscheidungen. Zunächst: »Hie teile die leute ynn zwey teil und scheide, die ym geist sind, von denen, so on geist sind, Denen, die nicht ym geist sind, gehet diese lere [die folgende Lehre vom simul] nicht ein, wird ihnen auch nicht gepredigt.« (114,20 ff.) Die, die im Geist sind, also die Christen, besitzen – trotz ihrer bleibenden Sünde – etwas Höheres und Besseres als das Gesetz, nämlich den Glauben an Christus, der das Gesetz erfüllt hat. So werden sie von diesem Gesetz frei, nicht indem es wie die menschlichen Traditionen aufgehoben wird, sondern indem ihm genug getan wird, so dass es schweigen muss. Um in der Disputation mit dem anklagenden Gesetz zu bestehen, muss auf das simul, die zweite Unterscheidung, zurückgegriffen werden: »War ists, das ich suende an mir habe, und das gesetz sagt, ich solle rein von hertzen seyn, kein boese gedancken noch luest haben, ich aber anders ym fleisch finde, wilchs durch und durch boese ist. Ich teile mich aber selbs auch ynn zwey stueck, nemlich das fleisch und den alten Adam und den geist oder newen menschen. Im hertzen habe ich Christum durch den glauben.« (114,34–115,14) Vgl. 114,11 ff. (Hs): »Divide teipsum in duo: 1. secundum Adam, 2. secundum spiritum. Secundum fidem habeo Christum (et succumbo et exurgo).« In der Gemeinschaft mit Christus gewinne ich Anteil an seiner vollkommenen Gerechtigkeit und Gesetzeserfüllung, so dass das Gesetz an mir scheitern muss, so sehr ich im Blick auf mich selbst Sünde habe und das Gesetz im Recht ist: »Weil nu Christus mein ist durch den glauben und ich widderumb sein bin, so kann mich kein gesetz beschueldigen, so wenig als Christum. Und ob es gleich her feret und mich angreiffen will, so werffe ich yhm solchs fur und spreche: hab ich doch alles und mehr than, den du haben wilt, und ob ich schon ym fleisch noch boese luest habe, wende ich die augen hinauff zu Christo, der ist mein, gibt mir alles, was er hat, So ist seine reinickeit auch mein, Also kann es nichts an mir schaffen. Wenn ich aber herunter sehe, so finde ich noch viels unreinis, dazu das gesetz recht an mir hat.« (115,25–32) Entscheidend ist also für den Menschen, dass er in dieser Blickrichtung »hinauf«, zu Christus hin, d. h. im Glauben verharrt und sich nicht auf die Blickrichtung nach unten, auf seine eigene 855

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Gesetz 405

6.4 Tertius usus legis? In den Abschnitten 1–3 dieses Kapitels sowie dem Exkurs über 1.Tim 1,8 f. wurde herausgearbeitet, dass die Fortgeltung des Gesetzes (als usus theologicus) für den Christen in dessen bleibendem Sündersein, also im simul iustus et peccator gründet. Oder anders formuliert: in der Tatsache, dass der Christ auch als neuer Mensch weiterhin alter Mensch bleibt. Es liegt nun die Frage nahe, ob das Gesetz darüber hinaus auch für den Christen als Gerechten bzw. neuen Menschen nach Luther noch von Bedeutung ist. Diese Frage wurde und wird traditionell unter dem Stichwort eines tertius usus legis verhandelt: Kennt Luther einen »Brauch«, eine Funktion des Gesetzes, die es über den usus civilis und usus theologicus hinaus in spezifischer Weise an den »Wiedergeborenen« (renati) ausübt? Die Lehre vom tertius usus legis wurde zuerst von Melanchthon entwickelt, Calvin folgte ihm darin und erblickte im tertius usus sogar den praecipuus usus legis,857 und auch die Konkordienformel scheint einen tertius usus zu lehren.858 Im orthodoxen sündige Wirklichkeit fixieren lässt. »Sihe [›Gesetz‹] der [Christus] kann nein sagen widder alle gesetz, hat auch seinen grund, Denn er ist yhe rein und on suend, Das nein gibt er mir auch, das, wie wol ich Ja mueste sagen, wenn ich mich ansehe, das ich ein suender bin und mit dir nicht rechten kann, sondern fuele, das nichts reins an mir ist, und Gottes zorn sehe, habe ich doch das daneben, das seine gerechtigkeit mein ist, so bin ich nicht mehr ynn suenden. Dahin muessen wir komen, das wir so bestendig kuennen sagen, Wir seyen from und reine, als es Christus selb sagen kann, wilchs alles geschicht durch den glauben.« (116,21–28) Die abrogatio legis gilt also nur kraft seiner Erfüllung in Christus und im Glauben. 857 Vgl. Ebeling, Lehre, 53–58; Meyer, Normen, 223–227. 858 Dass die Konkordienformel (FC) den tertius usus legis im engeren Sinn nicht lehre, vertreten Bring, Gesetz, bes. 82–93; Elert, Gnade, 163 ff.; ders., Ethos, 388, 391 ff.; Meyer, Normen, 227–231. Unsere eigene Position in dieser Frage sei kurz angedeutet: Mit der Mehrzahl der Autoren sind wird der Überzeugung, dass die FC – abgesehen von allen Wirkweisen des Gesetzes beim Wiedergeborenen qua altem Menschen und Sünder (usus theologicus mit starker Betonung des weisenden Moments: BSLK 794,13–34; 964,11– 965,29; 967,38–968,4; 969,16–22) – einen positiv didaktisch-informatorischen Gesetzesbrauch beim Wiedergeborenen qua neuem Menschen lehrt (793,30–794,4; 963,21–964,10 [jeweils mit Verweis auf das Gesetz vor dem Fall]; 966,2–30 [beide usus liegen hier freilich ineinander: exhortari und arguere]; 968,5–15). Dessen Motivation zu guten Werken gründet freilich – anders als beim Wiedergeborenen qua altem Menschen – nicht im Gesetz (Furcht vor Strafe, Hoffnung auf Lohn), sondern im Geist Gottes, der befähigt, das Gute frei um des Guten willen zu tun (794,35–795,22; 965,36–966,1; 967,10–37 [Werke des Gesetzes und Früchte des Geistes werden hier klar unterschieden]; 967,33–35: »[credentes] nunquam quidem sine lege, et tamen non sub lege, sed in lege«). Insofern stimmt die FC, die von der Dualität von Geist und Fleisch, neuem und alten Menschen im Christen und insofern vom simul her denkt, mit Luthers Position, wie wir sie im Folgenden erheben werden, sachlich, wenngleich nicht terminologisch (Luther spricht nicht von einem tertius usus) überein. Der Geist bzw. der neue Mensch liegen mit dem Fleisch oder alten Menschen (969,16: »der alte Adam, als der unstellig, streitig Esel«) im Kampf, und insofern ist die Wie-

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Luthertum war dieses Theologumenon dann ebenfalls weit verbreitet.859 Ging die ältere Lutherforschung, insbesondere die des 19. Jahrhunderts, noch selbstverständlich davon aus, dass auch Luther einen solchen »dritten Brauch« des Gesetzes lehre, so wurde dies gerade von der jüngeren Forschung mitunter vehement bestritten.860

6.4.1 Die Problemstellung und typische Lösungsmodelle Die Schwierigkeiten bei der Erhellung des tertius usus legis beginnen schon damit, dass nicht leicht zu umreißen ist, worin er eigentlich besteht und worum mithin der Streit geht. Handelt es sich um eine im Blick auf den göttlichen Willen und die Gestaltung des Lebens informierende, normierende, also pädagogische Aufgabe des Gesetzes beim Christen als Christen? Oder ist diese Funktion des Gesetzes primär oder zumindest auch in den reliquiae carnis der Christen begründet und schließt deshalb – neben einer motivierenden – die anklagende Funktion des Gesetzes mit ein? In diesem Fall werden aber die Grenzen zum usus theologicus fließend. Viele Äußerungen zu diesem Thema sind auch deshalb oft schwebend und mehrdeutig, weil nicht klar ist, ob sie vom Christen als altem oder neuen Menschen getroffen werden bzw. vom Christen als einheitlichem Subjekt unter Zurückdrängung jener für Luther charakteristischen Lehre der zwei Menschen in einem Menschen.861 Für unsere Überlegungen formulieren wir die Frage folgendermaßen und sehen darin den eigentlichen Problem- und Sachgehalt der dergeburt noch nicht vollendet (794,13–21; 964,30–965,9; 967,25–37). Gleichwohl scheint es aber so zu sein, dass die FC in der Abwehr der falschen Gegenposition nicht explizit die Antinomisten des zweiten Antinomerstreits verurteilt, welche einen didaktischen usus legis beim Christen als neuen Menschen negierten, sondern nur Luthers Gegner im ersten Antinomerstreit, also Agricola und seine Anhänger, tadelt, die den Christen vom Gesetz schlechthin freihalten wollten. Nur wer das Gesetz bei »Christen und Rechtgläubigen« überhaupt leugnet, soll getroffen sein (795,27–34; 969,38–45). Insofern würde also die Position der Antinomisten nach Luthers Tod nicht verworfen, wenngleich die positive Lehrentfaltung der FC selbst darüber hinausgeht. Freilich sind in ihr selbst oft beide usus legis (beim Wiedergeborenen im engeren und weiteren Sinn) nur schwer auseinanderzuhalten, was wohl auch sachlich begründet ist: Alter und neuer Mensch sind zwar zu unterscheiden, liegen aber doch zeitlebens im Christen in Personalunion vor. 859 Vgl. dazu Haikola, Usus, 13–62. 860 Die Unvereinbarkeit des tertius usus mit der Theologie Luthers wurde v. a. von skandinavischen Theologen vertreten. Vgl. Bring, Gesetz; Pinomaa, Charakter, 155–179; Haikola, Usus, bes. 141 f., 152. In ihrem Gefolge Elert, Fälschung; ders., Gnade, 132, 169; ders., Ethos, 388 ff., 397; Ebeling, Lehre. 861 Elert, Gnade, 164, sieht in der Konkordienformel den Begriff des Wiedergeborenen »in doppeltem Sinn« gebraucht: einmal für den durch den Geist neugeborenen Menschen und zum anderen für den »Menschen in seiner irdischen Tatsächlichkeit«, der als Begnadigter immer noch Sünder bleibt. »Der Wiedergeborene im engeren Sinne steht mit dem alten Adam in unlösbarer Personalunion [= Wiedergeborener im weiteren Sinn].« Ferner Elert, Ethos, 392 f.; O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 420 f. Meyer, Normen, 228, sieht den Begriff

Gesetz 407 Lehre vom tertius usus: Gibt es einen »Brauch«, eine Funktion des Gesetzes beim Christen als Christen, d. h. sofern er nicht Sünder ist?862 Dass der Christ als Sünder, als unter dem simul Stehender, dem elenchtischen Gebrauch des Gesetzes, im Extremfall sogar dessen zivilen Gebrauch unterworfen ist, haben die vorangegangenen Untersuchungen gezeigt. Kennt Luther aber eine diese beiden usus transzendierende Aufgabe des Gesetzes, welche den ursprünglichen Charakter des Gesetzes, Forderung bzw. Weisung zu sein, artikuliert? Der Charakter des Gesetzes als Urteil, welches die Übertretung des Gesetzes offenbar macht und richtet, ist dem Gesetz ja erst durch den Sündenfall zugewachsen, also nicht ursprünglich mit ihm verbunden, wenngleich auch diese Gesetzesfunktion in der Form der Forderung ausgeübt wird.863 Überblickt man die Luther-Deutungen der letzten Jahrzehnte im Blick auf diese Fragestellung, so zeichnen sich v. a. zwei Problemlösungen ab. Einig ist man sich weithin darin, dass Luther einen tertius usus legis im strengen Sinn nicht kennt. Dagegen spricht schon, dass er systematisch nur eine Lehre vom duplex usus legis entfaltet hat. Zudem lässt sich ein tertius usus legis schwer mit Luthers Position vereinbaren, wonach der Christ als Gerechter vom Gesetz frei ist und es spontan, ohne dass man es ihm gebieten müsste, erfüllt. Jede Rede vom Gesetz nach der glaubenden Annahme des Evangeliums würde das Evangelium als letztes Wort in Frage stellen und das Heil doch wieder an Bedingungen knüpfen. Dem widerspricht nicht, dass Luther selbstverständlich annimmt, dass der Christ als Sünder immer wieder in die Situation vor dem Evangelium zu stehen kommt, der erneuten Bekehrung und der Erneuerung des Glaubens sowie der je neuen Rechtfertigung bedarf. Aber hier greift das Gesetz im usus theologicus ein und treibt je aktuell zu Christus und zum Evangelium hin. Die eine Lösungsmöglichkeit besteht nun darin, dass all jene Luther-Stellen, die bei Luther gleichwohl in die Richtung eines tertius usus legis tendieren, im Sinne des usus theologicus oder gar des usus civilis ausgelegt, d. h. darauf reduziert werden. D. h. sie richten eine Forderung, eine Weisung an den Christen, tun dies letztlich aber doch im Kontext der Überführung der noch bleibenden Sünde. Dass hier oft eine gewisse Künstlichkeit oder Gewaltsamkeit bei der Interpretation obwaltet, ist nicht zu übersehen. Möglich ist diese Deutung deshalb, weil ja auch der usus spiritualis, obwohl er eigentlich ein Urteil anzielt, dies in der Form der Forderung bzw. des Gebotes tut. Der zweite Lösungsweg liegt darin, dass man jene den usus civilis und usus theologicus gleichsam »überschießenden« Stellen nun zwar nicht als

des Wiedergeborenen zwischen »Gläubigem« bzw. »Rechtgläubigem«, der aus inwendigem und äußerem Menschen besteht, und inwendigem Menschen oszillieren. 862 Vgl. Elert, Gnade, 163: »Nur die andere Aufgabe [gegenüber der die Sünde aufdeckenden], die rein informatorische […] rechtfertigt es demnach, noch von einem dritten Brauch des Gesetzes zu sprechen«; ders., Ethos, 388. 863 Hiermit ist eng die Frage verbunden, ob Luther ein Gesetz bzw. ein Gebot im Urstand, also supralapsarisch kennt.

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Gesetz im infralapsarischen Sinn versteht – dieses gebietet immer sub conditione salutis und klagt die Sünde an, hat also die Heilsfrage noch vor sich –, sondern als Gebot bzw. Mahnung, die ihrerseits ein Implikat, eine Entfaltung des Evangeliums darstellt, die Heilsfrage also hinter sich hat, so dass der Christ als Christ tatsächlich nur ein Wort, eben das Evangelium hört. Wilfried Joest hat dies den »usus practicus evangelii« genannt und mit der neutestamentlichen Paränese in Verbindung gebracht.864 Von vornherein ist einzuräumen, dass die Entscheidung zwischen den Alternativen im Grunde schwer möglich ist und einen gewissen Ermessensspielraum belässt, eben weil Luther selbst sie nicht systematisch behandelt hat und viele Luther-Stellen im Blick auf sie schlicht mehrdeutig sind. Zudem ist es oft nicht leicht, jeweils zu entscheiden, ob sie vom Christen als altem oder als neuem Menschen handeln. Um in dieser Frage dennoch eine begründete Position einnehmen zu können, analysieren wir im Rahmen unserer Studie jene auf den usus theologicus schwer zu verrechnenden Stellen hauptsächlich in zwei, allerdings sehr zentralen Luther-Texten, von denen der eine aus Luthers Frühzeit, der andere aus seiner Spätzeit stammt: Wir wenden uns zunächst dem Galaterkommentar von 1519 zu, in dem unsere Problemstellung zudem in enger Nachbarschaft zur simul-Thematik und zum usus theologicus behandelt wird (6.4.2), und analysieren – nach einem kurzen Blick auf den Großen Galaterkommentar und De servo arbitrio (6.4.3) – schließlich die Antinomerdisputationen, in denen ja die Geltung des Gesetzes im Raum der Kirche das zentrale Thema darstellt (6.4.4). Ein Schlussabschnitt soll die erzielten Ergebnisse sichten und bündeln (6.4.5).

6.4.2 Kleiner Galaterkommentar (1519) In Luthers Galaterkommentar von 1519 liegt die Lehre vom duplex usus legis terminologisch noch nicht vor, ist aber sachlich in nuce in ihm gegeben.865 Dabei hat der spätere usus theologicus das Schwergewicht inne, während der usus civilis nur angedeutet wird. Darüber hinaus finden sich einige »überschießende« Stellen zum Thema Gesetz, die sich den beiden genannten usus nur schwer zuordnen las-

Zur Position Joests, der wir uns im Wesentlichen anschließen werden, s. o. Einleitung, Kap. 5.4. In ähnliche Richtung geht der Lösungsvorschlag von Althaus, Gebot passim; ders., Theologie, 218–238, bes. 232 ff., welcher zwischen dem mit dem Angebot des Schöpfers geeinten Gebot des Urstands und dem anklagenden und verurteilenden Gesetz nach dem Fall differenziert. Dieses Gesetz findet am Evangelium sein Ende bzw. es wird erneut mit dem Evangelium geeintes Gebot. Ähnlich Peters, Gesetz, 38–41, 50–55. Als Anwalt des progressus-Gedankens gegenüber dem Aktualismus des transitus-Aspekts, welcher das christliche Leben in ein statisch verstandenes totus iustus/totus peccator bannt und an die »schlechte Unendlichkeit« des je und je zu vollziehenden transitus bindet, interpretiert Wenz, Theologie II, 63671, 644 f.78, die Rede vom tertius usus legis, wobei ihm terminologische Fragen sekundär erscheinen. 865 Vgl. bes. 2,522,1–529,19 (zu Gal 3,19–25). Alle Zitate im Text beziehen sich auf WA 2. 864

Gesetz 409 sen. Zu Gal 1,11–12 entfaltet Luther den Unterschied von Gesetz und Evangelium: Während das Evangelium sich in der geschenkten Erfüllung der Gesetzesforderung und der Gabe der Sündenvergebung konzentriert, kommt dem Gesetz mit seiner Forderung die Funktion der cognitio peccati zu. Dies führt zu der Frage, warum dann im Evangelium von Christus, aber auch von den Aposteln vieles noch geboten wird (praecipere), da dies doch das officium legis ist? Luther gibt darauf eine doppelte Antwort, deren erste auf die Notwendigkeit der durch das Gesetz bewirkten Sündenerkenntnis auch bei den schon Glaubenden Bezug nimmt, was unausgesprochen diese auch noch Sünder sein lässt: »Doctrinae eiusmodi, quae ultra fidem traduntur […], sunt vel interpretationes legis, quibus peccatum clarius cognosceretur, ut gratia tanto ardentius quaeretur quanto peccatum certius sentiretur.« (466,19–24) Die Glaubenden sollen also durch die Gesetzesinterpretation Christi und der Apostel – zu denken wäre etwa an die Bergpredigt und die Paraklese in den neutestamentlichen Briefen – immer neu ihrer Angewiesenheit auf die Gnade bewusst werden und sie »um so brennender« suchen. Sie bedürfen sozusagen je neu der Rechtfertigung sola gratia. Luther deutet die Fortdauer des Gesetzes im Neuen Bund also im Sinne des späteren usus elenchticus, und er bezeichnet das, was diese Funktion ausübt, als lex. Die Fortsetzung des Satzes bringt die zweite Antwort: »vel sunt remedia et observationes, quibus gratia iam accepta et fides donata custodiretur, aleretur et perficeretur, sicut fit, dum aegrotus incipit curari.« (466,24 ff.) Diese Aussage lässt sich wohl kaum auf die erste Antwort im Sinne der zur Gnade je neu hintreibenden cognitio peccati reduzieren (das »vel« wäre dann explikativ, nicht additiv zu verstehen). Denkt Luther hierbei an die von ihm später ausdrücklich verneinte, weil das sola fide begrenzende und ergänzende Vorstellung, dass der Mensch zur Bewahrung, Kräftigung und Vervollkommnung der anfänglich empfangenen Rechtfertigungsgnade und des geschenkten Glaubens etwas beitragen könne – eben durch das Leben nach den neutestamentlichen Geboten, die dazu eine Art Wegweiser wären? Oder hat Luther die Gebote Christi und der Apostel so verstanden, dass sie eine Hilfe und Orientierung im Kampf des Glaubenden gegen die Sünde darstellen (vgl. das Stichwort »remedia« sowie das Bild des Rekonvaleszenten) und insofern der Gnade und dem Glauben mehr Raum im Menschen schaffen? Wie dem auch sei, in jedem Fall scheint hier in einem frühen Luthertext, der vor der voll entfalteten usus-Lehre liegt, eine über den usus elenchticus legis hinausgehende Aufgabe der neutestamentlichen Weisungen vorzuliegen. Luther bezeichnet sie in dieser zweiten Funktion nicht mehr als lex, sie beziehen sich aber insofern noch auf die Sünde, als sie dem glaubenden Menschen gleichsam in die Hand gegeben sind, um die Sünde zurückzudrängen.866 Zu Gal 2,17 entfaltet Luther erstmals im Kommentar das simul – und zwar in einer Weise, die das hermeneutisch schwierige Ineinander seiner verschiedenen Rechtfertigungskonzeptionen aufzeigt. Wie kann der Apostel hier behaupten, Zur Interpretation dieser Stelle vgl. Joest, Gesetz, 72 f.

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dass die an Christus Glaubenden und durch ihn Gerechtfertigten ohne Sünde sind, da doch kein Mensch, ja nach Röm 7,14 ff. und 8,2 auch der Apostel selbst, nicht ohne Sünde ist? Luthers vielschichtige Antwort argumentiert zunächst mit dem im Glaubenden begonnenen Prozess der effektiven Gerechtwerdung, welcher eschatologisch ganz vollendet sein wird und die Verheißung einer den ganzen Menschen bestimmenden realen Gerechtigkeit in sich birgt: »Omnis qui credit in Christum iustus est, nondum plene in re, sed in spe. Caeptus est enim iustificari et sanari, sicut homo ille semivivus.« (495,1 f.) Dem entspricht gegenwärtig – das aus Lk 10,30–35 genommene Bild des Rekonvaleszenten bestätigt dies – das partim-partim von Sünde und Gerechtigkeit. In der Folge rekurriert Luther auf die imputative Gerechtigkeit in der Weise, dass dem auf dem Weg der Rechtfertigung und Heilung Befindlichen der gegenwärtig »in carne« noch verbleibende Sündenrest um Christi willen nicht angerechnet wird. Der sündenlose Christus ist ja eins geworden mit dem Christen und tritt für ihn beim Vater ein: »Interim autem, dum iustificatur et sanatur, non imputatur ei, quod reliquum est in carne peccatum, propter Christum, qui, cum sine omni peccato sit, iam unum cum Christiano suo factus, interpellat pro eo ad patrem.« (495,2–5) So lässt sich für Luther das Zugleich von Sündengefangenschaft durch das Gesetz der Glieder (Röm 7,23) und Freiheit von der Verdammnis (Röm 8,2) denken. In der Folge gewinnt nun die non-imputatio der Sünde propter Christum immer stärkeres Gewicht: »Quare omnes eiusmodi iustorum commendationes [sc. dass die Glaubenden keine Sünder seien] eodem modo intelligendae sunt, quod non omnino in se ipsis perfecti sint, sed in deo reputante et cognoscente propter fidem filii sui Iesu Christi, qui est propiciatorum nostrum.« (495,10–13) Luther wendet sich explizit gegen eine Deutung der bleibenden Sünde in den Getauften als bloße Schwachheit, Zunder oder Krankheit der Natur sowie gegen eine völlige Leugnung der Sünde in ihnen – nur »in deo reputante et ignoscente« ist die Sünde keine Sünde mehr! Der anfänglichen sanativen Gerechtigkeit der Glaubenden korrespondiert also ein totales Gerechtsein bei Gott kraft der imputatio bzw. non-imputatio, welches – das ist bei Luther unausgesprochen vorausgesetzt: es handelt sich um schon Glaubende! – dem Prozess der Gerechtwerdung vorausgeht und ihn immer wieder aus sich entlässt, so dass also die non-imputatio der Sünde eine vollständige Annahme des sündigen Menschen darstellt und nicht nur eine die partielle Gerechtigkeit ergänzende Nichtanrechnung jener Restsünde. Die letztere Vorstellung stellt sich – wie wir schon mehrfach sahen – für Luther nur dann ein, wenn der bereits ganz im Glauben an Christus von Gott Angenommene nun gleichsam auf die Früchte dieser Annahme, auf sein Gerechtwerden und seinen Kampf gegen die Sünde blickt, das reliquum peccati entdeckt und daraufhin seine Zuflucht zur non-imputatio der Sünde propter Christum nimmt.867 Was Luther hier nicht sagt, ist, dass jene Luther kann in diesem Blickwinkel als Grund der non-imputatio auch den Kampf des Christen gegen die Sünde neben das propter Christum stellen. Dazu die gleich zitierte Stelle 497,15–24. 867

Gesetz 411 partielle Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit coram deo darstellt, ja sie vor dem strengen Gericht Gottes nochmals ganz als Sünde zu werten ist. Luther benennt also neben dem partiellen Nebeneinander von Gerechtigkeit und Sünde das totus iustus, nicht aber das totus peccator. Auf diese Ausführungen bezieht Luther sich, wenn er in der Exegese von Gal 2,18 sich erneut der Frage zuwendet, wieso bei den an Christus Glaubenden zwar einerseits das Gesetz erfüllt ist, andererseits aber ihnen der Dekalog und die neutestamentlichen Gebote als zu erfüllende vorgelegt werden. Die Vereinbarkeit beider Hinsichten (497,8 f. spricht von »contradictio«) liegt wieder im simul beschlossen: »Respondetur, ut supra dictum est: Quomodo in Christo iustificati non sunt peccatores et tamen sunt peccatores. Utrunque de iusto scriptura statuit.« (496,38–497,1) Luther bekräftigt diese Aussage durch die einschlägigen Belege aus 1.Joh (1,8 f.; 5,28; 3,9) sowie aus dem Buch Hiob (1,8; 9,20; 7,21), die jeweils von den Christen bzw. Hiob die Freiheit von der Sünde als auch das Betroffensein von der Sünde aussagen. Von Hiob gilt: »Simul ergo iustus, simul peccator.« (497,13) Beide Hinsichten kommen nur in Christus überein, so wie die zwei Cherubine allein auf dem Deckel der Bundeslade, dem propiciatorium, einander die Angesichter zuwenden, während sie sonst voneinander abgewandt sind: »Quia ergo per fidem incepta est iustitia et impletio legis, ideo propter Christum, in quo credunt, non imputatur, quod reliquum est peccati et implendae legis. Fides enim ipsa, ubi nata fuerit, hoc sibi negotii habet, ut reliquum peccati e carne expugnet variis afflictionibus, laboribus, mortificationis carnis, ut sic lex dei non modo in spiritu et corde placeat et impleatur, sed et in carne […]. Proinde si fidem spectes, lex impleta est, peccata destructa, nullaque lex superest: sed si carnem, in qua non est bonum, iam peccatores cogeris fateri eos, qui iusti sunt in spiritu per fidem.« (497,15–24) Durch den Glauben und seinen Kampf gegen die Sünde gibt es also eine anfanghafte Gerechtigkeit und Gesetzeserfüllung. Deswegen wird propter Christum (beide Momente, die anfanghafte Gerechtigkeit und das propter Christum werden hier in der Begründung verbunden!) der verbleibende Sündenrest sowie die noch ausstehende Forderung des Gesetzes nicht angerechnet. Dabei »lokalisiert« Luther die incepta iustitia im Glauben bzw. im Geist und Herzen, also im Menschen, sofern er glaubt und deshalb das Gute will, während die Sünde in der caro, der glaubenslosen, dem Guten widerstrebenden Existenzseite, noch ihren Sitz hat, aber eben vom Glauben, vom Geist bekämpft wird, der die Erfüllung des Gesetzes auch auf das Fleisch ausdehnen möchte. Insofern der Christ noch caro ist, untersteht er also noch dem Gesetz,868 als fides und spiritus ist er dagegen vom Gesetz frei. Dabei denkt Luther einerseits an die anklagende Funktion des Gesetzes, der die caro noch unterworfen ist, aber doch auch daran, dass das Gesetz dem Christen als Glaubendem Werkzeug und Zielbestimmung

Das will Luther doch mit der Betonung des Sünderseins nach dem Fleisch implizit mitsagen. 868

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

ist, welche er auf die caro auszudehnen bestrebt ist.869 Letzteres wird wenige Zeilen später auch explizit ausgesprochen: »Igitur necessaria sunt praecepta, non ut per opera eorum iustificemur, sed ut iam iusti sciamus, qua ratione spiritus noster carnem crucifigat et in rebus huius vitae dirigat, ne caro insolescat et ruptis frenis sessorem spiritum fidei excutiat. Non equiti sed equo frenum debetur.« (498,10–13) Die Gebote – Luther spricht erneut nicht vom Gesetz – sind der geistlichen Existenz des Christen mithin Hilfe und Anleitung, gleichsam »Bundesgenosse und Helfer« bei der mortificatio carnis, bei der Ausweitung dessen, was für den Menschen qua spiritus schon gilt, auf die caro.870 Das Gebot bezieht sich zwar auf die Sünde – wäre der Christ nicht auch noch Sünder, dessen Sünde zu bekämpfen ist, wäre das Gebot überflüssig –, es ist aber gleichzeitig Werkzeug in der Hand des Christen qua Glaubendem und gibt ihm Orientierung im Zurückdrängen der Sünde. Es steht dem Evangelium nicht gegenüber, sondern kommt von ihm her. Insofern kommt das »Gesetz« in einer doppelten Weise in den Blick: einmal als anklagendes, der Sünde überführendes Gesetz, welchem der Mensch Man könnte insofern von einer »Inkarnations- oder Assimilationsbewegung« des Geistes, des Glaubens oder inneren Menschen sprechen. Vgl. Joest, Gesetz, 106 ff. Statt caro gebraucht Luther auch gleichsinnig das Wort corpus. An der betreffenden Stelle stellt er explizit die christologische Analogie her: »Totum ergo quod aestuat Apostolus est, ne quis per opera legis introducere iustitiam in cor praesumat, quasi non iam fidei iustitia ibi regnet, e qua in carnem fluant opera et plenitudo legis. Et accipe tibi simile: Sicut Christus sine omni peccato, caput iustorum, nihil debet legi prorsus nec docendus est, quid facere debeat, qui omnia iam facit et abundantius quam lex doceat, tamen corpus suum et carnem suam, ecclesiam, regit et exercet, ut suam iusticiam ei influat, ut, quo modo ipse patri per omnia obediens est, ita corpus quoque suum reddat obediens, quod nondum est tam obediens et sine peccato: ita spiritus iusti, iam per fidem sine peccato, nihil debens legi, corpus tamen habet adhuc sibi dissimile et rebelle, in quod operatur et exercet, ut ipsum quoque sine peccato, iustum et sanctum sibi simile reddat. Ideo praecepta sunt necessaria tantum peccatoribus. At iusti quoque sunt peccatores propter carnem suam. Quod tamen non imputatur eis propter fidem interioris hominis, qui deo conformis persequitur, odit, crucifigit peccatum in carne sua, donec in futuro consummatus in carne et spiritu nulli legi debeat. Ex parte ergo impleta est lex, ex parte nihil debemus legi; ex parte destructa sunt peccata.« (497,25–498,2) Luther spricht hier freilich wieder von lex. Vgl. 498,32–38: »Igitur Paulus per legem fidei vivit intus deo, ibidemque est mortuus legi. Verum in carne nondum vivit deo sed vivificatur deo, nondum est mortuus legi sed mortificatur legi, dum eandem fidei puritatem cordis satagit et in carnem foris propagare, quo studio meretur, ut totus deo vivere et legi mortuus reputetur, eodem prorsus tropo, quo superius peccator et non peccator, impletor et non impletor dictus est. In futuro enim est, ut plene deo vivamus et legi mortui simus.« – In den zitierten Texten findet sich einerseits, was die Aneignung des Heils betrifft, jene schon im anthropologischen Exkurs der Magnificat-Auslegung (s. o. Kap. 5.5.2.1) beobachtete Richtung von innen nach außen, andererseits aber auch die Simultaneität von esse sub lege (caro) und non esse sub lege (spiritus). Im Unterschied zur anklagenden Funktion des Gesetzes stellt Letzteres bei dessen weisender Funktion kein sachlich-logisches Problem dar. 870 Vgl. Joest, Gesetz, 105 f. (Zitat 106); K. Bornkamm, Auslegungen, 249 f. 869

Gesetz 413 in dem Maße entnommen wird, als der Glaube das Gesetz auch im Fleisch erfüllt, zum andern aber als gerade dabei behilfliches Gebot, welches in allen Schichten des Menschen erfüllt sein will. Luther betont immer wieder, dass das Verhältnis des Menschen als Christ und Glaubendem zum Gesetz verändert sei.871 War vorher die Beziehung zum Gesetz durch Unwille, Zwang, ja Haß geprägt und wurde das Gesetz nur äußerlich, nicht mit dem Herzen erfüllt, d. h. aus Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung, so liebt er – von der impletio legis durch Christus herkommend – nun das Gesetz, es ist ihm aus einem Feind zum Freund geworden, und er tut es mit frohem Herzen und Willen.872 Nach Gal 2,19 ist das Gesetz des Geistes und des Glaubens von dem des Buchstabens und der Werke zu unterscheiden: Während Letzteres nur im Haß gegen das Gesetz erfüllt, d. h. aber eigentlich übertreten wird, weil die innere Selbstsucht etwas anderes will, erfüllt der Geist des Glaubens das Gesetz mit Liebe zum Gesetz (498,22–31). Im Unterschied zum Gesetz des Buchstabens, von dem der Glaubende nach 1.Tim 1,9 frei ist, ist das Gesetz des Geistes zudem kein fixes, geschriebenes oder kodifiziertes Gesetz, sondern der unmittelbare Wille des Herzens selbst, der aus der in Liebe wahrgenommenen Situation sich ergibt, in welcher aber doch der Heilige Geist bzw. der Finger Gottes uns lehrt: »Lex spiritus est, quae nullis prorsus scribitur literis, nullis profertur verbis, nullis cogitatur cogitationibus: sed est ipsa viva voluntas vitaque experimentalis, res quoque ipsa quae scribitur digito solo dei in cordibus. […] Haec, inquam, intellectualis lux mentis et flamma cordis est lex fidei, lex nova, lex Christi, lex spiritus, lex gratiae, iustificans, omnia implens et carnis concupiscentias crucifigens.« (499,20–28; vgl. 499,34–500,9)873 In der Auslegung von Gal 3,24–25 spricht Luther ebenfalls das durch den Glauben gewandelte Verhältnis zum Gesetz an: Vorher war das Gesetz für uns nur Vgl. dazu K. Bornkamm, Auslegungen, 244–252, 294, die ausführt, dass die lex impleta (durch Christus) die Paränese ermöglicht. Freilich ist zu sehen, dass sie selbst, ebd., 295–314, die Paränese (mit Ebeling und gegen Joest) dann doch wieder dem usus theologicus als dessen »gemilderte« Form zuordnet, während sie Luthers Aussagen über die Spontaneität des Handelns aus dem Glauben als »usus evangelii« deutet. Somit gibt es sowohl bei Gesetz und Evangelium einen doppelten usus: beim Gesetz Anklage und Paränese, beim Evangelium die Rechtfertigung und die in Handeln ausbrechende Freiheit vom Gesetz. Dass der Christ zeitlebens unter beiden usus steht, also auch gleichzeitig unter der Paränese wie unter dem gesetzesfreien Handeln aus dem Glauben, sieht K. Bornkamm im simul iustus et peccator grundgelegt (vgl. 309 ff.). Uns scheint hier der usus theologicus »überfrachtet« zu sein, er impliziert nun das Moment der Anklage, das der mortificatio carnis und der Anleitung zur Liebe (vgl. 296, 305). Des Weiteren lassen sich nicht alle »paränetischen« Aussagen bei Luther auf den homo peccator reduzieren. 872 Vgl. 500,24 f.: »Nullum opus bonum fiat, nisi hilari, volente, gaudenteque corde fiat, id est in spiritu libertatis«; 528,34 f. (zit. in Anm. 874). 873 In diese Richtung zielt wohl auch Luthers spätere Feststellung 39 I,47,25–29: »Habito enim Christo facile condemus leges, et omnia recte iudicabimus. Imo novos Decalogos faciemus […]. Et hi Decalogi clariores sunt, quam Mosi decalogus.« 871

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ein  »Zuchtmeister«, der uns äußerlich von bösen Werken abhielt und zur Gesetzeserfüllung durch Ankündigung von Strafe bzw. Lohn antrieb, wir erfüllten das Gesetz aber nicht mit dem Herzen und hassten den »Pädagogen«. Mit dem Glauben an Christus wird dies aber anders: Die Freiheit vom Gesetz, die uns das Gesetz lieben lässt und vereint mit ihm gegen die »cupiditates« in Stellung bringt, schafft gleichzeitig ein neues Verhältnis zu dem zu Christus hintreibenden »Pädagogen«: Er wird uns zum »Freund« (amicus), den wir mehr ehren als fürchten.874 Für sich allein genommen, besagen all diese Stellen, wonach das Gesetz für den Glaubenden aus einem Feind zum Freund geworden ist, er es liebt und unmittelbar erfüllt, das Gesetz nun ihm und nicht mehr er dem Gesetz gehört (492,33), freilich nur, dass der Glaubende von selbst, in freier Spontaneität das Gute tut. Dennoch kann man sie in Verbindung mit jenen Passagen, die von der Hilfe des Gesetzes bei der mortificatio carnis sprechen, so deuten, dass das Gesetz dem Glaubenden nicht mehr richtendes und zum Guten zwingendes Gesetz ist, sondern zur freudig begrüßten Weisung geworden ist. Die quasi naturhafte, instinktive Spontaneität der Gesetzeserfüllung aus dem Glauben schlösse dann, wenn unsere Interpretation zutrifft, nicht jedes Lehren des Heiligen Geistes sowie das Hören und bewusst-willentliche Eingehen des Menschen darauf aus. Es gäbe auch innerhalb der Einheit noch ein Gegenüber von Mensch und göttlichem Willen! Die Motivation für solches Handeln nach der Weisung entspringt dabei freilich aus der inneren Willigkeit des Glaubenden selbst, nicht aber daraus, durch die Gesetzesbefolgung etwas gewinnen oder vermeiden zu wollen.875 Auf die Frage, wieso auch die Christen, die doch keine Schuldner des Gesetzes mehr sind und gegen die das Gesetz nicht steht (Gal 5,23),876 noch unter den neutestamentlichen Geboten stehen, wie z. B. dass sie die Werke des Fleisches nicht Vgl. 528,30–38: »Ita nos fide acquisita […] intelligentes, quam sancta salubrisque sit lex, quam faeda vero cupiditas, iam legem diligimus, laudamus et mire probamus, rursum cupiditates nostras eo magis damnamus et vituperamus, quo magis lex ipsa placet, et nunc hilariter et libenter facimus, quod ignorantibus tunc nobis salubris lex vi et terrore extorquebat foris, et tamen intus extorquere nequivit. Hoc est, quod dicit, iam non esse nos sub paedagogo, postquam fides venit, sed paedagogus amicus factus est et a nobis honoratur magis quam timetur.« (528,30–38) Ähnlich 492,32–35; 537,17 ff.; 560,26–29, bes. 27 f.: »quo [spiritu charitatis] efficiuntur iusti et legis amatores«; 574,21–575,8, bes. 574,36: »ex hostibus legis efficimur amici legis«; 10 I/1,458,20–459,24; 466,16–23; 521,11–16; 17 II, 69,19–71,9. Zu diesem Aspekt in Luthers alttestamentlichen Predigten vgl. Wöhle, Freude, bes. 76 ff., 119 ff., 129, 173–188, 200, 214–219. Zentral ist für Wöhle 16,285,3–11 (zu 2 Mose 15,25), bes. 9 ff.: »Quando haec dilectio [zu Gott, durch das Evangelium gewirkt], facit [homo], quod deus iubet. Tum lex non facit malam conscientiam, sed gaudium, quia iam alius homo factus.« 875 Vgl. Joest, Gesetz, 21 f. 876 Vgl. 596,6–24 bes. 15 f.18 f.: »Sicut iij et vij (paradigma est Augustini) non debent esse decem, sed sunt decem, nec ad hoc, ut decem fiant, quaerenda est ulla lex aut regula. […] Ita iustus non debet bene vivere, sed bene vivit, nec indiget lege quae doceat eum bene vivere.« 874

Gesetz 415 vollbringen und im Geiste wandeln sollen (Gal 5,16), sowie auf den Verdacht, dass damit wieder ein Sollen, ja ein Gesetz über ihnen aufgerichtet würde, antwortet Luther erneut mit dem Verweis auf das simul: Die, die vollkommen in den Früchten des Geistes leben, stehen nicht unter dem Gesetz, sondern erfüllen es ohne Einschränkung. Doch ist das noch nicht unser gegenwärtiger Status: »Verum dum in carne nemo est, qui hanc metam perfecte attingit, in hoc saltem servantur qui Christi sunt, quod carnem suam crucifigunt et pugnant cum desyderiis eius, et sic spiritu implent legem dei, licet carne […] serviant legi peccati. Quare fructuum spiritus descriptio, contra quos lex non est, potius praefixa meta est, ad quam nitendum est spiritualibus, quam quod aliquos illuc pervenisse sentiat [apostolus]: tantum ergo illis non adversatur lex quantum spiritu vivunt, tantum adversatur quantum carnis moventur desyderiis.« (596,34–597,3)877 Luther erklärt hier die freie Willigkeit und Freudigkeit, den Willen Gottes aus dem Glauben heraus zu tun, zu einer Zielmarkierung, die in diesem Leben keiner vollkommen erreicht, sondern welche allein eschatologisch erreicht sein wird. Und dies hängt wieder mit der Doppelstruktur der Christen als Geist und Fleisch zusammen: Im Geist bekämpfen sie schon das Fleisch mit seinen Lüsten, erfüllen also insofern das Gesetz und sind von ihm frei. Mit dem Fleisch dienen sie aber noch dem Gesetz der Sünde, haben deshalb das Gesetz Gottes noch gegen sich und stehen folglich unter den neutestamentlichen Geboten.878 Insofern ist der Christ zugleich unter dem Gesetz und frei vom Gesetz. Man wird Luther an dieser Stelle nicht so verstehen dürfen, dass die Freude und Willigkeit, das Gute zu wollen, überhaupt zu einem nur ausstehenden und anzustrebenden Ziel erklärt wird. Dies gilt vielmehr nur für den Christen als ganzen Menschen, d. h. als von Fleisch und Geist als zwei Streberichtungen gleichzeitig Bestimmten. In dieser Perspektive kann man eine gehemmte, mit dem Widerstand kämpfende Richtung auf das Gute feststellen. Betrachtet man aber jene beiden Willensrichtungen oder Willensdimensionen je für sich, so will der Christ als Geist aus dem Glauben heraus frei das Gute und ist insofern vom Gesetz frei und am Ziel. Als Fleisch dagegen widerstrebt derselbe Mensch diesem Wollen und ist seiner selbstsüchtigen Tendenz verhaftet.879 Vgl. zur Interpretation der Stelle Joest, Gesetz, 56 f., der sie allerdings nur als Problemanzeige heranzieht und nicht Luthers spezifische Lösung (spiritus – caro) behandelt. Ferner K. Bornkamm, Auslegungen, 309 ff. 878 Luther deutet damit schon 1519 an, dass die Christen qua caro das Gesetz gegen sich haben, d. h. insofern noch unter dem Gesetz sind. Insofern muss die gleichwohl behauptete Freiheit vom Gesetz auf den Christen qua spiritus bezogen werden. 879 Vgl. auch 492,36–493,2 wo eine vierfache Klassifizierung der Werke vorgenommen wird: Den opera peccati, in welchen die concupiscentia ohne Widerstand der Gnade herrscht, folgen die »opera legis, quae foris coercita concupiscentia fiunt, tamen intus eo [ea?] magis fervente et legem odiente, id est, quae sunt bona in specie, mala in corde«. Von den opera gratiae gilt: »quae repugnante concupiscentia, victore tamen spiritu gratiae fiunt«. Hier ist also die Willensrichtung des Menschen in eine doppelte simultan gespalten, wobei der spiritus gratiae als freie Willigkeit zum Guten dominiert und gute 877

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Luther hat an dieser Stelle gewiss das Gesetz in seiner anklagenden Funktion im Blick, welcher der Christ qua caro noch untersteht. Dann müsste er freilich auch die neutestamentlichen Gebote in diesem Sinne verstehen. Im Unterschied zum erhobenen Einwand unterbleibt jedoch in der zitierten Passage (und damit in Luthers Antwort auf die gestellte Frage) eine direkte Identifikation von Gesetz und Paraklese. Zudem könnte er stillschweigend die oben genannte zweite Funktion des »Gesetzes«, nämlich Instrument des Glaubens im Streit mit der Sünde zu sein, mit intendieren.880

6.4.3 Großer Galaterkommentar (1531 [1535]) und De servo arbitrio (1525) Über den Galaterkommentar von 1519 hinausgehend hat Luther in späteren Äußerungen diese zweite Funktion des »Gesetzes« vom Negativen ins Positive gewendet, d. h. das Gesetz ist für den Glaubenden nicht nur Verbündeter im Kampf gegen die bleibende Sünde, welcher es sozusagen immer mehr Terrain zu entreißen gilt, sondern es dient darüber hinaus der Entfaltung und Inkarnation des Glaubens in die leiblich-weltlichen Bereiche hinein als solcher, abgesehen von ihrer Bestimmtheit durch die Sünde. Es geht nicht nur darum, »dass die dem Glauben widerstreitende Wirklichkeit in uns abgebaut, sondern auch darum, dass die ihm entsprechende Wirklichkeit aufgebaut werde«881. Besonders deutlich wird dies an der z. B. im Großen Galaterkommentar häufig gebrauchten Formel »lex in carnem« bzw. »caro in lege«, die über die zivile und elenchtische Funktion des Gesetzes hinaus noch zwei weitere Bedeutungsnuancen abdeckt. So wird etwa zu Gal 5,13 ausgeführt: »Ne ergo […] Christiani abutuntur hac libertate imponit Apo-

Werke vollbringt, es bleibt aber noch jenes gegenstrebende Wollen der Konkupiszenz, das unterliegt, weil es nicht zur Tat durchdringen kann. Die Vollendung bilden die »opera pacis et perfectae sanitatis, quae extincta concupiscentia, plenissima facilitate et suavitate fiunt, quod in futura vita erit, hic incipitur«. Hier ist dann die Willensrichtung – wie bei den opera peccati, wenngleich unter entgegengesetztem Vorzeichen – eine ungeteilte, d. h. reine Willigkeit zum Guten. Erstaunlich ist Luthers Bemerkung: »quod in futura vita erit, hic incipitur.« Will er tatsächlich sagen, dass es hienieden schon hin und wieder beim Christen solche Werke ohne jedwede Konkupiszenz gibt (was für Luther singulär wäre), oder denkt er nur daran, dass die Konkupiszenz in ihnen sehr gering ist? 880 Dass Luther – wie schon angedeutet – die weisende Aufgabe des »Gesetzes« ebenso wie dessen die Sünde verurteilende, ja vermehrende Funktion zuweilen auch »Gesetz« nennt, ist natürlich hermeneutisch misslich und führt zu sachlichen Spannungen. Vgl. nur 597,10–17: »[iusti et sancti] non operantur opera carnis, faciunt bonum et declinant a malo. Quare? Quia sunt Christi, pertinent ad Christum, non ad Mosen, non ad legem. Si autem sunt Christi, sine dubio carnem crucifixam habent, non per legem, quae carnem magis irritabat, sed per Christum. […] Ideo ii, qui sunt Christi, sub lege non sunt et simul carnem crucifigunt cum vitiis et desyderiis.« 881 Joest, Gesetz, 107.

Gesetz 417 stolus carni eorum servitutem per legem de mutua dilectione. Quare meminerint pii, se in conscientia coram Deo esse liberos a legis maledicto, a peccato et morte propter Christum, corpore autem esse servos.« (40 II,62,13–16) Luther gebraucht hier zwar für die Mahnung zum wechselseitigen Dienst in der Liebe den Terminus lex: Das »Gesetz« der Liebe wird den Christen im Blick auf ihr Fleisch und ihren Leib auferlegt.882 Unübersehbar ist dies aber in zweifachem Sinn zu verstehen: a) im Blick auf die sündige Wirklichkeit (caro) in ihnen, die es zu bekämpfen gilt, b) aber auch im Blick auf ihr irdisches Leben und die mitmenschlichen Relationen, in denen sie stehen (caro im Sinne von corpus). Das Letztere wird wenig später noch deutlicher akzentuiert: »Quare unusquisque Christianus sciat, se per Christum constitutum esse in conscientia dominum legis, peccati et mortis etc., ita quod illa non habeant ius in eum etc. Contra sciat quoque hanc servitutem externam corpori suo impositam esse, ut per charitatem serviat proximo.« (40 II,64,15–19) Hier scheint es weniger um die Inkarnation des Glaubens in negativer Hinsicht (mortificatio carnis) zu gehen als vielmehr um seine Inkarnation in positiver Perspektive: Der Glaube soll sich auswirken in der Liebe und so die ihn umgebende Wirklichkeit sich »angleichen« und anverwandeln. Und dabei leisten das Gebot der Liebe, die Rechtfertigung aus dem Glauben und die Freiheit von Gesetz, Sünde und Tod – als gleichsam im Rücken stehend – eine Hilfe. Solche Weisung, von deren zumindest anfänglicher Erfüllbarkeit ausgegangen wird, richtet sich somit nicht nur auf die Person des Glaubenden selbst, sondern zielt darüber hinaus auf den Aufbau einer dem Glauben »analogen« Wirklichkeit. Insofern ist in ihr von jedem Bezug auf die Sünde abgesehen.883 Hierfür kann auch auf jene zugestandenermaßen singuläre Stelle aus De servo arbitrio verwiesen werden, in welcher die Verheißungen und Ermahnungen des Neuen Testaments den Gesetzen und Drohungen des Alten Testaments gegenübergestellt werden. Der Sinn der exhortationes, die nicht leges genannt werden, besteht in der »Ermunterung« der Glaubenden zu guten Werken als den Früchten des Glaubens: »Novum testamentum proprie constat promissionibus et exhortationibus, sicut Vetus proprie constat legibus et minis. […] Deinde [nach dem Evangelium] exhortationes sequuntur, quae iam iustificatos et misericordiam consecutos excitent, ut strenui sint in fructibus donatae iustitiae et spiritus charitatemque exerceant in bonis operibus fortiterque ferant crucem et omnes

40 II,59,20–23 werden Gal 5,13 ff. als »exhortationes et praecepta« charakterisiert, »quibus exhortatur [Paulus] credentes ad officia pietatis inter se mutuo exercenda«. 883 Ähnlich auch 40 I,168,15–20; 345,14–17: »Quare qui sese exercere vult ad iustitiam, Primum exerceat se audiendo Evangelio, hoc audito et concepto laetus agat gratias Deo et tum se exerceat bonis operibus quae sunt in lege praecepta, Ita, ut Lex et opera sequantur auditum fidei«; 570,17–21; 595,27–34. Vgl. zum Ganzen Joest, Gesetz, 102–108; Keilus, Gesetz, 10286, 123. Zum Zusammenhang der »evangelischen Paränese« mit dem Gericht nach den Werken vgl. Modalsli, Gericht, 152–155, 172 f., zur evangelischen Paränese überhaupt ebd., 168–178. 882

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alias tribulationes mundi.« (18,692,19–693,4) Diese Passage ist umso beachtlicher, als ihr ganzer Kontext darauf abzielt, den eigentlichen Skopus der biblischen Forderungen nicht in ihrer Erfüllbarkeit, sondern in der durch sie bewirkten Offenbarung unseres Unvermögens und des servum arbitrium zu erblicken.884 Die in der Kraft der Rechtfertigung erfüllbaren exhortationes sind also etwas anderes als die sündenaufdeckende lex!

6.4.4 Antinomerdisputationen (1537–1540) Wir richten jetzt unser Augenmerk auf jene Äußerungen Luthers in den Antinomerdisputationen, welche sich nur schwer dem usus elenchticus legis subsumieren lassen und insofern die Grenzen der Lehre vom duplex usus legis sprengen.885 Dabei ist davon auszugehen, dass Luther gegenüber dem Antinomismus vor allem auf dem elenchtischen Gebrauch des Gesetzes insistiert. Eine darüber hinausgehende, nicht dem peccator, sondern dem iustus im Christen geltende Funktion des Gesetzes ist also – wenn überhaupt – nur angedeutet. Weiter ist festzustellen, dass die explizite usus-Lehre in den Antinomerdisputationen – anders als im Großen Galaterkommentar – selten Erwähnung findet.886 Unsere Überlegungen gehen in drei Schritten vor: Zuerst besprechen wir jene Passagen, die auf eine weisende, ermahnende Funktion des Gesetzes hindeuten (6.4.4.1), dann wenden wir uns nochmals den schon erwähnten mitigatio-Stellen zu (6.4.4.2). Schließlich gilt die Aufmerksamkeit jenen Ausführungen Luthers (und ihrem indirekten Argumentationswert für unsere Frage), die vom dem Menschen ins Herz geschriebenen Gesetz bzw. vom Gebot im Urstand und dessen eschatologischer Restituierung sprechen (6.4.4.3).887

Allerdings wurde schon 18,691,20–39 eine eschatologische, von Gott geschenkte Erfüllung des Gesetzes anvisiert, welche dann dieses selbst innerlich wandelt. Vgl. Joest, Gesetz, 73 f. 885 Es scheint uns eine Inkonsequenz der Arbeit von Schulken, Lex (vgl. bes. 42–45, 210–249), zu sein, einerseits mit Ebeling in den Antinomerdisputationen jedwede Gesetzesfunktion auf den duplex usus und d. h. faktisch ganz auf den usus elenchticus legis zu reduzieren, andererseits aber bei der Analyse von Luther-Predigten aus den dreißiger Jahren neben dem usus elenchticus ein paränetisch verstandendes Gebot anzunehmen. Hier hätte es nahegelegen, Korrespondenzen zwischen Predigt und Disputation aufzuweisen, ohne dies freilich unter dem Vorzeichen eines tertius usus legis zu tun. Zumal Schulken selbst klar zwischen der Gebots- und Urteilsfunktion des Gesetzes unterscheidet und Letztere als durch die Sünde bedingt qualifiziert. 886 Vgl. z. B. 441,2 f.: »Scitis, duplicem esse usus legis, primum coercendi delicta et deinde ostendendi delicta«; 483,14 ff. 887 Bei den Antinomerdisputationen ist natürlich die unsichere Textüberlieferung zu beachten, die es gerade in dieser zentralen Frage der Luther-Deutung nicht erlaubt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Dennoch ist aber insgesamt eine belastbare Aussagetendenz in den Texten zu erkennen. 884

Gesetz 419

6.4.4.1 Gesetz als Weisung und Mahnung In ähnlicher Weise wie im Galaterkommentar von 1519 kann Luther von der Freude des Gerechtfertigten am Gesetz sprechen, also von einem anderen Verhältnis zum Gesetz, als wir es zu seiner anklagenden und verurteilenden Funktion einnehmen. Im sechsten Argumentum der zweiten Antinomerdisputation wird der Einwand vorgetragen, dass etwa in Ps 19,8 oder Ps 119,165 von der heilschaffenden, Freude auslösenden Funktion des Gesetzes die Rede ist. Wie lässt sich dies aber damit vereinbaren, dass Luther zufolge das Gesetz auch die Christen noch den Schmerz über die Sünde erfahren lässt? Luther antwortet, dass Ps 19 von Christus, seinem Reich und Evangelium, also auch von den Glaubenden spreche. Durch ihn, den »Erfüller des Gesetzes«, verliert es für sie seine anklagende und schreckende Zornesmacht, und der Heilige Geist wirkt in ihnen nach Ps 1 in der Tat Freude und Lust am Gesetz, so dass sie es zu erfüllen vermögen. Das gilt jedoch nur für die Christen als Geist, nicht aber sofern sie noch Fleisch sind. Vollständig, d. h. mit ihrer ganzen Existenz folgen sie dem Gesetz erst im Eschaton. Dennoch gilt schon jetzt: »Reddere legem iucundam, immaculatam est officium Christi impletoris legis. […] Quantum igitur spiritus est in nobis, tantum etiam delectationis in lege. Quantum autem carnis, tantum etiam manet lex, sic tamen, quod in desperationem adigere non possit, ut peccatum manet et mors, nec tamen nocere nec condemnare possunt.« (39 I,373,6–12)888 Es gibt also für Luther – wie wir schon mehrfach feststellen konnten – im Christen, sofern er glaubt, ein freudiges Wollen, und das Gesetz selbst wird ihm »iucunda«, »immaculata«889, d. h. von seiner anklagenden, schreckenden Funktion befreit. Diesem Wollen widerstreitet freilich das Wollen der sündigen Existenz (= caro), die noch unter der (wenngleich gemilderten) Anklage des Gesetzes steht, und insofern greift der vorgebrachte Einwand nicht. Denn die Freude am Gesetz und mithin das Freisein vom Gesetz in seiner anklagenden Funktion widersprechen nicht dem den Christen auch noch treffenden usus theologicus legis, weil der Christ ein Zugleich von spiritus und caro darstellt. Man könnte das hier aufscheinende Verhältnis des Christen qua spiritus zum Gesetz natürlich einfach im Sinne der aus dem Glauben spontan resultierenden Erfüllung des Gesetzes interpretieren, die Freiheit vom Gesetz bedeutet. Es könnte darin aber auch impliziert sein, dass das Gesetz eine innere Wandlung durchmacht und für den Glaubenden als neuen Menschen seine ursprünglich weisende, ihm von der Schöpfung her eignende Funktion zurückerhält, und er dieser gerne folgt und folgen kann. Im siebten Argumentum derselben Disputation stellt Luther heraus, dass der ethische Teil des alttestamentlichen Gesetzes, also insbesondere der Dekalog, zwar die volle Härte seines verurteilenden Amtes durch Christus verloren hat, Alle Zitate im Folgenden nach WA 39 I. Vgl. die Variante 373,21–24: »lex suam potentiam et vires amittit, non amplius accusat et terrefaciat, fit iucunda et amabilis. […] Christus reddit legem delectabilem et implendam.« 888 889

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aber uns dennoch weiterhin ermahnen will, eine Aufgabe, die erst eschatologisch aufhört.890 Man könnte sagen: Die Anklage des Dekalogs hört für den an Christus Glaubenden auf, seine adhortative Funktion bleibt aber bis ins Eschaton. So heißt es: »Sub Christo igitur lex in fieri esse, non in facto esse. Hinc opus habent credentes, ut lege admoneantur, illic [im Eschaton] non erit debitum aut ulla exactio, sed opus legis perfectum et summa dilectio.« (374,11–14) Diese exactio legis ist den Menschen außerhalb von Christus tristis, odiosa, impossibile. Für die Glaubenden gilt dagegen: »Econtra iis, qui sub Christo sunt, incipit [exactio] fieri iucunda, possibilis in primitiis, tamen non decimis.« (374,15 f.) Luther fügt zwar sogleich hinzu, dass das Gesetz wie bei den Hartherzigen und Unempfindsamen auch den Christen bzw. Gläubigen gelehrt werden müsse – und zwar wegen des Fleisches, des alten Menschen und der Sündenreste in ihnen, sie also insofern vom Gesetz auch noch erschreckt werden. Luther denkt jetzt offenbar an den usus elenchticus legis. Aber zuvor sprach er schon von der angenehmen und erfüllbaren Forderung des Gesetzes. Möglich wäre es natürlich, diese als eine gemilderte Form des usus legis theologicus zu interpretieren, bei der dann neben der Anklage stark das Moment der erfüllbaren, freundlichen Forderung dominierte. Oder aber man erkennt hier das anfängliche Aufblitzen der ursprünglichen Funktion des Gesetzes, durch welche Gott uns sagt, was er von uns als seinen Geschöpfen getan haben will.891 Dass Luther diese informierende Aufgabe892 eng mit der elenchtischen Funktion des Gesetzes zusammensieht, rührte dann daher, dass der Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist. Jedenfalls lässt sich der Schluss der Antwort Luthers nur schwer dem usus theologicus legis zuordnen: »Sic Christi officium est etiam in hac vita restituere genus humanum in amissam illam innocentiam et obedientiam legis iucundam, quae erat in paradiso in positivo […]. Hoc modo fit nobis lex, obedientia aliquo modo iucunda, quam illic in superlativo praestabimus.« (375,4–9) Das dreizehnte Argumentum der ersten Antinomerdisputation führt aus, dass Christus die Glaubenden durch seine Gesetzeserfüllung vom Fluch des Gesetzes befreit hat und dessen Joch, das im Schrecken und Verdammen besteht, darum von ihnen zu nehmen ist. Stattdessen sei ihnen das Joch Christi aufzuerlegen, der für sie das Gesetz erfüllt hat. Dennoch gilt aber: »Et tamen piis praestandum est, ut spiritu facta carnis mortificent, utqui vetus fermentum expurgent. Ideo lex manet, sed onus seu iugum eius non premit cervices eorum, quibus Christi onus impositum est, quod suave et leve est.« (381,7–10) Dieses leichte Joch Christi

Er ist also nicht wie das Zeremonialgesetz mit dem Kommen Christi einfach abgeschafft. 891 Die Variante 375,25 formuliert, dass das Gesetz auch bei den Frommen in diesem Leben nötig sei, »ut carnem eorum mortificet«. Dies kann entweder durch die Anklage geschehen oder dadurch, dass das Gesetz eine Hilfe bei der Tötung des alten Menschen ist. 892 Es handelt sich mithin nicht um eine motivierende Funktion des Gesetzes beim Christen qua neuem Menschen, denn das gute Wollen des Geistes ist ja bereits vorhanden! 890

Gesetz 421 (bzw. des Gesetzes) scheint doch auch an dieser Stelle in etwas anderem als dem theologischen Brauch des Gesetzes zu bestehen und eine eher weisende, informierende Aufgabe des Gesetzes anzuzielen – hier allerdings im Blick auf die mortificatio carnis.893 Eine wichtige Bestätigung unserer These, dass für Luther das Gesetz eine Funktion auch bei dem Christen als neuem Menschen ausübt, erhalten wir durch seinen Rückgriff auf die augustinische Unterscheidung zwischen Christus als sacramentum oder donum und Christus als exemplum.894 Dieser geschieht auf dem Hintergrund des antinomistischen Einwands, dass doch die Gnade Gottes, also Christus uns hinreichend Sünde, Gottlosigkeit und Unglaube offenbare, es darum der gesonderten Gesetzespredigt nicht mehr bedürfe. Reicht also – so interpretiert Luther die gegnerische Position – nicht Christus als donum (sacramentum) in seiner heilsmittlerischen Funktion und Christus als exemplum in seiner erzieherischen, vorbildhaften Funktion aus? Luther begegnet dem Einwand damit, dass er zwar einerseits zugesteht, dass sowohl in Christus als sacramentum als auch als exemplum eine Predigt des Gesetzes impliziert ist. Denn tritt mir Christus als Erlöser und Heiland entgegen, dann schließt dies ein, dass ich Sünde habe und der Erlösung bedürftig bin. Nur so werden Sinn und Ziel des Werkes Christi ja begreifbar. Und in Christus als exemplum wird mir der wahre Weg vor Gott und den Menschen aufgezeigt, d. h. das Gesetz gepredigt: »Hoc ipsum, quod dicimus, Christum esse nobis propositum ut exemplum, ut redemptorem, est docere legem. Est vera praedicatio legis. Nam si venit tibi redemptor et salvator, Vgl. 432,14 f.: »Imo ipsi sancti opus habent lege quasi monitore quodam, cum perpetuum bellum sit in eis spiritus et carnis.« Freilich ist dieser Satz nicht eindeutig: er kann auch einfach mit dem monere die (»gemilderte«) elenchtische Aufgabe des Gesetzes bezeichnen. Ähnlich 500,11–14; 510,15 ff.; 356,19–24: »Quare lex promiscue docenda est (sicut et Evangelium) tam piis quam impiis. Impiis, ut territi agnoscant suum peccatum, mortem et inevitabilem iram Dei, per quam humilientur. Piis, ut admoneantur, carnem suam crucifigere cum concupiscentiis et vitiis, ne securi fiant.« Ferner 513,5–9: »et piis est etiam [neben den impii] docenda lex monendi et cohortandi causa, ut in pugna et concertatione permaneant, ne patiantur se vinci oblatratu et insultationibus carnis suae. […] Sic christianis quidem docetur lex, sed cum aliqua praerogativa«; 202,20–23; 218,31–219,32: »Lex abrogatur, ut amplius non sit accusatrix. In futura vita ita abrogabitur, ut non amplius sit doctrix, quia perfecti erimus«; 219,7–11: »Lex est abrogata, non ut nihil sit, aut nihil secundum eam facere oporteat […], sed ne sit lex condemnatrix aut iustificatrix«; 220,5–11: »Verum quod attinet ad obedientiam erga Deum et magistratum, non est sublata, sed manet lex. […] Docent nos Apostoli, ut iustificati fide et pacem habentes erga Deum, per dominum nostrum Iesum Christum, in novitate vitae ambulemus, digne conversemur evangelio Iesu Christi, magistratui obediamus, non quae nostra sunt, sed quae aliorum quaeramus.« Die belehrende Funktion des Gesetzes umfasst hier offenbar sowohl den usus civilis als auch die spezielle Ermahnung für die Glaubenden, für die novitas vitae, die gerade aus Liebe sich den staatlichen Ordnungen unterstellt. 894 Zur Rezeption dieses augustinischen Begriffspaares bei Luther überhaupt vgl. Iserloh, Sacramentum. 893

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

necesse est, te habere peccatum et ipsa redemptio includit peccatum. […] Item facit et alterum exemplum. Nam Christum proponere ut exemplum, nihil aliud est, quam ostendere, quomodo sit vivendum in obedientia erga Deum et parentes et superiores sectatoremque esse omnium bonorum ac virtutum […] In utraque parte ostenditur nobis exemplum impletae et implendae legis.« (464,12–24) Andererseits weist Luther jedoch die daraus gezogene antinomistische Konsequenz, dass nämlich darüber hinaus das Gesetz als solches nicht mehr zu predigen sei, ab. Denn warum soll, was auf zweifache Weise verstärkt geschehen kann, nur auf einfache Weise vollzogen werden?895 Der in Luthers Argumentation für unsere Fragestellung entscheidende Aspekt ist nun folgender: Zwar ist sowohl in Christus als sacramentum als auch in Christus als exemplum die Predigt des Gesetzes derart impliziert, dass dadurch die explizite Gesetzespredigt nicht überflüssig wird. Indessen ist die Funktion des Gesetzes – wie der Text zeigt – dabei beide Male eine andere: Christus als sacramentum, als Erlöser und Heiland, weist auf die die Sünde manifest machende und verurteilende Aufgabe des Gesetzes, also den usus elenchticus hin, während Christus als exemplum die im Blick auf die guten Werke orientierende und informierende Funktion des Gesetzes anzeigt, die gerade dem Christen als Christen gilt.896 So ist Wilfried Joest zuzustimmen: »Während Luther sonst das exemplum als den Spiegel versteht, der uns zeigt, wie wir sein sollten, und uns damit erneut zum Empfang des donum treibt, wird hier das Vorbild Christi zur unmittelbar wegweisenden Kraft. Es zeigt uns nicht nur unsere eigene Ferne von solchem Vorbild, sondern es ruft uns zur unmittelbaren Nachfolge mit der Tat. Auf die Lehre vom Gesetz angewandt scheint sich der Schluß zu ergeben: Das Gesetz hat nicht nur ein indirektes, der Predigt des Evangeliums vorangehendes, sondern auch ein direktes, der Predigt des Evangeliums nachfolgendes Heilsamt.«897 Folglich kann 464,2–5 im Blick auf Christus als exemplum: »Imo eo magis est docenda [lex], quia cum idem doceat, quod exemplum Christi, moveor duorum testimonio, ut propensius ac liberius obediam.« – Luther scheint dabei insofern zwischen der im Evangelium indirekt geschehenden und der direkt ausgeübten Gesetzespredigt zu unterscheiden, als allein Letztere mir die Sünde in concreto, Erstere mir das Faktum und die Größe der Sünde offenbart. Vgl. 464,17 f.; 39 II,143,14 ff. Luther zielt also sowohl auf die Grund- und Personsünde als auch auf ihre Manifestation in konkreten Tatsünden. Dazu Schulken, Lex, 165–184. 896 Das gilt freilich nur schwerpunktmäßig. Denn der Satz »Item facit et alterum [,] exemplum« ist doch wohl, wenn die Formulierung exakt ist, so zu verstehen, dass Christus nicht nur zur positiven Weisung wird, sondern uns auch unsere Sünde offenbart. Dies könnte auch die Aussage nahelegen: »In utraque parte ostenditur nobis exemplum impletae et implendae legis.« Dass aber Christus als exemplum uns anders begegnen kann als die lex accusans, zeigt schon 10 I/1,10,20–14,15, bes. 13,3–17. Zu sacramentum und exemplum in den Antinomerdisputationen vgl. noch 482,24–483,6; 356,35–357,24. Christus als exemplum steht an der letzten Stelle neben dem usus theologicus legis. 897 Joest, Gesetz, 76. Die Formulierung »der Predigt des Evangelium nachfolgendes Heils­ amt« (Hv.) für das Gesetz ist allerdings missverständlich. Vgl. ebd., 75 f. Anders Meyer, Normen, 24694. 895

Gesetz 423 in der dritten Antinomerdisputation formuliert werden, dass das Gesetz neben dem arguere vitia auch die Aufgabe hat, »instituere vitam, quomodo iam novi homines sancti novam vitam ingredi debeant« (542,16 f.). Oder ähnlich in einem Disputationsvotum 1544: »Ideo autem [lex] retinenda est piis, ut habeant formam exercendi bona opera.« (39 II,274,21 f.) Hier ist offenbar jeder Bezug auf die bleibende Sünde aufgegeben. Es geht um den Christen als neuen Menschen und um die Inkarnation des Glaubens mittels der Liebe in die irdischen Gegebenheiten und Verhältnisse hinein.898

6.4.4.2 »Gemildertes Gesetz« Mit diesem Ergebnis im Rücken treten wir nochmals an die schon erwähnte mitigatio-Stelle heran, die wir weiter oben – dem Interpretationsvorschlag Gerhard Ebelings folgend –899 als eine Differenzierung innerhalb des usus legis theologicus interpretiert hatten: Gegenüber dem strengen Verurteilen und Verdammen, welches das Gesetz gegenüber den impii ausübt, nimmt es bei den pii die Form einer milden Mahnung an, bei welcher eben das elenchtische Moment durch die Rechtfertigung »gemildert« ist: »Lex est iam valde mitigata per iustificationem, quam habemus propter Christum, nec deberet ita terrere iustificatos.« (474,8 ff.) Das Gesetz würde aber auch bei ihnen durch diese Mahnung – neben dem Hinweis auf die zu bekämpfende Sünde – zur Erkenntnis der Schuld und deshalb zum transitus auf das Evangelium hintreiben, allerdings ohne damit zu schrecken! Falls solches Schrecken dennoch geschieht, ist dies für Luther auf das Wirken des Satans zurückzuführen. Wegen des auszufegenden reliquum peccatum in carne ist den pii zwar das Gesetz zu lehren, aber nicht mehr in der robusten Art wie vor der Rechtfertigung: »Sed non sic docenda est lex piis, ut arguat et damnet, sed ut hortetur ad bonum. […] Itaque lex illis mollienda est et quasi exhortationis loco docenda.« (474,21–475,2) Luther fügt zur Verdeutlichung einige neutestamentliche Paränesen an. Deutet man diese Passage im Sinne einer Abmilderung des usus elenchticus (was nicht unmöglich ist), so ist doch auffällig, dass das Moment der erfüllbaren Mahnung gegenüber dem Verurteilen sehr in den Vordergrund rückt. Deshalb muss mit Wilfried Joest900 zumindest erwogen werden, hier auch das parakletische Amt des Gesetzes angedeutet zu sehen. Erhärtet wird diese Zu Luthers Konzeption der fides incarnata in rechtfertigungstheologischem Kontext vgl. 40 I,414,24–418,11; 427,11–14: »Non quod non [fides] sola in suo gradu et officio maneat, quia perpetuo sola iustificat, sed incarnatur et fit homo, hoc est, non est et manet otiosa vel sine charitate.« 899 Vgl. oben Abschnitt 6.3.2. 900 Vgl. Joest, Gesetz, 75. – Schloemann, ebd., 111, 128, verschließt sich vehement solch weitergehenden Überlegungen: »Das Besondere des Gesetzes in der Predigt ist also nichts weiter, daß es immer in Begleitung des Evangeliums auftritt und so aus einem latro zum paedagogus wird. Das ist die einzige mitigatio legis, die Luther kennt. Sie betrifft nicht die lex selbst, die ja auch gegenüber dem Frommen qua caro ihre Forderung und Drohung nicht mildert, sondern betrifft den glaubenden Menschen, der daneben die hinzutretende 898

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Vermutung zudem durch einen Blick auf die überlieferten Varianten der Stelle.901 Die erste lautet wesentlich kürzer: »Lex valde mitigatur per iustificationem, non potest terrere, quod impletur per remissionem peccatorum et spiritum sanctum. Ideo eius ira est sublata, sed quod restant reliquiae peccati carnis, debet animam, quatenus non credit, terrere.« (474,8–14) Hier ist der transitus-Aspekt bzw. der usus elenchticus stärker betont: Das Gesetz ist für den Glaubenden nicht so sehr milde Weisung, sondern, sofern er aus dem Glauben fällt, eben doch noch schreckende Forderung. Eine vermittelnde Position nimmt die zweite Variante ein: »Lex quidem valde demitigata est per iustificationem et remissionem peccatorum, tum etiam, quod implere incipiunt. Verum quia sancti habent adhuc carnem, habent reliquias peccati, sed tamen non succumbunt, non vicuntur lege ita, ut desperent. Erigunt sese et vincunt opponentes legi Christum impletorem. Deinde fit illis iucundum quoddam exercitium et amabilis adhortatio.« (474,29–475,19) Das Gesetz wird jetzt einmal elenchtisch verstanden, als in »gemilderter« Form die Sünde anklagend, aber nicht zur Verzweiflung führend, weil die Glaubenden sozusagen schon auf dem Boden der Rechtfertigung stehen und der Forderung des Gesetzes je und je den impletor Christus entgegenhalten können. Das ist der transitus-Aspekt der je neuen Ganzrechtfertigung, welche das Gesetz vom zu erfüllenden zum erfüllten wandelt. Daran schließt sich aber an (deinde), dass das Gesetz dem Gerechtfertigten zum freundlich weisenden Gebot wird (progressus-Aspekt). Freilich ist mit Joest einzuräumen, dass in dieser Fassung zwar eine gute Zusammenschau der beiden Momente angedeutet wird, der Text in seiner Authentizität – die Varianten zeigen es – gleichwohl unsicher ist.

6.4.4.3 Das ins Herz geschriebene Gesetz Als letzte Textgruppe gehen wir auf jene, in den Antinomerdisputationen durchaus stark vertretenen Äußerungen Luthers ein, in denen er von dem Gesetz spricht, das dem Menschen ins Herz geschrieben, also von der Schöpfung her gegeben ist und welches durch Christus eschatologisch restituiert wird. Durch diese Stellen wird sozusagen indirekt bewiesen, dass Luther mit einer Funktion des Gesetzes beim Christen rechnet, die dessen usus elenchticus transzendiert. Denn wenn das Gesetz schon im Urstand vorhanden war, dann ist das Gesetz im spezifischen Sinn als anklagende Offenbarung der Sünde und des göttlichen Zornes eine post- bzw. infralapsarische Angelegenheit, welche speziell auf den Menschen als Sünder bezogen ist. Supralapsarisch, also vor dem Fall, muss das Gesetz dann durchaus eine andere, nämlich weisende, orientierende Funktion ausgeübt haben. Es machte den Menschen mit dem Willen Gottes bekannt und war als solches eng mit dem göttlichen Zuspruch, dem Evangelium, verbunden, ja

Stimme des Evangeliums hört und durch dieses vom verdammenden Gesetz fort zum Erfüller und Erlöser Christus gerufen wird.« (111; Hv.) 901 Dazu Joest, Gesetz, 209 f.224

Gesetz 425 eins mit ihm.902 Zwischen dem Gebot des Schöpfers und dem Urteil des Richters ist also funktional zu unterscheiden, so dass der Gedanke einer eschatologischen Freilegung des ursprünglichen Gegebenheitsmodus’ des Gesetzes von Luther her durchaus denkbar wird.903 Luther geht in der Tat von einem Gebot Gottes des Schöpfers im Urstand aus, von dem nach Röm 2,14 f. ins Herz geschriebenen Gesetz Gottes, das in nichts anderem als im Doppelgebot der Liebe, der Gottes- und Nächstenliebe, besteht. Es deckt sich insofern mit dem Dekalog bzw. dessen überzeitlicher Substanz sowie mit den neutestamentlichen Weisungen, wie sie exemplarisch in der Bergpredigt (z. B. der Goldenen Regel Mt 7,12) gegeben werden.904 Materialiter gibt es also nur ein Gesetz Gottes durch alle Zeiten hindurch.905 Dieses Gesetz war für Adam erfüllbar (possibilis) und angenehm (iucunda), er leistete ihm vollen Gehorsam,906 freilich nicht aus eigenen Kräften, sondern unter dem Beistand der Gnade Gottes.907 Adams Gerechtigkeit war also auch im Urstand schon eine empfangene, eine im Glauben entgegengenommene. Diese lex naturae ist nach Luther durch die Sünde zwar nicht ausgelöscht, aber doch durch das böse Begehren des Menschen so verfinstert und entstellt worden, dass Gott dem auserwählten Volk Vgl. 42,110,18 ff. (zu Gen 3,1): »Hoc verbum erat Adae Evangelium et lex, erat eius cultus, erat servitus et obedientia, quam poterat Deo in ista innocentia praestare.« Siehe auch 42,80,1–10; 81,15–83,31 (zu Gen 2,16 f.): Es ist zwischen der »lex ante peccatum et post peccatum lata« zu unterscheiden. Erstere kann auch »admonitio« oder »mandatum« genannt werden. 903 Vgl. Althaus, Theologie, 218 ff.; Pesch, Theologie, 36–40; Hof, Lehre, 77–82. 904 Vgl. 352,5 f.; 374,2–5; 402,14–403; 403,18 ff.: »Quamquam enim Abrahae non sit data lex Dei descripta in tabulis, tamen habuit eandem legem insculptam cordibus omnium gentium«; 413,14 ff., 454,4–16: »Neque tamen Moses autor fuit decalogi. Sed a condito mundo decalogus fuit inscriptus omnium hominum mentibus. […] Sed postea, quia homines eo tandem pervenerant, ut neque Deum neque homines curarent, coactus est Deus per Mosen leges illas renovare atque descriptas suo digito in tabulis ante oculos nostros ponere, ut admoneremur, quid ante lapsum Adae fuerimus et quid olim in Christo futuri sumus. Ita Moses fuit tantum interpres et illustrator legum scriptarum in mentibus omnium hominum, ubicunque terrarum sub sole sint«; 478,15–18; 539,7–541,5. – Vom Stehen des Menschen unter Gottes Geboten (z. B. dem Gebot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen nicht zu essen) schon vor dem Fall geht auch 18,671,37–672,6 aus. 905 Vgl. 2,580,7–23. Luther vertritt hier die materiale Identität von lex naturae, lex scripta und lex evangelica, welche alle auf die Liebe zielen. 906 Vgl. 39 I,364,10–13: »Cum Adam primus conditus esset, non solum ei lex possibilis, sed etiam iucunda erat. Hanc obedientiam, quam requirebat lex, summa voluntate et laetitia animi praestabat, et quidem perfecte.« Erst durch den Fall wird das Gesetz impossibilis. Siehe die Variante 364,25–29: »Cum Adam esset conditus, lex non tunc erat impossibilis, sed erat valde iucunda. Deus non obligat nos ad impossibile, sed dedit possibilitatem, quam nostra culpa amissimus. Sed eo redeundum est, ut lex fiat possibilis et iucunda, quod per Christum salvatorem nostrum (fit).« 907 Abgesehen von der Gnade ist das Gesetz für den Menschen natürlich schon schöpfungsmäßig unerfüllbar. Vgl. Haikola, Usus, 89 ff. 902

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das Gesetz am Sinai in kodifizierter Form offenbart hat – nun freilich in erster Linie nicht dazu, es durch solche »Erinnerung« zu erfüllen, sondern um zur Erkenntnis der Sünde geführt zu werden.908 Es hat jetzt also genau jener durch die Sünde bedingte funktionale Umschlag im Gesetz stattgefunden, welcher auch noch im kirchlichen Lebenskontext – der Unbußfertigen und Verstockten sowie der reliquiae peccati in den Christen wegen – die Predigt des Gesetzes notwendig macht. Dabei wird in solcher Predigt der Mensch gerade bei dem ihm im Herzen liegenden Gesetz behaftet und seiner Schuld überführt, wie auch nur die Gebote, welche der lex naturalis entnommen sind, jene anklagende Funktion des Gesetzes beim Menschen ausüben können.909 Das alles berechtigt dazu, mit Wilfried Joest innerhalb des Gesetzes zu unterscheiden: Es ist einmal als Ausdruck und Manifestation des göttlichen Willens in den Blick zu nehmen, eine Funktion, die es im Urstand ausübte und die eben – als Gestalt des Evangeliums – bei den Gerechtfertigten anfänglich wieder zum Vorschein kommt. Das Gesetz muss zweitens aber auch als die konkrete Verhältnisordnung zwischen Gott und Mensch begriffen werden, wie sie infralapsarisch, je bis zum Evangelium hin, gilt und sich neben dem usus civilis besonders im usus theologicus artikuliert: Das Gesetz fordert seine Erfüllung sub necessitate salutis und droht seinem Übertreter den göttlichen Zorn und ewigen Tod an.910 Vgl. 361,19–22: »Habent quidem omnes homines naturaliter quandam cognitionem legis, sed eam valde infirmam et obscuratam. Ideo necesse fuit semper et est tradere hominibus illam legis notitiam, ut cognoscant magnitudinem peccati sui, irae Dei etc.«; 362,26 ff., 426,9–13; 515,19–516,5; 549,8–550,7; 17 II,102,4–26. Zur Thematik lex naturae und Gesetzesverkündigung bei Luther überhaupt vgl. Schulken, Lex, 250–291, 411–414; Schloemann, Gesetz, passim. Schloemann, ebd., 52 f., möchte allerdings die lex naturalis nicht als Urstandsgebot fassen, sondern nur als Gesetz, das dem Menschen nach dem Fall auferlegt ist. – Auf die protologische und eschatologische Erfüllung des Gesetzes verweist auch 39 I,204,3 ff.: »Quin [lex] et hoc officium habet, ut testificetur iustitiam fidei, simulque ostendat, qualis creatura ante peccatum fuimus, et post peccatum futuri sumus«; 454,13 f.; 515,16–516,10, bes. 515,16–19: Die impossibilitas legis kommt nicht von Gott, sondern durch den Sünder, gilt also nicht für Adam vor dem Fall: »Deus non praecepit impossibilia. Sed ipse homo per peccatum incidit in impossibilia. Ita ipse homo lapsus devenit in eum statum, in quo volens nolens non potest etiam multum conando praestare legem.« 909 Vgl. 540,1–541,5; 18,80,15–81,17. – Mit dem Rückgriff auf die lex naturae will Luther die These der Antinomer von einem simplex finis legis bzw. von dessen zeitlicher Befri­s­­tung durch die Rechtfertigung ad absurdum führen, in dem er auf die universale, faktisch immer schon vorhandene und deshalb unausweichliche Gegebenheit des Gesetzes hinweist. Vgl. 39 I,477,7 f.: »Nam lex iam adest, ist schon da. Lex prius adest in facto. Sed nunc quaeritur, quomodo liberemur a lege«; 353,37 f.: »Lex enim nulla nostra necessitate, sed de facto iam invitis nobis adest, ante et in principio, medio, fine et post iustificationem«; 50,471,22–31. Dazu Schloemann, Gesetz, 47–56. Außerdem ist die Übereinstimmung der alttestamentlichen Gebote mit dem natürlichen Gesetz für Luther das entscheidende Kriterium ihrer Verbindlichkeit über den Alten Bund hinaus. 910 Vgl. Joest, Gesetz, 20, 131 f., mit Berufung auf E. Seeberg, Theologie II, 217 (Hv.): 908

Gesetz 427 Man könnte auch zwischen dem einen Gehalt und der jeweiligen Gestalt des Gesetzes differenzieren. Die Gesetzesgestalt als Kundgabe des göttlichen Willens, zu der der Mensch ein inneres, freudiges Verhältnis einnimmt, wird erst durch Christus und den Heiligen Geist wiederhergestellt, für jetzt beim Christen als neuem Menschen, vollkommen im ewigen Leben.911

6.4.5 Resümee Wir versuchen abschließend, unsere Ergebnisse über eine den usus elenchticus legis transzendierende, den Christen als iustus und nicht als peccator betreffende Funktion des Gesetzes bei Luther zusammenzufassen und auszuwerten. Unstrittig ist, dass Luther eine explizite Lehre nur über den duplex usus legis entwickelt hat, also über den usus civilis und den usus theologicus. Nicht zu leugnen ist indessen auch, dass es bei ihm immer wieder Äußerungen gibt, die eine Funktion des Gesetzes im Blick haben, welche diese beiden usus übersteigt, ohne dass Luther sie zu einer Theorie vom tertius usus entwickelt hätte und ohne dass sie sich ungezwungen den anderen beiden usus, insbesondere dem usus elenchticus subsumieren ließen. Diesbezügliche Versuche wirken denn auch all»Das Gesetz als Lebensform ist in seiner Unmöglichkeit [vom Evangelium her] durchschaut, aufgehoben und aufgelöst. Das Gesetz als Lebensnorm bleibt, besonders in seiner Reduktion auf das einzige Gebot echter Liebe.« Siehe auch Althaus, Gebot, 21 f.; Modalsli, Gericht, 163 ff. – Schwer zu fassen ist die Position von Siirala, Gebot. Er unterscheidet einerseits Gottes ewiges Gesetz, die »lex naturae incorruptae« (vgl. bei Luther 1,502,24: »[lex] naturae sanae et incorruptae« = charitas), welche Verheißungen und Drohungen gleichermaßen umschloss, von dem statutarischen Gesetz, der »lex naturae corruptae«, die in der Heilsgeschichte auf die Ablehnung jenes ewigen Gesetzes durch die Menschheit folgte (ebd., 29–41, 189–193, 202 f.). Mit dem Auftreten des Evangeliums sieht Siirala offenbar ein erneutes Aufscheinen jener ursprünglichen »lex naturae incorruptae« verbunden (192 f.). Jedoch entfernt Siirala sich dadurch von Luther, als er (unter Berufung auf Luthers Auslegung des ersten Gebots) in eins damit die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium überhaupt nivelliert, insofern er beide unter den Begriff »Gebot« subsumiert. So wird nicht deutlich, dass nach Luther auch beim Christen noch Gesetz und Evangelium zu unterscheiden sind. Das Evangelium droht generell zum Gebot (Gesetz) und das Gebot (Gesetz) zum Evangelium zu werden. Vgl. 100 ff., 174 ff., 186 f., 292 f.104, 304 ff., 328 f. 911 Vgl. 363,3–13; 365,2–6: »Christus tamen per hoc, quod legi sua sponte se subiecit et omnes eius maledictiones pertulit, emeruit credentibus in se spiritum, quo impellente incipiunt etiam in hac vita legem implere, et in futura vita iucundissima et perfectissima obedientia legis erit in eis, ut corpore et animo eam faciant, ut nunc angeli«; 364,25–29; 373,6 f.; 374,8–16; 375,4–9. – Gegen unsere Deutung spricht nicht, dass Luther an der vorletzten Stelle mit einem Ende des Gesetzes im Eschaton rechnet (vgl. auch 454,21–25; 510,14–17). Dieses bezieht sich auf das Gesetz als debitum und exactio, als eintreibende und anklagende Forderung. Im Eschaton erfüllen wir das Gesetz dagegen »von selbst« und insofern ist es »aufgehoben«. Es bleibt aber als der ewige Gotteswille weiterhin in Geltung, mit dem wir dann völlig übereinstimmen. Folglich gibt es im Eschaton noch obedientia, die freilich ihren »Stoff« nicht mehr am alten Menschen hat. Vgl. Joest, Gesetz, 112.

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

zu rigoros und gewaltsam.912 Insofern ist den Lutherdeutungen von Paul Althaus und Wilfried Joest zuzustimmen, welche im Raum des Evangeliums, also nach empfangener Rechtfertigung, beim Christen eine Funktion des Gesetzes gegeben sehen, diese dann aber – wie von Luther angedeutet, obschon nicht konsequent durchgeführt – nicht mehr »Gesetz«, sondern Gebot, Weisung oder Zuspruch bzw. usus practicus evangelii oder usus evangelicus praecepti nennen.913 Der Terminus »Gesetz« soll demgegenüber der von der Sünde bestimmten anklagenden und verurteilenden Funktion des Gesetzes vorbehalten bleiben. Darüber hinaus soll auf diese Weise signalisiert werden, dass es sich bei dem usus practicus evangelii um ein Implikat des Evangeliums handelt, welches die Heilsfrage nicht mehr vor sich, sondern im Rücken hat. Ja, das Gebot ist Evangelium, der Glaubende hört nur ein Wort!914 Deshalb kann es auch bei dieser Relation des Christen qua neuer Mensch auf eine solche Weisung niemals um die Erwerbung der Rechtfertigung oder um ihre Bewahrung gehen. Die Aufgabe des Gebotes beim Christen, der selbstverständlich als peccator noch dem usus elenchticus legis untersteht und um der Liebe willen sich dem usus civilis legis unterstellt, ist nun bei Luther – wie wir gesehen haben – eine doppelte: Für den neuen Menschen nimmt das Gebot zunächst eine didaktisch-informierende Rolle wahr, insofern es ihm Wegweisung gibt für die mortificatio carnis, also die Bekämpfung und Tötung des alten Menschen in ihm. Hiermit ist

Vgl. die treffende Beschreibung der hermeneutischen Situation durch Josuttis, Predigt, 597: »Daneben [neben dem usus elenchticus] freilich gibt es bei Luther noch eine andere Linie, nur andeutungsweise ausgezogen und mit der ersten nicht ohne weiteres in systematisches Gleichgewicht zu bringen, aber deswegen doch auch nicht einfach wegzudiskutieren.« 913 Vgl. Joest, Gesetz, 132 f., 197 f.; Althaus, Gebot, passim; ders., Theologie, 235–238. – Dass die zehn Gebote keineswegs im usus elenchticus aufgehen, zeigt prägnant die 11. Strophe von Luthers Lied »Dies sind die heilgen zehn Gebot«: »Die gepot all uns geben synd,/das du dein sundt, o menschen kynd,/erkennen solt und lernen wol,/wie man fur Gott leben soll.« (AWA 4,152; EG 231,11) Unter diesem doppelten Aspekt sind auch Luthers Dekalogsauslegungen in seinen Katechismen konzipiert. Siehe auch 50,643,19–26. 914 Dies betont auch Schulken, Lex, 236 f.: »Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist grundsätzlich eine infralapsarische, der Glaube hört nur ein Wort.« Von daher stimmt Schulken der Formulierung Joests »usus practicus evangelii« zu, lehnt aber die Variante »usus evangelicus des Gebotes« ab. Freilich betont auch Joest, Gesetz, 133, 197, dass für den Gerechtfertigten als solchen Evangelium und Gesetz bzw. Gebot wieder eins sind bzw. je neu eins werden, es sich also um ein Wort handelt, dass er zu hören hat. – Bemerkenswert ist, dass Bring, Gesetz, 93–97, zwar das Vorliegen eines tertius usus bei Luther entschieden bestreitet, gegen Ende seiner Studie (93–97) jedoch (für ihn über Luther hinausgehend?) einräumt, dass das Evangelium sehr wohl »Gesetz« im Sinne der neutestamentlichen Paraklese impliziere, während die Diastase von Gesetz und Evangelium nur für den Sünder gelte. Er arbeitet dann also mit einem doppelten Gesetzesbegriff. Auch Elert, Ethos, 280, 295, 321, 348–351, spricht von »Heiligungs-«, »Erneuerungs-« bzw. »Gnadenimperativen« im Raum des Evangeliums. 912

Gesetz 429 zwar ein Bezug auf die bleibende Sünde gegeben, aber das Gebot ist helfendes Werkzeug für den neuen Menschen! Grundlegend für diese Anleitung zur mortificatio carnis ist dabei die Mahnung an den neuen Menschen, dem alten Menschen, den er fortwährend neben sich hat, nicht nachzugeben, sich ihm nicht wieder zu überlassen, sondern beim Evangelium zu bleiben. Eine informierend-didaktische Funktion des Gebotes resultiert aber nicht nur aus dem fortgesetzt notwendigen »Abbau« der beharrlich widerstrebenden sündigen Existenz, sondern zweitens auch aus der dem Glauben innewohnenden Tendenz, sich als Liebe in die konkreten Gegebenheiten und Verhältnisse des Lebens und der Welt zu verleiblichen, zu »inkarnieren«. Auch der Christ muss hierbei nach Gottes Willen fragen und auf ihn hören, er ist ihm nicht immer schon bekannt, sondern je konkret aus der Situation im Licht der biblischen Weisungen zu erheben. Es geht dabei nicht um ein starres, kodifiziertes »Gesetz«, eine »Vor-schrift«, sondern um das lebendige Lehren des Geistes. Dieses gründet letztlich darin, dass ein hörendes, gehorchendes Verhältnis des Menschen zu Gott schon durch die Schöpfung und das mit ihr gegebene Gegenüber von Gott und Mensch, von göttlichem und menschlichem Willen gesetzt ist. Ein solches wird nicht erst durch die Sünde konstituiert, wenngleich durch sie modifiziert, und auch nicht durch eine unio mystica zwischen Gott und dem Christen überspielt. Das Gebot ist darum »forma exercendi bona opera«.915 Ein besonderes Augenmerk ist auf die bei Luther häufig zu beobachtende enge Nachbarschaft von usus theologicus legis und evangelischem Gebot zu richten, die es so schwierig macht, beide voneinander abzuheben. Dieser Sachverhalt lässt sich hermeneutisch nicht dergestalt lösen, dass Letzteres dem Ersteren subsumiert oder darauf reduziert wird (obwohl natürlich auch die überführende Funktion des Gesetzes durch eine Forderung ausgerichtet wird), sondern er muss vielmehr auf das durchaus sachgemäße Nebeneinander beider Weisen des »Gesetzes« im Christen zurückgeführt werden. Der Christ, der neuer Mensch ist und Gottes Gebot hört bzw. dem es als ihm erfüllbares gepredigt wird, erfährt sich im Hören des Wortes sofort auch als alter Mensch, dem das Gebot zum Gesetz wird, welches ihm seine Sünde offenbart und ihn erneut zum Evangelium treibt. Ja, der Prediger selbst, der ja zunächst in eigener Person auf das Gebot hören soll, bevor er es verkündet, erlebt an sich immer wieder diesen »Umschlag« vom Gebot zum Gesetz, wenn dieses auf seine eigene Lebenswirklichkeit trifft und mit dieser Vgl. Althaus, Gebot, 29 ff., 35; ders., Theologie, 235–238. Althaus unterscheidet ebd., 236, explizit zwischen der »Motivierung christlichen Handelns«, die beim Christen qua Christ durch das Bewegen des Gottesgeistes, nicht durch das Gesetz erfolgt, und der »Erkenntnis dessen, was zu tun ist« (236). Ferner Joest, Gesetz, 113; Peters, Gesetz, 51–54, 309 f. – Treffen unsere Ergebnisse zu, dann ist jene singuläre und von Elert (Fälschung, passim; Gnade, 161 f.) als spätere Interpolation erwiesene Lutherstelle am Ende der zweiten Antinomerdisputation, welche explizit vom tertius usus legis spricht, durch Luther zumindest inhaltlich, wenngleich nicht terminologisch gedeckt. Dazu Althaus, Theologie, 237124. Die Stelle lautet: »Tertio. Lex est retinenda, ut sciant sancti, quaenam opera requirat Deus, in quibus obedientiam exercere erga Deum possint.« (39 I,485,22 ff.) 915

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konfrontiert wird. Christian Schulken hat deshalb von einer »Hermeneutik des Hörens«916 bei Luther gesprochen und gezeigt, wie sich etwa in Luthers Predigten über die Antithesen der Bergpredigt dieser unmittelbare Wechsel und dynamische Umschlag von Paränese in Bußpredigt ereignen kann.917 Es ist durchaus zuzugestehen, dass Luthers Äußerungen über den den neuen Menschen als solchen betreffenden usus practicus evangelii sich mitunter nur schwer mit jenen Lutherstellen harmonisieren lassen, in denen er mit 1.Tim 1,9 sagt, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, der Glaubende das Gute in froher Spontaneität von selbst tue und er auch wisse, worin dieses Gute bestehe. Pointiert kommt diese These Luthers in der Schrift »Von den guten Werken« zum Ausdruck: »Darausz dann weiter folget, das einn Christen mensch, in diessem glauben lebend, nit darff eines lerers guter werck, sondern was ym furkumpt, das thut er, und ist alles wolgethan […]. Alszo einn Christen mensch, der in diser zuvorsicht gegen got lebt, weisz alle ding, vormag alle dingk, vormisset sich aller ding, was zu thun ist, und thuts alles frolich und frey.« (6,207,3 ff.26 ff.) Hier ist anzumerken, dass dem Gerechten das Gesetz als Gesetz, d. h. als konkrete, den Sünder bei seiner Sünde behaftende göttliche Verhältnisordnung nicht mehr gegeben ist,918 sehr wohl aber noch als Kundgabe des göttlichen Willens. So will denn auch die zitierte Stelle ihrem Kontext nach betonen, dass der Glaubende deshalb das Gute von selbst tut und keines Lehrers bedarf, weil ihm im Glauben alle Werke gleich sind, d. h. sie keine soteriologische Relevanz mehr besitzen. Der Christ muss die Werke unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr unterscheiden Vgl. Schulken, Lex, 247–249, 404–410. – In ähnliche Richtung zielt auch der Lösungsvorschlag von Keilus, Gesetz, 129–134, 343, 345 f., der ebenfalls von einer informatorischen Funktion des Gesetzes bei den Gerechtfertigten ausgeht, insofern das Gesetz sie, über den usus politicus hinausgehend, über den Willen Gottes (vollkommene Gottes- und Nächstenliebe) unterrichtet. Da aber das Evangelium als Hilfe in der Anfechtung »unwiderruflich letztes Wort Gottes« (132) und so von jeder Forderung frei bleiben muss, ist das informatorische Gesetz weiterhin Gesetz und im Gegenüber zum Evangelium und nicht innerhalb des Evangeliums zu verorten. Dieser »usus didacticus« (132 f.) kann aber, eben weil der Christ noch Sünder und ihm Gottes Forderung letztlich unerfüllbar ist, in den usus theologicus »umschlagen« und zu Christus hintreiben. Gegen Keilus ist freilich zu bedenken: Wenn dieser »usus didacticus« vom Christen auch temporär in bestimmten Augenblicken erfahren wird, bevor er im nächsten Moment in den usus theologicus »umschlägt« (vgl. aber 346: »Gleichzeitigkeit« beider usus legis), dann ist er in diesen besonders qualifizierten Augenblicken nicht mit Anklage und Drohung verbunden und folglich nicht Gesetz, sondern Gebot. Weiter berücksichtigt Keilus nicht Luthers protologische Aussagen über das Gesetz. 917 Zu dem in Luthers Bergpredigtauslegung, ja in seinen Predigten überhaupt anzutreffenden Nebeneinander bzw. gleitenden Wechsel von erfüllbarer Jüngerunterweisung und Predigt des usus elenchticus, die aber ihrerseits nochmals vom Evangelium herkomme, vgl. auch Heintze, Predigt, 154–179, 257–262, 281 ff. 918 Vgl. 39 I,478,18–479,6, bes. 478,20 ff.: »Nam iustificatis non debet imponi aut praedicari lex implenda, sed impleta, quia iustificati iam habent id, quod lex requirit, in Christo.« 916

Gesetz 431 und werten, er bedarf dazu keines Lehrers, sondern, als neuer Mensch davon frei, vermag er das tun, was ihm »vor Augen kommt«, was die Situation und der Nächste je und je erfordern. Der Glaube handelt mithin situationsgerecht und in diesem Sinne spontan, weil nicht um eigener Heilsrücksichten willen. Das schließt aber nicht aus, dass auch der Christ, »hören« muss, was Gott in dieser konkreten Lage von ihm will. Zudem ist das ihn hier unterrichtende Gebot kein schriftlich kodifiziertes Gesetz oder eine heteronome Instanz, sondern das lebendige Lehren des Heiligen Geistes selbst, das durch Schrift und Tradition sowie durch andere Menschen und Gegebenheiten hindurch geschieht. Der Christ ist frei, auf dieses vielgestaltige Lehren des Geistes zu hören, das je und je zu konkreter Zeit und an konkretem Ort an ihn ergeht. Insofern muss die Spontaneität des Glaubens nicht gegen das je neue Hörenmüssen auf Gottes Gebot gestellt werden.919 Freilich bleibt insoweit eine letzte Spannung bestehen, als Luther die Gesetzesüberlegenheit des Glaubens ja nicht nur auf die Motivation, sondern auch auf den Inhalt des Tuns bezieht, als ob der Glaube zum Handeln nicht nur quasi naturhaft getrieben würde, sondern auch instinktiv wüsste, was zu tun sei.920 Wir lassen diese Unausgeglichenheit stehen und versuchen nicht, sie nochmals zu vermitteln. Dass solche Spannungen bzw. je nach Situation eingenommene unterschiedliche Perspektiven und Akzentsetzungen bei Luther häufig vorkommen, ist uns an seiner Rechtfertigungslehre schon aufgegangen und kann deshalb nicht gegen unsere Interpretation eingewandt werden. Ja, man muss sogar umgekehrt sagen: Die

So auch Iwand, Theologie, 157 f. Vgl. 6,213,21–26: »Wo den [Glauben] yderman hette, durfften wir keins gesetz ymmer mehr, sondern thet ein iglicher von yhm selbs gute werck zu allertzeit, wie yhn die selb zuvorsicht wol leret. […] ›Dem gerechten (das ist dem gleubigen) ist kein gesetz gelegt‹, szondern solche thunn freywillig, was sie wissen ynd mugen, allein angesehen in fester zuvorsicht, das gottis gefallen und huld uber sie schwebt in allen dingen.« Andererseits lehrt Luther gerade im »Sermon von den guten Werken« die Glaubenden als solche gute Werke (vgl. nur 214,32–35), sie werden also unbeschadet der Spontaneität ihres Glaubens unterwiesen. Vgl. auch 7,659,15–660,6; 11,250,10–20. – Zur Spannung von unmittelbarer Einsicht des Glaubens in das jetzt ethisch Gebotene und dem Hören auf die apostolischen Weisungen beim späten Luther siehe 39 I,47,25–48,6. Zunächst heißt es: »Habito enim Christo facile condemus leges, et omnia recte iudicabimus. Imo novos Decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. Et hi Decalogi clariores sunt, quam Mosi decalogus, sicut facies Christi clarior est, quam facies Mosi. […] Quanto magis Paulus aut perfectus Christianus plenus spiritu potest decalogum quendam ordinare et de omnibus rectissime iudicare.« (47,25–34) Diese Sätze sprechen klar für die Freiheit eines Christenmenschen bzw. seine geistgeleitete Vollmacht, aus dem Glauben heraus (»habito enim Christo«) zu den notwendigen (neuen) ethischen Einsichten zu gelangen. Der Glaube motiviert also nicht nur, das Gute frei und freudig zu tun, sondern schenkt auch die entsprechende inhaltliche Erkenntnis. Luther schränkt dies dann aber durch den Verweis auf das ungleiche Maß des Geistes unter den Christen und das bleibende »Fleisch« (= Sünde) ein und begründet damit die Notwendigkeit eines Hörens auf die neutestamentliche Paränese. Dazu Althaus, Gebot, 36 f.; ders., Theologie, 236. 919

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größere Plausibilität und Wahrscheinlichkeit besitzt (quasi als »lectio difficilior«) diejenige Interpretation, die mit Spannungen bei Luther rechnet, nicht aber jene Deutung, die den Reichtum von Luthers Gedanken vorschnell und rigoros systematisch glättet und beschneidet. Dies dürfte auch für die Frage der Relevanz des »Gesetzes« für den Christen qua iustus gelten. Für die Behandlung des Gesetzes im Kontext des simul iustus et peccator ist es aufschlussreich, nochmals ausdrücklich die Frage zu erörtern, warum jene sich auch bei Luther findende Funktion des Gebotes bei den Gerechtfertigten weder tertius usus legis noch tertius usus legis genannt werden sollte. Luther selbst spricht nie vom tertius usus legis, nennt aber sehr wohl jene Weisung für den neuen Menschen mitunter lex, so sehr er an anderer Stelle diesen Begriff dafür auch wiederum meidet. Zunächst ist der Begriff lex entscheidend geprägt durch seinen Gegensatz zum Evangelium: Gesetz bedeutet per definitionem lex »accusatrix«, »condemnatrix aut iustificatrix« (39 I,219,1.11). Jedoch in dieser Funktion tritt das im Evangelium implizierte Gebot ja gerade nicht auf. Die Rechtfertigung sola fide ist ein Heilsweg, den Gott nicht nur extra, sondern contra legem gewählt hat.921 Zweitens legt der Begriff Gesetz den Gedanken einer »gesetzlichen« Regelung des christlichen Lebens nahe, orientiert an einem paragraphierten Gesetzeskorpus. Darum geht es bei Luther aber gerade nicht! Die Weisungen der Schrift sind vielmehr Hilfe zur je persönlichen Erkenntnis dessen, was Gott jetzt von mir will, und dürfen niemals gegen das aktuelle, lebendige Lehren des Geistes im Herzen ausgespielt werden. Damit ist dann auch gegeben, dass die Weisung für den Christen nicht nur in der Schrift zu finden ist, sondern aus einem vielfältigen, nicht a priori regulierbaren Geflecht von Bezeugungsinstanzen des göttlichen Willens, wenngleich unter der Führung der Schrift, resultiert und auch überraschend Neues und Ungewohntes zu tun aufgeben kann.922 Dass das bei Luther vorkommende evangelische Gebot nicht tertius usus legis genannt werden sollte, ergibt sich aus folgender Beobachtung: Bei allen Vertretern eines tertius usus legis lässt sich explizit oder zumindest tendenziell feststellen, dass sie den Stand der Gerechtfertigten bzw. der renati als einen quasi vorfindlichen und empirisch konstatierbaren betrachten, dem dann eben ein eigener usus legis korrespondiert. Dieser status regeneratorum wird als durch eine einmalige, zeitlich bestimmbare Wiedergeburt oder Bekehrung konstituiert gedacht.923 Der bekehrte bzw. wiedergeborene Mensch wird dem neuen Menschen Vgl. 39 I,219,7–28, bes. 21–28: »Itaque ego sum revera supra legem et non curo eam. Nam Deus me credentem etiam contra legem salvat, quae vult, ut non nisi iusti salventur. At Deus etiam iniustos salvat. Abrogavit itaque legem, scilicet condemnantem et iustificantem«; 358,26 f.: »Lex non damnans est lex ficta et picta, sicut chimaera aut tragelaphus«; 434,1 ff.; 510,13 f.: »lex in Paulo simpliciter et proprie significat: ea lex, quae nondum impleta est, sed implenda«; 533,1: »Hoc est legem praedicare, ostendere peccatum.« 922 Vgl. Althaus, Gebot, 36 ff. 923 Was natürlich eine »Wiederbekehrung« bei einem schweren Vergehen und Herausfallen aus der Gnade nicht ausschließt. Im späteren, melanchthonisch beeinflussten Luther921

Gesetz 433 gleichgestellt. Dem entspricht, dass der usus legis in renatis dann tendenziell zum einzigen usus legis bei den Glaubenden wird, der neben seiner didaktisch-informierenden Funktion auch die Mahnung wegen der verbleibenden Sündenreste mit übernimmt. Der usus legis elenchticus wird somit mehr und mehr auf die Zeit vor der Bekehrung bzw. auf die Gottlosen und Nichterwählten sowie auf die Situation der »Wiederbekehrung« nach einem schweren sittlichen Fall oder einer Verleugnung des Glaubens verlagert. Dies scheint die Position Calvins zu sein, dem der tertius usus legis der usus praecipiuus ist. Aber auch Melanchthon zielt in diese Richtung: Er bleibt zwar Luther darin treu, dass der usus theologicus für ihn den usus praecipuus legis darstellt, der auch in der Kirche zu üben ist, sich offenbar aber nur auf die Verurteilung schwerer Vergehen bezieht.924 Die reliquiae tum unterschied man drei Entwicklungsstadien des Menschen, denen die drei Gebrauchsweisen des gleichwohl inhaltlich identischen Gesetzes korrespondierten: die Sicheren, die Erschrockenen und so vor der Rechtfertigung Stehenden und die Wiedergeborenen. Vgl. Haikola, Usus, 24–47; ders., Studien, 132 f. 924 Vgl. Melanchthon, Loci praecipui theologici 1559 (in denen die seit den Loci von 1535 explizit vertretene Position des tertius usus abgeschlossen vorliegt), StA II/1, 325 f.: Unter dem tertius usus wird verhandelt: »Interim tamen docenda est Lex, quae reliquias peccati indicat, ut crescat agnitio peccati et poenitentia, et simul sonet Evangelium de Christo, ut crescat fides.« Die lex »in renatis« ist weiterhin zu lehren, um die Werke, die sicher dem Gehorsam gegenüber Gott entsprechen, anzuzeigen. Dies wird einmal mit der notwendigen Leitung der menschlichen Vernunft begründet, welche, verführt durch »pravae cupiditates«, also die Sünde, sich »vitiosa opera« ausdenkt. Zum andern aber mit der schon schöpfungsmäßig grundgelegten Verpflichtung des Menschen und eben auch des Gerechtfertigten zum Gehorsam gegen Gott. Bei der Behandlung des secundus usus (323 ff.; 323: »Est igitur alius usus Legis divinae et praecipuus ostendere peccatum, accusare, perterrefacere et damnare omnes homines in hac corruptione naturae.«), dem usus elenchticus, hat Melanchthon offenbar die harte Bußpredigt vor Augen, er nennt als Beispiel den durch Gottes Gesetz überführten Ehebrecher David (325). Zum usus primus vgl. ebd., 312 ff. Zum Ganzen vgl. O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 290 ff. – Vollendet ist diese Entwicklung dann bei Calvin. Inst. II 7,12 heißt es: »Tertius usus, qui et praecipuus est, et in proprium Legis finem proprius spectat […].« Als dessen Aufgabe wird dann erstens dessen informativ-didaktische genannt: Die Gläubigen müssen – trotz der willigen Motivation durch den Heiligen Geist – fortschreitend den Willen Gottes kennenlernen (intelligentia, doctrina). Und zweitens bedürfen die Gläubigen der »exhortatio«, da sie zwar dem Geiste nach sich nach Gottes Willen ausstrecken, sie aber immer noch die Trägheit des Fleisches belastet. Das Gesetz ist so eine Geißel für den fleischlichen Menschen, aber auch ein antreibender Stachel für den geistlichen Menschen, der eben vom Fleisch tangiert wird. Es ist also eine doppelte Tendenz erkennbar: einerseits den Geist im Blick auf die Motivation vom Gesetz auszunehmen, ihn aber andererseits wegen seiner Verbindung mit dem Fleisch ihm doch zu unterstellen. Der usus theologicus (Inst. II 7,6–9) erstreckt sich für Calvin zwar – obschon nicht mit gleicher Wirkung – auf Gläubige und Verworfene, aber auf Erstere nur, sofern sie noch nicht wiedergeboren sind, während Letztere die Nichterwählten sind. Vgl. II 7,7: »Primum enim eius [legis] officium illic tantum notat [Paulus in Röm 3,20], cuius experimentum est in peccatoribus non regeneratis«; II 7,8: »Quod autem omnium nostrum iniquitas et damnatio Legis testimonio consignatur, non ideo fit (si tamen rite in ea pro-

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peccati (gemeint sind wohl leichtere Vergehen oder innere sündhafte Regungen) anzuzeigen, fällt dagegen dem usus tertius zu. Daraus folgt aber unweigerlich, dass die Unterscheidung von altem und neuem Menschen in einem Subjekt (duo toti homines und doch unus homo) eingezogen und nur noch von dem einen Subjekt des Christen gesprochen wird.925 Und dies zieht wiederum nach sich, dass das simul iustus et peccator nur noch im Sinne des partim- partim, nicht aber im Sinne des totus/totus verstanden wird. Konkret: Man kennt zwar das totus iustus propter Christum, nicht mehr aber das totus peccator!926 ficimus) ut concidamus desperatione, ac desponsis animis in praecipitium corruamus. In hunc certe modum illinc examinantur reprobi: sed ob animi obstinationem. Apud filios Dei alium esse eruditionis finem convenit.« Nämlich, dass sie zu Christus ihre Zuflucht nehmen und der Wiedergeburt zueilen. II 7,9: »Neque tamen in reprobis quoque ipsis primum hoc Legis officium cessat. Quanquam enim cum filiis Dei non hucusque pergunt ut post carnis deiectionem interiore homine renoventur ac reflorescant, sed primo terrore attoniti in desperatione iacent.« In ähnlicher Weise dient auch der usus politicus der Bewahrung der Erwählten auf die Wiedergeburt hin: II 7,10–11. II 7,12 werden die das Gesetz preisenden Schriftworte Ps 19,8 f. und Ps 119,105 auf den tertius usus legis bezogen und wird zugleich festgestellt, dass sie nicht den paulinischen Aussagen über das Gesetz (d. h. dessen elenchtischer Funktion) widersprechen, weil beide auf unterschiedliche Personengruppen zielen: »Neque vero repugnant ista Paulinis sententiis quibus ostenditur, non quem regeneratis usum Lex praestet, sed quid homini per se conferre queat. Hic autem canit Propheta quanta cum utilitate Legis suae lectione erudiat Dominus eos quibus intus obsequendi promptitudinem aspirat.« Vgl. auch II 7,13. 925 So auch Meyer, Normen, 231 f., 234. Meyer sieht freilich bei Luther mit der scharfen Unterscheidung von altem und neuem Menschen im Christen nur einen duplex usus legis gegeben (231–236) und weist deshalb die diesbezüglichen Lutherdeutungen von Althaus und Joest ab (237 f.). Unsere Interpretation zielt dagegen dahin, trotz der klaren Differenzierung zwischen altem und neuem Menschen bei Luther einen usus practicus evangelii gegeben zu sehen, der dem neuen Menschen als solchem gilt. – O. Ritschl, Dogmengeschichte Bd. 2, 420 f., erfasst im Blick auf den zweiten Antinomerstreit die unterschiedlichen anthropologischen Denkweisen gut, misst ihnen aber keine große sachliche Bedeutung zu: »In der Sache aber standen sich die Gnesiolutheraner, die den tertius usus ablehnten, und diejenigen, die für ihn eintraten, gar nicht so fern. Denn im Grunde unterschieden sie sich nur dadurch, wie sie den Begriff des Wiedergeborenen faßten, für den das Gesetz sei es gelten, sei es nicht gelten soll. Die Gegner jener Lehre nämlich verstanden unter dem Wiedergeborenen ganz abstract nur den neuen Menschen, der mit dem alten Adam allerdings zeitlebens in Personalunion verbunden bleibt. Die Anhänger der Lehre dagegen dachten als die Wiedergeborenen, für die das Gesetz eine positive Bedeutung behalte, die concreten Gläubigen, die zugleich noch Fleisch und doch auch schon Geist sind. Dann aber ergab es sich für sie, daß diesen Christen in der Kirche das Gesetz unumgänglich gepredigt werden müsse, damit sie daraus sowohl ihre noch vorhandenen Sündenreste erkennen wie die Werke erfahren, die Gott als gut von ihnen getan wissen will.« (420; Hv.) 926 Vgl. Bring, Gesetz, 91 ff.; Haikola, Usus, 53 f. – Umgekehrt hält die den tertius usus legis bestreitende lutherische Minorität im zweiten Antinomerstreit konsequent an der realen Unterscheidung von altem und neuem Menschen fest und wollte damit dem luthe-

Gesetz 435 Der Unterschied zu Luther927 liegt auf der Hand – und darin besteht vielleicht der entscheidende Grund, warum Letzterer instinktiv nie vom tertius usus legis gesprochen hat, obwohl das sachliche Anliegen dieser Lehre ihm nicht unbekannt ist. Bei Luther hat der neue Mensch stets den alten Menschen bei und neben sich, wenngleich so, dass der neue Mensch den alten bekämpft und in Schranken hält. Dennoch muss sich der Christ im Blick auf diesen alten Menschen, d. h. im Blick auf seine Person und von Christus abgesehen, stets auch als totus peccator bekennen. Zudem ist der neue Mensch keine konstatierbare, fixierbare Gegebenheit, sondern ersteht je neu im Transitus von der Anklage des Gesetzes zum Freispruch des Evangeliums, also in der je sich wiederholenden Totalrechtfertigung.928 Der wie auch immer »bekehrte« Mensch ist für Luther nicht mit dem neuen Menschen identisch, sondern auch der »bekehrte« Mensch ist zeitlebens neuer und alter Mensch zugleich. Bekehrung ist ein täglicher, lebenslanger Vorgang! Insofern steht der Christ aber wie der »Unbekehrte« unter der Anklage des Gesetzes, also unter dem usus theologicus, und zwar nicht nur bei schweren Vergehen, sondern auch, weil der Christ immer wieder seines bleibenden, inneren Sünderseins und Unglaubens, seiner inneren, unvermeidbaren bösen Regungen und Willensstrebungen ansichtig wird. Freilich spricht Luther von einer mitigatio des elenchtischen Gesetzesbrauches durch die Rechtfertigung, was aber offenbar nicht ausschließt, dass auch der Christ mitunter hart vom Gesetzeswort getroffen wird.929 rischen simul Rechnung tragen. Das Gesetz bezieht sich dann in seinen nur zwei Gebrauchsweisen ausschließlich auf den alten Menschen, während der neue Mensch vom Gesetz frei ist. Demgegenüber wurde das simul im partialen Verständnis von ihren Gegnern für den tertius usus stark gemacht. Vgl. Haikola, Usus, 73–83. Zu Luthers Sicht des Totalaspektes beim simul (neben dem Partialaspekt) ebd., 123–128. 927 Dazu siehe Bring, Gesetz, 52, 60, 74, 77, 80, bes. 56 f.: »Der neue Mensch ist nicht vorhanden, sondern muß täglich neu geboren werden. Dieser neue Mensch ist aber sicherlich nicht dasselbe wie der Mensch nach seiner Bekehrung.« 928 Schulken, Lex, 236 ff., weist darauf hin, dass die Paränese in Luthers Predigten das christliche Subjekt, also den neuen Menschen, auf den sie zielt, nicht so sehr voraussetzt als vielmehr selbst konstituiert. Insofern könne also auch ein tertius usus legis auf den neuen Menschen nicht einfach »angewandt« werden. Haikola, Usus, 139 ff., bes. 140: »Diese für den Glauben charakteristische Aktualität und Kontingenz sowie der ständige Antagonismus von Gnade und Glauben bewirken, daß sich Luther keinen bleibenden, sondern nur einen ständig erneuerten Gnadenstand denken kann. Das orthodoxe Luthertum dagegen kannte einen bleibenden Gnadenstand […].« Ferner ders., Studien, 52 ff., 145 f., 152 f. 929 Eine Vermittlung dieser nicht leicht zu harmonisierenden Äußerungen Luthers könnte darin bestehen, dass der Christ zwar noch vom Gesetzeswort hart getroffen, ja in Verzweiflung geführt wird (was Luther ja oft einräumt), aber in seiner Verzweiflung, anders als der Nichtglaubende, nicht stecken bleibt. Das wäre dann eine Form der mitigatio legis. Der Christ wird sehr wohl wegen seiner bleibenden Sünde durch das Gesetz niedergeworfen, aber durch Christus und sein Wort wieder aufgerichtet. Eine solche Deutung legt neben 39 I,474,8–20 bes. 392,13 ff. nahe: »Sed propter Christum legis impletorem credentes non adiguntur in desperationem accusatione et terrore legis, sed verbo ipsius rursus eriguntur. Deinde propter eundem Christum victorem peccati sunt mortui peccato

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Simul iustus et peccator: Verortung in der Theologie Luthers

Ein christliches Subjekt, auf das bloß ein tertius usus anzuwenden wäre, gibt es – im Unterschied zum Christen als peccator und bürgerlicher Person – in diesem »konsistenten« Sinne für Luther nicht. Es ersteht täglich je neu in der Rechtfertigung durch Wort und Glauben sowie im Aufblitzen von so etwas wie erfüllbarer Paränese, welche aber sofort – im Aufprall auf die eigene Lebenswirklichkeit – in den elenchtischen Gebrauch des Gesetzes umschlagen kann.930

et peccatum illis.« Freilich erhellt nicht eindeutig: Werden die Christen durch das Gesetz nicht mehr in die Verzweiflung geführt (erster Satz, erste Hälfte) oder werden sie doch zur Verzweiflung gebracht, aber erneut aufgerichtet (erster Satz, zweite Hälfte)? Es ist wohl beides denkbar, und durch die mehrdeutige Formulierung wird (unfreiwillig) zum Ausdruck gebracht, dass sich die Dynamik des Gesetzes auch beim Christenmenschen nicht ein für allemal und a priori abschwächen lässt. Vgl. zur Stelle Schulken, Lex, 378 f. 930 Schulken, Lex, 238–241, hält es von Luthers Predigten her für eine Reduktion, den usus elenchticus nur aus der »Notwendigkeit der Selbstplausibilisierung des Evangeliums« bzw. als Wegbereitung für das Evangelium zu verstehen. »Das elenchtische Wort entspringt kontingent im Aufprall des einen, den göttlichen Willen offenbarenden Wortes auf die Wirklichkeit. Und dann kehrt die Predigt in der Regel unvermittelt zurück zum Forderungssinn des Textwortes.« (240) Schulken sieht hier auch die Grenzen der usus-Lehre, die Wirklichkeit des »Gesetzes« voll zu erfassen. In ähnlicher Weise hatte schon Wöhle, Freude, 195–219, bes. 206 ff., dafür plädiert, Luthers Gesetzesverständnis nicht starr zu systematisieren, sondern als text- und situationsbestimmtes »Hin- und Herschwingen« bzw. »Oszillieren« zwischen verschiedenen Aspekten zu begreifen. In Anknüpfung daran zeigt Sparn, Lex, bes. 215, 230, 236–249, auf, dass »Gesetz« bei Luther nicht univok verstanden wird, sondern – über seinen elenchtischen Vollzug hinaus – einen »bewegten Sprach- und Ereignisraum« bezeichnet, innerhalb dessen unterschiedlich vom Gesetz gesprochen werden muss.

II Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen Im ersten Teil unserer Arbeit sind wir der Verortung des simul iustus et peccator in der Theologie Luthers nachgegangen. Es wurde untersucht, im Kontext welcher Themenstellungen Luther auf das simul zu sprechen kommt, was das simul hier bedeutet und welche sachlogische bzw. argumentative Funktion es innerhalb dieser Themenbereiche jeweils ausübt. Dazu mussten wir in die zentralen Bereiche des Denkens Luthers eindringen und neben der Rechtfertigung alle mit dieser verbundenen Themenfelder behandeln: Taufe, Buße, gute Werke, Anthropologie und Gesetz. In diesem zweiten Teil soll es nun darum gehen, die in der Formel »simul iustus et peccator« enthaltenen Begriffe näher zu bestimmen sowie das in der simul-Formel enthaltene Verhältnis dieser Begriffe zu explizieren. Die Aufgabe besteht daher zum einen darin, das in der Formel implizierte Verständnis von peccator bzw. peccatum herauszuarbeiten (Kapitel 1). Zweitens ist der diesem korrespondierende Begriff von iustus bzw. iustitia oder iustificatio zu erheben (Kapitel 2). Da es beim iustificare wesentlich um die Vergebung und Befreiung von der Sünde geht, liegt es von der Sache her nahe, die Klärung des Sündenbegriffs der Erhellung des Gerechtigkeitsbegriffs voranzustellen. Drittens soll die im simul behauptete Relation der beiden Begriffe peccator und iustus analysiert werden, oder genauer gesagt: die Pluralität der Relationen, die Luther hier für möglich hält (Kapitel 3). Dabei wird sich auch zeigen, welche Relationsbestimmungen als unzureichend abzuweisen sind bzw. welche, obwohl in sich einseitig, dennoch integriert werden können. Es leuchtet ein, dass es in diesem Teil unserer Studie im wesentlichen um eine Zusammenfassung und Bündelung dessen geht, was im ersten Teil bei der

438 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Behandlung des simul im Kontext einzelner Themenfelder lutherischer Theologie schon erarbeitet wurde. Die Ergebnisse des ersten Teils werden so gleichsam auf die Elemente der Formel hin fokussiert und präzisiert. Wir können deshalb in vielem auf die Einzelanalysen des voraufgegangenen Teils verweisen und rekurrieren sinnvollerweise v. a. auf jene Lutherschriften, die schon zuvor deshalb wichtig waren, weil Luther in ihnen Entscheidendes zum simul ausführt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es sich hier nicht darum handeln kann, die vollständige Hamartiologie oder Rechtfertigungstheologie Luthers vorzustellen. Erforderlich ist nur, jene – allerdings dann für die Thematik zentralen – Aspekte herauszustellen, welche für das Verständnis der simul-Formel von Bedeutung sind.

1 Peccator/peccatum

1.1. Von der Tatsünde zur Ursprungssünde Für sein Sündenverständnis übernimmt Luther die ihm aus der Tradition überkommene Unterscheidung zwischen peccatum originale und peccatum actuale, also zwischen Erbsünde und Tatsünde,1 freilich nicht, ohne diese Differenzierung grundlegend zu modifizieren. Das in der simul-Formel implizierte Verständnis von peccatum bzw. peccator zeichnet sich dadurch aus, dass Luther in ihr primär das peccatum originale und nicht das peccatum actuale im Blick hat, wie sein Sündenverständnis ja überhaupt von einer Neuakzentuierung der Erbsünde gegenüber der Tatsünde geprägt ist. Das auch beim Gerechtfertigten zeitlebens bleibende Sündersein meint gerade, dass die Erbsünde nach der Taufe und der Weckung des Glaubens zwar vergeben ist und im Empfang der Absolution je neu vergeben wird, aber als Sünde noch da ist und bleibt (peccatum remanens) und dieses Sündersein, obschon bekämpft, erst mit dem Tode aufhört.2 Luther will mit der simul-Formel nicht behaupten, dass der Christ sich ständig schwerer Vergehen (crimina) schuldig macht bzw. sich ihrer nicht enthalten könnte. Zugleich muss man konstatieren, dass Luther das Verständnis des peccatum originale modifiziert und radikalisiert hat.3 Die Tradition erblickte die Erbsünde entweder im Fehlen der Urstandsgerechtigkeit (Anselm von Canterbury, Duns Skotus, Wilhelm von Ockham, Gabriel Biel)4 oder in der Konkupiszenz als einer Vgl. 1,86,16: »Duplex est peccatum, actuale et originale«; 37,416,26 ff. Vgl. exemplarisch 47,662,22–665,14, bes. 664,18 ff.24 f.; 665,8 ff.: »Non dicendum: ho, peccatum ist alle dahin. Bene, ist wohl gantz und gar vergeben. Sie ist aber noch nicht gar dahin. […] Baptismus auffert peccatum penitus, so viel als Gott angehet, Sed non als michs angehet. […] Peccatum non est formaliter weg i. e. wesentlich, sed adest, sed non imputabitur, modo non erger werdest.« 3 Vgl. Ebeling, Mensch, 76: »Die sogenannte Erbsünde wird bei Luther zum Schlüssel für das Sündenverständnis überhaupt.« Für das Folgende vgl. diesen Aufsatz passim; ferner ders., Sündenverständnis, bes. 180–190; ders., Sündenblindheit, bes. 280–310; Kinder, Erbsünde, 35–83; Althaus, Theologie, 128–144; Pesch, Theologie, 77–109; Kleffmann, Erbsündenlehre, 107–246; Lohse, Theologie, 264–269; Wenz, Das in sich Verkehrte; Batka, Peccatum; Führer, Artikel, 180–236; Brand, Leben, 107–310 (dazu oben 300, Anm. 595). 4 Vgl. Anselm von Canterbury, De conceptu virginali 3 (Opera II, 142,20–143,21), 27 (ebd., 170,15 ff.): »Hoc peccatum, quod originale dico, aliud intelligere nequeo […], nisi ipsam […] factam per inobedientiam Adae iustitiae debitae nuditatem, per quam omnes filii sunt irae.« Die Urstandsgerechtigkeit wird dabei v. a. in der Adam gnadenhaft geschenkten rechten Ausrichtung des Willens auf Gott gesehen, ihr Fehlen ist schuldhaft, weil der 1 2

440 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Ungeordnetheit der sinnlichen Triebe und Kräfte im Menschen (Petrus Lombardus)5 oder in der Kombination beider Momente als Formal- und Materialaspekt der Sünde (Bonaventura, Thomas von Aquin)6. Für Luther dagegen geht es im Mensch zu ihrem Besitz verpflichtet ist. Die »iustitiae debitae nuditas« wird zunehmend als bloßer Mangel (privatio) gesehen, so dass die eigentliche Natur des Menschen nach dem Sündenfall mehr oder weniger unversehrt geblieben ist. Bei Duns Skotus gerät die Konkupiszenz zum quasi natürlichen vorbewussten Streben. Gegen diese Vorstellung der »naturalia […] post peccatum integra« (39 I,85,1 f.) wendet sich Luther vehement. Vgl. Finkenzeller, Erbsünde, bes. 531–534, 540–545; Gross, Geschichte Bd. 3, 14–28, 330–360; Lehrverurteilungen I, 50 f. 5 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, 30,8,2: »Originale peccatum dicitur fomes peccati, scilicet concupiscentia vel concupiscibilitas, quae dicitur lex membrorum, sive languor naturae, sive tyrannus qui est in membris nostris, sive lex carnis.« Dazu Gross, Geschichte Bd. 3, 147–155. Der Augustiner Gregor von Rimini, der ebenso lehrte, betonte darüber hinaus auch den geistigen Charakter der Konkupiszenz und kam so Luther am nächsten. Vgl. Braun, Bedeutung, 232–236. 6 Vgl. Thomas von Aquin, STh I-II, 82,3: »Sic ergo privatio originalis iustitiae, per quam voluntas subdebatur Deo, est formale in peccato originali: omnis autem alia inordinatio virium animae se habet in peccato originali sicut quiddam materiale. Inordinatio autem aliarum virium animae praecipue in hoc attenditur, quod inordinate convertuntur ad bonum commutabile: quae quidam inordinatio communi nomine potest dici concupiscentia. Et ita peccatum originale materialiter quidam est concupiscentia, formaliter vero, defectus originalis iustitiae.« Ferner I–II, 85,3. Die Unterscheidung zwischen »formale« und »materiale« der Sünde dürfte so zu verstehen sein, dass das, was das peccatum originale zur Sünde »formiert« und qualifiziert, der Mangel der Urstandsgerechtigkeit (= das Fehlen der subiectio des Willens unter Gott) ist, der »Stoff« der Sünde dagegen das, woran sich dieser Mangel im niederen Strebevermögen manifestiert und objektiviert, so dass die Konkupiszenz einerseits Folge des eigentlichen peccatum originale ist, andererseits daran auch partizipiert. Dabei partizipiert sie nur insoweit an der Ursünde, als sie »ungeordnet« (inordinate) ist, d. h. das ihr von der Vernunft gesetzte Maß übersteigt. Ansonsten ist sie schöpfungsgemäß und »natürlich« (I–II 82,3 ad 1; 85,3 ad 3). Durch die Taufe wird mit der Rechtfertigungsgnade für Thomas der reatus der Erbsünde getilgt und der mens die iusti­tiae originalis wiedergeschenkt, es bleibt aber die »inordinatio inferiorum partium anima et ipsius corporis« als fomes zurück (I–II, 81,4 ad 2; 109,8), die jetzt aber streng genommen nicht mehr das »materiale« der Erbsünde ist. Der fomes selbst ist nicht Sünde (I–II, 74,3 ad 2; 80,3 ad 3), es sei denn, dass er in konkret-aktuelles Wollen übergeht (III, 27,3). Vgl. Pesch, Theologie, 484–500, bes. 490 f., 496 f., 534; Gross, Geschichte Bd. 3, 229–267. – Auf einem Rückgriff auf die Differenzierung zwischen Formal- und Materialaspekt der Erbsünde basiert der Kompromiss, den Melanchthon und Johannes Eck auf dem Religionsgespräch in Worms 1541 hinsichtlich des Sündencharakters der Konkupiszenz gefunden hatten, der aber zweideutig bleibt: Das »formale« der Erbsünde« (= der reatus) wird durch die Taufe weggenommen, während das »materiale« (= die Konkupiszenz) bleibt. Von Letzterem wird einerseits gesagt, »quod fiat ex peccato, quod ad peccatum inclinet«, andererseits ist es »quiddam repugnans legi Dei, quemadmodum Paulus quoque peccatum appellat«. Zusammenfassend heißt es: »Ad eandem in scholis compendio doceri solet, manere in baptizato originalis peccati materiale, formale vero, quod reatus est, aufferri.« Es bleibt unklar, ob der reatus auch auf der Konkupiszenz oder nur auf der carentia ius-

Peccator/peccatum 441 peccatum originale um das Sündersein des ganzen Menschen, also nicht nur um die Unbotmäßigkeit seiner leiblich-sinnlichen Lebensdimensionen oder um einen nur den Willen oberflächlich hemmenden Mangel der Urstandsgerechtigkeit.7 Der Mensch ist mit seinem ganzen Sein, mit allen Fasern seiner Person, gerade auch den höchsten und geistig-geistlichen, Sünder. Es ist das Herz, der Persongrund des Menschen, der der Sünde verfallen und ausgeliefert ist.8 Sünder wird der Mensch und also auch der Gerechtfertigte deshalb nicht erst dann, wenn er bestimmte Tatsünden begeht, sondern er begeht solche Tatsünden, weil er immer schon Sünder ist und bleibt – und zwar von Geburt an, nicht erst durch sein eigenes Tun.9 Die verbleibende Erbsünde, die Konkupiszenz bzw. der Zunder (fomes), wird für Luther somit nicht erst durch die daraus folgenden Tatsünden wieder zur Sünde (bildlich gesprochen: dadurch, dass der »Zunder« von neuem Feuer fängt), nein, sie ist und bleibt es in sich selbst, so sehr sie auch von Gott vergeben ist. Oder noch zugespitzter formuliert: Sie wird gerade deshalb von Gott vergeben, weil sie als Sünde bleibt!10 In der Konzentration des Sündenverständnistitiae originalis liegt und ob das »materiale« nicht doch bloss Folge und Anreiz zur Sünde ist, zumal es zuvor hieß: »Est autem peccatum originale carentia iustitiae originalis debitae inesse, cum concupiscentia.« (Forma concordiae, zit. nach Pfnür, Simul, 242; vgl. ebd., 238–251; Lehrverurteilungen I, 51 f.) Von Thomas her ist zudem das »materiale« der Erbsünde die Konkupiszenz ausschließlich im Sinne des inferioren Begehrens. Positiv aufgenommen, aber im Sinne Luthers gedeutet wird die Unterscheidung von peccatum formale und materiale in 39 II,401,13–16. 7 Vgl. 56,312,2–12; 313,4–16. – Einen gleitenden Übergang von der Definition der Erbsünde als carentia originalis iustitiae zu ihrer Bestimmung als Konkupiszenz vollzieht Luther in 4,690,3–692,32 (wohl kurz nach der Römerbriefvorlesung und 1527 wiederaufgenommen in 17 II,282,15–286,37). Er vermag dies deshalb, weil er den ersten Begriff inhaltlich so auffüllt, dass er sich dem zweiten weitgehend annähert. Zur Auseinandersetzung mit scholastischen Definitionen der Erbsünde vgl. 39 I,84,24–85,15; 116,13–118,12; 40 II,371,20–35. Luther kann in den beiden ersten Belegen auch die Definition der Erbsünde als Konkupiszenz als unzureichend kritisieren, wenn sie bloß als ungeordnete Sinnlichkeit interpretiert wird. 8 Vgl. Ebeling, Mensch, 82: »Die Sünde selbst hat ihren primären Ort nicht in den Äußerungen des Menschen, sondern in seinem Sein.« 9 Vgl. 56,269,10 ff.; 286,21 f.; 40 II,381,4 f. (Hs): »peccatores sumus, totum genus humanum, non quia occidimus, furati, sed ideo ista facimus, quia sumus peccatores.« Ferner 8,125,37 ff.; DB 7,7,27 ff.: »Sunde heisset in der Schrifft, nicht allein das eusserliche werck am Leibe, Sondern alle das Gescheffte das sich mit reget und weget zu dem eusserlichen werck, nemlich, des hertzen grund mit allen krefften.« 10 Vgl. 56,271,20 f.27 f.; 281,9 ff.; 513,17–20: »Baptisatus aut penitens manet in infirmitate concupiscentie, que tamen est contra legem: ›Non concupisces‹, Et utique mortalis, nisi Deus misericors non imputaret propter inceptam curationem«; 2,409,25–29; 414,19 ff.: »Nihil ergo differt peccatum fomitis a quolibet crimine post vel ante baptismum, cum sit eque contra legem dei sicut quodlibet aliud, nisi quod non imputatur«; 6,609,15–21; 7,103,9–16; 108,4–33. 7,111,5–8 kann Luther den fomes selbst sogar als peccatum actuale bezeichnen, nicht nur im Sinne der realen Sünde, sondern wohl auch im Sinne von »Grundtat«

442 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

ses auf die einzelnen Tatsünden erblickt Luther demgegenüber eine verheerende Verharmlosung des Sündenbegriffs und der Sündenwirklichkeit, mit welcher der Mensch bzw. der Christ sich selbst täuscht und hochmütiger Sicherheit verfällt.11 Die Akzentverlagerung von den Tatsünden zur Erbsünde und die damit einhergehende Verschärfung des Sündenverständnisses manifestiert sich auch darin, dass Luther für das peccatum originale teils vorhandene Begriffe aufgreift bzw. neue bildet. Sie belegen alle, dass es ihm nicht vorrangig um das peccatum originale im Sinne der von Adam, vom ersten Menschen »ererbten« Sünde geht, obwohl Luther diesen »historischen« Aspekt des peccatum originale (vgl. die »Sündenfallgeschichte« in 1.Mose 3) keineswegs leugnet, sondern sogar explizit an ihm festhält.12 Die »Erbsünde« ist zunächst die Sünde Adams und wird durch den davon »infizierten« männlichen Samen – der die verdorbene menschliche Natur weiterträgt – bei der Zeugung weitergegeben, »vererbt«, so dass der Mensch vor allem eigenen Tun Sünder ist bzw. als Sünder geboren wird.13 Aber dennoch liegt

der ganzen Person: »Ideo fomes vere est actuale peccatum, actualis privatio sive defectus eius rei, quae adesse debet, et actualis positio seu praesentia infirmitatis et aliorum affectuum, qui deese debent.« – Die Deutung der Konkupiszenz als »Zunder« im Sinne eines leicht brennbaren Materials (vgl. 6,623,12–15) stellt also eine unzulässige Abschwächung dar. Im Bild bleibend müsste man von Luther her sagen: Das Material brennt immer schon! 11 Vgl. 56,276,6–19; 1,86,11–29. – Ebeling, Mensch, 78, 81 f., verweist darauf, dass die in der Scholastik bekannte Rückführung der vielen Einzelsünden auf wenige Grund- oder Kapitalsünden nicht mit Luthers Konzentration des Sündenverständnisses auf die eine Erbsünde als des sündigen Seins des Menschen vergleichbar ist. 12 Vgl. BSLK 443,12–16: »Hie mussen wir bekennen, wie S. Paulo Ro. 5. sagt, dass die Sunde sei von Adam, dem einigen Menschen, herkommen, durch welchs Ungehorsam alle Menschen sind Sunder worden und dem Tod und dem Teufel unterworfen. Dies heißt die Erbsunde oder Häuptsunde«; 26,502,25–30. 39 II,305,1–26, bes. 4 f.20 ff., präferiert sogar die deutsche Wortbildung »Erbsünde« vor dem lateinischen peccatum originale. Siehe auch Lohse, Theologie, 268 f. 13 Vgl. hierfür Luthers Auslegungen von Ps 51,7: 56,286,11–287,14; 1,188,10–22; 40 II, 379,31–385,29. Ferner 56,309,20–315,12 (zu Röm 5,12); 10 I/1,509,17–511,2; 26,503,29–34. – Die Sünde der Eltern selbst, nämlich die böse Konkupiszenz bei der Zeugung, ist für Luther für die Tradierung der Ursünde letztlich nicht entscheidend (vgl. aber 4,692,13–32; 17 II,286,8–37), ist diese doch in jedem menschlichen Werk präsent. Wenn Luther ausführt, dass die »Erbsünde« die meinige wird (durch eigenes böses Begehren und eigene Tatsünde: 56,287,7–14; 52,522,38–523,3), so darf dies nicht übersehen lassen, dass er die Frage der Zurechenbarkeit des peccatum originale von der Frage seiner Entstehung unterscheidet: Ich bin für etwas existentiell, wenngleich nicht moralisch verantwortlich, was ich nicht verursacht habe, weil ich darin ganz als Person bin und als Person nicht so bin, wie ich vor Gott sein sollte. Vgl. 17 I,1,28–32: »Peccatum est, quod facimus, ut actuale, ut occidere, wircklichte [Sünde], illa non sunt gemeint, sed deus videt die erbsund und wesentlich sund, non quod facimus, sed patimur, sive nolimus, velimus, habemus et haut und har hie nit gut. In eo nascimur et a parentibus ferimus et in homine ists eingebacken, quod nihil boni sit in homine, in collo ferimus, et adnatum.« Dazu Teil III, Kapitel 4.2–3. – Kleffmanns interessante These (Erbsündenlehre, 17 ff.), wonach die Erbsünde

Peccator/peccatum 443 bei Luther das Hauptgewicht auf dem existentiell-anthropologischen Verständnis des peccatum originale: Dieses ist nicht primär die Sünde, die in Adam ihre origo, ihren Ursprung besitzt, sondern jene Sünde im Menschen, die selbst zur origo, zum Ursprung, zur Wurzel anderer Sünden, eben der Tatsünden wird.14 Diese sind nur »Früchte«, sekundäre Folgeerscheinungen des peccatum originale, so wie die guten Werke Früchte der Glaubensgerechtigkeit sind.15 Auf vielfältige Weise hat Luther diesen »originellen« Charakter der Erbsünde beschrieben:16 eben mit dem neu akzentuierten Begriff peccatum originale als Ursprungssünde, aber auch mit den Termini »peccatum radicale« (Wurzelsünde)17, »peccatum internum«18, »peccatum capitale« (hier ist statt der Wurzel das Bild des Hauptes leitend)19, »peccatum substantiale« bzw. »essenciale«20, »principale«21, »naturale«22, »universale«23 oder »personale«24. Immer wird damit eine anthropologische und deshalb auch nicht in menschlicher Willkür stehende Grundgegebenheit beschrieben, die das als falsche Identitätsbildung des Menschen – analog zur wahren Identitätsfindung im Glauben – primär sprachlich, als Sprachgeschehen weitervermittelt werde, ist bei Luther, wie Kleffmann selbst einräumt, allenfalls angedeutet. Vgl. ebd., 111 ff., 173–176, 187, 234 f. 14 Vgl. Ebeling, Mensch, 77: Die Wendung »peccatum radicale« zielt »auf die in jedem Menschen stets präsente Wurzel der Sünde und damit auf deren Wesen«; ebd., 78: »Die sogenannte Erbsünde, das peccatum originale, ist selbst die eigentliche Sünde, das peccatum radicale.« 15 Vgl. 56,271,6–15; 6,95,8–19. 16 Vgl. dazu Ebeling, Mensch, 74–98. 17 Vgl. 56,277,12 f.: »Ipsum peccatum radicale in nobis siue concupiscentia ad malum«; 283,6 f.15; 285,16; 39 I,84,10; 122,1; 8,105,14. 18 Vgl. 56,282,21; 283,1; 8,104,26 ff. 19 Vgl. 10 I/1,508,20 f.: »die erbsund, odder natursund, oder personsund, die rechte hewbtsund«; BSLK 433,16.30: »Erbsunde oder Häuptsunde« bzw. »principale et capitale peccatum«; 39 I, 84,10. 20 Vgl. 2,44,14: »Alterum est peccatum essenciale, natale, originale, alienum«; 8,88,25; 10 I/1,509,2: »weßentlich sund«; 17 I,1,29; 39 I,97,21: »naturale illud et substantiale«. Neben der Verwurzelung der Sünde im Sein des Menschen bringt der Ausdruck »peccatum substantiale« bei Luther freilich auch zum Ausdruck, dass die Sünde nach der Taufe wesentliche, eigentliche Sünde und nicht nur Schwäche oder Strafe ist. Vgl. Ebeling, Mensch, 88–92. 21 Vgl. 39 I,84,22 f.: incredulitas als »primi praecepti principale peccatum«. 22 Vgl. 56,284,23: »peccatum radicale, originis naturale«; 283,16 f.: »morbus nature«; 39 I,84,17: »non tantum personale, sed et naturale [peccatum]«; 10 I/1,509,4. »Peccatum naturale« akzentuiert die Unausweichlichkeit, Unentrinnbarkeit der Sünde. So Ebeling, Mensch, 86. 23 Vgl. 40 II,362,29; 366,17. »Peccatum universale« meint einerseits, dass alle Menschen Sünder sind, andererseits und vorrangig aber jene Sünde, die das ganze Wesen und Tun (auch das gute) des Menschen durchwirkt. 24 Siehe Anm. 22. »Peccatum personale« versteht Luther nicht wie die Tradition als »persönliche« Sünde im Sinne der Tatsünde, für die allein ich verantwortlich bin, sondern als Charakterisierung der ganzen Person im Unterschied zu ihren Werken. Vgl. Ebeling, Mensch, 83 ff.

444 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

ganze Sein des Menschen bestimmt und von Gott trennt (»mortale«: 39 I,84,10) sowie sein faktisches, nicht sein schöpfungsmäßiges Wesen bzw. seine Substanz oder seine Person ausmacht (substantiale, naturale, personale).25 Im Antilatomus sieht es Luther gerade als das Proprium des göttlichen Gesetzes an, im Unterschied zu der der »Natur« bekannten Tatsünde diese den Menschen als Sünder prägende Wurzelsünde zu offenbaren, und so fasse auch die Schrift den Sündenbegriff in der Regel: »Et haud scio, an peccatum in scripturis unquam accipiatur pro operibus illis, quae nos peccata vocamus. Videtur enim ferme radicale illud fermentum sic vocare quod fructiferat mala opera et verba.« (8,104,4–7) Im Bild des »radicale illud fermentum« kommt sowohl das Moment des Wurzelhaften als auch das des alles Durchwirkenden, Durchdringenden zum Ausdruck. Luthers Verständnis der »Erbsünde« kommt auch treffend in dem zentralen Text aus der Weihnachtspostille (1522) zum Ausdruck: »Darumb ligt unßer geprech nitt an den wercken, ßondern an der natur; die person, die natur und gantz weßen ist ynn uns durchs Adams fall vorderbett, darumb kann keyn werck gutt seyn ynn uns, biß die natur und das personlich weßen vorendert und vornewertt werde, der bawm ist nit gutt, darumb sind die früchte böße. [… Gott gibt klar zu verstehen,] das es an dem gantzen weßen der natur feyle, das yhr geburt und alles yhr herkommen sey vorderbet und sund, das ist: die erbsund, odder natursund, odder personsund, die rechte hewbtsund; wo di nit were, ßo were auch kein wircklich sund. Diße sund wirtt nitt gethan wie alle andere sund, ßondern sie ist, sie lebt und thutt alle sund und ist die wesenlich sund, die da nitt eyn stund odder zeyttlang sundigt, ßondern wo und wie lang die person ist, da ist die sund auch.« (10 I/1,508,6–509,4) Dieses Sündersein des Menschen ist total und universal, d. h. es erfasst jeden Menschen ganz in all seinen Lebensdimensionen26 und die Menschen insgesamt. Und deshalb ist auch eine Selbstbefreiung davon unmöglich, da alle diesbezüglichen Versuche von dieser Ursünde bestimmt sind und sie wiederum vollziehen.27 Zudem ist diese radikale Verfallenheit an die Macht der Sünde im Unterschied zu den Aktsünden dem Menschen unbekannt, verborgen, der Mensch verdrängt diese abgründige Tatsache, ja es gehört zu den Haupteigenschaften und Vollzü Vgl. 56,325,2 ff.: »›Vetus‹ homo Est, qualis ex Adam natus est, non secundum naturam, Sed secundum vitium nature: Natura autem bona est, sed vitium malum«; 2,728,23: »Dan die sund horet nit gantz auff, die weyl dißer leyb lebt, der ßzo gantz yn sunden empfangen ist, das sund sein natur ist«; 729,22; 730,14 ff.; 734,38; 8,77,8–18; 17 I,1,30 ff. Luther versteht unter menschlicher Natur somit ein doppeltes: einmal die gute Schöpfung und zum anderen die zur »zweiten Natur« gewordene Sünde. Um festzuhalten, dass nach Luther die Sünde nicht das Wesen des Menschen von der Schöpfung her ausmacht, ja der Sünder Geschöpf Gottes bleibt, hat Pöhlmann, Rechtfertigung, 111 u. ö, die dem simul iustus et peccator analoge Formel gebildet: »simul peccator et creatura«. 26 Sogar bis in die unbewusste Dimension des Schlafs hinein: 8,124,10–13; 39 I, 112,20– 113,5; BSLK 445,4 ff. 27 Vgl. 56,271,24–27: »Et error est, Quod hoc malum possit per opera sanari, Cum Experientia testetur, quod in quantumlibet bene operamur, relinquitur concupiscentia ista ad 25

Peccator/peccatum 445 gen der Sünde, dass sie sich verbirgt und unkenntlich macht. Es handelt sich um »Blindheit für die Sünde infolge der Sünde«!28 Es ist erst das Gesetz, ja letztlich Christus und das Evangelium, welche die Sünde offenbaren und ins Licht stellen. Sie wird in ihrer Tiefe erkannt und ertragbar nur im Horizont ihrer Vergebung und ist insofern wie diese Gegenstand des Glaubens,29 ohne dass damit eine zumindest vage empirische Verifizierbarkeit des menschlichen Sünderseins ausgeschlossen werden soll.30 So kommt es zu dem paradoxen Sachverhalt, dass gerade der Christ und die christliche Kirche, die in Christus von der Sünde freigeworden sind, eine gesteigerte Sensibilität für ihr fortwährendes Verstricktsein in die Sünde entwickeln: »Non est homo in terris, qui sic peccator sit ut Christianus: plus sentit peccatorum quam ullus homo. Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia. Quomodo haec est sancta et peccatrix? Credit remissionem peccatorum et dicit: ›Debita dimitte.‹ Hoc nemo dicit, nisi qui sit sanctus. […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscunt peccata.« (34 I, 276,6–12) Freilich übersteigt die Sünde auch bei ihnen bleibend die Dimension des Bewussten und Erkennbaren und deshalb im Bekenntnis Aussprechbaren, weil auch der Christ nicht bis in die letzten Abgründe seines Herzens hineinzuschauen vermag. Letztlich weiß darum nur Gott, das menschliche Gewissen ist hier im Letzten unzulänglich und unzuständig. Das »gute Gewissen«, das vor den Menschen und vor sich selbst durchaus im Recht ist, gilt nicht vor Gott (vgl. 1.Kor 4,4).31 malum et nemo mundus ab illa, nec infans unius diei«; 2,44,22 f.: »id peccatum est incurabile viribus hominis, nec aliquid hic valet liberum arbitrium.« 28 So Ebeling, Sündenblindheit, 285 (Hv.). Vgl. 39 I,84,10–15: »Peccatum radicale, capitale et vere mortale est incognitum hominibus in univero mundo. […] Nullus ex omnibus hominibus cogitare potuit peccatum mundi esse, Non credere in Christum Iesum crucifixum«; 39 II,276,18–24: »Natura peccati est non esse velle peccatum, hoc est vitium et pravitas naturae. […] Haec est natura peccati excusare se et dicere: Ego non feci«; 42,133,31–37; 135,23–36; 44,500,14–508,30. Dazu auch Pfleiderer, Sünde, bes. 333–340. 29 Vgl. 56,325,14 ff.; 231,5–233,4, bes. 231,8–10: »Quia sicut per fidem Iustitia Dei viuit in nobis, Ita per eandem et peccatum viuit in nobis, i. e. sola fide credendum est nos esse peccatores, Quia non est nobis manifestum«; 235,25–237,15; 31 I,147,34–148,26; 34 I,304,6–306,18; 39 I,84,10 f.; 85,13–18; 39 II,210,20–26: »Si homo sentiret magnitudinem peccati, non viveret uno momento, tantam vim habet peccatum. […] Ex quo patet, et nos non intelligere veram peccato definitionem, sed tantum simulacra et ambigua«; 365,25– 367,32; 40 II,385,22–29; 40 III,552,21–553,23; BSLK 434,8–10: »Solche Erbsunde ist so gar ein tief bose Verderbung der Natur, dass sie kein Vernunft nicht kennet, sondern muss aus der Schrift Offenbarung gegläubt werden.« Selbst wenn die Sünde erst im Licht des Evangeliums recht erkannt wird, bedeutet das für Luther keine volle Erkenntnis der Sünde, was von Seiten Gottes auch barmherzige Verhüllung ist. 30 Vgl. 39 I,85,16–86,4, bes. 85,16 ff.: »Posset tamen peccatum ab effectibus suis cognosci utcunque, Nisi ratio etiam hic esset nimium caecutiens et obiectorum tam facile oblivisceretur.« Auswirkungen des peccatum originale sind für Luther schon die Aktualsünden. Zum Ganzen siehe Ebeling, Sündenverständnis, 185 ff.; ders., Sündenblindheit, 295–301. 31 Vgl. 2,60,6–20; 7,211,24 f.: »Die zwey letzten gepott [das neunte und zehnte des De-

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1.2 Worin besteht die Ursprungssünde? Doch fragen wir nun: Worin erblickt Luther dieses peccatum originale, dieses peccatum radicale? Luther hat auf diese Frage mehrere Antworten oder eine mehrdimensionale Antwort gegeben, allerdings die verschiedenen Dimensionen des peccatum radicale nicht systematisiert bzw. in eine logisch-genetische Reihenfolge gebracht. Wie wir gesehen haben, dominiert in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 die Bestimmung des peccatum radicale als concupiscentia, während sie nur zaghafte Ansätze unternimmt, im Unglauben das die Wurzelsünde ausmachende Phänomen zu lokalisieren. Die concupiscentia ist für Luther schon in der Römerbriefvorlesung nicht nur und nicht in erster Linie die sinnlich-sexuelle Begierde, sondern eine alle Dimensionen der menschlichen Existenz, also auch den Geist umgreifende Ichsucht oder Selbstliebe bzw. Versklavung an das eigene Selbst.32 Man könnte auch von einer falschen Selbstsetzung bzw. falschen Selbstbezüglichkeit sprechen, die sich selbst zum Mittelpunkt der Welt macht und alles, auch Gott selbst, auf sich bezieht, für sich gebrauchen und nutzen will.33 »Ich such an Gott, an allen creaturn, quod mihi placet.« (40 II,325,7 f. [Hs]) Luther hat dies mit dem von Augustin übernommenen, aber des antiken Dualismus entkleideten Bild des »homo incurvatus in seipsum« artikuliert und damit zugleich zum Ausdruck gebracht, dass in dieser »Selbstverkrümmung« die Verschlossenheit und pervertierte Relationalität auf Gott und den Nächsten impliziert ist.34 Besonders kalog] horen nit in die beycht, sondern seyn tzil und mal gesetzt, da wir hyn kommen sollen […]«; 369,33–371,16; BSLK 517,20–26: »Fur Gott soll man aller Sunden sich schuld geben, auch die wir nicht erkennen, wie wir im Vater unser tun. Aber fur dem Beichtiger sollen wir allein die Sunden bekennen, die wir wissen und fühlen im Herzen«; 440,25 f.; 452,9–20; 518,121 ff. Als biblische Belege nennt Luther neben 1.Kor 4,4 oft Ps 19,13. Zum Ganzen Peters, Glaube, 181 ff. 32 56,275,22 f.: »Sed Inspice totum hominem plenum concupiscentiis.« Vgl. auch die Liste der Güter, auf die sich die verderbte Natur, die Konkupiszenz bzw. die »prudentia carnis« richtet. Sie reicht bis in höchste geistig-geistliche Sphären (361,25–362,11). Ferner 1,225,9 f. (Konkupiszenz als »fornicatio spiritus«); 7,212,4–7. Insofern kann Luther der Ineinssetzung von Erbsünde und »Zunder« beipflichten: »Peccatum illud originis Est ipse fomes, lex carnis, lex membrorum, languor nature, Tyrannus, Morbus originis.« (56,313,4 ff.) Eigenartiger Weise scheint Luther aber 7,108,34–109,2; 110,16–21; 341,29–343,2 die Konkupiszenz von Röm 7,7 als sinnlich-sexuelle libido aufzufassen und von der geistigen Selbstsucht abzuheben. 33 Kinder, Erbsünde, 43, bestimmt die Sünde als »Mittelpunktshaltung«. Vgl. 1,168,3–9 (»amor sui«, »amor dei concupiscentie«); 358,5 ff.; 57 II,41,17 f.: »Nihil est profundius in homine quam ille affectus: diligere seipsum.« 34 Vgl. 56,237,12–15; 258,8–11.26 ff.: »Si ergo nos diligenter consideremus, semper Inueniemus in nobis saltem reliquias carnis, quibus inclinamur ad nos ipsos et quibus difficiles sumus ad bonum, proni ad malum. […] facile […] est sentire, quomodo in iis [den bösen Neigungen] nos ipsos querimus et amamus, in nos ipsos inflecti et incurui affectu saltem, Vbi opere non possumus.« Zum »homo curvatus in se« siehe auch die folgende

Peccator/peccatum 447 in der Auslegung von Röm 8, anlässlich der Gegenüberstellung von »prudentia carnis« und »prudentia spiritus«, hat Luther eindrücklich diese concupiscentia beschrieben und ihr Seinwollen wie Gott luzide offengelegt.35 Es ist für ihn unter Bezug auf Röm 7,7 diese concupiscentia, welche gegen das 9. und 10. Gebot des Dekalogs »Non concupisces!« verstößt. Indem Luther mit Paulus an den Geboten die konkreten Objekte der Begierde wegläßt, macht er deutlich, dass es nicht um das falsche Streben nach einem bestimmten, gar dem sinnlich-irdischen Bereich zugehörigen Gegenstand geht, sondern eben um jene gegen Gott und den Nächsten gerichtete Ichsucht, die nicht nur hinter den offenkundigen Gebotsübertretungen und manifesten Sünden steht, sondern sich gerade auch in den moralischen Guttaten und religiös-frommen Werken versteckt und eingenistet hat.36 »Die eigentliche Versklavung des Menschen liegt jenseits unserer ethischen Existenz«, formuliert deshalb Albrecht Peters.37 Der Mensch sucht auch in ihr, ja gerade in ihr sich selbst – und nicht Gott oder das, was dem Nächsten dient. Daran wird deutlich, dass das die ganze Existenz umgreifende Moment der concupiscentia ein negativ-relationales ist, stellt es doch die Pervertierung und Unterbrechung der dem Menschen von der Schöpfung her zukommenden Relation zu Gott und dem Nächsten dar. Dabei hat die concupiscentia ausgesprochenen Suchtcharakter: Sie erhofft sich zwar von der Erlangung des begehrten Gutes die Stillung ihrer selbst, wird aber, wenn sie dieses Ziel erreicht hat, dadurch nur umso mehr entfacht und findet so niemals Befriedigung. Die Sünde ist die »Wassersucht der Seele«.38 Anm. – Augustin verstand die incurvatio des Menschen v. a. als zur Erde, d. h. zu den sinnlich-wandelbaren Dingen gerichtetes Gebeugtsein. Siehe Nygren, Simul, 369. 35 Vgl. 56,355,2–366,12, bes. 356,4 ff.: »Et hoc consonat Scripture, Que hominem describit incuruatum in se adeo, vt non tantum corporalia, Sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus quaerat. Quae curvitas est nunc naturalis, naturale vitium et naturale malum.« Siehe auch 304,25–29; 518,5 f. 36 Zur Sünde in den guten Werken vgl. 56,325,4–8: »Non autem ›vetus homo‹ tantum dicitur, quia opera carnis operatur, sed etiam magis, dum Iuste agit et sapientiam tractat ac in omnibus spiritualibus bonis se exercet, immo dum etiam ipsum Deum diligit et colit. Ratio est, Quia in omnibus fruitur donis Dei et vtitur Deo«; 56,234,22–235,25; 5,564,28–34 (zu Ps 19,13); 8,104,22–105,35, bes. 105,13–17: »Sola igitur lex ostendit, non quidem esse ista [opera bona] mala per se, cum sint dona dei, sed esse in malo usu, propter radicale illud peccatum occultissimum, quo in illis confidebant, placebant, gloriantur insensibili malo, sicut et nunc et semper facit intimum peccati malum, cum in solo deo fidendum, placen­dum et gloriandum sit.« – Luther hat in der Konkupiszenz das Haupthindernis gesehen, Gott aus ganzem Herzen und um seiner selbst willen zu lieben, worin der eigentliche Sinn des Gesetzes besteht. Vgl. 56,275,8–14: »Si autem cum et in ipsis [concupiscentiis] habitatis, iam nec legem implebitis. Quippe Lex dicit: ›Non concupisces‹, sed ›Deum diliges‹. Sed qui aliud concupiscit et diligit, nunquid Deum diligere potest? At hec concupiscentia semper in nobis est; ergo nunquam dilectio Dei in nobis est, Nisi per gratiam incepta, et reliquo concupiscentiae adhuc sanando, quo nondum ›diligimus Deum ex toto corde‹.« Zur Fokussierung des peccatum originale auf die Übertretung des »non concupisces«: 348,24–27; 356,7–13. 37 Peters, Glaube, 37. 38 Vgl. 1,362,39–363,14, bes. 362,39–363,4.9 f.: »Impossibile est enim, quod cupiditas

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Für Luther steht fest, dass die concupiscentia ein zwar nicht schöpfungsgemäßes, aber faktisches Existential des Menschen darstellt,39 das im irdischen Leben zwar in der Rechtfertigung von Gott vergeben, »nicht angerechnet« wird, von ihm nicht mehr trennt, aber, so sehr es bekämpft und geschwächt zu werden vermag, vom Menschen nicht abzulösen ist. Dies erfolgt erst im leiblichen und deshalb vom Christen ersehnten Tod als der eigentlichen »Absolution« von der Sünde.40 Insofern ist sie eben als »fleischliche« Willensrichtung neben der »geistlichen« guten Willensausrichtung auch in den guten Werken der Gerechtfertigten noch präsent und läuft gleichsam ständig mit. Da sie für Luther schon per se, d. h. nicht erst, wenn sie erneut zur Tatsünde führt, Sünde ist und bleibt – abgesehen von der Vergebung Gottes ist sie peccatum mortale –, ist der Gerechtfertigte in diesem Sinne simul iustus et peccator und semper peccator (56,235,35.38; 442,17). Durch die erneute Tatsünde, also durch den wieder auflebenden consensus zur concupiscentia, wird aus der nicht angerechneten concupiscentia wieder eine von Gott dem Menschen imputierte,41 wobei zur »Tatsünde« für Luther bereits – als willentliche Zustimmung – bewusste Entscheidungen und Entschlüsse zählen, selbst wenn sie niemals zur tathaften Ausführung gelangen. Für Luthers Verständnis der concupiscentia ist schließlich noch kennzeichnend, dass er mitunter zwischen dieser ichsüchtigen Grundbewegung selbst (motus) und ihren einzelnen Begierden und Regungen (desideria) bzw. den bösen Gedanken des Menschen differenziert.42 Luther zählt diese nicht zu den in perso-

satietur his, quae cupit, acquisitis. Sicut enim crescit amor nummi, quantum ipsa pecunia crescit, Sic hydropisis animae, quo plus bibit, plus sitit. […]. Restat ergo remedium, ut non explendo curetur, sed extinguendo.« Dazu Dieter, Luther, 121 f., 126 f. 39 Vgl. 2,44,27 ff.: »Ideo dixi essenciale [peccatum], quia per nativitatem contrahimus et manet semper, nec aliquando transit sicut actuale«; 2,64,10–13: Das 9. und 10. Gebot »gebieten die erbsund tzuuberwynden, das in dissem leben nicht mag gescheen«; 40 III,346,34 f.: »Nos omnes (David, Petrus, Paulus etc.) peccatores nascimur, vivimus, sumus et morimur.« 40 Vgl. 56,260,23–29; 321,10–13: »Sic itaque omnes Apostoli et sancti confitentur peccatum et concupiscentiam in nobis manere, donec corpus in cinerem resoluatur et aliud resuscitetur sine concupiscentia et peccato«; 6,276,10–20, bes. 17 ff.: »Dan es ist die erbsund uns vonn natur angeborn, die sich dempffen lessit, aber nit gantz ausz rotten, an durch denn leyplichen tod, der auch umb der selben nutzlich und zuwunschen ist.« 7,211,24–27; 17 I,2,6 f.: »Sic si peccatum sol her auss, oportet corpus sit mortuum«; 39 I, 95,10–22; 96,19 ff.; 98,9 ff.; 509,21–510,5. 41 Vgl. 8,96,30 ff.: »quod [illud reliquum baptismo] misericordia egeat, et natura sua malum et vitium sit, cui si consentias etiam regnare fecisti et servisti ei, ac mortaliter peccasti«; 2,414,15 f. 42 Vgl. abgesehen von den vielen Stellen, an denen Luther concupiscentia im Singular und im Plural synonym gebraucht 56,271,4 ff.: »›Passiones peccatorum‹ i. e. desyderia, affectiones et inclinationes ad peccata«; 320,23 f.26 ff.: »non consentire concupiscentiis et peccato […]. desideria peccati, que et ipsa peccatum sunt sc. originale et reliquum hereditatis paterne ex Adam«; 235,8 f.: »interior [homo] scatet plenus concupiscentiis et

Peccator/peccatum 449 naler Entscheidung stehenden Tatsünden, sondern sieht in ihnen Artikulationen oder Entfaltungen der Grundsünde, sind sie doch wie diese unwillkürlich, unvermeidlich, und doch bin ich in ihnen als Person ganz präsent und insofern schuldig und Sünder. Während die Grundsünde der Konkupiszenz als »Wassersucht der Seele« primär aus dem Inneren kommt, aus dem bösen Herzen aufsteigt, haben die konkreteren Regungen ihren Anlass mehr in einem äußeren Objekt, einer externen Stimulierung. Luther rechnet unter diese desideria (falsche) sexuelle Lust, Gedanken des Zornes oder der Rache, Geiz, Unwilligkeit und Traurigkeit, Missmut und Zweifel bzw. Unglaube gegenüber Gott.43 In gewisser Weise nehmen diese desideria eine Mittelstellung zwischen dem peccatum radicale und den peccata actualia ein. Dass Luther so häufig auf sie zu sprechen kommt, zeigt, wie sehr er das Schwergewicht auf die Sünde im »seelischen Innenraum« und nicht erst auf die nach außen tretende Tatsünde legt.44 Nach zaghaften Andeutungen in der ersten Psalmen- und Römerbriefvor­ lesung45 stellt Luther v. a. in den Schriften zu Beginn der zwanziger Jahre und dann in der Folge immer wieder den Unglauben (incredulitas) als die Grund- und Wurzelsünde heraus. So wie der Glaube in seiner Bezogenheit auf Christus die Gerechtigkeit des Menschen und die Wurzel aller guten Werke ist, so stellt der Unglaube die Ursünde des Menschen und so die Wurzel aller anderen Tatsünden dar, ja er bestimmt sogar und erst recht die Guttaten des Menschen. Denn der Unglaube ist – sozusagen in spiegelbildlicher Verkehrung des Glaubens – das Nicht-Vertrauenwollen auf Gott und sein Verheißungswort. »Ut nihil iustificat nisi fides, ita nihil peccat nisi incredulitas.« (7,231,3)46 In der Vorrede zum Römerbrief (1522) heißt es: »Und sonderlich sihet die Schrifft ins hertz, und auff die wurtzel

desyderiis contrariis«; 8,96,34 f.: »peccatum, fomes ipse naturale malum, concupiscentia, motus eius«; 110,5–8: »Peccatum semper concupiscit, sed concupiscentiae eius resistis, si non tantum motibus eius resistis, sed ipsum quoque iugulas, quod fit per donum fidei mortificantis, crucifigentis et passionibus variis exercentis veterem istum peccati hominem«; 123,36–124,12; 39 I,112,20–26: »Peccatum originale non est res quiescens, sed continua quaedam motio seu ἐντελέχεια pariens suos effectus, non est quiescens qualitas, sed inquietum malum, dies ad noctes laborat etiam in somniis.« Wie der Kontext zeigt, denkt Luther bei den effectus des peccatum originale nicht in erster Linie an die peccata actualia. Ferner 7,105,36–106,1. 43 Vgl. dazu AWA 2,185,4–189,14 (zu Ps 4,5). 44 Vgl. 40 I,524,17–31; 44,469,24–42; Althaus, Rechtfertigungslehre, 18. 45 Vgl. 56,186,21–25, bes. 22: »Iniustitia est peccatum incredulitatis«; 226,4–12; 328,29 f.; 332,2–5; 512,3–514,6 (zu Röm 14,23). Zu Belegen aus der ersten Psalmenvorlesung (1513– 15) vgl. R. Seeberg, Lehrbuch IV/1, 92. Allerdings ist für die Frühtheologie Luthers vielfach davon auszugehen, dass Unglaube Ablehnung des Gerichtsurteils Gottes über den Menschen bedeutet, so wie der Glaube die gehorsame Übernahme dieses Urteils darstellt, d. h. Glaube an die eigene Sünde ist. Vgl. Kroeger, Rechtfertigung, 49 ff., 107 f.; Batka, Peccatum, 136, 205, 266. 46 Vgl. überhaupt 7,231,4–19.

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und heuptquelle aller sünde, welche ist der Unglaube im grunde des hertzen. Also, das wie der Glaube alleine gerecht macht und den Geist und lust bringet, zu guten eusserlichen wercken, Also sündiget alleine der unglaube und bringet das Fleisch auff und lust zu bösen eusserlichen wercken.« (DB 7,7,32–8,1)47 Die Konzentration auf Glaube und Unglaube wird auch in der Disputation de veste nuptiali (1537) prägnant ausgesprochen: »Quod nos accipimus charitatem coniunctam cum fide, et quae sequitur fidem, oportet incredulitatem coniungi cum peccatis, quod est fons omnium peccatorum. Iam opera neque damnant neque salvant homines, sed incredulitas et fides. […] neque ulla peccata sunt sine incredulitate, propter quam merito damnamur.« (39 I,296,4–10)48 Anstatt die Gerechtigkeit und das Leben von Gott her zu empfangen, will der Mensch im Unglauben aus sich selbst und seinen eigenen Leistungen und Werken, aus seiner eigenen Gerechtigkeit leben. Besonders an Röm 14,23 hat Luther immer wieder diese Stellung des Unglaubens als Wurzel aller Sünde erläutert: Alles Handeln, alle Taten sind deshalb böse, wenn und weil sie nicht in der Haltung des Glaubens und Vertrauens Gott gegenüber geschehen.49 Der Glaube lebt demgegenüber aus der Gewissheit, dass die eigenen Taten Gott gefallen, weil sie wie die ganze Person unter der Vergebung und Rechtfertigung um Christi willen stehen.50 Die Taten werden mithin nach der Person bemessen, nicht umgekehrt wird die Person durch die Taten qualifiziert: »Ante omne opus vel creditur, vel non creditur.« (39 I,65,5)

Vgl. DB 7,8,2–9. Zum Unglauben als Grundsünde bzw. zur Alternative Glaube/Unglaube siehe für die zwanziger Jahre noch 6,92,21 f.; 255,15 f.; 272,18–26; 528,1 f.; 529,11–17; 7,33,10 ff.; 51,35–52,4; 62,15–26; 111,2 f.; 18,762,34–763,4; 780,18 ff. Vgl. aber schon 57 III, 19,4 f.; 151,13–18 (1516/17); 2,686,24–30; 694,2 f.; 717,33–36 (1519). Ausführlich dürfte Luther diese Konzeption erstmals 5,392–399,6 (Operationes in Psalmos, zu Ps 13 [14],1 [1520]) entwickelt haben. Einleuchtend ist Kroegers These (Rechtfertigung, 204–207), dass die Konzentration auf Glaube/Unglaube eine Folge von Luthers Entdeckung des Wortes als Verheißung darstellt. Ähnlich Batka, Peccatum, 227 ff., 265 f. 48 Vgl. für die spätere Zeit ebenso 39 I,301,15–302,12; 319,5 ff.; 400,8; 39 II,366,20–25; 31 I, 147,34–148,23; 40 I,312,31 f.: »ipsum caput serpentis, hoc est incredulitas et ignorantia Dei«; 42,111,2; 112,20 ff.; 122,12 ff.: »Radix igitur et fons peccati est incredulitas et aversio a Deo, Sicut e contra fons iustiticae et radix est fides. Et Satan primum abducit a fide ad incredulitatem«; 46,37,26–43,2: Der Unglaube als »rechte Heupt Sünde«. 49 Vgl. nur 8,591–594,41; Ebeling, Mensch, 93: »Die Sünde selbst aber ist nicht eine Untat, sondern der Unglaube.« 50 Diese dezidiert und häufig von Luther getroffene Feststellung birgt freilich zahlreiche Probleme in sich: Meint Luther hier nur solche Taten, die nach moralischen Maßstäben als gut einzustufen sind? Denn offenkundige Vergehen, auch wenn sie vergeben sind, können im Glauben doch nicht als gut und Gott wohlgefällig eingestuft werden. Ist es, besonders wenn man das simul iustus et peccator mit veranschlagt, überhaupt erforderlich, dass der Glaubende neben dem Angenommensein der eigenen Person auch auf das Angenommensein seiner Werke durch Gott vertrauen muss? Vgl. dazu Dieter, Luther, 238–241. 47

Peccator/peccatum 451 Der Unglaube stellt für Luther die Verletzung und Übertretung des ersten Gebots dar,51 das ja letztlich nichts anderes fordert, als Gott Gott sein zu lassen,52 d. h. in ihm den Geber alles Guten zu erkennen und alles von ihm empfangen zu wollen.53 Statt auf Gott zu vertrauen, sich bei ihm alles Guten zu versehen, vertraut der Mensch auf sich, seine Leistung und auf andere, vorfindliche Dinge und macht sie zu seinen Göttern und Götzen, hängt sein Herz an sie. Der Unglaube ist der eigentliche Götzendienst, ja das Selbst-Gott-Seinwollen, die »concupiscentia divinitatis«.54 Dabei ist für Luther der Unglaube als Verletzung des ersten Gebots je schon christologisch geprägt: So wie aller Glaube letztlich Glaube an Jesus Christus ist (sei es als Verheißenen oder als Gekommenen), so ist aller Unglaube Unglaube gegenüber Jesus Christus, in dem allein Gott zu allen Zeiten den Menschen heilvoll begegnet.55 In engem Zusammenhang mit dem Unglauben stehen auch die anderen von Luther mit dem peccatum radicale konnotierten Begriffe: einmal die Undankbarkeit, welche die gewährten guten Gaben nicht auf Gott als Geber zurückführt,56 weiterhin der Raub an Gottes (und des Nächsten) Ehre, insofern das Leben aus sich selbst und der eigenen Leistung sich das anmaßt,57 was allein von Gott kommt:

Vgl. 5,392,26–34; 39 I,84,22 f.: »Haec incredulitas trahit secum omnia alia peccata, cum sit primi praecepti principale peccatum.« 52 Vgl. Watson, Gottheit (englisch: Let God be God), 49–88, bes. 87. 53 Vgl. 6,211,28 ff., wo Luther von den in Unglauben und Zweifel an Gottes Huld getanen Werken sowie von der Werkgerechtigkeit sagt: »szo ists lauter triegerey, auszwendig gott geehret, ynwendig sich selb für einen abgot gesetzt.« Ferner die Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus: BSLK 560,4–572,22. 54 Vgl. Tr 1,562,19–22 (Nr. 1136; 1530–35): »Kein sunde plagt vns so seer als concupis­ centia divinitatis. Concupiscentia quidem carnis est etiam vehemens impetus et furor, sed tamen figura tantum est et nihil ad concupiscentiam seu spiritualem fornicationem«; Br 5,415,42 f. (an Georg Spalatin, 30.06.1530): »illa innata & a Diabolo in paradiso implantata nobis ambitio diuinitatis«; 1,225,1 f.9: »Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum. […] Non est in natura nisi actus concupiscentiae erga deum«; 42,647,25 ff.; 43,243,7 f. Insofern rücken Konkupiszenz und Unglaube eng zusammen und der Sündencharakter der Ersteren wird evident, weil sie aktiv gegen Gott gerichtet ist. Vgl. Wenz, Das in sich Verkehrte, 49, 53, 54 (»ungläubige Konkupiszenz«). 55 Vgl. 39 I,404,5–8: »Sed omne peccatum a principio mundi fuit incredulitas et ignorantia Christi, quia promissio de semine mulieris statim post lapsum data est, quae vulgata est per domos patrum usque ad plenitudinis temporum«; 84,14–19, bes. 14 f.: »Nullus ex omnibus hominibus cogitare potuit, peccatum mundi esse, non credere in Christum Iesum crucifixum«; 18,782,13 f. 56 Vgl. 31 I,76,16 f.: »Also ist auch undanckbarkeit, das aller schendlichst laster und die hochste unehre Gottes«; 39 I,580,13 f. 57 Vgl. 7,212,4–7: »In allen disßen wercken [gegen die zehn Gebote], sicht man nit anders, dan eygen lieb, die das yhre sucht, nympt gott was sein ist und den menschen was derselben ist, und gibt nit noch gott noch den menschen etwas von dem, das sie hatt, ißt 51

452 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Geber alles Guten und allen Lebens zu sein, schließlich der Stolz, die superbia oder praesumptio,58 deren Wesen darin besteht, dass sie von Gott nicht abhängig sein will. Luther hat all diese Begriffe, die in ihrer Gesamtheit den Menschen und auch den Christen noch als Fleisch, alten bzw. äußeren Menschen oder alten Adam kennzeichnen, nicht systematisiert, nicht in eine logisch-genetische Ordnung gebracht. Insbesondere hat er nicht geklärt, ob der concupiscentia oder dem Unglauben der sachliche Primat zukommt, zumal er oft nur von einer dieser beiden Wurzelsünden spricht, ohne die andere zu erwähnen. Vermutlich waren sie ihm die inhaltlich eng zusammenrückenden zwei Seiten einer Medaille: Das Gott-nicht-Vertrauenwollen hat zur Kehrseite das falsche Selbstseinwollen, die (falsche) Selbstliebe und Selbstsucht. Vielleicht kann man aber in Luthers Sinn auch sagen, dass das eigentliche peccatum radicale der Unglaube, das Gott-nicht-Vertrauenwollen ist, weil der Mensch aus sich selbst leben und unabhängig sein will. Da dies aber notwendig scheitert und Angst und Verzweiflung produziert – Endliches vermag den Hunger des Menschen nach einem letzten Anerkannt- und Geborgensein nicht zu stillen –, kommt es zu jener falschen Ichsucht und Ichliebe (concupiscentia), die in allem nur das Ihre sucht und sich sichern will.59

und mag, das wol Augustinus sagt: Der anfang aller sund ist die eygene seyns selbs liebe«; 18,743,2–15. 58 Vgl. 1,553,13 f.: »Nemo est certus, se non semper peccare mortaliter propter ocultissimum superbiae vitium«; 2,95,3–10; 105,2–27; 7,141,27 f.; 7,445,2 f. 59 Einen Anhaltspunkt für diese Sicht hätte man in 10 I/1,23,15–31,10 (bes. 25,12–16), wo Luther in der Auslegung von Tit 2,12 »ungöttliches Wesen« (= der Unglaube des Herzens als eigentliche Gottlosigkeit und Wurzel aller anderen Sünden) und »weltliche Begierden bzw. Lüste« (als die Sünden gegen den Nächsten und sich selbst) unterscheidet. Folgt aus der Gottlosigkeit die Weltsüchtigkeit (vgl. 29,14)? Ähnlich 5,398,30–35. – Nicht ganz klar ist der Passus über die Sünde in den Schmalkaldischen Artikeln. Luther spricht hier einerseits davon, dass durch den Ungehorsam Adams alle Sünder geworden sind, und nennt dies die »Erbsunde oder Häuptsunde«. Der Unglaube wird dann unter die Früchte der Sünde bzw. als »boses Werk« gezählt: »Solcher Sunden Fruchte sind darnach die bosen Werk, so in den zehen Geboten verboten sind als Unglaube, falscher Glaube, Abgotterei, (Mißtrau an Gott) ohn Gottesfurcht sein, Vermessenheit, verzweifeln, Blindheit und Summa: Gott nicht kennen oder achten.« (BSLK 433,12–434,5) Es folgen die Gebote nach dem ersten Gebot (erste und zweite Tafel). Wenn Luther an dieser Stelle die Verletzung des ersten Gebots im Unglauben unter die Früchte der Erb- bzw. Hauptsünde zählt, worin besteht diese dann selbst? In der ersten Sünde Adams als Ungehorsam gegen Gott bzw. dem daraus folgenden Ungehorsam aller Menschen? Dann wäre hier der Ungehorsam als peccatum principale dem Unglauben noch vorgeordnet – oder liegt einfach eine terminologische Ungenauigkeit vor? Vgl. Führer, Artikel, 190.

Peccator/peccatum 453

1.3 peccatum regnans – peccatum regnatum So sehr Luther die inhaltliche Identität der Sünde beim Getauften und Nichtgetauften, beim Christen und Nichtchristen, Glaubenden und Nichtglaubenden betont – sie bleibt, wie er sagt, ihrer »Substanz« nach dieselbe –,60 ja so sehr nach seiner Ansicht gerade der Christ das Wirken der Sünde an und in sich erfährt, weil er ihr widersteht, so stellt Luther doch andererseits heraus, dass die Sünde durch Taufe und Rechtfertigung nun in einem anderen Kraftfeld, in einer anderen Relation steht, die sie zutiefst verwandeln und in ihrer Wirkmächtigkeit beschränken. Vor der Taufe ist die Sünde peccatum regnans, d. h. sie beherrscht den Menschen, tobt sich in ihm aus und verdammt ihn vor Gott. Sie ist – so könnte man sagen – volle Realität und gilt vor Gott. Nach der Taufe ist sie für Luther peccatum regnatum, beherrschte Sünde.61 Christus hat sie durch sein Erlösungswerk in Kreuz und Auferstehung entmachtet, d. h. v. a. ihrer von Gott trennenden, vor ihm verdammenden Wirkung beraubt, und ihr so gleichsam »die Lebensader durchschnitten«62. Kraft der Einwohnung Christi im Glauben und der Gabe des Heiligen Geistes bekämpft der Glaubende nun selbst die Sünde. Er stimmt dem bösen Begehren nicht mehr zu (non consentit) und lässt es nicht zur bösen Tat kommen. Das Böse wird – wie Luther von Röm 7 her formuliert – »getan«, aber nicht »vollbracht«, oder mit 1. Joh ausgedrückt: Der Christ hat Sünde (im Sinne der Konkupiszenz), aber er sündigt nicht, weil er ihr nicht nachgibt.63 Die Sünde ist zwar peccatum remanens und reliquum, aber peccatum remissum und peccatum pugnatum.64 Sie ist zwar noch (wenngleich schon geminderte) Realität, scheidet aber nicht mehr vom ewigen Leben und wird »ausgefegt«.65 Für Luther ist folglich das peccatum remanens sowohl So Luther v. a. im Antilatomus. Dazu oben Teil I, Kap. 4.3 und Kap. 5.3. Vgl. auch 2,414,12–21. 61 Zu dieser Unterscheidung siehe Teil I, Kapitel 4.2. 62 So Hermann, These, 53. 63 So 2,592,6–21 unter Bezugnahme auf 1.Joh 1,8; 3,9; 5,18 und Augustinus. 64 Vgl. 40 II,350,30–358,26: Das »peccatum remissum« ist als »peccatum reliquum« das »peccatum lavandum« (352,9 f. [Hs]: »Peccatum est duplex apud Christianos: Remissum peccatum et lavandum«; 557,5 [Hs]: »mundandum et purgandum«); vgl. 354,15 [Hs]: »Nunc restat, ut pugnem.« Ferner 8,57,8–31 (zu Joh 13,10). 65 Dazu bes. 49,94,23–95,39, bes. 95,1–9: »Peccata omnia remissa secundum gratiam, omnia ablata i. e. Deus non vult imputare, sed secundum ausfegen sinds noch nicht gar weg etc. Si credo in eum, penitus purus ad gratiam. Sed peccatum nondum ausgefegt, quia Christiani adhuc sunt infirmi, ut vides in Apostolis, quam gebrechlich sie gewest sind. […] Das ausfegen wehret bis in die gruben. Remissio peccatorum fit in momento, quando fide arripis verbum, nimpt nicht zeit und weile, si credis, es beatus, ja, secundum remissionem peccatorum«; 41,649,25–39, bes. 25–28.31 ff.: »Christianus ist im stand, quod si etiam non ehebricht, tamen est in corde nostra contra 1. praeceptum et tabulam, quod non diligit deum, non placent eius verba et opera nec erga proximum. Hoc displicet et nunquam cessat ista impuritas. […] Sed non dimitto ei [peccato originali] imperium, non las wuten contra spem, ut desperem, non ut praesumam, stoltz et hoffärtig contra deum et proximum, sed lege im kampff.« 60

454 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

mit einem statischen als auch einem dynamischen Moment verbunden: Die Sünde bleibt als Realität zwar zeitlebens bestehen, der Kampf gegen sie hört erst im Tod auf und insofern kommt der Christ irdisch über das simul iustus et peccator nicht hinaus. Dennoch wird die Sünde wirklich bekämpft, in ihrer Realität angegriffen und ihre Wirkmächtigkeit eingeschränkt. Sie vermag sich nicht mehr zwischen Gott und den Menschen zu stellen. Insofern sind die beiden Begriffe iustus und peccator in der Formel keine gleichsam paritätischen Begriffe, sondern es besteht zwischen ihnen ein dynamisches Gefälle.66

1.4 peccatum/crimen Bei der Ausarbeitung seines radikalisierten Sündenverständnisses hat Luther einerseits die traditionelle Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden (peccatum mortale – peccatum veniale) im Sinne einer materialen Unterscheidung von Sünden überwinden müssen.67 Denn theologisch, coram deo, ist die Verfasstheit der Person, ob sie glaubt oder nicht, entscheidend, und von daher werden ihre Taten qualifiziert. Deshalb ist jede Sünde, wenn sie Ausdruck der nichtglaubenden Person und Manifestation des peccatum radicale ist, coram deo eine Todsünde, ohne dass ethische Graduierungen der Sünde damit bestritten werden sollen. Und im Glauben ist jede Sünde, sei sie noch so groß, vergeben.68 Andererseits findet sich bei Luther schon sehr früh der Satz, dass der Glaube nicht mit einer Todsünde oder einem crimen bzw. delictum zusammen bestehen kann.69 Und später hat er deutlich zwischen peccatum und crimen unterschieden. Pec Nach Pinomaa, Die Heiligen, 144 f., gilt dialektisch: »Der Christ darf nicht in seinen Sünden verbleiben, und: Der Christ ist immer ein Sünder.« Ferner Iwand, Glaubensgerechtigkeit, 41; Ebeling, Lutherstudien II/3, 536 f.: »Die primitiae spiritus ringen mit den reliquiae peccati. Jedoch nicht in einem abstrakten Gleichgewicht.« 67 Vgl. 56,289,14 f.20 f.: »Ex quo patet, Quod nullum est peccatum Veniale ex substantia et natura sua […]; fit ergo Veniale per misericordiam Dei non imputantis, propter fidem et gemitum pro ista imperfectione in Christo suscepta«; 39 II,225,7–12: »Omne peccatum sua natura est mortale. […] Peccatum est peccatum, hoc non est dubium. Sed duae species sunt faciendae. Sanctorum peccatum remissum est, quod non nocet, sed impoenitentum non remissum dicitur, quod nocet«; 2,416,10–13; 417,7–13; 731,18 ff. 68 Vgl. 40 II,95,26–96,16, bes. 96,7–14: »Qui credit idem et aeque magnum peccatum habet, ut incredulus. Credenti tamen illud condonatur et non imputatur. Incredulo retinetur et imputatur. Huic veniale, illi mortale est, Non propter differentiam peccatorum, quod credentis peccatum minus, increduli maius sit, sed personarum. Credens enim novit peccatum sibi remissum esse propter Christum, qui morte sua expiavit. Itaque peccatum habens et peccans tamen manet pius. Contra incredulus peccans manet impius.« Luther spricht hier primär vom peccatum remanens, nicht von der Tatsünde. 69 Vgl. 9,72,4 f.; 90,23–26; 2,424,5 f.; 425,39 f.: »Tercius error impiissimus, quod [Eccius] fidem non tolli crimine dicit, cum fides sit iustitia, crimen autem contrarium, iniustitia«; 426,12–16. Für die spätere Zeit: 39 I,45,5 f.; 318,6; 40 I,228,31 ff.: »Quare fides christiana 66

Peccator/peccatum 455 catum ist ihm dann die stets vorhandene und unvermeidbare Grundsünde, die im Glauben nicht angerechnet wird, aber auch jedes leichte Vergehen bzw. jedes Vergehen aus Schwäche, das der Glaube sozusagen immer schon auffängt und trägt. Crimina sind dagegen grobe Kapitalvergehen oder »öffentliche Sünden« wie etwa Ehebruch, Mord, Betrug oder Wucher, die für Luther automatisch eine Verleugnung des Glaubens (»Abtreten vom Glauben«), also den Unglauben bzw. den Verlust des Heiligen Geistes implizieren, so dass man folglich aus dem Christenstand und d. h. aus dem Status des simul iustus et peccator herausfällt.70 Denn ohne Glauben steht die Sünde nicht unter der vergebenden Barmherzigkeit Gottes. Luther nimmt somit, ohne einer erneuten Moralisierung des Sündenbegriffs zu verfallen (die Alternative Glaube/Unglaube bleibt entscheidend), in modifizierter Form die Differenzierung zwischen peccatum veniale und peccatum mortale wieder auf: Die Dimension des coram deo wird von schweren Vergehen auf der ethischen Ebene berührt! Man hätte das simul im Sinne Luthers daher missverstanden, ja missbraucht, wenn man damit gleichsam schwere Vergehen von Christen abdeckte, verharmloste oder rechtfertigte. In solchen Fällen ist nach seiner Auffassung nur durch ernsthafte, öffentlich erkennbare Buße als Rückkehr zu Glaube und Evangelium der Stand des simul wieder erreichbar, ohne dass non est otiosa qualitas vel vacua siliqua in corde quae possit existere in peccato mortali, donec charitas accedat et eam vivificet«; 40 II,34,15 f.; 35,14–19. 70 Vgl. BSLK 448,19–29: »Darümb so ist vonnöten, zu wissen und zu lehren, dass, wo die heiligen Leute über das, so sie die Erbsünde noch haben und fühlen, dawider auch täglich büßen und streiten, etwa in offentliche Sunde fallen als David in Ehebruch, Mord und Gottslästerung, dass alsdenn der Glaube und Geist weg ist; denn der heilige Geist lässt die Sünde nicht walten und überhand gewinnen, dass sie vollnbracht werde, sondern steuret und wehret, dass sie nicht muss tun, was sie will. Tun sie aber, was sie will, so ist der heilige Geist und Glaube nicht dabei.« Ferner 39 I,91,12–93,16, bes. 92,17–22: »Nam illi, qui gloriantur, se esse christianos et hanc fidem non ostendunt istis operibus […], sed perseverant adhuc et vivunt in apertis peccatis, scortatione, adulterio, nihil minus sunt quam christiani. Nam christianus ostendit suam vitam et se factum esse christianum dilectione et bonis operibus, et vitia omnia fugit«; 249,8–19: »Si iustus peccat contra legem, est desciscere et deficere a fide et a misericordia et tunc non est amplius iustus, quia impossibile est aliquem peccare contra legem, nisi praevaricatus fuerit contra Deum, de fide et misericordia desciverit. Quod si quis ex infirmitate labatur et praeoccupatus fuerit a sathana (ut sunt plerumque peccata sanctorum), tegitur peccatum et non imputatur ei propter Christum«; 292,5–294,2; 39 II,245,30–35; 6,215,17–23; 15,508,35–509,4; 17 II,210,12–212,30, bes. 210,15–19: »Das ist dürr abgesagt, das der eyn Heyde sey unter Christlichem namen, der des glaubens frucht nicht beweyset […]. Ein hurer hat den glauben verleuckt. Ein unreyner hat den glauben verleuckt. Ein geytziger hat den glauben verleuckt, und sind alle abtruennige, meyneydige und trewlos an Gott worden«; 212,6–10: »Und [der Apostel] heyst sie kinder des unglaubens, das ist so viel gesagt: Sie sind vom glauben getretten und abgefallen. Das wyr hiraus sehen und lernen, wer den glauben mit der that nicht beweyset, der gillt eben so viel als eyn Heyde, ia er ist erger denn eyn Heyde, nemlich eyn verleuckter Christ und abtruenniger vom glauben.« Siehe auch die Auslegung von Gal 5,19 in 40 II,100,11–109,20.

456 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

hierbei allerdings von Seiten der Kirche übergroße Strenge angebracht wäre.71 Sie darf indessen bei »offenbärlichen halsstarrigen Sündern« einen Ausschluss vom Abendmahl als dem »rechten christlichen Bann« durchaus in Erwägung ziehen – »bis sie sich bessern und die Sunde meiden« (BSLK 457,1–4). Das simul bezieht sich – so kann erneut resümiert werden – primär auf das peccatum radicale, nicht auf das peccatum actuale.72 Der simul peccator ist kein impius bzw. iniquus (mehr) (56,278,11–16; 1,86,39)!

1.5 Die Ursprungssünde zeigt sich in Tatsünden Diese Überlegungen lassen ein letztes wichtiges Moment erkennen: Ingesamt wird man vom Sündenverständnis Luthers sagen können, dass es das Gewicht auf die geistliche Dimension der Sünde, d. h. auf die am Unglauben und der concupiscentia festgemachte Grundsünde legt. Man könnte auch formulieren: Luthers Hamartiologie konzentriert sich auf die erste, das Gottesverhältnis betreffende Tafel des Dekalogs und hier speziell auf das erste Gebot. So hat er provozierend die Behauptung vertreten, dass Stolz und Hochmut gegen Gott schlimmer seien als Totschlag und Ehebruch.73 Diese spezifische Akzentuierung Luthers hat historisch gesehen ihren Anlass an der katholischen Abschwächung des peccatum originale und der damit verbundenen Konzentration der Buße auf die Aktualsünden. Luther hat demgegenüber noch in den Antinomerdisputationen betont, dass die Buße sich nicht nur auf die Aktualsünden, sondern wesentlich auch auf die allen Aktualsün Denn sie weiß um die bleibende Versuchlichkeit auch des Christen, die mitunter so stark sein kann, dass der Mensch fast zwanghaft »von einem Fall übereilt« (Gal 6,1) und die Schuld auf ein Minimum reduziert wird (»ut relinquatur homini pene nihil [culpae]«: 40 II,139,1). Daraus entspringt für Luther ein solidarischer Umgang der Gemeinde mit dem Sünder, ohne damit seine Sünde zu rechtfertigen: »Non est peccatum, quod fecit homo, quod non alter [possit facere].« (142,19 [Hs]) Vgl. insgesamt 138,21–147,25 (zu Gal 6,1 f.). 72 Es finden sich bei Luther allerdings auch Aussagen, wo er, um die Kraft der Glaubensgerechtigkeit und ihrer Sündenvergebung zu akzentuieren, paradox von der möglichen Simultaneität der schweren Tatsünde zu sprechen scheint. Vgl. 2,45,9; 7,219,17–22; 6,529,11–15: »Ita vides, quam dives sit homo Christianus sive baptisatus, qui etiam volens non potest perdere salutem suam quantiscunque peccatis, nisi nolit credere. Nulla enim peccata eum possunt damnare, nisi sola incredulitas: caetera omnia, si redeat fides vel stat fides in promissionem divinam baptisato factam, in momento absorbentur per eandem fidem.« Hier ist aber zumindest angedeutet, dass mit einer schweren Tatsünde eben auch der Glaube erlischt, weil der Unglaube Platz greift (»si redeat vel stat fides«: »redeat« bezöge sich dann auf das crimen im engeren Sinn, »stat« auf ein leichteres Vergehen). In diesem Sinne auch 6,528,13–16; 7,231,18: »Si in fide fieri posset adulterium, peccatum non esset.« Dies ist aber unmöglich, weil dann ebenfalls der Glaube erloschen wäre. 73 Vgl. 6,220,28–33. Neben der Verzweiflung an Gottes Barmherzigkeit ist für Luther der Hochmut die schlimmste Sünde. Vgl. 39 I,28–37; 428,19–429,1; 581,4–7. 71

Peccator/peccatum 457 den zugrundeliegende Wurzelsünde zu richten habe und gerade deshalb nicht nur eine punktuelle, sondern lebenslange Aufgabe sei.74 Wer in der rechten Weise seine Tatsünden bedenkt, der wird dadurch zu ihrer »Tiefendimension« geführt, der erkennt in allen Sünden das bleibende Sündersein – so wie es König David am Ehebruch mit Batseba und dem Mord an Uria aufgegangen ist.75 Luther kann des Weiteren darauf insistieren, dass die Christen Sünder wären, auch wenn sie keine Tatsünden begangen hätten, weil selbst in diesem hypothetischen Fall – bis in ihre guten Werke hinein – immer noch die Wurzelsünde aktiv wäre.76 Dennoch war es nicht Luthers Absicht, das peccatum radicale und die peccata actualia voneinander zu trennen und zu isolieren. Faktisch ist eben doch – auch bei den Christen – das peccatum originale nicht ohne peccata actualia denkbar, 77 denn Ersteres sucht ständig neue Betätigungsfelder und Erscheinungsformen im Leben des Menschen. Auch Luthers Aufspüren des peccatum originale gerade in den ethischen und geistlichen Guttaten führt letztlich nicht zum Übersehen oder Abschwächen der Tatsünde in den leiblich-sozialen Bezügen des menschlichen Lebens.78

Vgl. nur 39 I,350,16–39, bes. 38 f.: »Imo nullum actuale peccatum [sancti] allegant, et tamen miserabiliter clamant et petunt gratiam, ut est in psalmis videre«; 394,13–395,4; 395,25–399,16 f. Siehe schon 11,90,35–91,3. 75 Vgl. 40 II,321,33–322,27. Zur Erbsünde als »Tiefendimension« der Aktualsünden siehe Kinder, Erbsünde, 37; Führer, Artikel, 199. 76 So 56,231,6 ff.: »Etsi nullum peccatum in nobis agnoscamus, Credere tamen oportet, quod sumus peccatores. Vnde Apostolus: ›Nihil mihi conscius sum, Sed non in hoc Iustificatus sum‹«; 40 II,339,34 ff. Die Berufung auf 1.Kor 4,4 geschieht bei Luther oft in diesem Sinn: Der Christ, ja selbst Paulus, kann sich durchaus ehrlicherweise keiner Sünde bewusst sein, »ein gutes Gewissen haben« und coram hominibus bestehen, aber wegen der Grundsünde der Konkupiszenz und des Unglaubens, die sich selbst in seinem Guten noch findet, ist er deshalb vor Gott nicht gerechtfertigt, sondern Sünder. Seine Rechtfertigung coram deo ist allein Christus! Vgl. 8,80,9–81,26. 77 Vgl. 56,283,6 f.: »Cum sit impossibile omni actuali [peccato] carere, quamdiu illud radicale permanet et originale«; 7,110,34 f.: »ego per impossibile posui, Fomitem esse posse sine peccato actuali«; 111,2 f.: »Fomes […], qui origo vivacissima et inquietissima actualium peccatorum est.« – Dass Luther bei aller Akzentuierung der Grundsünde die Tatsünde nicht ausblendet, zeigen auch seine Versuche, die hebräischen Synonyme für Sünde in Ps 31,1, f. (Parallelismus membrorum) mit eigenen Bedeutungen zu versehen: 56,277,5–20; 283,12–286,10; 290,1–14. Neben Awon (für Luther iniustitia und iniquitas, die auch im Guten präsent ist) und Rascha (nach Luther impietas im Sinne der hochmütigen Eigengerechtigkeit) werden pescha für crimen, d. h. für das peccatum actuale, und Hatta für das peccatum radicale reserviert. Dazu Pesch, Simul, 151 f.12 78 Vgl. 40 II,321,33–36: »Ergo, etsi Psalmus [sc. 51] loquitur de tota natura peccati et fonte, non tamen excludimus historiam, quam ostendit titulus, nempe adulterium et caedam Uriae. Nam in his peccatis videt David ceu in speculo totius naturae impuritatem.« – Dass zumindest beim frühen Luther die Gefahr einer Abschwächung der leiblich-sozialen Seite der Sünde angesichts ihrer starken Konzentration auf das Gottesverhältnis gegeben ist, zeigt die provokante Disputationsthese 7,231,18 (zit. Anm. 72). 74

458 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Seine zeitlebens festgehaltene Hochschätzung der Beichte ist ein eindeutiges Indiz dafür.79 Christian Schulken hat herausgearbeitet, dass die gegenteilige Tendenz gerade bei Luthers Freund und späterem antinomistischen Gegner Johann Agricola zu beobachten ist.80 Seine These, dass die Christen ausschließlich durch das Evangelium, die »violatio filii« und eben nicht durch das Gesetz bzw. den Dekalog zur Buße und Erkenntnis ihrer Sünde zu führen seien, hat zur Kehrseite eine Engführung des Sündenverständnisses auf deren geistliche Dimension, konkret: den Unglauben gegenüber dem Sohn und die Werkgerechtigkeit. Dagegen verblasst bei Agricola die kreatürlich-leibliche bzw. soziale Dimension der Sünde. Das peccatum radicale wird nicht in die Konkretheit der peccata actualia hinein entfaltet bzw. dort aufgespürt. Bei Agricola wird das Insistieren auf der einen Hauptsünde zur – wie Schulken mit einem Hegel-Wort formuliert –81 »leeren Tiefe der Sünde«, weil sie deren »Weite« nicht in den Blick bekommt. Demgegenüber sei bei Luther82 – bei aller Konzentration auf das erste Gebot bzw. die erste Dekalogstafel, wie sie etwa im »Sermon von den guten Werken« vorliege – je später je mehr der Blick für die »Weite der Sünde« gegeben, was Schulken etwa in den Dekalogsauslegungen der Katechismen oder in den Predigten über die Antithesen der Bergpredigt hervortreten sieht. Luther erkennt einerseits, dass es letztlich in aller Sünde nur um die eine Sünde geht, diese sich überall und jederzeit »wiederholt«, materialisiert, zugleich verliert er dennoch nicht deren wechselnde welthafte Konkretionen und Gestalten aus dem Blick. Und es ist gerade das vom Evangelium zu unterscheidende und ihm sachlogisch vorausgehende Gesetz, das diese Weite der Sünde allen Menschen, nicht nur den Christen, offenbart und vor Augen stellt. Der Mensch ist zwar allem zuvor Sünder, aber dies zeigt sich doch immer in konkreten Sünden!83

Vgl. nur 2,59,24–34 (Beichte »öffentlicher Todsünde«). Vgl. zum Folgenden Schulken, Lex, 150–172, bes. 166 f. 81 Vgl. Hegel, Phänomenologie, 15: »Wie es aber eine leere Breite gibt, so auch eine leere Tiefe, wie eine Extension der Substanz, die sich in endliche Mannigfaltigkeit ergießt, ohne Kraft, sie zusammenzuhalten, so eine gehaltlose Intensität, welche als lautere Kraft ohne Ausbreitung sich haltend, dasselbe ist, was Oberflächlichkeit. Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut.« 82 Vgl. Schulken, ebd., 172–202. Ferner Kinder, Erbsünde, 69–72; Echternach, Problem, 241 ff. 83 Und natürlich schon am inneren Widerstand, mit dem konkrete Sünden nicht begangen werden. – Kritisch gegenüber Luther Peters, Glaube, 249–253, bes. 253 ff., der bei Luther im Blick auf Glaube und Sünde von einer »überscharfen Konzentration auf den inwendigen Menschen« (249) spricht. So wie der Glaubende dadurch zu vereinzeln drohe, so könne die alles durchwirkende »innere Sünde« leicht illusionär-abstrakt werden und den Blick auf die konkrete böse Tat verschließen. 79

80

2 Iustus/iustitia

Luthers schonungslose Freilegung des Abgrunds menschlicher Sünde stellt keinen Selbstzweck dar, sondern erfolgt um eines Positiven willen: Er will damit der von Gott eröffneteten Gerechtigkeit den Weg bereiten und diese in ihrer Größe herausstellen.84 Dabei ist Luthers Verständnis von iustus bzw. iustitia ähnlich mehrschichtig wie seine Auffassung von peccator und peccatum, ja – wie wir sehen werden – die Differenzierungen in beiden Begriffsfeldern korrespondieren einander. Luther hat sich zur Frage der Rechtfertigung bzw. Glaubensgerechtigkeit sehr häufig, aber nicht in einer eigenen Monographie geäußert, eine geplante Arbeit »De loco iustificationis« ist über Vorentwürfe nicht hinausgekommen.85 Für die systematische Entfaltung des theologischen Gerechtigkeitsbegriffs sind – neben den späten Disputationen über Röm 3,28 (1535–37)86 vor allem die beiden frühen Sermone De triplici iustitia (1518) und De duplici iustitia (1518 oder 1519) wichtig. Dabei beschränken wir unsere Ausführungen – ähnlich wie beim Abschnitt über die Sünde – auf das für die Deutung der simul-Formel Entscheidende; eine vollständige Darstellung von Luthers Rechtfertigungslehre kann und muss hier nicht geboten werden.

2.1 Gerechtigkeit vor Gott Es ist bei Luther – die Titel der beiden Sermone zeigen es – von einem zweifachen oder dreifachen Gerechtigkeitsbegriff auszugehen, wobei die dritte Verstehensmöglichkeit, die iustitia civilis, da sie in der simul-Formel nicht gemeint ist, hier nicht berührt werden soll.87 Zunächst ist iustitia für Luther die Gerechtigkeit,

Vgl. 39 I,86,9 f.: »Ut ergo iustificatio, quantum potest fieri, magnificetur, peccatum est valde magnificandum et amplificandum.« 85 Vgl. 30 II,657–676. Dazu Seils, Konzepte. 86 Ebeling, Lutherstudien II/3, 414, vermutet, dass diese Thesenreihen die Verwirklichung der in der unvollendeten Schrift »De loco iustificationis« angezielten Absicht darstellen. 87 Die iustitia civilis bzw. iustitia coram hominibus stellt sich dem crimen entgegen, abstrahiert aber von der Stellung des Menschen coram deo. Sie dient der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und des Friedens und steht insofern im Dienst Gottes des Erhalters. Im Unterschied zur iustitia fidei ist sie eine Gerechtigkeit »ex operibus«. Luther sieht sie indessen nicht nur positiv, sondern auch negativ: Das Handeln ihr gemäß ist zumeist eigensüchtig, geschieht aus Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung und 84

460 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

»die vor Gott gilt«, also jene Gerechtigkeit, die uns coram Deo, vor dem Forum Gottes, gerecht sein lässt – und zwar ganz und total und hingeordnet auf ein endzeitliches Offenbarwerden und Sich-Verantworten-Müssen aller Menschen vor dem Schöpfer- und Richtergott.88 Sie ist von Luther in all den Formulierungen des simul intendiert, die im Sinne des Totalaspektes (totus iustus/totus peccator) auszulegen sind. Diese Gerechtigkeit ist eine imputative Gerechtigkeit, Gott hält bzw. erklärt uns für gerecht, indem er uns die vollkommene Gerechtigkeit Christi zurechnet und uns ganz mit Christus zusammensieht.89 Die imputative Gerechtigkeit hat zur Kehrseite, dass Gott uns die noch bleibende Sünde, die wirklich Sünde ist und uns abgesehen von Christus noch total bestimmt, nicht zurechnet (non-imputatio). Schon von den frühen Anfängen bis hin zur reifen Entfaltung der Theologie Luthers etwa im Großen Galaterkommentar (1531) ist die Vorstellung von der imputatio der Gerechtigkeit Christi eng verbunden mit der geheimnisvollen Einwohnung Christi in unseren Herzen durch den Glauben: »In ipsa fide Christus adest.«90 Der imputatio-Gedanke bildet deshalb mit der Vorstellung der unio cum Christo eine enge Einheit, ohne dass es sich bei Letzterer um eine mystische Verschmelzung handelte. Insofern geht es bei der Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, nicht um die abstrakt-juristische Anrechnung einer fremden Leistung, sondern darum, dass wir coram Deo kraft unserer Christusrelation und des darin implizierten »Gabentauschs«, also in Christus, wirklich gerecht, d. h. gemeinschaftsfähig und gemeinschaftstreu im Bund mit Gott sind. Diese Relation – nicht unsere noch bleibende Sünde – ist unsere eigentliche Wirklichkeit! Luther nennt diese Gerechtigkeit die iustitia natalis, originalis91, aliena oder essencialis verführt zur Selbstgerechtigkeit vor Gott und den Menschen, wird jedoch äußerlich von Gott selbst »honoriert«. Deshalb decken sich das Urteil coram hominibus und das Urteil coram deo nicht in jedem Fall, zwischen beiden kann eine große Kluft bestehen. Vgl. nur 2,43,6–44,13; 39 I,82,4–83,7; 230,7–12; 232,10–233,13. 88 Vgl. 28,368,23 f.: »Haec igitur est iustitia nostra, qua coram Deo iusti sumus, longissime extra nos, extra omnia opera et cogitationes omnes sita«; 10 I/1,343,24–344,6: Die Rechtfertigung aus dem Glauben kommt »nit mit stucken, sondern auf eynem hauffen«, »auff eyn mall, nit stucklich«; 40 II,527,8 f. (Hs): »propter eum [Christum] reputamur iusti absolute in fide.« Zur eschatologischen Orientierung der Rechtfertigung vgl. Peters, Rechtfertigung, 33 f., 55 f. 89 Vgl. 2,45,25 ff.: »Solus Christus est aeternus: ideo iusticia eius quoque aeterna est, et tamen nostra. Haec est misericordia dei patris, haec est gratia novi testamenti«; 1,140,10 ff.: »Deinde scite, quod pater misericordia sua nobis reputet iustitiam Filii sui, i. e. suam ipsius, quia eadem est iustitia Patris et Filii, eadem vita, virtus nobis donata.« Zu dieser »wunderlichen Gerechtigkeit« siehe ausführlich 46,43,2–46,26 (Zitat: 44,35).   90 40 I,229,15; vgl. 1,140,8–23 (hier die unio cum Christo eng verbunden mit der reputatio seiner Gerechtigkeit); 2,146,8–16. Vgl. Seils, Grund. 91 In der Benennung der iustitia Christi bzw. fidei als iustitia originalis liegt die Schwierigkeit, dass dieser Terminus in der theologischen Tradition für die Gerechtigkeit ante lapsum reserviert ist. Wenn Luther die iustitia fidei 2,44,32 dennoch so bezeichnet, ist wohl neben der antithetischen Parallelisierung zum peccatum originale (2,146,29 ff.) ein

Iustus/iustitia 461 und parallelisiert sie so mit dem peccatum originale: Beide ziehen wir uns nicht durch eigenes Tun, sondern durch Geburt bzw. Wiedergeburt zu.92 Die Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, ist einerseits Christusgerechtigkeit (Er ist unsere Gerechtigkeit!), andererseits aber, da Christus im Glauben ergriffen wird (»fides apprehensiva Christi«)93, Glaubensgerechtigkeit (»iustitia fidei«)94, so dass Luther auch von der Zurechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit sprechen kann.95 Dabei kommt der Glaube hierbei nicht als subjektive Qualität des Menschen in Betracht – sonst würde er in sublimer Weise wieder zu einem Werk werden –, sondern ausschließlich in seiner Relationalität, in seinem »Zugriff« auf Christus.96 Der Glaube ist als Externbezug, d. h. Christusrelation meine Gerechtigkeit und kann vor Gott bestehen, subjektiv betrachtet, als menschlicher Vollzug mit bestimmter Intensität und Stärke, ist er genauso unvollkommen wie jedes gute Werk, ja permanent mit dem Unglauben noch vermischt. Ist dies klargestellt, kann durchaus gesagt werden: So wie Luther in der Hamartiologie eine Zentrierung auf Ichsucht und Unglaube vollzieht, so nimmt er bei der Gerechtigkeit eine Fokussierung auf den Glauben vor. Wie die Sünde wesentlich falsche doppelter Gedanke leitend: Einmal stellt die iustitia imputativa die paradiesische iustitia originalis wieder her und sie ist zum anderen origo für die aus dem Glauben folgende iustitia actualis. Vgl. 2,146,16–19. An dieser Stelle geht Luther selbst davon aus, dass die iustitia imputativa an die Stelle der verlorenen iustitia originalis in Adam tritt. 92 Vgl. 2,44,14–21.32 f.; 2,45,22: »sicuti alieno peccato damnati sumus, ita aliena liberemur iusticia«; 145,7 ff.; 146,29–32. – Durch diese Parallelisierung fällt nochmals Licht auf Luthers Erbsündenlehre: Denn so wie die iustitia originalis uns von Christus durch die Neugeburt im Glauben geschenkt wird, wir sie rein passiv empfangen und sie doch die unsere ist, so kommt uns das peccatum originale allein durch die Geburt von Adam her zu und ist doch das unsere, d. h. verurteilt uns vor Gott. Die Zurechnung (imputatio) der Sünde erfolgt – analog zur Gerechtigkeit – unabhängig von ihrer Genese, so sehr wir diese Sünde dann im Leben auch »ratifizieren«. 93 39 I,45,21; vgl. 46,3 f.; 1,140,8. 94 Vgl. 2,146,8–16: »Igitur per fidem in Christum fit iustitia Christi nostra iusticia et omnia quae sunt ipsius, immo ispemet noster fit. Ideo appellat eam Apostolus iusticiam dei […]. Denique et fides talis vocatur iusticia dei. […] at qui credit in Christo, haeret in Christo, estque unum cum Christo, habens eandem iustitiam cum ipso.« Insofern gilt dann sogar: »Ideo impossibile est, quod in eo manet peccatum.« 95 Zu den drei Aspekten der imputatio bei Luther (imputatio iustitiae Christi, non-imputatio der Sünde, imputatio fidei) vgl. Rolf, Zum Herzen, passim. 96 Vgl. 10 I/1,126,14–127,6: »Bleyb nit auff dyr selb odder auff deynem glawben, kreuch inn Christum, halt dich unter seyne flugel, bleyb unter seynem deckel, laß nit deyn, sondern seyne gerechtickeyt unnd seyne gnad deyn deckell seyn. […] Sihe, das ist der rechte Christliche glawbe, der nit ynn und auff yhm selber [bleibt], wie die Naturlichen Sophisten dauon trewmen, ßondern yn Christum kreucht und unter yhn unnd durch yhn behallten wirtt«; 40 I,165,2 (Hs): »fides quae apprehendit filium dei et ornatur eo [iustificat]«; 228,33– 229,18; 233,2–5 (Hs): »Omnis Christianus die 3 schlies ynneinander: fides quae includat Christum et habet eum praesentem ut in einer Zang ein edelstein. Qui fuerit inventus tali fide apprehensi Christi, illum reputat deus iustum.« Dazu Hof, Unterscheidung.

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Selbstzentrierung ist und deshalb die pervertierte Relation zu Gott darstellt, so ist der Glaube die geheilte, neue Relationalität zu Christus und deshalb zu Gott und – sofern der Glaube gute Früchte bringt –97 auch zum Nächsten. In unserer Arbeit wurde mehrfach deutlich, dass Luther die iustitia imputativa nicht als (etwa bei der Taufe, beim Zum-Glauben-Kommen, bei der Buße oder einem Bekehrungserlebnis)98 vom Menschen empfangene Qualität oder als geschenkten Habitus versteht, sondern dass der Mensch bzw. der Christ sie immer wieder, ja jeden Tag empfängt. Der Christ vollzieht je neu den transitus von der Sünde zur Gerechtigkeit, vom anklagenden Gesetz zum freisprechenden Evangelium, vom Tod des alten zum Auferstehen des neuen Menschen.99 Bis zu seinem Lebensende ist er je neu auf die Sündenvergebung angewiesen, denn er gerät immer wieder in die Situation »vor dem Evangelium«, das es dann in neuem Glauben zu ergreifen gilt. »Remissio peccatorum non est praetereuntis operis aut actionis, sed perpetuo durantis.«100 Dieser transitus ist immer wieder total, der Mensch, der vor Gott ganz Sünder ist, wird von Gott jeweils ganz gerecht gesprochen. Es ereignet sich insofern je neu der Anfang101 bzw. umgekehrt formuliert: Ein zu Beginn des Christenlebens stehendes Bekehrungserlebnis kennt Luther nicht bzw. er kann ihm nur relativen Wert zusprechen. Dass dem so ist, wurzelt nicht oder nicht in erster Linie darin, dass der Christ immer wieder (auch schwer) aktuell sündigt, sondern darin, dass er – auch als Gerechter – Sünder ist und bleibt, durchwirkt doch die Grundsünde der Konkupiszenz und des Unglaubens selbst noch seine guten Taten.102 Dabei kommt der Taufe eine Sonderstellung zu: Insofern sie das Vgl. 8,106,4 ff.: »Et haec iustitia [fidei] peccato contraria in scripturis ferme pro intima radice accipitur, cuius fructus sunt bona opera.« Zu beachten ist freilich, dass in der Terminologie des Antilatomus die fides primär auf der Seite der iustitia actualis zu stehen kommt und der gratia und dem favor Dei gegenübergestellt wird. 98 Vgl. 2,45,5 ff.: »Haec [iustitia] fit nobis per fidem. […] Haec per baptismum confertur, haec est proprie quam Evangelium annunciat.« 99 Vgl. 2,145,14 f.: »Haec ergo iustitia datur hominibus in baptismo et omni tempore verae poenitentiae.« 100 39 I,94,37–95,1. Siehe auch 95,1–7; 98,8–11; 121,19 ff.; 125,4 f.: »Tolerantia igitur divina est remissio peccati, sub qua semper manet homo«; 122,13 f.: »Quotidie peccamus, quotidie iustificamur continenter«; 40 III,347,11–348,5, bes. 348,1 f. (Hs): »Vita mea est quotidie sub tolerantia.« 101 So Scharbau, Gerecht, 140. Ähnlich schon Holl, Religion, 93 f. 102 In der Auslegung der fünften Vaterunser-Bitte im Großen Katechismus wird als Grund für das stets neue Sprechen dieser Bitte zunächst ausgeführt, »dass wir noch täglich straucheln und zuviel tuen« (BSLK 683,6 f.). Dann aber heißt es: »Denn weil das Fleisch, darin wir täglich leben, der Art ist, dass Gott nicht trauet und gläubt und sich immerdar regt mit bösen Lüsten und Tücken, dass wir täglich mit Worten und Werken, mit Tuen und Lassen sündigen […]: So ist ohn Unterlass vonnöten, dass man hieher laufe und Trost hole, das Gewissen wiederaufzurichten. […] Summa: Wo er [Gott] nicht ohn Unterlass vergibt, so sind wir verloren.« (683,24–35; 684,7 ff.) Die Wurzel des täglichen Sündigens und der tiefste Grund steter Vergebung ist also der bleibende Ichwille, der sich primär 97

Iustus/iustitia 463 erste Aufrichten der Vergebung Gottes in Wort und gewissmachendem Zeichen über unserem Leben darstellt, vollzieht sich der je neue Transitus in Buße, Absolution und Glaube als »reditus ad baptismum«, als sich je neues Festmachen an der Taufgnade und ihrer Verheißung.103 Aus dem soeben Ausgeführten ergibt sich, dass Luther die Glaubensgerechtigkeit nicht als dem Menschen substantiell bzw. formaliter zugeeignet, nicht als Habitus oder Qualität denkt, sondern als neue Relation, als Beziehung, die Gott ihm in und durch Christus, vermittelt durch die Glauben weckende Wortverkündigung, schenkt und eröffnet. Man könnte auch sagen: Gott nimmt uns durch unsere Gemeinschaft mit Christus in die Relation zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn auf. Luther hat diesen relationalen Ansatz gegenüber dem scholastischen Substanzdenken mehrfach ausgesprochen. War bisher ontologisch die Kategorie der Substanz vorherrschend, so tritt nun die der Relation an ihre Stelle: »Ideo Christianus non est sanctus intrinsece et formaliter. Nec Sanctitas est in praedicamento substantiae sed relationis, est gratuita misericordia, simpliciter per Confessionem et agnoscentiam, quod praedicaret deum misericordem peccatoribus.« (40 II, 354,3 ff. [Hs])104 Nur in einem solch relationalen Denken ist auch das simul iustus et peccator denkbar. Denn geht man von einem substanzontologischen Ansatz aus, so muss die Gerechtigkeit des Menschen als gnadenhafte qualitas bzw. habitus an einem Subjekt konzipiert werden, was impliziert, dass der Mensch von der Sünde ganz frei ist, weil ein Zugleich gegensätzlicher Habi­ tus bzw. Status widersprüchlich ist.105 Die andere Auffassung der christlichen gegen das 1. Gebot richtet. Zur Notwendigkeit täglicher Vergebung aufgrund von täglicher Sünde vgl. noch 512,8 ff.; 514,23 f.; 516,30–38; 658,19–35. Zu beachten ist, dass Luther in seinem Beichtformular gleichwohl mit dem Fall weitgehender äußerer Tadellosigkeit rechnet: 518,46–519,9. Ferner 21,261,4–262,6, bes. 261,21 ff.: »Darumb sie [die Heiligen] auch noch teglich vergebung bedürffen, wie sie auch teglich umb derselben bleibenden gebrechen und schwacheit willen die Busse uben«; 15,531,21–532,2; 34 I,207,9–208,19. 103 Vgl. 6,572,16 f.; 535,1–16; BSLK 705,46–706,26. Dazu Ebeling, Sündenverständnis, 190: »Taufe, Buße und Rechtfertigung werden […], entsprechend dem Verständnis von Sünde, aus einzelnen biographischen Momenten und Daten zur Grundbewegung des Lebens selbst im Zeichen des Glaubens.« 104 Vgl. 39 I,96,15–21; 40 II,421,21–26; 40 III,334,23–26; 49,95,33 ff.: »In praedicamento relationis ist peccatum hinweg et per remissionem peccatorum. Non in praedicamento qualitatis i. e. stickt dir in der haut, fulest, quod geneigt ad omnia peccata«; 56,287,16–22; 8,92,3842; 106,10 f. 105 Vgl. Dieter, Luther, 136; Pesch, Theologie, 113 f.; ders. Hinführung, 217 f.; ders., Simul, 162 ff. – Nach Thomas v. Aquin gilt: »quod tota iustificatio impii originaliter consistit in gratiae infusione: per eam enim et liberum arbitrium movetur, et culpa remittitur. Gratiae autem infusio fit in instanti absque succesione. […] Sic igitur iustificatio impii fit a deo in instanti.« (STh I-II, 113,7) Geschehen sowohl Sündenvergebung als auch (vollkommene) Umwandlung des Willens in einem Augenblick, ist ein simul iustus et peccator nicht denkbar! Vgl. ebd., 113,1: »iustificatio importat transmutationem quandam de statu iniustitiae ad statum iustitiae praedictae. Et hoc modo loquimur hic de iustificatione impii.« Die

464 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Existenz, wonach der Christ um Christi willen zwar vor Gott angenommen und gerecht, in sich aber noch Sünder ist, lässt sich nur relational denken: Der Mensch steht von Gott her schon in einer neuen Relation, obwohl er in sich, seiner Qualität status werden als striktes Nacheinander, nicht als simul verstanden, ein peccator in re ist hier ausgeschlossen. – Pesch, Theologie, 526–537, 885 f., 938 f., versucht gleichwohl eine Offenheit bei Thomas für Luthers simul zu erweisen bzw. den an dieser Stelle zwischen beiden aufbrechenden Gegensatz auf ein Minimum zu reduzieren. Zunächst verweist er darauf, dass auch die thomanische Konzeption der Gnade als qualitas einen »relationalen Gehalt« besitze. Deshalb könne auch von Thomas her formuliert werden: »Zieht Gott sein personales Wirken am und im Willen des Menschen zurück, dann ist alle Verwandlung dahin. Bleibt der Mensch mit seiner Freiheit allein, dann hat er nur seine Sünde.« Insofern gelte auch für Thomas: »Nur mit Blick auf Gottes Handeln ist der Mensch gerecht, mit Blick auf sich selbst ist er Sünder.« So sehr dies für Thomas natürlich nicht in eine »dialektische Totalaussage« zu überführen sei, d. h. das Ich nicht mit beiden konträren Bezügen identifiziert werden könne, ist dennoch für Pesch zwischen Thomas und Luther hier nur ein Unterschied im »philosophischen Interpretament«, nicht aber in der »interpretierten Sache« gegeben (533 f.). Hiergegen ist einzuwenden, dass Luthers simul durch den Hinweis auf die ständige Gnadenhaftigkeit bzw. externe Gründung des neuen Lebens noch nicht voll erfasst ist, sondern darüber hinaus meint, dass im Menschen dazu stets ein Gegenwille aktuell ist, was Thomas keinesfalls zugeben kann. In der Verlängerung thomanischer Gedanken führt Pesch zweitens aus, dass der auf die Sinnlichkeit beschränkte Konkupiszenzbegriff des Thomas eigentlich von dessen eigener Anthropologie her zu erweitern sei: Die postbaptismale Konkupiszenz ist nie nur reine Sinnlichkeit, sondern immer auch Ausdruck der willentlichen Abkehr des Ich-Zentrums von Gott. Insofern wäre die bleibende Konkupiszenz immer auch die »Leibhaftigkeit einer letzten Gebrochenheit, eines letzten Mangels an Totalität in der Hingabe« an Gott, »eine gewiss resthafte, aber doch wirkliche, bleibende habituelle Sündigkeit, also ein Sündigsein am Grunde aller Taten des Gerechtfertigten« (535). So sehr diesen Überlegungen sachlich zuzustimmen ist, stellen sie doch eindeutig ein Weiterdenken des Thomas dar. Drittens kenne Thomas – so Pesch – natürlich ein »praktisches simul von Sünde und Gerechtigkeit« (536) bzw. ein partim-partim, sofern auch der Christ noch der Sündengefahr unterliegt, dem Kampf gegen die Sünde untersteht und die Gnadenwirklichkeit die Konkupiszenz allererst stufenweise überwindet, was interkonfessionell nie strittig war. Dass Thomas nicht zu einem expliziten simul gelangen kann, Luther zu ihm aber kommen muss, führt Pesch auf den Unterschied der Denkstrukturen zwischen Thomas und Luther zurück: Thomas betreibe eine sapientiale, Luther dagegen eine existentielle Theologie. Erstere beschreibe gleichsam Schöpfung, Mensch und Geschichte aus der Perspektive Gottes heraus und hier sei der Sünde nie jene Macht zuzuschreiben, wie sie das simul artikuliere. Letztere dagegen erhebe theologische Aussagen grundlegend aus der Situation des Stehens vor Gott in Gebet und Bekenntnis. Hier könne der Mensch auch als Gerechtfertigter nie anders als sich vor Gott ganz als Sünder zu bekennen (938 f.). Pesch sieht in dieser Unterscheidung theologischer »Denkstile« die von personal-relationalem und naturontologischem Ansatz impliziert. Da es sich für ihn bei sapientialer und existentieller Theologie um einen kategorialen Unterschied in der Verstehensstruktur handelt, impliziert er nicht notwendig einen letzten Gegensatz in der Sache bzw. macht wechselseitige Offenheit füreinander nicht unmöglich. Vgl. 885–956, bes. 918–956. Ferner ders., Existentiale und sapientiale Theologie, bes. 734–737. Gegenüber Pesch ist nochmals zu betonen, dass Luther mit sei-

Iustus/iustitia 465 und Substanz nach, noch Sünder ist und Sünde hat, die gleichwohl zu bekämpfen ist.106 Luther bricht somit substanzontologische Strukturen nur hinsichtlich der iustitia coram deo auf, während er die Sünde weiter als eine qualitas am Menschen, ja als dessen faktische substantia interpretiert. Bedenkt man allerdings, dass die Sünde als die »Substanz«, das postlapsarische Wesen des Menschen ebenfalls, wenn auch nicht exklusiv, relational (nämlich als Bestreitung einer Beziehung) zu verstehen ist, so impliziert die Simultaneität von Gerechtigkeit und Sünde, dass der Mensch von seiner Eigenwirklichkeit her die neue Gottesrelation (= Gerechtigkeit) im Unglauben »zugleich« immer auch bestreitet und negiert: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben!« (Mk 9,24)

2.2 Iustitia actualis Neben der Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, kennt Luther – und zwar in allen seinen Schaffensperioden – eine sanative, »effektive« oder »reale« Gerechtigkeit,107 die in der ersteren gründet und aus ihr folgt, sich aber auch stets neu an ihr fest­ machen muss. In ihr wirkt sich das, was dem Menschen von Gott her zugesprochen wurde, wie das Sonnenlicht108 in die Gesamtheit der menschlichen Person hinein aus und will von hier aus in die Welt ausstrahlen, streckt sich aber zugleich auch der eschatologischen Vollendung entgegen.109 Gottes gnädiges Urteil nem simul nicht nur eine Bekenntnisaussage, sondern auch eine ontologische Aussage trifft. Dazu Christe, Gerecht. 106 Vgl. 40 II,356,9–357,5 (Hs); 31 II,689,11–21, bes. 14–17.20 f.: »Iusti et Sancti a Christo, qui est nostra iustitia, Sanctitas, weil wir sein verbum haben, facit nos sanctos, non obstante, quod concupiscentiae manent in carne, illae obscurantur a claritate Christi. […] Ipsi Theologi machen ein qualitatem daraus.« 107 Wir setzen die letzten beiden Adjektive in Parenthese, weil sie suggerieren, als sei die sanative Gerechtigkeit allein »effektiv« bzw. »real«, die iustitia coram Deo aber nur ein Alsob. Wenn Luther hier mitunter missverständlich formuliert, ist für ihn doch die vor Gott geltende Gerechtigkeit die eigentliche, höchst »effektive« Realität. Der Begriff »sanative Gerechtigkeit« ist gegenüber »effektiv« und »real« treffender, zumal Luther explizit von von der aus der Sündenvergebung erwachsenden sanatio spricht. Vgl. nur (mit Bezug auf Lk 10,30–35) 47,661,9–666,20. 108 Vgl. 15,508,31 ff.; 30 III,576,32–577,10. 109 Vgl. 2,146,16 f.: »Et haec iustitia [Christi sive fidei] est prima, fundamentum, causa, origo omnis iustitae propriae seu actualis«; 147,7: »Haec iustitia [actualis] est opus prioris iustitiae et fructus atque sequela eiusdem«; 39 I,493,6–9. – Entsprechend dem doppelten Begriff von Gerechtigkeit gebraucht Luther auch die Begriffe »Rechtfertigung« bzw. »rechtfertigen« in einem doppelten, d. h. engeren und weiteren Sinn. »Rechtfertigung« meint einmal die Gerechterklärung des Sünders durch Gott durch Anrechnung (imputatio) der Gerechtigkeit Christi und den von dieser anhebenden und sich stets neu in ihr eingründenden Prozess der sanativen Gerechtwerdung, der erst im Eschaton vollendet ist. Vgl. 39 I,83,14–40, bes. 16 f.: »Iustificari enim hominem sentimus, nondum esse iustum, sed esse

466 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

erweist sich als schöpferisch und wirkmächtig: Die neue Geltung bei und vor Gott wird auch Sein und Tatbestand in mir. Diese Gerechtigkeit besteht vor allem im Entstehen, Bleiben und Wachsen des Glaubens und – davon abhängig – in der Bekämpfung bzw. Ausfegung der bleibenden Sünde (mortificatio carnis) sowie der liebenden Zuwendung zum Nächsten, in welcher der Christ genau das abbildlich nachvollzieht und weitergibt, was Christus an ihm getan hat.110 Ist er dabei – anders als bei der Rechtfertigung – nicht unbeteiligt,111 so ist doch auch hier der Christus in mir bzw. der Hl. Geist das eigentliche Subjekt des Streitens mit der Sünde und der Inkarnation des Glaubens in der Liebe.112 Aus diesem Grund muss auch diese werdende, einem Heilungsprozess vergleichbare Gerechtigkeit letztlich relational, d. h. von einer Beziehung abhängig, gedacht werden, ohne dass dies freilich für Luther gewisse durch Übung sich kräftigende habituelle Strukturen ausschließt.113 Nach dem neuen Menschen bzw. dem Geist (der guten Willensrichtung in ihm) tut der Glaubende spontan und frei das Gute und untersteht insofern nicht mehr dem Drohen bzw. Belohnen des Gesetzes, ist aber gleichwohl des orientierenden Hörens auf Gottes gute Weisung bedürftig. Luther nimmt auch hier wieder eine Parallelisierung vor: So wie die iustitia coram deo dem peccatum originale korrespondiert, so entspricht die sanative Gerechtigkeit oder iustitia actualis (nostra, propria) dem peccatum actuale. Beide entspringen dem ihnen zugrundeliegenden Wurzelgrund und stellen ihn nach außen hin dar. So ist die iustitia actualis, die zwar eine tathafte ist, in Taten besteht, aber letztlich nicht durch unsere Taten, sondern durch die iustitia imputiva entsteht, die äußere Manifestation der iustitia imputativa.

ipso motu seu cursu ad iustitiam«; 98,8–14; 251,7: »hic actus [iustificationis] in progressu est«; 252,8–11: »Iustificatio ergo nostra nondum est completa. Est in agendo et fieri. Es ist noch ein baw«; 40 II,532,14 f.: »Iam sumus in fieri sancti non in facto esse«; 44,775,1–11. Ebenso wie »Rechtfertigung« kann auch »Heiligung« bei Luther beide Momente (Sündenvergebung und Lebenserneuerung) umgreifen, aber auch für die sanative Seite allein stehen. Vgl. (neben den Katechismen) 50,599,5–36; 624,30–33; 643,19–26. Zum doppelten Rechtfertigungs- bzw. Gerechtigkeitsbegriff Luthers vgl. Althaus, Theologie, 197–210; Schloenbach, Heiligung, 9–18; Peters, Rechtfertigung, 38 f., 45 f., 60, 319; Lohse, Theologie, 277–280. 110 Vgl. 2,146,37–147,3 (wo auch noch »humilitas ac timor erga deum« genannt werden); 18,65,24–66,2. 111 Vgl. 2,146,36 f.: »Secunda iustitia est nostra et propria, non quod soli operemur eam, sed quod cooperemur illi primae et alienae« (Die Formulierung ist freilich synergistisch missverständlich); 6,530,16 ff.: »Est enim [fides] opus dei, non hominis […]. Caetera nobis­ cum et per nos operatur, hoc unicum in nobis et sine nobis operatur«; 18,754,1–17. Vgl. aber Prenter, »Synergismus«. 112 Vgl. nur 39 I,46,18 f.: »Iustificati autem sic gratis, tum facimus opera, imo Christus ipse in nobis facit omnia.« 113 Vgl. dazu die Belege oben 226390, ferner 39 I,431,18–432,11; 493,24–494,3; Peters, Rechtfertigung, 51 f.

Iustus/iustitia 467 Wir haben mehrfach herausgearbeitet, dass diese iustitia actualis – im Unterschied zur Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt« – immer nur eine partielle und deshalb in den Formulierungen des simul gemeint ist, die den Partialaspekt (partim – partim) ansprechen. Sie bestimmt die einzelnen »Schichten« und Dimensionen der Person quantitativ unterschiedlich, in verschiedenen Graden. Partial ist sie v. a. deswegen, weil im Menschen immer zwei Strebe- oder Willensrichtungen vorhanden sind und sich kreuzen: die aus dem Glauben resultierende gute, auf Gott und den Nächsten geöffnete, also der Geist bzw. der neue Mensch, und die aus der bleibenden Sünde entspringende böse, ichzentrierte, d. h. das Fleisch, der alte Mensch oder alte Adam. Weil diese simultan ineinanderliegen, wird auch das von Gott bzw. Christus gewirkte gute Wollen so behindert und beeinträchtigt, dass es selbst bzw. das Gesamt aus beiden Willensbewegungen coram Deo nicht bestehen kann. Die erforderte Ganzheit (totalitas) wird vor Gott nicht erbracht! Luther artikuliert dies durch den Gedanken, dass auch die guten Werke des Christen Sünde sind, wenn Gottes Barmherzigkeit sie nicht ebenso wie die Person in Christus annimmt und rechtfertigt.114 Dies heißt aber: Die sanative oder aktuale Gerechtigkeit – und dazu zählt auch der Glaube als menschlicher Vollzug – kann niemals eine Gerechtigkeit werden, »die vor Gott gilt«, sie bleibt hinter Gottes Gesetz und Willen, welche das ungeteilte menschliche Herz fordern, zurück. Mit ihr können wir – und sei sie nach menschlichen Maßstäben (wie etwa bei Paulus) noch so vollkommen – nie vor Gottes Gericht bestehen: »Nullus sanctus potest consistere sua sanctitate in iudicio Dei.« (39 I,222,5 ff.)115 »Heiligkeit« ist etwas ganz anderes als »Seligkeit« vor Gott! (26,505,18 ff.) Im Blick auf die sanative Gerechtigkeit bleiben wir folglich coram Deo toti peccatores, welche allein durch Christus vor

Vgl. nur 2,46,29–32; 39 II,238,17 f.: »Imputata autem primo iustitia et persona acceptata, mox et omnia per eandem grata sunt, virtute imputationis«; 307,12–16. 115 Vgl. 2,44,39 f., wo es von der iustitia originalis heißt: »quod sit sors, capitale, fundamentum, petra nostra et tota subsancia nostra, in qua gloriamur in aeternum«; 8,66,31 f.: »Ego docui opera nostra bona esse talia, quae iudicium dei ferre non possint«; 8,81,3 f.: »Et tamen, qui coram hominibus et conscientia sua irreprehensibiles sunt, non iustificantur coram deo in hoc, sed in alio quopiam, nempe Christo«; 39 I,234,23–236,15, bes. 235,21 f.: »Si abstuleris misericordiam, tum deficit illud initium et pars«; 255,11–19; 265,9–14; 40 II, 340,13–22 f., bes. 341,20 ff.: »omnis nostra vita est misericordia, quia tota nostra vita est peccatum nec potest opponi iudicio aut irae Dei.« – Exemplarisch ist das Ineinander und doch Unterschiedensein der beiden Gerechtigkeiten dargelegt in der Auslegung von Joh 15,2 f. (45,651,22–655,8): Der Prozess des Gereinigtwerdens und Fruchtbringens der Reben am Weinstock, d. h. der Christen an Christus, welcher im Wachsen von Glaube und Liebeswerken durch die Anfechtung hindurch besteht, begründet keine Reinheit vor Gott! Diese liegt allein und bleibend im Reingesprochenwerden durch das Wort Christi als der »rechten heubt reinigung«, welches aber je neu den Prozess des Reinwerdens konstituiert (652,22 ff.). Christliche Existenz ist deshalb eine im »Zugleich« von Reinheit und Unreinheit (653,40: »zu gleich nicht rein und doch rein«; 654,37: »zugleich rein und un­rein«). 114

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Gott bestehen können.116 Dieser Befund lässt sich irdisch nicht transzendieren, erst eschatologisch, in der Auferstehungswirklichkeit, kommt uns eine seins­ hafte, tathafte Gerechtigkeit zu, »die vor Gott gilt«: die vollendete Liebe, welche die Glaubensgerechtigkeit ablöst. Allerdings muss neben dieser strengen Beurteilung der sanativen Gerechtigkeit in loco iustificationis bei Luther auf eine Nuancierung geachtet werden: Um den biblischen Lohnverheißungen sowie der gleichfalls biblisch bezeugten Erwartung des Gerichts nach den Werken gerecht zu werden, ist von einer Relevanz der unterschiedlichen ethischen Wertigkeit der menschlichen Taten auch vor Gott, nun aber extra locum iustificationis auszugehen. Bei diesem »locus iudicii ope­ rum«117 handelt es sich darum, dass Gott – innerhalb der umschließenden Klammer der Christusgerechtigkeit – gleichsam vom strengen Maßstab seines Gerichts und vom »Tiefgang« seiner Gebote absieht und auf einer moralischen Ebene den menschlichen Taten die ihnen gebührende Beurteilung zukommen lässt. Damit wird die bleibende Sündigkeit auch »in dem besten Leben« (AWA 4,191; EG 299,2) nicht zurückgenommen, aber einer ethischen Nivellierung menschlichen Tuns vor Gott gewehrt.

2.3 Fortschritt und Wachstum und ihre Erkennbarkeit Von diesen Ergebnissen her ist es möglich, die verschiedenen Aussagen Luthers über den sich auf der Ebene der iustitia actualis einstellenden Progressus unvoreingenommen zur Kenntnis zu nehmen und einzuordnen.118 Den sich je neu ereignenden transitus im Hintergrund (dem totus peccator spricht Gott das totus ius-

Vgl. Althaus, Rechtfertigungslehre, 10: »Daher ist die justificatio als Urteil Gottes immer wieder allein der Grund, auf dem wir stehen, am letzten Tage des Christenlebens so gut wie am ersten. […] Was von dem neuen Sein in uns schon angebrochen ist, kommt für Gottes Totalurteil nicht in Betracht.« Ferner ebd., 29 ff. 117 So Modalsli, Gericht, 55 u. ö. 118 Ein einschlägiger Text ist hierfür das »Evangelium von den zehn Aussätzigen« (1521), 8,340–397, bes. 354,7–386,14. Zur Rechtfertigung als sanativer Weg und Prozess vgl. nur 7,337,30–35 (bzw. 107,7–13): »Das also ditz lebenn nit ist eyn frumkeytt szondern eyn frum werden: nit eyn gesuntheit, szondernn ein gesunt werden: nit eyn weszen ßunderen eyn werden: nit eyn ruge szondernn eyn ubunge. Wyr seyns noch nit, wyr werdens aber. Es ist noch nit gethan unnd geschehenn, es ist aber ym gang und schwanck. Es ist nit das end, es ist aber der weg, es gluwet und glintzt noch nit alles, es fegt sich aber allesz«; BSLK 659,1–31; 704,19–705,39. – Neben Lk 10,33–35 zitiert Luther für das sanative Gerechtwerden oft Jak 1,18. Nach der vorhergehenden Zitation von Lk 10,33 f. und vor der folgenden von Mt 13,33 (zum Beleg dafür, dass auch nach der Taufe noch Sünde bleibt) heißt es 7,337,16–25: »Denn er [der Samariter] macht yhn [den halblebendigen Menschen] nit auff eynmal gantz gesund, alszo wyr auch durch die tauff odder busz werden nit gantz gesund, 116

Iustus/iustitia 469 tus zu) kann Luther durchaus mit einem nach außen hin sichtbaren »Fortschritt« bei der Heiligung rechnen, er kann den Werdecharakter des christlichen Lebens betonen, ohne dass dies bedeutete, dass der Christ damit seine Christus- und Glaubensgerechtigkeit »abarbeiten« und sich auf eine eigene Gerechtigkeit vor Gott stützen könnte. Alles empirisch Wahrnehmbare bleibt ja (auch gegen mein Wissen und Wollen) buchstäblich ambivalent, zweideutig119, weil, wenn auch graduell unterschiedlich, von zwei konträren Streberichtungen (Fleisch und Geist) simultan bestimmt, und vermag deshalb nie als Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, zu stehen zu kommen. All unsere reale Gerechtigkeit ist hienieden nie unsere reale Gerechtigkeit coram Deo, diese ist allein Christus! Der so von möglichen Missverständnissen abgegrenzte Progressus liegt für Luther primär im Wachsen des Glaubens,120 dessen Wesen gerade darin besteht, ganz auf Gott und nicht auf sich selbst und das eigene Tun zu vertrauen. Der Glaube erkennt immer mehr, wie sehr er auf Gott angewiesen ist und es mit allem »Eigenen«, mit mir selbst nichts ist.121 Der »Fortschritt« besteht weiterhin im Gekreuzigtwerden und Sterszondern werden angefangen und vorbunden mit der ersten gnade, das wyr teglich mehr und mehr heilen und gesund werden. Darumb sanct Jacob spricht, Jaco. i. ›Got hat unsz geporen durch sein wort ausz lautter gnedigem willen on unszer vordienst, auff das wyr eyn anfang seyen seynes wercks odder creaturn‹, alsz solt er sagen, wyr sein ein angefangen werck gottis, aber noch nit volnbracht, die weil wyr hie auff erden yn dem glawben seins worts lebenn. Nach dem tod aber werdenn wyr volkommen sein ein goltlich werck on alle sund und gebrechen.« Vgl. 7,111,8–11: »ut vere dixit S. Iacobus, Nos esse initium creaturae dei, nondum complementum, partim iusti, partim peccatores, hoc uno salvi et ab impiis discreti, quod peccatum agnoscimus, confitemur et expugnemus, cui illi potius obediunt.« Zu Luthers Verständnis von Jak 1,18 vgl. Haar, Initium, der allerdings das sanative Moment bei Luther im Anschluss an Hermann unterschätzt bzw. als »fortschreitende Perfektionierung« abqualifiziert und auf die je neue Gründung im Rechtfertigungsglauben bzw. das je neue, der eschatologischen Vollendung entgegenführende Kommen Christi zu uns reduziert. Vgl. ebd., bes. 80–100, 116. 119 Das in diesem Sinne »zweideutige« christliche Leben ist aber von der Heuchelei streng abzugrenzen, so sehr auch empirisch die Scheidung schwerfallen mag. Denn bei der Heuchelei dominieren das »Fleisch«, die Sünde bzw. der Unglaube im Menschen, laufen also nicht einfach als beherrschte nur mit, aber der Mensch gibt nach außen etwas anderes vor. Der »christliche Heuchler« fällt also aus dem simul ganz heraus. Vgl. Joest, Paulus, 303 f. 120 Schloenbach, Heiligung, differenziert zwischen dem rein zeitlichen Fortschreiten des Glaubens (de die in diem), in dem dieser im Kampf gegen die Sünde und im je neuen Fliehen zu Christus Glaube bleibt (19–33), und dem Fortschreiten im Sinne des Wachsens und Zunehmens des Glaubens (de die in diem magis ac magis; 34–62). »Fortschritt bedeutet nach Luther entweder a) Bleiben oder b) Bleiben plus Wachsen.« (38) Diese Duplizität lässt sich durchgängig in der Auslegung von Lk 17,11–19 erkennen. Vgl. 8,366,16–23; 368,1–6.22–25; 369,20–370,15; 370,30–34; 371,8; 373,8 f.; 375,13–20; 376,4 ff.; 378,2 ff.8 f.; 379,16; 385,10–15; 385,33–386,1; 386,12 f. 121 Vgl. 56,173,7–13 (zu Röm 1,17): »Ideoque sensus Videtur esse, Quod Iustitia Dei sit ex fide totaliter, ita tamen, quod proficiendo non venit in speciem, Sed semper in clariorem fidem […], semper magis ac magis credendo, Vt ›qui Iustus est, Iustificetur adhuc‹, ne quis

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ben des alten, auf sich selbst »zurückgekrümmten« Menschen122 sowie schließlich in der Selbstvergessenheit der Liebe. Von daher ist eine Selbstreflexion auf den Progressus im christlichen Leben als etwas bei mir objektiv Konstatierbares, mir als Eigenleistung Zuzurechnendes unmöglich. Mit dem Blick, dem »Reflex« auf sich selbst schaute der Christ von Gott, Christus und dem Mitmenschen weg und vollzöge somit gerade das, was das Wesen der Sünde ausmacht: dass der Mensch sich nicht nach Gott ausstreckt und dem Nächsten dient, sondern auf sich selbst zurückkrümmt (»homo curvatus in se«). Jenes sehr wohl mögliche Wachsen in Glaube und Liebe ist dort zerstört, wo ich darauf als eigenes reflektiere, damit selbst etwas sein will, anstatt es selbstvergessen, »selbstlos« zu vollziehen.123 Eine »Reflexion« des Christen auf sein Fortschreiten ist allenfalls in dem Sinne möglich, ja notwendig, dass er dadurch seiner Sünde und seines Zurückbleibens hinter dem Geforderten ansichtig wird, ihm also aufgeht, wie sehr er noch unterwegs und nicht am Ziel ist: »Quare, qui coepit esse Christianus, hoc restat, ut cogitet se nondum esse Christianum, sed querere, ut fiat Christianus.«124 Dennoch darf Luther nicht so verstanden werden, als ob er damit die völlige Unsichtbarkeit und Unerkennbarkeit des neuen Lebens und seines Wachsens für andere und einen selbst behaupten würde. Dem widerspricht schon die von ihm wiederholt vorgetragene These, dass der allein rechtfertigende Glaube sich an der Liebe erweise und kenntlich mache, dass die guten Werke den Glauben und Rechtfertigungsstand des Menschen manifest und gewiss machen.125 Dies

statim arbitretur se apprehendisse et ita desinat proficere i. e. incipiat deficere«; 486,5–14: »Ideo Bene Apostolus Christianis loquens exhortatur, vt surgant, cum tamen non essent Christiani, nisi surrexissent, Sed quia stare in via Dei, hoc est retrocedere, Et proficere, hoc est semper a nouo incipere. […] Qui se putat apprehendisse et incepisse, nescit, quomodo oporteat eum incipere«; 9,107,30 f.: »Divina solet pietas ordinare, ut quanto quis plus proficit, eo minus se reputet proficisse.« Ähnlich 3,442,33 f.; 4,178,33–36. 122 Dies ist gut, aber einseitig betont bei Meyer, Normen, 239 f. 123 Vgl. 56,58,15 ff.: »Quia hec Vita non habet experientiam sui, Sed fidem. Nemo enim scit se viuere aut experitur se esse iustificatum, Sed credit et sperat.« – Zur theologischen Unmöglichkeit der Aussage »Ich bin gerecht«, weil gerade den Anspruch des Selbstseins gegenüber Gott erhebend und so die Gerechtigkeit negierend, vgl. Hermann, Rechtfertigungslehre, 380 f.; Joest, Ontologie, 268; Pesch, Hinführung, 222 f. Siehe aber auch Kroeger, Rechtfertigung, 92 ff., bes. 93: »Daß man den Fortschritt nicht messen und ihm nicht trauen soll […], heißt aber nicht, daß man ihn nicht haben soll.« 124 38,568,33 f. Vgl. 568,20–569,12, bes. 568,39 f.: »Igitur, qui Christianus est, non est Christianus, hoc est, qui se putat factum Christianum, cum sit tantum fiendus Christia­ nus, ille nihil est«; 569,9 f.: »Et quo magis proficit, hoc magis cupit fieri, et minus putat sese esse.« Und gerade darum gilt: »Summa, Proficiendum est, non standum et secure stertendum. Homo noster vetus debet de die in diem (ut Paulus) renovari.« (569,4 f.) Dazu Dieter, Luther, 321 f., 344 f., der Ähnliches schon für den frühen Luther konstatiert. Siehe z. B. 4,178,31–36. 125 Der Glaube wird in den Werken »greifbar« und »betastbar«, wie Luther in christologischer Analogie und in Anlehnung an 1.Joh. 1,1 formuliert: »Ita fides ceu crassescit

Iustus/iustitia 471 impliziert, dass die guten Werke auch als solche wahrzunehmen sind und von etwa geheuchelten, egoistisch motivierten Guttaten abgehoben werden können. Weiter spricht Luther immer wieder die Mahnung aus, dass der Glaubende seinen Glauben auf seine Echtheit hin prüfe, damit er sich nicht auf einen eingebildeten, toten Glauben verlasse. Und das Kriterium hierfür sind eben die in der Liebe getanen guten Werke.126 Es gibt für ihn folglich sehr wohl einen »kritischen« Blick auf sich selbst, der nicht mit jener nur die Sünde wiederholenden Selbstreflexion gleichzusetzen ist, aber auch nicht restlos in vertiefter Sündenerkenntnis aufgeht. Luther hat dann offenbar ein »Sehen« und »Wahrnehmen« im Blick, das von einem empirischen Messen und objektiven Konstatieren abzuheben und eher als indirektes Sehen bzw. als tieferes Wahrnehmen der vordergründigen Realität zu charakterisieren ist. Bei der Beurteilung der Taten eines Menschen als Taten der Liebe oder aus dem Glauben fließende handelt es sich um ein solches Sehen mit dem Herzen, das zwar seine Evidenz, aber keinen »objektiven« Beweis besitzt und dem Zweifel, ja der Täuschung unterliegen kann. So können nach 1.Kor 13,1–3 höchst beeindruckende Fähigkeiten und Handlungen durchaus wie Taten der Liebe aussehen, aber dennoch Verwirklichung von etwas anderem sein. Und Luther selbst führt aus, dass das Urteil: »Dies ist eine Tat der Liebe!« selbst einen Akt der Liebe darstellt, zu deren Wesen und Wagnis es im Unterschied zum Heilsglauben gehört, dass sie betrogen werden kann (18,652,1–11).127 Weiter sagt Luther deutlich, dass solches Urteil über andere und sich selbst nur vor dem Forum der Menschen und des eigenen Gewissens, nicht aber vor Gott und in loco iustificationis gilt.128 Der Mensch kann damit also nicht vor Gott hintreten und sich dessen rühmen, sondern wenn er wirklich an sich so etwas wie den in der Liebe wirksamen Glauben »wahrnehmen« sollte, ist dies nur dem Wunder der göttlichen Gnade zuzuschreiben. Davon einmal abgesehen, dass diese Selbstprüfung des Glaubens – wie schon angedeutet – in den meisten Fällen wohl mit dem Ergebnis enden wird,

opere et fit fere palpabilis, quemadmodum Divinitas sola Christum et Dominum facit, sed tamen assumpta carne crassescit et fit palpabilis.« (30 II,659,17 ff.) Vgl. 2,458,32 ff.; 40 I, 571,26–579,24; unten Anm. 139. Das all dies so nicht von Luthers Theologie vor 1518 gesagt werden kann, sei hier nur angedeutet. 126 Vgl. nur 8,361,27–362,3, bes. 361,32–35: »das sich die menschen nitt selb betriegen und meynen, sie haben den glawbenn, so sie doch nichts davon habenn, szondern sollen ansehen yhr werck, ob sie auch yhren nehisten lieben und yhm woll thun. Thun sie das, szo ists ein tzeychen, das sie dissen rechten glauben haben. Thun sie aber nit, so haben sie nur das gehore vom glawben«; 362,15–363,3, bes. 362,17–20: »Szo soll nu eyn yglicher sich fursehen, das er nit eynen trawm und geticht an stat des glaubens ym hertzen habe und sich selber betriege: das wirt er bey keynem ding alsz woll erkennen alsz bey den werckenn der liebe.« 127 Vgl. dazu, Härle, Dogmatik, 280 f., 369. 128 Vgl. Schloenbach, Heiligung, 54, mit Verweis auf 39 I,300,9 ff.: »Requirit [deus] opera et charitatem non tamquam beneficium, aut ut nos per eam salvemur, sed ut nos et alii cerficemur istis bonis operibus, nos certe credere.«

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dass ich es noch nicht weit gebracht habe und ich deshalb zu neuem Hinfliehen zu Christus gedrängt werde, um in ihm unermüdlich neu anzufangen.129 Dies alles bedeutet aber: Es ist für Luther durchaus mit einem solchen indirekten Sehen der Folgen des Glaubens bzw. seines und ihres Wachstums zu rechnen, der Glaube darf und soll durchaus getrost sein, dass er Glaube ist, ohne dass damit einer empirischen Konstatierbarkeit der Heiligung oder einer falschen Selbstbespiegelung und Selbstzufriedenheit das Wort geredet wäre. Luther lehrt nicht nur die Faktizität des Fortschreitens, sondern auch dessen mögliche Erfahrbarkeit.130 Konkret wird man sich diesen Progressus nach Luther so vorzustellen haben, dass der Glaube und das in ihm implizierte neue Wollen zwar zunächst den Menschen in all seinen Lebensdimensionen schon ganz bestimmen (totus homo partim spiritus neben totus homo partim caro), dann aber die verschiedenen Schichten und Regionen der Person mehr und mehr durchdringen und die Sünde bzw. die Ichsucht sukzessiv zurückdrängen. Dies vermag auch schwerpunktmäßig, »gebietsweise«, d. h. nicht in allen Zonen zugleich geschehen. Der Glaube hat mithin den ganzen Menschen bereits erfasst, hat – um ein von Luther oft verwendetes biblisches Bild zu gebrauchen – »das ganze Land erobert« und durchdringt nun alle Dimensionen »mehr und mehr«, zwingt die versprengten feindlichen Resttruppen der Sünde zum Rückzug, ohne sie jedoch ganz besiegen zu können. Allerdings konnten wir bei Luther auch ein anderes anthropologisches Denkmodell konstatieren, wonach sich der Progressus von vornherein als fortschreitende regionale »Eroberung« des Menschen durch den Glauben vollzieht, d. h. in einer sachlich-zeitlichen Reihenfolge, ausgehend vom Zentrum der Person (Geist, Herz, Gewissen) und von dort aus zu den peripheren Regionen (Seele, Leib, Fleisch) vordringend, eine Konzeption, die streng genommen mit der totus-homo-Anthropologie, wonach Geist und Fleisch als soteriologische Termini immer den ganzen Menschen meinen und bestimmen, nicht kompatibel ist. Darüber hinaus wird Vgl. 39 I,438,17–439,6; 50,643,19–26. Siehe auch Schloenbach, Heiligung, 63–66, der sowohl für ethische Tugenden wie für den Glauben (und beider Zunehmen) drei »Echtheitskriterien« benennt: erstens den Kampf gegen die Untugend bzw. die Sünde, zweitens das Bringen von entsprechenden »Früchten« und drittens das Standhalten gegenüber Belastungen bzw. Anfechtungen. Dennoch gilt: »Einen direkten Maßstab haben wir für beide Fälle nicht.« (64) 130 Joest, Gesetz, 97 f., möchte für den christlichen progressus ein eigenes Realitätsgenus einführen, welches die Mitte hält zwischen empirischer Aufweisbarkeit und gegenwärtig Unwirklichem bzw. bloß zu Erwartendem: »Ein Konkretum sui generis bricht in den so fest geschlossenen Zusammenhang des Irdisch-Konkreten ein: der Progressus des Christen ist kein nachweisbarer Prozeß, und er ist dennoch reale Wirklichkeit.« Luther erkenne die Bewegung des Progressus »als transzendent aller Erfahrung und dennoch als konkret wirklich«. Der Progressus sei nicht »psychologisch zu messen« und gleichwohl eine zu glaubende »reale Wirklichkeit«. Solche Feststellungen tendieren doch stark in Richtung einer Verborgenheit der Heiligung, während Luther eher ihr indirektes Sichtbar- und Greifbarwerden mit der Unmöglichkeit der objektivierenden Reflexion auf sie zu verbinden scheint. 129

Iustus/iustitia 473 man den Progressus als Stärkung des Glaubens sich so denken können, dass er anstehende Belastungen in der Zukunft (neue Angriffe, »Versuchungen« der Sünde, Anfechtungen durch Unglück, Not und Schicksalsschläge) besser zu tragen vermag.131 Und schließlich bedeutet das Wachsen und Fortschreiten auch die zunehmende Fähigkeit des Glaubens, sich in guten Werken zu inkarnieren und dem Nächsten zu dienen.132 Es versteht sich dabei von selbst, dass der Glaubende auf eine irgendwie gewährleistete Kontinuität bei diesem Wachsen und Zunehmen keinerlei Anspruch hat. Solcher »Fortschritt« kann sich ereignen und einstellen, er kann aber auch durch einen erneuten Sieg der ständig präsenten und aktiven Sünde zunichte gemacht werden, so dass das proficere im Sinne des »semper a novo incipere« nicht nur den je neuen transitus der Rechtfertigung, sondern auch einen tatsächlichen Neubeginn im Gerechtwerden bedeutet. Der Progressus kann sich einstellen, er muss es aber nicht,133 er vermag erhofft und erbeten zu werden, eine Garantie dafür aber hat man nicht. Freilich gilt nach Luther auch: Sollte er vollständig ausbleiben, so ist auch der Glaube nicht echt! Eine letzte, schon angedeutete Präzisierung ist zum Verständnis des christlichen Progressus im Sinne Luthers noch explizit zu benennen: In ihm geht es letztlich nicht um die kontinuierliche Annäherung des Menschen an ein Ideal bzw. einen Vollendungszustand, nicht um das menschliche Fortschreiten zu Gott und seinem Reich hin, sondern um das je neue Kommen Gottes und Christi zum Menschen, um das Einbrechen seines Reiches und der Auferstehungswirklichkeit in meine Person, in mein Leben hinein. Die Blickrichtung ist somit gerade umzukehren: Unser Fortschreiten ist nicht unser Vorankommen, sondern Gottes Kommen zu uns, durch das er uns dem eschatologischen Ziel entgegenführt.134 Die von uns getroffenen Distinktionen und Präzisierungen, v. a. die Einsicht, dass alle aktuale Gerechtigkeit des Menschen irdisch niemals unsere iustitia coram Deo herzustellen vermag, befreien von den Luther letztlich nicht gerecht Gleichzeitig geschieht die Stärkung solchen Glaubens gerade durch die Anfechtung. Vgl. zu beiden Aspekten 8,369,19–370,15; 379,16–35; 385,10–14. 132 Vgl. 385,33–386,1; 386,12 f. Zum Ganzen Schloenbach, Heiligung, 56–62. 133 Das gilt übrigens auch für die Erfahrbarkeit des Fortschreitens. Denkbar ist ein solches, ohne dass ich darum weiß. Vgl. Schloenbach, Heiligung, 624. 134 Vgl. Joest, Gesetz, 91–99, bes. 98; ders., Ontologie, 352 f. Vgl. die Rede vom »täglichen Advent Christi« im Geist, welcher sowohl mit der je neuen Rechtfertigung der ganzen Person als auch mit der fortschreitenden, in ersterer gründenden Bekämpfung der Sündenreste in Verbindung gebracht wird: 40 I,536,13–538,35; 550,24–29: »Deinde ille idem Christus qui semel in tempore venit, quotidie et singulis horis ad nos in spiritu venit. […] Sed quia nondum perfecte puri sumus, haerent enim adhuc in carne nostra reliquiae peccati, Item caro militat contra spiritum etc., Ideo quotidie venit spiritualiter et indies magisque absolvit tempus praefinitum a patre, abrogat et tollit legem.« Deshalb kann Luther den angefochtenen, d. h. unter seinem kaum wahrnehmbaren Fortschreiten leidenden Christen neben dem Verweis auf den auch unsere Werke rechtfertigenden Christus damit trösten, dass Christi Geist in ihm verborgen schon viel weiter ist, als er selbst es wahrnimmt (40 II,40,7–19). 131

474 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

werdenden, unfruchtbaren Alternativen, entweder eine reale, auch coram Deo gültige »effektive« Gerechtigkeit des Christen anzunehmen135 oder jeden Progressus bei Luther zu leugnen bzw. diesen nur als je neuen Anfang (im Sinne des totalen transitus) umzudeuten und Rechtfertigung und Heiligung auf diese Weise zu identifizieren.136 Auch die Abdrängung des Progressus in die völlige Verborgenheit ist vom Textmaterial her kein gangbarer Weg. Schließlich ist es ebenso unmöglich, das simul iustus et peccator im totalen Verständnis gegen ein solches Wachsen und Zunehmen in Glaube und Liebe anzuführen und damit auf seinen totalen Aspekt zu reduzieren. Das Wachsen geschieht innerhalb des simul, nicht über dieses hinaus!137

2.4 Die theologische Relevanz der iustitia actualis Ist die iustitia actualis irdisch niemals eine Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, so erhebt sich natürlich die Frage, von welcher Art und Bedeutung diese Gerechtigkeit denn dann ist. Eine Möglichkeit bestünde darin, sie der iustitia civilis bzw. der iustitia coram hominibus zuzuordnen, da sie ja keine iustitia coram deo im strikten Sinn ist. So sehr die iustitia actualis des Christen auch materialiter mitunter mit der iustitia civilis identisch sein kann, so gründet sie doch in der iustitia coram deo, sie fließt aus dem von Gott in Christus Angenommensein und geschieht aus dem Motiv selbstloser, das Empfangene dankbar weitergebender Liebe. Dies kann aber von der iustitia civilis als solcher nicht gesagt werden, welche ja auch aus ganz anderen (nämlich eigennützigen) Motiven geschehen, ja vom Gottesverhältnis vollständig abstrahieren kann. So liegt es eher nahe zu sagen: Die iustitia actualis ist die äußere Darstellung und Manifestation, das Zeugnis und Siegel der inneren Glaubensgerechtigkeit,138 ihr Durchbrechen oder ihre »Inkarnation« in alle Lebensdimensionen der Person, wobei diese Darstellung und Aus Dies geschieht bei R. Seeberg und in der Mannermaa-Schule, implizit auch bei Holl. Vgl. Teil I, Kapitel 4, Exkurs. 136 So tendenziell Hermann, These, 234–289, bes. 236 f.; ders., Theologie, 109–116; in seinem Gefolge Haar, Initium, passim; Prenter, Spiritus, bes. 75–106, 225–238; ders., Richter, 140–148; Pinomaa, Heiligung, bes. 38–44 (Verborgenheit); ders., Profectio bes. 125 f.; ders.; Sieg, 97–107; ders., Die Heiligen, 42–49, 155–158. Wesentlich differenzierter äußert sich Prenter in: Lehre, passim. 137 Gegen Pinomaa, Profectio, bes. 118: »Man kann nicht gleichzeitig ›simul iustus ac peccator‹ und profectio lehren; man kann das totale Verständnis, welches Luther von diesem ›simul‹ hatte, nicht mit einem Fortschrittsgedanken verbinden.« Anders Watson, Heiligung, bes. 79, 82 f.; Modalsli, Gericht, 73–83, bes. 82 f.; Schloenbach, Heiligung, bes. 40–45; Wolf, Problem, 349. 138 Vgl. die Rede von der duplex iustitia bzw. iustificatio (coram deo/coram mundo bzw. hominibus; spiritualis/corporalis; interna/externa) 39 I,93,5–12; 208,9 ff. 135

Iustus/iustitia 475 weitung wegen des simul peccator stets unvollkommen und gebrochen verläuft, dennoch aber einen (mit hoher Wahrscheinlichkeit versehenen) Rückschluss auf die innere Gerechtigkeit zulässt.139 In ähnliche Richtung zielt es, wenn Luther die guten Werke als »Übung und Stärkung« des Glaubens begreift – in dem doppelten Sinn von Einübung dessen, was der Glaube sein und werden soll, aber auch von Ausübung dessen, was er schon ist und hat. Geschieht Ersteres nicht durch eine das »sola fide« ergänzende Funktion der guten Werke, sondern dadurch, dass der Christ angesichts der Unvollkommenheit seines Tuns immer wieder auf die Notwendigkeit des Glaubens zurückgeworfen, zum Glauben »vermahnt« wird, in dem allein seine Werke Gott angenehm sind, so bringen im zweiten Fall die Werke ebenfalls nichts Substantielles zum Glauben hinzu, sondern sind das Feld seiner Betätigung und Darstellung, da der Glaube nur in konkreten Lebens- und Handlungsvollzügen existiert und gerade so gestärkt wird.140 Jedoch ist die Charakterisierung der sanativen Gerechtigkeit damit noch nicht erschöpft. Denn wir konnten darüber hinaus feststellen, dass sie zwar keine iustitia coram Deo im strikten Sinne darstellt, dennoch aber auch nicht ohne jede Bedeutung für Gott selbst ist. Kommt diese Gerechtigkeit irdisch auch für unser Vgl. 10 I/1,119,5–121,4 ff.; 10 III,284,34–288,15; 39 I,46,18–21; 91,12–93,16, bes. 92, 1–10: »Opera tantum declarare fidem, sicut fructus tantum ostendunt arborem, an sit bona arbor. Dico ergo: Opera iustificant, hoc est, ostendunt nos esse iustificatos, quemadmodum fructus ostendunt, hominem esse christianum et credere in Christum, quia non habet fictam fidem et vitam coram hominibus. Opera enim indicant, utrum fidem haberem. Ergo concludo, eum esse iustum, quando video eum facere bona opera«; 96,8–14; 204,8 f.; 254,27–32; 255,26–256,1; 292,5–294,2; 300,13 ff.; 39 II,241,14 ff.: »Opera non sunt necessaria, videlicet ad iustificationem, sed proximi causa sunt necessaria, sunt externa testimonia et signa nostrae fidei«; 248,11–15. 39 I,322,5–11 legt nahe, dass für die Glaubenden selbst dieser Rückschluss von den Werken auf den Glauben letztlich zirkulär ist, da sie um die Sündigkeit ihrer Werke wissen und deren Gutheit ihrer gnädigen Annahme durch Gott zuschreiben. Auf einer unteren Reflexionsebene muss das aber nicht so sein, da es zunächst nur um die Tadellosigkeit des Tuns coram hominibus, nicht coram deo geht, als deren Quellgrund dann das Angenommensein durch Gott erschlossen wird. Aber auch dies ist eine »indirekte« Erkenntnis im oben beschriebenen Sinne und der möglichen Täuschung ausgesetzt. Vor der Überschätzung des »syllogismus practicus« warnt 7,33,12–26; 62,7–30. Vgl. Watson, Heiligung, 82: »Während […] das Vorhandensein guter Werke kein unumstößlicher Beweis für den echten Glauben ist, ist das Vorhandensein böser Werke unwiderleglicher Beweis für den Unglauben oder falschen Glauben.« Dass sich mit dem »syllogismus practicus« eine gewisse Spannung, wenn auch kein Widerspruch zum sola fide bzw. solus Christus einstellt, ist unverkennbar. Dazu Althaus, Rechtfertigungslehre, 23–27, bes. 26: »Ich kann und darf mich nicht auf sie [die guten Werke] verlassen, aber mich durch sie stärken lassen«; ders. Theologie, 213–218. Zum Ganzen vgl. auch Peters, Glaube, 106–113; ders., Rechtfertigung, 55 (»sekundäre Gewißheit der Liebeswerke wie des Leidensgehorsams« und »primäre [Gewissheit] des Heilsglaubens«); Moldalsi, Gericht, 44–51. 140 Vgl. Althaus, Rechtfertigungslehre, 27 f.; Joest, Gesetz, 119 f. (mit Verweis auf den Sermon von den guten Werken; siehe dort bes. 6,212,32–38; 234,5–10; 234,31–235,2; 249,7–10; 255,9–17; 263,25–28). 139

476 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

gegenwärtiges Bestehen vor dem Richterstuhl Gottes nicht in Betracht, so ist sie aber gleichwohl »theologisch« relevant im Blick auf das Erreichen der göttlichen Endabsicht mit dem Menschen, nämlich ihn zur eschatologischen Vollendung und zur vollen Seins- und Tatgerechtigkeit zu führen. Die iustitia actualis ist (für Gott und Mensch!) quasi das gebrochen realsymbolische Zeichen dafür, dass der Mensch durch Gottes Führung und Wirken zu dieser Vollendung hin unterwegs ist, sich sozusagen »auf dem richtigen Weg« befindet. Gott schaut bei allem, was er tut, auf die eschatologische Vollendung als Zielbestimmung: »ad finem purgationis patris misericordia respicit.«141 In diesem Sinn haben wir dann alle jene Lutherstellen zu interpretieren versucht, in denen Luther davon spricht, dass das Ziel der Gerechtsprechung, die volle Heilung des Menschen, bzw. das schon anfängliche Gerechtsein oder der Glaube als menschlicher Vollzug, also das initium creaturae novae, bei der Rechtfertigung mitberücksichtigt werden, gleichsam in Gottes Rechtfertigungsurteil einfließen. Dies darf gleichwohl nicht so verstanden werden, als ob hier die Heiligung des Menschen zum die Christusgerechtigkeit ergänzenden Teilgrund bzw. Teilmotiv bei der Rechtfertigung coram deo aufgewertet bzw. umgekehrt die Rechtfertigung propter Christum jene anfanghafte Gerechtigkeit nur ergänzen würde. Hier gilt vielmehr: solus Christus, sola gratia und deshalb sola fide (vgl. Röm 4,16)! Dennoch spricht Gott den Menschen in Christus nur gerecht, sieht ihn in und mit Christus zusammen, weil er ihn eschatologisch gerecht machen will und damit jetzt schon beginnt. Das propter ini­tium creaturae novae bzw. propter finem purgationis konkurriert nicht mit dem propter Christum (oder verdrängt es gar),142 es ist nicht zureichender, sondern ausschließlich notwendiger Grund der Rechtfertigung (conditio sine qua non).143 Insofern muss auch gesagt werden, dass die gegenwärtige Christus- und Glaubensgerechtigkeit eine zwar totale, aber interimistische Wirklichkeit darstellt,144 Vgl. 7,109,24–30. Dies ist, wie mehrfach betont, gegen Karl Holl einzuwenden. 143 So Althaus, Theologie, 207–210. 144 Vgl. 39 I,83,18 f.: »Ideo et peccator est adhuc, quisquis iustificatur, et tamen velut plene et perfecte iustus reputatur, ignoscente et miserente Deo«; 83,37 f.: »Nec peccatum ullum, sive praeteritum, sive reliquum in carne manens, imputari, sed velut nullum sit, remissione interim tolli«; 39 I,203,16 f.; 204,6 f.: »Interim fovemur in sinu Dei, tamquam ini­ tium creaturae novae, donec perficiamur in resurrectione a mortuis«; 235,1–236,13; 39 II, 215,2–7. – Luther kann so zu einer zunächst verwirrenden unterschiedlichen Einschätzung der Glaubens- bzw. imputierten und der sanativen Gerechtigkeit kommen. Dabei ist aber jeweils ein anderer Gesichtspunkt leitend: Einmal kann die iustitia fidei oder imputatio gegenüber der noch unvollkommenen iustitia incepta als vollkommen bezeichnet werden, weil sie uns im Unterschied zu Letzterer coram deo bestehen lässt. Zum andern kann die iustitia fidei bzw. imputatio selbst unvollkommen genannt werden – nämlich gemessen an der eschatologisch vollendeten seinshaften Gerechtigkeit, wo dann der Glaube und die imputatio aufhören. Vgl. 39 I, 241,18–27: »Imputative per misericordiam est et manet hic perfecta iustitia, non autem reipsa. […] Et tamen Deus habet hanc inceptam iustitiam pro perfecta. Sic duplex erit iustitia, perfecta, quae est imputatione perfecta, 141

142

Iustus/iustitia 477 die Gottes Teleologie deshalb gewählt hat sowie »einstweilen« toleriert und hinnimmt, weil sie den Menschen vollenden wird und dessen schon gewiss ist.145 Von daher ist auch der Stand des simul nur von Gottes eschatologischer Neuschöpfung und vollen Gerechtmachung aus zu verstehen: Gott kann sich quasi den unvollkommenen Stand des Christenmenschen »leisten«, weil dieser ja schon auf die eschatologische Vollendung unterwegs ist. Und dafür ist die unvollkommene, vor dem Richterstuhl Gottes jetzt nicht bestehende iustitia actualis im wörtlichen Sinne »signifikant« und »verheißungsträchtig«.146 Von Seiten des im Stand des simul lebenden Christen heißt dies, dass sein Blick auf die Auferstehungswirklichkeit ausgerichtet ist, er um den Interimscharakter des irdischen Lebens weiß, ja er den Tod als die endgültige Befreiung von der Sünde herbeisehnt. Luther hat diese Verstehbarkeit des menschlichen (und damit auch des christlichen) Lebens von seinem Ende her radikal zum Ausdruck gebracht in den Abschlussthesen der Disputatio de homine, wo er, die aristotelisch-scholastische Distinktion zwischen materia und forma aufgreifend, ausführt, dass sich der Mensch dieses Lebens zu seiner künftigen Vollendungsgestalt (»futurae formae suae vita«) wie die reine Materie (»pura materia«), d. h. wie bloße Potentialität verhalte, welche Gott in der Heilsgeschichte zu ihrer ewigen Bestimmung hin formiere und sie so erst eigentlich zum Dasein führe. Dabei geschieht dies nicht »in Selbstentfaltung eines eigenen noch keimhaften Wesens« im Menschen, sondern Gott ist es, der mit dem Menschen unterwegs ist und ihn seinem wahren Sein zuführt.147 Dieser Prozess der vollen Realisation der imago Dei im Menschen, der letztlich auch die ganze Schöpfung mit einbezieht, geschieht durch den fortschreitenden Prozess der Rechtfertigung.148

imperfecta, per suam naturam ita est, et haec est ex operibus nostris, non ex fide«; 241,33 ff.: »Est igitur duplex regeneratio, imperfecta per reputationem, perfecta per sui naturam seu in ipso esse«; 298,4–11, 301,3–7; 444,1–6. Vgl. auch 285,20 f.: »iam accepto Christo fide omnia habemus, nec quicquam nobis ad iustificationem et salutem deest.« 145 39 I,82,27–83,15 spricht explizit von der göttlichen Toleranz gegenüber der unvollkommenen iustitia legis sowie gegenüber der ebenfalls, wenngleich in anderer Hinsicht unvollkommenen (weil noch nicht eschatologisch vollendeten) iustitia fidei. Wichtig ist für Gott dabei – neben dem irdischen Wert der iustitia legis – der »eschatologische Ausblick«. 146 Vgl. Ebeling, Lutherstudien II/3, 517: »Das angefangene Werk Gottes ist sozusagen verheißungsträchtig auf seine Vollendung hin.« Ähnlich Pesch, Theologie, 299 f. 147 Vgl. Joest, Ontologie, 347–351, bes. 350. 148 Vgl. 39 I,177,3–14: »Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. Sicut et tota creatura, nunc subiecta vanitati, materia Deo est ad gloriosam futuram suam formam. Et qualis fuit terra et coelum in principio ad formam post sex dies completam, id est, materia sui. Talis est homo in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata et perfecta fuerit imago Dei. Interim in peccatis est homo, et indies vel iustificatur vel polluitur magis. Hinc Paulus ista rationis Regna nec mundum dignatur appellare, sed schema mundi potius vocat.« Siehe schon 56,371,2–372,25 (zu Röm 8,19), wo Luther die Theologie perspektivisch auf das künftige, erlöste Sein der Dinge ausgerichtet sieht,

3 Simul

Nachdem wir in den vorigen Kapiteln die Bedeutung der Begriffe peccator und iustus bei Luther zu klären suchten, gilt es im letzten Kapitel dieses Teils unserer Studie ihrer beider Verhältnis in der simul-Formel zu bestimmen, wie es eben durch das Wörtchen »simul« zum Ausdruck kommt. Dass dieses Verhältnis ein mehrschichtiges und komplexes ist, dürfte durch die bisherigen Ergebnisse schon deutlich geworden sein, gleichwohl hängt aber an seiner präzisen Erhebung das rechte Verständnis der simul-Formel bzw. simul-Thematik bei Luther. So gesehen liegt in diesem Kapitel auch der Skopus des ersten und zweiten Teils dieser Arbeit, da in ihm die bisher ausgezogenen Linien zusammenlaufen.

3.1 Total- und Partialaspekt Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es bei Luther zwei Arten von simul-Aussagen gibt, die man in der Forschung schon seit längerem mittels der Unterscheidung von Total- und Partialaspekt begrifflich gut erfasst hat.149 Eine immer wieder versuchte Reduktion auf nur einen der beiden Aspekte ist deshalb nicht möglich.150 Gemeint ist mit ihnen, dass Luther das simul einmal als Totalaussage über zwei Urteile verstehen kann, die gleichzeitig unter verschiedener Rücksicht für den ganzen Menschen gelten: Er ist einmal vom Rechtfertigungsurteil Gottes her ganz während die Philosophie auf deren gegenwärtige Washeit fixiert sei. Zum Ganzen Ebeling, Lutherstudien II/3, 472–544. 149 Vgl. Joest, Gesetz, 55–82; Althaus, Theologie, 211 ff. – Insofern das Wörtchen »simul« in formelhaften Fassungen des simul iustus et peccator statistisch vorwiegend in frühen Luthertexten vorkommt, kann man dem Urteil Iwands, Theologie, 71, zustimmen: »Luther behält im späteren Verlaufe seiner Theologie die Formel ›simul iustus et peccator‹ nicht bei, aber die Sache, um die es geht, entwickelt er immer deutlicher.« Vgl. unsere Übersicht über die wichtigsten Simul-Stellen im Anhang. 150 Eine Bestreitung des Partialaspekts bei Luther findet sich z. T. in der älteren Lutherforschung, etwa bei Nygren, Simul, 374 f.; Link, Ringen, 82 ff., 87–92. Erstaunlich auch, dass er jüngst bei H.-M. Barth, Theologie, 281–284, nicht erwähnt wird, so sehr seiner Aussage natürlich zuzustimmen ist, dass der Mensch nicht zum Teil gerechtfertigt wird (281). Konsensorientierte katholische Interpreten schwächen umgekehrt den Totalaspekt (d. h. das totus peccator) ab. So Zak, Ontologie, 311–323, der das simul in den Kontext einer dynamisch-prozessualen Ontologie hineinstellt, aber Luthers beide Rechtfertigungsbegriffe (punktuelle Ganzrechtfertigung und sukzessives Gerechtwerden) nicht auseinanderhält (315).

Simul 479 gerecht, ganz von Gott angenommen und in dessen Gemeinschaft aufgenommen, zugleich gilt aber vom selben Menschen (was dieser besonders vor Gott im Bußbekenntnis ausspricht), dass er im Blick auf sich selbst, auf seine eigene Wirklichkeit noch ganz Sünder ist.151 Dieses totus peccator (neben dem totus iustus) schließt die aus der totalen Gerechtsprechung folgende anfängliche und partiale Gerechtwerdung nicht aus, sondern artikuliert den Tatbestand, dass trotz dieses beginnenden Neuwerdens der Mensch vor dem Gericht und Urteil Gottes damit nicht bestehen kann, weil in ihm die bleibende Sünde (Unglaube, Ichsucht) immer auch noch wirksam ist – und zwar in allen Dimensionen der Person, bis hinein in ihr voluntatives Zentrum. Vor Gottes Angesicht kann der Mensch irdisch nur bestehen propter Christum. Die simul-Aussagen in der Totalperspektive sind folglich im strengen Sinn rechtfertigungstheologisch gemeint: Was lässt mich jetzt und am Jüngsten Tag vor Gott recht sein und in seiner Gemeinschaft stehen? Die Antwort kann, selbst für das beste Glaubensleben, nur lauten: »Omnia nostra accusant et damnant, solius autem Christi nos defendunt et salvant.«152 Beide Urteile (totus iustus/totus peccator), die mit der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz zusammentreffen, können und müssen vom Christen zugleich prädiziert werden, obwohl vor Gott im Glauben nur das eine gilt, während das andere meine davon sozusagen abgetrennte »Eigenwirklichkeit« charakterisiert. Eine (eschatologische) Variante dieser strikt rechtfertigungstheologischen Betrachtungsweise besteht darin, dass Luther ebenfalls formulieren kann, wir seien jetzt »in Wahrheit« (in re, re vera, realiter) Sünder, gerecht aber in Hoffnung (in spe) oder nach der Verheißung (promissione).153 Statt auf die gegenwärtige Glaubensgerechtigkeit kraft der imputatio der Gerechtigkeit Christi blickt er dann auf unser durch Tod und Auferweckung von Gott gewirktes vollendetes Gerechtsein, mit dem wir dereinst vor Gott tatsächlich bestehen können und der imputatio nicht mehr bedürfen. Auch in dieser Sichtweise ist durch das präsentische »peccator in re« die anfänglich seinshafte Gerechtigkeit nicht bestritten, sondern implizit mitgedacht. Letztere kann aber Ersteres nicht aufheben! Zum andern trifft Luther aber auch simul-Aussagen, welche partial zu verstehen sind: Der Christ ist teils gerecht und teils Sünder, weil er noch in einem Heilungsprozess steht (2,592,19 ff.). Hier wird der Blick nun gleichsam auf den Christenmenschen selbst konzentriert und gefragt: Was folgt aus der neuen, gnadenhaften Relation zu Gott im Glauben für den Menschen selbst, wie stellt sich diese Relation anthropologisch dar? Man könnte diese Art von simul-Aussagen –

Vgl. nur 1,427,31 ff.: »Veri autem servi iusticiae sciunt et confitentur se totos esse peccatum, totumque suum bonum non intra se, sed extra se in deo et misericordia eius situm esse volunt; 2,417,37 ff.: »Tunc iusti sumus, quando nos peccatores fatemur et iustitia nostra non ex proprio, sed ex dei consistit misericordia: quare miserentis est et ignoscentis dei, non volentis neque currentis hominis.« Weitere Belege s. u. Abschnitt 3.3. 152 8,608,21 f. Vgl. insgesamt 608,15–37. 153 Einzelbelege s. u. Abschnitt 3.3. 151

480 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

im Unterschied zu den rechtfertigungstheologischen – auch als auf die Ethik und die Heiligung des Menschen bezogen kennzeichnen.154 Damit wird zugleich scharf markiert, dass alles, was hier zu sagen ist, irdisch niemals unsere Gerechtigkeit vor Gott herzustellen vermag. An zahlreichen Luthertexten ließ sich erkennen, dass Luther in dieser Blickrichtung immer zwei simultane Streberichtungen, zwei fundamentale Willensausrichtungen (bzw. eine voluntas und eine noluntas) vor Augen hat,155 die in einem Subjekt vereint sind und welche er mit den paulinischen Begriffen »Fleisch« und »Geist« umschreibt und oft mit einem Verweis auf Röm 7,14 ff. untermauert.156 Einmal handelt es sich um das aus dem Glauben entspringende, gottgewirkte gute Wollen, bestehend in der freien und frohen »Lust und Liebe« zu Gottes Willen (»Gesetz«) bzw. in der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Da dieser gute Impuls, der negativ als Gegenwille gegen die Sünde wirksam ist, im rechtfertigenden Glauben wurzelt und bleibend an ihn gebunden ist (bzw. diesen Glauben von einer anderen Seite, nämlich als Liebesimpuls darstellt), kann Luther ihn zuweilen unter »Geist« bzw. dem neuen Menschen unter

Nach Schloenbach, Heiligung, 42 f., reflektiert sich das Zugleich von Gnade Gottes und Restsünde (Totalaspekt) im Zugleich von Glaube und Restsünde im Menschen selbst (Partialaspekt). »Gottes Gnade ist dem ›Sünder‹ so zugleich, daß dieser ebenfalls ein Zugleich beherbergt: das von partim fides, partim peccator.« (4310) Die Sünde hat es sowohl mit der Vergebung Gottes zu tun als auch mit dem sie bekämpfenden Glauben. Vgl. Prenter, Lehre, 70: »Derselbe Glaube, der den Menschen ganz an Christus […] verweist, vollzieht im Menschen den Bruch, konstituiert die Zerspaltung in Fleisch und Geist.« 155 Vgl. 7,103,25: »utraque concupiscentia«; 329,22: »zweyerlei widderspenstige begirde odder lust«; 2,105,32–106,6; 413,16 ff.: »Igitur tantum est ibi peccati, quantum noluntatis, difficultatis, repugnantiae, Et tantum ibi meriti, quantum voluntatis, libertatis, hilaritatis. Mixta sunt haec duo in omni vita et opere nostro.« 156 Vgl. nur 56,260,23: »Ac sic partim sumus Iusti et non toti«; 2,413,34 ff.: »Et opera nostra talia sunt qualia eorum qui incipiunt sanari, sanati autem nondum sunt, quae patet quod sint partim egra, partim sana, multum ab his distantia quae sani perfecte faciunt«; 418,26 f.: »Vides ergo, omne opus bonum esse partim malum, etiam in tantis viris [sanctis]«; 2,584,16 ff.36: »Inde omnes sanctos dicit [Apostolus] esse adhuc carnales ex parte, licet secundum hominem interiorem sint spirituales. […] omnem actum bonum adhuc simul ex parte malum esse […]«; 498,1 f.: »Ex parte ergo impleta est lex: ex parte nihil debemus legi: ex parte destructa sunt peccata«; 7,111,9 f.: »Ut vere dixerit S. Iacobus, Nos esse initium creaturae dei, nondum complementum, partim iusti, partim peccatores«; 137,17–20: »Ac per hoc persona ipsa iusti partim est iusta, partim peccatrix. Si ergo omnis persona simul peccatrix est, dum iusta est, quid evidentius sequi potest quam ut opus quoque partim sit bonum, partim malum«; 40 I,535,18–536,1 (Hs): »Si in me, sum partim iustificatus, habeo primitias spiritus«; 40 I,536,12 f.: »Ideo quod ad nos attinet, partim liberi a lege, partim sub lege sumus«; 40 II,86,13 ff.: »Itaque si carnem spectemus, peccatores sumus, si Spiritum, iusti. Atque ita partim peccatores, partim iusti sumus«; 93,1 (Hs): »Consolatio est scire, se esse partim carnem partim spiritum«; 93,19 f.: »quod norint [pii] se partim carnem partim Spiritum habere«; 441,1 (Hs): »manet peccatum, mundus; donec vivit caro, sumus partim transgressores.« 154

Simul 481 rechtfertigungstheologischer Hinsicht mitverstehen (z. B. 7,435,11 ff.). Daneben, simultan dazu, gibt es aber noch das böse, ichsüchtige, selbstzentrierte, Gott und dem Nächsten abgewandte Streben, welches als Fleisch bzw. alter Mensch zu qualifizieren ist und letztlich aus dem immer noch präsenten Unglauben fließt. Zwar ist dieses »fleischliche« Wollen beim Christen idealtypisch beherrscht, es kommt nicht zur tathaften Ausführung, denn der »Geist« dominiert es, es ist aber dennoch Sünde im strengen Sinn, wenngleich »beherrschte« (peccatum regnatum).157 Insofern im Christenmenschen aber zeitlebens diese beiden Intentionalitäten koexistieren, wird auch die gute, gottgewirkte Intentionalität so kontaminiert, gleichsam abgebremst, dass der Christ im Blick auf sie vor Gott nicht bestehen kann. Die erforderliche totalitas wird verfehlt!158 Wir haben es hier mit dem geheimnisvollen, nur aus Gottes in eschatologischer Gewissheit und Gelassenheit gründender Toleranz heraus verstehbaren Sachverhalt zu tun, dass Gott im Menschen etwas wirkt und schafft (nämlich das anfänglich neue Wollen und Handeln), was aber dennoch – wegen der immer noch vorhandenen, simultanen glaubenslosen Ichsucht des Menschen – vor ihm nicht bestehen kann. Er handelt durch uns so, wie wenn ein Handwerker mit einem unvollkommenen, rostigen Werkzeug arbeitet (1,357,36 ff.; 2,413,27 ff.).159 Anders formuliert: Gott duldet bis zum Ende der Tage den seinem erneuernden Tun kontinuierlich und »strukturell« vom Menschen entgegengesetzten Widerstand.160

Vgl. 40 II,93,20 f.: »Sic tamen ut Spiritus dominetur, Caro subiecta sit, iusticia regnet, peccatum serviat«; 93,6 ff. (Hs): »fiat concupiscentia, sed non perficiatur, moveat ira, sed non permoveat«; 8,653,25–34. 158 Nilsson, Simul, 320 ff., 331, 333 ff., 339, verdeutlicht dies mit der communicatio idio­ matum zwischen Teil und Ganzem: Die partielle Sünde teilt sich dem ganzen Menschen mit sowie umgekehrt das totus iustus sich auf alle »Teile« des Menschen auswirkt. Auf diese Weise erklärt Nilsson auch Luthers Aussage, dass Gott dem Menschen um der incepta iustitia willen die Restsünde nicht anrechne: Dies gelte »idiomenkommunikativ« von der Gerechtigkeit Christi her, die sich der partiellen Gerechtigkeit kommuniziere. 159 Es ist die partiale Sünde des Glaubenden, die ihn vor dem strengen Urteil Gottes, das dieser aber nicht spricht, ganz als Sünder qualifiziert. Vgl. 8,96,2–6: »Aliud ergo de te iudicabis secundum rigorem iudicii dei, aliud secundum benignitatem misericordiae eius. Et hos duos conspectus non sepearabis in hac vita. Secundum illum, omnia opera tua polluta et immunda sunt propter partem tui adversariam deo. Secundum hanc vero totus mundus et iustus.« Gott legt in seiner Barmherzigkeit deshalb an unsere guten Werke einen weniger strengen Maßstab an, nämlich, dass sie im Kampf gegen die Sünde getan wurden (8,95,26–30). Vgl. Schloenbach, Heiligung, 46 f.1, der freilich ebd., 67 f.7, Schwierigkeiten mit Luthers These erkennen lässt, wonach in jedem guten Werk noch Sünde, ja es selbst Sünde sei, und deshalb den Passus 8,59,1–72,32 über Jes 64,4 ff. abschwächt als nicht eigentlich von den Glaubenden gesagt. Es wird bei Schloenbach nicht ganz klar, ob dahinter nicht doch eine Ablehnung des totus peccator steht. 160 Vgl. 15,726,12 ff.: »Mirum est, quod Christus non vult peccata, et tamen nullus est in hoc regno nisi peccator; probus nemo. Si debet dimitti peccatum, oportet hoc sit.« 157

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Luther vermag diese beiden Streberichtungen durchaus quantitativ bzw. gradativ zu verstehen.161 Er spricht davon, dass sie bei unterschiedlichen Menschen oder in den jeweiligen Lebensphasen und Lebensaltern in verschiedenen Graden oder jeweils anders konkretisiert vorliegen können.162 Er nimmt sogar einen klaren Richtungssinn vom Fleisch zum Geist beim Christen an, dessen Zielpunkt, das Ganz-geistlich-Sein, eschatologisch verbürgt ist. Dies darf aber nicht übersehen lassen, dass ihm zufolge diese beiden Willensrichtungen – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – irdisch jeweils den ganzen Menschen bestimmen und tangieren. Alle anthropologischen Konstitutionsschichten sind davon betroffen. Luther überwindet die idealistisch-dualistische Anthropologie gerade dadurch, dass Fleisch und Geist als soteriologische Begriffe sich auf den ganzen Menschen beziehen und sie nicht einseitig dem geistigen und leiblich-sinnlichen »Bereich« des Menschen zugeordnet werden dürfen. Für den Christen als simul iustus et peccator heißt dies, dass alle Fasern und Dimensionen seiner geistig-seelischen und leiblichen Existenz von diesen beiden Willensmächten zugleich betroffen sind, ein Tatbestand, der sich in statu viatoris nicht abarbeiten lässt.163 Insofern kann Luther durchaus sagen, der Christ sei totus caro und totus spiritus, und diese Aussage einerseits von der strikt rechtfertigungstheologischen Totalaussage wie auch von dem totus caro des unbekehrten Sünders und dem totus spiritus des auferstandenen Menschen unterscheiden.164 Gemeint ist dann eigentlich: totus homo partim caro – totus homo partim spiritus.165 In allen Schichten des

Vgl. bes. 39 I,376,1–17. Vgl. DB 7,23,10 f.: »Dieser zanck weret in uns, so lange wir leben, Jn einem mehr, im andern weniger, darnach der Geist oder Fleisch stercker wird«; 2,413,20–23; 730,10 ff.; 8,123,36–124,3; 40 I,312,14–26; II,83,34–84,26; 100,28–32; 39 I,502,6–10: »Est autem unicuique aetati suum peculiare vitium et peccatum, quod eam exerceat, puerum et adoles­ centem inobedientia, libido et luxus iuvenem, ambitio et avaritia senem, nos theologos et doctores κενοδοξἱα, vana gloria, superbia in donis Dei, veros autem sanctos vexat desperatio«; 525,13–16; BSLK 705,7–31. 163 Dem simul eignet mithin sowohl ein dynamisches Moment, demzufolge peccator und iustus nicht gleichwertig, sondern asymmetrisch zueinander stehen, als auch ein fixierendes Moment: Du bist und bleibst zeitlebens simul iustus est peccator! Vgl. Pesch, Theologie, 115 (Hv.): Das simul bedeutet bleibende »Gleichzeitigkeit von Sünde und Gerechtigkeit, aber keineswegs Gleichrangigkeit.« 164 Vgl. 56,342,33–343,2: »Quia eadem persona est spiritus et caro; ideo quod facit carne, totus facere dicitur. Et tamen quia resistit, totus non facere, Sed pars eius etiam recte dicitur«; 343,16 ff.: »Sed quia ex carne et spiritu idem unus homo constat totalis, ideo toti homini tribuit [Apostolus] vtraque contraria, que ex contrariis sui partibus veniunt«; 345,1 f.: »Ideo vtriusque opus sibi toti tribuit [Apostolus], quasi simul sit totus caro et totus spiritus«; 2,415,8 ff.: »Totus homo sit spiritus et caro, tantum spiritus quantum diligit legem dei, tantum caro quantum odit legem dei«; DB 7,23,11 ff.: »Und ist doch der gantze Mensch selbs alles beides, Geist und Fleisch der mit jm selbs streitet, bis er gantz geistlich werde.« 165 So Schloenbach, Heiligung, 49. Vgl. ebd., 48: »Im ganzen Menschen nistet die Restsün161

162

Simul 483 Menschen findet sich caro und spiritus, in keiner aber ganz und ausschließlich! Es liegen hier folglich unterschiedliche Totalitätsbegriffe vor: Einmal die Totalität zweier die ganze Person in unterschiedlicher Perspektive umgreifender Urteile, dann die alle Konstitutionsebenen prägende Totalität zweier Willenstendenzen, die insofern partial sind, als sie, wechselseitig gegeneinander streitend und kämpfend, überall im Menschen simultan vorhanden sind, und schließlich die Totalität einer den ganzen Menschen exklusiv bestimmenden Willensrichtung diesseits und jenseits der christlichen Existenz.166 Die ersten beiden Totalitätsbestimmungen kommen darin überein, dass »totus« in ihnen jeweils als »in tota persona, aber nicht exklusiv bzw. totaliter geltend« verstanden wird, während in der dritten totus mit »totaliter« gleichzusetzen ist. Die Partialaussagen (partim/ partim) dürfen deshalb nicht so interpretiert werden, als schlössen sie jegliches Totalitätsmoment aus. Dies wäre ein Rückfall in eine dualistische Leib-Geist-Anthropologie, hinter Luthers totus-homo-Anthropologie zurück. Schließlich ist noch hinzuzufügen, dass Luther sogar die erstgenannten rechtfertigungstheologischen totus-totus-Aussagen mit einem partim-partim versehen kann. Eben weil unter diversen Rücksichten beide zugleich gelten und insofern partial, weil eine Teilrücksicht sind.167 Für die Zuordnung von Total- bzw. Partialaussagen

de, nicht nur in bestimmten, etwa weniger ›vornehmen‹ Bezirken. […] Der Mensch ist als Ganzer vom Glauben besetzt, hat keinen ›Regenten‹ außer ihm. Aber überall im Menschen, wohin der Blick auch wandern mag, haust noch der alte Feind.« Man sollte freilich (anders als Schloenbach, ebd., 46–56), deutlich zwischen totus homo iustus/totus homo peccator und totus homo spiritus/totus homo caro unterscheiden, da sie bei Luther zumeist für den Total- und Partialaspekt des simul bzw. für Rechtfertigung im strengen Sinn und als sanatio stehen. 166 Diese Differenzierungen sind letztlich nicht klar erfasst bei Nilsson, Simul, 310–357, bes. 310–329, der die rechtfertigungstheologischen und existentiell-soteriologischen Totalaussagen immer wieder vermischt. Das Bestreben, überall die Denkform der communicatio idiomatum bei Luther zu entdecken, dient hier nicht der Klarheit. 167 Ein sowohl den Partialaspekt im engeren Sinn wie den Totalaspekt umgreifendes Verständnis des partim-partim dürfte 56,442,20 ff. vorliegen, wo Rechtfertigung als je neue Ganzheiligung der Person und fortschreitendes Gerechtwerden eng ineinander liegen: »Si ergo semper penitemus, semper peccatores sumus, et tamen eoipso Iusti sumus ac Iustificamur, partim peccatores, partim Iusti, i. e. nihil nisi penitentes.« 2,496,39–497,24 (496,39–497,1; 497,13: »Quomodo in Christo iustificati non sunt peccatores et tamen sunt peccatores? […] Simul ergo iustus, simul peccator.«) liegt offenbar eine komplexe Zusammenschau von ganz Gerechtsein in Christus und dem partialem Gerecht- bzw. Sündersein auf Seiten des Menschen vor. Zu Letzterem tritt dann zudem ergänzend die non-imputatio des reliquum peccati hinzu. Das totus peccator wird an dieser Stelle nicht explizit gemacht. Dass der Totalaspekt (mit) anvisiert ist, ist auch in 39 I,542,5–19 nicht auszuschließen, da im Kontext die Rede von Fleisch und Geist nicht begegnet. Stattdessen ist von der Sündenvergebung propter Christum die Rede: »Lex promiscue docenda est tam piis, quam impiis, quia pii partim iusti sunt, partim peccatores. […] Christianus sit vere Thomista vel gemellus, partim sanctus, partim peccator. […] Lex promiscue docenda est tam piis,

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zum Total- oder Partialaspekt ist also unbedingt der Kontext zu berücksichtigen, das Vorkommen des simul oder totus-totus bzw. partim-partim reicht dazu allein nicht aus!

3.2 Zum sachlogischen Status des Urteils »totus peccator« Man kann nun fragen, welchen sach-logischen Status bzw. welchen Realitätsgehalt das Urteil totus peccator über den Christen besitzt – neben dem von der Gnade Gottes, von Christus her geltenden totus iustus und dem partialen spiritus- und caro-Sein. Zunächst kann dieses Urteil als eine Abstraktion gekennzeichnet werden: Es trifft zu, abgesehen von der Glaubensrelation zu Gott bzw. Christus und in Bezug auf den Menschen an sich selbst und seine bleibende Sünde. Es gilt dieses Urteil angesichts des dem Menschen unerreichbaren »Tiefgangs« der göttlichen Gebote168 und des strengen Gerichts Gottes. Gerade so will Gott in Christus den Glaubenden aber nicht »messen« und richten, Gott selbst spricht das Urteil »totus peccator« nicht, obwohl er dazu alles Recht hätte. Wir sind nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade! Der unbekehrte, glaubenslose Sünder spricht dieses Urteil gleichfalls nicht, da er um seine Sünde in ihrer letzten Tiefe gar nicht weiß, ja sie negiert und sich sogar für gut und gerecht hält.169 Es ist deshalb der glaubende, gerechtfertigte Mensch, der dieses Urteil über sich fällt, hebt Luther doch immer wieder hervor, dass man allein vom Standpunkt des neuen Menschen zu einer derartigen Selbsterkenntnis gelangen kann. Sie ist also ein Ausweis der Glaubensgerechtigkeit, das Urteil ein Glaubensurteil!170 Der Gerechtfertigte quam impiis, quia pii partim iusti sunt, partim peccatores.« (542,5 f.18 f.) – Eindeutig im Sinn des Totalaspekts versteht 39 I,563,8–564,7 das partim-partim. In der obiectio heißt es: »Ergo non est facienda illa particularitas, quod simus partim iusti, partim iniusti. Consequentiam probo, quia nos sumus totaliter iusti vel totaliter peccatores.« (563,8–12) Das simul wird also abgelehnt, weil wir nur entweder ganz gerecht oder ganz Sünder sein könnten. »Totus« wird als »totaliter« interpretiert! Luther respondiert dann so, dass er das simul der totaliter iusti und totaliter peccatores unter Angabe zweier diverser Rücksichten verteidigt, das »totaliter« aber anders, nämlich als »in tota persona geltend« auffasst. Text s. u. Analoges gilt für das »partim sumus iusti, partim iniusti« bzw. »nos esse partim iustos, partim peccatores« in 39 I,561,11; 562,11, obwohl bei den anderen Begriffspaaren der Stelle der quantitative Aspekt leitend ist. 39 I,504,24 f. (»Christianus est gemellus, est partim triumphans, partim militans«) ist wohl ebenfalls vom Kontext her von der Totalperspektive zu verstehen. Zumindest ist das totus iustus von Christus her angesprochen. 168 So Althaus, Theologie, 377. 169 Gleichwohl steht er natürlich unter dem Urteil Gottes: totus peccator! 170 Der Sünder vermag sich seine Sünde nur dann selbst zuzuschreiben, »wenn er sich von sich selbst als Sünder unterschieden wissen darf« (Pfleiderer, Sünde, 333). Freilich kann das Urteil »totus peccator« dann ein Urteil des Unglaubens sein, wenn es vom angefochtenen Glauben in isolierter Perspektive gefällt wird. Dieser ist dann so auf die Sünde

Simul 485 muss sich so sehen, wenn er von seiner Christusrelation im Glauben abstrahiert. Insofern könnte man paradox formulieren: Das Urteil »totus peccator« spricht der und nur der, der nicht mehr totus peccator ist! Ein logischer Widerspruch liegt damit aber nicht vor, da das totus peccator in beiden Satzhälften unterschiedlich verstanden wird: Zunächst geht es um das totus peccator des Gerechtfertigten oder um das peccatum regnatum, dann um das totus peccator des bloßen, d. h. unbekehrten Sünders bzw. um das peccatum regnans.171 Gleichwohl ist das Urteil »Ich bin Sünder« keineswegs eine gehaltlose Abstraktion,172 sondern beschreibt eine Realität, die wir im Unglauben des alten Menschen jederzeit vollziehen, sofern dieser irdisch mit dem Glauben noch koexistiert und unsere Christusrelation bestreitet und negiert. Dennoch geschieht solche Negation – anders als beim unbekehrten Menschen – nur partial, sind wir doch auch partial Glaubende, d. h. diese Relation im Glauben an uns geschehen Lassende.173 Wir negieren sie zwar noch mit jeder Faser und Dimension unseres Daseins, aber mit keiner Dimension unseres Daseins ganz! Indessen macht uns diese partiale Negation des Glaubens vor dem Gesetz, vor dem Gericht Gottes ganz zu Sündern, das Urteil totus peccator würde also gelten, trüge uns als Ganzen den Titel »Sünder« ein, wenn Gott so – nach dem Tatbestand in mir, nach dem Gesetz – urteilen würde (was er aber nicht tut!) bzw. wenn wir nicht ganz unter der Gnade stünden. Der partiale Glaube samt seinen Ausstrahlungen in die Person hinein, kurz: der neue Mensch kann mithin aus diesem Urteil – kraft der unio personalis mit dem alten Menschen – nicht ausgenommen werden. Der ganze Mensch ist für Letzteren haftbar und davon tangiert, er kann ihn nicht auf einen inferioren Bereich seiner selbst abdrängen!

fixiert, dass er das in Gottes Barmherzigkeit gründende »totus iustus« nicht mehr zu sehen vermag. In dieser Situation ist der Blick auf sich selbst, d. h. auf das totus peccator und die eigene »Hölle«, klar verboten, der Blick soll ausschließlich auf Christus gerichtet sein: »Suche dich nur in Christo und nit yn dir, ßo wirstu dich ewiglich yn ihm finden.« (2,690,24 f.) Ähnlich 34 I,277,14 ff. 171 Vgl. Schloenbach, Heiligung, 50 ff.: »Eben dies Bekenntnis ›totus homo peccator‹ ist ihm [Luther] Beweis: hier redet einer, der gerade nicht totaliter carnalis sein kann: hier muß außer der caro schon solches Urteil fällender Glaube wohnen – könnte doch die Sünde so nie reden«; Prenter, Lehre, 70: »Es wird dann klar, daß nur derjenige sich selbst als totaliter Fleisch erkennen kann, der an Christus glaubt und seine Zuflucht allein zu seiner Gerechtigkeit nimmt, d. h. derjenige, der nicht mehr ganz Fleisch ist.« 172 Keine Abstraktion ist gehaltlos, sondern sie sieht nur von etwas anderem ab, »abstrahiert« davon. Dass das Bekenntnis »Ich bin Sünder!«, welches immer eine Totalitätsbestimmung intendiert, keine gehaltlose Abstraktion darstellt, legt sich schon von daher nahe, dass der Christenmensch permanent unter der göttlichen Vergebung steht, also totus peccator ist. Sonst gäbe es nichts zu vergeben! 173 Das totus peccator beim Christen ist folglich (wie schon erwähnt) vom totus peccator des glaubenslosen Menschen zu unterscheiden – so wie das totus iustus des Christen vom totus iustus des eschatologisch vollendeten Menschen.

486 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Das Urteil »totus peccator«, das als Abstraktion doch auf eine Realität im Menschen verweist, macht so die Schwere der bleibenden partiellen Sünde sowie die Verantwortlichkeit der ganzen Person für sie deutlich und sichert auf diese Weise die dauernde Angewiesenheit des Christen auf die Gnade: Vor Gott bin ich jederzeit ganz von Christus und der Gnade abhängig! Das totus iustus von Gott her wird rein erhalten durch das totus peccator vom Menschen her. Es bewahrt die Gnade davor, zu einem verfügbaren Besitz und einer prinzipiellen Selbstverständlichkeit herabzusinken. Oder anders formuliert: Das Urteil totus iustus kann sich niemals auf unsere partiale sanitas und iustitia, sondern immer nur auf Christus berufen. Es stützt sich exklusiv auf die iustitia aliena! Das Urteil totus peccator gründet dagegen auf der partiellen Sünde, die quoad nos synekdochisch (pars pro toto) alles zur Sünde macht, auch das neue Leben, die partielle sanitas.174

3.3 Verhältnisbestimmungen zwischen »iustus« und »peccator« Blicken wir nun auf Luthers Verhältnisbestimmungen von peccator und iustus hinsichtlich ihrer Terminologie im Einzelnen, wofür die Römerbriefvorlesung von 1515/16 besonders ergiebig ist. Zur Bezeichnung des rechtfertigungstheologischen Totalaspekts finden sich die Wendungen »intrinsece (peccatores)« – »extrinsece (iusti)« (56,268,27 f.; AWA 1,549,5 ff.; 31 I,689,12 f.), ebenso die Gegenüberstellung von »in nobis«, »in nostris oculis«, »in nostra aestimatione (peccatores)« – »apud Deum, in reputatione eius (iusti)« (56,268,31–269,1; vgl. 271,29 f.; AWA 1,548,17 f.; 549,7 f.; 550,1 f.). Dem korrespondiert das Begriffspaar »re vera (peccatores)« – »reputatione miserentis Dei (iusti)« (56,269,28; AWA 1,548,17 f.; vgl. 2,418,30–33). Immer geht es darum, dass wir im Blick auf uns und unser eigenes Sein (ganz) als Sünder zu qualifizieren sind, während unsere Gerechtigkeit extra nos in Gottes Vgl. zum Ganzen Schloenbach, Heiligung, 46 f.1, bes. 47: »So dient der Hinweis auf ein ›totus homo [peccator]‹ dazu, die Schwere und Personalität des ›partim peccator‹ zu nennenden Tatbestandes, als auch die Größe der Gnade Gottes zu unterstreichen, der zufolge solches Urteil ›totus homo peccator‹ gerade nicht über den Glaubenden ausgesprochen wird – sondern im Gegenteil: völlig aufgehoben und ausgeschlossen ist«; ebd., 50–54. Schloenbach führt weiter aus, »daß des Glaubens Bekenntnis ›totus homo totus peccator‹ […] nicht schon die theologische Auskunft über den wirklichen Sachverhalt«, sondern »vielmehr dessen Symptom« sei (50), bzw. dass der Glaube sich gerade dadurch als recht erweise, »daß er sachlich […] unrecht hat« (52); 53: »Der Glaube bekennt sich dann also dazu, ausgerechnet das zu sein, was er gerade nicht ist. Was er sagt, müßte nicht er, müßte im Gegenteil die Sünde von sich sagen. Aber das wird sie nie tun. So wird der Glaube seines Todfeindes Sprecher.« Solche paradoxen Sätze können unterstreichen, dass die imputatio Gottes und nicht mehr die Sünde die eigentliche Realität des Sünders darstellt. Festzuhalten bleibt aber, dass das Urteil »totus peccator« quoad nos jederzeit und für alles gilt! 174

Simul 487 »Reputation«, Ansehung und Urteil liegt, wodurch eben ein strenges Zugleich gegensätzlicher Momente und Sichtweisen behauptet wird. Gott spricht den Sünder gerecht, seine Sünde aber bleibt. Dem entspricht auch das Begriffspaar »peccatores in re« – »iusti in spe« (56,269,30; 272,19 f.; AWA 1,548,19; 40 II,24,6 f. [Hs]: »iustitia nostra non in re, sed in spe«)175, welches die menschliche Eigenwirklichkeit von der Sünde bestimmt sieht und auf das eschatologisch vollendete Gerechtsein vorausblickt, eine Hoffnung, die freilich die gegenwärtige Realität schon bestimmt und verändert. Die enge Nachbarschaft zur Wendung »re vera peccatores« – »reputatione Dei iusti« bzw. die Kombination beider Distinktionen (56,282,11 f.: »[peccator] in re vera« – »[iustus] propter humilitatem fidei in timore, in spe et non-Imputatione«; 1,149,9 f.: »peccator secundum rem, iustus secundum spem, peccator revera, iustus per imputationem Dei miserentis«) zeigen, dass damit die gegenwärtige Gerechtigkeit durch die imputatio Gottes nicht ausgeschlossen ist. Ebenso negiert diese Wendung nicht die anfängliche iustitia actualis, wenngleich diese irdisch nie in loco iustificationis zu stehen kommt. Dies belegen Sätze wie »re vera egroti, Sed inchoatiue et in spe sani« (56,347,12 f.); »omnis qui credit in Christum iustus est, nondum plene in re, sed in spe« (2,495,1 f. mit Verweis auf Lk 10,30–35; vgl. 40 II,24,19–22).176 Besonders in den späten Disputationen hat Luther mit der Gegenüberstellung »realiter« (bzw. »substantialiter«) – »imputative« gearbeitet, sie kann deshalb nicht auf seine Frühzeit beschränkt werden: Die Sünde wird durch die Taufe imputative vergeben bzw. weggenommen, bleibt aber realiter bzw. substantialiter (39 I,95,16 ff.). Realiter wird sie erst im Tod vernichtet, obgleich das reale, effektive »Ausfegen« jetzt schon begonnen hat (39 I,98,5–11; 99,24–29). In diesem Zusammenhang wird sowohl die Distinktion in re, re vera, realiter (peccatores)/ imputatione iusti als auch die in rem/in spem wieder aufgegriffen, ohne dass dadurch die präsentische Glaubensgerechtigkeit sowie die progressive Gerechtwerdung ausgeschlossen werden sollten.177 Es bleibt also bei Luther bis in seine späten Texte hinein das in der Römerbriefvorlesung sich massiv ankündigende terminologische Problem, dass das Anstelle der Unterscheidung von res/spes kann auch die von res bzw. veritas und promissio treten: »Egrotus in rei veritate, Sed sanus ex certa promissione medici […]; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa.« (56,272,8 f.17 f.) – Zur noch nicht so dezidiert auf die Rechtfertigung bezogenen Verwendung der Formel in re/ in spe in der ersten Psalmenvorlesung (1513–1515) und ihrer augustinischen Herkunft vgl. Lohse, Theologie, 73 f., 89. Dort auch Belege. 176 Ausschließlich in frühen Texten Luthers findet sich noch das Begriffspaar »ignoranter iusti«/»[con]scienter iniusti [peccatores]« (56,269,30; 57 I,164,14; 1,148,8 f.; AWA 1,548,18 f.). Da die reputatio Gottes dem Menschen verborgen ist, kann er um diese nicht eindeutig wissen, sondern muss immer neu um sie bitten. Vgl. 56,252,20 f.; 268,21 ff.; AWA 1,550,2 f. Luther lehrt vor 1517/18 noch keine Heilsgewissheit, da das Wort des Evangeliums noch nicht vom Gerichtswort des Gesetzes klar unterschieden ist. 177 Vgl. 39 I,97,19–22; 99,15–31; 112,8 f.; 241,18–27; 252,24 f.; 298,4–11; 301,3–7; 514,18 f. 175

488 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Bleiben der Sünde mit den »realitätshaltigen« Termini versehen wird, wogegen das »Imputative« der Gerechtigkeit eine unvollkommene, minderwertigere Wirklichkeit zu sein scheint (39 I,95,24: »imputative tantum«). Das ist natürlich nicht Luthers Auffassung, konnten wir doch herausarbeiten, dass ihm das Tröstliche und Gewissmachende des schon Gerechtseins innerhalb der simul-Formel im Laufe der immer klarer hervortretenden reformatorischen Erkenntnis zunehmend wichtiger wird. Was könnte es für eine größere, das menschliche Leben stärker verändernde Realität geben, als im Glauben von Gott gerechtgesprochen zu sein, in engster Gemeinschaft mit Christus zu stehen und von hier aus ein anderer Mensch zu sein!178 Ansätze, das terminologische Problem zu lösen und im Vergleich zur bleibenden Sünde den größeren Realitätsgehalt der imputatio zu artikulieren, finden sich in einem Text aus der Disputation De iustificatione: »Nos vero agimus Deo gratias, quod sua imputatio maior sit, quam nostra impuritas, et peccatum, quod re vera cum non tollitur, sublatum imputetur et absorbeatur bonitate Dei dissimulantis propter Christum obumbrantem, quamquam naturale et substantiale maneat. […] Haec imputatio non est res nihili, sed maior est, quam totus orbis, et omnes sancti angeli.« (39 I,97,18–98,2)179 In der Folge wird das Nicht-Gel Luthers Rede von »vollkommen« und »unvollkommen« im Blick auf die Rechtfertigung geschieht differenziert, je nach eingenommener Perspektive. Zu unterscheiden sind die imputative Gerechtigkeit, die anfängliche Gerechtmachung und die eschatologisch vollendete Gerechtigkeit unter Aufhören der imputatio. So kann erstens gesagt werden: Unsere Gerechtwerdung bzw. reale Gerechtigkeit oder regeneratio ist unvollkommen im Vergleich zur eschatologischen Gerechtigkeit. Sie wird irdisch zur Vollkommenheit durch die imputatio Dei erhoben: »Regeneratio est primitiae Spiritus, non est perfecta regeneratio, fit autem perfecta reputante Deo«: 39 I,234,27–235,20 [rechts]). Jetzt sind wir gerecht erst »in spe«. Zweitens kann die Aussage getroffen werden: Die gegenwärtige imputative Gerechtigkeit ist vollkommen (»Iam accepto Christo fide omnia habemus, neque quicquam nobis ad iustificationem et salutem deerit«: 39 I,285,20 f.; 2,490,36–491,1), d. h. sie lässt uns vor dem Gericht Gottes bestehen, während unsere werdende Gerechtigkeit vor diesem Forum vergeht und unvollkommen ist (39 I,235,21–31). Und drittens gilt: Im Vergleich zur Liebesgerechtigkeit der Vollendeten ist auch die irdische Gerechtigkeit durch imputatio unvollkommen und ein Interim: »Interim, quia credimus in filium, sumus iusti in spe, non sumus re ipsa salvi, sed in spe tantum. Illa regeneratio est tantum initialis.« (39 I,298,6 ff.) Die Glaubensgerechtigkeit scheint hier ebenfalls im Vergleich zur eschatologisch vollendeten regeneratio als unvollkommene regeneratio in spem verstanden zu sein. Gegenüber der Gerechtigkeit der Engel (und der prälapsarischen Adams!) ist sowohl unsere imputative Gerechtigkeit als auch unser initium iustitae unvollkommen: »Si haberemus eam charitatem erga Deum et hominem, essemus etiam iusti, sed quod non habemus, iustificamur fide et expectamus eam in spe. Angeli sunt revera iusti Deo creante, sed nos sumus imputatione iusti et initium iustitiae propter eum, in quem credimus, accipimus.« (39 I,301,4–7; vgl. 234,5–15 [rechts]) 179 Vgl. auch 39 I,83,37 f.: »Nec peccatum ullum, sive praeteritum, sive reliquum in carne manens, imputari, sed velut nullum sit, remissione interim tolli«; 98,3 f.: Der salvator kann unsere Sünde »reputare pro nihilo«; 111,17–25: »Ideo peccatum non damnat nos, non est efficax in carne nostra, non habet suam vim, serpens amissit suum venenum et spiculum 178

Simul 489 ten der Sünde kraft der non-imputatio sogar als der Schöpfung aus dem Nichts spiegelverkehrt vergleichbare Annihilation der Sünde bezeichnet: »Misericordia Dei ex omni sic peccato facit nihil, sicut ex nihilo omnia.« (39 I,122,11 f.) Am energischsten hat Luther diese Frage wenige Jahre zuvor im Großen Galaterkommentar aufgegriffen, wo das Christusereignis der Sünde übermächtig begegnet,180 so dass das re vera bzw. in re auch terminologisch von der Seite der Sünde auf die Seite der Heilswirklichkeit wechselt. Bezeichnend ist auch, dass solche »Problemlösung« sich unter dem ungeheuren Druck der Sündenanfechtung anbahnt: In Christus und für den Blick des Glaubens gibt es re vera keine Sünde mehr in der Kirche, und die an Christus Glaubenden sind keine Sünder mehr, sondern schlechthin Heilige und Gerechte. Die Sünden sind nicht re vera dort, wo sie wahrgenommen und gefühlt werden, sondern in Christus, der sie auf sich genommen hat. Diese Sicht trübt uns nur die Unvollkommenheit unseres Glaubens (incredulitas neben fides). Freilich beurteilen das die Vernunft und der Augenschein, die Philosophie und die Welt anders, und der von Christus abgewandte Blick auf die eigene und des Nächsten Person muss ihnen Recht geben.181 Ohne nocivum, sed manet tantum serpens sine aculeo; donec ego in Christo maneo, non nocet mihi illud peccatum originale et venenum«; 493,4 f.: »non habetur [peccatum adhuc in carne] pro peccato, sed condonatur propter Christum et est quasi nullum«; 563,14; 564,4, wo es sowohl »revera et totaliter iusti« als auch »revera […] et totaliter peccatores« heißen kann. Siehe auch 40 III,333,36–334,33: Wir müssen in der Anfechtung sowohl die Verderbensmächte, also auch die Sünde, wie auch uns selbst nicht in ihrer »Substanz«, ihrem »Ansich«, sondern in der Relation zu Christus und zum Wort betrachten. Dann wird ihre Ohnmächtigkeit, ja Nichtigkeit und die uns im Glauben geschenkte Allmacht des Wortes als eigentliche Realität offenbar: »Sed debemus esse Dialectici et, quando adversus hostes pugnandum, nos debemus nos ex simplici et absoluto substantiae praedicamento transferre in praedicamentum relationis: ut scilicet pugnemus non simpliciter ut homo constans ex corpore et anima, sed ut Christianus, baptisatus in nomine Christi, habens donum Spiritus et verbum.« (334,23–28) Die eigentliche Realität bildet also die Relation zu Christus und seinem Wort, nicht Tod, Sünde, Satan und Hölle. 180 Vgl. nur 40 II,86,15 ff.: »Uberior tamen iusticia nostra est quam peccatum, quia sanc­ titas et iusticia Christi, Propitiatoris nostri, longe superat peccatum totius mundi.« – Zur Antizipation dieser Gedanken im »Sermon von der Bereitung zum Sterben« (1519) siehe Teil I, Kapitel 1.2.5 (Anm. 207). 181 Vgl. 40 I,444,14–445,36 (zu Gal 3,13): »Quatenus igitur hoc credis, eatenus habes. Si credis Peccatum, Mortem et Maledictionem abolita esse, abolita sunt; Quia Christus ista in Semetipso vicit et sustulit […]. Quare si te angit peccatum, si perterrefacit mors, cogita in vanum esse spectrum et diaboli illusionem, ut certe est. Re vera enim nullum amplius est Peccatum, nulla Maledictio, nulla Mors, nullus Diabolus, quia Christus haec omnia vicit et abolevit. Itaque victoria Christi est certissima neque defectus est in re, cum sit verissima, sed in incredulitate nostra; Quod autem Christo nunc regnante nullum re vera amplius Peccatum, Mors et Maledictio sit, confitemur etiam quotidie im Symbolo Apostolorum, cum dicimus: ›Credo Ecclesiam sanctam‹; Quod plane nihil aliud est, quam si diceremus: Credo nullum peccatum, nullam mortem in Ecclesia esse; Quia credentes in Christum non sunt peccatores, non sunt rei mortis, sed simpliciter sancti et iusti, domini peccati et morti et in

490 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

dass Luther die These vom peccatum reliquum zurücknimmt, geht er hier soweit zu sagen, dass dieses im Glauben eigentlich keine substanzhaltige Wirklichkeit mehr besitzt, weil Christus die eigentliche Wirklichkeit darstellt. Freilich muss konzediert werden, dass Luther – an dieser Stelle angeregt und geleitet durch den auszulegenden Bibeltext Gal 3,13 – diese Terminologie in den späteren Disputatio­ nen so nicht durchgehalten, sondern von neuem auf die früheren Distinktionen der Römerbriefvorlesung Bezug genommen hat. Eine weitere, umfangreiche Gruppe von Stellen kontrastiert einfach die beiden Hinsichten, unter denen das peccator- bzw. iustus-Sein gilt – und dies oft als tröstlicher Zuspruch in der Anfechtung durch Sünde und Gesetz: im Blick auf mich selbst (die eigene Person) – im Blick auf Christus;182 vor mir selbst – vor Gott; in mir – in Christus bzw. außerhalb von Christus – außerhalb meiner selbst; um des Wortes der Vergebung willen – um des eigenen Lebens willen. Gemeint ist hier immer die eigene Person, das eigene Leben und Tun abgesehen oder »abstrahiert« von der Gottes- bzw. Christusgemeinschaft – und die eigene Person, das eigene Leben innerhalb der Gottes- bzw. Christusrelation. Man könnte auch von der Duplizität von substantialem und relationalem Gesichtspunkt sprechen: Meine »Substanz« oder schwächer: meine »Qualität« ist – postlapsarisch – die Sünde, die von einer neuen Relation bestritten wird: »Christianus est dupliciter considerandus, in praedicamento relationis et qualitatis. Si consideratur in relatione, tam sanctus est, quam angelus, id est imputatione per Christum […]. Sed christianus consideratus in qualitate est plenus peccato.« (39 II,141,1–6)183 Dabei gilt hier – wie schon ausgeführt – ein Doppeltes: Das eigene, den ganzen Menschen erfassende Sünderaeternum viventes. […] Ideo peccata non sunt revera ibi, ubi cernuntur et sentiuntur. Nam secundum Theologiam Pauli nullum peccatum, nulla mors, nulla maledictio est amplius in mundo, sed in Christo […]. Ubicunque igitur est fides in Christum, ibi re vera peccatum abolitum, mortuum et sepultum est. Ubi vero non est fides in Christum, ibi peccatum manet«; 538,14 f.; 40 II, 30,28–33,24, bes. 30,34–31,20. Siehe auch schon 8,87,7–10: »Nam vere peccata nostra a nobis translata sunt et posita super ipsum [Christum], ut omnis qui hoc ipsum credit, vere nulla peccata habet, sed translata super Christum absorpta in ipso, eum amplius non damnent.« Dies gilt trotz des Bleibens der Sünde! 182 Zu Jüngels Kritik (Amica exegesis, 261 f.) daran, für den Aspekt des peccator beim Christen den Personbegriff zu verwenden (die Person des Menschen werde für Luther vielmehr durch den Glauben konstituiert), s. u. Teil III, Kapitel 5.4.2.1). Wie die angeführten Belege zeigen, ist die oben gewählte Redeweise von Luther terminologisch und sachlich gedeckt. 183 Vgl. 8,77,9 ff.: »Peccatum enim […] volui et nunc dico praedicatione perseitatis inesse operi bono quam diu vivimus«; 31 II,689,12–21; 39 I,8,10–13: »Summa, Nos nihil sumus, Christus solus est omnia, qui si avertat faciem suam, nos perimus et Satan triumphat, etiam si Sancti, Petri et Pauli essemus«;  40 II, 327,20 f.: »Theologus autem disputat de homine peccatore. Haec hominis substantia est in Theologia«; 353,36–354,17: »Ergo Christianus non est formaliter iustus, non est iustus secundum substantiam aut qualitatem […], sed est iustus secundum praedicamentum ad aliquid, nempe respectu divinae gratiae tantum et remissionis peccatorum gratuitae«; 49,95,33 ff.

Simul 491 sein stellt einerseits eine Abstraktion dar, die im Glauben streng genommen nicht mehr gilt bzw. nur zum Lobpreis der Gnade vollzogen wird und in isolierter Weise nur vom angefochtenen Glauben vorgenommen wird, dem durch das Fixiertsein auf die eigene Sünde die göttliche Barmherzigkeit aus dem Blick zu geraten droht. Zum anderen ist dieses dem Glauben durch Unglauben und Selbstsucht widerstrebende Wollen in mir noch vorhanden – und zwar simultan vorhanden zum von Gott bzw. Christus gewirkten Glauben und neuen Wollen der Liebe. Nun einige markante Beispiele für diese Art der Verhältnisbestimmung: »Ein iglicher ist aus im selber ein teufel, aber aus Christo heilig. Also wenn man die Heiligen mit Christo verknüpfft, so sind es Christi rechte Heiligen.« (1,277,1–3) – »Sein kinder, und doch szunder, sein angenem, und thun doch nit genug: das macht alles der glaube, in gottis hulde befestiget.« (6,216,9 ff.) – »Sic sumus peccatores et iusti simul, quia sumus in peccatis unser person halben, Inn unserm namens sind wir sunder, Sed Christus bringt ein andern namen, schencket uns die sunde.« (37,34,36–39; vgl. 39 I,504,21 f.) – »Bin ich denn ja ein sunder, so bin ich doch ja kein sunder, Ein sunder bin ich jnn mir selbs ausser Christo, Kein sunder bin ich jnn Christo ausser mir selbs.« (38,205,27 ff.; vgl. 17 I,116,13–28) – »Si sum peccator in me, in Christo non sum peccator.« (40 II,327,31 f.) – »Et sic vocor albior nive, non propter formam sed Christum […]. Si soli, sumus diaboli.« (40 II, 407,11–408,2 [Hs])184 – »Ita, in quantum Christianus, eatenus enim sum iustus, pius et Christi, sed quatenus respicio ad me et ad meum peccatum, sum miser et peccator maximus.« (39 I,508,5 ff.) – »Quoad Christum dominum nostrum et remissionem peccatorum in Christo sumus vere sancti, mundi et iusti […]. Verum quod ad me et carnem meam, sum peccator.« (39 I,552,13–553,3; vgl. 493,16 f.)185 – »Sic etiam revera sumus et totaliter peccatores, sed quod ad nos respiciendo et prima generatione, sed e contra quoad, quod Christus pro nobis datus est, sumus sancti et iusti totaliter, ita diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel.« (39 I,564,3–7) – »Istum sanctum debeo vocare, quem video peccatorem [?]. […] Christianus propter verbum iudicandus est [sanctus], non propter vitam et opus.« (15,508,20–23) Luther kann auch unterscheiden zwischen unserer Relation zu Christus, unserem Bestimmtsein durch ihn und unserer Relation zu und Herkunft von Vgl. 40 II,407,31–34 (Dr): »Quodsi Christianum intuearis seclusa Christi iustitia et puritate, qualis in se sit, etiam cum est sanctissimus, tum invenies non solum mundiciem nullam, sed diabolicam, ut sic vocem, nigredinem«; 40 II,527,6 f. (Hs): »Interim, dum vivimus, quod nihil est inquinatum in nobis quo ad Christum, quo ad nos inquinatissimi, pleni concupiscentia«; 46,127,15 f.: »Si [sancti] vero soli inspiciuntur, sunt peccatores. Sed sub Christo non possunt peccare«; 34 I,308,11 f.: »Auff uns [gesehen] haben wir nihil quam peccatum, In Christo eitel gnad«; 470,9: »propter hanc fidem ist er [christianus] from, quanquam in se peccator.« 185 Vgl. 39 I,514,17–21: »Non quia nos tales simus revera iusti et sine peccato, sed quia sic reputamur iusti propter Christum dominum, salvatorem et pontificem. Quia autem tales quoad nos non sumus, quales esse debeamus, necesse est in ecclesia retineri legem.« 184

492 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Adam, so dass sich in uns quasi zwei Herkünfte und Ursprünge, zwei Zeiten bzw. Äonen überlappen: »Wir aber sollen wissen, dass wir fur unser person als Adams kinder wol verdampte sünder sind und kein eigen gerechtigkeit noch heiligkeit haben, Aber weil wir getaufft sind und an Christum gleuben, so sind wir jnn Christo und mit Christo heilig und gerecht.« (31 I,167,25–28) – »Cum igitur me peccatorem sentio et fateor propter transgressionem Adae, cur non dicerem me iustum propter iustitiam Christi?« (40 I,300,19 f.)186 – »Ubi sum christianus, ibi sanctus, sed ubi homo et filius Adae, peccator sum, ideo clamo: Sursum in Christo est victoria, deorsum in Adam non est pax aut quies, sed pugna et militia.« (39 I, 507,23–508,19)187 – »Ita in Christo non est peccatum et in carne nostra non est pax et quies, sed pugna perpetua, dum hic vetus Adam atque haec corrupta natura manet, et quae non nisi in morte aboletur.« (39 I,508,7 ff.; vgl. 562,10–17; 564,3–7 [s. o.]) Das Zugleich von Adam und Christus in uns ist aber kein statisches, sondern ein dynamisch-prozesshaftes: Adam in uns soll dem Christus in uns immer mehr weichen, ohne dass Adam irdisch je ganz ausgetrieben werden könnte. »Nu ists mit unß alßo, das Adam auß muß und Christus eyn geen, Adam zu nichte werden und Christus allein regiren und seynn, derhalben ist waschens und reynigens kein ende yn disser tzeit.« (1,186,25 ff.)188 Wir haben bis jetzt jene Verhältnisbestimmungen vorgestellt, die Luther vornimmt, um das simul im eigentlichen, rechtfertigungstheologischen und totalen Sinn zu formulieren. Für die zweite, partiale und auf die werdende Gerechtmachung sich beziehende Sichtweise differenziert Luther zumeist zwischen Geist und Fleisch bzw. altem und neuem, innerem und äußerem Menschen, beides jeweils nicht als anthropologische »Teile« des Menschen verstanden, sondern im Sinne zweier konträrer, den ganzen Menschen bestimmender und insofern seiner Person zuzurechnender Willensrichtungen bzw. zweier konträrer concupiscen­ tiae (7,103,25; 329,21 f.): »idem homo est spiritualis et carnalis, Iustus et peccator, Bonus et malus.« (56,343,18 f.) – »quasi [Paulus] simul sit totus caro et totus spiritus.« (56,345,1 f.) – »vnus et idem simul spiritualis sum et carnalis, quia mente, i. e. interiore homine et spirituali seruio legi dei: i. e. non concupisco, Sed diligo Deum et que Dei sunt [;] carne autem exteriore homine lege (leg)i peccati. fomiti et con Vgl. 40 I,48,1–3 [Hs]; 299,34–300,17; 300,3 f. [Hs]: »Sic [peccatorem] ergo dico ›me‹, quando an Adam gedencke, – Sic [iustum], quando an Christum gedencke.« 187 Luther spricht in diesem Kontext vom Christianus als gemellus, von dem gilt: »est partim triumphans, partim militans« (39 I,504,24 f.). 188 Vgl. die Fortsetzung 1,186,27 ff.: »dann Adam, der unß angeborn ist, macht auch unser guten werck, die wir thun yn dem anhebende und zunehmen zu sunden und zu nicht, wen got nit an sehe die angefangen gnade und waschen.« Siehe auch 188,15–22: »Darumb alßo lange als die selb natur und weßen yn und an uns bleybt, alßo lang seynn wyr sunder …]. dan Adam der muß sterben und verweßen, ee dan Christus gantz erstee. darumb ist der todt ein heylsams ding, allen den, die yn Christum glauben. dan er thut nit anders, dan vorweßet und zupulvert als, was auß Adam geborn ist, auff das Christus allein yn unß sey«; 191,2–7.22–25; 208,23–30. 186

Simul 493 cupiscentie, quia concupisco et odio que Dei sunt.« (56,73,7–11) – »Vide, vt vnus et idem homo simul seruit legi Dei et legi peccati, simul Iustus est et peccat. Non enim ait [Paulus]: Mens mea seruit legit Dei, Nec: Caro mea legi peccati, Sed: ego, inquit, totus homo, persona eadem, seruio vtranque seruitutem.« (56,347,2–6) – »Unde et in hoc prophetae spiritus docet, fideles Christi simul esse peccatores et sanctos, et condelectari servireque eos mente legi dei et carne legi peccati. Quantum enim credunt, tantum iusti sunt, quantum vero carnem habent, tantum peccatores sunt.« (5,565,2–5) – »Hic [in Röm 7] unus homo Paulus, sanctus Apostolus, plenus gratia, simul delectatur in lege dei, simul repugnat lege dei, simul vult bonum secundum spiritum, non tamen agit propter carnem, sed contrarium.« (2,412,14 ff.; vgl. 592,15–21) – »At renovari est e vetustate in novitatem mutari, Vestustas autem peccatum est veteris homini, sicut novitas gratia novi hominis. Renovari ergo arguit [Apostolus] inesse vestutatem.« (7,106,32 ff.) – »Probavimus, hominem sanctum spiritu concupiscere adversus carnem et carne adversus spiritum, esseque per haec duo cum Apostolo Paulo servum peccati secundum carnem et servum dei secundum mentem, ac per hoc persona ipsa iusti partim est iusta, partim peccatrix.« (7,137,14–18) – »Und des geistes halben ist er [Paulus] frum, des fleisches halben hat er sund.« (7,333,1 f.) – »Derhalben sie [die Heiligen] zu gleich got dienen nach dem geist unnd der sunden nach dem fleisch. Szo denn nu eyn frum mensch zu gleich ist rechtfertig des geistis halben und sundig des fleischis halben.« (7,435,10–13; vgl. 7,331,30–333,7)189 – »Unus est homo Paulus, qui utrunque de se confitetur, alio et alio respectu, sub gratia est spiritualis, sub lege carnalis, idem idem Paulus utrobique.« (8,119,14 ff.) – »Ideo quod ad nos attinet, partim liberi a lege, partim sub lege sumus. Servimus cum Paulo mente legi Dei, carne legi peccati.« (40 I,536,11 f.)

Diese Stelle zeigt, wie angedeutet, dass Luther bei der Rede von Geist und Fleisch, neuem und altem Menschen auch den Gesichtspunkt der Rechtfertigung im engeren Sinn anklingen lassen kann (»rechtfertig des geistis halben«), der Übergang zur Konzeption der zwei concupiscentiae also gleitend ist. Das liegt ihm besonders nahe, wenn der biblische Kontext nicht Röm 7 ist. Vgl. 5,565,2–10; 17 I,114,11 f.; 114,36–115,1. Möglich ist dieses Oszillieren der Gesichtspunkte deshalb, weil der rechtfertigende Glaube zugleich die innerste Wurzel jenes neuen Wollens ist. Vgl. noch 17 I,122,23–123,28 (rechtfertigungstheologisch); 132,25–134,25 (beide Gesichtspunkte vereinend); 25,368,29–33 (rechtfertigungstheologisch): »Quanquam hoc verum est, quantum ad te et veterem tuum hominem attinet, recte dicis te esse peccatorem. […] Quia autem baptisatus et illuminatus es per verbum, secundum hunc novum hominem vere es iustus.« – Zur dynamischen Simultaneität von neuem und altem, innerem und äußerem Menschen vgl. 1,207,26–38; 208,15–30. Der neue Mensch ist ganz durch sein Bezogensein auf Gott definiert (Harren, Hoffen, Trauen, Glauben). 189

494 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

3.4 Die Denkform der christologischen communicatio idiomatum Luther hat an mehreren Stellen zur Verdeutlichung des simul-Sachverhaltes, insbesondere für den soeben behandelten Partialaspekt der zwei Willenstendenzen im Menschen (Fleisch und Geist),190 auf die christologische Zwei-Naturen-Lehre und die damit verbundene Vorstellung von der Idiomenkommunikation zurückgegriffen. Wie wir sahen, geschieht dies besonders deutlich, aber nicht nur,191 in zwei Passagen der Römerbriefvorlesung von 1515/16 anlässlich der Erklärung von Röm 7,14 ff.: »Sed quia ex carne et spiritu idem vnus homo constat totalis, ideo toti homini tribuit [Apostolus] vtraque contraria, quae ex contrariis suis partis veniunt. Sic enim fit communio Ideomatum, Quod idem homo est spiritua­ lis et carnalis, Iustus et peccator, Bonus et malus. Sicut eadem persona Christi simul mortua et viua, simul passa et beata, simul operata et quieta etc. propter communionem Ideomatum licet neutri naturarum alterius proprium conueniat, Sed contrarissime dissentiat.« (56,343,16–23) – »Ergo nos, mulier propter carnem i. e. carnales, et vir propter spiritum carni [non  ?] consentientem, simul sumus mortui et liberati. Quia persone prouenit hec utilitas utraque, licet partes sint diverse propter quas provenit. Communicant enim ideomata partes toti suo singulas suas. Ideo ait: ›Itaque et vos‹, ait, ›mortificati estis‹, cum tamen solum secundum interiorem mortificati simus et Liberati seu soluti a lege. Quod itidem conuenit toti propter interiorem hominem et communicatur et carni seu exteriori. Qui nec ipsa legi servit seu peccatis, sed liberata est propter interiorem Liberatum, cum quo idem est homo, cuius est et erat mulier.« (56,344,13–22; vgl. Röm 7,1–4) Luther denkt Fleisch und Geist, die beiden konträren Strebensrichtungen in dem einen Menschen, analog zum Verhältnis der menschlichen und göttlichen Natur in der einen Person des Christus, die diesem ebenfalls »zugleich« eigen sind. So wie die Eigenschaften der beiden Naturen dieser einen Person Christi mitgeteilt, »kommuniziert« werden, so dass von dem einen Christus Göttliches Diese Akzentuierung wird bei Nilsson, Simul, 310–357, nicht gesehen, was zu einer interessanten, aber von Luther nicht gedeckten Ausweitung der Denkform der Idiomenkommunikation auf den Totalaspekt und das Verhältnis von Total- und Partialaspekt führt. Vgl. oben Anm. 158. 191 Vgl. auch 1,177,11–14: »Muß war seyn das er [der Psalmist] sund hatt, als er sagt, unnd doch auch war, das er an sunde sey, und alßo gleych wie Christus tzu gleych lebendig und todt warhafftig was, alßo zu gleich mußen sie voll sunde und an sunde seynd, die rechten christen seyn« (hier ist aber eher der rechtfertigungstheologische Totalaspekt des simul im Blick); 7,49,22–50,12, wo die Simultaneität von Freiheit und Knechtschaft des Christen sowohl mit der fundamental-anthropologischen Unterscheidung von Seele und Leib als auch mit der soteriologischen von neuem und altem Menschen in Verbindung gebracht und mit Christus verglichen wird: »sic et Christus, quanquam omnium dominus, factus tamen ex muliere, factus est sub lege, simul liber et servus, simul in forma dei et in forma servi.« (50,2 ff.). 190

Simul 495 und Menschliches ausgesagt werden kann,192 so kommen Luther zufolge Geist und Fleisch der einen Person des Christen zu, bestimmen sie jeweils als Ganze, so dass vom Christen eben beides prädiziert werden kann: Er ist jeweils als Ganzer Geist und Fleisch, d. h. er selbst ist Geist und Fleisch,193 obwohl jede Totalität, da durch die andere »begrenzt«, auch wiederum nur einen »Teil« bzw. einen Aspekt dieser Person ausmacht.194 Und wie die Christologie nicht nur eine Mitteilung der Eigenschaften der Naturen an die Person kennt, sondern auch wechselseitig an die jeweils andere Natur,195 so nimmt Luther im zweiten Zitat gleichfalls eine wechselseitige Beeinflussung von Fleisch und Geist an, was er insbesondere für das Fleisch andeutet: Dieses ist durch die »Personalunion« mit dem Geist in dem einen Christenmenschen insofern vom Gesetzes- und Sündendienst frei, als sein gottwidriges, sündhaftes Wollen kraft des Geistes vom Menschen nicht mehr die Zustimmung erhält196 und sich insofern vom totus caro des unbekehrten Sünders Zur zentralen Stellung der christologischen Idiomenkommunikation für Luther unter soteriologischem Gesichtspunkt und deshalb auch in der Abendmahlslehre vgl. neben den Abendmahlsschriften (s. Anm. 195) 20,603,3–606,11; 48,315,6–30; 50,584,36–592,15; 595,1–597,29; 54,48,28–50,12; 89,35–92,24. 40 I,414,24–418,11 deutet auch das Verhältnis von Glaube und Werken nach diesem Denkmodell. Vgl. Nilsson, Simul, 151–260, bes. 227– 260; Lienhard, Zeugnis, 146–184; 228–260, bes. 251–260; Steiger, communicatio; Bayer, Wort. 193 Vgl. 56,344,31–345,2: »Sed quia spiritus et caro coniunctissime sunt unum, licet diuerse sentiant, ideo vtriusque opus sibi toti tribuat, quasi simul sit totus caro et totus spiritus«; 350,27: »Sic idem homo simul est spiritus et caro.« 194 Vgl. 56,342,33–343,2: »Quia eadem persona est spiritus et caro; ideo quod facit carne, totus facere dicitur. Et tamen, quia resistit, totus non facere, sed pars eius etiam recte dicitur«; 7,331,36–333,1: »die weil fleisch und geyst eyn mensch ist, szo wirt yhm zu gerechent beyderlei, ob sie wol widdernander sein, art, werck, lieb und lust.« – Luther hat den Sachverhalt, dass Geist und Fleisch zwar den ganzen Menschen bestimmen und doch nur ein »Teil« von ihm sind, vielfach mit dem Verhältnis von Wunde und verwundetem Menschen verglichen: Nur ein »Teil« von ihm ist verwundet und dennoch tangiert die Wunde den ganzen Menschen, der Mensch selbst ist verwundet. Vgl. 56,350,22–351,2; 352,6–9; 2,585,31–586,9; 8,120,8–11; 120,42–121,1. Für die enge Beziehung zwischen christologischer und anthropologischer Idiomenkommunikation spricht, dass Luther dieses Bild auch für Erstere selbst heranzieht: 10 I/1,150,21–151,3; 20,603,20 ff.; 48,315, 12 ff.; 26,321,19–322,22. 195 Diese auch von Luther zunehmend vorgenommene Zuspitzung der Idiomenkommunikation wird für ihn in der Abendmahlsfrage wichtig, um die Ubiquität der menschlichen Natur Christi und auf diese Weise die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl denken zu können. Dabei wird deutlich, wie wichtig Luther schon unter christologisch-soteriologischem Gesichtspunkt die Idiomenkommunikation ist und wie er sie nicht nur nominal, als uneigentliche Redefigur (vgl. die »Aloiosis« Zwinglis), sondern real versteht. Nur so ist für ihn das wirkliche Eingehen Gottes in unsere menschliche Wirklichkeit und die unlösbare Einheit von Gott und Mensch zu wahren. Von daher wird verständlich, dass der spätere Luther stärker den Austausch der Eigenschaften zwischen den Naturen als deren bleibende Unterschiedenheit hervorhebt. Zum Ganzen 26,317,6–349,34. 196 Die interpretierte Stelle steht in Spannung zu der schroffen Aussage 56,347,2–6: 192

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unterscheidet.197 Ebenso könnte man vom Geist sagen, dass er insoweit durch die caro beeinträchtigt ist, als sein gutes Wollen permanent vom Fleisch verunreinigt und behindert wird und sich insoweit vom eschatologisch vollendeten Menschen unterscheidet.198 Ebenfalls in Analogie zur christologischen Idiomenkommunikation hat Luther im Antilatomus die Relation von Gnade und Sünde in der einen Person des Christen gedeutet, wie deren Regeln überhaupt für theologische Verhältnisbestimmungen (z. B. Gesetz und Evangelium, Mensch und Christus) zu beachten seien. Zwar sind die Eigenschaften der beiden »Naturen« jeweils der ganzen Person Christi zuzuschreiben, dennoch aber nicht in der Weise, dass das, was für Gott oder Mensch schlechthin (simpliciter) bzw. absolut betrachtet gilt, Christus zukommt. Von Gott und Mensch ist in der unio personalis anders zu reden als außerhalb dieser Verbindung. Oder anders formuliert: Von »deus incarnatus« bzw. »homo deificatus« gelten andere Regeln der Prädikation als von deus und homo an sich. Luther führt zwar an dieser Stelle keine Beispiele an, doch lassen sich solche vom späteren Abendmahlsstreit her leicht ergänzen: Gott als Gott kann natürlich nicht leiden oder sterben, aber in der Einheit mit der menschlichen Natur vermag beides sehr wohl von ihm ausgesagt zu werden, ja er ist davon real betroffen. Genauso ist der Mensch als Mensch selbstverständlich räumlich begrenzt, aber kraft der Einheit mit der göttlichen Natur kann vom Menschen Jesus sehr wohl, besonders nach seiner Erhöhung zur Rechten Gottes, Allgegenwart prädiziert werden, ja er partizipiert daran.199 Analog sind nun auch Sünde und Gnade innerhalb und au»Vide, vt vnus et idem homo simul seruit legi Dei et legi peccati, simul Iustus est et peccat! […] ego, inquit [Apostolus], totus homo, persona eadem, seruio utranque seruitutem.« Hier wird offenbar der servitus peccati noch vom Fleisch, ja vom unus et idem homo, der eadem persona ausgesagt. Beide servitus scheinen zudem paritätisch nebeneinander zu stehen. Vgl. 73,7–11. 197 Vgl. 56,343,5 ff.: »Carnalis autem vtique, quia consentit legi membrorum, vtique ipse operatur, quod peccatum operatur. quia iam non tantum vnius sunt persone mens et caro, Sed etiam vnius voluntatis«; 343,23–28; 2,413,19 f. 198 Vgl. 56,344,29 ff.: »Quia [Apostolus] Vult non concupiscere et bonum Iudicat non concupiscere, et tamen concupiscit et non perfecit hoc velle suum Et ita secum ipse pugnat«; 2,413,20 f.; 586,4–9. – Ergänzen könnte man noch: So wie in Christus letztlich die göttliche Natur die führende Rolle gegenüber der menschlichen einnimmt, so dominiert der Geist das Fleisch, indem er in sein Begehren nicht einwilligt. Vgl. 8,122,11 f.: »Alterum enim hic dicit [Apostolus] per alterum impediri, sic tamen ut spiritus praevaleat, et illi tribuatur, quod non operetur, non velit malum.« 199 An dieser Stelle entsteht natürlich das Problem, wie sowohl die Integrität der Naturen als auch ihre Einheit in Christus gleichermaßen gewahrt werden können. Vgl. auch 40 III,707,11–709,28, bes. 707,22–31: »Sic recte dico: divinitas non patitur, Humanitas non creat. Hic loquor de abstracto et de separata divinitate. Sed non hoc faciendum est, non separanda abstracta sunt, alioqui fides nostra falsa est. Sed credendum est in concreto: ille Homo est Deus etc. Hic propria et attributa recte manent. Humanitas non creat, scilicet in humanitate separata vel seorsim posita, si de ea sola loquimur. Sic econtra: divinitas

Simul 497 ßerhalb ihrer unio im Christenmenschen jeweils unterschiedlich zu betrachten: Die nach der Taufe verbleibende Sünde ist, obschon noch vorhanden, nicht mehr die Sünde des bloßen Sünders, sondern wird durch die Gnade verändert, weil sie von Gott nicht mehr trennt und bekämpft wird, sie ist »eingegnadete Sünde« (peccatum gratificatum), wie umgekehrt auch die Gnade nicht mehr Gnade an sich, sondern »eingesündet« (impeccatificatum) ist.200 Die Zwei-Naturen-Lehre, wie sie erstmals auf dem Konzil von Chalkedon 451 kirchenamtlich definiert wurde,201 hat einmal zum Ziel, sowohl die volle Gottheit als auch die volle Menschheit Christi zu wahren, Christus ist wesensgleich (ὁμοούσιοϛ) dem Vater und uns Menschen außer der Sünde (DH 301). Göttliche und menschliche Natur lösen sich in Christus mithin nicht in ein Drittes auf, sondern sind »unvermischt« (ἀσυγχύτωϛ) beieinander. Gleichzeitig sind sie aber auch »ungetrennt« (ἀδιαιϱέτωϛ) in der einen Hypostase vereint, wodurch das zweite Anliegen, die Einheit der Person des Christus zu betonen, zum Ausdruck kommt (»ein und derselbe […] in zwei Naturen […], nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt«: DH 302). In Christus gilt tatsächlich das »unvermischt« und »ungetrennt«, »wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt« (DH 302). Dieses doppelte christologische Anliegen, sowohl die Einheit der Person in Christus zu wahren als auch die Integrität der beiden Naturen zu erhalten, überträgt Luther in die christliche Anthropologie: Wenn er immer wieder hervorhebt, dass Fleisch und Geist bzw. Sünder- und Gerechtsein dem einen ganzen Menschen zukommen (»ungetrennt«), dann wehrt er damit (im Sinne der totus-homo-Anthropologie) die Zuteilung von Geist und Fleisch, Sünde und Gerechtigkeit auf bestimmte höhere non moritur. Ideo hoc loco de abstracto tacendum est prorsus, quia fides docet hic nullam esse abstractionem, sed concretionem, coniuctionem et copulationem utriusque Naturae.« Mit der von Luther hier verwendeten Distinktion in abstracto/in concreto, die sich jeweils auf die göttliche und menschliche Natur bezieht, scheint die gleichnamige scholastische Unterscheidung, welche zwischen einer wechselseitigen Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen Christi (in abstracto) und der Kommunikation der Eigenschaften beider Naturen an die eine Person Christi (in concreto) differenziert, nicht identisch zu sein. Vgl. Weber, Grundlagen II, 147. 200 Vgl. 8,126,23–33: »Nam qui de peccato et gratia, de lege et Euangelio, de Christo et homine volet Christianiter disserere, oportet ferme non aliter quam de deo et homine in Christo disserere. Ubi cautissime observandum, ut utramque naturam de tota persona enunciet cum omnibus suis propriis, et tamen caveat, ne quod simpliciter deo, aut simpliciter homini convenit, ei tribuat. Aliud enim est, de deo incarnato vel homine deificato loqui, et aliud de deo et homine simpliciter. Ita aliud est peccatum extra gratiam, aliud in gratia, ut possis imaginari gratiam seu donum dei esse impeccatificatum et peccatum gratificatum, quamdiu hic sumus, ut propter donum et gratiam peccatum iam non peccatum sit.« 201 Zu Luthers Sicht der altkirchlichen Konzilien von Ephesus (431) und Chalkedon (451) und ihrer christologischen Lehrentscheidungen vgl. 50,581,15–604,9.

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oder niedere anthropologische Regionen ab und bezieht sie stattdessen auf alle Konstitutionsmomente des Menschen. Gleichzeitig insistiert er aber darauf, dass die zwei »Naturen« des Christenmenschen ihre konträren Idiomata behalten (»unvermischt«). Dadurch wird sichergestellt, dass unter streng theologisch-soteriologischem Gesichtspunkt wirklich zwei Streberichtungen im Menschen »zugleich« gegeben sind oder besser: widereinander stehen und nicht etwa eine aus beiden »vermischte« Willensrichtung – halb gut und halb böse, halb gerecht und halb sündig – den Menschen bestimmt. Es ist wirklich eine simultane Dualität von altem und neuem Menschen, welche den Christen kennzeichnet, nicht ein aus beiden »synthetisierter« Mensch. Luther versucht dies mit dem paradoxen Bild von den zwei verfeindeten Menschen in dem einen Menschen festzuhalten: »Totus homo est qui castitatem amat, idem totus homo illecebris libidinis titillatur. Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibipsi pugnet contrariusque sit, vult et non vult. At haec est gloria dei, quod nos fecit nobisipsis hostes.« (2,586,15–19)202 Eine andere Frage ist, wie sich dieser Sachverhalt auf der psychologisch-empirischen Ebene wahrnehmen und verstehen lässt. Hier kann Luther es durchaus so darstellen, dass der Christ sich in der Weise erfährt, als wolle und tue er das Gute nur halb oder gebremst, mit Widerstand bzw. Widerstreben und aus nicht ganz reinen Motiven. Man könnte in dieser Perspektive auch sagen: Wir tun das Gute, aber tun es nicht gut, sondern schlecht.203 Darüber hinaus geht Luther aber davon aus, dass der Christ auch auf der psychologischen Ebene jene

Vgl. 7,50,11 f.: »cum et ipsi duo homines in eodem homine sibi pugnent, dum caro concupiscit adversus spiritum, et spiritus adversus carnem«; 1,81,7 ff.; 208,23–27: »und die zwey widdernaturlich ding mussen yn uns seyn, darumb das zwen widernaturlich menschen yn uns seyn, der alt und der new, der alt muß furchten und vortzagen unnd undergehen, der new muß hoffen, besteen und erhebt werden, und diß beyde yn einem menschen, ja yn einem werk zugleich bescheen«; 7,331,32 f.: »Ist das nit klar gnug, das eyn eyniger mensch zwey stuck ynn yhm selb findet [nämlich Geist und Fleisch]«; 17 I,4,27 f.: »Sic Christianus ist ein gemengt mensch« – nämlich nach der conscientia durch Christus von der Sünde frei, nach dem corpus noch Sünder und unter dem Gesetz. 203 Vgl. 2,585,31–586,23, wo Luther das Ineinander von Fleisch und Geist in einem Menschen einerseits mit den einlinigen, prozesshaft-zielgerichteten Bildern der Genesung von einer Krankheit (der Rekonvaleszent vermag sowohl gesund als auch noch krank genannt werden) bzw. der Morgenröte (die sowohl Nacht als auch Tag ist) als auch mit dem dualistischen Bild der zwei Menschen in einem Menschen verdeutlichen kann. Bilder dynamischer Quantitäten wie auch Bilder antagonistischer Gegensätze werden zugleich verwandt. Siehe auch Meyer, Normen, 232, der folgende Interpretation von Franz H. Reinhold Frank zurückweist: »Die guten Früchte des Glaubens […] sind ein Zusammengesetzes, worin die Momente der Willigkeit und Unwilligkeit beieinander sind. Man kann in Wahrheit von einer languida obedientia des Wiedergeborenen reden, insofern die widereinanderstrebenden Kräfte des alten und neuen Menschen sich gegenseitig paralysieren.« (Theologie der Concordienformel II, 383 f.). Meyer selbst unterscheidet allerdings nicht zwischen theologischer und psychologischer Ebene. Deshalb kann er auch nicht konzedieren, dass Franks Deutung in psychologischer Blickrichtung durchaus ihr Recht hat. 202

Simul 499 Spaltung und Zerissenheit seines Wollens als solche erfahren kann und sich so als strukturell nicht-identisch erlebt (vgl. 8,122,42–123,2). Das für Luther analoge Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Natur in Christus und iustus und peccator im Christen ist aber erst dann voll ausgelotet, wenn gesehen wird, dass zwischen der gottmenschlichen Einheit in Christus und der »Einheit« von Sünde und Gerechtigkeit im Christen auch ein Begründungsverhältnis besteht: Dass der Christ im Stand des simul, in der Spannungseinheit von Gerechtem und Sünder leben darf – und Luther versteht das simul gegenüber dem spannungslosen totalen Verfallensein an die Sünde ja als Heilsstand –, das verdankt er ausschließlich Christus, der – Gott und Mensch zugleich –204 als maximus peccator den Fluch der menschlichen Sünde auf sich genommen und getragen hat205 und dadurch der Mittler zum Vater geworden ist. Kann dieser doch daraufhin die, die Sünder bleiben, lieben und zu Gerechten machen, ohne dass seine die Sünde hassende Heiligkeit übergangen wird: »Ista ex diametro pugnant, Christianum esse iustum et amari a Deo et tamen simul esse peccatorem. Deus enim non potest negare naturam suam, hoc est, non potest non odisse peccatum et peccatores; hocque necessario facit, nam alioqui iniustus esset et amaret peccatum. Quomodo igitur simul vera sunt ista duo contradictoria: Habeo peccatum et sum dignissimus ira et odio divino, et: Pater amat me? Hic nihil omnino intercedit nisi solus mediator Christus. […] Quis conciliat illa summe pugnantia, Quod peccatum in nobis non sit peccans, quod damnabilis non sit damnandus, quod reiectus non sit reiiciendus, quod dignus ira et morte aeterna non sit daturus poenas? Unicus mediator Dei et hominum Iesus Christus.« (40 I,371,33–372,17; 373,13–17)206 Luther hat von daher das simul auch auf Christus übertragen: Er, der ohne Sünde und zuhöchst gerecht war, hat unsere Sünde in realer »Metaphorik« (= Übertragung)207 auf sich genommen, ist ganz zur Sünde und so simul iustus et peccator geworden – um auf diese Weise die Sünde Luther betont immer wieder, dass um der soteriologischen Kraft des Kreuzesgeschehens willen hier nicht nur ein Mensch, sondern Gott selbst leiden und sterben musste. Vgl. nur 40 I,80,25–81,13; 50,590,5–22; 54,76,29–77,10. 205 Vgl. 40 I, 432,17–452,26 (zu Gal 3,13); 439,13: »summus, maximus et solus peccator«. Ebenso 40 III,743,12–17. 206 Luther ist freilich erst dann richtig verstanden, wenn hinzugefügt wird, dass diese der Heiligkeit Gottes genugtuende Vermittlung Christi ihrerseits in der Liebe und dem Erbarmen des Vaters gründet (40 I,437,18–27), wie er auch das ganze Erlösungswerk als ein Ringen und Duell Christi mit den feindlichen Mächten Gesetz, Sünde, Gottes Zorn, Tod und Teufel darstellen kann (40 I,438,32–440,35; 564,26–567,35). 207 Vgl. 8,86,31–34: »Christus dum offeretur pro nobis, factus est peccatum metaphorice, cum peccatori ita fuerit per omnia similis, damnatus, derelictus, confusus, ut nulla re differret a vero peccatore, quam quod reatum et peccatum, quod tulit, ipse non fecerat«; 87,6–10: »Et in hac translatione non solum est verborum, sed et rerum metaphora. Nam vere peccata nostra a nobis translata sunt et posita super ipsum, ut omnis qui hoc ipsum credit, vere nulla peccata habeat, sed translata super Christum, absorpta in ipso, eum amplius non damnent.« Dazu Härle, Christus. 204

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zu besiegen und uns seine Gerechtigkeit zuzueignen.208 Unser simul gründet in seinem simul!209

3.5 Auszuschließende bzw. zu integrierende Modelle der Zuordnung von »iustus« und »peccator« 3.5.1 Keine Aufhebung der Logik Nachdem wir Luthers Versuche zur Verhältnisbestimmung von iustus und peccator unter dem Relationswort simul vorgestellt haben, sollen nun die dadurch ausgeschlossenen bzw. von daher als unzureichend erkannten, aber unter Umständen zu integrierenden Verhältnisbestimmungen benannt werden. Überblickt man Luthers Ausführungen zum simul iustus et peccator im Ganzen, so wird man letztlich nicht die These vertreten können, dass er mit dieser Formel die Regeln der Logik aufgehoben habe und schlechthin Widersprüchliches oder Kontradiktorisches aussage. Denn im Unterschied zum konträren Gegensatz, welcher einfach Kontraste, Spannungen oder Antagonismen meint, beschreibt der kontradiktorische einen Sachverhalt, bei dem A beim selben Subjekt, zur selben Zeit und unter derselben Hinsicht nur wahr sein kann, wenn Nicht-A falsch ist und umgekehrt. Behauptet man dennoch A und Nicht-A zugleich, so liegt eben ein kontradiktorischer Widerspruch vor.210 Das trifft aber sowohl für die simul-Aussagen unter

Vgl. 40 I,439,1–3 [Hs]: »Sed in ea una persona, quae est maxima persona, peccator et solus, est maxima etiam aeterna iustitia. Ergo concurrunt maximum peccatum et maxima iustitia; ibi mus eins weichen«; 3,426,34 ff.: »Et ideo [Christus] simul maledictus et benedictus, simul vivus et mortuus, simul dolens et gaudens, ut omnia in se absorberet mala et omnia ex se conferret bona«; 5,602,33 ff.: »simul Christum summe iustum et summe peccatorem, simul summe mendacem et summe veracem, simul summe desperantem et summe gloriantem, simul summe beatum et summe damnatum.« Dazu Nilsson, Simul, 192–208. Sofern Christus den Weg vom Kreuz zur Auferstehung geht, zielt das simul von Sünde und Gerechtigkeit bei ihm auch auf ein Nacheinander bzw. einen augenblicklichen und totalen Umschlag vom einen zum anderen, um freilich in jedem neuen Akt stellvertretenden Eintretens wieder akut zu werden. Bei uns geschieht dieser Umschlag, unter Fortdauer des simul, dagegen prozesshaft und ist erst eschatologisch vollendet ist. Vgl. Nilsson, Simul, 215 f.; Maurer, Freiheit, 57. 209 Die communicatio idiomatum ist für Luther letztlich dynamisch-soteriologisch zu verstehen: als Geschehen des »Eigenschaftstausches« nicht nur zwischen Gott und Mensch, sondern zwischen menschgewordenem Gott und Sünder. Vgl. 5,608,6–20; 7,25–26,12, bes. 25,29: »der frölich wechßel und streytt«, dessen Resultat irdisch freilich nicht der iustus schlechthin, sondern der simul iustus et peccator ist. 210 Vgl. Härle, Philosophie, 72, 84 f., bes. 84: »Ein kontradiktorischer Gegensatz besteht dann, wenn das eine Urteil immer genau dann wahr ist, wenn das andere falsch ist.« Härle weist ebd., 117 f., darauf hin, dass die Außerkraftsetzung des Identitäts- und Wider­ spruchs­prinzips (und damit der Logik überhaupt) theologisch auch nicht mit dem Hin­208

Simul 501 partialem (anthropologischem) Gesichtspunkt als auch für die auf die Rechtfertigung im strikten Sinn bezogenen Formulierungen unter dem Totalaspekt nicht zu. Denn es war durchgängig zu beobachten, dass Luther zwar von einem strengen zeitlichen Zugleich einander an sich sich ausschließender Prädikate (gerecht/ nicht gerecht) spricht – das soll und darf nicht abgeschwächt werden –, dennoch gibt er in allen Fällen unterschiedliche Hinsichten an, unter denen sie bei dem einen Menschen zugleich gelten. Es handelt sich bei den simul-Aussagen mithin um konträre Aussagen, nicht um einen logischen bzw. kontradiktorischen, sondern um einen existentiellen Widerspruch zwischen Gerechtsein und Sündersein, zwischen Gesetz und Evangelium sowie zwischen zwei Mächten und Strebungen, die in ein und demselben Menschen ruhen. Der Kampf und Streit zwischen beiden Gesichtspunkten wird von dem einen Menschen, der gleichsam zwei Menschen in sich vereinigt, schmerzlich in der Anfechtung durchlitten, aber auch in der mortificatio carnis aktiv geführt. Insofern ist die innere Spannung des Christen eine solche, wie sie größer nicht gedacht werden kann, wenngleich diese dennoch keine statisch-paritätische, sondern eine dynamisch-progressive mit eindeutigem Richtungssinn darstellt – obwohl sie irdisch nicht transzendiert zu werden vermag. Dieses Resultat, wonach der Gegensatz nicht auf der Ebene der Logik (unter Ausschaltung der Vernunft), sondern auf der anthropologischen Ebene liegt, ist auch angesichts der zahlreichen paradoxen und provokanten Äußerungen Luthers festzuhalten, in denen er gerade trotzig eine Außerkraftsetzung der Logik beim simul zu behaupten scheint. In dieser Weise charakterisiert er etwa die häufig paradoxale Redeweise des Paulus, unter denen die Druckfassung des Großen Galaterkommentars auch das simul fasst (»sum peccator, non sum peccator«), als »phrasis non humana, sed divina et coelestis« (40 I,285,8–15). Oder noch schärfer, direkt auf das simul bezogen: »Ista ex diametro pugnant!« (40 I,371,33)211 Insbesondere in der dritten Antinomerdisputation häufen sich die Äußerungen, welche das simul exterritorial zur Logik und zur Vernunft zu stellen scheinen: »Mira profecto res est. Es ist warlich ein fein ding. Reim da, wer reimen kann. Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis.« (39 I,507,21–508,2) – »Et hoc [das simul] bene notandum est: Etsi id rationi, quae ubique in rebus et operibus Dei vult sapere, non probatur, duo contraria esse in uno eodemque subiecto.

weis darauf, dass bei Gott alles möglich sei, begründet werden könne, da sie Möglichkeitsbedingungen dafür sind, dass überhaupt etwas gedacht wird. Schon die Behauptung der Möglichkeit von etwas kontradiktorisch Widersprüchlichem innerhalb der Theologie wäre somit deren Selbstliquidierung. Davon ist freilich für Härle die Frage zu unterscheiden, ob Gott selbst den logischen Gesetzen unterworfen ist. Für unser Denken und deshalb auch für unser Denken über Gott gelten sie indessen unverbrüchlich (120). Siehe auch ders., Widerspruchsfreiheit, bes. 227–232. 211 Vgl. 40 I,373,13 f.: »Quis conciliat ille summe pugnantia […]?« Ferner 20,632,9 ff.22 f. 32 f.

502 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Sed tamen reipsa sic est et in hoc regno [in Ecclesia] et scriptura sic loquitur. […] Reime du es zusammen.« (39 I,515,5–8, vgl. 519,5 f.) Dennoch wird bei Luther nicht der Satz vom Widerspruch aufgehoben, sondern vielmehr vorausgesetzt,212 weil er ja selbst an diesen Stellen unterschiedliche Hinsichten benennt, unter denen das peccator und iustus jeweils gilt bzw. nicht gilt. Konträres wird zwar zum selben Zeitpunkt vom selben Subjekt, also simultan prädiziert, aber nicht unter demselben Gesichtspunkt!213 »Verum vos scitis nos esse quidem iustos, puros, sanctos, esse etiam peccatores, iniustos et damnatos. Sed diverso respectu sumus iusti.« Und dann folgt der Verweis auf die reputatio und misericordia Gottes in Christus einerseits und unsere sündige Natur andererseits (39 I,492,19–493,2; vgl. 521,3). Ähnlich wird an jener Stelle argumentiert, welche am deutlichsten das totus iustus und totus peccator hervorhebt: »Nam hoc verum est, quod reputatione divina sumus revera et totaliter iusti, etiamsi adhuc adsit peccatum. […] Sic etiam revera sumus et totaliter peccatores, sed quod ad nos respiciendo, et prima generatione, sed e contra quoad, quod Christus pro nobis datus est, sumus sancti et iusti totaliter, ita diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel.« (39 I,563,13–564,7) Ja, Luther sagt sogar: »Haec autem ut contraria sunt, tamen reconciliata in christiano sunt, quod idem christianus sit sanctus et peccator, mortuus et vivus; omne peccatum et nullum peccatum, infernus et coelum sunt correlativa.« (39 I,523,4–7)214 Luther nennt die Totalperspektive ausdrücklich eine Synekdoche, also eine Redeform, die eine Teilrücksicht jeweils vom Ganzen

Vgl. 39 I,519,5 f.: »Esse liberum et esse servum sunt contraria, quae non possunt simul et semel in eodem subiecto esse. Estque bonum argumentum«; 56,253,12 f.: »Quia non possunt circa idem duo contraria simul stare«; 43,598,33 f. Missverständlich dagegen ist 39 I,515,5–8. 213 So auch Härle, Philosophie, 203; Jüngel, Evangelium, 184; Dieter, Luther, 305–308. Anders Joest, Gesetz, 58, 207162. Wir verwenden hier den Begriff konträr (im Unterschied zu kontradiktorisch) im umgangssprachlichen Sinn (= nicht strenger Gegensatz), der natürlich nicht seinem exakt logischen Sinn entspricht. Hiernach sind zwar kontradiktorische Aussagen wie oben geschehen zu definieren. Konträre Aussagen stellen aber solche Urteile dar, die beide falsch, aber nicht beide wahr sein können (= eines davon ist falsch). Dagegen werden Aussagen, die beide wahr, aber nicht beide falsch sein können (= eines davon ist wahr), als subkonträr bezeichnet. Vgl. Härle, Philosophie, 84 f. Legt man diesen strengen Maßstab an, dann ist das simul iustus et peccator als subkonträres Urteil zu bezeichnen. Insofern wäre dann seine Einstufung als konträres Urteil durch Härle, ebd., 203, zu korrigieren. 214 Vgl. 40 I,285,14 f., wo zu den paradoxalen Redefiguren des Paulus ausgeführt wird: »Sed ista phrasis est vera in Christo et per Christum.« – Luther schließt folgerichtig, wenn nur von einer Hinsicht, z. B. der imputativen Gerechtigkeit oder der unio cum Christo, die Rede ist, das simul explizit aus: »Quia reputatio gratuita Dei nullum vult ibi esse peccatum, sicut Ioan [nes]. dicit: Qui natus est ex Deo, non peccat, Pugnat enim, esse ex Deo natum, et simul esse peccatorem.« (Melanchthon, Disputatio cum Luthero, 345; vgl. Ti 6,149,35–150,2) Ebenso 2,146,15 f.: »Ideo [kraft des Geeintseins mit Christus] impossibile est, quod in eo [qui credit] manet peccatum.« 212

Simul 503 (oder umgekehrt) aussagt, ohne damit freilich den Totalitätsaspekt aufzuheben (39 I,564,1 ff.; 523,7 f.; vgl. 543,8–544,18).215 Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Luthers stark abschätzige Urteile über die Vernunft216 nicht auf die Vernunft schlechthin oder ihre schöpfungsmäßige Verfasstheit zielen, sondern eine bestimmte faktische Gestalt der Vernunft im Blick haben, nämlich die durch die Sünde verblendete und deshalb zur Feindin des Glaubens und zum Anwalt der Rechtfertigung aus den Werken gewordene Vernunft, jene Vernunft, welche das Gottesverhältnis und den Heilsweg bestimmen und regulieren will. Luther vermag aber sehr wohl äußerst positiv über die Vernunft zu sprechen, sowohl, obgleich mit Einschränkungen, über die infralapsarische, noch unbekehrte Vernunft, wenn diese hinsichtlich ihrer säkularen Aufgaben betrachtet wird, als auch und erst recht über die vom Glauben erleuchtete und in Dienst genommene Vernunft, welche, weil »soteriologisch entlastet«, allererst zu ihrer wahren Säkularität befreit wird.217 Zu dieser säkularen und als solche von der Theologie in Anspruch genommenen Funktion der Vernunft gehört auch die formale Logik. Luther spricht der natürlichen Vernunft sogar, wenn auch nicht in positiver, so doch in negativer Hinsicht, ein Urteil in Glaubenssachen zu, d. h. sie vermag nach seiner Überzeugung zu sagen, was dem Glauben widerspricht, und den Aberglauben als solchen zu benennen. Dabei bedient sich die Vernunft in der Regel des Schlusses a minori ad maiorem: Was der natürlichen Wahrheit (also auch der Logik) entgegensteht, steht erst recht gegen die himmlische Wahrheit!218 Dies setzt natürlich voraus, dass die jeweilige In 8,121,9–12 geschieht dies in gleicher Weise für Fleisch und Geist, d. h. für den Partialaspekt. – Für die Parallelität von christologischer und anthropologischer Denkform spricht wieder, dass Luther die Figur der Synekdoche auch bei den zwei Naturen Christi, ja zwischen Brot und Leib Christi im Abendmahl gegeben sieht: 18,186,1–188,17; 26,322,23–323,12; 443,8–445,17. Zur Synekdoche vgl. auch 8,62,3–67,3. 216 Vgl. nur das berühmte Wort 18,164,24–28: »Hynfurder leret er [Karlstadt] uns, was frau hulde, die natürliche vernunfft, zu diesen sachen [die Abendmahlsworte betreffend] sagt, gerade als wüsten wyr nicht, das die vernunfft des teuffels hure ist und nichts kann den lestern und schenden alles, was Gott redt und thut. Aber ehe wyr der selben ertzhuren und teuffels braut antworten […].« Ähnlich 6,290,18–292,3; 10 II,295,16–26; 40 I,362,6 f. [Hs]: »Ibi Fides occidit rationem, bestiam toto mundo maiorem.« Zur ratio bei Luther vgl. Lohse, Ratio; Joest, Ontologie, 79–136, 202–210; zur Mühlen, Vernunftkritik; ders., Begriff; Ebeling, Fides. Verwiesen sei auch auf die einschlägigen Paragraphen bei Ebeling, Lutherstudien II/2–3. 217 So zur Mühlen, Vernunftkritik, 152–158; ders., Begriff, 170 f. Vgl. auch Ebeling, Fides, 214, 217 f., 219 f. 218 Höchst bedeutsam ist hierfür der 5. Abschnitt von De votis monasticis iudicium (8,629,22–666,14), in welchem Luther zeigt, dass die Mönchsgelübde auch gegen die Vernunft sind. Vgl. bes. die prinzipiellen Ausführungen zu Beginn, 8,629,23–630,4, bes. 629,23–33: »Quinto comparemus institutum istud ad rationem naturalem, hoc est, ad crassum illud lumen naturae, quae tametsi lucem et opera dei non attingat per sese, ita ut in affirmativis (quod aiunt) fallax sit eius iudicium, in negativis tamen est certum. Non enim 215

504 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Sachlogik der unterschiedlichen Wissensgebiete, also etwa der Philosophie, Physik, Mathematik und der Theologie, wechselseitig respektiert wird.219 Insofern kann Luther dann z. B. von der scheinbar widersprüchlichen Ineinssetzung von Leib Christi und Brot im Abendmahl sagen: »Es ist nicht widder die schrifft, Ja es ist auch nicht widder vernunfft noch widder die rechte Logica, sondern es dünckt sie widder die schrifft, vernunfft und Logica sein, Denn si haltens nicht recht zu samen.« (26,440,15–18) Durch diese Feststellungen wird das simul iustus et peccator nicht zu einer harmonischen Selbstverständlichkeit herabgestuft, sondern der Gegensatz und das Unerhörte dorthin verlagert, wo sie hingehören: in das Verhalten Gottes, der wunderbar an seinen Heiligen handelt und um Christi willen Sünder als Gerechte annimmt,220 sowie in die christliche Existenz und ihren täglich zu bestehenden Kampf und Alltag selbst. Da zuallererst Gott selbst den Heilsstand

capit ratio, quid sit deus, certissime tamen capit, quid non sit deus. Ita licet non videat, quid rectum et bonum sit coram deo (nempe fidem), scit tamen evidenter infidelitatem, homicidia, inobedientiam esse mala. Qua et Christus utitur, dum disserit omne regnum in seipsum divisum desolari. Et Paulus, dum dicit, nec naturam docere, ut mulier nudato capite prophetet. Quod ergo huic rationi evidenter adversatur, certum est et deo multo magis adversari. Quomodo enim coelesti veritati non pugnabit, quod terrenae veritati pugnat?« Freilich zeigt Luthers letztes Beispiel, dass auch das crassum illud lumen naturae in seinem Bereich z. T. geschichtlich bedingt, wenn nicht gar von der Sünde getrübt ist. Vgl. Lohse, Ratio, 65–68, 77–82; zur Mühlen, Begriff, 158. – Zu Leistungsfähigkeit und Grenze der Vernunft siehe auch 39 I,175,3–176,4, bes. 175,9–13: »Et sane verum est, quod ratio omnium rerum res et caput et prae caeteris rebus huius vitae optimum et divinam quiddam est. Quae est inventrix et gubernatrix omnium Artium, Medicinarum, Iurium, et quidquid in hac vita sapientiae, potentiae, virtutis et gloriae ab hominibus possidetur.« Gleichwohl ist die ratio als von der Schrift eingesetzte »domina super terram« (175,16), als »Sol et Numen quoddam ad hac res administrandas in hac vita positum« (175,18 f.), als von Gott in ihrer »maiestas« nach dem Fall Adams sogar Bekräftigte ineins mit der Philosophie letztlich auf den »huius vitae homo« (175,7 f.21 f.) eingeschränkt und mit dem den Menschen ganz und vollständig erfassenden theologischen Wissen nicht zu vergleichen (175,3–6). 219 Dies (und also nicht die Aufhebung der Logik durch die Theologie) herauszustellen, ist auch Luthers Anliegen in den späten trinitätstheologischen bzw. christologischen Disputationen. Vgl. bes. 39 II,3,1–5,40; 93,1–96,39. 220 Vgl. 40 I,372,14–17: »Quomodo igitur simul vera sunt ista duo contradictoria: Habeo peccatum et sum dignissimus ira et odio divino, et: Pater amat me? Hic nihil omnino intercedit nisi solus mediator Christus.« – Luther nimmt mehrfach im Kontext des simul auf Ps 4,4, bzw. Ps 68,36 Bezug. Siehe nur 56,269,21 f.: »›Mirabilis Deus in sanctis suis‹, Cui simul sunt Iusti et Iniusti«; AWA 1,548,15 f.22 f. Dazu Pinomaa, Die Heiligen, 38–42. Vgl. auch 2,737,4–9: »Furwar wer Gottis gnaden nit alßo achtet, das sie yhn als eynen sunder dulden und selig machen wird, unnd alleyn seynem gericht entgegen geht, der wird gottis nymmer frolich, mag yhn auch widder lieben noch loben. Aber so wyr hoeren, das er yn der tauff bund unß auff nympt, schonet und macht unß reyn von tag zu tag, und das festicklich glewben, muß das hertz frolich werden, gott lieben und loben.«

Simul 505 des Christen als simul gewählt hat und in seiner Toleranz den Gegensatz erträgt, handelt es sich »nicht um einen logischen, sondern um einen theologischen Wider­spruch«221.

3.5.2 Kein ausschließlich temporales Verständnis Unsere bisherigen Ergebnisse haben überdeutlich gezeigt, dass des Weiteren ein ausschließlich temporales Verständnis dem simul nicht gerecht wird, ja es um seinen eigentlichen Skopus bringt. Luther will mit der Formel simul iustus et peccator sowohl im Total- wie im Partialaspekt ein strenges Zugleich, eine Simultaneität zweier Wertungen bzw. von Glaube und Unglaube oder zweier Weisen willentlichen Ausgerichtetseins aussagen.222 Dies primär so zu deuten, als ob der Christ bzw. Luther selbst sich in bestimmten Phasen seines Lebens mehr als Gerechter oder mehr als Sünder, mehr als Glaubender oder mehr als Zweifelnder fühle oder erfahre, bleibt hinter Luthers eigentlicher Intention zurück. Das Paradoxe, wenn auch nicht Kontradiktorische des simul liegt gerade in der Behauptung der strikten Simultaneität.223 Wie wir gleichfalls gesehen haben, schließt dies indessen nicht aus, die zeitliche Interpretation des simul in das eigentliche Verständnis sekundär zu integrieren. Denn Luther hat durchaus zugestanden, dass auf der Ebene der Erfahrbarkeit sich das strikte simul auch als ein Nacheinander, als ein Wechsel verschiedener Zeiten darstellen kann: Der Christ ist in zwei Zeiten »geteilt«, in das »tempus legis« und das »tempus gratiae«, in die Zeit der Anfechtung durch Sünde und Teufel und die Zeit des Getröstetseins durch die Sündenverge-

So Iwand, Theologie, 57 (Hv.) – Kirjavainen, Paradoxie, geht ebenfalls davon aus, dass dem »Simul-Prinzip« kein logisch kontradiktorischer Widerspruch zugrunde liegt, sondern für den natürlichen Menschen höchstens ein »epistemischer« Widerspruch (45) vorliegt. Durch den Glauben sei aber bei den Begriffen »iustus« und »peccator« eine »intensionale Veränderung« eingetreten, so dass »die Klasse oder Menge der Gerechten […] eine echte Teilmenge der Menge der Sünder« wird (48). Gründend im paradoxen Handeln Gottes (47) werden die Begriffe »iustus« und »peccator« gleichsam neu definiert, es entstehen nach Luther eine »nova lingua« und »nova vocabula« (39 II,94,17–26; vgl. 39 I,228,16–19; 231,18–21). Denn in seinem Vergebungswort vollziehe Gott gleichsam eine »performative Illokution« bzw. eine »Promulgation«, welche den Sünder zum Gerechten erklärt (Kirjavainen, a. a. O., 33 f.). 222 Vgl. nur 2,408,30 f.: »Si iustus in gratia non potest facere bonum, quin simul peccet, quanto magis iniustus non facit bonum.« 223 Dies schließt nicht aus, sondern ein, dass innerhalb der strikten Simultaneität von Glaube und Unglaube nach alt und neu (»alter Mensch« – »neuer Mensch«) gewertet und der Unglaube so als die Präsenz der Vergangenheit des Glaubens bestimmt wird. Der Unglaube ist zwar noch da, aber schon zum Vergehen bestimmt und ohne Zukunft. So Härle/Herms, Rechtfertigung, 130 ff., wonach der Glaube und sein Kommunikationszusammenhang (Kirche) mit dem Unglauben sowohl räumlich durch die Koexistenz mit der Umwelt als auch zeitlich durch das Bestimmtsein durch die »Vergangenheit des Glaubens selber« als »Schicht seiner eigenen Gegenwart« (131; Hv.) konfrontiert werden. 221

506 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

bung des Evangeliums.224 Erstere kann im Extremfall nicht nur zur Minderung des Glaubens, sondern sogar zu dessen Erlöschen in völliger Verzweiflung führen, so dass dann gar kein simul von Glaube und Unglaube mehr vorläge. In der Regel wird man aber auf der empirisch-psychologischen Ebene einen gradativen Wechsel von Glaube und Unglaube, von Versagen und Bekehrung, von altem und neuem Menschen zugestehen können und so je nach Überwiegen des einen oder anderen von einem »tempus legis« oder »tempus gratiae« sprechen dürfen. Auch der Christ gerät immer wieder unter den theologischen, anklagenden Brauch des Gesetzes, er erfährt immer wieder das geistliche Kommen Christi zu ihm, seinen »täglichen Advent«, welcher die Zeit des Gesetzes beendet.225 Von daher ist es ebenso legitim, das simul nicht nur in der Biographie jedes Christen, sondern auch in der Luthers selbst in dieser Weise als temporäres Nacheinander, zu verorten. Hatte er doch – man denke nur an seine Anfechtungserfahrungen vor dem reformatorischen Durchbruch oder auch an spätere analoge »Krisen« – immer wieder Phasen, in denen er sich verstärkt als Sünder unter dem Gericht Gottes wusste und in denen sein Glaube große Krisen durchmachte, während es andererseits auch Zeiten bei ihm gab, in welchen er überwiegend aus dem Zuspruch und Trost des Evangeliums lebte.226 Ein Verständnis des »Sünder und gerecht zugleich« im Sinne der

Vgl. 40 I,526,21 f.: »Sic ergo Christianus divisus est in duo tempora. Quatenus est caro, sub lege est, quatenus Spiritus, sub Evangelio est«; 209,25–29: »Est tempus moriendi, est tempus vivendi; Est tempus legem audiendi, est tempus legem contemnendi, Est tempus Evangelii audiendi, est tempus nesciendi Evangelium.« 225 Vgl. 40 I,536,25–538,35; 550,20–29. 226 Wie Luthers Briefe zeigen, muss insbesondere die Zeit von Juli 1527 bis November 1528 für ihn eine Zeit gesteigerter seelischer Not gewesen sein. Vgl. nur Br 4,226,8–13 (an Melanchthon, 2.8.1527): »Ego sane ultra ea, quae nuper scripsi, plus tota hebdomada in morte et inferno iactatus, ita ut toto corpore laesus adhuc tremam membris. Amisso fere toto Christo agebar fluctibus et procellis desperationis et blasphemiae in Deum. Sed sanctorum precibus motus Deus misereri me coepit et eruit animam meam de inferno inferiori.« – Die Erfahrung der Anfechtung, in der jedesmal das Ganze auf dem Spiel steht, war für Luther mit dem reformatorischen Durchbruch mithin nicht beendet, sondern stellte sich, mitbedingt durch äußere Faktoren, auch danach immer wieder ein, ja sie ist das »Grundthema seines Lebens« (Ebeling, Seelsorge, 397). Nur ist, so könnte man sagen, das ihr im Glauben gesetzte Ziel, das Evangelium, nunmehr klar erfasst, wenngleich nicht mittels psychologischer Technik verfügbar. Dabei geht es für Luther in dem komplexen Phänomen der Anfechtung zentral um das Angefochtensein durch die eigene Sünde – und zwar nicht im Sinne einzelner Sünden, sondern des Sünderseins: Die Anfechtung entzündet sich am simul peccator, und Luther qualifiziert sich deshalb paradox als »Christi peccator« (vgl. Br 5,128,16 [05.08.1529, an Nikolaus Hausmann]; ähnlich Br 4,221,11 f. [10.07.1527, an Georg Spalatin]). In den späteren Anfechtungen »sieht Luther sich auf die Anfänge zurückgeworfen: die Frage nach dem gnädigen Gott« (Ebeling, a. a. O., 404; vgl. 410–420; Br 4,272,30–33; 27.10.1527, an Melanchthon: »Spero, quod, qui coepit, miserebitur in finem, cum aliud non quaeram aut sitiam, quam propitium Deum, qualem sese obtrudit et suscipi exigit etiam a contemptoribus et hostibus suis.«) Zum Ganzen vgl. 224

Simul 507 Rechtfertigung als lebenslangem biographischem Prozess, als Einprägen der ima­go Dei in ihn, in dem es Wachsen und Reifen, aber auch Krisen und Brüche gibt, ist von daher nicht ausgeschlossen. Unser Weg zu Gott ist »kein nur glorreiches Voranschreiten vom Guten zum Besseren«.227 Damit soll natürlich nicht negiert sein, dass – wie schon angedeutet – auch die Dimension des strengen Zugleich der psychologischen Selbstwahrnehmung zugänglich ist.

3.5.3 Nicht nur auf die Tatsünden und die Versuchlichkeit bezogen Schließlich ist auch jenes Verständnis des simul als unrichtig abzuweisen, welches das Sündersein des Christen ausschließlich auf die von ihm begangenen Tatsünden beschränkt. Diese Auffassung, die natürlich traditionell von der römisch-katholischen Theologie vertreten wird, geht davon aus, dass der Christ durch die Rechtfertigungsgnade nicht nur um Christi willen gerecht gesprochen, sondern dadurch auch in sich – zumindest in seinem Personzentrum – vollkommen gerecht sei, der Bruch mit der Sünde also vollständig vollzogen ist und er zum Sünder nur durch neues tathaftes Sündigen würde. Simul iustus et peccator ist der Gerechtfertigte dann nur in dem Sinn, dass er eben doch – im Widerspruch zu dem ihm geschenkten neuen Sein – immer wieder faktisch sündigt228 bzw. dass er bleibend eine Anfälligkeit und Versuchlichkeit für die Sünde behält, so dass man genauer sagen müsste: er ist simul iustus et tentatus, »gerecht und versuchlich zugleich«.229 Das simul iustus et peccator wäre in dieser Sicht dann streng genommen keine ontologisch-anthropologische Aussage, für welche das peccator in re ein infralapsarisches menschliches Existential darstellt, sondern eher exi­­-

Bühler, Anfechtung, bes. 62–69, 179–191; Pinomaa, Anfechtung, 100 f.; Bainton, Luther, 325–337; Beintker, Überwindung, bes. 181–184; Brecht, Luther Bd. 2, 204 f. und v. a. Ebeling, Seelsorge, 364–446. 227 Diesen Gesichtspunkt hat von katholischer Seite Miggelbrink, Simul, bes. 143–153 (Zitat: 148), betont. Dazu Einleitung, Kapitel 3.5. 228 An dieser Stelle wird katholischerseits nochmals differenziert zwischen den lässlichen Sünden, welche den status des Gerechtfertigtseins nicht aufheben und keiner neuen Eingießung der habituellen Gnade bedürfen, und den Todsünden, welche der heiligmachenden Gnade selbst berauben, so dass diese nur durch sakramentale Buße wieder erlangt werden kann. Vgl. Thomas v. Aquin, STh III, 87,2; 87,3: »ad remissionem venialis peccati non requiritur novae gratiae infusio, sed sufficit aliquis actus procedens ex gratia quo homo detestatur peccatum, vel explicite, vel saltem implicite«; 87,4 ad 2–3; 109,8; DH 1537, 1544, 1573, 1577, 1579 (Konzil von Trient). Hiernach gibt es nur ein simul von gratia und peccatum veniale. 229 Genau in diesem Sinn ist das simul auch in der GOF (2.A) festgehalten worden: Im Blick auf die »beständige Gefährdung, die von der Macht der Sünde und ihrer Wirksamkeit im Christen ausgeht [, …] können Lutheraner und Katholiken gemeinsam den Christen als simul iustus et peccator verstehen« (Hv.).

508 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

stentiell-praktisch gemeint und seelsorgerlich als Trost und Ermutigung zugesprochen: »Auch Du bist und bleibst – trotz deines aktuellen Versagens – Christ, bist von Christus nicht getrennt, er lässt dich nicht fallen! Deshalb gib die Hoffnung und den Kampf gegen das Böse nicht auf!«230 Wollte eine solche Auffassung als Lutherinterpretation gelten (und dies geschieht im evangelischen Raum v. a. in populärer oder kerygmatisch-homiletischer Bezugnahme auf Luthers Formel)231, müsste betont werden, dass Luther hartnäckig darauf insistierte, dass eben jene Versuchlichkeit und Hinneigung zur aktuellen Sünde als Ichsucht und Gottesfeindschaft selbst schon Sünde (und nicht nur »Gottwidrigkeit«232) ist und als solche bereits das simul begründet. Das simul resultiert folglich nicht erst aus den hin und wieder vorkommenden (schweren) Tatsünden, sondern aus der irdisch zwar zu bekämpfenden, aber doch nicht zu besiegenden und auszulöschenden anthropologischen Verfasstheit des Menschen, welcher dieser unentrinnbar und doch schuldhaft verhaftet ist. Das Peccator-Sein des Christen ist ontisch-strukturell, nicht erst aktuell bedingt!233 Ist dies klargestellt, so ist diese Deutung in Luthers Anthropologie durchaus in der Weise integrierbar, dass der Christ sich

So interpretiert Fendt, Heiligung, 39–42, das simul, allerdings unter der Prämisse, dass Luthers strenges Verständnis von Paulus und insbesondere von Röm 7 her als unbib­ lisch abzuweisen ist. 231 Als theologische Lutherinterpretation vertritt aber etwa Pöhlmann, Rechtfertigung, 361–377, bes. 362, 364 f., 380, zumindest tendenziell diese Sicht, obwohl er um die Sündigkeit der bleibenden Konkupiszenz bei Luther weiß. Für beide Konfessionen könne deshalb formuliert werden: »Obwohl die Sünde im Christen grundsätzlich besiegt ist, ficht sie ihn ständig an, so daß er im Blick auf sich selbst und im Rückblick auf sein Christsein immer wieder zum Sünder wird.« (377; Hv.) 232 So GE 30. 233 Vgl. Pesch, Hinführung, 220 f., bes. 220: »Der Mensch begeht nicht nur in möglicherweise sehr dichten zeitlichen Abständen sündige Taten, vielmehr ist sein Herz (nach wie vor) radikal böse, sündig, widerwillig gegen Gott […]. So besteht eine strenge und radikale, auch nicht einen Augenblick unterbrochene Koexistenz von Sünde und (Glaubens-) Gerechtigkeit.« – In Luthers Verständnis des totus peccator ist durchaus mitgemeint, was Joest, Dogmatik II, 484, die »intensive Totalität« der Sünde nennt: An jeder Sünde ist der Mensch ganz beteiligt, er kann sich mit seinem guten »Wesenskern« davon nicht distanzieren und insofern steht er jeweils als totus peccator vor Gott. Jedoch bleibt diese Sicht gegenüber Luther defizitär, wenn sie auf die einzelne Tatsünde beschränkt wird und nicht auch die »extensive Totalität« der Sünde (als Kohärenz des bösen Begehrens) berücksichtigt. Genau dies stellt für Joest aber eine theologische Grenzüberschreitung dar. Vgl. auch ders., Paulus, 304 f.; bei Luther 40 III,540,24 ff. (Dr): »Quando enim homo arripitur ab affectu [peccati], totus arripitur, ut nihil aliud videre, audire, cogitare possit, quam quod affectus suggerit.« – Kirjavainen, Paradoxie, 33 f., weist darauf hin, dass schon eine Orientierung an der Tatsünde zu einem simul iustus et peccator führt: Im Falle der etwa einem Dieb gewährten Verzeihung »annulliert die Verzeihung etwas, vernichtet es aber nicht total«, der Dieb bleibt auch danach in gewisser Weise ein Dieb, wenn auch ein begnadigter. Er ist ein Dieb und Nicht-Dieb zugleich! 230

Simul 509 angesichts eines schweren Vergehens des simul peccator bewusst wird und sich vor Gott als Sünder bekennt (vgl. Ps 51,1–7), ja dass der Christ sich eingestehen muss, dass er trotz allen Bemühens immer wieder in denselben Fehler zurückfällt.234 Nach Luther muss dies aber ehrlicherweise dazu führen, dass angesichts der immer wieder auftretenden Tatsünde dem Christen sein noch vorhandenes Sündersein, eben das böse Herz bewusst wird. Darüber hinaus ist – gegen einen Missbrauch des simul zur Verharmlosung schwerer aktueller Schuld – auf unser schon erzieltes Resultat zu verweisen, dass es zwar für Luther coram Deo in allem ausschließlich um die Alternative Glaube/Unglaube geht, eine schwere Schuld und Sünde aber auch den Verlust des Glaubens und damit ein Herausfallen aus dem Stand des simul bedeutet.

3.6 Der heilsgeschichtliche Sinn des »simul iustus et peccator« Abschließend wenden wir uns der Frage nach dem heilsgeschichtlichen Sinn des simul iustus et peccator zu und bündeln damit die im Laufe unserer Studie schon aufgegriffenen diesbezüglichen Hinweise Luthers. Aus welchem Grund bzw. Motiv heraus hat Gott dem Christen diese irdisch-bleibende, strukturelle Verhältnisordnung von Sünde und Gnade zugedacht? Warum hat er die Sünde durch sein erneuerndes Wirken nicht »mit einem Schlag« (in ictu oculi: 56,273,5 f.) weggenommen und den Menschen vollständig erneuert? Warum bleibt das »Relikt« der Sünde als ein unentrinnbares, unwillkürliches und doch schuldhaftes Existential? So zu fragen, heißt freilich eine Grenzfrage aufzuwerfen und sich an den Rande des theologisch Denkbaren zu begeben, denn allzu nahe liegt hier die Gefahr, durch Systematisierung die Sünde zu plausibilisieren oder gar zu rechtfertigen. Dennoch hat sich Luther zuweilen in diesen Grenzbereich begeben und nicht nur nach dem Motiv zum Sündenbekenntnis »simul peccator«, sondern auch nach der Motivierung des dieses Bekenntnis begründenden Tatbestandes selbst gefragt.235 Abgesehen von der mitunter geäußerten Auffassung, dass die Sünde so tief in die Natur des Menschen eingedrungen sei, dass selbst die Gnade sie nur allmählich und erst mit dem Tod völlig zu heilen und zu vernichten vermag, hier also auch Gott an eine Grenze stößt,236 hat Luther auf die Frage nach dem Warum des simul folgende Antwortversuche vorgelegt: Dass Luther in keiner Weise an einer Isolation der Personsünde von der konkreten Tatsünde gelegen ist, wurde oben (Kap. 1.4–5) aufgezeigt, ebenso wenig an einer Nivellierung des konkreten Fehlverhaltens durch den Hinweis, dass wir ja doch noch Sünder seien bzw. all unser Tun noch Sünde wäre. 235 So Joest, Paulus, 315, 319. Vgl. zum Folgenden ebd., 315 ff., 319 f.; Hermann, These, 135–138. 236 Vgl. etwa 6,276,17 ff. Vorausgesetzt ist dabei, dass Gott die Menschheit vor dem Ende 234

510 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

Ein schon sehr früh begegnender Hinweis besteht darin, dass die Sünde als sündhafte Neigung und Ichsucht deshalb bleibt, weil sie den Menschen in heilsamer Weise bei der Demut und der Gnade hält bzw. ihn vor Hochmut und Selbstsicherheit bewahrt. Der Mensch soll zeitlebens vor Gott als Empfangender stehen und jederzeit sola gratia leben, ohne sich davon durch eine reale Gerechtigkeit jemals emanzipieren zu können. So führt die Römerbriefvorlesung aus: »Deus enim ideo nos in peccato isto, in fomite, in concupiscentia derelinquit, Vt nos in timore sui et humilitate custodiat, vt sic ad eius gratiam semper recurramus. […] Cessante enim isto timore et sollicitudine mox ponitur securitas, posita certitudine mox redit Imputatio Dei in peccatum.« (56,281,5 ff.16 ff.)237 Damit das Festgehaltenwerden in der Demut nicht zu einem bequemen Sich-Einrichten in der Sünde wird – etwa unter dem Vorwand, diese besitze ja eine höhere »Sinngebung« –, verbindet Luther es eng mit dem Kampf gegen die bleibende Sünde: Diese ist zwar da, darf aber nicht herrschen, sondern soll dem »Geist« unterworfen sein, ja durch ihn zerstört werden: »Quia Aperta Causa humilitatis est, Quod peccatum in nobis manet, sed ›non dominatur nobis‹, Quia subiectum est spiritui, vt ipse destruat ipsum, quod prius regnavit super ipsum.« (56,314,3–6) Ganz ähnlich auch in dem folgendem Zitat: »Igitur peccatum est in spirituali homine relictum ad exercitium gratie, ad humilitatem superbie, ad repressionem presumptionis; Quod qui non sedule studuerit expugnare, sine dubio iam habet, etiamsi nihil amplius peccauerit, unde damnetur.« Gott wird die Sünde nur denen nicht anrechnen, »qui viriliter agressi cum suis viciis gratiam Dei invocantes pugnant« (56,350,5–8; vgl. 306,31–307,1).238 der Zeit nicht überhaupt auslöschen will. Insofern duldet Gott in der Gewissheit eschatologischer Vollendung das Bleiben der Sünde. Siehe 40 II,85,26–86,13, bes. 85,28–86,13: »Deus enim vult durare mundum usque ad extremum diem, hoc fieri non potest sine generatione et educatione hominum, qua manente necesse est etiam manere carnem et per consequens peccatum, quia caro non est sine peccato.« – Auch der Mensch hat in seinem Kampf gegen die Sünde die ausschließlich sukzessive Befreiung von der Sünde zu akzeptieren: 56,266,25–267,7; 282,19–283,12. 237 56,434,5 ff.; 402,13–20; 28,275,3–7 sagt solche göttliche »Teleologie« ebenso von der schweren Tatsünde aus. Pointiert Oberman, Reformation, 195: »Wer aber nicht wahrhaftig Sünder ist, der geht an Gottes Suchen [des Menschen] vorbei. Deshalb: Zugleich Sünder und Gerechter.« 238 Vgl. auch 56,392,28–33: All unser Gut ist »sub contrario« und so auch »Iustitia sub peccato« verborgen – »Vt fides locum habeat in Deo«. – Der späte Luther formuliert die zur »Gnade« hinführende Funktion der bleibende Sünde 40 II,93,19–94,17 so: Die Sünde als böse Neigung »dient« dem Glauben insofern, als sie ihn anleitet, die Sündenvergebung zu suchen und die Glaubensgerechtigkeit zu ergreifen. Wer diese tröstliche Lehre versteht, »huic etiam mala necesse est cooperari in bonum« (93,22 f.). »Itaque valde prodest, ut nonnunquam sentiamus maliciam naturae et carnis nostrae.« (93,27 f.) Vgl. 40 I,372,4 f. (Hs) ; 40 II,107,22–109,20; 17 I,299,4 ff.; 31 I,344,27–35: »Omnis, qui habet evangelium, fit securus: sic paulatim pigrescit spiritus et amittitur fides, non vigilatur ad reliquias peccati extirpandas. Est autem pulchrum scire, quod iusti adhuc sint peccatores. In sunden

Simul 511 Eine zweite Überlegung besteht darin, dass die bleibende Sünde den Glaubenden nicht mehr beherrscht, sondern nach Röm 8,28 vielmehr zum Guten dienen muss, indem in der abwehrenden Auseinandersetzung mit der Sünde der Widerstand gegen sie und damit die Entschiedenheit für die Gerechtigkeit wächst. Die Sünde bleibt also um des Guten willen, das daraus erwächst; sie bleibt, um bekämpft zu werden. »Peccatum dum Impugat et non dominatur, seruire cogitur sanctis, vt infra: ›Diligentibus Deum omnia coperantur in bonum.‹ […] Quia in iis omnibus crescit spirituali homini odium ac magis ac magis contra illud, ad quod impugnatur. Ideo vtilissima est tentatio. […] Sed seruit [peccatum], quando ei resistitur, quia perficit odium iniquitatis et amorem Iustitie. […] Videamus itaque mirabilem Dei sapientiam, Quia per malum promovet bonum et per peccatum Iustitiam perfecit.« (56,331,15–28) In diesem Sinne kann gesagt werden, dass der Überfluss die Seele reiner, der Hochmut demütiger, die Trägheit munterer, der Geiz freigebiger, der Zorn milder, die Genusssucht enthaltsamer macht.239 Weiter hält das Leiden unter und der Kampf mit der bleibenden Sünde dem Menschen den Blick für das ewige Leben als völliger Freiheit von der Sünde offen und verhindert auf diese Weise das Sich-Einschließen und Abkapseln in der Endlichkeit und Gebrochenheit dieses Lebens: »Quo consilio misericordissimo [wonach die bleibende Sünde nur dem, der sich als Sünder bekennt und um ihre Beseitigung bittet, nicht angerechnet wird] nos piissimus Deus cogit ad tedium huius vite, ad spem future vite, ad desiderium gratie sue, ad odium peccati.« (56,281,19 f.; vgl. 321,10–18) Wegen der Erbsünde ist der Tod »nutzlich und zuwunschen« (6,276,19; vgl. 17 II,13,23–26). Umgekehrt würde der Mensch, der irdisch schon völlig ohne Sünde wäre und Gott aus reinem Herzen suchte, sogleich sterben und zu Gott auffahren (56,258,8–16; vgl. 40 II,80,35–81,17). Eng verbunden mit dem Gedanken, dass der Mensch, angehalten durch das peccatum remanens, immer wieder demütig Gottes Gnade suchen soll, ist das doxologische Motiv, wonach das Bleiben der Sünde und ihr Bekenntnis die Gnade Gottes groß macht und preist, wie umgekehrt eine Verharmlosung oder Negation der Permanenz der Sünde die Gnade schmälern würde. Allein der Gnade ist es zuzuschreiben, dass uns der postbaptismale »Sündenrest«, der wirklich Sünde und nicht nur Disposition zur Sünde ist, nicht von Gott trennt und vor ihm verdammt. Dass Gott uns in Christus gerade als solche annimmt: daran leuchtet die Größe der Gnade auf! So heißt es im Antilatomus: »Minuunt etiam mysterii Christi notitiam, per hoc et laudem et amorem dei, dum non considerant effusissimae

stecken est periculosum, nicht darinnen stecken ist auch periculosum.« In Anspielung auf Hebr 12,1 spricht Luther von der »anklebische sund et pondus deorsum trahens et pertinaciter inhaerens«. 239 Vgl. 56,345,16–20: »Immo diuina dispensatione fit, vt illa concupiscentia, dum resistit volenti et bone voluntati, eoipso magis perficit voluntatem et accendit in odium maius sui, quam si non resisteret. Quia auersatur eam et ideo, quo magis resistit et concupiscit, eo auget odium sui. Sicut Irato, si offensor magis instet, magis iratum facit.«

512 Simul iustus et peccator: Begriffsbestimmungen

gratiae bonitatem super peccatores expansam, sed innocentem naturam faciunt.« (8,112,21 ff.) Oder wenige Seiten später: »At isti huius peccati negatores faciunt oscitantes et securos homines in accepto dono, per hoc et Christi gratiam vilem et misericordiam dei levem, ad quae sequi necessario oportet frigus amoris, segniciem laudis et treporem gratitudinis. Tu ergo cave illos pestilentissimos et disce opera dei magna, mirifica et gloriosa esse, ideo scias tete non posse hoc peccatum satis exaggere.« (8,114,39–115,7)240 Vom doxologischen Motiv aus ist es nicht mehr weit bis zu der These, dass Gottes Gnade, ja Gottes Gottheit sich gerade über Sündern ausbreiten will und muss, weil sie nur auf diese Weise bei sich selbst ist. Am deutlichsten ist das in der Magnificat-Auslegung ausgesprochen, wo Luther ausführt, dass Gott nicht nur deshalb erbarmend in die Tiefe schaut, weil der Mensch durch die Sünde in solche Tiefe geraten ist, sondern weil es Gottes Wesen und Eigenart ist, nach unten zu schauen und aus dem, was nichts ist, etwas zu machen. Das, was etwas ist oder in hochmütiger Verblendung etwas sein will, muss deshalb vor Gott immer wieder zu nichts werden (7,546,29–548,11). Auf die Sünde angewandt, hieße dies, dass es in gewisser Weise gut für den Menschen ist, bleibend Sünde zu haben und so in der Tiefe zu sein, weil Gott dann jederzeit an ihm erbarmend handeln kann. Genau dies deutet die Magnificat-Auslegung zumindest für die Tatsünde an, aber es liegt nahe, dies ebenfalls auf das peccatum remanens zu beziehen: »Darumb hat got auch den tod auff unsz alle gelegt und das Creutz Christi mit untzelichen leyden unnd notten seinen aller liebsten kindernn und Christenn geben, ja auch zu weilen ynn sund fallen lessit, auff das er ja viel zu sehen hette ynn die tieffe, vielen helffen, viel wircken, sich einen rechten scheppfer erzeigen unnd damit sich bekandt, lieblich und loblich machen mocht.« (7,548,12–16) Dass es hierbei nicht um eine Aufforderung zum Sündigen geht (vgl. Röm 3,5–8; 6,1.15), sondern darum, dass der Mensch seine Sünde erkennt und bekennt und so für Gottes Gnade empfänglich wird,241 liegt auf der Hand. Gleichwohl ist mit dem Rekurs auf

Vgl. 8,115,4–11; 122,36–123,16; 124,27–34; 107,31 f.: »Quin ingratitudo et iniuria est gratiae et dono dei, negare ipsum vere esse peccatum«; 92,42–93,3, wo es von der Rechtfertigung des Sünders heißt: »Ista est remissio baptismi gloriossisima et certe si spectes rem diligenter, fere maius est eum pro iusto haberi, qui adhuc peccatis infectus est, quam qui omnino purus est«; 39 I,122,8 ff.: »Imputacio Dei maior est, quam pura iustificatio. Nam maxima est iustificatio, quod peccatum remanens in natura non imputat, tanquam non sit, sed potius indicat esse iusticiam propter Christum.« Der Stand des simul ist also im Blick auf den Heilsmodus ein maius gegenüber der Gerechterklärung des Gerechten! Siehe auch AWA 1,548,22–549,3; 56,3,6–11; 157,2–6 (wo allerdings, ganz auf der Linie der Frühtheologie Luthers, das magnificare peccatum nicht die größere Barmherzigkeit Gottes herausstreicht, sondern Christus und seine Gerechtigkeit der Destruktion der menschlichen Eigengerechtigkeit, also der Erkenntnis der Sünde dienen; das Evangelium ist noch im Gerichtswort impliziert und auf dessen Offenbarung allein kommt es an). 241 Vgl. 56,216,13 ff. (zu Röm 3,7): »Quod non ideo Iustitia Dei commendatur, quia ego Iniustitias facio, immo quia agnosco me iniustitias fecisse et cesso facere et sic Iustitiam 240

Simul 513 die quasi notwendig so wirkende Schöpfernatur Gottes242 eine Grenze erreicht, welche die Sünde und ihr Bleiben als »Material« für solche creatio ex nihilo am Sünder zu rechtfertigen droht.243 Ganz auf der Linie des soeben Ausgeführten vermag Luther schließlich sogar zu sagen: Die Sünde muss bleiben, das simul peccator muss es geben, damit es Sündenvergebung gibt! Die Nachschrift einer Predigt aus dem Jahr 1529 bringt dies ungeschützt zum Ausdruck, weswegen die entsprechende Passage auch wohl nicht in die Druckfassung übernommen worden ist: »Christiana ergo iustitia est agnitio et sensus magnorum et multorum peccatorum, das wir in den sunden sticken bis uber die ohren et tamen nosse et apprehendere illam iustitiam, scilicet remissionem peccatorum. Ideo Christianus sol ein sünder sein et tamen iustus. Das ist ein seltzamer man. Si non est peccator, non acquirit remissionem peccatorum. Quomodo ista duo conveniunt? In te es certissime peccator. Nur frisch bekennet et dic: Ego sum peccator. Coram mundo mag ich from sein. Aber das unangesehen sum peccator propter articulum illum remissionis peccatorum. Ideo debeo esse peccator, sed talis cui peccata remissa sint. […] Sic Christiani peccatores quidam sunt, sed sciunt se habere remissionem peccatorum. Sic quamquam multa peccata vident et sentiunt, sehen sie doch uber sich coelum quod dicitur remissio peccatorum […]. Ideo peccata sollen servi sein quia misericordia Domini et remissio peccatorum regnat super nos contra peccata quae in conscientia volunt regnare. Das ist verus Christianus.« (29,576,11–577,11)244

Dei sive que ex Deo est, amplector«; 39 I,546,7–19, bes 1 ff.: »Si non sum peccator, Christus mihi nihil proderit, quia peccator non sum, hoc est, non agnosco, me esse peccatorem.« 242 Vgl. 7,547,13–16: »Denn die weil er [Gott] der aller hohist und nichts uber yhn ist, mag er nit uber sich sehen, mag auch nit neben sich sehen, die weil yhm niemant gleich ist, musz er von not ynn sich selb unnd unter sich sehen, unnd yhe tieffer yemant unter yhm ist, yhe basz er yhn sihet.« Siehe auch 56,375,18 ff.; 1,200,7 f. 243 Vgl. 56,219,3–10: »Non potest fieri, vt plenus Iustitia sua repleatur Iustitia Dei, Qui non implet nisi esurientes et Sitientes. Ideo satur veritate et sapientia sua non est capax veritatis et sapientie Dei, Que non nisi in vacuum et inane recipi potest. Ergo dicamus Deo: O quam libenter sumus vacui, vt tu plenus sis in nobis! Libenter infirmus, vt tua virtus in me habitet; libenter peccator, vt tu Iustificeris in me; libenter Insipiens, vt tu mea sapientia sis; libenter Iniustus, vt tu sis Iustitia mea.« – Siehe auch Joest, Paulus, 319, der Luther hier über Paulus hinausgehen sieht und urteilt: »Wir sind an einem äußersten und gefährlichen Rand angelangt. Mehr als ein Rand in Luthers motivierenden Erwägungen zum simul ist dies nicht. […] Aber jener Rand wurde von ihm gleichwohl erreicht.« 244 Vgl. 40 I,573,5 [Hs]: »Christianus sol peccator bleiben.« – Ähnlich auch im Brief an den unter seiner Sünde leidenden Georg Spalatin (21.08.1544; Br 10,639,32–41): »Aut certe nimis tener hactenus fuisti peccator, qui tibi parvulorum peccatulorum conscius tantum fueris. Sed, quaeso, iunge te nobis veris magnis et duris peccatoribus, ne nobis Christum extenues et minuas, qui non est Salvator fictorum aut levium peccatorum, sed verorum, non parvorum tantum, sed magnorum, imo maximorum et plane omnium peccatorum. Sic meus Staupitius me aliquando consolabatur in tristiis meis. ›Tu (inquit) vis esse peccator fictus et Christum fictitium habere Salvatorem.[…] Assuescendum tibi est, Christum esse

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Natürlich lässt sich auch dieser Text auf einer ersten Ebene so lesen, dass Luther auf das Erfordernis der Sündenerkenntnis abhebt, damit die Rechtfertigung dem Menschen zugute kommen kann. Jedoch ist der Text eben auch auf einer zweiten Ebene auf die Finalität des peccatum remanens hin zu interpretieren: Die Sünde bleibt, damit der Christ stets unter der Vergebung steht!

verum Salvatorem, et te verum esse peccatorem. Deus non agit ludicra et fictitia, non iocatur mittendo filium et radendo pro nobis.‹« Siehe auch den Brief an Georg Spenlein (08.04.1516; Br 1,35,28–31): »Cave te, ne aliquando ad tantam puritatem aspires, ut peccator tibi videri nolis, immo esse. Christus enim non nisi in peccatoribus habitat. Ideo enim descendit de coelo, ubi habitabat in iustis, ut etiam habitaret in peccatoribus.«

III Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen In diesem dritten und letzten Teil unserer Studie soll nach der theologischen Wahrheit und gegenwärtigen Verantwortbarkeit von Luthers These »simul iustus et peccator« gefragt werden. Dass Luthers simul interkonfessionell, aber auch innerevangelisch umstritten war und ist, wurde in der Einleitung, insbesondere bei der Aufarbeitung der Diskussion um die GE, gezeigt. Die jetzt vorzunehmende systematische Prüfung des simul kann hier nicht im Kontext einer eigenen theologischen Anthropologie oder Ekklesiologie geschehen, sondern soll sich im bescheideneren Rahmen von folgenden sechs Schritten vollziehen: Zunächst werden die letztlich doch höchst komplexen und differenzierten Ergebnisse des zweiten und dritten Teils unserer Arbeit, die den Befund hinsichtlich des simul bei Luther erheben wollten, kurz zusammengefasst (Kapitel 1). In einem zweiten und dritten Schritt ist nach der exegetischen Basis von Luthers These zu fragen, d. h. es soll an sie jenes Kriterium angelegt werden, welches nach Luther selbst das für jede theologische Aussage schlechthin entscheidende darstellt: ihre Begründbarkeit und Verifizierung von der Schrift her. Zunächst richten wir dabei unser Augenmerk auf Röm 7, den locus classicus für das simul (Kapitel 2), und nehmen anschließend einige andere neutestamentliche Belegstellen in den Blick (Kapitel 3). Hierbei ist einerseits zu untersuchen, wie stichhaltig die von Luther selbst für das simul herangezogenen biblischen Belege heute noch sind, andererseits wird

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

mit der Möglichkeit zu rechnen sein, dass das simul biblisch teilweise anders als bei Luther selbst fundiert werden könnte. Indem wir so formulieren, wird signalisiert, dass wir die Möglichkeit, dass das simul jeden Anhalts an der Schrift entbehrt, also als schriftwidrig zurückzuweisen ist, von unseren Analysen her ausschließen. Viertens soll der Frage nach einer möglichen ökumenischen Verständigung über den Sündencharakter der Konkupiszenz nachgegangen werden, weil diesem für eine heutige Vertretbarkeit des simul die entscheidende Schlüsselrolle zukommt (Kapitel 4). Fünftens ist dann die mit dem simul eng verbundene Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung zu stellen, wurde doch gegen das simul immer wieder der Einwand vorgebracht, dass dieses die Realität der Rechtfertigung bzw. der neuen Schöpfung in Christus untergrabe bzw. von vornherein minimalisiere. Abschließend soll, eine mögliche gegenwärtige Affirmierbarkeit des simul im Sinne Luthers einmal vorausgesetzt, nach dem ekklesiologischen bzw. interkonfessionellen Stellenwert dieser Lehre gefragt werden: Eignet ihr kirchentrennender Charakter oder nicht? Gehört sie der legitimen Pluralität und Strittigkeit theologischer Lehre zu – oder ist sie dem zuzuordnen, worin Kirchen, die miteinander Gemeinschaft haben, nach dem Kriterium der Leuenberger Konkordie unbedingt eins sein müssen: nämlich dem »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums« (Kapitel 6)?

1 Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil I und II

1.1 Drei Aspekte der Simul-Formel Unsere Untersuchung konnte die in der Forschung schon seit längerem vertretene Auffassung bestätigen, dass Luthers simul iustus et peccator verschiedene Aspekte beinhaltet: Die Formel kann einmal im Totalaspekt verstanden sein: simul totus iustus et totus peccator. Dies meint: Von Gott her, im Blick auf Christus ist der Christ ganz gerecht, ganz von Gott angenommen. Es trennt ihn nichts mehr von Gott. Im Blick auf sich selbst bzw. von Adam her muss er sich aber ganz als Sünder beurteilen, der vor Gott nicht bestehen kann. Die beiden Totalitätsbestimmungen gelten also jeweils unter unterschiedlicher Rücksicht (»diverso respectu«). Darüber hinaus kann Luther die simul-Formel auch in einem partialen und d. h. auch prozessualen Sinn verwenden: partim iustus et partim peccator. In dem ganz von Gott gerechtfertigten, ganz unter dem gnädigen Rechtfertigungsurteil stehenden Menschen entsteht eben daraus als Folge eine partielle und wachsende eigene Gerechtigkeit, durch die er in Glaube, Liebe und Hoffnung zunehmend ein neuer Mensch wird. Wie ein Rekonvaleszent unter der Leitung des Arztes Christus schreitet der Christ der vollen Genesung vom Schaden der Sünde entgegen. Diese »effektive« oder »sanative« Gerechtigkeit steht aber der partiellen Sünde, also dem im Christen noch vorhandenen Unglauben, seiner Lieblosigkeit und Verzweiflung gegenüber, bekämpft diese, ja vermag sie sogar zurückzudrängen und zu minimieren. Ebenso wie die fremde, mich ganz gerechtsprechende »imputierte« Gerechtigkeit Christi (iustitia aliena, imputativa) muss auch diese fragmentarische »Eigengerechtigkeit« (iustitita propria) relational verstanden werden: Sie kommt dem Christen ausschließlich und zu jeder Zeit kraft der neuen Relation zu Gott bzw. Christus zu, ohne dass damit für Luther gewisse habituelle Strukturen ausgeschlossen wären. Christus selbst wohnt im Glaubenden, so dass seine vollkommene Gerechtigkeit diesem stellvertretend zugeeignet wird und zugleich ein neues Sein auf Gott und den Nächsten hin in ihm wirkt. Um das simul in seinem Partialaspekt richtig zu verstehen, ist unbedingt festzuhalten, dass die partielle iustitia propria im Unterschied zur iustitia aliena bzw. imputativa keine Gerechtigkeit darstellt, mit welcher der Mensch vor Gott bestehen kann, sie ist keine Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«. Und zwar deshalb

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nicht, weil sie immer noch mit partieller Sünde vermischt ist und mich deshalb vor Gott ganz als Sünder, als totus peccator stehen lässt. Die von Gott geforderte Ganzhingabe des Herzens (»totalitas«; vgl. 5.Mose 6,5; Mk 12,30) wird nicht erbracht und so Gottes Gebot übertreten. Gegen alle Zweideutigkeiten und Unklarheiten in der Lutherforschung, aber auch in ökumenischen Konsensdokumenten musste unsere Studie dies klar herausstellen und hier einer Äquivokation des Begriffs der Gerechtigkeit entgegentreten. Folglich gibt es im Christenleben nach Luther sehr wohl eine Entwicklung, einen Fortschritt, ohne dass dieser immer geradlinig verlaufen müsste und gegen Rückschläge gefeit wäre, aber dieser Progressus ereignet sich irdisch immer innerhalb des simul iustus et peccator und führt nicht über dieses hinaus. Neben dem Total- und Partialaspekt findet sich bei Luther noch eine dritte Form von simul-Aussagen, welche strenggenommen dem Totalaspekt zuzuordnen ist, in welcher aber der eschatologische Aspekt eigens in den Blick genommen wird: Der Christ ist »peccator in re, iustus in spe«. Hierbei blickt Luther vom gegenwärtigen, coram deo totalen Sündersein des in sich betrachteten Christen auf dessen endzeitlich erhofftes volles Gerechtsein. Dabei ist in der Wendung »peccator in re/iustus in spe« weder das gegenwärtige partielle Gerechtsein noch das ganzheitliche gegenwärtige Gerechtgesprochensein geleugnet, sondern es wird nur herausgestellt, dass der Christ von sich her vollständig als peccator in re zu werten ist, er aber auch einmal in allen seinen Lebensdimensionen und -relationen gerecht sein wird.

1.2 Der Sündenbegriff Was den in Luthers simul-Formel vorausgesetzten Sündenbegriff betrifft, ist festzuhalten, dass Sünde hier nicht in erster Linie als Tatsünde in Gedanken, Worten und Werken verstanden, sondern im Sinne der bleibenden Erbsünde, des bleibenden Sünderseins des Menschen aufgefasst wird. Es ist die Konkupiszenz als nicht nur auf das Leiblich-Sinnliche bezogene, sondern den ganzen Menschen, d. h. ihn auch in seiner Geistigkeit betreffende Ichsucht, es ist der in allem Glauben noch präsente Unglaube, welche auch den Christen noch Sünder sein lassen. Im Unterschied zu den, wenn auch graduell in unterschiedlichem Maße, kontrollierbaren, in der Willkür des Menschen stehenden Tatsünden ist dieses bleibende Sündersein, jene Grundsünde als Ichsucht und Unglaube vom Menschen her nicht kontrollierbar und insofern unentrinnbar. Auch der Christ ist für Luther deshalb noch Sünder im Sinne eines postlapsarischen, also nicht schöpfungsmäßigen anthropologischen Existentials, das erst mit dem Tode abgelegt wird. Dabei insistiert Luther gegenüber der anders lautenden katholischen Position entschieden darauf, dass die Konkupiszenz bzw. der Unglaube als die nach der Taufe verbleibende Erbsünde im strengen Sinn als Sünde, d. h. als von Gott trennend, zu erachten ist. Sie trennt den Christen nur deshalb nicht von Gott, weil sie in Christus vergeben

Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse 519 und in diesem Sinn »beherrschte Sünde« (peccatum regnatum) ist, wenngleich der Christ sie auch insofern nicht »herrschen« lässt, als er ihr nicht »zustimmt«, d. h. nicht in sie einwilligt, sondern sie aktiv bekämpft. Die Einschätzung der Konkupiszenz als bloßer »Zunder« (fomes), also als brennbares, leicht entzündliches Material, das erst durch ein erneutes willentliches Ja zum Bösen wieder in Brand gesetzt, d. h. zur Sünde wird, kann Luther nicht akzeptieren, so sehr natürlich auch für ihn gilt, dass durch schwere Tatsünde, die stets einen Verlust des Glaubens einschließt, die bleibende Sünde wieder zur von Gott »angerechneten« (imputierten) und zur »herrschenden Sünde« (peccatum regnans) wird. Der Christ pflichtet dann willentlich seiner bösen Neigung bei und gibt ihr nach. Er ist dann – letztlich durch seinen Unglauben – aus der Vergebung Gottes und aus dem Stand des simul iustus et peccator herausgefallen.1 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass nach Luther das peccatum remanens, dem der Konsens verweigert wird, nicht deshalb nicht von Gott trennt, weil es nicht schon in sich selbst Sünde wäre, sondern weil es von Gott vergeben ist und immer neu vergeben wird. Die Qualifizierung des postbaptismalen Restes, also jener inneren unwillkürlichen ichzentrierten Regungen, als nicht von Gott trennender, wenngleich dem Plan Gottes mit dem Menschen nicht entsprechender »Gottwidrigkeit« (GE 28, 30) unterbietet somit die Einschätzung der Konkupiszenz bei Luther.

1.3 Das Verständnis der Rechtfertigung Konsequent fasst Luther dann Rechtfertigung nicht nur als einmaliges, etwa am Anfang des Christenlebens stehendes, sondern als duratives, eben täglich im Leben des Christen geschehendes Ereignis. Der »täglichen Sünde« entspricht die »tägliche Vergebung«, wie sie z. B. in Abendmahl und Absolution zugesprochen bzw. in je neuem »Rückgang« zur Taufe und ihrer Verheißung aktualisiert wird. Luthers simul stellt die anthropologische bzw. ontologische Seite seiner Rechtfertigungslehre dar. Denn ist die Gerechtigkeit coram deo, die Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, irdisch bleibend und ausschließlich eine fremde, nämlich die mir imputierte Gerechtigkeit Christi, dann bin und bleibe ich von meiner Eigenwirk-

Luther greift somit unter neuem Vorzeichen die klassische Unterscheidung zwischen peccatum mortale und peccatum veniale auf. Unter Letzterem wären dann alle jene Verfehlungen zu subsumieren, in denen sich der Glaube »durchhält« und welche nicht das Herausfallen aus dem simul iustus nach sich ziehen. Kasuistische Systematisierungen hat Luther hier nicht vorgenommen. Er denkt dabei aber an Sünden aus Schwachheit (peccatum infirmitatis), aus Übereilung (peccatum praecipitationis) sowie aus (leichtfertiger) Unkenntnis (peccatum ignorantiae). Sie alle sind abzuheben von gravierenden Übertretungen der göttlichen Gebote, der vorsätzlichen Bosheit und dem trotzigen Verharren in der Sünde sowie der religiösen Heuchelei. 1

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lichkeit her Sünder, eben simul peccator!2 Damit ist nicht – wie ein oft anzutreffendes Missverständnis des simul nahelegt – behauptet, dass sich auf Seiten des Menschen in seinem Lebensvollzug durch die Rechtfertigung »nichts ändern würde« – Luther leugnet also nicht die »effektive« bzw. »sanative« Seite der Rechtfertigung –, sondern nur, dass all diese positiven Veränderungen mir nie zur Gerechtigkeit vor Gott werden können, weil in ihnen allen, wenngleich auch nicht absolut, dennoch jener Unglaube, jene Ichsucht impliziert ist und sie mich vor Gott ganz als Sünder dastehen lassen.3 Insofern sichert das simul iustus et peccator das sola gratia, sola fide und solus Christus über den Anfang oder ersten Moment der Rechtfertigung hinaus für das ganze Leben des Christen: Weil ich bleibend Sünder bin, bin ich ständig, jeden Tag auf die sola fide zu ergreifende, kontrafaktische Rechtfertigung sola gratia um Christi willen angewiesen!4 Von daher hängt das simul iustus et peccator eng mit Luthers (zweistufiger) reformatorischer Entdeckung zusammen, ohne mit ihr identisch zu sein. Es stellt vielmehr deren sekundäre, aber notwendige Explikation dar. Dabei konnte unsere Arbeit zeigen, dass das simul iustus et peccator, obwohl es seit seinem ersten Auftreten in der Römerbriefvorlesung 1515/16 von Luther konstant verwendet wird, erst beim Erreichen von Luthers vollem reformatorischen Durchbruch im Frühjahr 1518 (Entdeckung des [Verheißungs]Wortes als Heilsmittel, klare Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, Profilierung des sola fide) von ihm vollständig expliziert werden konnte: Jetzt erst vermag das iustus-Sein im Sinne der des Heils gewiss machenden Zusage eindeutig zugesprochen zu werden, und das simul gewinnt den Charakter des in der Anfechtung tröstenden und aufrichtenden Zuspruchs, macht es doch die Heilsgewissheit unabhängig von ihrer im Lebensvollzug oft schmerzlich vermissten Evidenz und verlagert sie ganz in Gottes Wort. Demgegenüber stand das simul iustus et peccator zuvor ganz im Zeichen der demütigen Übernahme der eigenen Sünde, im Akzeptieren, ja in der Antizipation des göttlichen Gerichts, welche dann je und je in die dem Menschen letztlich verborgene, ungewisse Rechtfertigung durch Gott umschlagen konnte.

Wie auch umgekehrt gilt: Weil ich irdisch immer Sünder bleibe, die Sünde mir zur Natur geworden ist, vermag die Gerechtigkeit nur eine zugesprochene zu sein. 3 Dass dies so ist, lässt sich auch durch die Einsicht plausibilisieren, dass wer auch nur gelegentlich untreu ist, eben untreu ist, wer gelegentlich die Unwahrheit sagt, eben ein Lügner ist, wer einmal tötet, ein Mörder ist. 4 Oder negativ formuliert: Weil ich lebenslang Sünder bleibe, bin ich dauerhaft der göttlichen non-imputatio meiner Sünde bedürftig. Vgl. auch die schöne Formulierung Hermanns, Kontroverse, 267: »Taufe und Rechtfertigung [nehmen] dem Menschen wohl den Titel des Verschuldeten […], nicht aber den des Sünders«. 2

Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse 521

1.4 Das »simul« in zentralen Themenfeldern von Luthers Theologie Wie Luthers These vom simul iustus et peccator in den der Rechtfertigungslehre benachbarten theologischen Themenfeldern sowohl in ihrer Bedeutung profiliert wird als auch argumentative Funktion übernimmt, konnte unsere Untersuchung mehrfach zeigen: Dass für Luther die Taufe für den Christen »lebenslängliche« Bedeutung und Aktualität erhält, zu der er je neu sich hinwenden kann und soll, gründet letztlich in der anthropologischen Bestimmung des Christen als simul peccator: Die einmal an ihm vollzogene und von Gott nicht mehr zurückgenommene Taufe verbürgt ihm je neu die Zusage des göttlichen Verheißungs- und Vergebungswortes, zu dem er, wenn er konkret schuldig wird, »zurückkehren« kann. Zugleich weist sie den Christen aber immer wieder ein in den Prozess des Mitsterbens und Mitauferstehens mit Christus – als Kampf gegen die bleibende Sünde und Stärkung des neuen Lebens. Wenn Luther in der ersten Ablassthese die Buße, die letztlich nichts anderes darstellt als eben jenen »reditus ad baptismum«, nicht als punktuelle, sondern permanente Aufgabe des Christen versteht, dann ist auch dies nicht nur im Faktum je neuer Tatsünde durch den Christen begründet, sondern wurzelt in dessen anthropologisch fundiertem Status als simul peccator. Erwies sich so das simul als der letzte Realgrund der Buße, so fungiert Letztere für Luther umgekehrt als Erkenntnisgrund des simul: In der Situation konkreter Buße (Luther rekurriert immer wieder auf das Beispiel Davids) geht dem glaubenden Menschen auf, dass er immer noch – seiner Natur nach – Sünder ist. Von der These des simul her ist es weiter folgerichtig, wenn Luther in provokanter Weise behauptet, dass nicht nur die guten Werke der Unbekehrten Todsünden seien, sondern dass dies, sofern man sie für sich betrachtet, auch auf die guten Werke der Glaubenden zutrifft – oder abgeschwächt formuliert: dass auch in ihnen noch Sünde mitenthalten sei. Mit dieser Annahme will Luther das Tun des Menschen nicht ethisch nivellieren (nach dem Motto: In allem ist ja Sünde impliziert, also ist es einerlei, was ich tue oder nicht tue!), sondern darauf hinweisen, dass auch im gut gemeinten und vorbildlichsten Werk des Christen (»auch in dem besten Leben«: AWA 4,191; EG 299,2) auf sein Herz gesehen noch jene selbstsüchtige, ungläubige Motivation neben der selbstvergessenen Liebe mit im Spiel ist und so das Werk wie die Person als Ganze vor Gott nicht bestehen lässt. Die Werke bedürfen folglich genauso wie die Person der Rechtfertigung durch den Glauben allein, dürfen, ja sollen sich dieser aber auch getrösten. In Luthers theologischer Anthropologie, die uns v. a. als Lehre von Geist und Fleisch in den Auslegungen von Röm 7,14–25 und Gal 5,17 f. begegnete, differenzierte und komplizierte sich das Verständnis des simul nochmals deutlich. In einem langen und mühsamen Prozess, der in der Magnificat-Auslegung von 1521 zum vorläufigen Abschluss gelangt, stößt Luther zur Unterscheidung von existentiell-soteriologischen Ganzheitsbegriffen und anthropologischen Konsti-

522 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

tutionsbegriffen durch: Luther versteht unter Geist und Fleisch einmal Aussagen jeweils über den ganzen Menschen in all seinen Konstitutionsschichten bzw. Konstitutionsaspekten. Diese qualifizieren den Menschen im Blick auf sein Heil oder Unheil: als durch den Geist Gottes oder durch sein eigenes gottloses Wesen bzw. die Macht der Sünde bestimmten Menschen. Davon sind aber diese Konstitutionsschichten bzw. Konstitutionsaspekte selbst, die den Menschen als Menschen ausmachen, abzuheben – trichotomisch als Geist, Seele und Leib gefasst,5 dichotomisch als Leib und Seele oder innerer und äußerer Mensch verstanden. Luther löst auf diese Weise die in einem idealistisch-platonischen Denkhorizont gegebene Verbindung von soteriologischen und substanzdualistischen Begriffen auf, wonach der Geist oder die Vernunft per se dem Guten und Heil näher stehen, während die Materie, der Leib bzw. die Sinnlichkeit den primären Einfallsort des Bösen darstellen. Für das simul bedeutet dies: Die Rede, dass der Christ zugleich totus spiritus und totus caro ist, besagt, dass in ihm zwei Willens- oder Streberichtungen koexistieren: jene aus dem Glauben resultierende der Liebe und jene seiner noch fortdauernden vorgläubigen, alten Existenz zuzurechnende des Unglaubens und Ichwillens. Beiden Intentionalitäten eignet insofern Totalität, als sie alle Konstitutionsebenen, d. h. die tota persona des Menschen betreffen, sie sind aber insofern partial, als diese Totalität jeweils durch die andere begrenzt und bekämpft wird (non totaliter). Dabei sind diese beiden Willenstendenzen von Geist und Fleisch für Luther, auch wenn gewisse Formulierungen das Gegenteil zu insinuieren scheinen, keineswegs gleich stark bzw. paritätisch, sondern asymmetrisch: Der Geist soll – so die idealtypische Vorstellung – die Oberhand behalten, das peccatum ist ja peccatum regnatum. Konkret heißt das: Der Christ kann und soll sich von Tatsünde freihalten und die Sünde, als welche die »fleischliche« Willensregung sehr wohl anzusehen ist, nicht durch den Konsens zu ihr wieder zum peccatum regnans werden lassen.6 Es sind nun genau jene zwei Streberichtungen von Geist und Fleisch, welche Luther bei der Rede vom partim iustus et partim peccator im Blick hat. Diese kommen idiomenkommunikativ wie zwei Naturen dem einen Subjekt, der einen Person zu – so wie in dem einen Christus göttliche und menschliche Natur vereinigt sind. Der Stand des Christen als totus spiritus und totus caro (totus = alle seine Konstitutionsebenen betreffend; in tota persona), der im oben genannten Sinn Das Wort »Geist« liegt somit in doppelter Bedeutung vor: als gottgewirkte Ausrichtung der ganzen Existenz und als natürliches Konstitutionsmoment dieser Existenz. 6 Mit Luthers partialem simul iustus et peccator wird oft Fausts Wort »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,/Die eine will sich von der andern trennen;/Die eine hält, in derber Liebeslust,/Sich an die Welt mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust/Zu den Gefilden hoher Ahnen« (Goethe, Faust, 1112–1117 [= Werke Bd. 3, 41] in Verbindung gebracht. Die hierin sich aussprechende Parität der »zwei Seelen« darf nicht auf Luthers simul übertragen werden. Tertium comparationis kann nur der Antagonismus zweier »Triebe« sein. 5

Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse 523 zugleich partim spiritus und partim caro ist (partim = die eine Totalität ist durch die andere eingeschränkt; non totaliter), muss sowohl vom unbekehrten Menschen als auch vom eschatologisch vollendeten Menschen abgehoben werden: Ersterer ist allein und ausschließlich (totaliter) totus caro, gibt es in ihm doch nur die Intentionalität des Fleisches, der er ganz und in all seinen Dimensionen ausgeliefert und hingegeben ist, während der Mensch jenseits der Todesgrenze allein (totaliter) totus spiritus ist, d. h. nur und in allen Fasern seiner Existenz vom Geist geleitet wird.7 Des Weiteren ist die Rede vom simultanen totus homo spiritus und totus homo caro von den rechtfertigungstheologischen Termini totus homo iustus/totus homo peccator abzuheben: Die letzteren intendieren nicht zwei Willensrichtungen, sondern zwei Urteile bzw. Wertungen über den Menschen: einmal von Gott, von Christus her das gnädige Rechtfertigungsurteil, zum anderen vom Menschen selbst und seiner bleibenden Sünde her das anklagende Urteil des Gesetzes, wenn das Rechtfertigungsurteil nicht gelten würde.8 Im Blick auf Luthers Lehre vom Gesetz hörten wir, dass seine Behauptung, wonach auch der Christ noch unter dem theologischen, anklagenden Brauch des Gesetzes steht, in seiner Auffassung vom simul iustus et peccator gründet. Denn qua alter Mensch, qua Fleisch, qua christianus militans, also qua Sünder steht der Christ quasi noch in der Situation vor dem Evangelium, und es ist das Gesetz, das ihn mittels seines Schuldspruches zum Evangelium und seinem Freispruch (erneut) hintreiben will. Dagegen ist der Christ als neuer Mensch, als Geist, als christianus triumphans, d. h. als von Christus Gerechtfertigter, vom Gesetz frei. Bei dieser Gegenüberstellung, die deutlich macht, dass Luther den Christen gleichsam als »Doppel-« oder »Zwillingswesen« betrachtet, ergab sich jedoch folgendes Problem: Wie lässt sich ein strenges zeitliches »Zugleich« von Gesetz und Evangelium, von Verurteilung und Freispruch beim Christen denken, wo doch Gesetz und Evangelium zwei die ganze Person betreffende kontradiktorische Urteile darstellen, die gerade nicht zugleich gelten können bzw. ein Zugleich gerade die Unbedingtheit des Evangeliums einschränken würde? Luther greift an dieser Stelle, wie wir sahen, zum Modell der zwei Zeiten: Gesetz und Evangelium wechseln sich im Leben des Christen temporär ab, er schwingt gleichsam zwischen den zwei Zeiten hin und her, je nach dem, ob er im Glauben auf Christus schaut oder seinen Blick in der Anfechtung von ihm abwendet. Von einem Zugleich kann hier also nur in einem weiteren Sinn gesprochen werden, d. h. in der Bedeutung eines permanenten Wechsels vom einen zum anderen. Von einem strengen Zugleich von Gesetz und Evangelium könnte nur in dem Sinn die Rede sein, dass der Christ als simul peccator jederzeit und prinzipiell unter die Dies bedeutet, dass der Mensch irdisch entweder als Sünder oder als Sünder und Gerechter zugleich, nicht aber als Gerechter schlechthin existiert. 8 Eine weitere Differenzierung ist bei Luther ebenfalls noch anzutreffen: Er vermag auch die Rede vom simul totus iustus et totus peccator, eben weil es zwei Hinsichten sind, ein partim – partim zu nennen.

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Anklage des Gesetzes gestellt werden könnte – nämlich immer dann, wenn der Freispruch des Evangeliums nicht gälte bzw. er im Unglauben von ihm absähe. Der Christ ist jederzeit vom Gesetz betreffbar!

1.5 Gottes »Absicht« mit dem »simul« Fragt man nach dem – von Gott aus gesehen – heilsgeschichtlichen Sinn des simul iustus et peccator, sozusagen der göttlichen »Absicht« dabei, so antwortet Luther mit mehreren Grenzüberlegungen, mit denen er natürlich keinesfalls beabsichtigt, die Sünde zu rechtfertigen oder den Sünder zu entschuldigen: Zum einen, dass Gott den Christen durch das simul peccator bei der Demut bzw. bei der Gnade festhalten will, der Mensch also nicht meint, sich vom sola gratia, sola fide und solus Christus emanzipieren und etwas Eigenes bei Gott vorweisen zu können. Dann wäre für Luther auch alle Heilsgewissheit zerstört und die alte Unsicherheit im Blick auf das menschliche Stehen vor Gott wieder eingekehrt. Luther kann deshalb formulieren, dass es gefährlich für den Christen ist, wenn er vor Gott kein Sünder mehr sein will, weil er dann Christus und die Gnade schmälere. Dieser Satz bedeutet auf einer ersten Ebene, dass der Christ seine vorhandene Sünde als solche erkennen und bekennen, d. h. nicht leugnen und überspielen soll. Aber damit ist seine Intention noch nicht ausgeschöpft, denn Luther wagt sich sogar bis zu der Aussage vor, dass es Sünde geben muss, damit es bleibend göttliche Vergebung geben kann. Hinzuzunehmen ist der Gedanke, dass Gott den Menschen als simul iustus et peccator ganz im Horizont der gewissen, von ihm selbst herbeigeführten eschatologischen Vollendung sieht. Zwar ist das Rechtfertigungsurteil nicht – wie Karl Holl annahm – nur die Antizipation des endlichen Gerechtseins, sondern erfolgt propter Christum, doch wird für Gott der gegenwärtige Status des simul vom Ende und Ziel her tragbar und sinnvoll. Das simul steht im Rahmen einer göttlichen Teleologie, mittels welcher Gott die Sünde überwindet und eben dadurch an seiner ursprünglichen Schöpfungabsicht mit dem Menschen festhält und diese realisiert (vgl. BSLK 660,32 f.). Die Gerechtsprechung, die den Menschen ganz gerecht sein lässt, ist von daher eine Interimswirklichkeit, und die anfangende, fragmentarische Gerechtwerdung, das initium creaturae novae, das mich jetzt vor Gott nicht bestehen lässt, ist das gewisse Zeichen dafür, dass Gott bei mir jetzt am Werk ist und mich der eschatologischen Vollendung entgegenführt – und insofern auch für Gott selbst nicht irrelevant.

1.6 Das »simul« und die Logik Luthers simul muss sowohl in seinem totalen als auch partialen Sinn als strenges, d. h. zeitliches Zugleich gefasst werden. Dies stellt jedoch keineswegs eine logische Widersprüchlichkeit dar, wonach Kontradiktorisches vom selben Sub-

Luthers »simul« kurzgefasst – Zusammenfassung der Ergebnisse 525 jekt, zur selben Zeit und in derselben Hinsicht prädiziert würde. Denn Luther gibt jeweils unterschiedliche Hinsichten an, unter denen das iustus esse und das peccator esse gilt, nämlich im Blick auf Christus, im Blick auf mich selbst bzw. im Blick auf mein caro esse bzw. spiritus esse. Das simul Luthers bedeutet mithin keine Aufhebung der Logik, so sehr Luther dies mitunter in provokanten Formulierungen zu insinuieren scheint, sondern bildet ein theologisches Paradox, weil Gott um Christi willen – vorerst (interim) – die für gerecht halten und bei sich gerecht sein lassen will, die von sich her Sünder sind.

2 Kann Römer 7 einen Beitrag zur Begründung des »simul iustus et peccator« leisten?

2.1. Die Aufgabe: Kritisch-konstruktive Prüfung und mögliche Erweiterung der biblischen Belege Luthers für das »simul«

Wie wir gesehen haben, zieht Luther als Beleg für das simul iustus et peccator eine Fülle von Bibelstellen aus dem Alten und Neuen Testament heran. Ps 32,1 f.6; Ps 143,2; Pred 7,20; Jes 64,4 ff. sowie Röm 7,7–25; Gal 5,16 f. und 1.Joh 1,8 ff. (in Kontrast zu 3,6.9; 5,18) werden dabei besonders häufig zitiert, im weiteren Sinn rücken aber auch Ps 51 und Ps 130 in das Blickfeld. Immer wieder rekurriert Luther zur Stützung des simul auch auf die ersten drei Bitten des Vaterunsers (Mt 6,9 f. par), während er die fünfte Bitte (tägliche Sündenvergebung; Mt 6,12 par) argumentativ nicht nutzt, da sie für ihn auf die vergangenen Tatsünden Bezug nimmt. Bei den alttestamentlichen Belegen hat Luther mit klarem Blick jene aufgespürt, die von der radikalen Schuldverfallenheit auch der Gläubigen sprechen, die zu ihrer Rechtfertigung ganz und allein auf die Gnade Gottes verwiesen sind9 und deren Gottesverhältnis doch von dem der Gottlosen unterschieden wird (vgl. Ps 32,10). Gewiss hat er dabei – man denke etwa nur an Pred 7,20 – nach heutigem exegetischem Urteil manche Stelle falsch bzw. überinterpretiert. Bei den neutesta Dies gilt insbesondere für Ps 143,2. Dieser Vers wird von einem (unschuldig) Verfolgten und Angeklagten gesprochen, der dennoch vor Gott bekennt: »Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Vor dir ist ja kein Lebendiger gerecht.« Vgl. dazu Kraus, Psalmen II, 1117: »Dieser Satz schiebt sich wie ein Fremdkörper in das Gebetslied ein […]. War es sonst üblich, daß die Angeklagten und Verfolgten ihre Unschuld beteuerten […] und auf ihre zedakah pochten […], so erkennt jetzt der Beter des 143. Psalms, daß er vor Jahwes Gericht nicht bestehen kann. Er kann nicht mehr bitten: ›Richte mich!‹ […] Er weiß: Vor Jahwe ist kein Mensch gerecht. Es wird also dem Menschen jede Gerechtigkeit abgesprochen. […] Ist diese Erkenntnis aus Pessimismus entstanden? Oder spricht sich hier ein tiefes Wissen um die völlige Schuldverfallenheit der menschlichen Existenz aus, das die Unschuldsbeteuerungen früherer Zeiten nicht mehr nachzusprechen in der Lage ist? […] Die iustificatio impii kündigt sich hier an.« Siehe auch ders., Theologie, 197 (mit Verweis auch auf Ps 51,6 f.); von Reventlow, Rechtfertigung, 101 f.; Klaiber, Rechtfertigung, 44 f., bes. 45 (zu Ps 143,2): »Es gibt offenbar im Alten Testament eine ganz spezielle Variante des simul iustus et peccator.« 9

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 527 mentlichen Belegen, ja unter den Belegstellen überhaupt, trägt eindeutig Röm 7 neben Gal 5,16 f. die Hauptbeweislast. Weniger häufig werden die Belege aus 1.Joh herangezogen, obwohl ihnen mit ihrer Dialektik von Sünde und Sündlosigkeit für die Frage des simul großes Gewicht zukommt. Röm 7 und Gal 5,16 f. sind für Luther schon aus dem Grund besonders wichtig, weil sie – zumindest in der Sicht Luthers – am deutlichsten von Sünde nicht nur im Sinne der Tatsünde sprechen, sondern vom Stehen unter der Sündenmacht, der Konkupiszenz bzw. dem »Fleisch«, und darum einen inneren Schaden und Zwiespalt im Menschen bzw. im Christen selbst anvisieren. Wir können im Rahmen unserer Studie nicht alle von Luther herangezogenen Stellen für das simul auf ihre exegetische Tragfähigkeit prüfen, sondern möchten uns in diesem und dem folgenden Kapitel auf Röm 7, Gal 5,16 f.10 und die einschlägigen Verse aus 1.Joh beschränken. Ergänzend behandeln wir die beiden ersten Antithesen der Bergpredigt Mt 5,21 f.27 f., welche Luther für das simul zumindest explizit nicht in Anschlag gebracht hat. Sie scheinen uns aber dafür ein bisher unausgeschöpftes Potential zu bieten, verlegt Jesus doch hier die Sünde schon in die inneren Regungen und Gedanken des Herzens und nicht erst in die äußere Tat. Vorab sei das Ziel der folgenden Überlegungen benannt: Im Bewusstsein der heutigen exegetischen Problematik, Luthers simul zu begründen, ist es unser Anliegen, die Möglichkeit, das simul iustus et peccator von der Bibel her zu denken, zu erweisen. Wir sind also der Auffassung, dass es Ansätze und Linien im Neuen Testament gibt, die es möglich und gerechtfertigt erscheinen lassen, dass man zu Überlegungen fortschreitet, wie Luther sie angestellt hat. Luther hat darum – Auf die umfassendere Thematik des Verhältnisses von Luther und Paulus überhaupt können wir im Rahmen unserer Studie nicht eingehen, nicht einmal für die Themenbereiche lutherischer Theologie, innerhalb deren wir in Teil I das simul Luthers verorteten. Wir beschränken uns hier streng auf das simul iustus et peccator. Zum Verhältnis des Paulinismus Luthers zu Paulus selbst vgl. Stolle, Luther. Stolle, der das Thema durchgehend lutherkritisch angeht, schwankt zwischen der Bewertung der Paulusdeutung Luthers als zeitgeschichtlich und biographisch bedingter Verengung bzw. Verkürzung und einer legitimen Aktualisierung des Paulus unter veränderter Situation, die freilich in ihrer anthropologisch-existentialen Perspektive für unsere heutige Paulusdeutung und Kontextualisierung des Evangeliums (für unsere »Paulus- bzw. Christus-Mimik«: 477 ff.) nicht normativ, ja nicht einmal perspektivenreich sein kann (476), es sei denn über eine »Destruktion des lutherischen Sinnganzen« (438). Bei Stolles überscharfer Herausstellung des Trennenden zwischen Luther und Paulus bedürften m. E. vor allem seine Behauptung des nicht-forensischen Charakters der paulinischen Rechtfertigungslehre sowie seine These, Luther schreibe letztlich doch (gegen Paulus) modifiziert den antiken Gerechtigkeitsbegriff des (ius) suum cuique tribuere bzw. der rechten Verhältnisordnung zwischen Partnern (aequitas) fort, einer näheren Überprüfung. Zu diesen beiden Themen vgl. Hübner, Rechtfertigungslehre, 80–90; Härle, ›Suum cuique‹. Kritisch zu Stolle: Landmesser, Luther. Auch wenn man Stolle in vielem nicht zustimmen mag, sachgemäß ist in jedem Fall das radikale Insistieren eines lutherischen Neutestamentlers darauf, Luther an der Schrift selbst zu messen. Vgl. nur 370–374. Siehe auch ders., Nomos; ders., Perspektiven. 10

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so unsere These – unter veränderten Bedingungen, die noch zu benennen sind, bestimmte Tendenzen des Neuen Testaments legitim weiter ausgezogen. Damit nehmen wir von vornherein von einer neutestamentlichen Eindeutigkeit bzw. Notwendigkeit des simul Abstand. Unmöglich scheint es uns aber, schon von Luthers Grundsatz des sola scriptura her, das simul ohne jede neutestamentliche Begründung zu vertreten.

2.2 Die Frage nach dem Subjekt von Römer 7 2.2.1 Mögliche Antworten und Luthers Position Röm 7 gehört zu den schwierigsten und am meisten »gequälten« Texten der Paulusbriefe, ja der Bibel überhaupt.11 Neben anderen Interpretationsproblemen dieses hochkomplexen Textes hängt dies vor allem mit der Frage zusammen, wer das Ich, das Subjekt in Röm 7,7–25 ist. Zunächst denkt man ganz natürlich an Paulus, den Autor des Römerbriefes, selbst. Wir würden dann in Röm 7 etwas über die innere Entwicklung bzw. über den vergangenen oder gegenwärtigen Zustand des Apostels selbst erfahren. Mit der letzten Formulierung ist schon die weitere Differenzierung der Frage angedeutet: Spricht Röm 7, wenn der Abschnitt denn von Paulus handelt, von dem Paulus vor oder nach seiner Bekehrung? Dreht es sich also um den Juden oder um den Christen Paulus? Weiter ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das Ich von Röm 7 nicht nur persönlich-biographisch, sondern auch typisch gemeint ist: Paulus verdeutlicht etwas an sich selbst und unter Einschluss seiner eigenen Person, was aber für alle gilt, wobei auch hier wieder zwei Möglichkeiten bestehen: entweder für alle Menschen vor und außer Christus12 oder nur für alle Christen. Schließlich könnte das Ich rein rhetorisch-fiktiv verstanden sein: Paulus entfaltet einen allgemein-menschlichen Sachverhalt, ohne auf eigene Erfahrungen zu rekurrieren. Dass die Klärung der Subjektfrage in Röm 7 sich so schwierig gestaltet, hängt u. a. damit zusammen, dass in Röm 7,7–13 in der Vergangenheitsform von einem Ereignis berichtet wird, während in Röm 7,14–24 in der Gegenwartsform ein Zustand beschrieben wird, beides aber in der 1. Person Singular. Von daher legt sich sogar nochmals eine Unterscheidung nahe: Es könnte in Röm 7,7–13 von der vorchristlichen Vergangenheit des Paulus die Rede sein, in Röm 7,14–25 aber von seiner christlichen Gegenwart, dazwischen läge also die Bekehrung des Paulus, über deren Genese uns dann Röm 7 Aufschluss gäbe.

Zur Auslegungsgeschichte vgl. Kuss, Römerbrief II, 462–484; Ellwein, Rätsel, 250– 266; Wilckens, Brief II, 101–117. Zur neueren Forschungsgeschichte von Röm 7 siehe Lichtenberger, Ich, 13–105. 12 Auch könnte man noch zwischen dem Menschen unter dem Gesetz im engeren Sinn, also dem Juden, und dem Menschen unter dem Gesetz im weiteren Sinn, also den Menschen von Adam her, differenzieren. 11

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 529 Denkbar wäre es von daher auch, dass Röm 7,7–13 den vorchristlichen Menschen allgemein, Röm 7,14–25 den Christenmenschen behandelte. Unsere Studie hat eindeutig ergeben, dass Luther zeitlebens der Überzeugung war, dass Röm 7 vom exemplarischen Christen Paulus handelt, und zwar nicht erst von Röm 7,14, sondern bereits von Röm 7,7 an. Luther schloss sich damit dem späten Augustin an, während der junge Augustin mit den frühen Kirchenvätern der Auffassung war, dass Röm 7 sich auf den vor- und außerchristlichen Menschen beziehe. Für die Begründung des simul ist Röm 7,14–25 für Luther (neben Gal 5,17) der eigentliche locus classicus, weil er in dem hier beschriebenen, durch die Sündenmacht veranlassten Konflikt zwischen Wollen und Tun (7,15.19) den vornehmlich inneren Konflikt zweier Willenstendenzen im Christen beschrieben sieht, des Geistes und des Fleisches, des aus dem Glauben entspringenden guten Wollens und des konkupiszent-ungläubigen Wollens des alten Adam, die im Christen zugleich gegeben sind. Dabei vermag der Geist idealtypisch das ihm entgegengesetzte Wollen zwar nicht auszulöschen, aber doch zu bekämpfen und niederzuhalten, so dass es zur Ausführung der guten und nicht der bösen Tat kommt, die erstere aber immer mit jenem Makel der inneren Sünde, des inneren Widerstrebens behaftet ist. Und in diesem Sinn ist der Christ simul iustus et peccator – im partialen und totalen Sinn! Bestätigt sieht Luther seine Interpretation durch die beiden »Gesetze«, die im Christen nach Röm 7 wirken, das Gesetz Gottes, dem der innere Mensch bzw. das Gemüt zustimmt, und das Gesetz der Sünde in den Gliedern (7,22 f.). Zugespitzt und zusammengefasst erblickt Luther seine Deutung dann in Röm 7,25b: »So diene ich nun mit dem Gemüt dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch der Sünde.« Röm 7,7–13 handelt nach Luther ebenfalls von Paulus und »allen Heiligen« (56,68,12 f.; vgl. 339,5 ff.), wobei nicht ganz klar ist, wie Luther dies meint.13 Möglich wäre ein Bezug des Abschnitts auf den vorchristlichen Paulus bzw. alle (jüdischen) Menschen vor ihrem Christwerden, aber auch, da Luther in einer Kirche lebt, welche die Säuglingstaufe praktiziert und in die hinein man deshalb quasi als Christ geboren wird, dass der Passus sich auf das Mündigwerden des christlichen Menschen, das Erwachen seines Vernunftgebrauches und seiner ethischen Verantwortlichkeit bezieht. Der junge Mensch wird dann eo ipso mit dem »Gesetz«, dem göttlichen Willen konfrontiert. Dadurch erwacht aber die Erbsünde, d. h. die Konkupiszenz tritt aus ihrer Latenz hervor und wird aktiv. Das böse Begehren, das eigentlich schon von Geburt an da war, wird hervorgelockt, zugleich aber als Sünde kenntlich gemacht.14 Des Weiteren scheint Luther anzu-

Vgl. 56,67,26–69,23; 348,2–27. Zu Luthers Abhängigkeit von Augustin in den folgenden Erwägungen vgl. Hamel, Luther II, 29 f. Luther nimmt aber fälschlich an, dass auch Augustin schon Röm 7,7–13 und nicht erst Röm 7,14 ff. vom geistlichen Menschen verstehe. Dazu Grane, Modus, 53 ff. 14 Diese Deutung vertritt explizit Zahn, Brief, 339–348, bes. 344 f. Röm 7,7–13 bezieht sich dann auf (mehr als) einen »Sündenfall« in der Adoleszenz des Paulus bzw. aller Men13

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nehmen, dass sich dieser Vorgang auch später im Leben des Christen als simul peccator jederzeit wiederholen kann, nämlich wann immer der Christ unverstellt dem göttlichen Gesetz begegnet und dieses zur »Erkenntnis der Sünde« führt – in dem doppelten Sinn der Manifestation und der Provokation der Sünde. Jedoch stellen all diese Gedanken nur Randüberlegungen Luthers dar. An Röm 7,7–13 ist ihm v. a. Röm 7,7 (objektlose Zitation des 9. und 10. Gebots) als Begründung dafür wichtig, dass die Konkupiszenz nach Paulus im vollen und wahren Sinne Sünde ist, während das simul selbst mit Röm 7,14–25 fundiert wird.

2.2.2 In Römer 7 spricht der Mensch vor und außer Christus Die Exegese von Röm 7 ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu dem mehrheitlichen Ergebnis gelangt, dass Röm 7,7–25 nicht vom Christen bzw. vom in Christus erlösten Menschen handeln kann, sondern vom unerlösten, d. h. vorund außerchristlichen Menschen spricht. Es war v. a. Werner Georg Kümmel mit seiner 1929 publizierten Dissertation »Römer 7 und die Bekehrung des Paulus«, der im Anschluss an die Vorarbeit seines Lehrers Rudolf Bultmann diese Position umfassend begründete.15 Dabei sind für Kümmel wie für Bultmann eine auch heute weithin anerkannte Präzisierung wichtig: Röm 7 beschreibt zwar die Lage und Verfasstheit des unerlösten Menschen, des Menschen unter dem Gesetz, aber doch aus dem Blickwinkel des erlösten Menschen heraus.16 Der Christ Paulus blickt also auf den vorchristlichen Status zurück, erst von seinem neuen Sein erschließt sich die Vergangenheit in ihrer ganzen abgründigen Wahrheit, ohne dass diese damit vorher völlig verborgen bleiben müsste. Nicht verschwiegen sei aber, dass Kümmels Position zwar im deutschsprachigen Raum fast unangefochtene Zustimmung fand,17 gleichwohl im englischsprachigen Raum bis heute dagegen Widerspruch angemeldet und die alte augustinisch-reformatorische Deutung weiter aufrechterhalten wird.18 Kümmel hat seine Interpretation von Röm 7 auf den vor- und außerchristlichen Menschen mit zwei weiteren Thesen verbunden, denen die erwähnte fast einhellige Anerkennung allerdings nicht zuteil wurde: Zum einen hat er vehe-

schen, auch der Christen, während 7,14–25 die gegenwärtige Erfahrung des Erwachsenen beschreibt und »im gewissen Sinn und Maß« (351) noch vom Christen gilt, sofern mit seiner »Naturbeschaffenheit das Verkauftsein unter die Sünde« bleibend gegeben ist (ebd.; vgl. 342, 367), allerdings nur vom gerade erst bekehrten, nicht vom wiedergeborenen Christen (366) – eine Stufung, die freilich im Text keinen Anhalt hat. 15 Vgl. Kümmel, Römer 7, bes. 74–138. 16 Vgl. die schon klassische Formulierung bei Bultmann, Problem, 43: Röm 7 ist »die Darstellung des objektiven Seins des Unerlösten, wie es vom Standpunkt des Erlösten aus sichtbar geworden ist«. Ferner ebd., 49. 17 Sie wurde durch die jüngste Monographie über Röm 7 (Lichtenberger, Ich, bes. 125 f., 266–269) erneut bestätigt. 18 Vgl. dazu unten den diesbezüglichen Exkurs.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 531 ment bestritten, dass Röm 7 für Paulus selbst biographisch auswertbar sei bzw. etwas über den Verlauf der Bekehrung des Paulus aussage. Kümmel negiert also, dass das Ich persönlich oder auch nur typisch (d. h. allgemein, aber Paulus einschließend) gemeint sei, und deutet es ausschließlich als rhetorische Stilform, welche in der ersten Person eine allgemeine Wahrheit zum Ausdruck bringe.19 Gegen diese schroffe Alternative wurde mehrfach Widerspruch angemeldet und auf die sehr wohl möglichen biographischen Implikationen von Röm 7 verwiesen: Paulus könne sich hier durchaus einschließen und seinen Konflikt mit dem Gesetz aus seinem späteren Christsein heraus schildern, weil dieser Konflikt ihm vorher weitgehend unbewusst geblieben sei und verdrängt wurde. Deshalb widerspreche Röm 7, auf Paulus bezogen, auch nicht Gal 1,13 f. und Phil 3,4 ff., wo Paulus im Blick auf seine pharisäische Vergangenheit nichts von einem Konflikt mit dem Gesetz erkennen lasse, sondern vielmehr seine Untadeligkeit »nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert« (Phil 3,6), bekunde. In Röm 7 wird der Konflikt als von der Glaubensexistenz her bewusst gewordener beschrieben, während in Gal 1,14 und Phil 3,4 ff. Paulus nochmals die vorchristliche Perspektive auf seine Existenz unter dem Gesetz einnimmt.20 Freilich ist zuzugestehen, dass daraus noch nichts für den konkreten Verlauf der Bekehrung des Paulus folgt (etwa im Sinn einer unbewussten Vorbereitung), zumindest lässt sich aber die Ichform des Textes besser erklären. Der zweite Punkt, an dem Kümmel widersprochen wurde, ist seine Leugnung jeder Bezugnahme auf Adam und seinen Sündenfall in Röm 7,7–13.21 Kümmel verstand Röm 7,7–13 als Beschreibung dessen, was sich allgemein menschlich in der Begegnung mit dem Gesetz ereignet, und er sah in 7,14–24 dann die Begründung, Erklärung bzw. Möglichkeitsbedingung dafür.22 Dagegen glaubt man heute geltend machen zu müssen, dass die Anspielungen auf Gen 2–3 in Röm 7,7–13 doch unübersehbar sind, so dass hier zunächst die Geschichte Adams nacherzählt wird (deshalb das Präteritum) – und zwar so, wie sie die Geschichte aller folgenden Menschen bestimmt und präformiert, in ihr aber auch wiederholt wird.23 Adams Geschichte ist meine Geschichte, weil sie mein Sein unter der Sünde konstituiert hat, welches ich dann selbst mit- und nachvollziehe. Paulus greift an dieser Stelle also auf Röm 5,12–21 zurück. Aus der universalen und deshalb auch je persönlichen Auswirkung der Geschichte Adams erkläre sich auch die Ichform in diesem Abschnitt. Röm 7,14–24 beschreibe demgegenüber die sich daraus ergebende Fol Vgl. Kümmel, Römer 7, 109–119. Dies ist schon von daher inkonsequent, weil die Schilderung der existentiellen Situation des adamitischen Menschen bzw. des Menschen unter dem Gesetz als allgemeine und universale Paulus einschließen muss. 20 Vgl. dazu Theißen, Aspekte, 230–252. 21 Vgl. Kümmel, Römer 7, 54, 85 ff. 22 Vgl. Kümmel, Römer 7, 89 f., 97, 125, 133. 23 Vgl. Käsemann, Römer, 189: »Nach Adam ist jeder Mensch in das Geschick des Protoplasten verflochten, wurde sein Geschick in diesem vorweggenommen […]. Vor Christus wird ständig Adam wiederholt.« 19

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ge, die Konsequenz für alle nachadamitischen Menschen (deshalb nun das Präsens): ihr Verkauftsein unter die Sündenmacht und den daraus entspringenden Konflikt zwischen Wollen und Tun.24 Die Begründungsverhältnisse der beiden Abschnitte haben sich also im Vergleich zu Kümmel umgekehrt. Welches sind nun die Argumente, die für eine Deutung des Ichs von Röm 7 auf den vor- und außerchristlichen Menschen angeführt werden (mit welcher Bezugnahme auf Paulus selbst auch immer) – und die damit eo ipso gegen die interpretatio christiana dieses Kapitels sprechen und es zumindest im direkten und historischen Sinn nicht mehr als Begründung für das simul gelten lassen können? Entscheidend ist die Beobachtung, dass in Röm 7,1–6 die Freiheit des Christen vom Gesetz begründet wird, so wie Röm 6 die Freiheit des Christen von der Sünde aufgewiesen hatte. Mit dem und durch den gekreuzigten Christus sind auch die Christen dem Gesetz gestorben, so dass sie nun dem auferstandenen Christus angehören, um für Gott Frucht zu bringen (Röm 7,4). In den folgenden beiden Versen stellt Paulus als Einst und Jetzt die alte und die neue Existenz gegenüber: In der alten Existenz wurden durch das Gesetz die »sündigen Leidenschaften« hervorgerufen, so dass die Menschen dem Tod Frucht brachten (Röm 7,5). »Nun aber« dienen sie als dem Gesetz Abgestorbene »im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens« (Röm 7,6). Röm 7,7–25 behandelt und widerlegt nun den naheliegenden Einwand, dass, wenn das Gesetz die bösen Begierden erregt, das Gesetz selbst Sünde sei, zumindest aber doch als Wirkursache der Sünde fungiere. Nun ist aber deutlich, dass Röm 7,5 f. in ihrer Gegenüberstellung von Einst und Jetzt, von vorchristlicher und christlicher Existenz, auf die beiden folgenden Abschnitte vorausschauen, in diesen also ausführlich expliziert werden:25 Röm 7,7–25 erklärt Röm 7,5 näher, also die Existenz unter Gesetz, Sünde und Tod, Röm 8,1–17 entfaltet dagegen Röm 7,6 als Lebensweise im Geist.26 Dies heißt aber, Vgl. Hofius, Mensch, 112 f., 114–121. Es ergibt sich also folgender Aufbau von Röm 7,7–25a: 7,7–13 erzählt im Präteritum 1. Person Singular die Geschichte Adams und seines Falles, Röm 7,14–23 beschreibt die daraus folgende Lage aller postadamitischen Menschen zwar auch in der 1. Person Singular, aber im Präsens. Die Verse münden in 7,24 in den futurisch gefassten Schrei nach Erlösung, während 7,25a prädikatslos den Dank über die erfolgte Errettung ausspricht. Vgl. Hofius, Mensch, 121 f. – Für einen Zusammenhang von Röm 7,7–13 und Gen 2–3 treten auch ein Theißen, Aspekte, 204–213; Käsemann, Römer, 188 f., 202 (bes. 188: »Es gibt nichts in unseren Versen, was nicht auf Adam paßt, und alles paßt nur auf Adam.«); Schlier, Römerbrief, 223 f.; Lichtenberger, Ich, 121–135, der Röm 7,7–13 die »Geschichte Adams« erzählen lässt, während 7,14–25 vom »adamitischen Menschen« handelt (dazu 136–186). 25 Vgl. Stuhlmacher, Brief, 96, 98, 106; Hofius, Mensch, 107–115, bes. 110, 152, wo Röm 7,7–25a als »Explikation der Aussage von Röm 7,5« bestimmt wird. Von dieser These her ergibt sich für Hofius zwingend, dass Röm 7,7–25a weder eine persönliche, autobiographische Confessio des Paulus sein kann – es wird ja die Wir-Aussage von Röm 7,5 entfaltet –, noch vom Menschen ἐν Χϱιστῶ handeln kann. 26 Röm 7,5 bezieht sich auch auf Röm 6,14 zurück. In Röm 7,6 selbst wird nochmals alte und neue Existenz als πνεῦμα und γϱάμμα gegenübergestellt. 24

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 533 dass Röm 7,7–25 nicht die christliche Existenz in den Blick nimmt, das geschieht erst in Röm 8 und geschah schon zuvor in Röm 6. Bei der Entfaltung des Lebens der Gerechtfertigten in Röm 6–8 ist Röm 7 also ein unerlässlicher, notwendiger Rückblick auf die vorchristliche Existenz und insofern ein »Einschub«, um die von Paulus in gefährlicher Weise vorgenommene Verbindung von Gesetz und Sünde richtigzustellen. Paulus tut das in der Weise, dass er das Wirken des Gesetzes und der Sünde am vorchristlichen Menschen darlegt. Dabei stellt sich heraus, dass das Gesetz bzw. das Gebot selbst zwar nicht die Wirkursache der Sünde oder gar selbst Sünde ist (Röm 7,7), sondern vielmehr heilig, gerecht und gut (Röm 7,12), ja sogar geistlich ist (Röm 7,14), aber von der Sündenmacht (ἁμαϱτία) usurpiert, missbraucht und instrumentalisiert wird, so dass das gute Gesetz die Begierde und damit die Sünde aus der Latenz in die offene Wirksamkeit hervorlockt, aber letztlich auch kenntlich macht und verurteilt (Röm 7,7–13). Insofern kann man Röm 7,7–25 mit Kümmel als »Apologie des Gesetzes« begreifen.27 Weil Paulus hier das Gesetz entlastet, die Sündenmacht und den Menschen aber belastet, ist es nur konsequent, dass sich in Röm 7,7 ff. immer mehr anthropologische Überlegungen in den Vordergrund schieben, während die Gesetzesthematik in den Hintergrund tritt. Gegen die vorgetragenen strukturellen Überlegungen, die Röm 7,7 ff. der vor- und außerchristlichen Existenz zuweisen, lässt sich nicht anführen, dass die in Röm 7,5 f. vorgenommene Gegenüberstellung von Einst und Jetzt sich nicht auf Röm 7,7–25 und Röm 8,1–17, sondern auf Röm 7,7–13 und Röm 7,14–25 selbst beziehe.28 Dafür könnte man zwar den Tempuswechsel vom Präteritum zum Präsens anführen, jedoch lässt sich diese Deutung neben der engen Verzahnung der beiden Abschnitte aus inhaltlichen Gründen, die sogleich zu entfalten sind, nicht aufrechterhalten. Zudem wird das »Jetzt« (νυνἱ) von Röm 7,6 erst in 8,1 wieder aufgegriffen. Dies alles gilt umso mehr, wenn, wie oben geschehen, der Tempuswechsel auch anders erklärt werden kann. Weiter lassen sich die in Röm 7 über den Menschen inhaltlich getroffenen Aussagen nicht mit dem vereinbaren, was Paulus in Röm 6 bzw. Röm 8 über den Christen sagt.29 Röm 6,14 wird ausdrücklich festgehalten, dass die Sünde über Vgl. Kümmel, Römer 7, 11. So z. B. Nygren. Dazu unten, Exkurs. 29 Der Versuch von Beißer, Paulus, bes. 231–236, die Kontinuität zwischen Röm 6 und 8 einerseits und Röm 7 andererseits mit der Überlegung zu erweisen, dass auch Röm 6 und 8 mit einer »Asymmetrie« zwischen Rechtfertigung und neuem Leben bzw. der »Unvollkommenheit« und d. h. auch mit der Sünde der Christen rechnen und Röm 7 gerade diese christliche Unvollkommenheit explizit in den Blick nehme und so (auch) von den Christen gelte, kann nicht überzeugen. Der Konflikt von Röm 7 wird dadurch beträchtlich verharmlost. Vgl. 238 ff., bes. 240: »Röm 7,7 ff. gilt also von den Christen, von ihnen, sofern sie noch ›alte Menschen‹, ›Menschen dieses Fleisches‹ sind. Daraus entsteht aber keineswegs nur [?] eine heillose Zerrissenheit oder ein unaufhörliches Schwanken zwischen Gut und Böse. Durch die Rechtfertigung ist gültig ein Herrschaftswechsel vollzogen, auch wenn 27 28

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die Christen nicht herrschen wird, weil sie nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind, was, wie schon erwähnt, Röm 7,6 aufgegriffen wird. Röm 8,2 f. spricht davon, dass es keine Verdammnis gibt für die, »die in Christus Jesus sind«, sie stehen unter dem Gesetz des Geistes und sind durch Christus vom Gesetz der Sünde und des Todes freigeworden. Gegenübergestellt werden anschließend die Existenzweise nach dem Fleisch und nach dem Geist. Ausdrücklich wird von den Christen gesagt: »Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt.« (Röm 8,9) Die Lebensweise nach dem Fleisch ist für die Christen nicht neben der nach dem Geist »simultan« gegeben, sondern bildet ihre vergangene Existenzform, die sie jetzt freilich noch als versucherische Macht und Möglichkeit umgibt, weshalb Paulus mahnen muss, ihr nicht nachzugeben, sondern gegen sie zu kämpfen (Röm 8,12 f.). All dies harmoniert aber nicht mit dem, was der Mensch in Röm 7,14 ff. von sich bekennt: »Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.« (Röm 7,14) Es ist die Sünde, »die in mir wohnt« (Röm 7,20). »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.« (Röm 7,23) Wie auch Röm 7 überhaupt nicht zu dem stimmt, was Paulus sonst über die Taufe und das Leben der Christen ausführt.30 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es in Röm 8 – ähnlich wie in Gal 5,16 f. – um den Gegensatz von Geist (πνεῦμα) und Fleisch (σάϱξ) geht, ein Gegensatz, in dem die Christen eindeutig auf die Seite des Gottesgeistes gehören und die versucherischen Angriffe der Fleischesmacht abwehren sollen und können. In Röm 7,14–25 handelt es sich dagegen um den Gegensatz von Fleisch (σάϱξ) und Vernunft (νοῦϛ) bzw. um den Gegensatz des inneren Menschen (ἔσω ἄνϑϱωποϛ) und der Glieder (Röm 7,22–23.25), ein Gegensatz, der nach diesem Text prinzipiell und jederzeit zugunsten der σάϱξ ausgeht, während der νοῦς und der innere Mensch immer unterliegen, denn der Mensch insgesamt ist fleischlich und unter die Sünde verkauft. Der Kampf ist hier von vornherein aussichtslos, während er in Röm 8 (sowie 6,11 ff.) und Gal 5,16 f. grundsätzlich gewonnen ist und im Einzelfall siegreich gewonnen werden kann.31 Der Gottesgeist wird demgegenüber in Röm 7 gar nicht erwähnt, alles Indizien dafür, dass Paulus hier von der vorchristlichen, unser Leben noch weiter unvollkommen bleibt.« – Zu weit geht auch Haacker, Brief, 176, wenn er in Röm 8,10 ein simul iustus et peccator angedeutet findet. Wie immer auch das Totsein des Leibes wegen der Sünde aufzufassen ist, »dass wir an unserer weitergehenden Verflechtung mit der Macht der Sünde sterben« (Hv.), dürfte Paulus nicht gemeint haben. 30 So Stuhlmacher, Brief, 106. 31 Vgl. Lietzmann, Römer, 74; Althaus, Paulus, 36 f., 65 f.; Käsemann, Römer, 197; Lohse, Brief, 225. Insofern ist – das sei hier schon vorwegnehmend angedeutet – Gal 5,16 f. keine Parallele zu Röm 7, wie die augustinisch-reformatorische Deutung von Röm 7 annimmt. – Zu dem Argument, Paulus sehe in Röm 7 bewusst vom durchaus schon empfangenen Gottesgeist ab, weil er den Christen nur abstrakt, im Blick auf sich, abgesehen von Christus beschreibe, s. u. Exkurs.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 535 sich im Widerstreit zwischen ihrer sündigen Faktizität und ihrer geschöpflichen Bestimmung befindenden Existenz redet. Schließlich ist durch die Abfolge von Klage in Röm 7,24, welche die ausweglose Lage des zuvor beschriebenen Menschen artikuliert, und Dank für die durch Christus erfolgte Errettung in Röm 7,25a der Passus Röm 7,14–24 eindeutig als vergangene, überwundene Existenzform gekennzeichnet. Röm 7,25a ist die Antwort auf 7,24, welche dann in Röm 8,1–17 weiter entfaltet wird. Dies impliziert, dass die Erhörung der Klage nicht erst in Röm 8,23, also in der dort erhofften Erlösung des Leibes im Tod gegeben wird.32 Der Vers Röm 7,25b, der den Zusammenhang zwischen Röm 7,25a und Röm 8,1 ff. störend unterbricht, weil er nochmals zusammenfassend auf die unerlöste Existenz zurückzublicken scheint, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit eine sehr frühe Glosse, obwohl der Text in dieser Form eindeutig überliefert ist.33 Jedoch sprechen sprachliche und inhaltliche Gründe gegen seinen paulinischen Ursprung und damit gegen seine Zugehörigkeit zum ursprünglichen Textbestand. Die in ihm ausgesprochene Anthropologie versteht νοῦϛ und σάϱξ als Teile der Person (αὐτὸϛ ἐγώ), mithin nicht als Aspekte des ganzen Menschen wie sonst bei Paulus und wie es wohl auch in den Versen davor gemeint ist.34 Überaus schwierig ist im paulinischen Kontext auch die Vorstellung des gleichzeitigen doppelten Dienstes (δουλεύειν), die in Röm 7 vorher ja auch gar nicht behauptet wird. Der dort beschriebene Mensch dient der Sünde, ist unter sie versklavt (Röm 7,14), und die Sünde ist das eigentlich handelnde Subjekt in ihm (Röm 7,17.20), auch wenn er durchaus dem Gesetz zustimmt (7,16) und dem inneren Menschen nach Freude daran hat (Röm 7,22). Umgekehrt dient der in Röm 6 bzw. 8 in Augenschein genommene Christ dem Geist und sonst niemandem! Von daher legt sich die Vermutung nahe, dass Röm 7,25b die Anmerkung eines sehr frühen Lesers darstellt, der den Text schon – wie es später immer wieder geschehen ist – auf sich selbst und die Christen bezogen hat. Er markiert also die erste »interpretatio christiana«35 unseres Textes. Steht es aber so – wobei durchaus zu konzedieren ist, dass die Sicherheit der Textüberlieferung ein gewichtiges Gegenargument darstellt –, dann fällt ein zentraler Textbaustein für eine Beziehung von Röm 7 auf den Christen weg. Gerade für Luther war Röm 7,25b ja das »expressissimum [verbum]« (56,347,2) für das simul bzw. dafür, dass Paulus hier von sich und den Christen redet.

So auch Althaus, Paulus, 39. Vgl. zum Folgenden Bultmann, Glossen, 278 f.; Käsemann, Römer, 203 f.; Hofius, Mensch, 151 f.; Lichtenberger, Beginn; ders., Ich, 150–160. Letztlich gegen die Glossenhypothese votiert Söding, Rechtfertigung, 59–64: Röm 7,25b lasse sich als Resümee von Röm 7 verstehen. Zahn, Brief, 372 f., löst die Schwierigkeiten von 7,25b, indem er den Halbvers als Frage versteht. Ebenso Keuck, Dienst, 278 ff. 34 Anders Lohse, Brief, 224 f., der νοῦϛ und σάϱξ in 7,25b ganzheitlich versteht. 35 Käsemann, Römer, 204. 32

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2.2.3. Umdeutungen Luthers Die These, dass Röm 7 sich auf den unerlösten Menschen und nicht auf den Menschen in Christus bezieht, wenngleich der unerlöste Mensch in der christlichen Retrospektive gedeutet wird, bestätigt sich indirekt dadurch, dass Luther in seiner Kommentierung von Röm 7 am Text mehrere Umdeutungen vornehmen muss.36 Zum einen ist er genötigt, das Gegensatzpaar Fleisch und Geist in Röm 7 einzutragen und interpretiert so Röm 7 ständig von Gal 5,16 f. her. In Röm 7 ist aber vom göttlichen πνεῦμα nicht die Rede – allein das Gesetz wird »geistlich« (πνευματικόϛ) genannt (Röm 7,14) –, sondern ausschließlich vom menschlichen νοῦϛ! Zweitens muss Luther den in Röm 7,14–25 beschriebenen Konflikt zwischen Wollen und Tun, zwischen dem vom Menschen eigentlich Intendierten und dem faktischen Ergebnis seines Tuns – er will das Gute, aber das Böse kommt dabei heraus – in einen inneren Konflikt umdeuten. Denn auch für Luther steht ja fest, dass der Christ in der Regel keine eklatanten Gebotsübertretungen begeht, sondern vielmehr das Gute tut. Hier stimmt Luther durchaus mit der paulinischen Sicht des Christen überein. Also kann es sich nach Luther in Röm 7 nur um einen subjektinternen Zwiespalt handeln: um den zwischen der noch vorhandenen ichsüchtigen Konkupiszenz und dem aus dem Glauben entspringenden guten Wollen. Der Christ widersteht dem bösen Trieb, stimmt ihm nicht zu und lässt ihn so nicht zum Zuge kommen, ja er tut sogar das Gute, aber sein gutes Wollen und Tun sind noch von diesem bösen Wollen gleichsam »infiziert« und verunreinigt. Luther deutet deshalb die im Vulgatatext von Röm 7,15–20 (7,18: »Nam velle adiacet mihi: perficere autem bonum, non invenio.«) sich findende Differenzierung zwischen »facere« und »perficere« als bloßes böses Streben einerseits und »Vollbringen« des Guten ohne Konkupiszenz andererseits. Ersterem vermag der Christ schon gegenwärtig nicht mehr Folge zu leisten, Letzteres ist ihm irdisch nicht erreichbar. Er vermag »concupiscentiis non consentire«, aber nicht »bonum perficere« (= non concupiscere).37 Nun verhält es sich aber so, dass die Unterscheidung von facere und perficere eine Besonderheit bzw. Inkonsequenz nur im lateinischen Text darstellt, am griechischen Urtext aber keinen Anhalt hat. Denn die Vulgata übersetzt κατεϱγάζομαι allein in Röm 7,18 mit perficio, während sonst immer (7,8.13.15.17.20) operor steht.38 Des Weiteren sind die Verben ποιεῖν (agere), πϱάσσειν (facere), κατεϱγάζεσϑαι (operari) wohl mehr oder weniger synonym, es handelt sich also um eine rein sprachliche Variation.39 Allenfalls κατεϱγάζεσϑαι hat den besonderen Ton von »Erwirken«, aber im Sinne des End Siehe unsere Darstellung Teil I, Kapitel 5.1–2. In diesen Umdeutungen folgt Luther weitgehend Augustin. Vgl. dazu Kümmel, Römer 7, 91–94. 37 Augustin spricht vom »perficere« als »non concupiscere« und vom »facere bonum« als »post concupiscentias non ire«. So auch Luther 2,584,25 ff. Siehe Kümmel, Römer 7, 92; Hamel, Luther II, 70 f. 38 Vgl. Kümmel, Römer 7, 92. 39 So Hofius, Mensch, 136. 36

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 537 ergebnisses des Tuns. Von daher und in diesem Sinn ist das perficere so falsch nicht gewählt. Luthers Spiritualisierung bzw. Internalisierung des in Röm 7 beschriebenen Konfliktes hat freilich bei Bultmann und seiner Schule eine gewisse Weiterentwicklung erfahren: Der Widerstreit wird hier nicht als Disharmonie auf der psychologisch-ethischen Ebene angesiedelt (Spannung zwischen gutem Wollen und böser Tat) und ebenso nicht als »antinomistischer« Konflikt im Sinne der Gesetzesübertretung verstanden. Vielmehr liegt nach Bultmann und seinen Schülern in Röm 7 ein »nomistischer« Konflikt vor,40 bei welchem gerade in der Gesetzeserfüllung durch das Tun des Guten das Böse liegt und geschieht, weil der Mensch dadurch seine eigene Gerechtigkeit aufrichtet und sich von Gott emanzipieren, ja selbst »wie Gott sein« will. Alle Menschen streben, wie Bultmann sagt,41 in einer »transsubjektiven Tendenz« nach dem Leben, nach ihrer »Eigentlichkeit«, sie tun dies aber in einer verkehrten Weise, so dass sie sich damit den Tod einhandeln, weil das Leben von Gott ausschließlich im Glauben, in »fremder Gerechtigkeit« empfangen werden kann. Jedenfalls ist auch bei Bultmann ähnlich wie bei Luther der in Röm 7 anvisierte Konflikt ein innerer. In diesem Sinne wird man ihn – neben dem von den meisten Exegeten favorisierten »antinomistischen Konflikt« – in Röm 7,14–15 zumindest implizit auch lesen dürfen, zumal sich ja gerade in ihm die Lebensproblematik des Paulus widerspiegelt, der seinen vorchristlichen Gesetzeseifer als Sünde vor Gott erkennen musste. Eine letzte Umdeutung Luthers ist darin zu erkennen, dass er, weil er Röm 7 vom gegenwärtigen Stand des Christen versteht, Röm 7,14.23 abschwächen muss. Dort ist nämlich vom Verkauftsein des Ich unter die Sünde bzw. von dessen Gefangenschaft unter dem Gesetz der Sünde die Rede, Aussagen, welche Paulus auf das Gesamt-Ich, auf dessen Gesamtlage bezieht und welche auch durch die positiven Feststellungen über den νοῦς und den inneren Menschen nicht aufgehoben werden. Solche Aussagen aber vom Christen zu treffen, hält selbst Luther für unmöglich und bezieht diese Verse deshalb nur auf die caro, nicht auf die mens des Christen bzw. er deutet Röm 7,23 als den bloßen Versuch der Sünde, den geistlichen Menschen gefangenzunehmen, d. h. zur Zustimmung zur Konkupiszenz zu bewegen, um.42

So unterscheidet Theißen, Aspekte, 210–213, die beiden Deutungsvarianten. Gegen Bultmanns Ansatz wendet sich Räisänen, Gebrauch, passim, und plädiert für eine rein »antinomistische« Deutung der ἐπιϑυμία bei Paulus, also ausschließlich im Sinne eines vom Gesetz verbotenen Strebens nach einem konkreten Objekt. Ebenso ist ihm die ἐπιϑυμία, es sei denn in einem rein psychologischen Sinn als Quelle der Sünde, nicht die Sünde schlechthin! 41 Vgl. Bultmann, Römer 7, bes. 202 f., 207 ff. 42 Vgl. 8,123,19–27. So schon Augustinus. Dazu Kümmel, Römer 7, 92 f. 40

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Exkurs: Die interpretatio christiana von Römer 7 in neueren Römerbriefkommentaren Bevor wir in unseren Überlegungen zur möglichen Begründbarkeit des simul von Röm 7 her fortfahren, muss ein Blick auf jene neueren Auslegungen von Röm 7 geworfen werden, die weiter entschieden an der augustinisch-reformatorischen Deutung dieses Textes festhalten. Ihnen zufolge spricht Paulus in Röm 7 sehr wohl von sich als Christ und damit von allen Christen. Genauer formuliert: Nach dieser Forschungsrichtung wird in Röm 7,7–13 die Situation des Paulus bzw. des Menschen überhaupt vor Christus geschildert, während Röm 7,14–25 die christliche Existenz, Paulus eingeschlossen, in den Blick nehme. Neben dem schwedischen Theologen Anders Nygren vertreten vor allem Exegeten aus dem anglo-amerikanischen Raum diese Auffassung. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Römerbriefkommentare von Nygren43, Charles E. B. Cranfield44 und James D. G. Dunn45. Dabei soll zunächst nach den Gründen gefragt werden, welche die genannten Autoren veranlassen, der v. a. im deutschsprachigen Raum verbreiteten Deutung von Röm 7 nicht zuzustimmen, sodann sollen die hinter dieser Ablehnung stehenden theologischen Optionen analysiert werden. Abschließend wird ein kurzes Fazit gezogen. In unserer Darstellung beziehen wir uns primär auf Nygren, da er chronologisch vorangeht, und ziehen die beiden anderen Autoren ergänzend heran. a) Argumente für die interpretatio christiana Nygren konstatiert, dass jede Deutung von Röm 7 sich »vor unübersteigbare Schwierigkeiten«46 gestellt sieht. Zugunsten seines dennoch eindeutigen Votums für die Beibehaltung der interpretatio christiana dieses Paulus-Textes beruft er sich als Erstes auf die Spannung, welche zwischen den anthropologischen Aussagen über den natürlichen, vorchristlichen Menschen in Röm 7 (bei dessen Applikation auf den homo sub lege) einerseits und etwa in Röm 1,18–3,20 andererseits bestehen. Sollte Paulus in Röm 7 so positiv vom vorchristlichen Menschen, ja von einer natürlichen Übereinstimmung des νοῦϛ mit dem pneumatischen Gesetz beim unerlösten Menschen sprechen können, während er zu Beginn des Römerbriefs die totale Sündenverfallenheit aller Menschen und die Verfinsterung des νοῦϛ (1,28: ὰδόκιμος νοῦϛ) im Blick auf Gott aufzuweisen suchte? Kann beides vom selben Subjekt gesagt werden?47 So liegt es nahe, die positiven Aussagen über den νοῦϛ bzw. den ἔσω ἄνϑϱωποϛ in Röm 7 auf den Christen zu beziehen.48 Nygren, Römerbrief (1944), deutsch 1951. Cranfield, Epistle I (1975). 45 Vgl. Dunn, Rom 7,15–25 (1975); ders., Romans 1–8 (1988). 46 Nygren, Römerbrief, 209. 47 Vgl. Nygren, Römerbrief, 209, 212. 48 So auch Dunn, Rom 7,14–25, 262 f. Anders dagegen Althaus, Paulus, 43 ff., der keinen strikten Widerspruch zwischen Röm 1,18–3,21 und Röm 7 erkennt, da bei den Heiden und 43

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Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 539 Weiter verweist Nygren auf Phil 3,6, wo Paulus an die Unsträflichkeit seiner pharisäischen Existenz im Blick auf das Gesetz erinnert. Wie passt dies aber zu der in Röm 7 beschriebenen »Disharmonie« des Menschen vor Christus?49 Ein drittes Argument Nygrens besteht im Verweis auf die Stellung von Röm 7 innerhalb von Röm 5–8. Diese Kapitel thematisieren – so Nygren – insgesamt das christliche Leben, sie entfalten die Existenz des Gerechtfertigten und wollen seine Freiheit von den ihn bedrohenden Mächten dartun: Röm 5 die Freiheit vom Zorn, Röm 6 die Freiheit von der Sünde, Röm 7 die Freiheit vom Gesetz und Röm 8 die Freiheit vom Tod. So liegt es schon von diesem Kontext her nahe, Röm 7 ebenfalls – wie die anderen Kapitel auch – auf den Christen zu applizieren. Andernfalls müsse man, wie immer wieder geschehen, zu der misslichen Auskunft greifen, Röm 7 sei eine »große Unterbrechung« im Duktus von Röm 5–8, welche auf den Menschen unter dem Gesetz zurückblicke. Erst die Deutung von Röm 7 auf den Christen lasse es in Röm 5–8 zu einem »einheitlichen Gedankengang« kommen, andernfalls bleibe Röm 7 darin ein »erratischer Block«.50 Viertens spricht nach allen drei von uns befragten Autoren für die augustinisch-reformatorische Deutung einfach der Tempuswechsel zwischen Röm 7,13 und Röm 7,14 bei beibehaltener Ich-Form: Vorher verwende Paulus das Präteritum, nun aber die Präsensform. Letztere könne keinesfalls nur »[be] used for the sake of vividness in describing past events which are vividly remembered«51. »Der Leser, der ohne vorgefasste erst recht bei den Juden für Paulus eine gewisse Kenntnis von Gott und Gottes Willen gegeben sei und darin die Unentschuldbarkeit des Menschen gründe (Röm 1,20; 2,1). Ähnlich auch Lietzmann, Römer, 74 f.; Kümmel, Römer 7, 134–138. 49 Vgl. Nygren, Römerbrief, 209. Der Verweis auf Phil 3,6 wird argumentativ unterschiedlich verwandt: Er kann sowohl – wie Nygren dies tut – gegen die Deutung von Röm 7,14 ff. auf die vorchristliche Existenz des Paulus gewendet werden, weil Paulus diese in Phil 3,6 als konfliktfrei beschreibe, Röm 7 könne sich also nur auf den Christen beziehen. Der Konflikt stellt demnach einen Fortschritt gegenüber der konfliktlosen Existenz des Sünders dar. Oder der Rückgriff auf Phil 3,6 geschieht zugunsten der These, Röm 7 beziehe sich auf den homo sub lege, habe aber keine autobiographischen Bezüge auf Paulus selbst, da dieser ja die Zeit vor seiner Bekehrung als spannungslos beschreibe (so Kümmel, Römer 7, 111–117). Autobiographische Bezüge in Röm 7 für den unbekehrten Paulus trotz Phil 3,6 anzunehmen, wird dann möglich, wenn man Phil 3,6 als Blick auf die Vergangenheit des Paulus vom jüdischen Standpunkt versteht, während Paulus sie Röm 7 von seinem späteren Christsein aus beurteile. Vgl. Dunn, Rom 7,14–25, 260 (zu Röm 7,7–13). Dazu auch oben 531. 50 Nygren, Römerbrief, 211; vgl. 217. Ähnlich argumentiert Dunn, Rom 7,14–25, 260, für Röm 6–8 und resümiert dann: »The difference between 7,7–25 and the rest oft these chapters may therefore dennote not different conditions but the same condition viewed from different aspects. The ›wretched man‹ of Rom. 7 may be the believer seen only in terms of the flesh, law and sin. That is to say, Rom 7,7–25 may describe a continuing dimension oft the believer’s experience, even as a believer.« Was Dunn hier ausführt, gilt streng genommen freilich nur für Röm 7,14–25, da auch für ihn Röm 7,7–13 primär von der »pre-Christian experience« (261) des Apostels spricht. 51 Cranfield, Epistle I, 345; vgl. 344 f.; Dunn, Rom 7,14–25, 261 f. – Für Dunn lässt sich

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Meinung den Text liest, wie er ihm tatsächlich entgegentritt, dürfte deshalb kaum auf den Gedanken kommen, V. 14–25 so zu deuten, als gälten sie etwas anderem als dem gegenwärtigen christlichen Leben.«52 Diese Sicht wird für Nygren fünftens noch dadurch erhärtet, dass in Röm 7,5 und 7,6 das, »was wir einmal waren«, und das, »was wir nun als Christen sind«53 gegenübergestellt und damit offenbar das Schema für die beiden folgenden Abschnitte angegeben wird. Nygren bezieht also Röm 7,5 und 7,6 nicht auf Röm 7,7–25 und Röm 8,1–17, sondern auf die Zweiteilung innerhalb von Röm 7,7–25 selbst.54 Schließlich gibt Nygren gegen die Deutung von Röm 7 auf den vorchristlichen Zustand des Paulus im Blick auf den Klageruf Röm 7,24 zu bedenken: Könne man Paulus zutrauen, dass er mit einem solch »theatralischen Ausruf« über endgültig Vergangenes spricht, denn um ein solches handelt es sich in der Applikation von Röm 7 auf den homo sub lege?55 schon die Ich-Form als solche nicht als bloße Stilfigur erklären. Dagegen spreche der stark persönliche Ton von 7,15 ff.24. »There is nothing in Rom. 7 which demands that the frequently repeatet ›I‹/‹me‹ […] be unterstood in a way which distances Paul from the experience he is describing.« (260) Weiter gelte: Lasse sich Röm 7,7–13 autobiographisch deuten, so lege sich dies auch für Röm 7,14–25 nahe. Dabei betont Dunn, ähnlich wie Nygren (Römerbrief, 204) und Cranfield (Epistle I, 343 f., 347), dass die autobiographische Deutung von Röm 7 nicht die von Paulus ebenso beabsichtigte Allgemeinheit der Erfahrungen dieses Textes beeinträchtigt. »Surely the ›I‹-style is chosen to denote typical experience, precisely because it is so typical that it includes my experience.« (Dunn, Rom 7,14–25, 260 f.) 52 Nygren, Römerbrief, 211. 53 Ebd. 54 Zugunsten seiner Interpretation von Röm 7 und gegen die Deutung von Röm 7 durch Althaus auf den vorchristlichen Menschen weist Nygren die Konzeption vom »Menschen im Widerspruch«, von der »Zersplitterung des Willens« bzw. Gespaltenheit des Menschen (vgl. Althaus, Paulus, 56–67) als für Röm 7 inadäquat zurück: »Wo hat er [Paulus] gesagt, daß der Mensch, von dem er hier spricht, seine Lust am Bösen hat? Es steht ja statt dessen, daß er es haßt. Wo hat Paulus gesagt, daß der hier genannte Mensch das Gute will und nicht will? Er sagt ja mit allem Nachdruck gerade das Gegenteil. Durch diese ganzen Verse geht der Gedanke, daß der Wille eindeutig auf das Gute gerichtet ist; Paulus klagt nicht darüber, daß der Wille gleichzeitig etwas anderes will, sondern darüber, daß der Wille nicht in entsprechende Handlung umgesetzt wird.« (Nygren, Römerbrief, 213; vgl. 212 f.) Freilich muss Nygren, ebd. 218, konzedieren, dass auch der Christ noch ein »fleischliches Begehren« besitzt. Vgl. die Entgegnung von Althaus, Paulus, 134 f. 55 Nygren, Römerbrief, 210. Vgl. Cranfield, Epistle I, 345: »Moreover v. 24 would be highly melodramatic, if it were not a cry of deliverance from present distress.« Dieses Argument wurde schon von Zahn, Brief, 364, vorgetragen: Gewiss sei, dass Paulus »hier [Röm 7,24] nicht wie ein Schauspieler in künstlich angenommener Rolle pathetisch deklamirt, oder, was nicht schöner wäre, vermöge lebhafter Zurückversetzung in eine längst hinter ihm liegende Periode seines eigenen Lebens einen Schrei der Verzweiflung ausstößt, welcher nur damals ein wahrer Ausdruck seiner Empfindung gewesen wäre.« Kühl, Brief, 248, gibt diesen Einwand zurück, wenn er ihn gegen eine Interpretation von Röm 7,14 ff. richtet, nach welcher dieser Text zwar vom Christen handele, aber abgesehen von dessen Sein in Christus, quasi auf sich selbst gestellt (Röm 7,25b: αὐτὸς ἐγώ! Vgl. Zahn,

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 541 Des Weiteren lasse sich – so Cranfield und Dunn –56 die Stellung von 7,25b nur bei einer Applikation von Röm 7,14 ff. auf die in sich gespannnte Verfasstheit des Christen als sinnvolle Zusammenfassung dieser Verse verstehen, andernfalls müsse 7,25b als (literarkritisch nicht wahrscheinliche) Störung der Versabfolge oder gar Glosse gedeutet werden. Es ist insbesondere Cranfield57, der zugunsten der interpretatio christiana mehrfach auf ein Argument Luthers zurückgreift: Das entschiedene Wollen des Guten sowie das Hassen des Bösen (Röm 7,19), verbunden mit der wachsenden Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, können sich nur in einem von Christus und seinem Geist erneuerten Menschen, nicht aber im unbekehrten Sünder einstellen. Gerade der reife Christ,58 der wirklich Gottes Willen ernsthaft folgen möchte, wird zunehmend klarer erkennen, wie sehr er hinter dem nicht legalistisch verkürzten Gesetz Gottes, das auf das Herz des Menschen zielt, zurückbleibt. Deshalb ist aber auch der Konflikt, welcher sich nach Röm 7 zwischen dem Wollen des Guten und dem eigenen »stubborn all-pervasive egotism« abspielt, ein Signum ausschließlich des Christen, nicht aber der konfliktlosen Existenz des vorchristlichen Menschen.59

b) Die theologischen Optionen dieser Deutung Kommen wir nun zur zweiten Frage: Welche theologischen Optionen stehen bei den genannten Exegeten hinter ihrer Applikation von Röm 7,14 ff. auf den Christen? Oder anders gefragt: Von welchen Akzenten in der Theologie des Paulus her sehen sie Röm 7? Wir gehen auf diesen Gesichtspunkt deshalb relativ ausführlich ein, weil sich zeigen wird, dass der theologische Horizont, in welchen Nygren, Cranfield und Dunn Röm 7 stellen, auch dann seine Richtigkeit besitzt, wenn man ihrer Deutung von Röm 7,14 ff. nicht zustimmt – oder auf das Thema des simul zugespitzt formuliert: Der genannte theologische Horizont kann für uns bedeutsam sein, wenn wir das simul Luthers nicht mehr direkt auf Röm 7 gründen (eben weil dieser Text nach unserer Meinung nicht vom Christen handelt), 371 ff., der Röm 7,25b deshalb als Frage versteht). Röm 7 stelle demnach eine Abstraktion dar, die durch Röm 8 ergänzt werden müsse. 56 Vgl. Cranfield, Epistle I, 345, 369 f.; Dunn, Rom 7,14–25, 262 f. 57 Vgl. aber auch Nygren, Römerbrief, 219; Dunn, Romans 1–8, 407. 58 Nach Cranfield, Epistle I, 369, spricht in Röm 7,24 »a mature Christian – not merely one who is still on some specially low level of Christian existence«. 59 Vgl. Cranfield, Epistle I, 346 f.: »The man who speaks here is one who wills the good an hates the evil […]. Not so does Paul describe the unregenerate man. […] In fact, a struggle as serious as that which is here described, can only take place where the Spirit of God is present and active […]. […] And is it not true that the more the Christian is set free from legalistic ways of thinking about God’s law and so sees more and more clearly the full splendour of the perfection towards which he is being summoned, the more conscious he becomes of his own continuing sinfulness, his stubborn all-pervasive egotism […]?« Vgl. ebd., 341 f., 358, 366.

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sondern nur indirekt mit Paulus verbinden können und als unter veränderten Zeitbedingungen legitimes, obgleich nicht zwingendes Weiterdenken von bei Paulus nur implizit vorhandenen Gedankenlinien zu verstehen haben. Es wird sich in der Folge zeigen, dass Nygren und Dunn, ohne in allem völlig eins zu sein, bei Paulus denselben theologischen Gedanken akzentuieren, während Cranfield einen gesonderten Gesichtspunkt einbringt. Dabei wird jeweils sichtbar werden, wie eng oder weniger eng die drei Autoren sich sachlich an Luther anschlie­ßen.60 Nygren stellt sogleich in der Einleitung zu seinem Kommentar heraus, welchen Gedanken er für den Schlüsselgedanken des Römerbriefs hält, der diesen zu einer Einheit zusammenfügt: Es ist für ihn die Lehre des Paulus von den zwei Äonen, wie sie sich besonders in Röm 5,12–21 entwickelt findet, einem Text, der für Nygren deshalb auch den »Höhepunkt« des Römerbriefes bildet:61 Für Paulus gibt es zwei Äonen, zwei »Weltalter« oder »Zeitalter«, die sich jeweils von einer Hauptgestalt oder Hauptfigur herleiten und begründen: Der »alte Äon« (ὁ αἰὼν οὖτος) kommt von Adam und seinem Sündenfall her und ist ein Äon des Todes und der Sünde. Ihm gehört jeder Mensch qua Mensch, einfach kraft seiner Herkunft von Adam her an. In diesen Äon bricht nun der »neue Äon« (ὁ αἰὼν µέλλων) herein, der Äon des Lebens und der Gerechtigkeit, der in und durch Christus, insbesondere durch seine Auferstehung, konstituiert wird. In diesen neuen Äon werden alle Menschen durch ihren Glauben an Christus hineingenommen. Adam und Christus sind für Paulus also nicht nur oder nicht in erster Linie individuelle Gestalten, sondern jeder der beiden steht jeweils da als »Spitze seines Äons, […] als Haupt seines Zeitalters«62, welches jeweils für die ganze Menschheit und ihr Geschick Bedeutung gewinnt. Ihnen und ihrem jeweiligen Tun kommt universale, kosmische Relevanz zu.63 Paulus betont nicht nur die Parallelität und Antithetik, welche zwischen Adam und Christus herrscht, sondern ebenso die größere Lebensmächtigkeit Christi gegenüber dem von Adam herkommenden Todesschicksal.64 Dabei darf man den alten und den neuen Äon nicht einfach als zwei geschichtliche Epochen auffassen, die sich gegenseitig ablösen. Bei Paulus handelt es sich vielmehr um qualitative Unterschiede, um ein »Dasein unter ganz anderen Bedingungen, das eine Mal unter der Herrschaft Alle drei berufen sich dabei kaum bzw. nur selten explizit auf Luther. Streng genommen bestätigen die behandelten Exegeten bei ihrer Kommentierung von Röm 7 nur Luthers partim iustus/partim peccator, nicht aber sein simul totus iustus et totus peccator. 61 So Nygren, Römerbrief, 22, 155. Vgl. zum Folgenden ebd., 19–26, 153–169. 62 Nygren, Römerbrief, 156. 63 Vgl. Nygren, Römerbrief, 158: »Paulus sieht in der Menschheit nicht eine beliebige Sammlung von unzähligen Individuen, zusammengeführt unter einem gemeinsamen Allgemeinbegriff, sondern er sieht sie als eine organische Einheit an, als einheitliches Corpus unter einem gemeinsamen Haupt. […] Was mit dem Haupt geschah, das gilt auch vom Leibe.« 64 Vgl. Nygren, Römerbrief, 161 f. 60

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 543 des Todes, das andere Mal unter der des Lebens. Es handelt sich also um zwei verschiedene Daseinsformen.«65 Damit ist auch gegeben, dass die beiden Äonen sich nicht gleichsam punktuell, mit einem Schlag ablösen, so dass der eine endet, wenn der andere beginnt. Vielmehr gilt: »Von der Auferstehung Christi an ist der neue Äon aktuelle Wirklichkeit in unsrer Welt geworden. Christus steht auf der Grenze zwischen den beiden Zeitaltern; er tut das alte ab und bahnt für das neue den Weg.«66 Nygren lässt hier erkennen, dass die Äonen sich nach Paulus gewissermaßen überschneiden und überlappen: Der alte ist mit Christus schon überwunden und besiegt, dauert aber noch an, der neue hat schon begonnen, harrt aber noch seiner vollen Durchsetzung. Insofern kann man auch von einem Zugleich, einem simul der Äonen sprechen, dem allerdings ein eindeutiges Gefälle, eine eindeutige Dynamik vom alten zum neuen Äon eignet. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass auch der Christ zeit seines irdischen Lebens noch in beiden Äonen existiert und lebt. Er ist zugleich ein Glied im σῶµα Χϱιστοῦ wie auch noch Glied im Leib der natürlichen Menschheit, die der Sünde und dem Tod unterworfen ist.67 Und genau dieses simul sieht Nygren in Röm 7 explizit ausgesprochen. In der Spannung zwischen Willen und Tat, Willen und Ausführung, von der in Röm 7,14–25 die Rede ist, zeigt sich eine »gewisse Doppelheit im christlichen Leben«, die Ausdruck ist »für die doppelte Stellung des Christen, der sowohl in den neuen Äon eingesetzt ist, als auch in dem alten weiterlebt. […] ›In Christus‹ ist er ›frei von der Sünde‹, aber damit ist die Sünde nicht aus seinem Leben verschwunden. Noch lebt er ›im Fleisch‹ und da hat die Sünde ihren Anknüpfungspunkt. […] Der Wille zum Guten ist zwar bei ihm vorhanden, in der Ausführung aber mißlingt es ihm ständig. Die Sehnsucht und das Gebet des Christen ist, daß Gottes Wille geschehen möge ›wie im Himmel also auch auf Erden‹. Aber in all seinem Tun muß er erfahren, daß Gottes Wille nicht so hier auf Erden geschieht. ›Im Geist‹ stimmt er Gottes Willen zu, aber gleichzeitig erlebt er, was es bedeutet, daß der Wille nicht in die entsprechende Tat umgesetzt wird.«68 Und genau dieses Letztere ist für Nygren Sünde, die sozusagen Nygren, Römerbrief, 24; vgl. 23. Insofern ist die Übersetzung von αἰὼν mit Zeit- oder Weltalter, wie Nygren bemerkt, missverständlich. 66 Nygren, Römerbrief, 24. 67 Vgl. Nygren, Römerbrief, 220. 68 Nygren, Römerbrief, 214 f. Vgl. zum Christen in den beiden Äonen ebd., 216 f., 218 ff., hier besonders 218 f.: »Selbst wenn er [der Christ] durch Christus ›frei von der Sünde geworden‹ ist, so daß sie nicht mehr sein Herr ist, so steht er doch, solange dieses Leben dauert, unter den Bedingungen der Sünde. Er gehört einer Menschengemeinschaft an, die ihr Gepräge von der Sünde her bekommen hat; er steht als Sünder unter Sündern, nicht als sündloser Heiliger unter Sündern. […] Ein Christ muß es dauernd erfahren, daß Gottes Wille, den er in seinem Innersten verwirklicht wünscht, doch hier auf Erden nicht so geschieht, wie er es sollte, ja daß er auch nicht durch die Taten des Christen zur Ausführung gelangt. […] Es ist die von jeder menschlichen Tat, auch von der des Christen untrennbare fleischliche Bestimmtheit, die es macht, daß die Tat niemals dem Willen entspricht.« Zu 65

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strukturell-gesetzmäßig, nicht nur punktuell bzw. als bloß versucherische Macht, dem guten Wollen des Christen noch anhängt. Eben dies sieht er auch in Gal 5,17 ausgesprochen, eine Stelle, welche unwidersprochen vom Christen handelt und insofern die interpretatio christiana von Röm 7 bestätigt. Nygren gelangt darum auch explizit dazu, den Christen als simul iustus et peccator zu bestimmen: »Ist er durch Christus der ›Gerechtigkeit von Gott her‹ teilhaftig und damit in den neuen Äon eingeführt worden, so steht er gleichzeitig doch immer im alten. Treffend ist deshalb diese doppelte Stellung des Christen nach Paulus so formuliert worden: er ist ›simul iustus et peccator‹, sowohl gerecht als auch Sünder.«69 In großer sachlicher Nähe zu Nygren geht auch Dunn davon aus, dass die Soteriologie des Paulus von der »eschatologischen Spannung« (eschatological tension), vom Schon und Noch-nicht und von der Überschneidung des alten und des neuen Äons geprägt ist.70 Durch das Werk Christi, insbesondere seine Auferstehung, ist zwar die Erfüllung des Verheißenen schon da, aber im Blick auf uns ist durch den Heiligen Geist allererst ein Anfang gesetzt, ein Prozess der Erlösung in Gang gebracht, welcher die Gewissheit eschatologischer Vollendung freilich in sich trägt. Dies spiegelt sich im Christen darin wider, dass er selbst noch den beiden Zeitaltern angehört, dass in ihm die Spannung zwischen altem und neuem, innerem und äußerem Menschen obwaltet, ja dass in ihm der Konflikt zwischen Geist und Fleisch auszutragen ist, so wie er auch noch an der Spannung von Leben und Tod Anteil hat. Der Christ »zwischen den Zeiten« hat deshalb bis zur Auferstehung des Leibes eine paradoxe, doppelseitige Natur.71 Alles Gute, welches er aus dem Geist heraus tut, ist nicht nur hin und wieder, sondern prinzipiell noch vom Fleisch und dessen gott- und nächstenfeindlichen Motiven verunreinigt, die der Christ aber nicht zur Herrschaft kommen lassen soll.72 Die christliche Bekehrungserfahrung Röm 7,24 heißt es: »Solange dieses Leben anhält, besteht auch die Spannung zwischen dem alten und dem neuen Äonen zwischen dem Sinn und den Gliedern des Christen. […] Hier wird nur dem Ausdruck verliehen, was jeder Christ in diesem Zwiespalt zwischen den beiden Äonen empfinden muß.« (220) 69 Nygren, Römerbrief, 225. Ähnlich 234 f. 70 Vgl. Dunn, Rom 7,14–25, 264: Die Soteriologie des Paulus ist charakterisiert »by an Already/Not yet tension, the tension between the Already of Jesus’ resurrection and the Not yet of his parousia. For Paul the believer is caught between fulfilment and consummation; he lives in the overlap of the ages, where the new age of resurrection life has already begun but the old age of existence in the flesh has not yet ended, where the final work of God has begun in him but is not yet completed (Phil. 1,6)«; ders., Romans 1–8, 377: »[…] Paul has in view the eschatological tension of the present stage of salvation history, with both the ›I‹ and the ›law‹ divided between the two ages of Adam and Christ in a period when the ages overlap.« Siehe ebd., 404, 406, 411: »V. 25b is a classic statement of the eschatological tension set up by the death and resurrection of Christ.« 71 Vgl. Dunn, Rom 7,14–25, 263: »Both sides of the paradox, both sides of his nature as believer«; 268: »Pauls consciousness of the two-sided nature and paradox of the believer’s present condition«. 72 Vgl. ebd., 267: »Here [Gal 5,16 f.] quite evidently Christian experience is depicted as

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 545 bringt für Dunn nicht mit einem Schlag das Ende der fleischlichen Existenz, die Vergangenheit wird nicht mit einem Mal abgelegt, sondern nur ein Anfang dazu gemacht, sie kann nur in einem lebenslangen Prozess bis zum Tode überwunden werden. Der Christ bleibt Teil der Welt und ihres Denkens, er gehört zwar zum neuen, aber auch noch zum alten Adam.73 Und genau dies ist die Erfahrung gerade des Glaubenden als Glaubenden und als solche ist sie in Röm 7,14–25 beschrieben. Der Text ist »the exposition of the continuing two-sided nature of Christian experience, as an experience of flesh as well as of Spirit, of death as well as of life«74. Röm 7,22 bezieht sich auf »Paul the Christian, the man who is both in Christ and in Adam at one and the same time and whose experience is characterized precisely by the tension and frustration of divided loyalities«. Dunn kommt noch deutlicher als Nygren an Luthers simul iustus et peccator heran, wenn er die von Nygren abgelehnte Konzeption vom »gespaltenen Ich« des Christen übernimmt75 und unter explizitem Bezug auf Luther schreibt: »This ist the paradox and tension of the believer’s experience so long as this age lasts – simul iustus et peccator.«76 Dabei ist die »Spaltung« des Ich keine anthropologisch immer schon gegebene (etwa die zwischen Leib und Geist), sondern eine sich allererst heilsgeschichtlich durch den Umbruch der Zeiten einstellende.77 Gerade der Glaubende als Glaubender ist also in diese Spannung hineingestellt. Dunn erblickt darin und insbesondere in Röm 7,24–25 nicht einen Ausdruck von Verzweiflung, sondern einen nüchternen »ruhigen Realismus«, der illusionslos mit Scheitern und Misserfolg in der christlichen Existenz rechnet, Paradox und Konflikt als Teil der religiösen Erfahrung akzeptiert, darin insofern aber echten Trost findet, als er weiß, dass Gottes Gnade gerade auf diesem Wege wirkt und die eschatologische Vollendung heraufführt.78 a conflict between flesh and Spirit, a conflict that is between the believer’s desires as a man of this age and the compulsion of the Spirit.« 73 Vgl. ebd., 266, 271. 74 Ebd., 258. 75 Vgl. ebd., 262: »The ›I‹ is still divided«; 267: »It follows from this that the believer, even as believer, is a divided man, a man at war with himself«; 268: »the man in conflict with himself«; 272: »the reality of his [the Christian’s] divided state as man of Spirit and man of flesh«; 273: »the division runs right through the believing ›I‹.« Vgl. auch Romans 1–8, 388, mit deutlichem Anklang an das simul: »The split Paul is about to expound is one between the epochs of Adam and Christ: the ›I‹ is split and the law is split in complementary fashion because each belongs to both epochs at the same time in this period of overlap between the epoch of Adam and the epoch of Christ, between the era of the flesh and the era of the Spirit«; ebd., 408, 411: Paulus ist sich bewusst, dass er »in two different dimensions at one and the same time with their conflicting demands and needs« lebt. Demgegenüber beschränkt Nygren den Konflikt in Röm 7,14 ff. auf die Diastase zwischen gutem Wollen und misslingender guter Ausführung. 76 Alle Zitate ebd., 262 f. 77 Vgl. Dunn, Romans, 1–8, 394, 396, 411. 78 Vgl. Dunn, Rom 7,14–25, 268, 272 f., bes. 273: »Rom 7,24 is the believer’s life-long cry

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Dass die Lehre von den zwei Äonen, wie sie Nygren und Dunn entwickeln, ein wesentliches Strukturmoment der paulinischen Theologie darstellt, dürfte unstrittig sein und wird auch von jenen Exegeten zugegeben, welche Röm 7,14 ff. nicht auf den Christen beziehen. Die Frage ist nur, ob für Paulus die Spannung von Sünde und Gerechtigkeit, von Fleisch und Geist, verstanden im Sinne des simul iustus et peccator, mit zu jenem Sich-Überschneiden der Äonen gehört, sich diese Dialektik also in jener widerspiegelt. Gewiss gehört dazu das Stehen des Christen in der Spannung zwischen Leben und Tod, der zufolge er, realsymbolisch greifbar an seinem »sterblichen« Leib, für Paulus noch an Leiden und Vergänglichkeit bis hin zum Sterben partizipiert.79 Dazu zählt für Paulus auch, dass der Christ neben seinem Sein-in-Christus und dem Der-Sünde-Gestorbensein noch der versucherischen Macht der Sünde ausgesetzt ist, welche ihre Herrschaft über den Menschen zurückgewinnen will.80 Fraglich ist indessen, ob zur Spannung der Äonen auch das permanente und anthropologisch-strukturelle Sündersein, das Fleischsein des Christen neben seinem Gerechtfertigtsein und neuen Wollen zu rechnen ist. Wir meinen, dies für Paulus verneinen zu müssen. Die Gefährdung durch die Sünde ist nicht zu verwechseln mit ihrer (und sei es nur relativen) Herrschaft! Dennoch könnte es sein, dass – wie weiter unten zu entfalten sein wird – die Lehre von den zwei Äonen auch in Luthers simul iustus et peccator ihren Ausdruck finden kann und muss, nämlich dann, wenn es geboten scheint, Ansätze und Linien bei Paulus in diese Richtung unter veränderten Zeitbedingungen auszuziehen. So könnte der Fall eintreten, dass man den Ausführungen von Nygren und Dunn theologisch zuzustimmen vermag, aber eben nicht als Exegese von Röm 7. Den zentralen theologischen Gedanken, der Cranfield leitet, haben wir oben schon erwähnt: Gerade der Christ wird zunehmend die geistliche, auf das Herz des Menschen zielende Tiefe des göttlichen Willens in Gesetz und Evangelium erkennen, so aber auch seines ständigen Zurückbleibens dahinter, seiner bleibenden Sünde ansichtig werden, nämlich seines noch alles Gute hartnäckig durchdringenden Egoismus’ und Stolzes. Dies war für Cranfield ein entscheidendes Argument, Röm 7,14 ff. doch vom Christen, ja gerade vom reifsten Christen (»mature Christian«) zu verstehen.81 Auf den Einwand, dass doch eine Aussage of frustration, 7,25a is his thanksgiving of eschatological hope, and 7,25b his calm realism for the present in the light of both.« Ebenso Romans 1–8, 377. 79 Diese Spannung schildert Dunn, Rom 7,14–25, 269 ff. 80 In diesem Sinn schreibt Kuss, Römerbrief II, 483 f.: »Der Glaubende und Getaufte existiert […] in zwei Äonen gleichzeitig […]: er wird schon vom neuen Äon bestimmt, unterliegt aber doch noch gewissen Bedingungen des alten Äon […]. Die Beschreibung der Lage des Menschen vor Christus und ohne Christus könnte also insoweit auch für den Glaubenden und Getauften Geltung haben, als dieser noch im alten Äon lebt.« 81 Vgl. Cranfield’s Formulierung des simul: Röm 7 und 8 gelten gleichzeitig, wir haben in ihnen »not two successive stages but two different aspects, two contemporaneous realities of the Christian life, both of which continue so long as the Christian life is in the flesh« zu sehen. (Epistle I, 356)

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 547 wie Röm 7,14 (»Ich bin verkauft unter die Sünde«) oder der Schrei von Röm 7,24 nach Paulus nicht vom Christen getroffen werden könne, antwortet er: »We ought to ask ourselves whether our inability to accept this expression as a descriptive of a Christian is not perhaps the result of failure on our part to realize the full seriousness of the ethical demands of God’s law (or of the gospel). Are we not all of us all too prone still to understand them legalistically […]?«82 Die Unfähigkeit, Röm 7 auf den Christen hin zu deuten, wird also von Cranfield auf unsere heutige Oberflächlichkeit zurückgeführt, den wahren Anspruch des göttlichen Willens an uns und von daher die Tiefe unserer Sünde zu erkennen, nämlich unseren selbst in unseren besten Taten noch fortdauernden Egoismus und Stolz. Dies führt ganz von selbst dazu, mit Luther den Sündenbegriff auf die innersten, nicht-kontrollierbaren ichsüchtigen Regungen des Menschen auszudehnen. Man kann nun gewiss gegen Cranfield den Zweifel vorbringen, ob Paulus selbst dies überhaupt oder hinreichend konsequent und eindeutig getan habe. In jedem Fall würde aber aus der Argumentation Cranfields verstehbar, dass man später, nach Paulus, dies tun konnte und tun musste und damit zwangsläufig auch zum simul Luthers vorstoßen musste.

c) Fazit Es würde den Rahmen und die Möglichkeiten unserer Studie überschreiten, in eine Einzeluntersuchung der von den genannten Exegeten vorgebrachten Gründe für eine interpretatio christiana von Röm 7,14 ff. einzutreten. Dennoch seien kurz und thesenartig unsere Bedenken dagegen, soweit sie sich nicht schon aus unserem obigen Plädoyer für die entgegengesetzte Auffassung ergeben, vorgetragen: Zunächst ist festzustellen, dass alle drei Autoren gegen den Text des Paulus, der in Röm 7,14 ff. nur vom νοῦϛ des Menschen (7,23.25b) redet, den göttlichen Geist (πνεῦµα) in diesen Text eintragen müssen, also den νοῦϛ als schon vom Geist Gottes erneuert begreifen. Dem entspricht, dass sie den »inneren Menschen« (ἔσω ἄνϑϱωποϛ) in Röm 7,22 mit dem von 2.Kor 4,16 identifizieren,83 der hier wohl eher die geistliche Existenz des Christen Paulus in Abhebung von seiner bedrängten leiblich-irdischen Existenz meint.84 Weiter ist gegen die Position von Nygren, Cranfield und Dunn vorzubringen, dass sie den Schrei nach Erlösung in Röm 7,24, der ihnen zufolge aus dem Mund des Christen kommt, fast nur auf die eschatologische Vollendung bzw. die Auferstehung der Toten beziehen, also nicht

Cranfield, Epistle, 346. Vgl. 341 f., 346 f., 358: »The more seriously a Christian strives to live from grace and to submit to the discipline of the gospel, the more sensitive he becomes to the fact of his continuing sinfulness, the fact that even his very best acts and activities are disfigured by the egotism which is still powerful within him – and no less evil because it is often more subtly disguised than formerly«; 365 f., 378. 83 Vgl. Cranfield, Epistle I, 363,367 f.; Dunn, Rom 7,14–25, 263; Romans 1–8, 394. Bei Nygren ist dies implizit vorausgesetzt. 84 Vgl. Lietzmann/Kümmel, Korinther I-II, 117; Schnelle, Anthropologie, 125 f. 82

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auf die Taufe und den gegenwärtigen Glauben bzw. das in Röm 8,1–17 anschließend Entfaltete. Der Dank in Röm 7,25a wird dann folgerichtig zum (antizipierten) Dank für die erwartete letzte Befreiung aus der tod- und sündenverfallenen irdischen Existenz, wie sie erst Röm 8,18–25 in den Blick genommen wird.85 Drittens müssen die genannten Autoren die Niederlage, die das Ich von Röm 7,14 ff. immer wieder, ja grundsätzlich durch Fleisch und Sünde erfährt, abschwächen, eben deshalb, weil es sich ja um den vom Geist erneuerten Christen handeln soll. »There is no battle in which the flesh is wholly the loser till the last battle«, kommentiert etwa Dunn.86 Wird die Niederlage des Ich in Röm 7 aber exegetisch eingeräumt,87 dann spricht das doch wohl gegen die Deutung auf den Christen. Dem korrespondiert wiederum, dass man Röm 8 (z. B. 8,2.9) ebenso abschwächen muss, weil man dieses Kapitel nun wiederum von Röm 7 (insbesondere von Röm 7,14b.18) her zu verstehen hat.88 Ohne diese Abschwächungen sowohl in Röm 7 als auch in Röm 8 scheinen uns aber bestimmte Aussagen in Röm 7,14 ff. keineswegs vom Christen getroffen werden zu können (etwa 7,14b.18.23)89 bzw. bestimmte Aussagen aus Röm 8 (z. B. 8,2.9), aber auch aus Röm 6 (etwa 6,16) sowie Röm 7,6 passen nicht zur »doppelpoligen« christlichen Existenz, wie sie angeblich in Röm 7,14 ff. von Paulus gezeichnet sein soll.

Vgl. Nygren, Römerbrief, 220 f.; Cranfield, Epistle I, 342, 367 f., 369; Dunn, Rom 7,14–25, 273; ders., Romans 1–8, 397, 410 f. Diese Deutung wird abgelehnt von Althaus, Paulus, 39. Dass die Klage bereits erhört ist, betont auch Stuhlmacher, Klage, 59, 67. Wenn sich in Röm 7,24 und 7,25a; 8,2–17 das Schema von Klage und Danksagung für Errettung erkennen lässt, wie es sich auch in den individuellen Klage- und Dankliedern des Psalters sowie den Lobliedern von Qumran findet, so bildet dies für Stuhlmacher, ebd., 63 ff., ein wesentliches Indiz dafür, dass Röm 7,14–24 vom Menschen ohne Christus handelt. 86 Dunn, Rom 7,14–25, 263 (Hv.). Dem korrespondiert die eigentümliche Abschwächung der Sünde des Christen bei Nygren, wonach Gottes Willen hier auf Erden nicht so geschieht, »wie er es sollte«, bzw. die Tat dem menschlichen Willen nur »nicht entspricht«. Nach Paulus widerspricht beides sich aber doch! Siehe oben Anm. 68. 87 So bei Dunn, Romans I, 409 f. (zu Röm 7,23). Richtig Althaus, Paulus, 37: »Der Widerstreit der Vernunft, des inwendigen Menschen von Röm 7 gegen das Fleisch ist hoffnungslos, jeder Kampf ist schon im voraus entschieden. Er endet mit einer Niederlage. Das Fleisch hat die Übermacht.« 88 Vgl. Cranfield, Epistle I, 377 f.; Dunn, Rom 7,14–25, 263 f., bes. 263 (zu Röm 8,2): »The law of sin is no longer the sole determiner of present conduct or the final determiner of ultimate destiny« (Hv.); Nygren, Römerbrief, 234 f. (zu Röm 8,9), Paulus sichtlich korrigierend: »Aber ganz so einfach ist die Sache doch nicht. Der Christ steht zwischen den beiden Äonen: er lebt noch ›im Fleisch‹ mit allem, was dies mit sich führt an Sünde und Schwäche; gleichzeitig aber lebt er ›im Geist‹ mit allem, was dies mit sich führt an Gerechtigkeit und Leben. Der Christ ist ›simul iustus et peccator‹, ›gerecht und Sünder zugleich‹.« 89 Ebenso widerspricht es den sonstigen Aussagen des Paulus über das Christenleben, dieses mit Nygren als durch den Gegensatz von gutem Wollen und schlechtem Tun gekennzeichnet zu sehen. Vgl. Althaus, Paulus, 131 f. 85

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2.3 Die indirekte Funktion von Römer 7 für eine Begründung des »simul«: Die Frage nach der »ἐπιϑυµία« (Röm 7,7–8) In einem direkten Sinn – das kann als Ergebnis unserer vorangegangenen Analysen festgehalten werden – lässt sich Luthers simul iustus et peccator nicht auf Röm 7 gründen. Dies sollte unumwunden zugegeben werden – ebenso wie der Befund, dass sich das simul im lutherischen Verständnis (samt der aus ihm folgenden permanenten Dialektik von Gesetz und Evangelium)90 überhaupt bei Paulus nicht belegen lässt. Bei Paulus liegt allenfalls ein simul iustus et tentatus91 oder geradezu ein iustus contra peccatum vor.92 Dennoch stellt sich die Frage, ob Paulus kennt nur ein Nacheinander von Gesetz und Glaube (z. B. Gal 3,25). Vgl. Ebeling, Erwägungen, 269 ff.; Oechslen, Kronzeuge, 226–230; Stolle, Luther, 429–433; Joest, Dogmatik, II, 489, 494, 514. An der letzten Stelle führt Joest das Fehlen der immer wieder neuen Begegnung mit dem Gesetz bei Paulus auf dessen Naherwartung zurück. In dieser war für »die Vorstellung einer langen christlichen Geschichte – und christlichen Sünde – auf Erden noch kein Raum«. Faktisch werde aber auch die paulinische Paraklese zum richtenden Wort gegenüber der Sünde in seinen Gemeinden. 91 Vgl. Stuhlmacher, Brief, 107. 92 So Karrer, Rechtfertigung, 152. Vgl. die Zusammenfassung des Befundes bezüglich des simul bei Paulus überhaupt durch Oechslen, Kronzeuge, 76: »An keiner Stelle, die für die Geltung des Simul bei Paulus zu sprechen scheint, wird die Sünde als eine die Gegenwart der Christen kennzeichnende und bestimmende Größe genannt. Christen leben in der Dialektik von Tod und Leben, Trauer und Freude, Armut und Reichtum (2.Kor 6,9 f.). Aber nirgends deutet Paulus auch nur an, daß es für die Christen darüber hinaus eine Dialektik von Sünde und Gerechtigkeit gibt. Allerdings warnt der Apostel die Christen vor falscher Sicherheit, er weist auf die Gefährdung durch die Sünde im Fleisch hin.« Siehe auch Kümmel, Theologie, 199–203, der ausführt, dass für Paulus der Christ »zweifellos nicht ein ›armer Sünder‹ [ist], der nicht anders kann, als Sünde zu begehen; aber ebensowenig hat die Befreiung des Christen von der Sündenmacht den Christen naturhaft verwandelt, so daß er nicht mehr sündigen könnte« (200). Der Christ ist sehr wohl noch der Versuchung unterworfen und in Gefahr, ihr, auch durch schwere Sünde, zu erliegen. Die Notwendigkeit des aus dem Heilsindikativ folgenden Imperativs ergibt sich nach Kümmel für Paulus aus zwei Gründen: Einmal aus der grundsätzlichen Bindung der Heilswirklichkeit an den Glauben, zu dessen Festhalten ermahnt werden muss. Zum anderen daraus, dass der Christ, obwohl er sich »aus dem gegenwärtigen bösen Äon herausgerissen weiß, […] freilich weiterhin noch im vergehenden alten Äon« lebt (201) und deshalb den bösen Mächten noch ausgesetzt ist. Diese sind zwar durch Christus »überwunden, aber nicht vernichtet und darum nicht wirkungsunfähig« (202). »Das alles zeigt, daß das Nebenein­ ander von Indikativ und Imperativ für Paulus angesichts der Existenz des Glaubenden in beiden Äonen eine notwendige, eine unaufgebbare Antinomie ist. […] Der Imperativ […] kennzeichnet den Christen als bedroht vom zu Ende gehenden alten Äon und seinen Mächten und darum als verantwortlich für das Festhalten an der empfangenen Rettung.« (202) Ähnlich Lietzmann, Römer, 66 f.; Schrage, Ethik, 172 f. Es gibt somit bei Paulus ein gewisses simul der Äonen sowie ein simul von Gerechtfertigtsein und Versuchung zur 90

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Röm 7 dazu nicht doch zumindest indirekt herangezogen werden kann, insofern diesem Kapitel noch ein »unverstandener und unerklärter Rest« innewohnt, »der auf Verarbeitung wartet«93. Um diesen heute noch verantwortbaren Beitrag von Röm 7 für eine Begründung bzw. Aufrechterhaltung des lutherischen simul zu erheben, versuchen wir im Folgenden zwei entscheidende Fragen zu klären. Einmal: Wie ist die in Röm 7,7 f. erwähnte ἐπιϑυµία zu werten, welche durch das von der Sünde instrumentalisierte Gesetz im Menschen geweckt wird? Ist sie für Paulus schon selbst Sünde oder wird sie es erst durch die Einstimmung des Menschen in sie bzw. durch die ihr folgende Tat (2.3)? Zum anderen: Wie ist es zu erklären, dass Röm 7 im Laufe seiner Wirkungs- und Auslegungsgeschichte gegen seinen historischen Sinn bei Paulus immer wieder auf den Christen und die christliche Existenz selbst bezogen wurde, ja diese Deutung bis heute ihre Plausibilität und ihre Anhänger besitzt (2.4)? Zum Ersten: Paulus zitiert in Röm 7,7 das neunte bzw. zehnte Gebot (οὺκ ἐπιϑνµήσεις), allerdings unter Auslassung der dort benannten konkreten Objekte Haus, Frau, Knecht etc. (vgl. 2.Mose 20,17; 5.Mose 5,21). Luther erblickte in dem »Non concupisces!« jene ichsüchtige, gott- und nächstenfeindliche Konkupiszenz, welche im Menschen nach dem Sündenfall und auch noch beim Christen – nun allerdings als »beherrschte« – unwillkürlich, unkontrollierbar und in diesem Sinne unentrinnbar gegeben ist, was den Christen jederzeit zum simul peccator macht. Luther sah sie in Röm 7,7 von Paulus ausdrücklich als Sünde gewertet. Paulus selbst führt an dieser Stelle aus, dass das Gesetz zwar nicht die direkte Wirkursache der Sünde ist, dass es aber doch durch sein Verbot des Begehrens die im Menschen latent vorhandene, ihm selbst aber »unbekannte« Sünde bzw. ἐπιϑυµία zur Erkenntnis bringt – und zwar nicht im Sinne eines bloß theoretischen Kennenlernens, sondern der praktischen Erfahrung. Das Gesetz lockt also gerade das, was es verbietet, hervor! Hinter dem Gesetz steht aber nochmals die Sündenmacht, welche das an sich gute Gesetz als Ausgangspunkt und »Operationsbasis« benutzt, »in mir jede Begierde« zu erregen. Unverkennbar sind hier die Anspielungen auf Gen 2–3, wo das Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen von Gott verboten worden war, gerade so aber das Verlangen des Menschen nach seiner Frucht geweckt wurde. Dass Paulus gerade die letzten beiden Gebote des Dekalogs zitiert, erklärt sich also zunächst aus dem leicht herstellbaren Bezug zur Sündenfallgeschichte, wie denn auch in jüdischen Traditionen sowohl die Tora (bzw. die zehn Gebote) im Verbot des Begehrens zusammengefasst als auch die Sünde Adams und Evas in der (sexuell akzentuierten) Begierde konzentriert werden konnte.94

Sünde, aber eben kein strukturelles simul iustus et peccator. So auch Wilckens, Erklärung, 48, 53 f., 62. 93 So Barth, Römerbrief, XV, über den Römerbrief insgesamt. 94 Vgl. dazu Theißen, Aspekte, 206 f., bes. 206: »Das Gebot ›Du sollst nicht begehren!‹

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 551 Wir können Röm 7,7 f. nun nicht anders verstehen, als dass Paulus in dem Begehren selbst schon Sünde erblickt, ist sie doch eindeutig vom Gesetz Gottes verboten.95 Dass Paulus zwischen Sünde und Begierde an dieser Stelle differenziert, gründet in der Bezugnahme auf die Sündenfallgeschichte, durch welche bei ihm an die Stelle der verführenden Schlange die ἁµαϱτία als extern vorgestellte, personifizierte Macht tritt, welche die im Menschen schon vorhandene Sünde weckt und »aufleben« lässt. Fraglich kann aber nicht sein, wie Otfried Hofius urteilt, »dass für Paulus die Sünde in Wahrheit nichts anderes ist als eben jene gegen Gott gerichtete Gesamtorientierung, die er ἐπιϑυµία bzw. φϱόνεµα τῆς σαϱκός [Röm 8,7] nennt«96. Die sich hieran anschließende Frage ist nun: Stellt das Verbot »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« für Paulus nur ein den anderen gleichgeordnetes Gebot unter den Dekalogsgeboten dar, so dass er genausogut ein anderes als Beispiel hätte anführen können – oder kommt diesem Gebot fundamentale, das ganze Gesetz zusammenfassende Bedeutung zu? Und weiter: Was versteht er unter der objektlos angeführten Begierde? Geht es nur um das Begehren, das sich auf viele einzelne Objekte zu richten vermag, weshalb Paulus eben kein konkretes Objekt benennt – oder liegt in dem absolut gebrauchten »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« die Auffassung beschlossen, dass das Begehren als solches so etwas wie die Wurzel- und Grundsünde des Menschen bildet, eben das Urvergehen? Uns scheinen die beiden Fragen nur im jeweils letzteren Sinne beantwortet werden zu können. Paulus führt das »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« – wie angedeutet – wegen des Bezuges auf die Sündenfallsgeschichte an (1.Mos 2,16 f.; 3,6) und erblickt in seiner Übertretung die in jener biblischen Geschichte dargestellte »Ur-« oder »Wurzel­findet sich zwar seinem Wortlaut nach nicht in Gen 2/3, paßt aber ausgezeichnet zur Sündenfallgeschichte.« 95 Diese Einschätzung findet sich schon bei Bultmann, Christus, 54 f., bes. 55: »Auf die Sache gesehen aber ist es nicht richtig, daß man zwischen den Begierden und der Sünde diesen Unterschied machen darf. […] Aber was Paulus als ›Begierde‹ bezeichnet, ist nicht das ›natürliche Begehren‹, das sündig erst wird, wenn der Mensch mit seinem Wollen darauf eingeht, sondern ist böse Wollung. Eben deshalb läßt sich ja die Forderung des Gesetzes Gottes ganz allgemein als ›du sollst nicht begehren!‹ formulieren (Rm. 7,7). Und wenn die Sünde mittels des Gebotes die Begierde weckt (Rm. 7,8), so ist deutlich, daß die Begierde als solche sündig ist.« Insofern kennt Paulus nach Bultmann neben dem vorherrschenden »Nacheinander« von altem und neuem Menschen auch deren »paradoxes Mit- und Gegeneinander«, ohne dass er darauf ausdrücklich reflektierte. Freilich geht Bultmann unter Bezugnahme auf Phil 3,12 ff. dann weit über Paulus hinaus, wenn er die iustitia des Christen in der Weise als forensisch-relationale iustitia aliena begreift, dass der Christ seiner Seinsqualität nach peccator bleibe, weil er weiterhin von seiner Vergangenheit (= Sünde) bestimmt werde, die nur je und je im Empfang der Vergebung im Glauben überwunden werde (56 f.). Hier interpretiert Bultmann Paulus zu sehr von Luther her, zudem noch von einem einseitig gelesenen Luther her und unterschätzt beider Differenz. Vgl. ders., Theologie, 273. 96 Hofius, Mensch, 129.

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sünde«97 des Menschen bzw. den Urvorgang, der sich in der Begegnung des Menschen mit diesem Gebot einstellt: Dem unter der Sünde stehenden Menschen wird dieses Verbot gerade zum Stimulus dessen, was es verbietet, und darin offenbart sich die falsche Grundhaltung und »Gesamtorientierung« des Menschen: Er ist von der Haltung des Haben-Wollens bestimmt, sucht in allem das Seine, benutzt es zum Mittel seiner Selbstverwirklichung und setzt sich mit solchem »Begehren« gegen den Nächsten und auf seine Kosten durch.98 Wenn es heißt, dass die Sünde durch das Gebot in mir »πᾶσα ἐπιϑυµία« erregte, so ist dies wohl nicht (nur) im Sinn von »jeder beliebigen Begierde« gemeint, sondern in der Bedeutung von »widergöttlichem Begehren schlechthin« bzw. »völliger Begehrlichkeit«, aus der die vielfältigen Verfehlungen erst erwachsen.99 Mag es auch fraglich sein, ob – wie die Bultmann-Schule annehmen möchte –100 in dem »Non concupisces« schon das »Sein wollen wie Gott« (Gen 3,5) bzw. die »menschliche Selbstbehauptung« oder die (fromme, das Gesetz erfüllende) »Eigengerechtigkeit« gegen Gott impliziert ist, so stellt es in jedem Fall doch eine Zusammenfassung der zweiten, auf den Nächsten gerichteten Gebotstafel dar. Seine gegen Gott gerichtete Intention lässt sich dann aber leicht erschließen und aufweisen: In der Missachtung des Rechtes des Nächsten ist eo ipso eine Missachtung Gottes eingeschlossen. Der Mensch

So Theobald, Römerbrief I, 208. Vgl. Theobald, Concupiscentia, 267 f.; ders., Römerbrief I, 208: Das Begehren ist im Verständnis des Paulus »das unersättliche Haben-Wollen, das in der Gier nach Leben, Besitz und Macht alles zum Objekt der eigenen Wünsche und Phantasien degradiert. Solches ›Begehren‹ ist im übrigen nur die Kehrseite dessen, was Paulus bereits in 1,21 die Ursünde des Sich-nicht-verdanken-Wollens genannt hat. […] Wer von der Existenzweise des Haben-Wollens bestimmt ist, die sich nicht nur in materieller Hab-Gier und Hab-Sucht äußert, der ist unfähig, das, was er ist – sein eigenes Sein –, als Geschenk eines Größeren gelten zu lassen; er wird dem Zwang unterliegen, durch immer mehr Haben-Wollen sich selber und anderen die eigene Existenzberechtigung andauernd beweisen zu müssen.« Theobald lässt es freilich ebd., 210, in der Schwebe, ob schon diese Begierde selbst Sünde ist oder als Sünde erst wirklich wird im »tatsächlichen Sündigen« des Menschen, »wenn er sich im Ungehorsam gegen Gott von seiner ›Begierde‹ als der Sucht, alles haben zu müssen, beherrschen lässt und so sein Selbst verliert«. Dass eine gewisse Triebhaftigkeit und »Begierde« in der »leiblich-sterblichen Daeinsform« des Menschen gründet und insofern nicht per se schlecht bzw. Sünde ist, muss eingeräumt werden. Dass dies aber die paulinische ἐπιϑυµία sei, ist zu bestreiten, ebenso, dass solche schöpfungsmäßige Konkupiszenz in der »Sucht, alles haben zu müssen«, bestehe. Nimmt sie diese Gestalt an, dann ist sie schon von der Sünde überformt, was auch faktisch für alle kreatürliche »Begierde« zutrifft. 99 So Hofius, Mensch, 129; Schmithals, Römerbrief, 214. 100 Vgl. Bultmann, Römer 7, 208; Käsemann, Römerbrief, 186; Schlier, Römerbrief, 223; Schmithals, Römerbrief, 214 f.; dagegen Räisänen, Gebrauch; Hofius, Mensch, 128. Aber auch Hofius räumt (mit Bezug auf Stuhlmacher, Brief, 99) ein: »Gemeint ist vielmehr ›das widergöttliche Begehren überhaupt‹. Es ist die gegen Gott gerichtete Gesamtorientierung – also das grundsätzliche Nicht-Wollen dessen, was er will.« (128) Diese »negative Gesamtorientierung« (129) nenne Paulus Röm 8,7 f. φϱόνεµα τῆς σαϱκός und ἒχϑϱα εἰς ϑεόν. 97

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Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 553 will grundsätzlich das, was Gott nicht will! Die Gier nach immer mehr zur eigenen Lebenssicherung hat zur Kehrseite das Sich-Gott-nicht-Verdankenwollen.101 Das »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« wird also in Röm 7,7 nicht als konkretes Einzelgebot, sondern als »transmoralisches Grundgebot«102, als »Grund-Gebot gegen die Grund-Sünde der Begierde«103 zitiert, so wie seine Übertretung auch eine transmoralische Verfehlung darstellt, eben die »Grundverfehlung des menschlichen Daseins«104. Für den absoluten Gebrauch des »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« bei Paulus (vgl. auch 1.Kor 10,6) lassen sich zahlreiche Parallelen aus der hellenistisch-jüdischen Literatur anführen, insbesondere bei Philo von Alexandrien. Gerade bei ihm wird wie bei Paulus das »non concupisces« objektlos verwendet und die prinzipiell verstandene Begierde als »Quelle allen Unrechts« beim Menschen angesehen, aus der alles Böse hervorquillt und von der alle »gesetzwidrigen Handlungen« ausgehen: »gegen Private wie gegen die Gesamtheit, kleine und große Vergehen, gegen das Heilige wie gegen das Profane, gegen Leib und Seele wie gegen die sogenannten äußeren Güter. Denn nichts ist geschützt vor der Begierde […]; ja, wie eine Flamme am Holz erfasst sie alles, verzehrt es und richtet es zu Grunde.« (Philo, Decal 173)105 Nimmt man dies alles zusammen, so ist man in Röm 7,7 f. von dem lutherischen Konkupiszenzbegriff und ihrer Qualifizierung als Sünde nicht weit entfernt. Ist die Konkupiszenz bei Paulus als Grund- und Wurzelsünde des Menschen verstanden, ja als falsche Grundhaltung und Gesamtorientierung, dann lässt sie sich nicht auf das jeweils auf unterschiedliche singuläre Objekte gerichtete einzelne und willentlich bejahte Begehren beschränken, sondern ist fundamentaler anzusetzen. Sie nimmt den Charakter eines fortdauernden Habitus, einer »zweiten Natur« an, aus dem jeweils konkretes Begehren als aus seinem Wurzelgrund Vgl. Söding, Rechtfertigung, 46: »Wer seinem ›Begehren‹ folgt, will auf Kosten seines Nächsten dem Geltung verschaffen, was er unbedingt für sich selbst meint, in seinen Besitz bringen zu müssen. Damit gerät er zugleich in einen Grundwiderspruch gegenüber Gott.« Dieser Satz lässt freilich erkennen, dass nach Söding Paulus erst das Einstimmen in das ›Begehren‹ für Sünde erachtet. Das ›Begehren‹ selbst ist dann bloße Versuchung zur Sünde, ausgehend von der auch den Christen noch beeinflussenden Sündenmacht. 102 So Schmithals, Römerbrief, 244; Hofius, Mensch, 115 f., 127. Nach Hofius, 115 f., stellt das »Du sollst nicht begehren« für Paulus sowohl die »Quintessenz des Paradiesgebotes Gen 2,16b.17« als auch die »Quintessenz der Tora vom Sinai« dar. 103 Schmithals, Anthropologie, 26; ders., Römerbrief, 213. 104 Schmithals, Römerbrief, 214. Vgl. Käsemann, Römer, 186: »Sie [die Begierde] ist vielmehr die Grundsünde schlechthin […], gegen welche sich das ganze Gesetz ebenso wendet, wie es sie faktisch hervorlockt«; Schlier, Römerbrief, 222, 225: Paulus meint mit der Begierde »nicht nur den Anfang, sondern auch die innere Form des Sündenwesens«, den »Grundzug« der Sünde. Ferner Klaiber, Römerbrief, 121. 105 Zitiert nach Theobald, Römerbrief, I, 209. Vgl. dazu ebd., 208 f.; Theißen, Aspekte, 207 f. und umfassend Lichtenberger, Ich, 242–251, bes. 251 f. Der Unterschied zwischen Philo und Paulus besteht freilich darin, dass bei Ersterem das Gebot gegen die ἐπιϑυµία steht und sie überwinden kann, während bei Paulus das Gebot die ἐπιϑυµία hervorruft und gegen sie machtlos ist, sie gleichwohl aber kenntlich macht. 101

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allererst hervorgeht. Darum ist auch Paul Althaus zu widersprechen, wenn er in seiner Studie »Paulus und Luther über den Menschen« für Paulus im wesentlichen die katholische Deutung der Konkupiszenz für richtig erachtet: Sie werde nur zur Sünde, wenn der Mensch durch Wille und Tat in sie einwillige, vorher sei sie bloßer »Zunder« (fomes). Röm 7,7 f. versteht Althaus nur von den mit Einwilligung und Hingabe versehenen »Regungen des Fleisches«, die erst als solche nach Paulus Sünde genannt werden dürften.106 Uns scheint dies aber eine Un­ terbestimmung des Gehalts von Röm 7,7 f. zu sein, ja seinem klaren Wortlaut zu widersprechen. Die Interpretation von Althaus geht an dem transmoralischen Charakter der ἐπιϑυµία bei Paulus und insbesondere in Röm 7,7 f. vorbei. Dabei ist durchaus zuzugestehen, dass Paulus an anderen Stellen nicht derart grundsätzlich über das Begehren spricht, sondern es den anderen Geboten der zweiten Tafel parallel ordnet und als einen Verstoß gegen den Dekalog unter vielen möglichen bewertet – eben als konkretes, untersagtes Begehren eines bestimmten Objektes. So Röm 13,8 ff., wo die Liebe als Erfüllung des Gesetzes bzw. der einzelnen Dekalogsgebote und u. a. eben auch des »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« bezeichnet wird (vgl. auch Röm 1,24; 13,14). Insofern wird man von einem doppelten Konkupiszenzbegriff bei Paulus auszugehen haben. Der Verstoß gegen das 9. und 10. Gebot ist vom Verstoß gegen jenes transmoralische Gebot »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« zu unterscheiden.107 Vgl. Althaus, Paulus, 85–88. Ähnlich schon Schlatter, Gerechtigkeit, 212 f., 228, 232 ff. – Althaus ist freilich in seinem Urteil nicht ganz konsequent: Er weist zum einen darauf hin, dass Paulus in seinen Lasterkatalogen als »Werke des Fleisches« nur »grobe heidnische Sünden« und »Sünden der Selbstsucht« aufzählt, d. h. grobe Übertretungen des ersten Gebots und Verletzungen der zweiten Gebotstafel, also nicht wie Luther auch unwillkürliche innerlich-affektive Regungen gegen beide Tafeln darunter versteht. »Denn von Sünden gegen das erste Gebot ist, abgesehen vom Götzendienst im groben Sinne, bei Paulus nicht die Rede. Warum nicht? Hält er etwa jene von Luther genannten Sünden gegen das erste Gebot, Unglauben, Mißtrauen, Verzweiflung usw. nicht für Sünde? Doch, ohne Frage. […] Aber diese Sünde ist für den Christgläubigen abgetan. […] Paulus kennt Überheblichkeit, hochfahrendes Wesen in ihnen [den Gemeinden]. […] Aber das ist ihm eine bestimmte einzelne Entartung des Christenstandes, die sich heilen läßt. Als unentrinnbare, mehr oder weniger in jedem Christenmenschen mächtige Regung beurteilt er solche Hoffart nicht. […] Er mahnt also, aber er reflektiert nicht über jene Bewegungen als unvermeidlich immer wieder im Herzen aufsteigend. Vor allem: er beurteilt das noch nicht als Sünde, daß solche Regungen überhaupt da sind und immer erst wieder vom Glauben niedergehalten und überwunden werden müssen.« Paulus hat offenbar »die ›Begierden‹ als solche noch nicht als Sünde angesehen, die das Verhältnis zu Gott stört und seiner Vergebung bedarf. Erst die Einwilligung, die Hingabe an die Regungen des Fleisches bringt es zur Sünde (Röm 7,7 ff.) und damit zur Schuld vor Gott, auf die er mit seinem Zorne antwortet.« (ebd., 85 ff.; Hv.) Man wird Althaus darin zustimmen können, dass Paulus die »Begierden« und bösen innerlichen Regungen beim Christen als nur sporadisch auftretend und als vermeidbar beurteilt, aber Althaus gibt doch zwei sich widersprechende Wertungen solcher Regungen durch Paulus an. Vgl. auch Gottschick, Paulinismus, 421–424, dem Althaus hier folgt. 107 Vgl. Theobald, Concupiscentia, 268 f. – Ebd., 267–274, analysiert Theobald alle Belege 106

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 555 Zielt das »οὺκ ἐπιϑνµήσεις« bei Paulus auf die Grund- und Wurzelsünde des Menschen, welche den einzelnen Gebotsübertretungen vorgeordnet ist, dann lässt sich von ihr neben der »Unwillkürlichkeit« auch eine gewisse Kohärenz und für ἐπιϑυµία bzw. ἐπιϑυµεῖν im Römerbrief. Dabei rechnet ihm zufolge Paulus »(sehr realistisch) mit der anthropologischen Konstante der ›Begierde‹ als Merkmal des leiblich konstituierten menschlichen Wesens« (274), besonders von 6,12 her werde aber nahegelegt, dass die ἐπιϑυµίαι des Christen nicht schon als solche Sünde seien, »sondern wenn der Getaufte ihnen ›gehorcht‹, ihnen willfährig wird, dann richtet die Sündenmacht ihre Herrschaft erneut über ihm auf« (272). Es bleibt aber u. E. der »unverstandene Rest« bzw. »Überschuss« von Röm 7,7. Ganz von den übrigen, d. h. auf ein konkretes »antinomistisches« Begehren bezogenen Stellen möchte Räisänen, Gebrauch, bes. 154 f., 163, 166 f., Röm 7,7 f. verstehen: »Doch führt Paulus in Röm 13,9 das (zehnte) Gebot ›Du sollst nicht begehren‹ als ein Gebot unter anderen an. Es liegt nahe, es in 7,7 im ähnlichen Sinn zu verstehen. Die Ausführungen über die ἐπιϑυµία wären dann hier als ein Beispiel oder als ein Spezialfall dessen zu verstehen, was vorher allgemein über die Sünde gesagt wurde. […] Nichts im Kontext legt eine andere Erklärung [als im Sinne der ›sündigen Leidenschaften‹ von 7,5] der ἐπιϑυµία in V. 8 nahe. Das Attribut πᾶσα ist gerade nicht geeignet, eine Konzentration auf das Wesen des Begehrens ›schlechthin‹ auszudrücken; es bezeichnet vielmehr die bunte Mannigfaltigkeit der Begierden.« (154 f.) – Söding, Rechtfertigung, 44–50, 73–76, sieht deutlich den doppelten Konkupiszenzbegriff bei Paulus. Sünde ist ihm offenbar aber allein der Verstoß gegen das 9. und 10. Gebot als gedanklich konkret gewordenes Begehren (= die ›Begierden‹; in diesem Sinn scheint er auch Röm 7,7 zu interpretieren), während das Begehren im fundamentalen Sinn der negativen »Triebkraft« allein Versuchung ist (74, 78 f.), welche von der im »Fleisch« auch des Christen nachwirkenden Sündenmacht ausgeht. »Einerseits kennt er [Paulus] das Begehren nicht nur als Triebkraft zum Sündigen, sondern auch als flagranten Verstoß gegen das 9. und 10. Gebot (Röm 13,9), worin sich Adams Fall am stärksten widerspiegelt.« In dem letzteren Sinn sei natürlich auch für Trient das »Begehren« Sünde. »Paulus hat an dieser Stelle weder terminologisch [zwischen beiden Konkupiszenzverständnissen] klar unterschieden noch theologisch scharf reflektiert. Offenbar hat er das Problem nicht gesehen.« (73) Freilich werden die Schwierigkeiten von Södings Ansatz, das fundamental verstandene »Begehren« im Sinne eines bloßen Dranges zur Sünde zu deuten, 45–48 deutlich, weil er dann umgekehrt das Einzelbegehren theologisch übermäßig »aufladen« muss. Vgl. z. B. 46: »Dass der Apostel das ›Begehren‹ nach des Nächsten Weib und Haus in diesen theologischen und anthropologischen Dimensionen [nämlich als ›Grundsünde‹ im Sinne der Einheit von ›Ungerechtigkeit und ›Gottlosigkeit‹] als Inbegriff der Sünde sehen kann, erklärt, weshalb er die ἐπιϑυµία auch als Subjekt resp. Ort des Sündigens anspricht.« – Wilckens, Erklärung, 53, 55, 62, wiederum kritisiert den in GE 28–30 zur Bezeichnung der Konkupiszenz verwendeten Begriff der »Gottwidrigkeit« als unbiblisch und votiert dafür, »dass gerade das Begehren ›Sünde im eigentlichen Sinn‹ ist«. Denn: »Die Begierde ist bei Paulus einerseits die entscheidende Triebkraft der Sünde selbst; und Sünder begehren ›in den Begierden ihres Herzens‹ (Röm 1,24) willentlich gegen Gott auf, wie immer es die Sünde ist, die in solchem begehrenden Tun der Sünder als ihre Herrin das eigentliche Subjekt des Begehrens ist.« (55) Jedoch scheint Wilckens (vgl. 62) solche sündige Begierde (besser dann: Begierden!) ausschließlich als konkret-aktuellen Verstoß gegen die beiden Schlussgebote des Dekalogs aufzufassen. Allein diese Deutung verträgt sich mit Wilckens’ Ablehnung des Satzes, dass der Gerechtfertigte Sünder bleibt (53 f.).

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Permanenz im Menschen behaupten bzw. vermuten, obwohl Paulus darüber nicht eigens reflektiert hat. Aus den vorangegangen Gedankenschritten ergibt sich nun folgende Sachlage: Nach klarer exegetischer Erkenntnis ist in Röm 7,7–25 nicht der christliche Mensch, sondern der vor- und außerchristliche Mensch im Blick, allerdings aus christlicher Perspektive betrachtet. Weiter ist in Röm 7,7 die in einem fundamentalen, transmoralischen Sinn verstandene ἐπιϑυµία von Paulus als Sünde erachtet worden. So stellt sich unweigerlich die Frage: Was heißt das für die ἐπιϑυµία, die Paulus durchaus auch beim Christen noch gegeben sieht? In Röm 6,12 z. B. werden die Christen ermahnt, den Begierden des sterblichen Leibes nicht zu gehorchen. Nach 8,13 sollen sie durch den Geist »die Machenschaften des Fleisches« töten. Im Vorgriff sei schon auf Gal 5,16 f. verwiesen, wo vom Begehren des Fleisches gegen den Geist die Rede ist, das mit dem des Geistes gegen das Fleisch im Widerstreit liegt. Nach Gal 5,24 haben die Christen das Fleisch »mit seinen Leidenschaften und Begierden« gekreuzigt. Sie sind also noch da, kommen jedoch nicht zum Zuge, zur Herrschaft! Diese »Leidenschaften und Begierden« sind für Paulus natürlich keineswegs als neutral oder indifferent zu bewerten. Aber, so ist zu fragen, sind sie nur Sog und Versuchung zur Sünde hin oder doch – von der grundsätzlichen Aussage in Röm 7,7 f. her – schon selbst Sünde? Paulus hat offenbar über die Einschätzung der im Christen noch verbleibenden Begierde bzw. der Begierden nicht weiter reflektiert, darüber zu reflektieren auch keinen Anlass gesehen. Vielleicht hätte er sogar auf die Frage nach ihrem Sündencharakter mit Nein geantwortet, wie Röm 6,12 oder 8,13 nahelegen. Dennoch liegt es zumindest als Möglichkeit nahe, hier wie Luther – natürlich unter veränderten Bedingungen, die sogleich zu benennen sind – nachzufragen und weiterzudenken, wenn die in Röm 7,7 prinzipiell getroffene Aussage von der ἐπιϑυµία als Sünde richtig ist und wenn auch der Christ solche ἐπιϑυµία, etwa in der Gestalt des eigentlich durch den Glauben an sein Ende gekommenen Sich-Rühmens (Röm 3,27; 11,17 f.) oder des »Trachtens des Fleisches« (Röm 8,7), in sich entdeckt.108 Insbesondere in Korinth sieht Paulus das καυχᾶσϑαι als die Wurzel der Missstände in der Gemeinde wie Zwietracht, Parteiung, gegenseitige Missachtung und Herabsetzung an. In der Gemeinde wurde der Überreichtum an Charismen nicht zum Nutzen der anderen, sondern zur eigenen Selbstdarstellung und Selbsterbauung benutzt. Demgegenüber gilt: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!« (1.Kor 1,31; vgl. 1,27–31) Das καυχᾶσϑαι als das »Aussein auf Selbstbehauptung und Selbsterhöhung« ist für Paulus einerseits dem Glauben, andererseits der Liebe entgegengesetzt, ist also Unglaube und Lieblosigkeit. Vgl. Joest, Paulus, 285 f. (Zitat: 285); Bultmann, Theologie, 241 ff., bes. 242: »Ihren höchsten Ausdruck findet die sündig-eigenmächtige Haltung im καυχᾶσϑαι des Menschen. Es ist dem Juden, der sich Gottes und des Gesetzes rühmt (Rm 2,17.23), ebenso eigentümlich wie dem Griechen, der sich seiner Weisheit rühmt (1 Kr 1,19–31), wie es ja auch ein natürlicher Trieb des Menschen ist, sich mit anderen zu vergleichen, um so sein καύχηµα haben zu können (Gl 6,4). […] Im καυχᾶσϑαι zeigt sich die Verkennung der menschlichen Situation, das Vergessen der Tatsache: ›Was hast du, das du nicht empfangen hast?‹ (1 Kr 4,7).« – 108

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 557 Eine diesen Überlegungen verwandte Position hat schon Wilfried Joest in seinem Aufsatz »Paulus und das lutherische Simul iustus et peccator« vertreten. Unbeschadet der Tatsache, dass Paulus starkes Gewicht auf den Tatcharakter der Sünde lege, sieht er Joest zufolge die ἐπιϑυµία nach Röm 7,7 durchaus als Sünde an,109 auch wenn Röm 7 selbst wohl nicht vom Christen rede. Insofern sei es verfehlt, die Sünde bei Paulus erst in den »nach außen tretenden Taten« und nicht schon in den »konstanten inneren Regungen« gegeben zu sehen und deshalb bei Luther einen »sublimeren Sündenbegriff« als bei Paulus anzunehmen.110 Einer solchen Behauptung stehe der von Paulus stark akzentuierte, die ganze Person bestimmende Machtcharakter der Sünde entgegen. »Man kann also das Herrschen der Sünde in der Person und ihr Hervortreten in einzelnen Akten nicht trennen; dieses ist in jenem begründet. Die Sünde ist nicht erst Tat, sondern zuvor ἐπιϑυµία, d. h. innerliches Aus-sein auf etwas. Und zwar handelt es sich offenbar nicht nur um ein jeweiliges Aussein auf dieses oder jenes, sondern um eine einheitliche und ganzheitliche Richtung, aus der wiederum das Aussein auf dieses und jenes erst entspringt.«111 Allerdings ist für Paulus nach Joest zumindest beim Christen solche ἐπιϑυµία wohl nicht in jener Kohärenz und Permanenz wie für Luther gegeben, weshalb Joest zufolge Luthers Deutung der Konkupiszenz als eines anthropologisch unentrinnbaren Existentials eine unzulässige Ontologisierung der ἐπιϑυµία und so des simul peccator darstellt. Bei Paulus stelle sich das simul nur auf der Ebene der Paränese ein: »Du bist in Christus von der Sünde frei, also kämpfe gegen sie!«112 Allerdings ist nach Joest zuzugestehen, dass Paulus die ἐπιϑυµία beim Christen nicht Sünde nenne und ihn allein wegen der nicht zum Akt gelangenden Begierde nicht schon als Sünder erachte. Dies geschehe aber offenbar nicht deshalb, weil die ἐπιϑυµία für Paulus (noch) nicht Sünde wäre – obwohl Paulus darüber auch nicht explizit reflektiert –, sondern »weil der Glaubende in Christus von der Herrschaft der Sünde losgesprochen« sei. Aus diesem Grund vermag der Christ, anders als der Nicht-Glaubende, ihr auch erfolgreich zu widerstehen.113

Keine »erhebliche oder gar eine grundsätzliche Differenz« zwischen Paulus und Luther in der Einschätzung der ἐπιϑυµία des Christen sieht Härle, Paulus, 388 f., gegeben, jedoch dürfte er damit den Befund bei Paulus überdehnen. 109 Vgl. Joest, Paulus, 28551: »Röm 7,7 ergibt geradezu eine Gleichsetzung von ἐπιϑυµία und ἁµαϱτία.« 110 So Joest, Paulus, 309. Im letzten Punkt werden wir unten zu einer anderen Auffassung als Joest gelangen, da Paulus jenen bei ihm vorhandenen strengen Sündenbegriff auf den Christen faktisch nicht anwendet. 111 Joest, Paulus, 284 f. Vgl. ebd., 286. 112 Vgl. zum Ganzen Joest, Paulus, 287, 292–295, 309, 317. 113 Vgl. Joest, Paulus, 286 f.60 (Zitat: 286).

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2.4 Gründe für die nachpaulinische Applikation von Römer 7 auf die christliche Existenz Wir kommen zur zweiten im Kontext von Röm 7,14 ff. zu behandelnden Frage: Wie konnte es geschehen, dass (nach unseren Ergebnissen) gegen den ursprünglichen Sinn des Textes bei Paulus als Beschreibung der vor- und außerchristlichen Existenz dieser im Laufe der Christentumsgeschichte, und hier insbesondere bei Augustin und Luther, dennoch auf den Christen bezogen wurde und dieser Deutung bis heute eine verblüffende Evidenz eignet? »Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. […] Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen, kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« (Röm 7,15.18 f.) Viele, auch ernsthafte Christen werden sich selbst in diesem Konflikt und Zwiespalt zwischen Wollen und Tun, zwischen Nichttun des Gewollten und Tun des Nichtgewollten, zwischen guter Intention und bösem faktischen Ergebnis wiedererkennen und erfahren sich selbst als in dieser Weise gespalten. Schon Werner Georg Kümmel, der mit Vehemenz für die Deutung von Röm 7 auf den unerlösten Menschen eintrat und allen Erweichungen, Röm 7 dennoch irgendwie auf den Christen zu beziehen, widersprochen hat, hat das Problem benannt, es dann freilich aber auch offen stehen gelassen: Für Kümmel ist es nicht legitim, den Text des Paulus entgegen seinem ursprünglichen Sinn auf unsere andersgearteten gegenwärtigen Erfahrungen hin umzudeuten, sondern wir müssen vielmehr die Differenz zwischen dem paulinischen und unserem heutigen Christentum anerkennen und uns kritisch fragen, wie es dazu kommen konnte: »Und es ist doch wohl in der Tat so, daß unser Christentum von dem eschatologisch bestimmten Christentum der paulinischen Gemeinden recht verschieden ist. Und wenn die Einsicht in den Text von Röm. 7 uns zwingt, den Text als Schilderung des Nichtchristen zu verstehen, zugleich aber wir unsere eigene sittliche Lage darin wiederfinden […], so kann die Frage nicht lauten: ›paßt Röm. 7 etwa auch oder in erster Linie auf den Christen?‹, sondern vielmehr: ›wie ist es zu erklären, daß unser Christentum von dem paulinischen soweit abweicht, daß wir uns im Bilde des paulinischen Nichtchristen wiederfinden?‹ Diese Einsicht kann also nur dazu führen, unsere Lage und Lebensanschauungen am Text zu prüfen, nicht aber den Text unserer Lage anzupassen.«114 Kümmel sieht folglich unsere Diskrepanz zum paulinischen Bild des Christen, die an der immer wieder versuchten Applikation von Röm 7 auf den Christen zutage tritt, als eine kritische Anfrage an unser heutiges Christsein hinsichtlich der Ernsthaftigkeit seiner aus dem Glauben folgenden Lebenspraxis. So sehr man dieser Überlegung durchaus zustimmen möchte, so ist sie doch in dieser Absolutheit einseitig. Es waren doch

Kümmel, Röm 7, 108; vgl. ebd., 106 ff.; Ellwein, Rätsel, 266, Stuhlmacher, Klage, 68–72. 114

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 559 gerade nicht laue, sondern ernsthafte, engagierte Christen, welche die Verfasstheit ihrer christlichen Existenz in Röm 7 wiedererkannt haben. Zu ihnen gehört gerade auch Luther, dem man nicht irgendwelchen christlichen Laxismus vorwerfen kann, den er dann durch Röm 7 rechtfertigen oder entschuldigen wollte. Von daher formuliert der Methodist Walter Klaiber, der das lutherische simul iustus et peccator als unpaulinisch ablehnt und Röm 7 als Beschreibung des Menschen unter dem Gesetz versteht: »Dass diese Schilderung [in Röm 7] gerade von sehr ernsthaften Christen als Beschreibung ihres Lebens identifiziert wurde, macht nachdenklich.«115 Wie wir im Forschungsbericht zu Beginn unserer Studie gezeigt haben, sieht der lutherische Theologe Paul Althaus Luther exegetisch im Unrecht, weil Röm 7 nicht vom Menschen in Christus handle, aber sachlich-theologisch im Recht, weil wir mit Luther, wenn wir unsere eigene Erfahrung im Lichte des Wortes Gottes ernst nehmen, über Paulus hinausgehen müssen und dürfen, insofern wir auch schon die inneren, unwillkürlichen bösen Regungen des Herzens als Sünde zu werten haben. Wir können uns nicht damit trösten, »daß sie nicht zum bewußten Willensakte, zum Worte, zur Tat geworden sind«. Dieser Schritt über Paulus hinaus ist an dieser Stelle legitim, weil wir nach Althaus letztlich nicht in den theologischen Lehren und Erkenntnissen, sondern nur in der Bezeugung des einen Evangeliums, was in der Schrift selbst schon plural geschieht, an die Schrift gebunden sind. Das sola scriptura ist folglich nicht im Sinne eines naiven Biblizismus zu verstehen, der die eigene Theologie bis ins letzte Detail an einzelnen Schriftstellen festmachen will, dabei aber oft die Schrift der eigenen Dogmatik angleicht, sondern als je neues Bemühen, das in der Schrift bezeugte Evangelium authentisch zu hören und zu reflektieren.116 Hieran anknüpfend möchten auch wir die These vertreten, dass es aus guten theologischen Gründen möglich, ja naheliegend, wenngleich letztlich nicht zwingend ist, in der Frage des simul iustus et peccator mit Luther über Paulus hinauszugehen und insofern auch Röm 7 auf den heutigen Christen zu beziehen, wobei wir im Unterschied zu Althaus der Auffassung sind – und dies werden unsere weiteren exegetischen Ausführungen zu zeigen haben –, dass dafür nicht jeder biblische Anhalt, ja sogar nicht jeder paulinische Anhalt fehlt.117 Dazu ge Klaiber, Gerecht, 213. Siehe auch ders., Römerbrief, 132; Söding, Rechtfertigung, 66: Weil Paulus in Röm 7 vom sündigen Adam und nicht vom gerechtfertigten Christen handelt, »kann das simul iustus et peccator […] in einer Exegese von Röm 7 keine zureichende Begründung finden. […] Das anthropologisch-soteriologische Sachproblem, das Augustin und Luther aufgedeckt haben, ist damit freilich noch nicht aus der Welt geschafft. Es harrt nach einer ökumenisch konstruktiven Lösung auf der Basis der Schrift und in prinzipieller Übereinstimmung mit der paulinischen Rechtfertigungslehre.« 116 Vgl. Althaus, Paulus, 91–95 (Zitat: 93). Zum Verhältnis von Evangelium und Theologie siehe ebd., 34 ff. 117 Und wohl auch, wenn das sola scriptura gelten soll, nicht fehlen darf! Problematisch ist deshalb die Lösung von Hermann, Kontroverse, 263–266, der zugesteht, dass die historische Exegese heute viele biblische Stellen anders als Luther versteht, ja dass Luthers 115

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hören – wie oben dargelegt – Röm 7,7 f., welche die in einem fundamentalen Sinn verstandene »Begierde« als Sünde qualifizieren, ohne dass Paulus weiter bedacht hätte, was daraus für die auch beim Christen noch vorkommende Begierde folgt.118 Für diesen Überschritt von Paulus zu Luther scheinen uns die folgenden Aspekte wichtig zu sein, die diesen Schritt zum einen historisch erklären, zum anderen sachlich begründen können.

2.4.1 Die unterschiedliche kirchliche Situation bei Paulus und Luther Paulus ist sehr stark von seiner eigenen Bekehrung geprägt, die er als fundamentale Lebenswende vom gesetzestreuen Pharisäer und Christenverfolger hin zum Christen und christlichen Missionar erfahren hat. Analog dazu sieht er das Gläubigwerden und die Taufe aller anderen Christen als fundamentale Lebenswende, die Einst und Jetzt, Vergangenheit und Gegenwart scharf voneinander abhebt und zumeist auch (etwa bei Heidenchristen) von einer einschneidenden sittlichen Neuorientierung begleitet war. Hier lag natürlich wie von selbst der Akzent und der Blick stärker auf dem neuen Lebensstil, der neuen Existenz bzw. der Freiheit von der vergangenen Sünde, und man reflektierte nicht auf die im Christen noch vorhandenen inneren bösen Regungen, geschweige denn, dass man sie als Sünde qualifizierte. Kam es in den Gemeinden dennoch zu schweren Vergehen und Tatsünden, die für Paulus sehr wohl möglich sind, aber nicht sein katholische Gegner den Literalsinn einzelner Loci mitunter besser erfasst haben, es aber gleichwohl für möglich erachtet, dass wir »in Sachen der Glaubensüberzeugung« (264) Luther folgen, eben weil es nicht nur das (begrenzte) Recht der historischen Exegese, sondern auch ein Schriftverständnis aus der gegenwärtigen Begegnung mit dem Wort Gottes heraus gibt. Die Bibelauslegung muss der »Erhebung des mit ihr verbundenen Wortes Gottes« dienen. Es gibt eine »Unmittelbarkeit des Glaubens zu Gottes Wort in der Bibel, wie Luther sie gehabt und sie den Protestantismus zu verstehen gelehrt hat« (266). Die Gefahr »subjektiver Willkür« (ebd.) liegt hier indessen sehr nahe, ebenso die der Applikation des katholischen Traditionsprinzips auf Luther, was Hermann selbst freilich dadurch ausschließen möchte, dass er im Protestantismus eine »gewisse Ausgleichung zwischen Wort-Gottes-Verständnis und wissenschaftlicher Exegese erreicht« sieht (ebd.). Vgl. zum Ganzen Oechslen, Kronzeuge, 238–252. 118 Für die von uns anvisierte indirekte Applikation von Röm 7,14 ff. auf den Christen kann letztlich die unterschiedliche Deutung des in diesem Abschnitt beschriebenen Konflikts außer Betracht bleiben: Geht es darin um den Zwiespalt zwischen dem Erkennen und Wollen des Guten einerseits und dem bösen Tun andererseits, oder handelt es sich, wie Luther und Augustin (exegetisch zu Unrecht) annehmen, um das Widereinander zweier innerer Willenstendenzen (Geist bzw. Fleisch), wobei erstere (der Geist) dominiert und es zum Tun des Guten kommt, aber nur unter dem Widerstreben der dominierten Streberichtung (des Fleisches). Denn auch die erste (exegetisch richtige) Deutungsvariante muss, um das Tun des Bösen zu erklären, auf oft unbewusste böse Antriebskräfte und Motivationen im Menschen und insofern auf einen inneren Konflikt zurückgreifen.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 561 müssen, waren diese – so zeigt es die Praxis des Apostels – schnellstens abzustellen. Luther dagegen – und wir mit ihm in gewissem Maße immer noch – lebte in einer Volkskirche, in der man als Säugling getauft und so quasi als Christ geboren wird. Einen großen Wendepunkt, eine große Entscheidungsstunde gibt es in diesem Kontinuum christlicher Existenz in der Regel nicht. Hier liegt es nahe, dass der Christ ungleich stärker als zu Beginn des Christentums mit seiner noch bleibenden Sünde konfrontiert wird, welche er gerade auch in seinem Inneren, seinem Herzen noch entdeckt, ja ihm die Sünde als bleibende Natur des Menschen trotz seines Christseins aufgeht. Ist bei Paulus die Vergebung der Sünden primär in der einmaligen Taufe verortet,119 so wird sie bei Luther, eben weil die Sünde eine bleibende, ja tägliche ist, zur täglichen Vergebung. Die Frage, wie der Christ Vergebung erhält, und zwar nicht nur am Beginn seiner christlichen Existenz, sondern auch während ihrer ganzen Erstreckung, wird für Luther zur zentralen Frage, während sie bei Paulus kaum virulent war.120 Dabei ist festzuhalten, dass dieser Wandel schon seit urchristlicher Zeit vorbereitet und angestoßen worden war, insofern zunehmend »die Situation des Christwerdens auf die Situation des sündiggewordenen Christen bezogen wurde«, die Buße sich mehr und mehr »als zweiter hermeneutischer Zentralort kirchlichen Lebens« ausbildete und »Grundmotive der Umkehr in der Taufe zu Motiven der Buße« wurden.121 Althaus kennzeichnet deshalb den Unterschied Paulus verweist Christen, die sich schwerer Verfehlungen schuldig gemacht haben, nicht auf die Vergebung der Sünden durch Gott bzw. mahnt sie nicht, diese von neuem zu suchen. Er ruft sie vielmehr dazu auf, durch echte Umkehr den Missstand zu beseitigen. Die Vergebung durch Gott war ihm dann von der Taufe her wohl »selbstverständlich«, die Sünde aber keineswegs etwas »Alltägliches«. 120 Peters, Glaube, 254, erfasst die unterschiedliche Situation von Paulus und Luther mit einem von Letzterem selbst verwendeten Bild: Das eine war die Besiegung der Feinde und die Besetzung des verheißenen Landes durch die Stämme Israels, das andere die harte Zeit des Kampfes mit den im Land verbliebenen »Restvölkern«. Paulus stehe ganz unter dem Eindruck des allumfassenden Christussieges, während Luther (unter der Voraussetzung dieses Sieges) mit dem im Christen wieder sichtbar gewordenen alten Adam bzw. den »Sündenresten« zu kämpfen habe. 121 So Wilckens, Erklärung, 49 f. Diese Transformation der paulinischen Rechtfertigungslehre in einen neuen Kontext, derzufolge nun Sündenvergebung »nicht nur ein Thema des Christgewordenseins, sondern nun auch ein permanent akut bleibendes Thema des Christseins« darstellte (ebd., 51), hält Wilckens aus drei Gründen für gesamtbiblisch sachgemäß: Zum einen lässt schon Mt 26,28 erkennen, dass das entscheidende Taufmotiv »zur Vergebung der Sünden« auf das Abendmahl übertragen und dort immer neu aktualisiert wurde. Zweitens zeigt sich im Vaterunser, dass die Bitte um Sündenvergebung sehr früh zentraler Inhalt des täglichen Gebets war. Und schließlich konnte die urchristliche Gemeinde ihre eigene Situation in der alttestamentlichen Dialektik von Abfall und Sünde des Volkes bzw. einzelner seiner Repräsentanten (z. B. David) und von Gottes immer neuem Erbarmen wiedererkennen (50 ff.). Dass die Buße zu einem lebenslangen Vorgang wird (so Luther programmatisch in der ersten Ablassthese) markiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Mt 4,17, worauf Luther sich dafür bezieht, hatte demgegenüber noch »einen 119

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zwischen Paulus und Luther treffend, wenn er schreibt: »Paulus kommt von der Erkenntnis Christi zur Erkenntnis seiner Sünde, nämlich seiner Vergangenheit als Sünde. Luther gewinnt im Leiden unter der unüberwindbaren Sündhaftigkeit seiner Gegenwart die Erkenntnis Christi als der Rechtfertigung des Sünders. Dort: von Christus her zu der eigenen, vergangenen Sünde. Hier: mit der eigenen, gegenwärtigen Sünde zu Christus. Paulus bricht angesichts Christi mit seiner Vergangenheit, die ihm jetzt zur Sünde wird. Luther empfängt die Freiheit von seiner Gegenwart, sofern sie Sünde ist. Paulus wird bekehrt, Luther getröstet. […] Paulus ist als Mann bekehrt, Luther als Kind getauft worden. […] Es macht einen beträchtlichen Unterschied des Blickpunktes, ob jemand aus antichristlicher Haltung zu Christus bekehrt ist oder ob er inmitten christlicher Gläubigkeit die Not der Sünde und deren Lösung durch Christus erfährt. Christentum auf Grund von Bekehrung zu Christus und Christentum als bewusstes Ergreifen des Evangeliums innerhalb einer von Kind auf innerkirchlichen, durch die christliche Überlieferung bestimmten Geschichte und Haltung ist zweierlei. […] Dort erscheint das alte und das neue Sein wesentlich als Nacheinander von Vergangenheit und Gegenwart, hier dagegen als Miteinander, Widereinander in der Gegenwart. […] An die Stelle der Sukzession von Einst und Jetzt steht [bei Luther] das Simultaneum, das simul von Sünde und Gerechtigkeit.«122 Insofern ist die von Paul Wernle vorgenommene und von Althaus aufgegriffene Charakterisierung der Theologie des Paulus als »Missions- oder Bekehrungstheologie« und der Theologie Luthers als »Gemeindetheologie« durchaus noch hilfreich,123 weil sie die unterschiedlichen »Sitze im Leben« dieser Theologien auf den Punkt bringt: Mission und Bekehrung bzw. Missionstaufe einerseits, die volkskirchliche Gemeinde mit Kindertaufe und dem Problem der innerchristlichen Sünde andererseits. Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass Paulus in seinen Briefen vielfach gerade das Leben der

einmaligen, grundlegenden Vorgang« im Blick. So Stolle, Perspektiven, 163. Vgl. ebd., 161–167 u. o. Teil I, Kap. 3.1.1). 122 Althaus, Paulus, 81 f., 83 f. Zum Ganzen ebd., 80–84. Ähnlich auch schon Ihmels, Vergebung, 25 f.: »Die Sünde vor der Bekehrung erscheint ihnen [den frühen Christen] in den schwärzesten Farben, für die Gegenwart ist dagegen der Eindruck, daß alles neu geworden sei, so stark, daß das Bewußtsein fortdauernder Sündhaftigkeit mehr oder weniger zurücktritt. […] Das wird in dem Maße anders, als der Christ unter ernstem Ringen nach der Heiligung von seiner bleibenden Unvollkommenheit schmerzlich überführt wird«; 29. 123 Vgl. Wernle, Christ, 54: »Der Protestantismus ist dadurch, daß er diese Missionspredigt [des Paulus von der Sündenvergebung für den Glaubenden] als Gemeindepredigt verstand und für das ganze Evangelium erklärte, weit über Paulus hinausgegangen«; 79 f., 83 f., 95, 108: »Der vielgepriesene Rechtfertigungsglaube, aber ist bei Paulus ein Stück Missionstheologie, nicht der Regulator des Lebens in der Gemeinde«; 119: »Als ganzes genommen läßt sich die paulinische Theologie am einfachsten als Missions- oder Bekehrungstheologie charakterisieren, und zwar als enthusiastische, vom Blick auf die Parusie beherrschte«; Althaus, Paulus, 83 f.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 563 schon bestehenden Gemeinden (kritisch) in den Blick nimmt, aber er hat es dann mit erst seit kurzem bekehrten Christen zu tun.124

2.4.2 Herausbildung der abendländischen Subjektivität Die angesprochene deutlichere Konfrontation mit der bleibenden Sünde in einer volkskirchlichen Situation wurde gefördert durch die abendländische Entde­ ckung der Persönlichkeit und der Subjektivität, die zu einer schärferen Selbstbeobachtung und Introspektion führte. Diese Entwicklung war eng mit dem Namen Augustins verbunden, durch den, wie man sagte, das Ich sozusagen sprechen gelernt hat. Insbesondere in seinen »Confessiones« hat Augustin die Entwicklung seiner religiösen Persönlichkeit geschildert und dabei die Selbstanalyse des Ichs in bisher unbekannter Weise vorangetrieben. »Daß die abendländische Kultur Wilckens, Brief II, 105 ff. sieht den Umschwung in Augustins Deutung von Röm 7 – er wechselte von der traditionellen Interpretation auf den vorchristlichen Menschen zur Applikation auf den Christen – wesentlich durch den pelagianischen Streit veranlasst. Hinter Augustins antipelagianischer Position stehe aber der Versuch, der neuen Situation der »Reichskirche« Rechnung zu tragen: In ihr galt es deutlich zu machen, »daß und wie nicht nur der Eintritt in die Kirche, sondern das ganze Leben zwischen Taufe und Tod sola gratia bestimmt ist. Der Gnade kommt darum in dem Maße eine umfassende erziehende Funktion zu, in dem das Christentum als Staatsreligion seine Identität nicht mehr primär in der Bekehrung als Schritt aus der Welt in die Kirche, als vielmehr in der Durchdringung des gesamten Lebens in der Welt von der Taufe an durch die verändernde, heilende Kraft der Gnade erkennt. Das bestimmende theologische Anliegen kann jetzt nicht mehr der Anfang im vollen Glanz der Vollendung sein, sondern der lange, mühsame, aber aussichtsreiche Weg vom Anfang bis zur endlichen Vollendung, das schrittweise Wachstum der Verwirklichung christlichen Lebens aus der Gnade […]. In diesem Zusammenhang hat Augustinus im Text von Röm 7 die ganze existenzielle Not durch den Apostel gleichsam geadelt erkannt, die sich generell in der Kirche als Reichskirche überall erhob: die Not, daß nicht nur faktisch alles ›Heidentum‹ sozusagen in die Kirche übernommen worden war, sondern daß eben auch die Sünde der Welt im Leben des einzelnen Christen weiterwirkt und der Wirkung der Taufe widerstreitet.« (105 f.) Wenn Augustin den Literalsinn von Röm 7 verfehle, so hat er doch in einer neuen Erfahrungssituation den Grundgedanken des Apostels bewahrt und profiliert: die »Superiorität der Gnade über die Sünde« (106), sei es nun ante oder post Christum. Daraus dürfe aber – so Wilckens – kein »faktisch bleibendes ›simul iustus et peccator‹« abgeleitet werden, sondern der gegenwärtig erfahrene Widerstreit von Röm 7 im Christen müsse je neu aus der Vergebungsgnade überwunden werden und zum Tun des Guten führen (116 f.). – Vgl. auch Hübner, Rechtfertigungstheologie, 97 f., der ebenfalls zwischen der Missionssituation des Paulus und heutiger Volks­kirche unterscheidet. Es ist »also die Situation von Röm 8 nicht die Situation unserer heutigen Volkskirche. Eine bewusste Bekehrung der Menschen aus der versklavenden Hamartia-Herrschaft in den sündenfreien Bereich, um dort eine Existenz im Heiligen Geist zu führen, ist zumindest für die heutige Kirche, insofern sie Volkskirche ist, in der Regel nicht gegeben. […] Wir wissen aber zur Genüge, dass de facto unsere Volkskirchen keineswegs jenes Ideal einer Kirche verwirklichen, das Paulus vor Augen hatte. Immer wieder sind getaufte Christen als Sünder auf Rechtfertigung angewiesen.« (98) 124

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

eine Kultur der Persönlichkeit und der Reflexion geworden ist, verdankt sie dem Einfluß Augustins«125. Weiter wurde durch die Beichtpraxis des Mittelalters, durch das Mönchtum mit seinem Gebets- und Meditationsleben sowie durch die Mystik die Introspektion des Menschen vorangetrieben und so der kritische Blick auch in das menschliche Innere gelenkt. Gerade in der monastischen Theologie findet sich deshalb der bei Augustin angelegte und explizit von Gregor dem Großen vertretene Gedanke, dass schon die ersten, außerhalb der Kontrolle und vor der willentlichen Einstimmung des Menschen liegenden bösen Regungen (primi motus, propassiones) als lässliche Sünde zu werten seien.126 Karl Holl sprach deshalb von einer durch die genannten geschichtlichen Mächte bewirkten »Verfeinerung des Persönlichkeitsgefühls«.127 Diese Entwicklung darf dabei nicht als eine ausschließlich psychologische verstanden werden, sondern muss in ihren theologischen Implikationen gesehen werden:128 Dem immer tieferen Weg nach innen, der zunehmenden Erforschung des eigenen Seelenlebens geht ein immer intensiver werdendes Stehen vor Gott und seinem Gericht parallel. Das Gewissen wird zum Ort der unverstellten Gottesbegegnung im Lichte des göttlichen Gesetzes. Der Mensch erkennt sich in seiner Verantwortlichkeit und Sünde vor Gott, ja er sieht sich jetzt schon vor das göttliche Gericht gestellt und stellt vermehrt die Frage nach seinem persönlichen Heil. Luthers Frage: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« bringt dies auf den Punkt. Dabei ist bei ihm diese Frage mit dem klaren Bewusstsein verbunden, dass Gott nach dem Inneren, nach dem Herzen richtet.129 So entdeckt Luther im Zentrum der Person die Sünde als subtile Ichliebe und Ichverfallenheit. Ihm hat sich »der weite Innenraum der Seele aufgetan. In ihm haust das eigene Ich mit seinem Willen zur Selbstbehauptung«130. Luthers von Loewenich, Augustin, 11. Vgl. ebd., 20 f.; Heimsoeth, Themen, 96–103. Vgl. dazu Saarinen, Klostertheologie, 272–276. 127 Vgl. Holl, Rechtfertigungslehre im Licht, 534: »Zwischen Paulus und Luther steht das Mönchtum, steht Augustin, steht die Beichtübung und die Mystik. Diese Mächte haben die Verfeinerung des Persönlichkeitsgefühls bewirkt, die Luther von Paulus unterscheidet und die reichere Ausgestaltung seiner Rechtfertigungslehre veranlaßt.« So erfahre Luther die Spannung von Gericht und Gnade »persönlicher, lebendiger und deshalb zugleich mehr als dauernde«. 128 Darauf hat Lohse, Lutherdeutung, 26–31, gegenüber Althaus hingewiesen. Dennoch ist insgesamt der Vorwurf einer »Psychologisierung« des Problems, wie er etwa von Oechslen, Kronzeuge, 29, gegen Althaus erhoben wird, nicht gerechtfertigt. 129 Vgl. DB 7,3,23–5,2: »Gott richtet nach des herzten grund, Darumb foddert auch sein Gesetz des hertzen grund, und lesset jm an wercken nicht begnügen.« 130 Peters, Glaube, 135. Vgl. ebd.: Die Alternative: Gott oder Satan, Glaube oder Unglaube, Hingabe an die fremde Gerechtigkeit Christi oder Selbstbehauptung »treibt Luther vor bis in die subtilsten Gedankengänge, die feinsten Schwingungen des Herzens, die leisesten Regungen des Unterbewußten«. Ferner ebd., 9–12, 25 f., 29, 137–158, 236 f., 254 u. ö. Nach Peters »geht Luther [hierin] sicher über Paulus hinaus, und doch führt er nur eine Bewegung weiter, die in der Schrift selber anhebt und in Augustins Theologie fast schon die dann bei Luther sichtbare Gestalt gewonnen hat. Die Kontinuität darf nicht übersehen 125 126

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 565 vielfach von ihm selbst bezeugte Anfechtungserfahrungen haben darin ihren tiefsten Grund und lassen sich als Antizipationen des jüngsten Gerichtes interpretieren.131 Wenn Krister Stendhal von der Herausbildung eines »introspektiven Gewissens« (introspective conscience) in der westlichen Welt spricht und deren »theologischen Höhepunkt« in Luther erreicht sieht, so hat er damit durchaus eine faktisch gegebene Entwicklung treffend auf den Punkt gebracht.132 werden.« (ebd., 155) Siehe auch Grundmann, Römerbrief, 75–89, 161 f., 166–170; McCue, Simul. – Wilckens, Brief II, 109, versteht den Schritt von Paulus zu Luther als »Generalisierung« der klösterlichen Beichterfahrung im »normal-bürgerlichen Frömmigkeitsleben«: »Dieses ist nämlich nun einerseits unter den Total-Anspruch individueller Verwirklichung des Christseins gestellt, so daß die tägliche Beichte den Charakter klösterlicher Besonderheit verliert und zum zentralen Lebenselement persönlicher bürgerlicher Frömmigkeit erhoben wird; andererseits erfährt der einzelne in ebenso persönlicher Adressierung an sich selbst den bedingungslosen Vergebungszuspruch als eine bislang so nie erfahrene persönliche Entlastung mitten in der – als so unheilig bewußten – Wirklichkeit seines irdischen Alltagslebens. Diese kann nun im Spiegel von Röm 7, zwar mit dem Schmerz der Buße, aber ohne vernichtende Scham in seiner [sc. ihrer!] ganzen Realität angeschaut und im Glauben ertragen werden.« 131 Vgl. dazu Peters, Glaube, 40–59. 132 Vgl. Stendhal, Apostel, 23, 30 f. (Englisches Original: Apostle, 205, 214 f.). So sehr man Stendhal in der Nachzeichnung des tatsächlichen Entwicklungsverlaufs weitgehend zustimmen kann – als Weg zu »verschärfter Introspektion« (more acute introspection) und »durchdringender Selbstprüfung« (22; penetrating self examination: 203; wir korrigieren hier die deutsche Übersetzung »penetrante Selbstprüfung«; sie klingt zu pejorativ) sowie zu einer Intensivierung des Schuldbewusstseins und der Gewissensnot, zu welcher Luther dann die befreiende »Lösung« fand –, so ist doch davon die Frage der Bewertung dieser Entwicklung zu unterscheiden. Wir schätzen sie im Wesentlichen positiv ein, nicht nur als geistesgeschichtlichen Fortschritt, sondern als letztlich auch in der menschlichen Konfrontation mit dem »Gesetz« Gottes selbst angelegt und insofern bei Paulus zumindest impliziert (vgl. Röm 3,20; 7,7). Auch Paulus weiß bereits, wie Theißen, Aspekte, 66–120, aufgezeigt hat, um das Unbewusste im Menschen und rechnet mit der Möglichkeit unbewusster Schuld (z. B. 1.Kor 4,1–5). Stendhal dagegen sieht das »introspektive Gewissen« vorwiegend kritisch, nämlich als Individualisierung der ursprünglich heilsgeschichtlich-ethnisch gemeinten Rechtfertigungslehre des Paulus: Aus der Frage nach dem Verhältnis von Juden(christen) und Heiden(christen) und dem Modus der Einbeziehung der Heiden in das messianische Gottesvolk wurde die Frage nach dem Heil des Einzelnen und seiner Befreiung aus dem angefochtenen Gewissen, ein Konflikt, den man fälschlicherweise in Röm 7 hineingelesen habe. Paulus selbst kannte die Gewissensnöte Luthers nicht, er habe vielmehr ein »robustes Gewissen« (20, 27) gehabt. Deshalb entspreche das simul iustus et peccator nicht seiner persönlichen Haltung, ohne völlig unpaulinisch zu sein (21). Die westliche Transformation des Paulus schließt für Stendhal die Generalisierung der Tora zu einem universal-existentialen Menschheitsgesetz, ja sogar zu einer religiösen »Gesetzlichkeit« sowie die Behauptung ein, dass ein durch das Gesetz »überführtes Gewissen« (25) die unabdingbare Voraussetzung für den Eintritt in die Kirche darstelle. Obwohl Stendhal dem Weg von Paulus zu Luther nicht jedes Recht abzusprechen scheint (30 f.), möchte er doch die durch den Rückgang von der »Übersetzung« zum »Original« sichtbar gewordene »neue Perspektive« fruchtbar gemacht sehen: Das »paulinische epha-

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Im Blick auf das Sündenverständnis kann man folglich den Weg von Paulus zu Luther mit Johannes Gottschick als Verschärfung bzw. Intensivierung des Maßstabes für das, was als Sünde zu gelten hat, begreifen: Paulus und Luther beurteilen »denselben Tatbestand«, nämlich das durch Christus erneuerte, aber noch angefochtene und deshalb kämpfende christliche Leben, unterschiedlich: »Paulus hat als Sünde im Zusammenhang des Christenlebens nur die offenkundigen Rückfälle in Sünden der Sinnlichkeit und Selbstsucht bezeichnet, dagegen das Nochnichterreichthaben der extensiven und intensiven Vollendung des Gottvertrauens, der Liebe, der Heiligung des gesamten Lebens, die ihm als das Ziel seines christlichen Strebens vor der Seele stand, und den Kampf mit den sich fühlbar machenden Reizen und Widerständen des Fleisches nicht so angesehen. Luther dagegen vertritt mit unbeugsamer Strenge gegenüber der Schultheologie den Standpunkt, daß jedes Zurückbleiben hinter eben diesem paulinischen Ideal der Vollkommenheit, auf das der Dekalog hinausführt, an sich verdammliche Sünde sei.«133 Dabei versuchten wir herauszustellen, dass diese Intensivierung der Selbstbeurteilung bei Luther insofern bei Paulus schon angelegt ist, als er die Konkupiszenz im umfassenden Sinn oder das Sich-Rühmen vor Gott als Sünde qualifiziert, ohne diese Feststellung in ihrer Relevanz für den Christen und das auch bei ihm noch vorhandene »Begehren« zu bedenken. Paulus wendet faktisch seinen strengeren Sündenbegriff auf die Christen nicht an!134 pax« kann nicht auf den einzelnen Glaubenden eingeengt werden. Ein »ständiges intro­ spektives Bewusstsein von Sünde und Schuld« ist nicht die »einzige Tür in die Kirche«, und das Judentum darf christlich nicht als »Gesetzesreligion« verzeichnet werden (31). Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, ohne dass man dem anthropologisch-individuellen Ansatz Luthers jede Legitimität absprechen muss. Dagegen spricht z. B. der ausführliche Blick auf den einzelnen Abraham als Paradigma der »Rechtfertigung des Gottlosen« in Röm 4. 133 Gottschick, Paulinismus, 438 f. (Hv.). Siehe ebd., 420–424, 427, 438–441, 445–448, bes. 447: Luther empfand auch als Glaubender »den immer noch vorhandenen Abstand seines Innenlebens vom Ziel der Vollkommenheit als Sünde und als – nach strengem Recht – verdammliche Sünde«. Damit ist für Gottschick auch erwiesen, dass Luthers simul gegenüber Paulus keine »Ermäßigung« des Christseins in ethischer Hinsicht bedeutet, sondern nur auf jenen »verschiedenen« bzw. »höheren Maßstab« seiner Beurteilung verweist. Ähnlich auch Althaus, Paulus, 93 f., bes. 94: »Der Blick in die Seele ist [bei Luther] eindringlicher, die Reflexion schärfer, und damit die Beurteilung strenger geworden.« Bultmann, Christus, 47, kommt deshalb zu dem Schluss, »daß sich die Situation des Juden, die Rm. 7,15 ff. gezeichnet war, beim Christen auf neuer Ebene wiederholt. Luthers Auffassung von Rm. 7,15 ff. ist zwar exegetisch falsch, aber sachlich nicht unpaulinisch.« 134 Auch Gottschick betont einerseits, dass das böse Begehren des Fleisches für Paulus an sich noch nicht Sünde sei, wenngleich es dem christlichen »Ideal« widerspricht, sondern erst die Einwilligung in die Begierde. Andererseits muss er aber einräumen: »Man darf deshalb nicht meinen, daß Paulus Murren wider Gott, Unterlassen des Gebets, Selbstgefühl gegenüber Gott usw. nicht für Sünde für den Christen gehalten habe.« Paulus verzichte aber offenbar darauf, diesen strengeren Sündenbegriff auf die Christen anzuwenden. »Daß aber das Ideal, dem er als Christ nachstrebt und das er andern vorhält, höher liegt als der

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 567 Dass die Differenz zwischen Luther und Paulus in erster Linie mit Luthers verschärftem Aufmerken auf die innere Sünde des Herzens zusammenhängt, wird dadurch bestätigt, dass der Grund für Luthers Klosteranfechtungen bzw. für die Tatsache, dass er sich vor Gott als Sünder fühlte, für ihn ja nicht darin lag, dass er Defizite in seiner ethischen oder religiösen Praxis zu beklagen gehabt hätte, also an seinem Tun gescheitert wäre.135 Vielmehr betont Luther immer wieder, dass er als Mönch untadelig gelebt und sich keiner groben moralischen Verstöße schuldig gemacht habe. Wenn er dennoch vor Gott nicht zur Ruhe kommen konnte, so lag das daran, dass er die Grundsünde in seinem Herzen, die subtile Selbstliebe und darin den Unglauben gegenüber Gott, ja den Gotteshass bei sich entdeckte, selbst, ja gerade dann, wenn er alle göttlichen Gebote zu erfüllen trachtete.136 Hier tat sich ihm eine strukturelle Aporie auf: Solange der Mensch, ausMaßstab, nach dem er die Sünde beurteilt, die im christlichen Leben nicht mehr vorkommen soll, ist nun aus der besonderen Situation des Apostels und der von ihm Bekehrten wohl begreiflich.« (423; vgl. 427) – Grundsätzlich negativ und als bedauerliche Abwendung von Paulus beurteilt Adolf Schlatter Luthers »Wendung nach innen«. Diese führe zu einer Spiritualisierung des Sündenbegriffs, die mehr nach den inneren, selbstsüchtigen Motiven des Bösen (und deren Heilung) als nach seiner zerstörerischen Wirkung auf die sozialen Bezüge frage. Wie analog dazu dann die »Gerechtigkeit Gottes« einseitig als innere »Glaubensgerechtigkeit«, als »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«, begriffen und in der Sündenvergebung fokussiert und nicht mehr wie bei Paulus als Gottes schöpferisches, heilschaffendes Tun an der Menschheit ausgelegt werde, welche die tathafte Gerechtigkeit und Liebe der Christen freisetze. Vgl. ders., Deutung, 24: Luther »vertrat den Satz mit der Wahrheitsmacht des Erlebnisses, daß der Glaube nur dadurch entstehe, daß wir von unsren selbstischen Begierden befreit werden, und nur dann bestehe, wenn uns nicht das eigensüchtige Motiv, sondern die Liebe bewege. Dennoch fand er nicht in der Anleitung zum Werk der Liebe, das den göttlichen Willen vollbringt, den Zweck des [Römer]Briefs, wandte vielmehr unsren Blick von unsrem Handeln weg nach innen, damit wir verständen, wie der Glaube werde. Warum? Weil er das selbstische Begehren wirksam vernichten und ihm nicht gestatten wollte, daß es sich unsre Liebe dienstbar mache und sie zur Eigenliebe verderbe. Darum verharrt er im Anblick der Sünde, der uns zum Glauben bewegen muß. Begleitete er aber so den Brief bis zu seinem Ziel? Paulus war nicht von der Furcht gehemmt, die die Wirkung des Geistes deshalb nicht aufzuzeigen wagt, weil sie zur Steigerung unsres selbstischen Willens mißbraucht werden kann« (Hv.); 36: Luthers Auslegung verwandelte die geschichtlichen Rückblicke des Paulus in »psychologische Betrachtungen, die die Sünde im stets vorhandenen Grund unsres seelischen Lebens nachwiesen. Blieb diese Auslegung Paulus damit verbunden, dass sie mit dem Urteil ›Sünde‹ die absolute Verwerflichkeit unsres Handelns aussprach, so schied sie sich doch deshalb von Paulus, weil er von der Sünde nicht abstrakt sprach, sondern die griechische und jüdische Sünde beschrieb und sie nicht in den Anfängen des Willens, sondern in dem das Leben der anderen übergreifenden und zerstörenden Handeln fand.« (Hv.) Ferner ebd., 58 f., 64–67, 72 f.; ders., Gerechtigkeit, bes. 123–135, 144 f., 154 f., 212 ff., 221 f., 224–252. Zur kritischen Würdigung Schlatters vgl. Althaus, Verhältnis. 135 Luther erweicht somit in keiner Weise das, was Paulus von einem Christen lebens­ mäßig erwartet! 136 Vgl. 54,185,21–24: »Ego autem, qui me, utcunque irreprehensibilis monachus vivebam,

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gehend von der (durchaus gottgewollten) Vorstellung, dass Gottes Gerechtigkeit die den Sünder strafende Gerechtigkeit ist, das Gute nur tut, um der göttlichen Strafe zu entgehen bzw. den göttlichen Lohn zu empfangen, liebt er dabei immer noch sich selbst und nicht Gott von ganzem Herzen und verfehlt gerade so die Grundintention des Gesetzes, Gott ungeteilt zu lieben (5.Mose 6,5; Mk 12,30). Auf diese Weise gerät er jedoch immer tiefer in die Sünde und die Sündenangst hinein.137 Aus diesem »Teufelskreis« wird Befreiung erst möglich, wenn der Gerechtigkeitsbegriff selbst »durch Gottes Barmherzigkeit«138 sich wandelt und die Gerechtigkeit Gottes als schenkende, als den Sünder »umsonst« gerechtmachende Gerechtigkeit verstanden wird, so dass der Mensch nun, da durch solche (im Wort zugesagte) Gerechtigkeit Gottes Glauben und Vertrauen in ihm geweckt wurde, fähig wird, Gott und den Nächsten (anfänglich) zu lieben.139

2.4.3 Wegfall der urchristlichen Naherwartung Als drittes Moment wird man schließlich benennen dürfen, dass Paulus in einer ausgesprochenen Naherwartung lebte, aus welcher heraus er noch zu seinen Lebzeiten die baldige Wiederkunft Christi, das letzte Gericht und den Anbruch des Reiches Gottes erwartete. Trotz der Unhaltbarkeit der einseitigen These Paul Wernles, dass Paulus eine theoretische Sündlosigkeit des Christen vertreten habe, wird man ihm zugestehen müssen, dass er mit Recht auf diesen eschatologischen Charakter der Verkündigung des Paulus hingewiesen hat. Nach Wernle ist für Paulus der neue Äon, das ewige Leben schon angebrochen, wie er es persönlich in seiner Bekehrung erfahren hatte, und beides wird in Kürze bei der Parusie des

sentirem coram Deo esse peccatorem inquietissimiae conscientiae, nec mea satisfactione placatum confidere possem, non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum.« – Aus den zahlreichen Zeugnissen Luthers über seine Untadeligkeit als Mönch siehe nur 40 I,134,2–8; 137,3–138,6 (Hs); 49,529,15–20: »Ich war nicht mit weiber, geld, gut beladen, non Tyrannus, voveram 3 vota und hette mich selbs erwürget. Ich war heilig, schlug niemand tod quam me. Ich gieng hoch her, wolt mich unserm herrn Got mit leib und seel opffern. Es war ein grosse, treffliche geistlikeit, war ein großer heiliger orden, et tamen fui der fleichlichste tropff in terris. All mein leben ist eitel fleischlich ding, et si mortuus, were in abgrund.« Die Untadeligkeit Luthers wurde auch von anderen bestätigt, z. B. im Bericht eines Erfurter Klosterbruders: »Affirmabat is […] Martinum Lutherum apud ipsos sancte vixisse, exactissime regulam servasse et diligenter studuisse.« (Scheel, Dokumente, 201 [Nr. 534]) 137 Es ist durchaus zuzugestehen, dass Paulus, soweit wir wissen, weder vor noch nach seiner Bekehrung solche Erfahrungen, die sich für Luther auch nach seiner »reformatorischen Entdeckung« immer wieder einstellten, gemacht hat, wenngleich sie natürlich an seiner Aussage, dass das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde führe, ja die Sünde provoziere, anknüpfen können. 138 54,186,3: »miserente Deo«. 139 So wird man Luthers reformatorische Entdeckung anhand von Röm 1,17 beschreiben können. Vgl. 54,185,12–186,20. Dazu Härle, Paulus, 377–382.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 569 Herrn vollendet werden. Christen sind schon messianische Menschen, die ihrer baldigen Vollendung entgegenharren. Als solche haben sie nicht nur Vergebung empfangen, sondern den »totalen Bruch« mit der Sünde vollzogen.140 Aus diesem »eschatologischen Enthusiasmus« ergibt sich für Paulus nach Wernle zweierlei: Einmal Christen können aus der Kraft Gottes heraus bis zur nahen Parusie sündlos leben.141 Treten dennoch (schwere) Verfehlungen in der Gemeinde auf, so sind diese umgehend, auch durch exzeptionell-aktuelle Kirchenzucht, zu beseitigen, damit die Gemeinde untadelig für den wiederkommenden Christus bereitstehe. An der Möglichkeit solcher schnellen Beseitigung der Sünde habe Paulus aufgrund seines großen Optimismus stets festgehalten,142 ja er vermochte die Sünde des Christen »aus seiner enthusiastischen Parusiehoffnung« theoretisch gar nicht anzuerkennen, so sehr er auch mit ihr empirisch-praktisch konfrontiert wurde.143 Zum andern – so Wernle – konnte für Paulus das Problem der Sünde des Christen, gar seiner bleibenden Sünde, eben wegen jener eschatologischen »Zeitknappheit« gar nicht aufkommen, ebenso nicht die Frage, wie der Christ angesichts seiner Sünde Vergebung von Gott her zu erlangen vermöchte. Paulus »rechnete nur mit seiner Generation; daran daß die Sünde je in der Gemeinde dauernd wohnen könnte, hatte er keinen Gedanken«. »Die für uns so wichtige Frage: wie der Christ, wenn er sündigt, Frieden mit Gott findet, hat Paulus nicht einmal gestreift, weil er die Sünde von seiner Beschreibung des Christenlebens ausschloß. Dies alles erklärt sich stets am einfachsten aus dem enthusiastischen Glauben an den Anbruch der messianischen Periode.«144 Vgl. Wernle, Christ, 20–25. Vgl. Wernle, Christ, 28 f.: «Seit ihrer [der Thessalonicher] Bekehrung ist eine so kurze Spanne Zeit verflossen, und die Sünde ist noch nicht bei ihnen eingekehrt; die kurze Frist, die bis zur Parusie noch aussteht, können und sollen sie sündlos leben. […Es] wird vollends klar, warum das ganze Problem der Sünde in der Gemeinde für ihn [Paulus] nicht da ist. Bekehrung und Parusie folgen sich in allernächster Nähe; in der kleinen Zwischenzeit soll die Sünde keinen Platz im Christen bekommen; denn Gott hilft durch zum Ziel«; 30 f.: »Es ist einfach die urchristliche Gerichtserwartung, die das ganze Leben der Christen in Spannung und Zucht halten soll. […] Dies ist das eigentlich Paulinische dieses Briefs [sc. 1.Thess]: die Zuversicht, daß Gottes Gnade in der kurzen Zeit bis zur Parusie die Christen vor der Sünde bewahren werde;« 102 f.: »In der kurzen Frist bis zum völligen Zusammenbruch dieser Welt hat der Christ die Kraft, Gott zu leben und von der Sünde frei zu sein;« 119. – Gottschick, Paulinismus, 421, bemerkt hierzu kritisch, dass es gering von der Gnade und Treue Gottes zu denken bedeutet, dass sie nur für eine kurze Zeit vor der Sünde bewahren könne, nach dem Motto: »Wenn die Zeit länger wäre, so wäre es anders«. 142 Vgl. Wernle, Christ, 45: »Für Paulus wurde er [sein großer Optimismus] durch die Gewißheit der Nähe der Parusie ungeheuer verstärkt. Es dauert nur noch kurze Zeit; das reicht gerade noch, um Störungen wegzuräumen; bis der Herr kommt, ist alles wieder gut. […] Ein wirkliches Problem der Sünde in der Gemeinde gab es für den Apostel überhaupt nicht infolge seiner starken Hoffnung.« 143 Wernle, Christ, 121. Vgl. ebd., 123. 144 Wernle, Christ, 90, 77. Vgl. ebd., VIII, 72: »Die Nähe der Parusie, der optimistische 140 141

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Wie immer man Wernles Rekonstruktion der paulinischen Verkündigung im Einzelnen auch bewerten mag, nachvollziehbar bleibt doch dreierlei: Einmal, dass Paulus tatsächlich in einer gespannten Naherwartung lebte. Dies gilt unbeschadet, ja wegen des anderen Tatbestandes, dass er ebenso von der Gegenwart des eschatologischen Heils durch Jesu Tod und Auferstehung, dem Anbruch des neuen Äons überzeugt war, welcher aber noch der Vollendung entgegen harrt. Im ältesten erhaltenen Paulusbrief erwartet der Apostel den »Jüngsten Tag« wie »einen Dieb in der Nacht« (1.Thess 5,2.4) und rechnet damit, »die ›Parusie‹, d. h. die Ankunft des Herrn am Ende der Tage, bei seinen Lebzeiten zu erleben«145 (1.Thess 4,15 ff.). 1.Kor 7,29 heißt es: »Die Zeit ist kurz«, und Phil 4,5 sagt Paulus: »Der Herr ist nahe.« Auch in seinem letzten Brief hält der Apostel an der Naherwartung fest: »Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.« (Röm 13,11; vgl. 13,12).146 Zweitens ist ebenso plausibel, dass die »Zeitknappheit« angesichts des Jüngsten Gerichts und der Wiederkunft Christi einen enormen ethischen Impuls auslöste sowie zu einer Anspannung aller sittlichen Kräfte führte, die freilich ebenso wesentlich getragen und ermöglicht war durch die schon gegebene Präsenz des eschatologischen Heils. Die Sünde ist dann tatsächlich im Leben der Christen eine verschwindende Realität bzw. etwas Exzeptionelles, wie umgekehrt es psychologisch nachvollziehbar ist, dass das sittliche Engagement erlahmt, wenn jene Naherwartung mehr und mehr nachlässt.147 Paulus begründet denn auch seine Paränese nicht nur mit dem Blick auf den schon gegenwärtigen Heilsstand der Christen (Röm 12,1 f.; Gal 5,1.13.25), sondern auch mit der bevorstehenden Parusie bzw. dem nahen Gericht oder Reich Gottes (1.Thess 4,6 ff.; 5,1–11; 1.Kor 6,9 ff. [jeweils beide Begründungsstränge]; Phil 4,4 ff.; Röm 13,11–14).148 Drittens ist aus Glaube des Apostels an die Bewahrung der Gemeinde durch Gottes Treue ließ es zu irgendeiner Theorie darüber [über die Sündenvergebung für Christen] nicht kommen. Die Zeit ist ja zusammengedrängt, die Gestalt dieser Welt vergeht. Noch über ein Kleines – und der Retter erscheint, um die Seinen zu sich zu holen. Thut bis dahin die Gemeinde das Ihrige, entfernt die groben Sünder durch Buße und Bann, und vertreibt auch alle kleinen Mängel und Gebrechen – und das wird sie thun –, so ist weder für den Einzelnen, noch für die Gesammtheit etwas zu fürchten«; 114 f., bes. 115: »[…] daß wirklich die Nähe des Endes das Problem der Sünde der Christen für den Apostel nicht aufkommen ließ.« 145 Kümmel, Theologie, 127. Vgl. ebd., 126 ff. 146 Zu erwägen ist freilich, ob Paulus Phil 1,21–26 damit rechnet, dass sein Tod vor der Parusie eintreten könnte (vgl. 2.Kor 5,1–10), was für eine Ansetzung des Phil nach dem Röm spräche. Jedoch könnten diese Verse durch die konkrete Todesgefahr des Paulus während der Gefangenschaft bedingt und nicht in einer grundsätzlichen Aufgabe seiner Erwartung, die Parusie noch im irdischen Leib zu erleben, begründet sein, zumal sich diese Erwartung Phil 3,13 f.20 erneut findet. Vgl. Walter, Brief, 15 f., 43 f. 147 Wernle, Christ, 114 nennt die Parusiehoffnung »den Regulator des Christenlebens«. Das Gemeinte kann auch durch folgende psychologische Überlegung plausibel gemacht werden: Jeder von uns würde intensiver, tiefer und verantwortungsbewusster leben, wenn er wüsste, dass seine Lebenszeit nur noch kurz bemessen wäre. 148 Von einer »eschatologischen Begründung« der Paränese bei Paulus geht auch Schra-

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 571 dieser Naherwartung heraus verständlich, dass das Augenmerk hauptsächlich auf die äußeren Tatsünden gerichtet ist, die es bis zur Parusie zu vermeiden bzw. zu beseitigen gilt, aber auf die inneren bösen Regungen nicht oder kaum reflektiert wird bzw. die Sünde überhaupt nicht als etwas Bleibendes, auch dem Christen naturhaft Anhaftendes erkannt wurde. Umgekehrt leuchtet es ein, dass in der länger fortlaufenden Kirchengeschichte die extensive und intensive Permanenz der Sünde in Kirche und Christenleben zu Bewusstsein kommen konnte und musste.149 ge, Ethik, 184–191, aus und unterscheidet sie von deren christologischer, sakramentaler und pneumatologisch-charismatischer Begründung (175–184), wobei die Christologie das fundamentale und sich durchziehende Moment darstelle. Die Parusiehoffnung sowie die Erwartung des Gerichts führe bei Paulus nicht zu Quietismus und Weltflucht, sondern zum »Ernstnehmen der befristeten Zeit und der unerlösten Wirklichkeit dieser Welt«, wenngleich auch zu einer »Relativierung der Weltwirklichkeit als etwas Vorläufigem und Provisorischem« (186; vgl. 189). Ableitung der Paränese aus »eschatologischer Begründung« und dem »Heilsindikativ« stehen dabei in enger Nachbarschaft (185). Von Röm 13,11–14 gilt: »Das seinen Lichtschein und Glanz vorauswerfende Eschaton manifestiert sich im Schon der Ethik. […]. Ethik ist hier Konsequenz der Eschatologie, und zwar der futurischen Eschatologie« (186 f.). Das Aufkommen urchristlicher Ethik lässt sich für Schrage deshalb nicht erst aus der Parusieverzögerung bzw. dem Nachlassen der »eschatologischen Spannung« ableiten. »Bewährung ist Implikat und Folge der Erwartung, nicht ihr Ersatz. Hoffnungslosigkeit lähmt, Hoffnung aber mobilisiert«, wie auch der Gerichtsgedanke zur Verschärfung der ethischen Verantwortung herangezogen werde (188 f.; Zitat 189). Diese Sicht steht und fällt für Schrage allerdings nicht mit dem zeitlichen Moment im Sinne der Naherwartung, wohl aber mit dem Eschatologischen als solchem als der »bestimmten Erwartung des endgültigen Sieges Gottes und seines Christus« (187; vgl. 185). 149 Ähnlich urteilt Bultmann, Problem, 53: »Weil Paulus das Ende des gegenwärtigen Äons in Bälde erwartet, ist für ihn das Leben des Gläubigen in dieser Welt nicht im gleichen Maße zum Problem geworden wie für Luther. Davon, daß der Glaube täglich die Sünden tilgt, ist bei Paulus so wenig die Rede wie von der täglichen Buße und der immer neuen Vergebung.« Vgl. ders., Christus, 54. – Einschränkend ist hier freilich festzustellen, dass Luther selbst, besonders seit Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts, in einer ausgesprochenen Naherwartung lebte. Darauf hat Heiko A. Obermann in verschiedenen Publikationen mehrfach hingewiesen. Vgl. ders., Reformation, 162–188; ders., Luther, 75–81; 162–188; ders., Zwei Reformationen, 83–86, 111–125. Es war insbesondere Luthers 1520 erstmalig gewonnene Erkenntnis, dass der Papst der Antichrist sei, welche ihn zur nahen Erwartung des Jüngsten Tages und der Wiederkunft Christi führte. Luther sah seine eigene Aufgabe als Reformator deshalb darin, die wahre Kirche zu sammeln und für das Gericht bereit zu machen und der eigentlichen »Reformation« durch Christus selbst den Weg zu bereiten. Diese Sicht hat Luther zeitlebens aufrechterhalten. Dennoch wird damit die oben geschilderte Entwicklung vom Nachlassen der Naherwartung in ihrer Bedeutung für Luthers Sündenverständnis nicht hinfällig, weil Luther selbstverständlich in dieser Entwicklung steht und an ihr partizipiert. Man kann allerdings die Vermutung äußern, dass Luther die Bejahung des simul iustus et peccator durch Gott selbst um des sola gratia willen sowie im Blick auf die eschatologische Vollendung deshalb vertreten

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Alle voranstehenden Überlegungen versuchten den Nachweis zu führen, dass, unbeschadet des historisch anders gelagerten Sinnes von Röm 7,14–25, eine Applikation dieses Textes auf den (gegenwärtigen) Christen möglich ist, wenn man jene prinzipielle Aussage des Paulus über die Sündhaftigkeit der Konkupiszenz in Röm 7,7 f. beachtet, welche bei ihm in ihrer denkbaren Relevanz für den Christen noch nicht reflektiert ist, und wenn man die andersgeartete religionsgeschichtliche, kirchliche und anthropologische Situation nach Paulus in Anschlag bringt, wie sie für Luther gegeben war und für uns heute gegeben ist. Dann ist sowohl nachvollziehbar, warum man in Röm 7 immer wieder in verblüffender Weise die eigene conditio christiana wiedererkannte, als auch wie Luther zu seinem simul iustus et peccator kommen konnte, wenn nicht musste. Dann muss aber auch eine heutige Vertretbarkeit des simul zumindest als Möglichkeit zugestanden werden.

2.4.4 Hans Hübners Begründung des »simul« durch eine »geschichtliche« Paulusinterpretation Einen dem unseren strukturell verwandten Argumentationsgang hat Hans Hübner vorgelegt, wenn er Luthers simul iustus et peccator von einem seiner Konzentration auf das Individuum entledigten Begriff des peccatum remanens her für heutige Theologie fundieren möchte.150 Hübner geht – anders als wir – mit Althaus davon aus, dass Paulus die Konkupiszenz als solche noch nicht als Sünde definiert habe, sondern erst die Zustimmung zu ihr. Des Weiteren leidet es für ihn keinen Zweifel, dass Röm 7 und 8 nach Paulus für einen Menschen nicht gleichzeitig, sondern sukzessive gelten: Röm 8 beschreibt den gegenwärtigen Status des Christen, Röm 7 dagegen seine vorchristliche Vergangenheit bzw. die Situation der Menschen außerhalb des Leibes Christi. Dabei stellt Paulus in Röm 8 seinen Lesern durchaus die »sündenfreie Gemeinde« im Sinne des Entnommenseins aus dem Machtbereich der ἁµαϱτία vor Augen, was freilich einzelne, aber nicht dominierende Verfehlungen in der Gemeinde nicht ausschließt (97). Anders als die Menschen außerhalb der Gemeinde leben die Christen im Geist, nicht im Fleisch. Luther hingegen hat nun – so Hübner – in seinem simul iustus et peccator die Aufmerksamkeit v. a. auf die anthropologische Konstanz des individuellen peccatum bzw. der Konkupiszenz des Einzelnen gelenkt. Er ist insofern eher am paulinischen Begriff der σάϱξ als des »je individuellen Ortes der Macht der Sünde« (98) als an der quasi kosmischen Macht der ἁµαϱτία selbst orientiert. Den Machtcharakter der Sünde interpretiert Luther wesentlich in diesem Horizont. Nun hat sich aber nach Hübner in der gegenwärtigen Weltlage ein folgenschwerer »Paradigmenwechsel« (97, 99) im Blick auf die Rechtfertigung bzw. die Existenz konnte, weil er damit rechnete, dass die verbleibende Weltzeit nur noch kurz ist und sich dem Ende nähert. 150 Vgl. Hübner, Rechtfertigungstheologie, 99–103. Siehe auch die ähnlichen Überlegungen von Miggelbrink, Simul, 147 ff., zu einem ausgeweiteten Verständnis des »peccatum adhaerens mihi«.

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 573 der Kirche eingestellt: Wir können nicht mehr wie Paulus davon ausgehen, dass die Kirche dem überindividuellen Machtbereich der ἁµαϱτία völlig entnommen ist, er mithin nur noch in der außerchristlichen Menschheit herrsche und sich so eine klare Zweiteilung der Menschheit einstelle. Vielmehr sei die Welt bzw. die Macht der ἁµαϱτία in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß heute in die Kirche selbst eingedrungen und in ihr präsent, wie umgekehrt auch der Christ bzw. die Gemeinde noch in der Welt existieren und im Einflussbereich der ἁµαϱτία leben. Deshalb vermag hier tatsächlich im Blick auf die Christen von den simul iusti et peccatores gesprochen zu werden, wie auch die von Luther vertretene Gleichzeitigkeit von Röm 7 und 8 für uns wieder plausibel wird.151 Eine aktualisierende, geschichtliche Interpretation des Paulus macht es heute also erforderlich, den von ihm klar erkannten transpersonalen Machtcharakter der Sünde nicht mehr auf die vor- und außerchristliche Menschheit zu beschränken, sondern auch auf die christliche Existenz und Gemeinde in gewissem Maße auszuweiten. Dabei wird in diesem Horizont – so darf man Hübner wohl verstehen – kaum eindeutig zu differenzieren sein, ob diese ἁµαϱτία in den Christen bloß als »Versuchung« zur Sünde (= Konkupiszenz) oder schon als aktuelles Schuldigwerden oder gar strukturelles Sündersein zu qualifizieren ist. Jedenfalls kommt Hübner zu dem Schluss: »Nach dem theologischen Denken des Reformators lebt im Christen die Macht der Sünde, heute lebt der Christ nach dem auf die Gegenwart applizierten Denken des Paulus im Machtbereich der Sünde. […] Die in die heutige Situation der Kirche transferierte theologische Vorstellung des Paulus von der Macht der Hamartia und die theologische Vorstellung Luthers von der concupiscentia als peccatum sind, was in der Begrifflichkeit auseinanderfällt, als Existenz-Verhalt die eine Wirklichkeit.« (102 f.) Wenngleich mit einem im Vergleich zu Luther ausgeweiteten Begriff von Konkupiszenz bzw. peccatum operierend, begründet Hübner mithin ebenso wie wir das simul von Paulus her nicht »einlinig« (100), sondern in einer vermittelten Weise, wonach »entscheidende Aussagen des Paulus […] über die damalige Situation, in die er hineingeschrieben hatte«, so aus ihr herausgenommen werden, »dass der eigentliche theologische Inhalt bewahrt und auf unsere Zeit in geschichtlicher Interpretation appliziert« wird. Nur eine solche Vorgehensweise, »die in der Verantwortung vor der geschichtlichen Veränderung geschieht« (103; Hv.), bewahre Paulus davor, zu einer bloß musealen Größe der Vergangenheit ohne jede gegenwärtige Relevanz zu werden. Vgl. Hübner, Rechtfertigungstheologie, 102: »Die in Römer 8 ausgesprochene Zerreißung der Menschheit in Menschen des Fleisches und Menschen des Geistes geht heute auch mitten durch die Kirchen, mitten durch die Christenheit. Der Machtbereich der Hamartia ist heute nicht mehr eine spezifisch außerchristliche Wirklichkeit, wie es sich Paulus in Röm 8 vorgestellt hat. Insofern nähert sich seine Sicht, wenn sie in unser modernes Koordinatensystem übertragen wird, der Sicht an, wie Luther Röm 7 und Röm 8 gesehen hat. Auch der Glaubende lebt heute in einer Welt, die global von der Hamartia durchwirkt ist. Mehr noch: Er lebt in einer Kirche, in die hinein die Hamartia ihren Machtbereich brutal erweitert hat.« 151

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Exkurs: Zur Debatte um Sündlosigkeit und Sünde des Christen Wir gehen zum Abschluss unserer Überlegungen zu Röm 7 auf die Diskussion über das Thema »Sündlosigkeit und Sünde des Christen« ein, wie sie insbesondere an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführt wurde und auf die wir in den Literaturverweisen schon verschiedentlich rekurriert haben. Diese Diskussion ist bis heute nicht beendet. Sie wurde ausgelöst durch die sich der religionsgeschichtlichen und exegetischen Forschung verdankende Entdeckung, dass Luther nicht unbesehen als ein »zweiter Paulus« verstanden werden dürfe, oder umgekehrt formuliert, dass Paulus kein Luther vor Luther gewesen sei, sondern gewichtige Differenzen zwischen den beiden großen Theologen bestehen, die es verbieten, die Reformation in naiver, unreflektierter Weise als erneuerten Paulinismus zu deuten. Es führt demnach keine gerade Linie von Paulus zu Luther! Und dies trifft in besonderer Weise auf das Thema der Sünde des Christen bzw. des simul iustus et peccator zu.152 Erstaunlich ist nun, dass die scharfe Wahrnehmung der Differenz zwischen Paulus und Luther bei den nun vorzustellenden Autoren nicht in jedem Fall grundsätzlich zur Ablehnung der Position Luthers führte, sondern diese – in ähnlicher Weise, wie wir das zu begründen suchten – als legitimer theologischer Schritt über Paulus hinaus in einer anderen religionsgeschichtlichen Situation erachtet wurde. a) Hermann Scholz Am Anfang der Debatte steht der Aufsatz von Hermann Scholz »Zur Lehre vom armen Sünder« (1896). Scholz führt aus, dass dieser Begriff, wie er sich bei Luther und bei Zinzendorf finde, die bleibende Sündigkeit des Christen, also dessen simul peccator unbeschadet aller Heiligung zum Ausdruck bringen will – im Interesse der »lebendigen Empfänglichkeit« des Christen für die Gnade Gottes (466). Das simul peccator steht im Dienst des sola gratia. Scholz vermag dieser Lehre durchaus insoweit zuzustimmen, als sie nicht ethisch bzw. coram mundo, sondern strikt religiös, als Einschätzung der Person und des Handelns des Christen coram deo verstanden wird. Gleichwohl muss nach Scholz eingeräumt werden, dass der Topos des »armen Sünders« sich nicht auf Paulus stützen kann (474, 476, 482). Dafür ist die Einschätzung seiner Gemeinden im Blick auf die Sünde zu positiv, welche auch durch die vom Apostel schonungslos aufgedeckten »Schäden und Schwächen« (475) nicht wesentlich eingeschränkt wird. »So sehr überwiegt bei ihm [Paulus] die Reflexion auf die Gnade Gottes, die rechtfertigend einerseits, heiligend andererseits in das Leben der Gläubigen eingetreten ist und im Kern des Wesens ein Neues gebildet hat, daß die empirischen Rückstände moralischer Sündhaftigkeit mit ihrem Gewicht dagegen nicht aufkommen können.« (476) So sehr Paulus eindringlich auf die aktive Beseitigung der Verfehlungen in den Gemeinden dränge, ja mit dem Gericht Gottes drohe, »so wenig appelliert er im gegebenen Fall an die Vergebung durch Christum, wodurch die Lehre vom Dies hatte schon A. Ritschl, Lehre II, 365–372, im Jahr 1874 erkannt.

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Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 575 armen Sünder als zu Recht bestehend anerkannt sein würde« (ebd.). Ganz analog verhält es sich mit der Einschätzung der eigenen Person durch Paulus selbst: Paulus habe sich nicht als »armen Sünder« begriffen, ohne damit die Möglichkeit eigener Sünde leugnen zu wollen. Denn im Blick auf ihn gilt: »Nirgend [ist] die Rede von Wollen und nicht Können, nirgend ein Gefühl der Unzulänglichkeit, des Irregehens, des Verzagens oder Selbstanklagens. […] Sein gutes Gewissen ist über allen Zweifel erhaben, wenn auch mit dem Vorbehalt demütiger Beugung unter das Endurteil Gottes.« (479)153 Wenn Paulus sich als Sünder bekennt, dann im Blick auf seine vergangene Sünde der Verfolgung der Christen (479 f.). Erst recht kennt Paulus kein »tägliches, aktives Sündigen« (482). Scholz führt die hier aufbrechende Differenz zu Luther einerseits auf die eschatologische Naherwartung zurück, welche ethisch motivierend wirkte und eine grüblerische Reflexion auf die eigene Unvollkommenheit nicht gefördert habe,154 andererseits aber auf das Entscheidungschristentum der Anfangszeit, welches ebenfalls große ethische Impulse freisetze.155 Dies heißt aber umgekehrt: Das spätere »Volkskirchentum« und das Ausfallen des »eschatologischen Gedankens« führten zur »Betonung der dauernden Unvollkommenheit des christlich sittlichen Lebens«. Die Lehre vom armen Sünder ist insofern ein »berechtigtes Mittel«, die Wahrheit des christlichen Lebens ehrlich zu beschreiben und der Selbstgenügsamkeit der »Durchschnitts­ christen« den Hinweis auf Gottes Gnade entgegenzuhalten (487). Scholz urteilt dann freilich überraschend und allzu harmonisierend, weil die theologischen Divergenzen zwischen Paulus und Luther minimierend: »Demgemäß erscheint die Abweichung [Luthers] von Paulus als eine pädagogisch bedingte, nicht eigentlich grundsätzliche.« (ebd; Hv.)156 Nur darf die Lehre vom armen Sünder sich nicht ethisch lähmend oder kirchlich destruktiv auswirken, was aber bei Luther nicht zu befürchten sei, da er den »Gedanken des Berufs« bzw. den »Wert der bürgerlichen Gerechtigkeit« (486 f.) stets anerkannte und wertschätzte.

b) Paul Wernle Wesentlich verschärft wurde das Problembewusstsein durch die Erstlingsschrift von Paul Wernle »Der Christ und die Sünde« (1897). Ähnlich wie Scholz untersucht auch er die Selbstzeugnisse des Paulus sowie seine Praxis in den Gemeinden und kommt von daher ebenso, wenngleich ungleich zugespitzter, zur Feststellung der Scholz setzt hierbei natürlich voraus, dass Röm 7 nicht vom »Wiedergeborenen« redet. Vgl. ebd., 481 ff. 154 Vgl. 483: »In der Luft des Wortes: der Herr ist nahe, reift die Blüte christlichen Lebens zu immer reinerer Frucht.« 155 Vgl. ebd., 484: »Darin [im entschiedenen Christwerden] lagen starke Impulse zu einem thatkräftigen, entschlossenen Christentum.« 156 Scholz scheint zudem die unterschiedliche Sicht des Verhältnisses von Christ und Sünde ausschließlich auf der Ebene des Tuns, nicht aber auf der der inneren Motivation anzusiedeln. Es sinkt ihm zufolge einfach das ethische Niveau der Christen durch den Wegfall der Naherwartung und der Bekehrungssituation. 153

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Diskontinuität zwischen Paulus und Luther. Die bisher für selbstverständlich erachtete Kontinuität zwischen Paulinismus und protestantischem Denken ist für Wernle zerbrochen, ja er ist darüber hinaus sogar überzeugt, dass von Paulus genausogut Linien zur katholischen wie zur evangelischen Kirche führen (4 f., 65, 67, 138). Wernle vertritt nun die These, dass bei Paulus eine eigentliche Theorie der Sündlosigkeit im Blick auf den Christen vorliege, Paulus habe also wesensmäßig bzw. ontologisch dem Christen Sündlosigkeit zugeschrieben. Nach seiner eigenen Selbsteinschätzung sei Paulus »zu der totalen Lösung von der Sünde wirklich gelangt, die der Protestant erst vom Jenseits zu erhoffen sich gewöhnt hat« (24; vgl. 24 f.). Im Blick auf die Gemeinden gelte: »Ein wirkliches Problem der Sünde in der Gemeinde gab es für den Apostel überhaupt nicht infolge seiner starken Hoffnung.« (45) Es ist für Wernle einmal die radikale Bekehrungserfahrung des Paulus, die ihn vollständig von der Sünde geschieden sein lasse und die er als seinen Eintritt in den neuen Äon begriff, zugleich aber auch bei allen anderen Christen in derselben Intensität voraussetzte: »Der Eintritt ins Christentum [ist] zugleich der Bruch mit den früheren Sünden ein für allemal […].« (73) Die Sünden sind vergangen, der Christ hat sie nicht mehr, seitdem er eben Christ, d. h. »sündenfreier Pneumatiker« ist (89, 95). Zum andern ist es die Erwartung der nahen Parusie, welche ein sündloses Leben für Paulus bis dorthin ermögliche. Die Theologie des Paulus ist nach Wernles Auffassung – wie wir schon gehört haben – Missions- und Bekehrungstheologie und eschatologische Theologie in einem. Paulus sei zwar durchaus mit schweren Verfehlungen in seinen Gemeinden, etwa der in Korinth, konfrontiert worden, habe dies aber als Einzelfälle betrachtet und ihre schnelle Behebung bis zur Wiederkunft Christi gefordert und für möglich gehalten. Letztlich entwarf Paulus seine Theorie der Sündlosigkeit aber in einem »harten Doktrinarismus« (105), ohne Blick auf die Wirklichkeit, ja im Widerspruch zu ihr (78), allein aus seiner persönlichen enthusiastischen Erfahrung heraus. Paulus habe »die Sünde in seine enthusiastische Theorie vom Christenleben nicht aufgenommen […]« (89) und identifiziere daher Sollen und Sein, Ideal und Wirklichkeit. Paulus trug der Sünde zwar »praktisch Rechnung«, hat »sie in der Theorie aber ignoriert« (90 f.)157, so dass sich ihm auch nicht explizit die Frage nach der Vergebung für die Christensünde stellte. Die Rechtfertigung aus Glauben bezieht sich nur auf die beim Eintritt in den Christenstand empfangene Sündenvergebung. Lediglich ergänzend, aber unausgeglichen mit der theoretischen Behauptung der Sündlosigkeit stelle Paulus, so z. B. in Röm 6, neben den Indikativ des Heils den ethischen Imperativ.158 Ähnlich wie für Scholz Vgl. 121: Das Ergebnis ist, »daß Paulus die Sünde im Christentum, obwohl er sie kannte, als Theoretiker geleugnet hat. Daß er dies im Stande war, das begreift sich aus seiner enthusiastischen Parusiehoffnung.« Vgl. 42, 105, 114 f. 158 Vgl. 104: Dass der Christ den Begierden den Gehorsam verweigern soll, stellt eine »nachträgliche Ergänzung der Theorie, welche durch den Blick in die Gemeinden gefordert 157

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 577 ist auch für Wernle Röm 7 nicht vom Christen gesagt (5 ff., 106–109), und über die Sündhaftigkeit der Begierde, die es auch beim Christen noch gibt, habe Paulus nicht explizit reflektiert und hätte sich wahrscheinlich im Sinne der katholischen Kirche entschieden, wonach erst der ihr geleistete Gehorsam als Sünde zu werten ist (16 f.). Das Fazit von Wernle lautet: »Der Christ ist sündenfrei, wer also sündigt, ist kein Christ.« (111) »Daß der Christenstand mit der Sünde nichts mehr zu tun habe, daß der Christ ein sündenfreier Mensch sei und als solcher erscheine am nahen Gerichtstag, das ist das Ergebnis dieser Untersuchung.« (126 f.)159 Gleichwohl bedeutet Wernles Paulusinterpretation mit ihrer scharfen Pointierung der Differenz zum späteren Protestantismus160 für ihn selbst nicht eine völlige Absage an die durch Luthers simul iustus et peccator geprägte Reformation. Denn es ist ihm zufolge gar nicht anders zu erwarten, als dass der Missionar Paulus eine andere Theologie haben musste als die späteren Reformatoren. Vielmehr gilt, »daß mit dem Wegfall der ersten Bedingungen – der Heidenbekehrung und der Parusiehoffnung – die ganze Theologie von Grund auf eine andere geworden ist, daß z. B. das für uns allerwichtigste Problem: wie erlangt der Christ Vergebung, wenn er sündigt? von Paulus noch gar nicht in Betracht gezogen werden konnte« (VIII). Insofern können unter den Bedingungen einer veränderten Situation die Reformatoren Paulus gleichwohl »kongenial« verstanden haben, auch wenn sie im wörtlichen Sinn von ihm abweichen. »Es gibt ein Verstehen in der Geschichte, das weit abliegen kann von richtiger theoretischer Interpretation, das vielleicht alle einzelnen Sätze mißversteht, und dennoch den Sinn der ganzen Person trifft. […] Auf dieser Congenialität der Stifter unsrer Confession mit dem Heidenapostel beruht allein unser Recht, daß wir den Paulus für uns beanspruchen; auf der Uebereinstimmung der Systeme, z. B. der Rechtfertigungslehre beruht es nicht, da diese nur den Worten nach vorhanden ist.« (VIII f.)161 Der spätere Protestantismus, der die Missionspredigt des Paulus als Gemeindepredigt

wurde« dar; 105: »Zuerst wird geantwortet, daß der Christ sündenfrei sei; hernach wird ihm auch noch die Verpflichtung dazu auferlegt«; 111: »Daher schickt Paulus nachträglich […] den Imperativ nach und zeigt, wie das Ideal erst realisiert werden soll […]. Erst wird die Sünde durch eine einfache These vom Christenleben ausgeschlossen, hernach erst kommt der sittliche Appell«; 113: »Daher bedeutet ihm aller Widerspruch der Wirklichkeit nichts; er begnügt sich, mit einem Imperativ die Aufhebung desselben zu fordern«; 117. 159 Vgl. 109: »Der Christ wird nicht mehr verdammt, weil er nicht mehr sündigt, weil er Pneumatiker ist.« 160 Vgl. VI: »Noch ist der Glaube an die Einheit der paulinischen und protestantischen Gedankenwelt in weiten Kreisen nicht erschüttert; der Dogmatiker, der über den Römerbrief liest, meint immer noch, er spüre darin Geist von seinem Geist«; 94: »Man kann sich den Abstand dieser protestantischen Theorie [vom simul] von der Meinung des Paulus gar nicht groß genug denken.« 161 Vgl. 110: »Ihre [der Reformatoren] Theorie beruht fast überall auf Mißverständnissen des Paulus; daß dieser dennoch in ihnen neu aufgelebt hat, ist nur für den zweifelhaft, der die Religion nach Theorieen beurteilt.«

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

verstand, konnte und durfte darum das Bleiben der Sünde im Christenleben und die Notwendigkeit täglicher Vergebung hervorheben, also die Rechtfertigung sola fide vom Anfangspunkt des Christseins auf dessen ganze Erstreckung ausdehnen (54). Erst die Reformation machte klar, »daß die Predigt vom Glauben und von der Liebe eine andere Beurteilung und Behandlung der Sünde erfordere, als Paulus selbst ihr hatte zukommen lassen«, nämlich »daß der Gläubige trotz der Sünde nicht aufhört, Gottes Kind zu sein« (77 f.; vgl. 128). Dies gelte insbesondere »beim Zurücktreten der eschatologischen Stimmung« (78). Anders als Paulus, der die Frage nach der Vergebung für die Christensünde nicht stellte, weil er die Sünde aus dem Christenleben radikal ausschloss, müssen wir dagegen heute sagen: »Für den Christen […] fällt die Zeit der Sünde mit der Zeit der Vergebung gänzlich zusammen; denn Christi Tod hat es für uns möglich gemacht, daß wir trotz unsrer beständigen Sünde die Rechtfertigung immer neu empfangen.« (94; vgl. 90) Ohne gegenüber dem späteren Protestantismus, was z. B. dessen mangelndes Geltendmachen der »sittlichen Kraft des Evangeliums« betrifft, unkritisch zu sein, urteilt Wernle dennoch über die Reformatoren: »Die Möglichkeit, daß der Christ in diesem Leben zu sittlicher Vollkommenheit kommen könne, leugneten sie direkt. […] Darin lag einfach eine geschichtliche Notwendigkeit. […] Der Bruch mit diesem Postulat der Sündlosigkeit war eine That der Wahrheit. […] Sie sind gleichzeitig über Paulus zum Evangelium Jesu vorgedrungen und doch auch hinter ihm zurückgeblieben.« (106; vgl. 110) Eine besondere Bedeutung kommt für Wernle Röm 14,23 zu, einer Stelle, die allerdings bei Paulus vereinzelt dastehe. Paulus gelangt hier im Grunde – so Wernle – zu einem vertieften Sündenbegriff, zu einer »neuen Bestimmung der ἁµαϱτία« (135), welche nicht mehr nur an der bösen Tat, der ὰδιϰία, sondern am Unglauben des Herzens orientiert ist, ja dieser wird zur Grundsünde erklärt. Genau dies haben die Reformatoren dann aufgegriffen und ausgebaut.162 Sie erreichten so »eine viel ernstere religiöse Würdigung der Sünde«, als wenn diese nur als ὰδικία bestimmt wird (137). Paulus hat hier also gleichsam »an einer Stelle die Höhe des reformatorischen Erlebnisses erreicht« (138). Nach Wernle hätte Paulus aus diesem Neuansatz aber weitere Konsequenzen ziehen müssen: Einmal hätte »die Frage nach der Sünde des Christen ganz andere Antworten erhalten müssen« (136). Wir deuten diesen Satz so, dass dann die Präsenz der Sünde im Christenleben von Paulus stärker zu gewichten gewesen wäre. Zum anderen hätte der Apostel aber dem Glauben, der die Sündenvergebung ergreift, eine Funktion nicht nur am Beginn, sondern auch für den Fortgang des Christenlebens einräumen müssen. Schließlich wäre Paulus dazu geführt worden, die Heilsgewissheit ausschließlich an den Glauben und nicht zugleich an die Liebe zu knüpfen. Vgl. 136 f.: »In der That ist an diesem Punkt der Fortschritt der Reformatoren über Paulus hinaus ebenso deutlich, wie die Anknüpfung an ihn. Es ist ja völlig klar, daß sie bei ihrer Glaubenspredigt überall von Paulus ausgegangen sind. Aber wozu bei Paulus Ansätze vorhanden sind, das ist bei ihnen erst herrlich vollendet.« 162

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 579 Gewiss: dies alles sind nur skizzenhafte Andeutungen Wernles. Sie machen jedoch hinreichend deutlich, dass er es unter veränderten Bedingungen bejaht, die Position des Paulus im Blick auf das Verhältnis des Christen zur Sünde zu revidieren, ja dass dies einen gewissen Anhalt bei Paulus selbst hat, so schonungslos Wernle ansonsten den Hiatus zwischen Paulus und Protestantismus aufreißt. Weiter sieht Wernle die Bewegung von Paulus zu Luther letztlich positiv, als einen geschichtlich notwendigen religionsgeschichtlichen Fortschritt, eine Aufwärtsentwicklung.163

c) Johannes Gottschick Kritisch mit dem Buch von Wernle setzt sich Johannes Gottschick in seinem Beitrag »Paulinismus und Reformation« (1897) auseinander und betont dabei stärker wieder die Entsprechungen und Analogien zwischen beiden Größen. Insbesondere weist Gottschick Wernles Grundthese von der prinzipiell angenommenen Sündlosigkeit des Christen bei Paulus zurück. Paulus mache in all seinen Briefen »die Zunahme, das Wachstum, die Erstarkung des Christenlebens« zum Gegenstand seiner Ermahnungen und Gebete, das Christenleben ist ihm »Fortschritt und Entwicklung in extensiver wie intensiver Beziehung« (414 f.). Der Christ ist also noch nicht vollendet, sondern nur erst in seinem »Gesamtcharakter« erneuert, so dass mit der »Möglichkeit der Sünde« (417) nüchtern zu rechnen sei. Und dies deshalb, weil das einmal ganz bejahte »einheitliche christliche Lebensziel« in vielen Einzelentscheidungen durchgetragen sein will und auch der »körperlich-seelische Organismus mit seinen bestimmten Tendenzen, wie er teils durch Naturfaktoren, teils durch die frühere sittliche Entwicklung bedingt ist, auch bei Aenderung der Grundrichtung des Willens fortbesteht« und erst allmählich überwunden werden kann (418). Nicht eine »durchgehende Sündlosigkeit« oder gar die »Unmöglichkeit einzelner Sünden« wird aus Sicht Gottschicks von Paulus behauptet, sondern »die Befreiung von dem Zwang der Sündenherrschaft durch die Kraft des Geistes als Gesamtcharakter des Christenlebens« (416 f.).164 Insofern kann gesagt werden: »Das Christenleben darf kein Leben ungescheuten Sünden Wernle hat seine radikale Position später revidiert und korrigiert. Vgl. z. B. seine 1909 publizierte Rezension von Windisch, Taufe: Der »radikale Neuanfang«, mit dem Paulus beim Christen rechne, sage über den »Fortgang zunächst noch nichts anderes aus […] als Möglichkeit der Sündenfreiheit, aber nicht Notwendigkeit derselben«. Windisch (und damit wohl Wernle selbst) habe übersehen, »daß auch alle beschreibenden Indikative nichts anderes als verstärkte Imperative sind. Das Nichtsündigenkönnen in Röm 6 ist der stärkste Imperativ, über den Paulus zu verfügen hat, und der geht daher ganz korrekt am Schluß in das Nichtsündigensollen über«. (588; Hv.) War vorher für Wernle der Imperativ in die Theologie des Paulus nicht integrierbar, so stellt jetzt der Indikativ eine Inkonsequenz dar. Vgl. dazu Schrage, Ethik, 171 f. 164 So geht es nach Gottschick in Röm 6 nicht um die Frage, ob die Sünde beim Christen noch vorkommen könne, sondern darum, »ob der Glaube an die Gnade und die Befreiung vom Gesetz ein Freibrief oder gar ein Antrieb zum Beharren in der Sünde sei« (416). 163

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dienstes mehr sein, und braucht kein Leben ohnmächtiger Sündenknechtschaft eines das Gute wünschenden Willens mehr zu sein. Die Möglichkeit einzelner Verfehlungen liegt nach [Gal] 6,1 in ihm jedoch nahe. Was anders geworden ist, ist der Habitus, der Gesamtcharakter.« (416) Von daher weist Gottschick auch die von Wernle für Paulus behaupteten exklusiven Alternativen von Indikativ oder Imperativ, Missions- oder Gemeindetheologie, Rechtfertigung zu Beginn oder während des Christenlebens zugunsten eines Miteinanders beider Momente zurück (405, 427, 431–435). Ebenso wendet er sich gegen die Überbewertung der Parusieerwartung (420 f.). Freilich hat auch für Gottschick Wernle in zweifacher Hinsicht recht: »Paulus hat nicht auf die Sünde als eine Größe reflektiert, die fortdauernd und regelmäßig dem christlichen Leben anhaftet und dessen Freudigkeit erschüttert und daher des Gegengewichts durch die stets erneuerte Vergebung bedarf; und er hat auch, wo die Sünde ihm in den Gemeinden entgegentrat, die Sündigenden nicht auf Gottes Gnade hingewiesen und mit der Vergebung vertröstet.« (420) Zum letzten Gesichtspunkt führt Gottschick aus, dass auch für einen strengen Protestanten heute an erster Stelle die Mahnung zur Umkehr und nicht sogleich der Trost der Gnade zu stehen habe und dass Paulus wohl von der Fortgeltung der einmal bei der Taufe empfangenen Vergebung ausgegangen sei (428 f.). Den ersten Punkt, dass die Sünde von Paulus anders als bei Luther nicht als bleibende Größe des christlichen Lebens erachtet wird, sieht er in dem oben (Abschnitt 4.2.) von uns schon aufgegriffenen unterschiedlichen Maßstab begründet, mit dem Paulus und Luther jeweils das christliche Leben beurteilen: Für Luther ist die »Begierde«, sind die inneren Regungen der Selbstsucht und des Widerstrebens gegen Gott schon Sünde, während Paulus diesen Maßstab beim Christen nicht anlegt. Auf die Gründe für diesen »Paradigmenwechsel« geht Gottschick nur kurz ein: Er nennt den Einfluss der Mystik, welche in Luther das »Ideal der Herzenshingabe« erweckte, sowie die mittelalterliche »Vorstellung, daß die Huld Gottes zu verdienen sei durch die Erfüllung des Gesetzes«. Sie rief in Luthers »zartem Gewissen« eine »peinlich strenge Selbstbeurteilung« hervor (447). Nimmt man jedoch noch die »sittlichen Kräfte« (424) hinzu, welche durch die Bekehrungserfahrung und – das gesteht Gottschick Wernle nun doch zu – ebenso durch die Parusieerwartung in den frühen Christen geweckt wurden, dann kann man den Optimismus des Paulus in seiner Selbstbeurteilung und seiner Sicht des christlichen Lebens verstehen (423 ff.). Nur insistiert Gottschick darauf, dass Luther im Vergleich zu Paulus nicht etwa geringere Ansprüche an das »sittliche Niveau« der Christen stelle, sondern gerade einen strengeren Maßstab an diese als Paulus anlege (438 f., 445 f.). Gottschick sieht wegen dieser »Unterschiedlichkeit der Maßstäbe« (423) aber keine prinzipielle Differenz zwischen Paulus und Luther. Ohne die »erheblichen Unterschiede zwischen beiden« (434) zu negieren, erkennt er bei Luther »eine folgerichtige Anwendung der religiösen Grundanschauung, die von Paulus in der Rechtfertigungslehre formuliert war, auf die durch die veränderten Umstände veränderte Beurteilung desselben Thatbestandes, des zwar von Grund auf erneu-

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 581 erten, aber noch kämpfenden und wachsenden Christenlebens« (448).165 Auch sonst, etwa bei der Frage von Schon und Noch-nicht des christlichen Lebens, ja selbst bei der Naherwartung, die freilich für ihn nicht konstitutiv zum christlichen Glauben gehört (455), arbeitet Gottschick mit der Kategorie der Entsprechung bzw. Analogie in situativ anderen Kontexten, um auf diese Weise die Diastase Paulus/Luther,166 wie sie sich bei Wernle auftut, zu schließen (450, 453, 455, 457 f.). »Luther hat also […] die paulinische Anschauung zu der Form fortgebildet, in der sie unter veränderten Verhältnissen sich als die Regel des christlichen Lebens behaupten kann.« Die Gemeinsamkeiten überwiegen mithin die Unterschiede zwischen der paulinischen und lutherischen Rechtfertigungslehre, so dass auch heute noch der Satz gilt, »daß die Reformation den Paulinismus erneuert habe« (460). Ähnlich wie Wernle operiert auch Gottschick im Blick auf Paulus und Luther mit dem Topos der religionsgeschichtlichen »Fortbildung«.

d) Hans Windisch 1908 erschien die umfangreiche Studie von Hans Windisch »Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes«. Angeregt durch Wernles Buch, möchte sie das Thema »Der Christ und die Sünde« auf breiterer Basis, also nicht nur auf Paulus beschränkt, sondern auf das frühe Christentum ausgeweitet, behandeln. Dabei differenziert, modifiziert und kompliziert Windisch Wernles These von der Sündlosigkeit des Christen. Wir können die umfangreiche Untersuchung hier nicht einmal in Umrissen vorstellen, sondern allein die Grundlinien von Windischs Paulusdeutung holzschnittartig andeuten. Zum anderen interessiert uns die Frage, wie er mit dem von ihm dargelegten urchristlichen Befund theologisch umgeht. Windisch arbeitet einmal, ähnlich wie schon Wernle, sehr stark mit dem Begriffspaar »Ideal und Wirklichkeit«, um das Problem der Sünde des Christen zu erfassen: Nach Paulus ist der Christ durch die Vergebung der Sünde und die göttliche Gnade (bzw. Rechtfertigung) von der Sünde geschieden und er vermag nun dem Ideal der Sündlosigkeit zu entsprechen. Paulus lässt insbesondere in seinen frühen Briefen erkennen, dass etwa die Gemeinden in Thessalonich oder Philippi diesem Ideal weitgehend Genüge getan haben. Paulus rechnet aber auch schon hier mit der Möglichkeit der Sünde, der Versuchbarkeit des Christen, weshalb gelegentliche Warnungen vor der Sünde auftauchen. Es reicht aber hier zumeist, die Mahnung zu weiterer Entwicklung und Vervollkommnung des Christenstandes zu geben. Ideal und Wirklichkeit deckten sich weitgehend: »Ideal ist die Anschau Gottschick hält freilich fest: »Daß Luther durch den fortdauernden Kampf mit dem Fleisch und durch das Nochnichterreichthaben des Ideals der Vollkommenheit, sagen wir des christlichen Charakters, sich fortwährend religiös beunruhigt fühlte und eines Gegengewichts gegen diese Unruhe bedurfte, ist also das novum Paulus gegenüber, das übrig bleibt.« (448) 166 Kritischer ist Gottschick dagegen bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Paulus und dem Luthertum. 165

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ung des Apostels, und ideal muß auch die Wirklichkeit in der Gemeinde gewesen sein.« (115) Wie Wernle benennt Windisch als Grund dafür zum einen die messia­ nische Erfahrung, die Paulus selbst bei seiner Bekehrung gemacht und in der Folge generalisiert habe, und zum anderen die Nähe von Parusie und Endgericht, welche eine solch »großartige sittliche Energie« auslösten (109 f., 114, 221–223). Es ist eigentlich erst die korinthische Gemeinde gewesen, die Paulus zu der Erkenntnis führte, dass die Gemeinde hinter dem Ideal der Sündlosigkeit weit zurückbleibt und mit der faktischen Sünde von Christen stärker zu rechnen ist. Paulus hält aber auch angesichts dieser Situation an seinem »Ideal« fest und fordert durch Buße und Umkehr, dass man sich dem Ideal wieder annähere. Paulus verlangt die restlose Wiederherstellung des idealen Zustandes: »Wo einmal Sünde in der sonst idealen Gemeinde sich findet, greift der Apostel den Fall energisch an und sucht die Sünde rasch und gründlich zu beseitigen. Jede Sünde stört den Charakter der Christengemeinde; das ideale Wesen muß alsbald wieder hervorleuchten.« (118; vgl. 122 f.) Eine Anerkennung, »daß die Gemeinde immer Sünde haben werde« (128; Hv.), ist damit gerade nicht ausgesprochen, sondern die »sofortige Herstellung eines idealen sündlosen Zustandes« (129) für möglich und nötig gehalten. Insgesamt ist freilich nach Windisch eine Entwicklung bei Paulus zu konstatieren: Es kommt im Blick auf seine Theorie des Ideals unter dem Druck der tatsächlichen Christensünde zunehmend »zu einer Anpassung an die Wirklichkeit« (162). Die »ideale Anschauung ist nun zur Paränese für sündige Christen verwandt. Das Ideal wird eben von den einen normalerweise am Anfang ihres Christwerdens, von anderen dagegen erst mitten in der Zeit ihres Christseins realisiert. […] Der Apostel weiß schließlich auch seine Theorie auf die Sünde des Christen einzustellen.« (162 f.)167 Schon in den Korintherbriefen und dann vollends im Römerbrief bahnt sich indessen nach Windisch das Gegenüber von zwei letztlich nicht zu vereinbarenden Theorien bei Paulus an: Einmal eine Bekehrungstheorie, die davon ausgeht, dass der Christ durch göttliche Vergebung und Gnade von der Sünde frei geworden ist. Diese neue Wirklichkeit habe er nun persönlich, wenngleich nicht als Heilsbedingung, nachzuvollziehen, weshalb Paulus die Forderung an ihn richte, sich in einem einmaligen Schritt, d. h. nicht prozesshaft-iterativ, von der Sünde abzuwenden bzw. bei schwerem Vergehen, diese Bekehrung nun endlich oder erneut zu vollziehen. In dieser Theorie ist klar mit der Versuchlichkeit und der Möglichkeit faktischer Sünde von Christen, also dem posse peccare, ja mit dem peccare von Christen gerechnet, so sehr das posse non peccare die Regel ist. Die zweite, bei Paulus sich findende Theorie geht jedoch von einer bei der Taufe »objektiv und real vollzogenen Entsündigung« (172) des Menschen aus, welche diesem eine wesenhafte Sündlosigkeit, eine sündlose Natur und eine neue sitt-

Vgl. 191 f., 224: »Beide [Philo und Paulus] haben jedoch den Versuch gemacht, unter dem Zwang der Wirklichkeit stehend, die Sünde in das Idealbild hineinzuziehen.« 167

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 583 liche Qualität schenke.168 Sieht man einmal davon ab, dass Paulus diese Theorie gegenüber sündigen Christen paränetisch gebraucht, so ist in dieser Sichtweise die postbaptismale Sünde eigentlich nicht zu erklären: Der Christ kann nicht mehr sündigen!169 Paulus hat nun aber – paradigmatisch an Röm 6 zu sehen –, an diese Entsündigungstheorie (Röm 6,1–11) die Entsündigungsforderung (Röm 6, 12 ff.) angeschlossen, welche den Christen gerade zu dem aufruft, was doch in der Taufe schon geschehen sein soll. »Den Christen wird zur Aufgabe gemacht, eine Wendung herbeizuführen, die nach dem Vorhergehenden bereits durch einen göttlichen Eingriff vermittelt ist.« (176; vgl. 175–178) Ja, innerhalb von Röm 6, 15–23 wiederholt sich diese Spannung nochmals. Paulus redet mithin längst Getaufte wie Neubekehrte oder gar Unbekehrte an. Die Gnade hat offenbar zwar die Sünde vergeben bzw. »prinzipiell und universell« getroffen, aber nicht beim einzelnen Christen quasi naturhaft vernichtet. »Der Botschaft von der Gnade gesellt sich die Bekehrungsforderung bei. […] Vergeben wird alle Sünde, trotzdem soll sie jetzt restlos verschwinden.« (176; Hv.) Dies muss nach Windisch nicht auf größere empirische Missstände in der römischen Gemeinde hindeuten. Es erklärt sich vielmehr daraus, dass Paulus den Redestil des Missionspredigers, auch wenn er zu Getauften sprach, gewohnheitsmäßig nicht abgelegt habe, zum andern konnte er voraussetzen, dass in der Gemeinde sich immer auch einige Ungetaufte, noch nicht bekehrte Getaufte bzw. wieder zu Bekehrende fanden (179 f.; 191 f.). Letztlich gesteht Windisch aber zu, dass sich beides nicht organisch verbinden lässt und widersprüchlich bleibt (180 f., 217 f.). Es handle sich um zwei in sich geschlossene Theorien: »die eine erklärt, daß der Christ durch Gottes Kraft ein unsündliches Wesen gewonnen hat, die andere, daß er durch die Gnadenannahme zu unsündlichem Wandel verpflichtet und befähigt ist.« (181) Ein Ausweg wäre, dass Paulus mit zwei oder sogar drei Stufen von Christen, den idealen und den empirischen Christen, rechnet.170 Unerklärlich bleibt damit eigentlich für Vgl. 217, 517: Die Taufe wird von Paulus als »Sakrament der messianischen Entsündigung und Erneuerung« aufgefasst. 169 Vgl. 130–133, 146 ff., 152 f., 169–175, 213–218. 170 Vgl. 218 f., bes. 219: »So werden die Beziehungen des Christen zur Sünde unter dreifach verschiedenem Gesichtspunkt zur Darstellung gebracht: Der von Gott entsündigte Messiasmensch ist aller Sünde und Versuchung enthoben. Der normale und ideale Christ hat sich von der Sünde geschieden, ist sich keiner neuen Versündigung bewußt, muß jedoch, von Gottes Treue geleitet, vor sündiger Versuchung auf der Hut sein. Endlich der ungefestigte, unvollkommene Christ tut gelegentlich noch Sünde, er verstrickt sich gar noch in schwere Verfehlung: er ist noch unbekehrt, hat sich dem Walten des Geistes noch nicht ergeben, hat die Fühlung mit Christus und mit seinem Geist wohl gar verloren; will er nicht verderben, so muß er sich endlich bekehren und den Geist endlich zur Wirksamkeit gelangen lassen, muß sich von neuem bekehren und Christo und dem Geist sich ergeben. In jeder Beziehung zielt alles darauf ab – was geschehen ist und was geschehen soll, – daß der Christ ein sündloser Mensch sei. Von diesem Ideal sind alle Auffassungen des Apostels durchdrungen.« – Ähnlich wie Wernle erkennt auch Windisch Röm 14,23 eine singuläre Bedeutung zu: »Diese Anschauung gibt dem posse peccare des Christen in 168

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Windisch (wie schon für Wernle) das Nebeneinander, ja die inhaltliche Deckungsgleichheit von Indikativ und Imperativ bei Paulus, ein Indiz vielleicht dafür, dass die Theorie der Sündlosigkeit bei Paulus doch nicht in der beschriebenen Weise vorliegt, wenn man nicht mit der Selbstwidersprüchlichkeit des Paulus rechnen will.171 Auffällig ist auch, dass Windisch (auch hier folgt er Wernle), Sünde fast nur im moralischen Sinne als böse Tat auffasst, nicht aber als transmoralische Macht, von welcher der Christ durch Christus frei geworden ist. Sündlosigkeit wird von ihm also primär ethisch begriffen.172 Ähnlich wie die anderen Autoren sieht auch Windisch bei Paulus selbst kein »Sünderbewußtsein« gegeben, wenngleich der Apostel zugesteht, noch mit Versustärkerem Maße Raum als jede andere. […] Die Norm des Sittlichen ist damit verfeinert, und der Bereich des Sündhaften erweitert. Das Ideal sündloser Vollkommenheit ist höher gespannt und darum von vornherein damit gerechnet, daß der Christ ihm nicht auf jeden Fall genügen kann. Hier ist das einer groben Psychologie entstammende Schema des Entweder-oder, wie es namentlich der Bekehrungstheorie zugrunde liegt, aufgegeben, daher eben die Schwierigkeit dahinfällt, das peccare und posse peccare der spröden Theorie anzugliedern. Aber auch in diesem Zusammenhang ergibt sich der Apostel nicht dem Gedanken des Armensündertums.« (194) 171 Vgl. auch Windischs spätere Behandlung dieser Thematik: Problem (1924). 172 Darauf hat bes. Bultmann, Problem (1924), hingewiesen: Es sei deutlich, »daß für Paulus Sündlosigkeit nicht in dem Enthusiasmus, dem Willen und der Kraft, das Gute zu tun, besteht, sondern etwas Negatives ist, die Freiheit von der Macht der Sünde, daß endlich für Paulus der Gerechtfertigte eine eschatologische Größe, ein wunderbares Wesen ist, nicht der Mensch, dessen Eigenstes und Höchstes sich frei entfalten kann« (38 [Hv.]; vgl. 39 f.). Für Bultmann seinerseits besteht die Sündlosigkeit vorrangig dann aber in der dem Menschen durch Gottes Urteil (forensisch) zugesprochenen Gerechtigkeit, welche im Gehorsam des Glaubens ergriffen wird. Diese ist als solche – wie »die Sünde« im Unterschied zu den sittlichen Verfehlungen als ihren Folgen selbst auch – unsichtbar, nur im Glauben wahrnehmbar und bedeutet keine Veränderung der sittlichen Qualität des Menschen (48 f.). Vielmehr gilt: »Der δικαιωϑείς ist der konkrete Mensch, der die Last seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trägt, der also auch unter dem sittlichen Imperativ steht.« (50 f.) Ohne ein anfänglich neues, aber letztlich doch immer ambivalentes und keinesfalls die Gerechtigkeit vor Gott ausmachendes Handeln beim Glaubenden zu leugnen (52), kann Bultmann so die Paradoxie von Indikativ und Imperativ, Sündlosigkeit und Kampf gegen die Sünde bei Paulus gut erklären. Vgl. auch ders., Theologie, 334: Die »Jenseitigkeit« der Sündlosigkeit »ist die des göttlichen Urteils«. Bultmann nähert sich so deutlich dem simul Luthers an: »Das darf dann aber auch so formuliert werden, daß der Gläubige nie aufhört, ein ἀσεβής zu sein, und immer nur als ἀσεβής gerechtfertigt ist […]. Es ist freilich hinzuzufügen, daß Paulus diesen Gedanken nicht zu Ende gedacht hat.« Bultmann führt das auf die Naherwartung des Apostels zurück, »so daß für ihn das Leben des Gläubigen in dieser Welt nicht im gleichen Maße zum Problem geworden ist wie für Luther«. Dennoch folgt der Schritt über Paulus hinaus für Bultmann aus dem sola gratia: »Nimmt man den Gedanken ernst, daß der Mensch nur auf Grund der χάϱις vor Gott als Gerechtfertigter dastehen kann, so ist er auch immer als ἀσεβής ein Gerechtfertigter; sonst würde Gottes χάϱις nicht mehr ihren Sinn als χάϱις für ihn haben.« (Problem, 53) Vgl. ders., Theologie, 334; Windisch, Problem (Replik auf Bultmann, Problem).

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 585 chungen und inneren Widerständen ringen zu müssen. Die Sünde ist ihm beim Christen keine bleibende, tägliche, nicht die »ständige Begleiterin des Christen« (219, 513), sondern etwas Exzeptionelles oder Anormales, der Christ also kein »armer Sünder«. Röm 7 steht als Beleg für diese Vorstellung nicht mehr zur Verfügung (182 ff.). Deshalb kenne Paulus auch keine »tägliche Vergebung«, auf die der Christ angewiesen sei, zumal Paulus wohl nicht das Vaterunser mit seiner fünften Bitte gekannt habe (220).173 Er verweise offenkundige Sünder auch nicht auf die Vergebung Gottes, weil diese ihm wohl von der Taufe her selbstverständlich weiter gilt (213, 219 ff., 518 f.). Aufrufe zur Bekehrung an Getaufte dürften nicht als Indizien für das Bleiben der Sünde und die nur allmähliche, sukzessive Lösung des Christen von ihr verstanden werden, sondern seien einmalig und punktuell gemeint, als »augenblicklicher Übergang von Sünde zu Sündlosigkeit« (192; vgl. 179, 214 f.). Wie geht Windisch nun mit diesem Befund im Blick auf den späteren Protestantismus bzw. seine kirchliche Gegenwart um? In der »Schlußbetrachtung« seiner Arbeit (507–535) zeigt er auf, wie sich im Grunde die ganze Christentumsgeschichte als eine fortwährende Auseinandersetzung mit, aber auch Relativierung der radikalen These begreifen lässt, die am Anfang stand: »Christen sind ihrem wirklichen Wesen nach sündlose Menschen.« (507)174 Wurde diese Wirklichkeit nach dem Neuen Testament entweder schon durch die Taufe oder eine spätere, einmalige Bekehrung nach der Taufe verliehen, aber so eben für irdisch realisierbar gehalten, so wird danach der faktische Abstand vom Ideal der Sündlosigkeit immer deutlicher gesehen und das kirchliche Bußbekenntnis sowie die Möglichkeit einer zweiten, ja mehrmaligen Buße mehr und mehr zur Regel. Dies führt aber mehr und mehr zu einem Bedeutungsverlust der Taufe, die ja zunehmend als Kindertaufe praktiziert wird. Der Entwicklungsgang ist für Windisch schließlich durch drei Sätze charakterisiert: »Christen sind sündlos« – »Christen sollen jetzt sündlos werden« – »Christen können auf Erden niemals sündlos werden, sie können nur langsam vorwärts schreiten«. (520) Die wirkliche Entsündigung und damit der Anbruch des neuen Äons ist dadurch aber, entgegen dem Messianismus der frühen Zeit, wieder in die Zukunft gerückt und zu einem Gegenstand des Gebets und der Erwartung geworden (521). Insofern kann gesagt werden, dass an die Stelle der ursprünglichen strengen Exklusion bzw. Sukzession von Sünde und Sündlosigkeit deren Simultaneität im christlichen Leben getreten ist, die mit Vgl. 514: »Aber das Vaterunser ist ja doch zunächst das Gebet eines Frommen, der die messianische Offenbarung noch nicht erlebt hat, sondern darum bittet. So haben wir bei Paulus und in den paulinischen Gemeinden keine deutliche Spur mehr von seinem Gebrauch bemerken können; jedenfalls war festzustellen, daß die fünfte Bitte mit ihren Voraussetzungen der Signatur paulinischen Christentums durchaus entgegen ist.« 174 Windisch gesteht zu, dass diese These sich schon von Beginn an durch eine gewisse Verblüffungsfestigkeit gegenüber der Empirie ausgezeichnet habe (508). Natürlich hat es, wie Windisch ebenfalls vermerkt, zu dieser Relativierung in der Kirchengeschichte immer auch wieder Gegenbewegungen gegeben (531–535). 173

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

einem »Zusammenwohnen beider Potenzen« im Christen rechnet. Buße und Bekehrung werden zu einer permanenten Aufgabe des Christen (522 f.). Diese Entwicklung hat nun für Windisch in der Rechtfertigungslehre der Reformatoren ihren konsequenten Höhepunkt erreicht: Hier wird dem glaubenden Christen einerseits volle Heilsgewissheit zugesprochen, andererseits aber mit seiner »bleibenden Sündhaftigkeit« gerechnet. Neu ist bei den Reformatoren nur die »psychologische Verfeinerung des Sündenbegriffs« bzw. die »vertiefte Sündenerkenntnis«: »Jede Schwankung des Vertrauens zu Gott, jede Regung eines Zweifels an Gottes Macht und Güte wird als Sünde empfunden; und nicht nur die Übertretung eines Gebotes, auch seine unvollkommene Erfüllung wird unter die Sünde gerechnet.« (525 f.) Sünde wird auf diese Weise zur täglichen Sünde, welche auch der »täglichen Vergebung«, der täglich zugesprochenen Rechtfertigung bedarf. Trotz des von Luther dem Christen eingeschärften lebenslangen Kampfes gegen die Sünde ist nach Windisch bei ihm aber der alte Entsündigungsgedanke aufgegeben: In der lutherischen Theologie hat die »Sündlosigkeitsbehauptung […] schlechterdings keinen Platz«. Es gilt das »Prinzip der unbegrenzt Sünden vergebenden Gnade« (530). Für Paulus dagegen war die »wirkliche Entsündigung« das Hauptanliegen. »Er hat den ganz unlutherischen Satz gewagt, die Christen müßten als sündlose Menschen erscheinen und den Fall, daß einer einst nur aus Gnade gerettet werden könne, nur als beschämenden Ausnahmefall hingestellt [vgl. 1.Kor 5,5]. An dieser Stelle ist der Unterschied lutherischen und paulinischen Denkens wohl am klarsten zu fassen. Paulus erkennt das bleibende Sündertum nicht an.« (527)175 Gleichwohl stehen für Windisch die Reformatoren nicht außerhalb jeglicher Kontinuität mit Paulus, haben sie doch dessen sola gratia nur auf eine veränderte Lage adaptiert und die göttliche Vergebung von jeder Bindung an Zeiten und nachträgliche Werke freigemacht. »Die lutherische Rechtfertigungslehre bedeutet die Universalisierung, d. i. die völlige Auflösung der jüdisch-christlichen Lehre vom τо´πος µετανοἱας. Für sie hört nämlich die Vergebungsmöglichkeit erst dann auf, wenn die Menschen gänzlich von jeder Berührung mit der Sünde frei […] sind. […] Die Sündenvergebung erschöpft sich erst, wenn sie nicht mehr nötig ist.« (527) Der dadurch drohenden Entleerung der Taufe als ursprünglicher Lebenswende begegnet Luther, indem für ihn Taufvergebung und tägliche Vergebung zusammenfallen und die Taufe eine Anleitung und Verpflichtung zu lebenslanger Buße darstellt (528 f.). Wenn Luther von der »Einsicht in das ständige Sündertum aller Frommen« ausging und ihm die »täglich gespendete Sündenvergebung das Hauptgut der Christen« war, erblickt Windisch in dieser Umwandlung natürlich eine gewich­ Windisch (528, 530) sieht freilich, was auch wir oben herausgestellt haben: Dass offenbare schwere Sünden und Heuchelei für Luther den Verlust des Glaubens und des Rechtfertigungsstandes implizieren, der nur durch erneute Buße wiedererlangt werden kann, die freilich nicht näher umschrieben wird. 175

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 587 tige »Verschiebung des Interesses«. In gewisser Weise gilt: »Was er [Luther] selbst suchte, hat er aus dem Evangelium und aus Paulus herausgelesen.« Die Nöte, denen Jesus und Paulus begegneten, waren nicht die Gewissensnöte Luthers, der täglich neuen Trostes und neuer Glaubensgewissheit bedurfte. Dennoch nahm Luther »nur eine andere Ordnung der schon im neuen Testamente geschenkten Gnadengüter vor« (529). Ohne die Wiederbelebung des alten Sündlosigkeitsideals etwa im modernen Methodismus und der Heiligungsbewegung für (biblisch) völlig illegitim zu erachten – sie stellt vielmehr eine Reaktion auf die Überbetonung der bleibenden Sündhaftigkeit im Luthertum dar –, ist es nach Windisch die große Stärke der lutherischen Theologie, »daß die wirkliche Erfahrung zum Fundament der Heilslehre gemacht werden soll« (533) und so die »urchristlichen Anschauungsformen und Erfahrungen« nicht als die einzig maßgeblichen hingestellt werden, was leicht eine Intoleranz gegen »andersgeartete christliche Lebensführungen« nach sich ziehen kann (534). Der lutherische Sündenrealismus hilft zudem, die so naheliegende menschliche Selbsttäuschung im Blick auf die eigene Sünde zu vermeiden. Letztlich vertritt für Windisch niemand die »reine, d. i. biblische Lehre«, da diese in sich schon höchst unterschiedlich ist und jede Begegnung mit der Bibel mitbedingt wird von der eigenen »subjektiven Erfahrung«, die sich natürlich ihrerseits durch die Bibel »vertiefen« lassen muss. So kann gesagt werden: »Das Armesündertum ist ja doch auch in der Bibel vertreten. Jesus z. B. erkennt neben dem methodistischen Bekehrungsbegriff, den er verwendet, neben der strengen Entsündigungsforderung das bleibende Sündigen an und versichert seine Jünger wie alle lutherische Christen der dauernden Huld Gottes. Jede rechte Theologie hat vielmehr von der subjektiven eigenen Erfahrung auszugehen. Da die Erfahrungen, wie Luthertum und Methodismus zeigen, verschiedenartig sind, so werden auch die theologischen Lehren sich verschieden gestalten.« (534) Bevor wir anschließend noch zwei weitere Autoren vorstellen, sei an dieser Stelle schon ein kurzes Resümee gezogen: Wir haben bis jetzt die Diskussion um das Thema »Der Christ und die Sünde« verfolgt, um zum einen die kritischen Anfragen zu profilieren, die sich von der neuzeitlichen Paulusexegese an Luthers simul iustus et peccator ergeben. Zum anderen sollte gezeigt werden, wie die genannten Autoren trotz der klar gesehenen Differenz zwischen Luther und Paulus den Schritt vom einen zum anderen theologisch meinten verantworten zu können. Dies geschieht freilich oft sehr vage und pauschal sowie theologisch nicht hinreichend reflektiert. Die Gefahr besteht insbesondere darin, dass die gegenwärtige Erfahrung bzw. die eigene kirchliche Situation quasi Offenbarungscharakter erlangt und so das sola scriptura unterläuft.176 Unsere strukturell und inhaltlich analogen Überlegungen griffen deshalb – im Anschluss an Paul Althaus – auf Zuweilen spürt man bei den behandelten Theologen auch die Scheu eines bürgerlich-kulturprotestantischen Christentums vor den theologisch-kirchlichen Konsequenzen aus den eigenen exegetischen Erkenntnissen. 176

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

die schon im Neuen Testament selbst bestehende Differenzierung zwischen dem einen Evangelium und den mannigfaltigen Theologien zurück und versuchten weiter, Ansätze für das simul schon in der Schrift selbst zu finden. Im Blick auf Paulus war dies der Hinweis auf den sich dann einstellenden »unverstandenen Rest« von Röm 7,7 f., wenn auch beim Christen noch mit ἐπιϑυµία zu rechnen ist. Im dritten Kapitel soll dies an weiteren neutestamentlichen Texten vertieft werden.

e) Theodor Schlatter 1930 und 1932 hat Theodor Schlatter mit zwei Aufsätzen in die Debatte eingegriffen, in denen er sich allerdings auf die Erhebung des exegetischen Befundes bei Paulus beschränkt und nicht explizit zu der Frage Stellung nimmt, wie mit diesem Befund in gegenwärtiger theologischer Verantwortung umzugehen ist. Gleichwohl lässt Schlatter deutliche Kritik an Luthers simul iustus et peccator und der daraus folgenden Konzeption der täglichen Sünde und Vergebung erkennen, insofern beides ihm zufolge nicht von Paulus her begründet werden kann. Auf jeden Fall wendet er sich gegen die unreflektierte Behauptung der Übereinstimmung von Paulus und Luther in diesem Punkt (Gott, 116 ff., 144; Sünde, 19 ff.). Schlatter setzt damit die Lutherkritik seines Vaters Adolf Schlatter fort.177 Im ersten Aufsatz »Für Gott lebendig in Christi Kraft« untersucht er die Selbstaussagen des Paulus, im zweiten »Tot für die Sünde, lebendig für Gott« das Urteil des Paulus über seine Gemeinden. Zum Ersten: Nach Schlatter sieht Paulus sich selbst als das »Musterbeispiel« für die Begnadigung des Sünders bzw. die Rechtfertigung des Gottlosen, bezieht aber seine Schuld stets auf die Zeit vor seiner Bekehrung, also auf seine Verfolgung der Christen und somit auf eine vergangene Schuld, die ihn freilich noch gegenwärtig zeichnet (Gott, 119 f.).178 Was die Gegenwart betrifft, spricht er demgegenüber von sich selbst und seinem apostolischen Dienst »immer mit hochgespannter Zuversicht« (Gott, 121). Er ist sich keiner Schuld bewusst, hat keinem einen Anstoß gegeben, ja stellt sich als Vorbild für seine Gemeinden hin. Solche Aussagen trifft Paulus auch »vor Gott und im Blick auf Gottes Urteil« (Gott, 122), er hat die Zuversicht, im Gericht Gottes zu bestehen. So sehr Paulus sich bewusst ist, dass er letztlich alles der Gnade Gottes verdankt, ist bei ihm die Hoffnung auf die Vgl. A. Schlatter, Deutung, 11–17, 31, 48 f.1, 64, 88 f., der neben neben dem spiritualisierten Sündenbegriff, der anthropologisch-individualistischen Verengung des Begriffs der Gottesgerechtigkeit bei Luther auch dessen simul als unpaulinisch kritisiert. 178 Es handelt sich hier um 1.Kor 15,9 und die deuteropaulinische Stelle 1.Tim 1,15. Althaus, Paulus, 72 f., stimmt Schlatter in der Deutung dieser Verse zu, merkt aber dann nicht konsequent und seinen sonstigen Ausführungen widersprechend an: »Sachlich ist das, was die Formel [des simul] meint, allerdings auch bei Paulus da, sofern er sich wegen der großen Schuld seiner Vergangenheit dauernd als Sünder vor Gott weiß, der allein durch die vergebende Gnade ist, was er ist.« (731) Dies ist eine Unterbestimmung des lutherischen simul. 177

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 589 sündenvergebende Gnade im Tod nicht ausgesprochen. Er versteht sich nicht als Sünder, »der nur auf die Barmherzigkeit hoffen könne« (Gott, 123). Ebenso betet Paulus nicht um die Vergebung der Sünden und empfiehlt ein solches Gebet auch nicht seinen Gemeinden. Weiter hat Paulus sich seiner Schwachheit und seiner Leiden gerühmt, Letzteres also nicht als Strafe für etwaige Sünde angesehen. Gleichwohl weiß sich Paulus als Hoffender, der sich der Vollendung entgegenstreckt. Dabei geht es ihm aber nicht um die Befreiung von der Sünde, sondern um die Erlösung von Leiden und Sterblichkeit sowie die Sehnsucht, ganz mit Christus vereint zu sein. Unter den vielfältigen Paradoxien und Spannungen, unter denen Paulus seine Existenz stehen sieht, werden zwar »Kraft und Schwachheit, Bleiben und Vergehen, Leben und Sterben«, nicht aber »Heiligkeit und Sünde« genannt (Gott, 130).179 Paulus weiß sich also nach Schlatter gegenwärtig nicht als Sünder. Das schließt aber nicht aus, dass er seinen Leib in Zucht nehmen und ihm vielfältige Entsagungen zumuten muss, um ihn zu einem willigen, gehorsamen Werkzeug seines Dienstes zu machen (1.Kor 9,24–27). Dies lässt sich jedoch nicht als Ringen mit der noch vorhandenen Sünde interpretieren! Wenn Paulus bekennt, noch nicht am Ziel zu sein (Phil 3,13 f.), ist das kein Indiz für sittliche Mängel und Verfehlungen. Für die These, dass Paulus sich gegenwärtig noch als Sünder gewusst habe, fällt Röm 7 als Beleg aus, da dieser Text den Menschen unter dem Gesetz zum Thema hat. Schlatter konzediert durchaus, dass Paulus sich »in beständigem Kampf mit Willensregungen« befunden hat, »die er verwirft und niederhält«. Der gute Wille kann sich auch bei Paulus nur in »beständiger Überwindung versuchlicher Regungen« behaupten (Gott, 139). Mit Gottschick ist Schlatter aber der Überzeugung, dass solches »natürliches Begehren« für Paulus per se noch nicht als Sünde gilt, sondern erst dann, »wenn der Mensch mit seinem Wollen darauf eingeht« (Gott, 139 f.). Paulus hat freilich nicht den dezidierten Anspruch erhoben, von Sünde frei zu sein, auch hat er keine Theorie über die Sündlosigkeit des Christen entwickelt. Andererseits besitzen wir keinen Beleg dafür, »daß er auch in seinem Christenleben Sünde gekannt hätte« (Gott, 141). Er erwähnt keine Verfehlungen seines Christenlebens, sucht für keine Gottes Vergebung, hofft im Blick auf sie nicht auf Gottes Gnade im Gericht. Als Grund für diese Zuversicht des Paulus benennt Vgl. Gott, 144: »Aber es ist ebenso charakteristisch, daß in diese spannungsvolle Reihe von Gegensätzen nicht eingefügt werden kann: er war mitten in der Sünde ein Gerechter und erfuhr mitten in der Rechtfertigung seine Sündigkeit«; Sünde, 57 f.: »Ziel und Inhalt dieser Hoffnung ist die Verklärung des Leibes, an dem jetzt die Herrlichkeit des Auferweckten und die Kraft des ewigen Lebens noch nicht zu sehen ist: nirgends aber wird sichtbar, daß Paulus sich darauf gefreut hätte, einmal nicht mehr sündigen zu müssen. Ihn trieb nicht die Sünde, sondern das Leiden in die Hoffnung.« Vgl. ebd., 56 ff. Ähnlich Althaus, Paulus, 72 f., im Blick auf 2.Kor 6,8 ff.: »Aber ein Gegensatz fehlt hier; es ist der, welcher die reformatorische Theologie beherrscht: ›als die Sünder und doch als gerecht‹.« 179

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Schlatter die Begegnung des Paulus mit der Liebe und schöpferischen Gnade Gottes in Jesus Christus, die in ihm den vollständigen Bruch mit der Sünde bewirkt und ein neues Leben geschaffen hat. Zum anderen ist es die Hoffnung auf Parusie und Endgericht, welche eine ungeheure »Spannkraft der Heiligung« (Gott, 143) in ihm freigesetzt hat. Schlatter schließt seinen ersten Aufsatz: »Paulus wußte sich nicht ›zugleich ungerecht und gerecht‹, nicht ›in Wirklichkeit Sünder und gerecht in der Hoffnung‹. Er lebte im Glauben an Gottes Gnade in Christus, die im Sünder durch Vergebung und Heiligung in wirksamer Kraft eine neue Wirklichkeit schafft.« (Gott, 144) Zum Zweiten: Was nun die Einschätzung seiner Gemeinden durch Paulus anbelangt, so stellt Schlatter anhand von Röm 7,1–6 den fundamentalen Gegensatz von Einst und Jetzt, Vergangenheit und Gegenwart heraus, durch den Paulus das christliche Leben bestimmt sieht. Im Leben des Christen, das in Röm 6 mehr von seiner negativen Seite (Freiheit von der Sünde) und in Röm 8 mehr von seiner positiven Seite (Leben im Geist) beschrieben wird, ist eine fundamentale Wende eingetreten, die sein Leben in zwei Hälften teilt. Diese stehen zueinander nicht in einem komplementären Zugleich, sondern in einem »klaren sachlichen Entweder-oder und einem erkennbaren zeitlichen Nach-einander« (Sünde, 28). Gegenüber stehen sich dabei »die beiden Reihen Gesetz-Sünde-Tod und Geist-Gehorsam-Leben« (Sünde, 23). »Die an Christus Glaubenden leben in einem neuen Stande, der durch Gottes Geist bestimmt ist.« (Sünde, 23; Hv.) »Waren sie vorher an die Sünde gebunden, so ist dieses Band zerrissen, ein für allemal zerrissen« (Sünde, 25) – nämlich durch das Mitsterben mit Christus in der Taufe. Von daher stellt es nach Schlatter eine wesentliche Verschiebung des paulinischen Ansatzes dar, wenn aus dem Gedanken, dass der alte Mensch mit Christus gekreuzigt worden ist, die Vorstellung wird, »daß der alte Mensch täglich sterben müsse, weil er täglich wieder lebendig sei. Paulus wußte nichts davon, daß der alte und der neue Mensch gleichzeitig in uns lebendig sein oder ganz normaler Weise gleichzeitig in uns lebendig sein dürften« (Sünde, 269). Durch Gottes schöpferisches Handeln an den Christen sind sie andere geworden und führen jetzt schon ein neues Leben, wie Schlatter mit Verweis auf 2.Kor 5,17 ausführt (Sünde, 31). Röm 7 kann deshalb unmöglich, sowenig wie auf Paulus selbst, auf die Christen zielen (Sünde, 36–39). »Der Mensch mit Christus lebt in einer anderen Welt als der Mensch ohne Christus, den er [Paulus] 7,7–25 beschrieb.« (Sünde, 39) Dies schließt freilich nicht aus, dass auch dem Christen noch eine Aufgabe gestellt ist und er unter der Mahnung bzw. dem Imperativ steht. Denn das neue Leben besteht nicht in einer magischen Verwandlung des Menschen. Vielmehr gilt es, »das im Glauben ergriffene Leben in immer neuem Gehorsam aus Glauben heraus zu verwirklichen. […] Gott rechnet auf den Willen des Menschen; seine Gabe will ergriffen, angeeignet und festgehalten sein.« (Sünde, 39) Es gilt, in stets neuer Entschlossenheit das Böse bzw. die Versuchungen des Fleisches abzulehnen und Gottes guten Willen zu erkennen und zu tun (Sünde, 58). Dabei fordert Paulus von den Christen immer wieder ein Wachstum und Zunehmen im Guten, als dessen Ziel die Vollkommen-

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 591 heit hingestellt wird, erwähnt aber in diesem Zusammenhang den Kampf gegen die Sünde nicht. »Paulus fordert ein Fortschreiten im Guten, rechnet aber nicht mit unentrinnbarer, das ganze Christenleben durchziehender Sünde.« (42) Paulus hat freilich in nüchterner Weise gesehen, »daß in seinen Gemeinden nicht alle Glieder der Forderung entsprechen, unter der das Christenleben steht« (Sünde, 43), was ihn jedoch nicht hindert, insgesamt »so dankbar und in so starker Gewißheit von dem Christenstand seiner Gemeinden zu sprechen« (Sünde, 58; vgl. 46). Besonders in der korinthischen Gemeinde gab es schlimme Verfehlungen und Missstände, die Paulus energisch mit der Forderung der Bekehrung, ja sogar des Ausschlusses aus der Gemeinde bekämpft (1.Kor 5,1–13). Paulus geht in solchen Fällen offenbar davon aus, dass diese Christen den entscheidenden Schritt der Abwendung vom alten Leben bei ihrer Taufe noch nicht vollzogen haben. Er spricht sie deshalb wie Unbekehrte an und ruft sie auf, durch Umkehr und Buße diesen Schritt nun endlich zu tun. Dabei besteht die Mahnung zu diesem Schritt nicht in der Aufforderung zu »etwas, was immer neu die Aufgabe des Christen wäre und sich durch das ganze Christenleben hinzöge« (Sünde, 49). Paulus denkt vielmehr an »einen einmaligen, mit entschlossener Energie durchzuführenden Entschluß, an eine einmalige, dem Leben entscheidend eine neue Richtung gebende Wendung« (Sünde, 50). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Paulus im Blick auf seine Gemeinden nicht das non posse peccare im Sinne der Unmöglichkeit der Sünde bzw. einer wesensmäßigen Sündlosigkeit vertreten hat. Er weiß aber auch nichts davon, »daß der Christ immer Sünder bleibe« oder notwendig und unentrinnbar sündige. Paulus geht vielmehr von einem posse peccare, von der Möglichkeit des Fallens, und einem posse non peccare aus, von dem her die Möglichkeit des Fallens nicht wirklich wird. »Dem ›sündigen können‹ tritt ein unbedingtes scharfes ›nicht sündigen dürfen‹ entgegen.« (Sünde, 5448) Faktisches Sündigen ist folglich »niemals das Normale, nie eine Form des Christenstandes, die ertragen werden müsse« (Sünde, 56). So tröstet Paulus auch nicht mit der Zusage der Gnade und Vergebung Gottes trotz der (immer neuen) Sünde. »Paulus fordert Umkehr, er droht mit dem Gericht, er mahnt – aber er spricht nicht dem Sünder die Vergebung der Sünde zu und vertritt nicht den Satz, daß der Sünder mit seiner Sünde unter Gottes Gnade stehe, weil er als Sünder, der er ist und bleibt, nur immer von Gottes Gnade leben könne.« (Sünde, 55)180 Dieser Tatbestand ist natürlich, worauf Schlatter nicht eingeht, von sich aus mehrdeutig und mehrfach erklärbar: Hat Paulus nicht doch die Christen angewiesen, in Fällen ernsthafter Verfehlung Gottes Vergebung um Christi willen zu erbitten, so dass er sie durchaus als vergebungsbedürftig angesehen hat? Oder war Paulus der Überzeugung, dass die bei der Taufe empfangene einmalige Sündenvergebung die spätere Sünde des Christen umschließt, also quasi fortgilt? Dass die »Auserwählten« im Endgericht vom Satan und den Strafengeln vor Gott angeklagt werden könnten, wenn nicht Gott sie rechtfertigte und Christus für sie einträte, ist offenbar in Röm 8,33 f. vorausgesetzt. Der Rechtfertigung sola fide bedarf es also auch im Endgericht, nicht nur zu Beginn des Christenle180

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Es waren gerade die für eine paulinische Begründung des simul höchst kritischen exegetischen Ergebnisse von Schlatter, an die Paul Althaus mit seiner Schrift »Luther und Paulus über den Menschen« (1938) anschloss.181 Sie anerkennend versuchte er eine neue Fundierung des simul zu geben. Da wir auf sie in unserer Arbeit schon mehrfach eingegangen sind, braucht sie hier nicht nochmals behandelt zu werden.182

f) Helmut Umbach Wir schließen diesen exkursartigen Abschnitt zum Thema »Christ und Sünde«, indem wir, einen großen zeitlichen Sprung machend, einen Blick auf die Arbeit von Helmut Umbach »In Christus getauft – von der Sünde befreit« (1999) werfen. Sie trägt den provozierenden Untertitel: »Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus«. Umbach will mit seinen Analysen auf einen Aspekt hinweisen, der in der zuvor dargestellten Diskussion nur am Rande vorkam und auf den eigentbens! Dazu Stuhlmacher, Brief, 45 f., 127 f. Freilich bedeuten all diese Möglichkeiten noch nicht, was Luther später mit täglichem Sündigen und täglicher Vergebung intendierte. Das Fehlen der Bitte um tägliche Vergebung der Sünde bei Paulus weist darauf hin, dass die Sünde ihm etwas Exzeptionelles ist. Vgl. Althaus, Paulus, 73. 181 Vgl. bes. Althaus, Paulus, 68–74, bes. 70: »Die Sünde ist nicht nur möglich, sie ist immer wieder wirklich in den Gemeinden. Paulus kennt keine sündlose Christenheit. […] Aber sie [die Sünden] brauchen nach dem Apostel nicht vorzukommen. Sie sind vermeidbarer Fall. […] Nirgends findet sich bei Paulus ein Wort davon, daß die Christen bis zum Tode von der Sünde nicht loskommen und daher immer wieder sündigen müssen.« Es findet sich bei Paulus keine Spur des Gedankens, »daß die Sünde bis zum Tode unentrinnbar ist«. 182 Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, ausführlich auf jene Beiträge zu der von uns referierten Diskussion zum Thema »Christ und Sünde« einzugehen, die von lutherischer Seite die Diskrepanz zwischen Luther und Paulus erst gar nicht entstehen lassen wollen. Sie sind allzu stark von apologetischen Tendenzen bestimmt, beruhen vielfach auf exegetisch falschen bzw. überdehnten Paulusinterpretationen und stützen sich zumeist auf eine interpretatio christiana von Röm 7. Vgl. nur Ihmels, Vergebung (1901), der bei Paulus ausschließlich eine Befreiung des Christen von der Sünde »im Zentrum seiner Persönlichkeit« angenommen sieht, während sich »in seiner Peripherie« die Sünde, das »widergöttliche Begehren« noch rege (14; vgl. 21 ff., 40). So ergebe sich eine »bleibende Duplizität des Christenstandes« (15 f., 50). Röm 7 beschreibe »nur die eine Seite des Christenstandes«, nach welcher die Sünde noch eine Macht beim Christen sei, stelle also eine Abstraktion dar, die nur mit der anderen, in Röm 8 beschriebenen Seite den konkreten Christen erfasse (16 f., 50). Ihmels begreift Röm 7 offenbar als das, was vom Christen gesagt werden muss im Blick auf ihn selbst, abgesehen von Christus bzw. dem Geist. Andererseits denkt er beide Seiten des Christen im Sinne eines partim-partim zusammen. Wenn auch bei Paulus der Begriff der täglichen Vergebung der Sünden fehle, ist diese Differenz zwischen Paulinismus und Reformation nur eine »rein formale« (29), keine sachliche, insofern doch auch für Paulus die Rechtfertigung die Grundlage des ganzen christlichen Lebens bilde, was Luther dann nur in einer veränderten kirchlichen Situation für den Einzelnen und seine tägliche Sünde expliziert habe (24–31, 40 f.).

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 593 lich nur Bultmann dezidiert aufmerksam gemacht hat: Dass bei Paulus nämlich zwischen dem Verständnis der Sünde als quasi personaler Macht bzw. einem den Menschen beherrschenden Machtbereich (ἁµαϱτία) und der Sünde als konkreter sittlicher Verfehlung (ἁµάϱτηµα, παϱάπτωµα) zu unterscheiden sei. Es sei zu differenzieren zwischen der Sünde als »Machtbegriff« und als »Tatbegriff« (65). Umbachs These lautet nun, dass nach Paulus der Christ durch die Taufe dem Machtbereich, d. h. der Herrschaft der ἁµαϱτία entnommen und stattdessen in den Machtbereich »ἐν Χϱιστῷ« oder in das »σῶµα Χϱιστοῦ« versetzt wurde. Es hat ein Herrschaftswechsel stattgefunden.183 »Indem der Getaufte aber ›in Christus‹ ist, ist er nicht mehr ›unter der Hamartia‹. Beide Termini kennzeichnen Machtbereiche, die absolut entgegengesetzt sind, wobei die Taufe εἰς Χϱιστо´ν für den Gläubigen den Übergang von dem einen in den anderen Machtbereich markiert.« (98; vgl. 104, 264)184 So sehr Paulus mit Verfehlungen, ja sogar schweren Verfehlungen von Christen konfrontiert wurde, nannte er diese doch niemals – und das wird nach Umbach in der Diskussion meist übersehen – ἁµαϱτία, sondern nur ἁµάϱτηµα bzw. παϱάπτωµα (vgl. z. B. Gal 6,1).185 Und dies deshalb, weil die Christen, und auch der Christ, der sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht hat, im Heilsbereich Christi leben bzw. vom πνεῦµα Gottes erfüllt (294, 296 ff.), d. h. dem Machtbereich der ἁµαϱτία entzogen sind, dieser für sie mithin eine »Vergangenheitsgröße« darstellt. Auch der sich verfehlende Christ ist in diesem Sinne kein »Sünder« (ἁµαϱτωλо´ς) mehr! Die Christen bzw. die Gemeinde sind somit »frei von der Sünde«, ihnen kommt »Sündenfreiheit« zu, nicht primär im Sinne einer »ethischen Qualität«, sondern fundamentaler im Sinne des Entnommenseins aus einer negativen Machtsphäre (87, 104 f., 133 f., 154, 182, 266 f., 296).186 Dem wird natürlich ein neues Verhalten und Leben der Christen in den vielfältigen »Früchten des Geistes« (Gal 5,22) entsprechen, ja die Gemeinde ist von Fehlverhalten rein zu halten und zu bewahren,187 damit die Sündenmacht Vgl. bes. 81, 87. Umbach expliziert diese These in Textexegesen zum Thema »Fehlverhalten und Hamartia« sowie zur Ekklesiologie und Anthropologie des Paulus. 184 Vgl. auch 313, wo Umbach erklärt, dass »die Gemeinde ἐν Χϱιστῷ […] dadurch bei Paulus grundsätzlich ein sündenfreier Raum [sei], dass der Christ, der in der Taufe εἰς Χϱιστо´ν dem σῶµα Χϱιστоῦ ›eingegliedert‹ ist, ein für allemal der Macht der Hamartia ›abgestorben‹ sei.« – Diese zwei Machtbereiche (Todesbereich der Sünde – Lebensbereich in Christus) sieht Umbach in der Adam-Christus-Typologie von Röm 5,12–21 ausführlich expliziert. Vgl. ebd. 196–207. 185 Eine Ausnahme liegt dann vor, wenn Paulus in aus der Tradition übernommenen Formeln z. B. von der Vergebung der Sünden« (ἁµαϱτίαι) im Plural spricht (z. B. Gal 1,4; vgl. 104). Ebenso kommt 1.Kor 6,18; 8,12 das Verbum ἁµαϱτἁνειν als Bezeichnung für die »unmögliche Möglichkeit« der Christen vor. Vgl. 133, 212. 186 Insofern unterscheidet sich Umbachs Paulusdeutung von der Wernles oder Windischs, wenngleich er mit ihnen darin übereinkommt, dass auch die Tatsünde niemals zum Regelfall christlichen Lebens werden dürfe. 187 Hierbei entscheidet und handelt Paulus nach Umbach situativ, ohne schon selbst ein institutionelles Bußverfahren auszubilden. 183

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nicht erneut Einfluss auf sie gewinnt, ist doch die Gemeinde kein corpus permixtum, sondern ein prinzipiell »›sündenfreier‹ Raum« (113, 127, 134 f.).188 Dabei ist nach Umbach festzuhalten, dass die ἁµαϱτία selbst nicht gestorben ist, sondern der Christ als alter Mensch ist mit Christus mitgekreuzigt worden. Die Sündenmacht ist nicht objektiv vernichtet, sondern eine »Vergangenheitsgröße« bildet sie allein »in Christus«! Deshalb steht bei Paulus auch neben dem Indikativ der Imperativ, den neuen Lebensstand unbedingt zu bewähren und festzuhalten (184, 250 ff.). Der neue Machtbereich Christi, in den der Christ durch seine Taufe eintritt, ist der Bereich der neuen Schöpfung (2.Kor 5,17), der auch als Gerechtigkeit Gottes (2.Kor 5,21) oder als Gerechtfertigtsein beschrieben werden kann (184). Er ist aber nicht nur und nicht zuerst juridisch-forensisch, sondern v. a. als neues Sein, als neuer Wirklichkeitsbereich, also in lokal-seinshaften, sakramentalontologischen Kategorien theologisch zu explizieren (220–234, 257 f.).189 So sehr Umbach Sündlosigkeit also nicht zuerst als Freiheit von Verfehlungen versteht, so folgt doch aus seiner Paulusinterpretation die Abweisung jeder Dialektik von Gerechtigkeit und Sünde im Sinne des simul iustus et peccator. Als von der Macht des πνεῦµα ausschließlich beherrscht »ist der Christ nicht mehr ›Sünder‹«, wenngleich er den Versuchungen der gotttfeindlichen Mächte noch ausgesetzt ist (314). Die Sünde stellt aber prinzipiell eine »Vergangenheitsgröße« dar, so dass ein simul ausgeschlossen ist (16; vgl. 19). Paulus kennt zwar Fehlverhalten bei Christen, er kennt aber keinen »sündigen Christen« (168) bzw. keinen »postbaptismalen Sünder« (170, 207–214). Nie wird von Paulus bei Fehlverhalten den Christen gesagt: »Ihr seid Sünder!« Umbach, der seine Untersuchung im Dienst ökumenischer Verständigung stehen sieht (16 f., 316 f.), deutet die Konsequenzen für die evangelische Rechtfertigungslehre nur am Rande und implizit an. Sie zielen aber deutlich in Richtung einer Absage an ein primär imputatives Rechtfertigungsverständnis.190

Es trifft vielleicht eher die Meinung Umbachs, dass es von daher gar nicht mehr möglich ist, dass die ἁµαϱτία – unbeschadet von faktischem Fehlverhalten – Einfluss auf die Gemeinde gewinnt. 189 Vgl. auch 265 f.: »Das bedeutet aber auch, dass die räumlich-seinshaften Vorstellungen des neuen Lebens ›in Christus‹ nicht einfach durch juridische Termini (δικαιοσύνη) ersetzt werden dürfen, stellen diese doch (besonders der Terminus δικαιοσύνη […]) gerade ihrerseits wieder einen Gedankenzusammenhang her, der – auch unter Verweis auf die Adam-Christus-Typologie von Röm 5,12–21 – einen ›Machtbereich‹ kennzeichnet, der […] das Sein des Christen seit seiner Taufe neu definiert als nicht mehr ὑφ’ ἁµαϱτίαν εἰναι. Vielmehr dient die Terminologie von δικαιοσύνη bzw. δικαιοσύνη ϑεοῦ dazu, dieses neue Sein ›in Christus‹ zu kommentieren als vor Gott in Ordnung sein, und zwar nicht aus den eigenen ἔϱγα τοῦ νόµου, sondern aufgrund der πίστις […].« 190 Hübner, Rechtfertigungstheologie, 91–98, der den Analysen von Umbach (bzw. Udo Schnelle) als Konkretionen eines »Existentials der Räumlichkeit« (92) zustimmt, sieht die von daher aufbrechenden Anfragen an Luther, meint aber offenbar einen radikalen 188

Römer 7 und die Begründung des »simul iustus et peccator« 595 Eine gewichtige Anfrage stellt Umbachs Arbeit für eine allzu harmonisierende Zuordnung von Paulus und Luther in jedem Fall dar, dürften seine Analysen doch weitgehend zutreffend sein, sieht man einmal von der stark ontologischen Begrifflichkeit bei der Beschreibung der καινὴ κτίσις ab. Auch die Verhältnisbestimmung von Freiheit von der Sündenmacht und dem bleibenden Unterstelltsein unter ihre »Versuchungen« bedürfte präziserer Klärung. Weiter geht Umbach nicht auf das ungeklärte Problem der ἐπιϑυµία bei Paulus ein. Wird dieses – wie von uns versucht – in der von Luther eingeschlagenen Lösung weiterverfolgt, so muss man konsequenterweise den Einfluss der Macht der ἁµαϱτία beim Christen noch stärker akzentuieren, als dies etwa durch den Begriff der bloßen Versuchbarkeit durch die Sünde geschieht: Die Sünde hat noch Macht über den Christen, aber diese Macht ist durch Christus und von ihm her paradoxerweise »beherrscht«, ist peccatum regnatum, wenngleich peccatum!

Dissens zwischen Umbachs Paulusdeutung und Luther durch einen Verweis auf das Miteinander von imputativ-personaler und effektiv-ontischer Rechtfertigung bei Letzterem vermeiden zu können.

3 Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung des »simul iustus et peccator«

3.1 Galater 5,16–17 Gal 5,16–17 lautet: »Lebt im Geist, so werdet ihr die Begierden des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; die sind gegeneinander [liegen miteinander im Streit: ἀλλήλοις ἀντίκειται], so dass [damit: ἵνα] ihr nicht tut, was ihr wollt.« Besonders V. 17 stellt wegen seiner änigmatischen Kürze vor nicht geringe Verstehensprobleme.191 Wir beziehen uns für unsere Fragestellung auf diese Stelle, weil sie deutlich zu zeigen scheint, dass Paulus auch beim Christen mit einer Begierde des Fleisches rechnet, über deren Status als Sünde er indessen nicht reflektiert bzw. sie selbst noch nicht, sondern erst das Eingehen auf sie in »Werken des Fleisches« (Gal 5,19) als Sünde ansieht. Dies steht – wie wir schon für andere Stellen, welche von der beim Christen noch gegebenen ἐπιϑυµία handeln, zeigen konnten – in einer gewissen Spannung zu Röm 7,7, wonach Paulus im Kontext der Rede vom vorchristlichen Menschen die ἐπιϑυµία durchaus als Sünde qualifiziert. Insofern besteht doch zumindest die Möglichkeit, Röm 7,7 auch auf Gal 5,17 zu beziehen, so dass das dort erwähnte Begehren des Fleisches selbst als Sünde erachtet und der Christ als simul iustus et peccator verstanden wird. Wir haben in unserer Studie mehrfach gesehen, dass Gal 5,16 f. neben Röm 7,14 ff. für Luther die exegetische Hauptlast bei der Begründung des simul trägt. Ja, man kann sogar soweit gehen und sagen, dass dieser Stelle die eigentliche Begründungsfunktion zukommt,192 da Luther Röm 7 – gegen dessen ursprünglichen Sinn – ganz von Gal 5,16 f. her interpretiert. Beide Texte stellen deshalb für ihn Parallelen dar, welche das Nebeneinander und Gegeneinander zweier Streberichtungen – Geist und Fleisch – im Christen beschreiben, wobei der Geist idealtypisch dominiert. Das Leben des Christen ist von daher ein lebenslanger Kampf und Streit, der Christ ist simul iustus et peccator im partialen und totalen Sinn.

Vgl. Söding, Rechtfertigung, 48: »Der Vers ist allerdings so abbreviatorisch, dass er in vielem rätselhaft bleibt.« 192 So auch Stolle, Luther, 225. 191

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 597

3.1.1 Luthers Auslegung Rekapitulieren wir noch einmal, wie Luther die beiden Verse versteht. Im Galaterkommentar von 1519 greift er wie schon zuvor in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 auf seine von Augustin übernommene, letztlich aber in Röm 7 hineingelesene Unterscheidung von »facere« und »perficere« zurück: Der Christ »tut« die bösen Lüste noch, d. h. er wird von ihnen noch umgetrieben und gereizt, aber er »vollbringt« sie nicht, d. h. er willigt nicht in sie ein, lässt sie nicht zur Tat gelangen. Genau dies sieht Luther in Gal 5,16 ausgesagt: Wer aus dem Geist lebt, wird die Begierden des Fleisches »nicht vollbringen«. Unmöglich ist es aber für den Christen in statu viatoris, solche Begierden nicht zu haben, das wird sich erst eschatologisch einstellen (2,583,29–37; 584,10–18). In analoger Weise wird für Luther das Begehren des Geistes, die Liebe, und damit das eigentliche Wollen des Christen »getan«, d. h. jetzt aber ausgeführt und ins Werk gesetzt, indessen nicht »vollbracht«, d. h. es wird nicht in jener an sich von Gottes Gesetz geforderten Reinheit und Ganzhingabe getan, weil das Begehren des Fleisches als Widerstand bzw. selbstsüchtige Motivation immer noch mit im Spiel ist. Dabei schließt das Begehren des Geistes durchaus das intensive Wollen ein, keine sündhafte Konkupiszenz mehr haben zu wollen, was zu realisieren aber unmöglich ist (2,584,18–27). In diesem Sinne tun wir nicht, was wir wollen: »›Non facitis, inquit [Paulus], quae vultis‹, propter carnis rebellionem, repugnantem legi mentis vestrae et spirituali voluntati vestrae.« (2,587,6 ff.) Luther muss nun freilich konzedieren, dass Paulus sich hier (ebenso wie in Röm 7,19) nicht an die Unterscheidung von »facere« und »perficere« im augustinisch-lutherischen Sinn hält – die Luther deshalb nicht mehr als zwingend erachtet –, denn dann hätte Paulus formulieren müssen: Ihr »vollbringt« nicht, was ihr eigentlich wollt und faktisch auch tut (2,587,9–19)! Im Großen Galaterkommentar behält Luther diese Deutung im Wesentlichen bei (40 II,78,33–97,16), akzentuiert sie jetzt aber stärker rechtfertigungstheologisch: Weil aufgrund der bleibenden Sünde auch unsere Liebe immer unvollkommen ist, erfüllen wir Gottes Gesetz nicht voll und deshalb vermag hienieden (anders als im ewigen Leben) unsere Liebe nicht unsere Rechtfertigung vor Gott zu sein, diese ist und bleibt irdisch Glaubensgerechtigkeit! Auf diese darf und soll der Christ vertrauen, wenn er nur gegen die Begierden des Fleisches kämpft und ihnen nicht beipflichtet. Für das Verständnis von Gal 5,17 bedeutet das: »Impossibile est, ut per omnia sequamini ducem Spiritum sine ullo sensu aut impedimento Carnis. Imo caro obstabit et ita obstabit, ut non possitis facere, quae libenter velletis. Hoc satis est, ut Carni resistatis, ne concupiscentiam eius perficiatis, hoc est, ut Spiritum sequentes, non Carnem.« (40 II,91,20–23; vgl. 100,28–101,18) Festzuhalten ist, dass Luther Gal 5,17d so interpretiert, dass das eigentliche Wollen des Christen nicht »getan« wird, d. h. nicht in vollkommener Gutheit intendiert und ausgeführt wird. Luther versteht diesen Versteil mithin nicht als Ausdruck einer aufgrund des Widerstreits der beiden Mächte sich einstellenden quasi paritätischen Hemmung des entweder durch den Geist oder das Fleisch bestimmten menschlichen Wollens. Zum andern ist hervorzuheben, dass Luther

598 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

zwischen Gal 5,17d und Röm 7,19 und damit auch Röm 7,15 eine Parallele zieht: Im einen wie im andern Fall geht es um das eigentliche, gute Wollen des Christen.

3.1.2 Galater 5,16–17 in der heutigen exegetischen Diskussion Nicht groß umstritten ist in der heutigen Exegese das Verständnis des Verses 16. Es geht darum, der selbstsüchtigen ἐπιϑυµία, die aus der alten, grundsätzlich aber vergangenen sündigen Existenz (= Fleisch) sich im Christen immer noch anmeldet, in der Kraft des empfangenen Gottesgeistes zu widerstehen, ihr in »Werken des Fleisches« (5,19) nicht nachzugeben. Dies ist für Christen möglich, wenngleich nicht naturgegeben selbstverständlich. Schwierig ist allein die Deutung von 5,17, der sich durch die Übergangspartikel »γάϱ« (denn) als Begründung bzw. Explikation von 5,16 zu erkennen gibt. Die Verstehensschwierigkeiten bei diesem Vers rühren von dem in ihm offenbar ausgesprochenen Sachverhalt, demzufolge der Christ sozusagen ein Kampfplatz und Schlachtfeld zwischen den beiden Mächten Geist und Fleisch darstellt, die um den Christen bzw. um sein Wollen ringen. Der Kampf scheint auf diese Weise im Christen selbst ausgetragen zu werden, wobei beide Mächte offenbar als gleich stark vorgestellt werden. Dies alles will aber nicht gut zu der sonst von Paulus und auch im Galaterbrief, insbesondere in dessen paränetischem Teil 5,13–6,10, vertretenen Auffassung des christlichen Lebens als eines Lebens bzw. Wandels im Geist passen (5,25). Kann das Fleisch in ihm noch mit solcher Macht auftreten? Die Möglichkeiten, diesen Vers zu verstehen, sind ebenso zahlreich wie inhaltlich differierend. Ein Weg, die Schwierigkeiten dieser Stelle auszuräumen, besteht darin, ihn gar nicht als vom Christen ausgesagt anzusehen. Gal 5,17 wäre demnach eine allgemeine anthropologische Sentenz, die von dem Widereinander von Fleisch und Geist im Menschen überhaupt spricht. Dann wäre mit »Geist« (πνεῦµα) an dieser Stelle der menschliche Geist gemeint und seiner Sinnlichkeit bzw. Triebhaftigkeit gegenübergestellt. Die offenbar unentschiedene Kontraposition von Fleisch und Geist wäre damit aber beim Christen gar nicht gegeben, da ihm ja der Geist Gottes geschenkt ist, der jene ungeklärte Situation der beiden anthropologischen Kräfte zugunsten des Geistes entschieden hat (vgl. Gal 5,18).193 Gal 5,17 würde dann von dem auf den außerchristlichen Menschen bezogenen Kapitel Röm 7 her interpretiert. Es wäre also das traditionelle Verhältnis, wonach man Röm 7 von Gal 5,17 her las, genau umgekehrt worden.194 Weiter könnte Die Schwierigkeit dieser Deutung liegt freilich darin, dass dann menschlicher und göttlicher Geist durch dasselbe Wort (πνεῦµα) bezeichnet wären. 194 Diese Interpretation hält Th. Schlatter, Sünde, 52 ff., für plausibel, erwägt aber auch den Bezug von Gal 5,17 auf unreife Christen. In die Richtung der oben referierten Position scheint auch Lührmann, Brief, 89, zu gehen, wobei er allerdings Geist und Fleisch als den Menschen übersteigende, um ihn ringende Mächte deutet. Ähnlich wohl auch Vouga, Brief, 133. Betz, Galaterbrief, 475–479, vertritt die Auffassung, dass Paulus in Gal 5,17 eine allgemeine dualistisch-anthropologische Theorie übernimmt, sie zunächst unbesehen 193

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 599 man Gal 5,17 als Aussage über das prinzipielle Gegeneinander der beiden Mächte Geist als Gottesgeist und Fleisch als Ausdruck für die Gott und dem Nächsten feindliche Existenzweise des Menschen betrachten. Ausgesagt werden soll dann nur, dass menschliches Handeln nicht neutral ist, sondern entweder vom Geist oder vom Fleisch geleitet wird. Christen stehen aber eindeutig unter dem Geist. Gal 5,17 beschreibt folglich (anders als Röm 7) überhaupt keinen innerexistentiellen bzw. innersubjektiven Konflikt, weder im unerlösten Menschen noch im Christen.195 Alle anderen Deutungsvarianten sind sich darin einig, dass Gal 5,17 – im Unterschied zu Röm 7 – eindeutig vom Christen spricht.196 Dafür kann nicht nur der gesamte Kontext von Gal 5,13–6,10 als Christenparänese angeführt werden, sondern v. a. die Anrede am Schluss des Verses: »so dass ihr nicht tut, was ihr wollt«. Insofern nimmt der Vers doch einen permanenten Widerstreit, ja Kampf von Geist und Fleisch im Christen selbst in den Blick,197 obwohl Otfried Hofius dies unter Berufung auf die Bedeutung von »ἀντικεῖσϑαί τινι« (nicht: gegen jemanden streiten, sondern einfach: [feindlich] gegenüber stehen, entgegengesetzt sein) bestritten hat.198 Klar ist dann auch, dass hier nicht Geist und Fleisch als allgemein anthropologische Schichten oder Aspekte (das Rationale bzw. Geistige und das Sinnlich-Triebhafte) intendiert sind, sondern Geist steht für den bei der Taufe empfangenen Gottesgeist (und die daraus entspringende Haltung der Liebe) und Fleisch bildet eine Chiffre für die alte, grundsätzlich abgelegte, aber noch nachwirkende selbstsüchtige Existenz. Beiden Größen wird nach Paulus offenbar ein Begehren (ἐπιϑυµεῖν) zugeschrieben. Während Paulus sonst dieses Verbum immer negativ konnotiert, gebraucht er es hier folglich neutral, als vox media,

auf den Christen überträgt und die konkreten »soteriologischen Voraussetzungen« erst Gal 5,18 nachliefert. Gal 5,17 stellt also, auf den Christen bezogen, eine Abstraktion dar. Für diesen gilt vielmehr: »Im Kampf zwischen den Mächten von Geist und Fleisch gibt es kein Unentschieden, sondern der Geist übernimmt die Führung, überwältigt und besiegt so das Böse.« (479) 195 Vgl. Kümmel, Römer 7, 105 f., bes. 106: »Der Satz 5,17 will also nur sagen, daß der Mensch von σάϱξ oder πνεῦµα beherrscht wird«; Wilckens, Erklärung, 48; Stolle, Paulus, 225 ff. 196 Gal 5,17 stellt mithin keine (direkte) Parallele zu Röm 7,14 ff. dar. Der in beiden Texten (allerdings mit unterschiedlichen Begriffspaaren [σάϱξ – νοῦς, σάϱξ – πνεῦµα]) beschriebene Kampf findet deshalb jeweils einen unterschiedlichen Ausgang: In Röm 7,14 ff. geht er jederzeit zugunsten der σάϱξ aus, in Gal 5 in der Regel zugunsten des πνεῦµα. 197 Vgl. Schlier, Brief, 250: »Der Christ ist also zugleich Schauplatz und Gegenstand, Kampfplatz und Kampfpreis der Auseinandersetzung zwischen Fleisch und Pneuma«; Mußner, Galaterbrief, 376 f.; Betz, Galaterbrief, 477 f., bes. 477: »Der Mensch ist das Schlachtfeld dieser Mächte in seinem Inneren, die ihn daran hindern, nach seinem eigenen Willen zu leben«; Lichtenberger, Ich, 254. 198 Vgl. Hofius, Widerstreit, bes. 150–153. Das Verbum beschreibe folglich ein (gegensätzliches) Verhältnis, aber keine Aktivität oder Aktion.

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welche böses und gutes Begehren umgreift.199 Vorausgesetzt wird in dieser Deutung allerdings, dass bei »τὸ δὲ πνεῦµα κατὰ τῆς σαϱκо´ς« das Verbum ἐπιϑυµεῖ als Prädikat zu ergänzen ist – analog zur Aussage über das Fleisch. Auch dies ist zwar wiederum von Hofius verneint worden200 – er schlägt stattdessen ein bloßes »ἐστίν« als Ergänzung vor –, hat aber doch aufgrund der Parallelität der Aussagen eine große Wahrscheinlichkeit für sich. Wie nun genau das Zueinander der beiden Größen Fleisch und Geist im Christen gedacht ist, hängt ganz entscheidend vom Verständnis des Schlusses ab, dessen einleitende Konjunktion »ἵνα« sowohl final auch konsekutiv aufgefasst werden kann: »damit ihr nicht tut, was ihr wollt« bzw. »so dass ihr nicht tut, was ihr wollt«. Im einen Fall handelte es sich um die Absicht, welche die beiden Mächte (bzw. eine von ihnen) direkt verfolgen, im anderen nur um die Folge ihres beiderseitigen Kampfes bzw. des Strebens einer der beiden Mächte. Um dem möglichen Verständnis von Gal 5,17 näherzukommen, untersuchen wir seine grammatische Struktur, die freilich nicht eindeutig ist. Die eine Option läge darin, den ganzen Vers als einen fortlaufenden Satz zu lesen, so dass sich das »ἵνα« (konsekutiv oder final) wohl auf alles Vorhergehende bzw. direkt auf »diese liegen miteinander im Streit« bezieht. Dann wäre es die Folge oder Intention des Begehrens der beiden Kontrahenten, dass das jeweilige (gegenteilige) Wollen des Menschen nicht zur Ausführung gelangt oder zumindest gehemmt wird. Das Wollen des Menschen wäre dann neutral aufgefasst, d. h. gutes und böses Wollen, das vom Geist oder vom Fleisch »inspirierte« Wollen übergreifend. Jedes Wollen des Christen wäre damit gebrochen, auch das gute, weil die Macht, welcher der Christ gerade folgen will, je von der anderen behindert wird. Es läge eine doppelte Hemmung vor, jedes Wollen würde »abgefangen«201, keine der beiden Mächte käme zum Ziel! Daraus resultierte eine ziemlich nüchterne Sicht der christlichen Existenz, welche sich mit dem Bild, das Paulus sonst (und gerade auch im Galaterbrief; vgl. 5,16.18.25) vom christlichen Leben als Wandel nach dem Geist zeichnet, keineswegs vereinbaren lässt. Zudem ist die Vorstellung, dass der Geist das, was der Mensch will, hemmt, ein für Paulus sonst fremder Gedanke. Er hemmt und bricht das Fleisch, nicht aber das Wollen des Menschen!202 Die Versuche, dieses Verständnis von Gal 5,17 mit dem Kontext auszugleichen, gehen in eine dreifache Richtung: Einmal wird betont, dass der Streit zwischen Fleisch und Geist, der sich im Christen noch abspielt, einer göttlichen Absicht ent Vgl. Rohde, Brief, 234. Vgl. Hofius, Widerstreit,153 ff. Nach Hofius ist ἐπιϑυµεῖν deshalb auch nicht als vox media, sondern nur negativ gebraucht. 201 Vgl. Schlier, Brief, 249: »Das Gegeneinander von Fleisch und Geist, das im beiderseitigen feindlichen Begehren zum Austrag kommt, geschieht in der Absicht und hat das Ziel, das jeweilige Wollen des Menschen, das vom Anspruch des Fleisches oder des Geistes provoziert ist, abzufangen und nicht zur Tat werden zu lassen.« Ähnlich Mußner, Galaterbrief, 377. 202 So Althaus, Paulus, 116. 199

200

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 601 springt (die somit letztlich auch hinter dem »ἵνα«-Satz steht).203 Gott belässt den Christen in dieser Dualität, um ihm zu zeigen, dass er nicht Herr seiner selbst ist, keinen »autonomen Willen« besitzt, sondern immer einer externen Macht untersteht. Wenn es dann zum Tun des Guten kommt, dann ist das nicht des Christen Werk, sondern das Werk des göttlichen Geistes!204 Eine zweite Ausgleichsbemühung besteht in dem Hinweis, dass bei Einbeziehung des Kontextes und anderer Paulus-Stellen (etwa Röm 8,1–17) letztlich doch keine Symmetrie zwischen Geist und Fleisch, sondern ein Übergewicht des Geistes vorliege.205 Schließlich wird auch die Position vertreten, dass es gerade in der Freiheit und Verantwortung des Christen selbst liege, sich dem Geist ganz anzuvertrauen und so den Kampf der beiden Mächte zugunsten des Geistes zu entscheiden.206 Erwogen werden kann weiter die Alternative, dass die beiden Satzteile »der Geist [begehrt] gegen das Fleisch, die zwei liegen im Streit miteinander« entweder insgesamt oder nur der letzte als Parenthese zu lesen sind. Gegen die erste Variante207 spricht aber doch die schon angeführte Parallelität der Aussagen über Fleisch und Geist und ihr konträres Begehren sowie die strenge Zuordnung durch »γάϱ« und »δέ«, so dass beides grammatisch ebenfalls parallel anzuordnen ist. Freilich wäre von dieser Variante aus eindeutig, dass sich der umstrittene »ἵνα«Satz ausschließlich auf das Begehren des Fleisches bezieht, welches eben, wie die Parenthese verdeutlicht, gerade deshalb, weil der Geist gegen das Fleisch begehrt und beide Mächte in unversöhnlicher Feindschaft zueinander stehen, nicht zum Zuge kommt. Wahrscheinlicher ist jedoch aus dem angegebenen Grund die andere Möglichkeit, nämlich nur den Versteil »die zwei liegen im Streit miteinan Dann ist es konsequent, den »ἵνα«-Satz nur auf »diese liegen miteinander im Streit« zu beziehen. 204 So Zahn, Galater, 265 f. 205 Vgl. Mußner, Galaterbrief, 376; Lichtenberger, Ich, 254, die unter Verweis auf E. Schweizer (ThWNT VII, 131) hervorheben, dass zwar bei Paulus das πνεῦµα häufig als handelndes Subjekt ohne Erwähnung der σάϱξ erscheint, die σάϱξ selbst als Handlungssubjekt aber nur im Schatten einer Aussage über das Handeln des πνεῦµα auftaucht. Die σάϱξ ist also nicht in gleicher Weise wie das πνεῦµα wirkende Macht. 206 So Schlier, Brief, 250; Mußner, Galaterbrief, 377 f., der sogar von »echter Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse« bzw. von der »Freiheit echter Entscheidungsmöglichkeit« spricht und damit in synergistische Bahnen gerät. Zu Schliers starker Gewichtung der doch nicht nur einmaligen Entscheidung für den Geist steht in einer gewissen Spannung, dass er andererseits von einer ontisch-sakramentalen Erneuerung des Christen in der Taufe ausgeht und von daher jede christliche Dialektik und so auch das simul iustus et peccator zurückweist. Dem Christen eignet eine sakramentale iustitia, die er in einer personalen iustitia zu übernehmen hat. Er ist »nur ein iustus«, steht aber »ständig in der Versuchung, ein peccator zu werden«. Vgl. Brief, 263–267, Zitat 267. Siehe auch Rohde, Brief, 234 f., bes. 235: »Der absolute Gegensatz zwischen Fleisch und Geist soll uns dazu treiben, unser Tun zu beherrschen und nicht allem nachzugeben, zu welchem uns unsere Begierden antreiben.« Genau dies sei Gottes Absicht, wenn er den Christen in dem Kampf beider Mächte belässt. 207 Sie wird von Hofius, Widerstreit, 154 f., vertreten. Dagegen Lichtenberger, Ich, 253. 203

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der« als erklärende Einschaltung zu verstehen. Dann läge es zwar wieder nahe, den »ἵνα«-Satz auf beide ἐπιϑυµίαι zu beziehen.208 Jedoch kann dies aus anderen Gründen eher ausgeschlossen werden: Einmal – und darauf hat besonders Paul Althaus, aber auch Michael Theobald hingewiesen –209 erinnert die Wendung »so dass (damit) ihr nicht tut, was ihr wollt« an Röm 7,15.19, ja ist als formale und sachliche Parallele zu diesen Versen zu werten. Da in Röm 7 mit dieser Wendung, eine allgemeine Sentenz aufgreifend,210 eindeutig ein positives, d. h. gutes Wollen des (inneren) Menschen anvisiert wird (vgl. Röm 7,22), sei auch in Gal 5,17 davon auszugehen, dass das »ϑέλειν« nicht neutral gewertet oder gar auf das böse Wollen zielend gemeint sei, sondern nur das rechte Wollen des Menschen in den Blick nehme.211 Da es nicht möglich ist, anzunehmen, dass der Geist dieses gute Wollen Dafür plädiert Lichtenberger, Ich, 254 f., der indessen den »Eindruck einer dualistischen Gleichrangigkeit von Fleisch und Geist« dann durch Gal 5,18 vermieden sieht. Zu fragen sei aber doch, ob Paulus dem Dualismus in Gal 5,17 »nicht gefährlich nahe kommt, insbesondere im Unterschied zu Röm 7–8« (255). 209 Vgl. Althaus, Paulus, 116 f.; Theobald, Concupiscentia, 259 f. 210 Vgl. nur Ovid, Met. 7,20 f. (von Medea gesprochen): »Video meliora proboque, deteriora sequor.« Dazu Theißen, Aspekte, 213–223; Theobald, Römerbrief I, 212–216; Lichtenberger, Ich, 176–186. 211 Wie Althaus und Theobald votieren auch Bultmann, Christus, 466, und Borse, Brief, 195 f. (mit Verweis auf Röm 7), zaghaft Oepke, Brief, 175. – Theobald, Concupiscentia, 264–267, vertritt darüber hinaus die Hypothese, dass Paulus die genannte Sentenz zuerst in Gal 5,17 zitiert und damit im Christen selbst einen gewissen Zwiespalt und Kampf angesetzt habe. Später greife er in Röm 7 auf die Sentenz zurück, wende sie nun aber auf den vor- und außerchristlichen Menschen an, während der Christ selbst in Röm 8 nicht mehr von jenem Widereinander von Fleisch und Geist bestimmt sei. Diese Transformation von Gal 5,17 nach Röm 7,15.19 erklärt Theobald aus der gewandelten argumentativen Stoßrichtung von Röm 6–8: Hier galt es, gegenüber jüdischen bzw. judenchristlichen Verdächtigungen, das gesetzesfreie Evangelium des Paulus mache ein ethisch verantwortliches Leben unmöglich und lasse es nicht zur Erfüllung der Tora kommen, festzuhalten, dass gerade aus dem Glauben und der Freiheit vom Gesetz es zum Tun des Guten und zur Erfüllung der eigentlichen Intention der Tora, der Liebe, komme. Darum musste Paulus aber jeden Anschein vermeiden, als sei auch der Christ noch von einem Streit zwischen Geist und Fleisch bestimmt. Paulus benutzt ihn nun – allerdings mit dem Begriffspaar νοῦς-σάϱξ – zur Kennzeichnung des für den Christen überwundenen früheren Unheilszustandes. Das simul von Gal 5,17 weiche also einem praeteritum! Insofern in Röm 7 der frühere Unheilszustand erinnert werde, liege bei Paulus ein simul peccator im Sinne eines »simul der Erinnerung« vor. Dieses sei notwendig, »um den neu gewonnenen ›Stand‹ der Gnade zu begreifen und als solchen festzuhalten« (266 f.). Siehe auch ders., Römerbrief (Erträge), 248 ff., bes. 248: »Zugleich (simul) von Erinnerung und Danksagung«. Ähnlich schon Bornkamm, Sünde, 68 f. (Hv.): Es »bleibt die Vergangenheit und Verlorenheit des Unerlösten in einem sehr bestimmten Sinne Gegenwart auch für den Christen, nämlich als überwundene und vergebene« und damit als Verweis auf die unhintergehbare iustitia aliena Christi. Wenn Byskov, Simul, 84 f., in Röm 7 Luthers simul bestätigt finden will und sich dafür auf Bornkamm beruft, nivelliert sie den Unterschied zwischen Luthers simul und dem simul peccator im Sinne der Erinnerung und Bedrohung. 208

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 603 hindere (er befreit bzw. fördert vielmehr das im Menschen von der Schöpfung her angelegte gute Wollen), kann sich 5,17d allein auf 5,17a (»Das Fleisch begehrt gegen den Geist«) zurückbeziehen: Das Streben des Fleisches bewirkt oder zielt darauf, dass das eigentliche, gute Wollen der Christen nicht zur Ausführung gelangt.212 Freilich muss dann sofort ergänzt werden: Da aber der Geist gegen das Fleisch gerichtet ist, beide stehen ja unversöhnlich gegeneinander, wird gerade diese Möglichkeit beim Christen verhindert und ausgeschlossen. Der Christ gibt in der Kraft des Geistes den Begierden des Fleisches nicht nach (5,16). Er missbraucht die ihm geschenkte Freiheit nicht zur »Gelegenheit« bzw. »Angriffsfläche« für das Fleisch, sondern gebraucht sie als Freiheit zur Liebe, und erfüllt damit faktisch das Gesetz (5,13 f.). Der Christ, der sich vom Geist leiten lässt, steht indessen nicht mehr unter dem Gesetz, d. h. unter seinem Fluch und unter seiner die Sünde provozierenden Macht. Er ist für die Obsessionen der σάϱξ und für die ἐπιϑυµεῖν verschlossen (5,18) und lässt es nicht zu Werken des Fleisches kommen (5,19). Wie es ja 5,24 auch heißt: »Die aber Christus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Begierden.« Dieses Leben und Wandeln nach dem Geist (5,25) schließt also einen paritätischen, unentschiedenen Zustand von Fleisch und Geist im Christen aus, der Christ wird vom πνεῦµα regiert, und den Begierden des Fleisches wird in der Regel nicht nachgegeben. Dies negiert für die Christen allerdings nicht die Möglichkeit der Verfehlung (5,15; 6,1.7 f.) und der »Werke des Fleisches« (5,19–21). Deshalb ja auch die eindringliche Mahnung des Apostels.213 Allein diese letzte Deutung scheint uns auch der Funktion gerecht zu werden, die Vers 5,17 im Kontext einnimmt: Es soll, wie schon erwähnt, 5,16 begründet werden: »Lebt im Geist, so werdet ihr die Begierden des Fleisches nicht vollbringen.« Keine Interpretation von Gal 5,17 darf deshalb diese hier zur Sprache gebrachte Zuversicht eines Wandels in der Bestimmtheit durch den Geist, der für die Befriedigung des Begehrens des alten Menschen keinen Raum mehr lässt, unterbieten bzw. in Frage stellen. Der Vers verweist in diesem Sinne also »nicht auf eine essentielle Ambivalenz oder einen anthropologischen Dualismus, sondern auf die Kraft des Geistes, in den Glaubenden das Begehren des Fleisches zu besiegen«.214 Die Frage, ob das »ἵνα« dann im konsekutiven oder finalen Sinn vorliegt, ist dann letztlich nicht entscheidend. So Althaus, Paulus, 114. 213 Vgl. Hofius, Widerstreit, 155–158, bes.156 f. Gegenüber Hofius ist freilich zu betonen, dass die ἐπιϑυµία σαϱκо´ς noch im Christen selbst präsent ist. Vgl. auch Becker, Brief, 88: »Das negativ qualifizierte Verhalten des sündigen Menschen ist durch den Geist nicht so überwunden, dass es einfach abgestorben ist. Durch den Geist wird der Mensch vielmehr so erneuert, dass er nun in Widerspruch zu seiner bisherigen existentiellen Ausrichtung gerät. Diesen Widerspruch gilt es immer wieder zu meistern«; 91 (zu Gal 5,24): »Denn für den Christen ist der Entscheid zwischen Geist und Fleisch längst gefallen. Dieser Streit ist kein Kampf gleichrangiger Rivalen, sondern steht längst unter dem Zeichen des Sieges für den Geist.« 214 So Söding, Rechtfertigung, 50. Vgl. ebd., 81: Gal 5,16 f. wollen »nicht erklären […], 212

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3.1.3 Fazit Unter der Voraussetzung, dass Gal 5,17 vom Christen handelt, möchten wir uns dieser letzten Interpretationsmöglichkeit anschließen, die damit für die Deutung von 5,17d auf die Deutung der Reformatoren auf das eigentliche, positive Wollen des Christen zurückgreift. Wenn auch Gal 5,17 nicht mehr in ihrem Sinne als direkter Beleg für das simul iustus et peccator angeführt werden kann, weil Paulus das Begehren des Fleisches als solches noch nicht für Sünde erachtet, sondern erst, wenn man ihm in »Werken des Fleisches« nachgibt, so ist hier (wie auch in 5,16) doch mit großer Deutlichkeit ausgesprochen, dass auch im Christen ein solches Begehren als Relikt seiner alten Existenz noch wirksam ist, wenngleich es abgewiesen wird. Dieses Begehren wird in 5,17 selbst dem Begehren des Geistes parallel gestellt, obschon der Kontext eine solche Symmetrie zwischen beiden Größen gerade ausschließt. »In Gal 5,17 treten Geist und Fleisch […] offenbar gleichzeitig im Christen auf«215, wenn auch nicht gleich mächtig! »Der Christ spürt am eigenen Leibe den Widerstreit zwischen dem ›Geist‹ Gottes und seinem eigenen ›Fleisch‹. […] Die Fleischlichkeit des Christenmenschen wirkt sich so aus, dass er, obgleich ›Geistlicher‹, dennoch das Begehren des Fleisches spürt und ihm nachzugeben in ständiger Gefahr ist.«216 Unter Berufung auf Röm 7,7 kann es in anderer Erfahrungssituation des christlichen Lebens von daher durchaus dazu kommen, wie bei Luther geschehen, jenes Gal 5,17 angesprochene Begehren des Fleisches selbst schon für Sünde anzusehen und von einem simul iustus et tentatus zu einem simul iustus et peccator fortzuschreiten. Dieser Schritt ist möglich und naheliegend, aber nicht zwingend!

3.2 Matthäus 5,21–22; 5,27–28 In diesem Abschnitt greifen wir zur Fundierung des simul iustus et peccator als sich von gewissen Stellen des Neuen Testaments nahelegende Umschreibung des Christenmenschen auf jesuanisch-synoptisches Gedankengut zurück, näherhin auf die ersten beiden der insgesamt sechs Antithesen der Bergpredigt. In Mt 5,21–22 und Mt 5,27–28 heißt es: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ›Du sollst nicht töten‹; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig. […] Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ›Du sollst nicht ehebrechen.‹ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« weshalb auch die Christen sündigen, sondern weshalb sie als Gerechtfertigte kraft des Geistes diese Versuchung bestehen und der Gerechtigkeit dienen können«. 215 Lichtenberger, Ich, 255. 216 Söding, Rechtfertigung, 48.

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 605

3.2.1 Einführendes zu den Antithesen Der Evangelist Matthäus stellt in den Antithesen jeweils eine alttestamentliche Weisung, die bei den beiden ersten sogar dem Dekalog entnommen ist (5. und 6. Gebot),217 der Lehre Jesu gegenüber, welche der Tora als der von Gott den »Alten« gegebenen Weisung souverän und kritisch gegenübertritt. Dabei liegt in den Antithesen 1, 2 und 4 eine Toraradikalisierung bzw. -verschärfung vor, in den Antithesen 3, 5–6 eine Toraaufhebung.218 Die erste Gruppe stammt aus dem Sondergut des Matthäus (sie findet also bei Lukas keine Parallele), die zweite aus der von Matthäus und Lukas gemeinsam benutzen Logienquelle Q, wobei Matthäus dem letzteren Stoff die antithetische Form – analog zur ersten Gruppe – aufgeprägt hat, die in Q also noch nicht vorlag. Die Struktur der Gegensatzrede kann dabei durchaus auf Jesus selbst zurückgehen. Die Fragen, inwieweit Jesus hier inhaltlich Neues vorträgt oder seine Aussagen sich mit ähnlichen Äußerungen des Judentums vergleichen lassen, inwieweit sich darin seine messianische, den Anspruch eines Rabbi oder Propheten übersteigende Autorität ausspricht, können hier außer Betracht bleiben. Auffallend und singulär ist in jedem Fall, dass Jesus (bzw. der Evangelist) zwar eine traditionelle rabbinische Argumentationsstruktur aufgreift (»Ihr habt gehört, dass den Alten ist gesagt worden […]; ich aber sage euch: […]«), er aber nicht, wie üblich, zwei verschiedene Auslegungen der Tora gegenüberstellt, sondern eben die Tora selbst kritisiert,219 verschärft bzw. sogar durch eine neue Weisung ersetzt. Das signalisiert einen messianisch-eschatologischen Anspruch. »Der Kyrios steht über der Tora.«220 Matthäus hat die Antithesen wohl als jene kurz zuvor erwähnte »Erfüllung« der Tora durch Jesus verstanden, als Beispiel jener von den Christen geforderten »besseren Gerechtigkeit«, welche über die der Schriftgelehrten und Pharisäer hinausreicht, ohne dass damit die Spannung zu der Jesus zugeschriebenen buchstabengetreuen Toraobservanz behoben wäre (Mt 5,17–20). Die Antithesen stehen insgesamt als Beispiel für jene Vollkommenheit der christlichen Gemeinde, in der diese ihren himmlischen Vater nachahmt (Mt 5,48). Wir greifen für unseren Zweck auf die beiden ersten Antithesen zurück, weil in ihnen im Unterschied zu den folgenden die von Jesus vorgenommene Verschärfung der Tora bis in das Innerste, bis in das Herz des Menschen hineinreicht.221 Es genügt nicht mehr, nur äußerlich mit der Tat den Willen Gottes zu tun bzw. Die vierte Antithese (Verbot des Schwörens) begreift sich wohl ebenfalls als Auslegung eines Dekaloggebots, nämlich des achten Gebots. 218 Vgl. Eichholz, Bergpredigt, 70; Luz, Evangelium I, 326. 219 Und damit den in ihr dokumentierten Gotteswillen. »Ἐϱϱέϑη« ist passivum divinum und steht für Gottes Sprechen in der Schrift. So Luz, Evangelium I, 330. 220 Strecker, Berpredigt, 65. Vgl. ebd., 64–67; Luz, Evangelium I, 328–333. 221 Eichholz, Bergpredigt, 78, spricht von einer »inneren Verwandtschaft« beider Antithesen. Beide zielen auf die »innerste Schicht seiner [des Menschen] Existenz, in der er für den Strafrichter unerreichbar und unkontrollierbar bleibt« (80). 217

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ihm nicht zu widersprechen, nein, jetzt, da das Reich Gottes in Jesus anbricht und die messianische Zeit heraufzieht, wird der volle Wille Gottes wieder freigelegt und zu leben möglich, wonach Gott den ganzen Menschen, also auch sein Herz, sein Inneres in Anspruch nimmt.222 Dass der Mensch nach außen hin den Willen Gottes tut, äußerlich korrekt lebt, sich aber in seinem Inneren gerade von Gott distanziert, das wird jetzt unmöglich. Denn das »Gesetz reicht tiefer; es verurteilt nicht nur die böse Tat, sondern auch Gedanken und Gefühle«223. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir es bei beiden ersten Antithesen (und wohl auch der vierten) nach Inhalt und Form weitgehend mit jesuanischem Gedankengut zu tun haben, ist hoch.224

3.2.2 Erste Antithese In der ersten Antithese radikalisiert Jesus das im fünften Gebot ausgesprochene Tötungsverbot, dessen Übertretung selbst mit dem Tod bestraft wurde, derart, dass der Mord nicht erst bei der Tat beginnt, sondern schon beim Zorn gegenüber dem Bruder225 vorliegt, ebenso, wenn dieser mit den Worten »Ῥακά« oder »Μωϱέ« beschimpft wird. Diesen drei Ausweitungen des fünften Gebots korrespondiert die Verweisung an eine jeweils höhere Gerichtsinstanz (Ortsgericht, Synedrium, höllisches Feuer) bzw. die Verschärfung der Strafe. Dabei ist bei dem aramäischen »Ῥακά« vielleicht an ein intellektuelles Defizit des Mitmenschen gedacht (»Hohlkopf«, »Dummkopf«), während »Μωϱέ« (wohl ebenfalls aramäisch) ein sittliches, noch eher aber ein religiöses Manko in den Blick nimmt (»gottloser Narr«).226 Gemeint wäre dann eine Beeinträchtigung des Nächsten in seinen menschlichen

Man wird davon ausgehen dürfen, »daß dieser Höhenflug, der einem Christen, der noch nicht völlig abgestumpft ist, schwindeln machen sollte [nämlich Mt 5,48 und somit alle Antithesen], vom Evangelisten im Sinne einer erfüllbaren Forderung und nicht als fromme Floskel gemeint ist«. So Hengel, Ende, 687. 223 Strecker, Bergpredigt, 69. – Luther bringt dies gut zum Ausdruck, wenn er im »Du sollst nicht töten!« die ganze Person und nicht nur einen Teil von ihr angesprochen sieht: »Denn meinestu, das er [Christus] allein von der faust rede, wenn er sagt ›Du solt nicht todten‹? Was heisset ›Du‹? nicht allein deine hand noch fus, zunge noch ein ander einzelen gelied, sondern alles was du bist an leib und seele. […] Und ob gleich die weil die hand stil helt, die zunge schweiget, augen und ohren sich bergen, doch steckt das hertz vol mords und todschlag.« (32,363,2–18) 224 Vgl. Luz, Evangelium I, 326 f., 331, der dies jedoch nur für die Antithesen 1–2 annimmt. 225 Mit dem »ἀδελφо´ς« ist nach Strecker, Bergpredigt, 68, zunächst der jüdische Volksgenosse, dann der christliche Glaubensbruder gemeint. 226 Vgl. Eichholz, Bergpredigt, 73. Zur Herleitung und Bedeutung der Worte siehe auch Lohmeyer, Evangelium, 119; Grundmann, Evangelium, 156 f., die beide auch griechische Ableitungen erwägen. Luz, Evangelium I, 336: Ῥακά sei aramäischen, Μωϱέ griechischen Ursprungs. Ein wesentlicher Bedeutungsunterschied liege nicht vor, höchstens eine Steigerung. 222

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 607 Beziehungen und in seiner Beziehung zu Gott.227 Klar ist auch, dass Jesus, wie bei den Antithesen generell, diese Vergehen nicht justitiabel machen möchte, sondern dass es ihm um den den ganzen Menschen betreffenden Anspruch des göttlichen Gebots geht, der sich weit über das hinaus, was gerichtlich ahnbar ist, erstreckt. Es spricht einiges dafür, dass die Urform der ersten Antithese (im Munde Jesu) wohl nur die Verse 21.22a umfasst hat.228 Jesus radikalisiert also das Tötungsverbot, indem er nicht erst den vollbrachten (heimtückischen) Mord, sondern schon den Zorn in ihm verboten sieht. »Κϱίσις« wäre in diesem Fall nicht als (eine) Gerichtsinstanz, sondern als göttliches Urteil im Endgericht verstanden. Die folgenden sekundären Auffüllungen hätten dann verschiedene ethische Verfehlungen nach ihrer Schwere in Form einer Klimax aneinandergereiht: Innere Zornesregung, Ausbruch des Zorns in unterschiedliche Beleidigungen, denen eine Höheransetzung des gerichtlichen Forums (Lokalgericht, Synedrium in Jerusalem, Höllenfeuer) korrespondierte. Dadurch wird das Ganze aber kasuistisch strukturiert, und die ursprüngliche Antithese um ihre paradoxe, radikale Zuspitzung gebracht, welche sich gerade gegen die innere Zornesregung richtet.229 Wie dem auch sei, in jedem Fall wird von Jesus der Zorn vom fünften Gebot erfasst. Die Unbedingtheit des Gesetzes holt auch ihn ein! Der Zorn ist nun aber eine im Menschen in bestimmten Situationen unwillkürlich, unkontrollierbar aufsteigende innere Regung, die sich nicht in das übliche Verständnis des peccatum actuale als willentlicher Entschluss bzw. bewusst gefasster Gedanke oder gar ausgeführte Tat einordnen lässt. Insofern sind wir an dieser Stelle sehr nahe bei dem, was Luther mit jenen inneren bösen Regungen des Menschen meinte, denen kein Mensch, auch der beste und auch der Christ nicht, zu entrinnen vermag. Und dennoch hat Luther sie als Sünde qualifiziert! Jesus scheint an dieser Stelle genau dasselbe zu tun, wenn er den Zorn als vom fünften Gebot unter das göttliche Gericht gestellt sieht. Gewiss deckt der Begriff »Zorn« ein weites Spektrum ab: Die erste Zornesregung ist von jenem Zorn abzuheben, dem man sich überlässt, dem man sich hingibt und seinen Lauf lässt, bis hin zum äußeren Zornesausbruch oder gar dem Üben von Rache. In der Realität verläuft der Übergang hier freilich fließend, und gewiss hat Jesus hier nicht kasuistisch scheiden und abgrenzen wollen. So ist es legitim, Jesu radikale Weisung als Verbot des Zornes schon in seinen ersten Anfängen als unwillkürliche, unvermeidbare Regung zu verste-

So Schweizer, Evangelium, 72. Dies vermutet Strecker, Bergpredigt, 69 f. Anders Luz, Evangelium I, 337 f. 229 Eichholz, Bergpredigt, 74, votiert hingegen dafür, »daß hier alle Kasuistik schachmatt gesetzt wird«. Ähnlich Schweizer, Evangelium, 72. Luz, Evangelium I, 337 f., betrachtet V. 22bc nicht als Steigerungen, sondern als Konkretionen von 22a. Soll damit gesagt werden, dass der Zorn erst »bei den banalsten Schimpfworten« und nicht schon bei der inneren Zornesregung beginnt? Andererseits schreibt Luz, dass »die Wurzel menschlichen Tötens im menschlichen Herzen liegt« (ebd.). 227 228

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hen. Nicht erst der Zornesausbruch, sondern schon die Zornesregung ist ange­sprochen.230 An die Unterscheidung eines berechtigten von einem unberechtigten Zorn ist dabei ursprünglich nicht gedacht. Diese schon in einigen Handschriften mit dem Zusatz »εἰκῇ« (ohne Grund) und auch später immer wieder vorgenommene Differenzierung ist bei Jesus nicht im Blick und stellt den Versuch einer Abschwächung dar.231

3.2.3 Zweite Antithese Ähnlich wie die erste Antithese lenkt Jesus auch in der zweiten Antithese den Blick vom Äußeren auf das Innere: Der Ehebruch liegt nicht erst dann vor, wenn er zur tathaften Ausführung gekommen ist, sondern beginnt schon beim begehrlichen Blick auf die andere (verheiratete) Frau, ja er beginnt nicht erst, sondern ist dann bereits vollendet, nämlich »im Herzen«. Jesus liest also das fünfte Gebot vom zehnten Gebot her. Dabei setzt er das jüdische, vom Mann aus denkende Eheverständnis voraus: Der Mann bricht bei geschlechtlichem Verkehr mit einer anderen, verheirateten Frau nicht seine eigene Ehe, sondern die des anderen Mannes bzw. macht dessen Frau zur Ehebrecherin. Der Verkehr des Mannes mit unverheirateten Frauen oder Sklavinnen galt dagegen zwar als verpönt, nicht aber als Ehebruch. Insofern geht es Jesus – innerhalb der damals bestehenden Ordnung, die genauso bei der dritten Antithese vorausgesetzt ist (Mt 5,31 f.) – um die Heiligkeit und den Schutz der Ehe, und zwar zunächst der Ehe des anderen Mannes.232 Denn »schon der verlangende Blick [wird] als ehezerstörend gewertet«233. Woran wir zuerst denken, dass der Mann damit auch seine eigene Ehe bricht, d. h. seiner eigenen Frau untreu wird, ist von Jesus wohl nicht in den Blick genommen worden, ebenso nicht die Anwendung seiner Toraradikalisierung auf den begehrlichen Blick einer Frau. Doch ist es gewiss legitim, wenn wir Jesu Weisung auf unser heutiges personales Verständnis der Ehe als einer monogamen, unverbrüchlichen Verbindung zwischen Mann und Frau anwenden und zudem von einer gleichen Würde der Geschlechter ausgehen.234 Vgl. Luck, Evangelium, 68: »Für Matthäus wird im Wort Jesu das Gebot Gottes bis in den inneren Grund der menschlichen Existenz vorgetragen. […] Die Schuld des Menschen fängt dann aber nicht erst bei der vollendeten Tat, sondern schon bei seinen inneren Regungen an.« Anders Lohmeyer, Evangelium, 119: Zorn bezeichne an dieser Stelle nicht »die leiseste Form des Ungehaltenseins«. 231 So Eichholz, Bergpredigt, 74 f. Vgl. auch Luz, Evangelium I, 341 f., bes. 341: »Die Wirkungsgeschichte der ersten Antithese ist weitgehend eine Geschichte ihrer Milderung.« 232 So Luz, Evangelium I, 352. Vgl. ebd., 352 ff., 355; Schweizer, Evangelium, 73 f. Zu erwägen ist freilich, ob Jesus nicht auch die begehrte Frau in den Blick nimmt, insofern der Mann sie »in den Ehebruch treibt« (µοιχεύειν αὐτήν) und bei seiner Verantwortung behaftet wird. Vgl. Lohmeyer, Evangelium, 127 f.1; Grundmann, Evangelium, 159 f., 161. 233 Strecker, Bergpredigt, 73. 234 Deutlich ist freilich, dass Jesus mit der zweiten Antithese nicht jeden Kontakt zwi230

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 609 Umstritten ist in der Exegese, ob der Infinitiv »πϱός τὸ ἐπιϑυµῆσαι [αὐτήν]« konsekutiv oder final zu verstehen ist. Bei konsekutiver Deutung ist das Begehren die Folge des Blickes auf die andere Frau, bei finaler und wahrscheinlicherer Interpretation geschieht der Blick, um die Frau zu begehren. Im letzteren Fall ist das Begehren stärker als die innere Wurzel, der innere Grund des Blickes gefasst. In jedem Fall spricht der Text aber vom Ehebruch »im Herzen«.235 Strittig ist auch, ob »ἐπιϑυµῆσαι« objektlos gebraucht ist oder ob »αὐτήν« zu ergänzen ist. Im ersteren Fall wäre die Begierde ganz grundsätzlich in den Blick genommen und negativ belegt, im zweiten konkreter, als nur auf eine bestimmte andere Ehefrau gerichtet.236 Aber wie dem auch sei: »Nicht allein die Tat des sündhaften Blicks, auch der verkehrte Wille des Menschen wird von dem Urteilsspruch Jesu getroffen.«237 Es verhält sich nun beim begehrlichen Blick nach dem anderen Geschlecht, gleich ob vom Mann oder von der Frau ausgehend, besonders wenn er oder sie selbst verheiratet ist, so, dass es sich wie beim Zorn um etwas Unwillkürliches, nicht Kontrollierbares handelt, dem wir nicht entgehen können und von dem doch durch Jesus gesagt wird, dass es vom fünften Gebot getroffen wird und damit Sünde ist.238 Dabei sei natürlich auch hier zugegeben, dass dabei unterschiedliche Grade der Absicht und der Einstimmung möglich sind. Gleichwohl gilt: Der begehrliche Blick nach dem anderen Geschlecht beim schon Verheirateten bzw. auf

schen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit untersagen, geschweige denn die Frau als permanente sexuelle Gefährdung für den Mann denunzieren wollte. Dagegen spricht seine eigene, der damaligen Sitte entgegenstehende Praxis, derzufolge er auf Frauen zuging, mit ihnen sprach, sie als Adressaten seiner Botschaft begriff und so aufwertete. Siehe dazu Luz, Evangelium I, 352. 235 Strecker, Bergpredigt, 74 f., erblickt in dieser Wendung einen Zusatz des Evangelisten. Siehe auch Grundmann, Evangelium, 160, wonach für den finalen Sinn des Infinitivs u. a. spricht, dass sein konsekutives Verständnis jeden Blick auf eine andere Frau als gefährlich betrachten würde, eine rigoristische Tendenz, die Jesu unbefangenem Verhalten gegenüber Frauen fremd sei. Ferner Luz, Evangelium I, 349 ff. 236 So Lohmeyer, Evangelium, 127 f.1, Grundmann, Evangelium, 160 f. 237 Strecker, Bergpredigt, 74. Ähnlich Luz, Evangelium I, 353: »Nicht nur justitiable Tatbestände, sondern die innersten Regungen des menschlichen (männlichen!) Herzens werden von ihm [dem sechsten Gebot] betroffen«; Luck, Evangelium, 69: »Wie in der ersten Antithese geschieht hier bereits im Menschen und in seinem Begehren die Untat.« 238 Sanders, Paulus, der Röm 7 (vgl. 126 ff.) und erst recht Luther kritisch gegenübersteht, notiert gleichwohl treffend zu Röm 7,7: »Der Wortlaut ›Begehre nicht!‹ drängt geradezu eine Deutung des Verbots auf im Sinne von ›Begehre nicht in deinem Herzen!‹ Dies, so konnte Paulus ehrlich sagen, lässt sich nicht vermeiden.« (125) Alle anderen Gebote des Dekalogs behandelten demgegenüber Dinge, die sich mehr oder weniger leicht vermeiden lassen. Ähnlich schon Luther selbst, dem das »Non concupisces!« zum Paradigma der universalen und unfehlbaren elenchtischen Funktion des Gesetzes wird: »Exempli causa: ›Non concupisces‹ praeceptum est, quo omnes nos esse peccatores convincimur, cum nemo possit non concupiscere, quicquid contra molitus fuerit.« (7,52,30 ff.)

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einen Verheirateten gerichtet, weist zurück auf ein falsches Begehren im Herzen! Insofern sind wir auch an dieser Stelle erneut Luthers unausweichlicher concupiscentia und so auch seinem simul iustus et peccator sehr nahe. Selbst wenn der Zorn und der begehrliche Blick nicht etwas Konstantes, etwas Permanentes, sondern zeitlich Begrenztes sind, weisen sie doch auf das noch vorhandene böse bzw. konkupiszente Herz zurück, das auch beim Jünger Jesu offenbar noch nicht ganz geheilt ist. Sie verweisen darauf, dass wir, obschon in Christus von der Macht der Sünde befreit, gleichwohl noch unter dieser Macht stehen, wenngleich sie durch Christus »beherrscht« ist und wir ihr widerstehen können und nicht nachzugeben brauchen. Wie Jesus ja prinzipiell auf das böse Herz als die Quelle alles Bösen verweist und damit von der Tat auf ihren inneren Quellgrund hinlenkt: »Von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen heraus böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft.« (Mk 7,21 f.) In der Bergpredigt selbst geht Jesus davon aus, dass die Zuhörer böse sind, obschon sie Gutes tun: »Wenn nun ihr, die ihr böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!« (Mt 7,11 par; vgl. Mk 10,18 parr) Dass Jesus das böse Begehren selbst schon als Sünde angesehen hat, könnte schließlich auch aus dem von ihm dem Alten Testament entnommenen und als »das größte« (πϱώτη πάντων) apostrophierten Gebot der Liebe Gottes »von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« gefolgert werden (Mk 12,29 f.; vgl. 5.Mose 6,4 f.). Denn gerade an dieser von Gott zuerst verlangten Ganzheit der Hingabe an ihn hindert das böse Begehren des Herzens, wie besonders der frühe Luther immer wieder (z. B. 56,275,5–16; 1,368,10–30) herausgestellt hat.

3.2.4 Matthäus 5,21–22; 5,27–28 und das »simul iustus et peccator« Gerade die beiden ersten Antithesen, insofern sie uns mit etwas Unkontrollierbarem, Unausweichlichem und doch Sündhaften konfrontieren, sind ein Argument für das, was in gewisser Weise für die anderen Antithesen, ja für die Weisungen der Bergpredigt überhaupt gilt: nämlich ihre Unerfüllbarkeit. Ohne an dieser Stelle in die Diskussion darüber eintreten zu wollen, darf doch behauptet werden, dass die Antithesen, und gerade die ersten beiden, unser Unvermögen, sie zu erfüllen, und damit unsere Sünde, ja die noch bestehende (Über)Macht der Sünde in unserem Leben aufdecken, so dass wir angesichts ihrer, wie Martin Hengel bekennt, eigentlich nur ausrufen können: »Gott, sei mir Sünder gnädig!«239 Dieser

Vgl. Hengel, Ende, 690: »Ich weiß nicht, wie ich beim Lesen des Textes, den Luther einst als ›Mosissimus Mose‹ bezeichnet haben soll, zunächst anders antworten soll als mit dem Stoßruf des Zöllners im Tempel: ›Gott, sei mir Sünder gnädig!‹« Gegenüber aller kirchlichen Domestizierung der Bergpredigt, aber auch gegenüber ihrer politischen In239

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 611 Ausruf weist nicht nur auf ein je aktuelles Zurückbleiben hinter den Weisungen Jesu hin, sondern auf ein anthropologisch-strukturelles und insofern auf ein simul peccator! Carl Friedrich von Weizsäcker umschreibt die erste Antithese: »Du sollst nicht nur nicht töten, du sollst nicht töten wollen. Du sollst nicht in dir den Impuls zulassen, der, wenn du ihm folgtest, töten würde.«240 Diese Forderung kann jeder nur als Überforderung hören! Die Antithesen, ja die Bergpredigt überhaupt, haben deshalb auch den zugespitzten theologischen Gebrauch des Gesetzes zum Ziel: Sie überführen den Menschen, den Christen seiner Sünde, sie klagen ihn an, sie fungieren, wie Luther formuliert, als »Mosissimus Moses«. Insofern ist es nur konsequent, wenn sich bei Jesus im Vaterunser die Bitte um Vergebung findet (Mt 6,12), und zwar doch wohl nicht nur als etwas Einmaliges, sondern etwas, was der Jünger Jesu immer wieder wie das tägliche Brot zu erbitten hat. Unsere These lautet deshalb, dass Luthers simul peccator an den beiden ersten Antithesen der Bergpredigt einen gewichtigen Anhalt besitzt und man von ihnen aus Luthers simul gut begründen könnte.241 Umso auffallender ist, dass Luther selbst sie offenbar kaum zur Fundierung bzw. Illustration des simul herangezogen hat. Zu den klassischen Stellen, die im Kontext des simul bzw. der bleibenden Sünde angeführt werden, gehören sie jedenfalls nicht. Luther hat insofern das argumentative Potential der ersten und zweiten Antithese nicht voll ausgeschöpft. Um dies genauer zu klären, werfen wir einen kurzen Blick auf seine Auslegung der Antithesen und speziell der beiden ersten. Christian Schulken hat aufgezeigt, dass Luther die Antithesen der Bergpredigt nicht nur als verurteilendes Wort interpretiert hat, das den Menschen seiner Sünde überführt, ja ihm die Unerfüllbarkeit der Forderungen Jesu demonstriert und ihn so zum Evangelium hinlenkt. Durch Christus geistlich vertieftes, radi­-

strumentalisierung betont Hengel ihren Charakter als zunächst »richtendes Wort«: »Wer kann sagen, daß er diesem Wort gehorcht hat, ihm ganz gehorsam war? Wird es damit nicht vor allem zum richtenden Wort?« (688) Es offenbart uns unser eigenes Unvermögen – »ein Unvermögen, das wir als Christen ruhig Sünde nennen sollten. […] Das Grundproblem, vor das uns die Bergpredigt stellt, ist diese Übermacht unserer Sünde. Matthäus lehrt uns so, Paulus besser zu verstehen: ›Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde‹ (Römer 3,20); er zwingt uns, den Apostel der bedingungslosen Gnade zustimmend zu zitieren: ›Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen das Gute finde ich nicht‹ (Römer 7,18).« (687) Siehe auch ders., Stadt, 20 f., bes. 21: »Es gibt zu ihr [der Bergpredigt] keinen bequemen ›hermeneutischen Schlüssel‹, kein ›Sesam öffne dich!‹ Sie deckt vielmehr unsere heillose Selbstsucht auf.« Ähnlich Strecker, Bergpredigt, 69. 240 von Weizsäcker, Garten, 451 (Hv.). Vgl. Luz, Evangelium I, 343, der dazu bemerkt: »Diese Forderung der ersten Antithese läuft für sich genommen auf eine absolute, bis in die innersten Regungen gehende Selbstkontrolle des Menschen durch sein Über-Ich hinaus. Ist sie möglich und hilfreich, oder ist sie eine ungeheure Überforderung?« Nach Luz, ebd., 343 f., hält Matthäus Jesu Weisung in der christlichen Gemeinde für lebbar, ohne sie auf die Gemeinde zu begrenzen. 241 Dies deutet schon Althaus, Paulus, 95 an.

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kalisiertes, weil auf das Innere, das Herz zielendes Gesetz: das sind sie ihm natürlich auch. Das Gesetz richtet sich letztlich auf das »internum desiderium cordis« bzw. den »motus cordis«.242 Christus fungiert hier dann quasi als »Mosissimus Moses«.243 Aber Luther betrachtet – und das will wohl beachtet sein – die Antithesen durchaus auch als forderndes, paränetisches Wort, von dessen (anfänglicher) Erfüllung er bei den Christen – im Unterschied zur »Welt« – ausgeht, ja das er den Christen, die aus Gottes Gnade leben, im Vollzug der Verkündigung geradezu zuspricht. Die Predigt setzt die Hörer, welche der Weisung des Bergpredigers folgen können, nicht einfach voraus, sondern schafft sie gleichsam durch ihr performatives Wort. Gleichwohl geschieht es immer wieder in Luthers Predigten, dass das paränetische Wort – gleichsam im Aufprall auf die andersgeartete Wirklichkeit – in das anklagende Wort umschlägt, so dass sichtbar wird, wie sehr auch der empirische Christ am geistlich vertieften Gesetz scheitert. Der Prozess dieser

Vgl. 7,508,31–509,37, wo Luther von einem »duplex officium« des Evangeliums (508,31) spricht. Dessen »proprium officium« (509,13) besteht natürlich im Hinweis auf Christus, der dem Menschen im Glauben die Sündenvergebung und den Heiligen Geist schenkt, kraft dessen er beginnt, das Gesetz zu lieben und gute Werke zu tun. Zeitlich, in jedem Fall aber sachlich, geht dem das »primum officium« des Evangeliums (509,7) vorauf, nämlich das Gesetz zu interpretieren und zu radikalisieren. Luther verweist dafür auf die Antithesen der Bergpredigt, insbesondere auf die beiden ersten, aber auch auf die vierte. Hier würden die Gebote so gedeutet, »ut non solum opus externum iuxta literam et verborum sonum, sicut rudes Iudaei accipiebant, prohibitum intelligatur, sed etiam internum desiderium cordis. […] Hac legis interpretatione fit, ut omnes inveniantur peccatores et legis rei, quia etsi ab operibus metu poenarum abstinent aliqui, nulli tamen non concupiscunt irascunturque etc. praesertim data occasione. At irasci est corde occidere, concupiscere est corde moechari, quantumlibet opus non sequatur. sic Paulus Ro. 7.[14] ›Scimus, quoniam lex spiritualis est, ego autem carnalis‹, Quia lex dei non opus aut verbum tantum, sed etiam motus cordis prohibet et exigit, Et ita per legem non nisi cognitio peccati, qua intelligimus impossibile esse, nos ex nobis esse aut fieri bonos, cum eo magis concupiscentia odit legem, quo magis cognoscit lege se prohiberi, Et tamen necessarium est legem dei servare sub poena aeternae damnationis.« Luther nimmt hier offenbar keine absolute impossibilitas legis an, sondern nur eine außerhalb des Glaubens an Christus (bzw. »ex nobis«). Innerhalb desselben ist sehr wohl ein anfängliches Leben nach der Bergpredigt möglich. Siehe schon 1,105,5–18. 243 Als Beleg für dieses oft im Kontext der Bergpredigt zitierte und damit auf Christus bezogene Lutherwort konnte ich nur 40 III,486,25 f. (Enarratio Psalmi 90 [1541], Dr) ausmachen: »In ea re [im Großmachen des Todes und des menschlichen Unglücks] secundum officium suum legale est Mosissimus Moses, hoc est severus minister mortis, irae Dei et peccati.« Hier ist allerdings Mose selbst und nicht Christus gemeint. Wurde die Titulierung des Christus der Bergpredigt als Mosissimus Mose von Luther an anderer Stelle vorgenommen oder ist sie erst später von der zitierten Stelle aus durch andere auf Christus übertragen worden? Nimmt gar schon die Druckfassung auf andere Lutheräußerungen Bezug – oder hat sie die Wendung selbst gebildet? In der Hs steht nur: »Moses totum aliter [als die Menschen sonst] exaggerat et amplificat mortem et calamitates huius vitae et proprie Moses, vir legalis, minister mortis, irae, peccati.« (40 III,486,12 ff. [1534–35]) 242

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 613 »Hermeneutik des Hörens« ist folglich wesentlich komplexer, als es die traditionelle usus-Lehre zu erkennen gibt.244 Legt sich schon vom elenchtischen Charakter der Antithesen die Verbindung zum simul nahe, so hat Luther an einer zentralen Stelle den Nexus zur simulThematik auch explizit hergestellt. Denn in seiner Auslegung der zweiten Antithese in den Wochenpredigten über Mt 5–7 (1531–32) führt er zunächst aus,245 dass Christus hier nicht so zu verstehen sei, als ob der Christ, um Jesu Weisung zu entsprechen, aus der Welt in die Wüste oder ins Kloster zu gehen hätte. Das Leben nach den Zehn Geboten geschieht vielmehr mitten in der Welt! Aus diesem Grund sollen wir nicht jeden Kontakt mit dem anderen Geschlecht meiden. Auch verbietet Christus nicht grundsätzlich die Ehe mit ihrer Lust und Liebe oder jene Anziehung der Geschlechter, die allererst zu einer Eheschließung führt. Dies alles stellt vielmehr Gottes gute Ordnung dar, auf der sein Segen ruht. Worauf es ankommt, ist allein, dass der begehrliche Blick des Verheirateten auf die andere Frau, den anderen Mann nicht zugelassen, sondern bekämpft wird. Für Luther ist dies am besten aus der Kraft des Glaubens heraus möglich, d. h. wenn man den eigenen Ehepartner als mit Gottes Wort geschmückt ansieht und darin seine eigentliche Schönheit erkennt: »Dies ist der Mensch, den mir Gott geschenkt, mir zugesprochen hat!« Luther geht offenbar davon aus, dass man auf diese Weise den begehrlichen Blick bekämpfen und eindämmen kann und sich insofern keiner Sünde schuldig macht. Dann folgen die für unseren Zusammenhang entscheidenden Ausführungen: »Doch mus mans hie auch nicht so enge spannen, ob gleich jemand angefochten wird und fulet das sich solche lust und begirde zu einer andern etwo reget, das er darumb solt verdampt sein. Denn ich habe offt gesagt das nicht müglich ist inn fleisch und blut on sündliche neigung zuleben, nicht allein inn diesem stuck sondern auch widder alle gebot. Darumb haben hie die lerer ein solchen unterscheid gesetzt, dabey ichs auch lasse bleiben, das ein schlechter gedanken on bewilligung sey nicht eine tödsunde. Es ist nicht müglich, wenn dich einer beleidigt hat, das nicht das hertz solt fulen odder bewegt werden und anheben zuwallen sich zurechen, aber das ist noch nicht verdamlich, wenn es nur nicht beschleusst und im fursetzt schaden zu thun, sondern solcher reitzung widderstehet. Also auch jnn diesem fall das der Teuffel nicht solt konnen jns hertz schiessen mit bösen gedanken und lust, ist nicht müglich zu weren, aber sihe zu, das du solche pfeil nicht stecken und einwachsen lassest, sondern bald widder aus reissest und weg werffest, Und thuest wie vorzeiten ein alt vater hat geleret und gesagt: Ich kann nicht weeren, das mir kein vogel uber den kopff fliege, aber das kann jch wohl weeren, das sie mir nicht jm har nisten oder die nassen abbeissen. Also steht nicht jnn unser macht, diese oder andere anfechtung zu weren, das uns Vgl. Schulken, Lex, 210–249, aber auch schon Heintze, Predigt, 147–163, 172–175, 257–260. 245 Vgl. zum Folgenden 32,370,4–373,5. 244

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nicht gedanken einfallen, wenn mans nur beym einfallen bleiben lesset, das man sie nicht einlasse, ob sie gleich anklopffen, und weere, das sie nicht einwurtzeln damit nicht ein fursatz und bewilligung draus werde. Aber nichts weniger ist es gleichwol sünde, doch inn die gemeine vergebung gefasset, weil wir nicht jm fleisch konnen leben on grosse stuck von sunden und ein jglicher mus seinem Teuffel haben, wie S. Paulus klagt Ro. 7.[18] uber die sünde die in im wonet, und sagt, das er inn seinem fleisch nicht gutes funde.« (32,373,6–30) Luther sagt hier mit aller Deutlichkeit: Solche Regungen und Gedanken, wie sie in den beiden ersten Antithesen von Jesus verurteilt werden, können wir nicht nicht haben. Niemand kann ihnen entrinnen! Das gilt nicht nur aktuell, sondern strukturell, und solange wir »in Fleisch und Blut« sind, ist dies – wie ausdrücklich mit Röm 7 begründet wird – die irdisch-faktische, wenngleich gewiss nicht schöpfungsmäßige conditio humana. Was in Mt 5,21 f. und Mt 5,27 f. beschrieben wird, ist zwar in sich betrachtet sehr wohl Sünde, ja es ist meine Sünde, mit der ich mich identifizieren muss, ist aber gleichwohl in der allgemeinen Vergebung eingeschlossen und trennt insofern nicht von Gott.246 Was aber sehr wohl in der Verantwortung des Christenmenschen steht, ist, dass er diese Gedanken und Regungen sich nicht in ihm festsetzen und Wurzeln fassen lässt, sondern ihnen widersteht, ihnen nicht nachgibt bzw. in sie einwilligt. Luther fasst alles in dem plastischen Bild zusammen: Ich kann zwar nicht verhindern, dass Vögel über mein Haupt fliegen, aber ich kann verhindern, dass sie in meinen Haaren Nester bauen!247 Nimmt man dies alles zusammen, so ist für Luther also sehr wohl in den beiden ersten Antithesen der Sachverhalt des simul iustus et peccator ausgesprochen und fundiert.248 Ein analoges Beispiel für diesen Sachverhalt gibt Luther schon 1524 in der Schrift »Von Kaufshandlung und Wucher«: Nachdem ausgeführt wurde, dass ein christlicher Kaufmann sich bei der Festsetzung des Preises für seine Waren nicht vom maximalen Gewinn bestimmen lässt, sondern zwischen dem eigenen Aufwand und Lohn und der Situa­tion des Käufers abwägt, erklärt Luther, dass solcher Versuch gerechter Preisfestsetzung nie völlig ausschließen kann, nicht doch zuviel zu verlangen. Dies ist zwar unvermeidliche Sünde, soll aber das Gewissen nicht zu sehr beschweren und gehört in die allgemeine Vergebung des Vaterunsers. Zudem gleiche es sich in etwa mit jenen Fällen aus, wo zu wenig gefordert werde. Vgl. 15,297,1–25, bes. 9 ff.18–22: »Ob du nu eyn wenig zu viel nemest unwissend und ungerne, so las das selb yns vater unser faren, da man bettet ›Vergib uns unsere schuld‹. Ist doch keyns menschen leben ohne sunde. […] Darumb solltu deyn gewissen damit nicht beschweren, sondern als eyne ander unuberwindliche sunde (die uns allen anhangen) mit dem vater unser fur Gott bringen und yhm befehlen. Denn zu solchem feyl dringt dich die not und art des werks, nicht der mutwille und geytz.« Wichtig ist der Hinweis, dass die Sünde es ist, die dem Christen anhängt (»peccatum adhaerens mihi«: 39 I,508,2 f.; vgl. Hebr 12,1), nicht aber der Christ der Sünde. Mit seinem eigentlichen Wollen will der Christ nicht mehr sündigen! Vgl. Jüngel, Evangelium, 185 f. 247 Ähnlich 2,124,24–32; 40 III,546,20–547,13. 248 Luther hat die Unvermeidlichkeit und Unentrinnbarkeit des in Mt 5,27 f. Ausgesagten auch in einer Tischrede (Tr 3,368 f. [Nr. 3510; 1536]) prägnant formuliert: Er unterscheidet 246

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 615

3.3 1. Johannes 1,5–2,1; 3,4–10; 5,14–18 Als letztem neutestamentlichen Beleg, von dem aus das simul iustus et peccator indirekt, d. h. in der Ausziehung von darin angelegten Linien biblisch begründet werden könnte, wenden wir uns dem ersten Johannesbrief zu. In diesem wohl gegen Ende des 1. Jahrhunderts von einem Mitglied aus dem sog. »johanneischen Kreis« verfassten »katholischen«, d. h. nicht an eine bestimmte Gemeinde gerichteten Schreiben spielt die Spannung, ja Widersprüchlichkeit von Sünde und Sündlosigkeit der Christen eine gewichtige Rolle. Näherhin scheinen die Verse 1,8 ff. einerseits und 3,6a.9 sowie 5,18 andererseits nicht miteinander vereinbar zu sein. Wir gehen nun in drei Schritten vor, indem wir zuerst Luthers Umgang mit diesen Versen kurz darlegen (3.3.1), dann nach deren Sinn und möglicher Vereinbarkeit von heutiger Exegese aus fragen (3.3.2) und schließlich die Konsequenzen für eine Fundierung des simul bedenken (3.3.3).

3.3.1 Luthers Deutung Wie wir im Lauf unserer Arbeit mehrfach gesehen haben, bezieht Luther sich relativ häufig auf die genannten Verse aus 1.Joh, um die Dialektik der christlichen Existenz zwischen Gerechtigkeit und Sünde zu explizieren bzw. biblisch zu fundieren. Ja, man kann sogar sagen, dass sie neben Röm 7,14 f. und Gal 5,16 f. für ihn zu den wichtigsten biblischen Loci für das simul gehören. Freilich muss sogleich hinzugefügt werden, dass Luther 1.Joh keineswegs zum Anlass für eine systematische und prinzipielle Erläuterung des simul genommen hat, die diesbezüglichen Ausführungen geschehen – wie so oft – eher en passant. Dies trifft auch für die Vorlesung über 1.Joh aus dem Jahr 1527 zu. Insofern hat Luther den argumentativen Wert dieser neutestamentlichen Schrift wohl nicht voll ausge­ schöpft.249 Wenn es 1.Joh 1,8 ff. heißt, dass Christen, wenn sie leugnen, dass sie »Sünde haben«, sich selbst betrügen, ja sogar Gott zum Lügner machen, dann begreift Luther dieses »Sünde-Haben« als von der Erbsünde bzw. von der nach der Taufe verbleibenden Konkupiszenz, den inneren bösen Regungen sowie dem Unglauben gesagt, welche eben nicht bloß als allgemeine Sündenanfälligkeit, sondern hier zwei Arten von Ehebruch, den des Begehrens und den der Tat: »Adulterium est duplex coram deo. Das ist Math. 5. Dem entläuft niemands. Ioan. 8. Das ist scheutzlich.« (368,28 f.) In der Bearbeitung durch Aurifaber heißt es: »Doctor M. L. sagte ein Mal, ›das zweyerlei Ehebruch sey. Der erste ist geistlich, für Gott, da einer des Andern Weibes oder Mannes begehret, Matth. 5. Dem entläuft Niemands. Der ander ist leiblich, wie Joh. am 8. Kapitel, wenn ein Weib im offentlichen Ehebruch begriffen wird.‹« (368,36–369,2) 249 Wenn Wilckens, Simul, 91, feststellt, dass 1.Joh für das simul bei den Reformatoren bzw. in den Bekenntnisschriften »kaum Beachtung gefunden« habe, so trifft dies zumindest für Luther selbst nicht zu. Überzogen ist auch das Urteil von Pesch, Simul, 152: »Der Exeget Luther scheint die besonderen Chancen dieses Textes nicht bemerkt zu haben.«

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

selbst als Sünde im eigentlichen Sinn aufgefasst werden müssen. Aber diese Sünde wird den Glaubenden um Christi willen nicht angerechnet,250 es ist das Blut Jesu, das sie von aller Sünde rein macht (1.Joh 1,7). Insofern kann Luther mit 1.Joh 3,6.9 bzw. 5,18 sehr wohl sagen, dass die Christen nicht sündigen, ja nicht sündigen können, eben weil sie unter der Vergebung des treuen und gerechten Gottes (1,9) stehen. Zugleich ist es aber so, dass die Glaubenden in der Kraft des Heiligen Geistes diese bleibende, strukturell in ihnen gegebene Sünde täglich bekämpfen und »ausfegen«, nicht in sie einwilligen, d. h. es nicht zur Tatsünde in Gedanken, Worten und Werken kommen lassen. In diesem Sinn kann Luther sich dann ebenfalls die Worte des 1.Joh von der Sündlosigkeit der Christen, ja der Unmöglichkeit von Sünde bei ihnen zu eigen machen. Es ist zu unterscheiden zwischen »Sünde haben« und (aktuell) »Sündigen«.251 Christen lassen die Sünde nicht herrschen, »erfüllen« sie nicht.252 Gleichwohl kann es dann doch auch bei ihnen im Einzelfall dazu kommen, dass sie der ihnen »anhängenden Sünde« zustimmen,253 ihr nachgeben, also auch mit der Tat sündigen. Dies stellt für Luther sozusagen eine »unmögliche Möglich-

Vgl. Melanchthon, Disputatio, 345: »Quia reputatio gratuita Dei nullum vult ibi esse peccatum, sicut Ioan. dicit: Qui natus est ex Deo, non peccat« [1.Joh 5,18]. Vgl. Tr 6,149,40– 150,1 (Nr. 6727). 251 Vgl. 20,620,2–12 (zu 1.Joh 1,8): »Augustinus distinguit: aliud peccare et habere peccatum, et non displicet, quia in nobis est peccatum, etiam quando sumus iusti. […] Hoc est peccatum habere, quod venenum est adhuc in nobis non expurgatum. Hoc peccatum tandiu sollicitat […]. Hoc urgere, si tamen consenserimus, dicitur peccare.« Siehe auch den Kontext 619,30–622,20. Ferner 48,318,28–319,6 (zu 1. Joh 1,8). 252 Vgl. 20,629,22–630,3 (zu 1.Joh 1,10): »Ergo habemus peccatum et peccamus, quia peccatum movetur, sed tamen non regnat. […] Impius obedit concupiscentiae carnis, pius non. Concupiscere est peccare, Christianus concupiscit, diffidit, desperat, in hoc autem salvus est, quia non permittit peccatum regnare. Christianus non stertat, quasi iam victor sit peccati, constitutus est in militia«; 632,9–633,11 (zu 1.Joh 2,1); 659,1–5 (zu 1.Joh 2,13); 702,16–20 (zu 1.Joh 3,6); 48,320,9–12 (zu 1.Joh 1,10); 320,14–19 (zu 1.Joh 2,1). Zur oben dargelegten Konzeption insgesamt vgl. nur 2,496,35–497,24; 592,4–21 (jeweils Erklärung des simul unter Zitation aller drei Stellen); 7,231,14 f.; 39 I,507,5–508,9, wo Luther sich in der Entfaltung des simul neben Röm 7,14 ff.; Ps 32,1 f. auf Joh 1,8; 3,9 beruft. An der ebenfalls für das simul einschlägigen Stelle 39 I,492,19–493,9 rekurriert er auf 1.Joh 3,6.9: »qui hunc credit [nämlich dass wir gerecht sind quod ad reputationem seu misericordiam Dei in Christo promissam, hoc est propter Christum, in quem credimus], non peccat, imo non potest peccare, ut ait Ioannes.« (492,21 ff.) Anders als bei den erstgenannten Belegen wird hier für die Sündlosigkeit des Christen strenggenommen nur die reputatio, nicht aber der Kampf gegen die Sünde veranschlagt. 253 Von David heißt es 20,620,13 ff.: »cecidit in adulterium et homicidium, consensit peccato illi adherenti, peccatum internum dixit ei ›ama, utere‹. Ibi resistendum fructui huic, sed consensit«; 620,19–621,2: »Nihilominus est in carne nostra herens et pertinax peccatum, habet ergo Satan aliquod praesidium et foramen, per quod posset irrepere.« Für die Wendung »peccatum adhaerens« verweist Luther 620,4 f. auf Hebr 12,1.

250

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 617 keit« dar,254 im Blick auf deren Eintreten er mehrere Fälle unterscheidet: Zum einen sind es Sünden aus Schwachheit, Unkenntnis oder Übereilung, welche der Christ, wenn er sie erkennt, sogleich vor Gott oder in der Beichte bekennt und voller Leid und Reue darüber zum Glauben und zur Vergebung zurückkehrt. Er verharrt nicht in der Sünde. Davon hebt Luther das mutwillige und vorsätzliche Sündigen ab, das womöglich noch mit einem hartnäckigen, trotzigen, unbußfertigen Verharren in der Sünde einhergeht.255 Schließlich gibt es für Luther schwere Vergehen, »öffentliche Sünden« wie Ehebruch, Mord, Wucher oder Gotteslästerung, die offenbar eo ipso eine Unterbrechung des Heilsstandes, also des simul iustus et peccator nach sich ziehen bzw. einen Verlust des Glaubens und des Heiligen Geistes bedeuten, so dass der Betreffende nicht mehr Christ, sondern undialektisch peccator genannt zu werden verdient.256 Hier sind dann Umkehr und Buße erforderlich (aber auch möglich!), ohne dass Luther hierfür ein institutionell geregeltes Verfahren angäbe. Für den also in sich mehrschichtigen Fall der aktuellen Sünde kann Luther sehr wohl mit 1.Joh 3,9 sagen, dass »aus Gott geboren sein« und die Sünde nicht zu vereinbaren sind.257 In diesem Sinn gibt es dann gerade kein simul: »Non stant simul peccare et nasci ex deo!«258 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Luther in den zitierten Versen aus 1.Joh die These des simul wiedererkannt,259 das simul von ihnen her expliziert und begründet hat und ihre Vereinbarkeit im Sinne des simul hergestellt hat.

Vgl. dazu 20,798,12–799,6 (zu 1.Joh 5,18). Zu diesen beiden Fällen vgl. 20,700,2–14 (zu 1.Joh 3,4); 704,8–11 (zu 1.Joh 3,6). Grundsätzlich gilt vom Christen qua Christ: »Si quandoque cadit, redit nativitas, redit ad fidem.« (799,2 f.; zu 1.Joh 5,18) 256 Dieser Fall wird in 20,703,16 ff. (zu 1.Joh 3,6); 707,20–23 (zu 1.Joh 3,10) anvisiert, ebenso BSLK 448,20–449,4, wo die oben vorgestellte Konzeption durch eine Kombination von 1.Joh 3,9 und 5,18 sowie mittels 1,8 belegt wird. Als Grund dafür, dass Christen nicht sündigen bzw. nicht sündigen können, wird hier allein ihr Kampf gegen die bleibende Erbsünde genannt. Luther kann dabei offenbar alternieren, d. h. beide oder nur einen von beiden Gründen angeben. Siehe oben Anm. 252. 257 Vgl. 20,705,17 ff. (zu 1.Joh 3,9): »Si ergo natus, non facit peccatum, quia nasci ex deo purgat peccatum, crucifigit et mordet, non potest ergo impleri, in veru peccatum steckts«; 706,3–19 (zu 1.Joh 3,9). 258 Vgl. 20,707,7–11 (zu 1.Joh 3,10): »Pugnant enim haec duo, quod aliquis sit natus ex deo et peccet. […] Non stant simul peccare et nasci ex deo. Sunt adhuc reliqiuae et feces peccati, sed res talis est, quod stante nativitate illa non sequitur peccatum«; BSLK 448,48 f. (lat.): »Si vero [peccatum] facit, quod vult, certe spiritus sanctus et fides amittuntur nec simul adsunt; Melanchthon, Disputatio, 345: »Pugnat enim, esse ex Deo natum, et simul esse peccatorem.« (zuvor Zitat von 1.Joh 5,18); Tr 6,150,1 f. (Nr. 6727). 259 Zu Formulierungen des simul in der Vorlesung zu 1.Joh siehe 20,627,9 f. (zu 1.Joh1,9); 630,16 (zu 1.Joh 1,10); 631,14 f. (zu 1.Joh 1,10); 634,11 f. (zu 1.Joh 2,1); 635,3 ff. (zu 1.Joh 2,1); 798,17 ff. (zu 1.Joh 5,18); 48,320,9 f. (zu 1.Joh 1,10). 254 255

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Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

3.3.2 Die in 1. Johannes erkennbare Kontroverse Es ist nun nicht möglich, Luthers Konzeption des simul iustus et peccator, wie er selbst dies meinte tun zu können, unmittelbar in 1.Joh wiederzuerkennen. Dafür sind Anlass und Verortung dieser Homilie in Briefform an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert von der Situation Luthers zu verschieden.260 Der unbekannte Verfasser aus dem sog. »johanneischen Kreis« sieht sich in seiner Gemeinde bzw. seinem Gemeindeverbund mit einer Abspaltung von Christen konfrontiert (2,19), welche offenbar radikale Konsequenzen aus dem Johannes­ evangelium gezogen und sich zudem weitgehend gnostischen Einflüssen geöffnet haben. Dies führte zu einer doketischen Christologie, derzufolge der himmlische Christus nicht wirklich in dem irdischen Jesus »ins Fleisch gekommen« ist (vgl. 4,2 f.), sondern sich nur locker und vorübergehend mit diesem Menschen verbunden hat, und der deshalb auch für das Heil ohne Bedeutung ist. Vor allem war es diesen »Sezessionisten« unmöglich, den himmlischen Christus mit dem Kreuzesgeschehen Jesu in Verbindung zu bringen, denn Gott war für sie wesentlich »apathisch«, leidensunfähig. Daraus folgte dann die Auffassung, dass dieser Christus, der sich bei der Taufe Jesu mit ihm vereinigte, Jesus vor seiner Passion verlassen hat und in die himmlische Welt aufgestiegen ist. Das Erlösungswerk war schon vor der Passion durch die Gabe der Erkenntnis vollbracht! Deutlich wird aus 1.Joh weiterhin, dass diese letztlich die Inkarnation bestreitende Christus-Lehre für ihre Anhänger ethische Konsequenzen nach sich zog: Waren sie selbst durch den himmlischen Christus schon erlöst und in eine höhere Welt versetzt, dann konnten der materiell-leiblichen Sphäre sowie den mitmenschlichen Beziehungen, ja sogar dem alltäglichen Miteinander in der Gemeinde keine entscheidende Relevanz mehr zukommen. Wie man sich hier verhielt oder nicht verhielt, das hatte letztlich – so die Überzeugung – für den eigenen Heilsstand bzw. für den göttlichen Personkern keine Bedeutung. Verfehlung, »Sünde« gibt es in diesen irdisch-sozialen Bereichen nicht mehr oder sie stellt eine Bagatelle dar. Aus diesem Grund wirft der 1.Joh seinen Gegnern nicht nur eine Verletzung der Orthodoxie, des rechten Christusbekenntnisses, sondern auch der Orthopraxie, eine Missachtung des Liebesgebotes vor, zu der es vielleicht gerade im Zuge der vollzogenen bzw. noch im Gang befindlichen Loslösung von der Gemeinde gekommen ist. Er sieht in den Kontrahenten das die Endzeit ankündigende Wirken des Antichristen, ja nennt sie selbst Antichristusse (2,18.22; 4,3) und Falschpropheten (4,1), die aus dem Wandel in der Sphäre des Lichts und des wahren Lebens wieder Vgl. zum Folgenden Kümmel, Einleitung, 388 ff.; Vielhauer, Geschichte, 470–475; Wengst, Brief, 25 ff.; Klauck, Johannesbrief, 32–42. Die Analysen der genannten Autoren sind freilich nicht in allen Nuancen übereinstimmend, lassen aber doch eine große Konvergenz erkennen. Wilckens, Simul, 86 f., sieht demgegenüber in 1.Joh »einen der schwersten Konflikte zwischen Kirche und Synagoge« (Hv.) ausgetragen, in dem von judenchristlicher Seite der Gottessohnschaft Jesu (als Verletzung der Einzigkeit Gottes) widersprochen wurde. 260

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 619 in den Bereich der Finsternis, des Hasses und des Todes zurückgefallen sind, ja dem Licht und Leben eigentlich nie wirklich angehört haben (2,19). Demgegenüber vertritt der Verfasser nun einerseits seine inkarnatorische Christologie, wonach Christus wirklich »ins Fleisch gekommen ist«, an Leiden und Kreuz real teilgenommen hat und so der Gemeinde, ja der ganzen Welt Gottes von der Sünde erlösende Liebe mitgeteilt hat, welche sich in Taufe und Abendmahl der Gemeinde »leiblich« austeilt. Andererseits betont er, dass diese im Glauben empfangene göttliche Liebe nur bewahrt, ja letztlich erst wirklich empfangen wird, wenn sie sich in einer inkarnatorischen Ethik der Liebe bewährt.

3.3.3 Zur Exegese der drei Textkomplexe Befragen wir auf diesem Hintergrund jetzt die drei von uns benannten Textkomplexe aus 1.Joh im Blick auf ein mögliches simul iustus et peccator. Der Abschnitt 1,6–10 expliziert in fünf Bedingungssätzen die ethischen Konsequenzen aus der in 1,5 angeführten, auf Jesus selbst zurückgeführten fundamentalen Botschaft: »Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.« In den Versen 6.8.10 wird mit großer Wahrscheinlichkeit jeweils eine These der Gegner zitiert und zurückgewiesen,261 weil sie in deren Lebenskontext inkonsequent und selbstwidersprüchlich ist: Wer sagt, dass er mit Gott Gemeinschaft hat, und dennoch in der Finsternis wandelt, d. h. sich gegen die christliche Liebe vergeht und damit auch die Liebe Gottes in Christus negiert, der ist ein Lügner und steht nicht in der Sphäre göttlicher Wahrheit (1,6; vgl. 2,4). Das Gleiche gilt für den, der behauptet, keine Sünde zu haben (1,8; Präsens!). Wer weiter die These vertritt, nicht gesündigt zu haben (Perfekt!), macht Gott selbst zum Lügner – und zwar deshalb, weil dieser Gott seinen Sohn zur Reinigung von aller Ungerechtigkeit gesandt und damit die Tatsache menschlicher Sünde und die Notwendigkeit der Befreiung von ihr bezeugt hat (1,10). Er bestreitet also die eigene Erlösungs- und Vergebungsbedürftigkeit.262 Demgegenüber entfalten die Bedingungssätze in den Versen 1,7.9 den Sachverhalt positiv: Wer im Licht wandelt, also wahre Gemeinschaft mit Gott hat, gerade der steht in der Gemeinschaft der Christen untereinander, und das Blut Jesu reinigt ihn (Präsens!) von aller Sünde (1,7). Der wahre Christ leugnet nicht, sondern bekennt seine Sünden und darf so der Vergebung des treuen und gerechten Gottes gewiss sein (1,9). Man kann nun in den Versen 1,6.8.10 – wie angedeutet – gut die Parolen der gnostisch beeinflussten Christen wiedererkennen, die sich durch die Erlösung schon in der Sphäre Gottes wussten, ja sich der besonderen Nähe zu Gott rühmten und sich so der Sünde ein für allemal gleichsam naturhaft enthoben glaubten. Dabei nimmt Vers 8 wohl die Leugnung gegenwärtiger Sünde und, da Vgl. Wengst, Brief, 48 f., 52. Anders jüngst Schnelle, Johannesbriefe, 73 ff., der primär eine innergemeindliche Kontroverse über die Sündenthematik in 1.Joh angesprochen sieht. 262 Vgl. Wengst, Brief, 60: Der Sühnetod des Gottessohnes würde als irrelevant abgetan und Gott zum »überflüssigen Sündenvergeber« erklärt. 261

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ἁµαϱτία im Singular verwandt wird, die völlige Freiheit von der Sündenmacht, die Unfähigkeit zu sündigen, in den Blick, während in Vers 10 eher vergangene Sünden (vor der Taufe?) bestritten werden bzw. primär an einzelne Verfehlungen gedacht ist (V. 9 spricht pluralisch von ἁµαϱτίαι).263 Die Tatsache, dass 1.Joh die Thesen der Gegner in der Wir-Form zitiert, zeigt aber deutlich an, dass die zurückgewiesenen Überzeugungen auch eine Gefahr und Bedrohung der Gemeinde selbst darstellen:264 Auch sie muss daran erinnert werden, die Sünde bei ihr selbst nicht zu verharmlosen oder gar zu bestreiten. Auch ihr gilt die Mahnung, das Gottesverhältnis nicht an der konkreten innergemeindlichen Liebe vorbei leben zu wollen. Ja, es scheint für den Verfasser so zu sein, dass gerade der, welcher »im Licht wandelt«, sich mithin in der Sphäre Gottes bewegt, sich bewusst ist, dass das Blut des Gottessohnes ihn von aller Schuld reinigt (1,7). Beides ist offenbar »zugleich« gegeben!265 Wie ja auch offensichtlich ist, dass der Verfasser von gegenwärtiger Sünde und gegenwärtigem Sündenbekenntnis, also nicht nur von präbaptismalen Sünden und einem Sündenbekenntnis bei der Taufe ausgeht.266 Dem korrespondiert, dass das die Sünden sühnende Heilswirken Jesu nicht nur in die Vergangenheit, in das Kreuzesgeschehen verlegt wird, sondern, von dort her begründet und ermöglicht, gegenwärtig andauert und aktuell sich vollzieht (1,7.9). Jesus ist als der Erhöhte jetzt und immer wieder unser Paraklet, unser Fürsprecher beim Vater (2,1)!267 Die Verse 2,1 f. schützen das Gesagte vor einem Missverständnis: So sehr im christlichen Leben mit der Sünde zu rechnen und diese zu bekennen ist, so gibt es doch keinen Zwang, keine Unentrinnbarkeit zu sündigen: »Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt.« (2,1)268 Freilich wird sogleich angeschlossen, dass wenn einer sündigt, Christus als der Erhöhte bei Gott gegenwärtig für uns eintritt, ist er doch die Versöhnung für unsere Sünden und – das ist für 1.Joh aufgrund seines ontologischen bzw. entscheidungsorientierten Dualismus zwischen Licht und Finsternis, Gemeinde und Welt höchst beachtlich – für die Sünden der ganzen Welt (2,2). Die Vergebungswirklichkeit Gottes transzendiert weltweit die Gemeinde!

Vgl. Gaugler, Johannesbriefe, 73; Strecker, Johannesbriefe, 84 (zu 1,9): »Das Bekennen bezieht sich demnach auf die einzelnen Sünden, die Ausdruck eines sündigen Seins sind.« 264 Vgl. Wengst, Brief, 52, 60; Strecker, Johannesbriefe 80 f., geht sogar davon aus, dass mit dem »wir« zuerst die Leser, nicht die Gegner angesprochen sind. Vgl. auch ebd., 87. 265 Vgl. Bultmann, Johannesbriefe, 28: »Aber eben diese Paradoxie, dass mit dem Lichtwandel das Sündenbekenntnis ebenso wie das κοινωνίαν ἔχειν µετ᾿ ἀλλήλων zusammengehört, charakterisiert das christliche Sein gegenüber der gnostischen Irrlehre. Ist das Sein des Gnostikers ein statisches, so ist das christliche Sein ein dynamisches«; Klauck, Johannesbrief, 92. 266 Vgl. Wilckens, Simul, 84 f. 267 Vgl. dazu Strecker, Johannesbriefe, 92 ff. 268 Vgl. dazu Wengst, Brief, 61 f., 65; Schnelle, Johannesbriefe, 81. 263

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 621 Was an den besprochenen Versen so erstaunlich und innerhalb des Neuen Testaments einzigartig ist und auch über Paulus hinausgeht, ist der Sachverhalt, dass hier nicht nur in eindeutiger, sondern geradezu prinzipieller Weise von der Präsenz der Sünde im christlichen Leben ausgegangen wird.269 Die Gemeinde ist keine Gemeinschaft der Reinen, sondern ein corpus mixtum aus guten und bösen Menschen, das sich in jedem einzelnen Gemeindeglied selbst nochmals widerspiegelt. Die Gemeinde ist »eine stets von der Sünde angefochtene Gemeinschaft«.270 Ebenso wird damit gerechnet, dass solche Sünden zu bekennen sind (1,9), was doch wohl die Bitte um Vergebung einschließt, wobei offen gelassen wird, in welcher Form solches Sündenbekenntnis zu erfolgen hat. Ist an ein bloß inneres Bekenntnis vor Gott gedacht – oder doch auch vor der Gemeinde, also in einer gewissen Öffentlichkeit, wie der Ausdruck »ὁµολογεῖν« vermuten lässt? Wieweit ist das Ganze schon institutionell ausgestaltet?271 In jedem Fall stellt die Möglichkeit und Notwendigkeit göttlicher Vergebung geradezu die bleibende Grundlage der Gemeinschaft mit Gott und der Christen untereinander dar. »In 1,5–2,2 wird das christliche Sein als ein ständiges Sein unter der Vergebung verstanden.«272 Das Beachtliche dieser Verse und ihre Nähe zum lutherischen simul ist schon früh erkannt worden. Albrecht Ritschl schrieb 1874: »Die Situation im christlichen Leben, auf welche sich die reformatorischen Gesichtspunkte stützen, wird im Neuen Testamente nur von Johannes in Betracht gezogen.«273 Aber auch Ulrich Wilckens hat jüngst ähnlich geurteilt: »1.Joh 1,5–2,2 ist die einzige Stelle im Neuen Testament, an der direkt ausgesprochen wird, was die formelhafte Zusammenfassung der reformatorischen Rechtfertigungslehre so sagt«, nämlich dass der Christ »als solcher lebenslang gerecht und Sünder zugleich« ist.274 Dass in 1.Joh 1,5–2,2 ein gewisses simul von Gerechtigkeit (Wandel im Licht, Gotteskindschaft) und Sünde vorliegt, dürfte demnach nicht zu bestreiten sein, allerdings muss gefragt werden, ob dieses simul schon im Sinne Luthers zu verstehen ist oder nicht. Wir stellen dies zunächst zurück und analysieren die verbleibenden Textkomplexe.

Siehe aber auch Jak 5,15 f. So Strecker, Johannesbriefe, 82, 297 f., Zitat 297. Vgl. auch Wengst, Brief, 52: »Die Gemeinde ist demnach kein scharf ausgegrenzter und ein für allemal gesicherter Kreis, der für sich beanspruchen könnte, dem Lichtsein Gottes voll und ganz zu entsprechen, sondern auch die Gemeinde verleugnet diese Wirklichkeit immer wieder und bleibt hinter ihr zurück; sie ist immer auch eine Gemeinschaft von Sündern«; 57. 271 Vgl. dazu Strecker, Johannesbriefe, 84 f.; Wengst, Brief, 58 f.; Klauck, Johannesbrief, 94 f.; Schnelle, Johannesbriefe, 78 f. 272 Bultmann, Johannesbriefe, 89 (Hv.). 273 A. Ritschl, Lehre II, 372. Vgl. ebd., 372–379. 274 Wilckens, Simul, 82. Vgl. ebd. 90 f.: In 1.Joh finde sich eine »einzigartige theologische Durchdringung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen dem vollen Gerechtsein und der vollen Verpflichtung zu einem Wandel in Gerechtigkeit einerseits und der ständigen Vergebungsbedürftigkeit des Christen und der ständigen Vergebungsbereitschaft und -kraft Gottes andererseits«; ders., Erklärung, 49. 269 270

622 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Denn dem bisher Ausgeführten scheint nun das in 3,4–10 Dargelegte diametral zu widersprechen. Zwar wurde 3,3 festgestellt, dass, wer die eschatologische Hoffnung auf das volle Offenbarwerden der Gotteskindschaft besitzt, sich heiligt, wie auch Jesus heilig ist, und nach 3,5 ist Jesus erschienen, dass er die (gemeint ist auch: gegenwärtigen!) Sünden wegnehme,275 so wie in ihm selbst keine Sünde ist. Doch Vers 6 wird nun festgestellt: »Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.« Diese Aussage des non peccare wird wenig später noch überboten durch die Behauptung des non posse peccare: »Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Same bleibt in ihm und er kann nicht sündigen; denn er ist aus Gott geboren.« (3,9) Die Verhältnisse scheinen klar zu sein und auf zwei Klassen von Menschen hinzudeuten (vgl. 3,10): Wer sündigt, der gehört zum Teufel, ja ist ein Kind des Teufels, der von Anfang an, d. h. von Beginn der Schöpfung bzw. seinem Sein und Wesen nach, sündigt und die Sündengeschichte in der Menschheit inauguriert hat (3,8).276 Wer dagegen aus Gott geboren und Kind Gottes ist, der sündigt nicht, ja kann nicht sündigen (3,9), bleibt doch der Same des Gotteswortes in ihm,277 gehört er doch gerade dadurch in den Machtbereich des Sohnes Gottes hinein, der erschienen ist, »dass er die Werke des Teufels zerstöre«, also die Macht der Sünde überwinde, die »von der ersten Sünde an eröffnete Gegen-Geschichte gegen Gott durchbreche« und eine neue Geschichte der Freiheit vom Zwang zu sündigen und zu hassen, eine neue Geschichte der Liebe eröffne (3,8).278 Die Aussage des non peccare wird in 5,18 nochmals aufgegriffen, steht nun aber in einem anderen Kontext (5,14–18). Als Beispiel für die Erhörungsgewiss­ heit des Gebets (5,14 f.) wird anschließend in 5,16 ff. ein spezieller Fall näher erörtert: Geübt werden darf die Fürbitte für einen Bruder, der eine »Sünde nicht zum Tode« begangen hat.279 Solche Bitte wird auch von Gott erhört werden, und solchem Sünder wird der Bittende – gleichsam als Vermittler Gottes – Leben und

Vgl. Strecker, Johannesbriefe, 163, zu 3,5: »Die Sühne des Christus bezieht sich nicht nur auf vorher begangene Sünden, wie es freilich die urchristliche Tradition aussagte (vgl. Röm 3,25), sondern auch auf die Sünde der Gemeinde in der Gegenwart.« Siehe schon Luther z. St.: »Ubi est Christus, tollit peccatum, ergo manet in eo negotio, quod est ›Tollit peccatum‹.« (20,702,17 f.) 276 Vgl. dazu Wengst, Brief, 136 f. 277 Mit »σπέϱµα ϑεοῦ« kann sowohl das Wort Gottes als auch der Geist Gottes gemeint sein. Vgl. 1,10 mit 2,20.27. Dazu Strecker, Johannesbriefe, 172 f. 278 Vgl. Wengst, Brief, 136 ff., Zitat 138. Wengst betont, dass in 3,8 nicht so sehr die individuelle Sündenvergebung im Blickfeld steht als vielmehr die Aufhebung des Machtcharakters der Sünde, »dem der Mensch in der Geschichte immer schon unterliegt und dem er sich außerhalb der Vergebung […] auch nicht entziehen kann« (138). Ferner Klauck, Johannesbrief, 188 f., 193 f. 279 Maßnahmen der Kirchendisziplin (wie etwa in Mt 18,15 ff.) werden überhaupt nicht erwogen. Nur das fürbittende Gebet ist im Fall der Verfehlung eines Mitchristen vorgesehen. Vgl. Wengst, Brief, 218. 275

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 623 Verzeihung erwirken.280 Verwehrt wird aber den Christen eine Fürbitte bei einer »Sünde zum Tode«. Und in diesem Zusammenhang heißt es dann: »Wir wissen, dass, wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren ist, den bewahrt er, und der Böse tastet ihn nicht an.« (5,18) Vorausgesetzt, aber nicht ausgeführt ist hier offenbar, dass der Betende eindeutig zwischen Todsünde und lässlicher Sünde zu unterscheiden vermag. Es muss also der Gemeinde klar gewesen sein, worin diese »Sünde zum Tode« besteht, so dass sie nicht genannt zu werden brauchte. Wir können darüber nur Vermutungen anstellen: Ist an schwere Vergehen wie Ehebruch, Mord oder Götzendienst gedacht? Wird nur die in 1.Joh akute Situation der Abspaltung von der Gemeinde bzw. des Abfalls vom Christusbekenntnis in den Blick genommen, die der Verfasser als irreversibel einschätzt, weil sie für ihn definitiv einen Wiedereintritt in die gegengöttliche, dämonische Sphäre der Finsternis und des Hasses bedeutet?281 1.Joh befände sich dann ganz auf der Linie von Hebr 6,4–6; 10,26–31 und 12,16 f., wo die Möglichkeit einer »zweiten Buße« für Glaubensabfall und schwere Verfehlungen ausgeschlossen wird.282 Die Ausführungen von 1.Joh 5,15 ff. lassen sich schwer mit dem Vorhergehenden harmonisieren:283 Stellt nicht nach dem sonstigen Briefinhalt jede Sünde eine »Sünde zum Tode« dar, also eine, die selbst schon den Tod in sich schließt, dieser ihr also nicht erst nachfolgt, weil sie Trennung von dem göttlichen Leben bedeutet? Wie vermag dann aber zwischen Sünden nach ihrem Schweregrad differenziert, ja wie eine Vergebungsunmöglichkeit für bestimmte Sünden konstatiert zu werden, nachdem zuvor die Vergebung der Sünden so universal herausgestellt worden war (1,7; 2,2)?284 Wird nicht mit 5,16 f. die fundamentale Dialektik des Christenstandes zwischen Sünde und Sündenvergebung preisgegeben? Zahlrei Das grammatische Subjekt in 5,16d ist wohl der Betende, nicht Gott. So übereinstimmend Wengst, Brief, 218; Strecker, Johannesbriefe, 29823; Klauck, Johannesbrief, 325 f., 327. 281 Zur »Sünde zum Tode« vgl. Goldhahn-Müller, Grenze, 38–47. Luther versteht unter der Sünde zum Tode jene Sünde, die nicht anerkannt und bekannt, sondern geleugnet, ja sogar gerechtfertigt wird. In diesem Fall kann man nicht um ihre Vergebung bitten, da diese das Bekennen der Sünde voraussetzt, sondern nur darum, dass der Betreffende seine Sünde erkennt. Tritt dies aber ein, dann ist auch diese Sünde vergebbar und nicht zum Tode! Vgl. 20,794,7–798,11. Ein Jahr später (1528) rechnet Luther offenbar mit einer irreversiblen trotzigen Ablehnung der offenbaren Evangeliumswahrheit und der daraus folgenden definitiven Unvergebbarkeit dieser Sünde. So 28,10,1–20,9 (zu Mt 12,31 f.). 282 Zur Unmöglichkeit bzw. Möglichkeit einer »zweiten Buße« im Urchristentum vgl. den Exkurs bei Strecker, Johannesbriefe, 299–304; Schnelle, Johannesbriefe, 179 f.; GoldhahnMüller, Grenze, bes. 27–114. 283 Vgl. dazu Bultmann, Johannesbriefe, 89; Wengst, Brief, 218 f. 284 Schnackenburg, Johannesbriefe, 277 f., bestreitet allerdings, dass aus dem Ausschluß der »Sünde zum Tode« von der Fürbitte ihre Unvergebbarkeit und die Unmöglichkeit der Bekehrung des Sünders folgen. Es handle sich nur um eine schwere, aktuell von Gott trennende Sünde. 280

624 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

che Exegeten nehmen, von anderen Gründen einmal abgesehen, gerade deshalb an, dass in 5,13 ff. ein späterer redaktioneller Anhang zum Brief vorliegt, der in einer veränderten Situation die Botschaft des 1.Joh aufnimmt und aktualisiert.285 In jedem Fall ist damit zu rechnen, dass das in 5,18 behauptete non peccare des aus Gott Geborenen nunmehr in dem erleichterten und praktikablen Sinn gemeint ist, dass die eigentlichen Christen die genannte »Sünde zum Tode« nicht begehen, also nicht vom Glauben abfallen und sich nicht von der Gemeinde trennen.286 Dass sie aber sehr wohl in leichtere Sünden fallen, scheint durch die Selbstverständlichkeit, mit der von der möglichen Fürbitte für solche Sünden ausgegangen wird, vorausgesetzt zu sein.

3.3.4 Zur Vereinbarkeit von Sünde und Sündlosigkeit des Christen Die Bemühungen der Exegeten, die Behauptung der Sündlosigkeit der Christen, ja der von ihnen prädizierten Unmöglichkeit zu sündigen mit dem realistischen Blick auf die Sünde in der Gemeinde (und also nicht nur bei den Gegnern!) sowie der Notwendigkeit des Sündenbekenntnisses und der Vergebung zu vereinbaren, sind vielfältig, nicht immer klar, und keiner der Versuche darf wohl als ganz befriedigend gelten, was wohl nicht zuletzt an der zur Verhandlung stehenden Sache, der eigentlich unerklärlichen Präsenz der Sünde im Leben des Christen und der Kirche und damit an der Widersprüchlichkeit und Spannung der christlichen Existenz selbst liegt.287 Will man nicht, wie Hans Windisch dies tat, in 1.Joh einerseits eine Theorie der Sündlosigkeit annehmen, andererseits damit nicht ausgeglichene, von der sperrigen Wirklichkeit dem Verfasser abgerungene Aussagen über das faktische Sündigen von Christen daneben stehen lassen,288 kann So Bultmann, Johannesbriefe, 11, 89; Wengst, Brief, 20 f., 216, 225; Klauck, Johannesbrief, 23, 318 f., 329, 333, der (329) den Nachtrag mit der These von der unvergebbaren Sünde aus einer Verschärfung der schismatischen Situation erklärt. Für die Einheitlichkeit des Briefs plädiert dagegen Strecker, 293, 303 f., bes. 304: »Aber der eschatologische Anspruch, welcher der Sendung des Gottessohnes innewohnt, würde unzulässig entschärft, wenn er nicht auch das Risiko des unumkehrbaren Verfehlens dieses Anspruchs freisetzen würde.« Ähnlich Gaugler, Johannesbriefe, 273 f.; Schnelle, Johannesbriefe, 180 f.; Goldhahn-Müller, Grenze, 29–34, 60, 71 f., die von einer »zunehmenden Konkretisierung des Sündenbegriffs und der Differenzierung nach Graden der Verfehlung« (72) innerhalb von 1.Joh ausgeht. 286 So Wengst, Brief, 221. 287 So Klauck, Johannesbrief, 198. Siehe auch seinen Überblick über die bisherigen Lösungsversuche ebd., 195–198. 288 Vgl. Windisch, Taufe, 256–272. Neben der bes. in 1.Joh 3,9 ausgesprochenen Vorstellung von der in der Zeugung aus Gott (= Taufe) begründeten Sündlosigkeit, welche jede einzelne Sünde ausschließt und so als »strenges Ideal« mit der Realität in Konflikt gerät (266–272), findet sich nach Windisch in 1.Joh 1,5–2,2 eine gemäßigtere Position, die von einer »Generalreinigung« bei der Taufe zu vollständiger realer Sündlosigkeit ausgeht, deren 285

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 625 wohl ausgeschlossen werden, dass die Feststellungen über das Nichtsündigen bzw. Nicht-Sündigenkönnen in 3,6.9 und 5,18 so gemeint sind, als ob sie ein faktisches Sündigen von Christen prinzipiell für unmöglich hielten. Dies wird durch die behandelten Stellen 1,6–2,2 und 5,15 ff., aber auch durch 2,12; 3,3; 3,19 ff.; 4,10 klar widerlegt, welche alle mit der Faktizität der Sünde und der Angewiesenheit auf Vergebung nicht nur für die Vergangenheit, also für das Lebensstadium vor der Taufe, sondern gerade auch für die Gegenwart christlichen und kirchlichen Lebens rechnen. In dieselbe Richtung weisen auch die vielfältigen Mahnungen, speziell die zum »Bleiben« (2,28; 3,6.24; 4,13.16), d. h. zur Bruderliebe und zum Festhalten des wahren Christusbekenntnisses, was überflüssig wäre, wenn hier nicht permanent eine reale Gefahr und Anfälligkeit für die Gemeinde bestünde. Der Verfasser lokalisiert folglich trotz seines scharfen Dualismus zwischen Gemeinde und Gegnern, Gemeinde und Welt die Sünde nicht nur außerhalb der Gemeinde. Ebenso ist gegen eine prinzipielle Sündlosigkeit von Christen vorzubringen, dass der Verfasser des 1.Joh gerade die gegnerische Behauptung dieser These als Illusion und Lüge brandmarkt. Wenn er sie gleichwohl selbst vertritt, seinen Gegnern gleichsam entwindet, dann muss sie von ihm in einem anderen Sinn aufgegriffen sein!289 Für die Auflösung des Widerspruchs zwischen 1,8–2,2 und 3,6.9 bzw. 5,18 wäre es nun argumentativ sehr vorteilhaft, wenn man die Feststellungen über die Sündlosigkeit der Christen im Sinne einer »paränetischen Zuspitzung« als verschärfte Imperative verstehen könnte: Nicht um die indikativische Behauptung der Sündenfreiheit ginge es dann, sondern um den mit größter Dringlichkeit spätere Wiederholbarkeit als möglich angedeutet wird. Auf eine solche zweite Reinigung habe dann aber der sündlose Lebenswandel zu folgen. Ebenso setze 1.Joh 1,5–2,2 voraus, dass die vereinzelt und gelegentlich vorkommenden Sünden von Christen durch Christus gesühnt werden könnten (257–261). Zur religionsgeschichtlichen Herkunft der Sündlosigkeitstheorie verweist Windisch auf die Gnosis und die jüdisch-apokalyptische Erwartung des sündlosen Menschen für den messianischen Äon. Siehe auch ders., Briefe, 112 f., 121 ff., 135. – Die ebenso einseitige Gegenposition zu Windisch markiert Vielhauer, Geschichte, 473: »Der Verfasser [des 1.Joh] führt aus, daß Sündlosigkeit nur als Sündenbekenntnis und Sündenvergebung existiere.« Vouga, Johannesbriefe, 30 (Exkurs zu ‘Αµαϱτία), vertritt wohl ebenfalls wie Windisch die Auffassung, dass sich in 1.Joh die Behauptung einer realen Sündlosigkeit der Christen ausgesprochen finde. Den Widerspruch zu 1,8–2,2 gleicht er so aus: »ὁµολογεῖν τὰς ἁµαϱτίας heißt einfach: die Heilsbedeutung des Offenbarers erkennen.« Insofern kann dann durchaus gesagt werden: »Gottesgemeinschaft und Sündenbekenntnis gehören in der Paradoxie eines simul iustus et peccator zusam­men.« (29) 289 Dieser Vorgang führt freilich, so Klauck, Johannesbrief, 198 f., beim Verfasser des 1.Joh selbst zu gewissen Radikalformulierungen. – Geht man davon aus, dass 1.Joh die These vom Nichtsündigen(können) der Glaubenden anders als die Gegner (nämlich nicht ontologisch) versteht, dann ist das Argument Schnelles (Johannesbriefe, 73 f.) nicht mehr zwingend, wonach das in 1.Joh 3,9 selbst affirmierte non posse peccare es unmöglich mache, anzunehmen, dass in 1.Joh 1,8.10 eine Parole der Gegner zitiert werde.

626 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

ausgesprochenen Appell, nicht zu sündigen und so dem zugesprochenen Sein im Glauben zu entsprechen.290 Jedoch dürfte diese Lösung an der Grundsätzlichkeit des in 3,6.9 indikativisch Ausgesagten scheitern. So wird wohl nur der Weg verbleiben, beides, Sündlosigkeit und faktische Sünde der Gemeinde, in unterschiedlicher Hinsicht als gleichzeitig gültig anzusehen: Dass der Christ nicht sündigt, ja nicht sündigen kann, dies stellt die ihm von Gott eröffnete, über ihm aufgerichtete eschatologische Wirklichkeit dar, welche von Seiten Gottes nicht mehr zurückgenommen wird.291 Diese ist aber nochmals von der irdisch-empirischen Realität des Christen abzuheben und nicht eo ipso mit ihr deckungsgleich, in welcher die Sünde eine bedrohende Macht bleibt, der es immer neu zu widerstehen gilt.292 Denn die von Gott in Christus gesetzte eschatologische Wirklichkeit bedeutet keine magisch-naturhafte Verwandlung des Menschen, nicht die Verleihung einer ontologisch-habituellen Qualität der Sündlosigkeit, sondern stellt eine Wirklichkeit dar, welcher der Mensch in Glaube und Liebe entsprechen kann und soll. Der Christ ist von der Macht der Sünde befreit, ihrem Machtbereich entnommen und damit vom Zwang zu sündigen erlöst. Der Sohn Gottes hat die Werke des Teufels, d. h. den strukturellen Konnex des Bösen, des Hasses und der Lieblosigkeit, in dem alle je schon zu stehen kommen und den alle doch zugleich weitertragen und festigen, durchbrochen und besiegt (3,8)!293 Und das Nichtsündigen bzw. Nichtsündigenkönnen wird für den Christen Realität, sofern er im Glauben an diesen Christus lebt und handelt. Wer in Christus »bleibt«, der sündigt nicht (3,6)! Wer aus Gott geboren ist bzw. aus der Gotteskindschaft heraus existiert, der sündigt insofern nicht (3,9; 5,18)! Dies darf aber in extensiver und intensiver Vollendung empirisch nicht einfach vorausgesetzt werden, dies stellt keine in die Verfügung und den Besitz des Menschen ein für allemal übergegangene Realität dar! Die eschatologische Botschaft von der Sündenfreiheit bedarf deshalb immer auch der Mahnung, sie im eigenen Leben zu bewähren und der Sünde und Finsternis nicht erneut Raum zu geben.294 Wenn man auch Bultmann nicht darin zustimmen mag, dass das »Bleiben« in Christus die menschliche Bedingung für das Nichtsündigen des Christen angibt,295 da auch dieses »Bleiben« von der Gnade Gottes ermöglicht ist, so kann doch mit ihm gesagt werden, dass in 3,6 nur die »grundsätzliche Wahrheit« ausgesprochen werde, »dass jeder, der ›in ihm bleibt‹, d. h. wer ihm treu verbunden bleibt, nicht sündigt. […] Gewiss ist [in V. 9] wie in V. 6 das ›Nichtsündigen‹ grundsätzlich zu verste-

So zumindest die eine Interpretationslinie bei Strecker, Johannesbriefe, 161 (hier das Zitat), 164, 173. Ähnlich ders., Theologie, 467 f.; Goldhahn-Müller, Grenze, 68 f. 291 Insofern stellt das Nicht-Sündigen-Können mehr als ein bloßes Ideal dar. 292 Vgl. Strecker, Johannesbriefe, 173 f., 303; Klauck, Johannesbrief, 97, 102; GoldhahnMüller, Grenze, 69 f. 293 Vgl. Klauck, Johannesbrief, 188 f., 192 f. 294 Vgl. Wengst, Brief, 134 f. 295 Dagegen spricht 1.Joh 3,9. So Klauck, Johannesbrief, 195. 290

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 627 hen als die Verwirklichung der dem Glaubenden geschenkten Möglichkeit.«296 Diese Möglichkeit ist allerdings für den Glaubenden von Gott her »unverlierbare Möglichkeit«, »so daß er sich, auch wenn er faktisch doch sündigt, stets auf das Geschenk berufen kann. Das οὐ δύναται ἁµαϱτάνειν muß also als die Möglichkeit des Nichtsündigens verstanden werden, die der Glaubende als das unverlierbare Geschenk der ἀγάπη Gottes empfangen hat, eine Möglichkeit, die freilich stets zu realisieren ist […]. Das Geschenk einer Möglichkeit schließt immer eine Forderung ein, und so kann die Forderung selbst auch als Geschenk verstanden werden, so daß, V. 9 einseitig vom Geschenk reden kann.«297 Man kann den vermeintlichen Widerspruch zwischen 1,8 ff. und 3.6.9 bzw. 5,18 vielleicht auch so »auflösen«, dass man mit Klaus Wengst davon ausgeht, dass die von Gott über dem Christen aufgerichtete und ihn verändernde eschatologische Wirklichkeit nur in einem »Kampfgeschehen« in ihm durchgesetzt und zur Geltung gebracht werden kann, und d. h. oft dem Widerstand des Christen zum Trotz! Von daher wird für Wengst die Simultaneität von Sündlosigkeit und Sünde plausibel: »Darum vollzieht sich hier ein Kampf; und man darf nicht außerhalb dieses Kampfgeschehens denken […]. Innerhalb dieses Kampfgeschehens gilt aber beides zugleich: Daß der aus Gott Gezeugte keine Sünde tut, weil Gott ihn gegen seinen Widerstand geändert und neugeschaffen hat und weil er ihn gegen seinen Widerstand nicht losläßt; und daß er seine Sünden bekennen muß, weil er sich als Widerstrebenden und Überwundenen erkennt.«298

Bultmann, Johannesbriefe, 56 f. Bultmann, Johannesbriefe, 58 (Hv.). Vgl. auch Klauck, Johannesbrief, 200. 298 Wengst, Brief, 141 (Hv.); vgl. ebd., 140 ff., 221. – Als Synthese von ewiger göttlicher Erwählung, sakramental-ontischer Erneuerung durch die Taufe, sittlicher Bewährung des Christen und je aktueller Vergebung durch Christus möchte Schnackenburg, Johannesbriefe, 82 f., 85, 89 f., 185, 190 ff., 281–288, die johanneische Gotteskindschaft bzw. Sündlosigkeit auffassen. Diese stellt so keine magische Verwandlung zur Sündlosigkeit, aber auch nicht nur eindringliche Paränese dar, sondern bildet eine nichtwidersprüchliche Spannungseinheit mehrerer Momente. Schnelle, Johannesbriefe, 122 ff., 180 f., der alle vorgestellten Lösungsmodelle als unzureichend ablehnt, geht davon aus, dass im johanneischen Kreis selbst zwei unterschiedliche Positionen vertreten wurden: eine gemäßigtere, welche realistisch mit der Sünde in der Gemeinde rechnete und auf die Vergebung durch den gerechten Fürsprecher Jesus Christus vertraute (1,6–2,2), und eine rigorosere, welche eine Unmöglichkeit des Sündigens für die Getauften annahm (3,4–10). Der Verfasser versuche nun, beide Positionen zusammenzuführen und auszugleichen. Er tue dies letztlich mit der Unterscheidung von »Sünde zum Tode« (die in der Gemeinde nicht vorkommt bzw. bleibend von ihr trennt) und »Sünde, die nicht zum Tod führt« (deren sich die Getauften schuldig machen können) in 5,16 ff. Schnelles Deutung setzt voraus (oder begründet) einerseits, dass 3,6.9 in diesem eingeschränkten Sinn gemeint sind, und andererseits, dass 5,13 ff. zum ursprünglichen Brief gehören. 296 297

628 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

3.3.5 Kennt 1. Johannes das lutherische »simul iustus et peccator«? Was folgt nun aus diesen Resultaten hinsichtlich der Interpretation der drei Textkomplexe zu Sünde und Sündlosigkeit in 1.Joh für die Frage des simul iustus et peccator? Zunächst ist zu konstatieren, dass es in 1.Joh und insbesondere in 1.Joh 1,8 ff. in der Tat ein solches simul von Gerechtigkeit und Sünde im Leben des Christen gibt und Sündenbekenntnis und das Angewiesensein auf Vergebung die zentrale Grundlage christlicher Existenz bilden. Jede andere Sicht des Christseins wäre Selbsttäuschung, ja würde Gott und sein erlösendes Handeln in Christus Lügen strafen! Dabei wird man freilich niemals 1.Joh 2,1; 3,6.9 und 5,18 aus dem Auge verlieren dürfen, welche geltend machen, dass die Sünde für den Christen, so sehr sie faktisch vorkommt, immer die »unmögliche Möglichkeit« darstellt und es für den Christen keine Unausweichlichkeit der Sünde, keinen Zwang zum Sündigen mehr gibt: »Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt!« (2,1) Die Sünde ist – unabhängig von der Quantität ihres Vorkommens – für den Christen die Ausnahme, nicht das Normale!299 Von daher fällt aber ein gewichtiger Unterschied zu Luthers simul iustus et peccator ins Auge: Zwar kennt der 1.Joh ebenfalls ein solches simul, aber er hat bei dem, was er unter den Sünden der Christen versteht, doch immer konkrete, aktuelle Verstöße gegen das Gebot der Bruderliebe, »Verfehlungen in bezug auf die ›Gemeinschaft miteinander‹«300 im Blick, wie er sie bei den Sezessionisten, aber auch bei den Gemeindegliedern selbst meint beobachten zu können. Freilich ist solche Lieblosigkeit für ihn, da eo ipso Negation der Liebe Gottes in Christus, immer auf dem Weg zum praktisch dokumentierten Unglauben! Jedoch nimmt 1.Joh noch nicht das ins Visier, was Luther mit der auch beim Christen noch fortdauernden inneren und unausweichlichen, anthropologisch-strukturell gegebenen Sünde der Konkupiszenz bzw. eines habituellen Unglaubens, einer habituellen Selbstverschlossenheit meint. Insofern ist für den 1.Joh der Christ nicht im selben Sinne ontologisch simul peccator wie für Luther!301 Gleichwohl ist von der Position des 1.Joh her ein theologisches Weiterfragen und Weiterdenken geradezu herausgefordert: Wenn Verstöße gegen das Liebesgebot und damit ein Widerstreben gegenüber der in Christus offenbaren Liebe Gottes derart nüchtern und grundsätzlich beim Christen und in der christlichen Gemeinde einzuräumen Vgl. auch Ritschl, Lehre II, 378: »Das Sündigen gilt ihm [Johannes] doch immer nur als die Ausnahme im christlichen Leben, nicht als die Regel und als ein unvermeidbares Verhängniß.« 300 Wengst, Brief, 57. Ferner 62. 301 Diese Differenz wird von Wilckens, Simul, 91, bei der Konstatierung der Nähe des 1.Joh zum reformatorischen simul nicht herausgearbeitet. Wenn Wilckens, Erklärung, 62, ausführt, dass das simul »höchstens mit 1Joh 1,6–2,2 begründet werden kann« (d. h. also nicht von Paulus her), dann vermag dies nur in einem durch mehrere Reflexionsschritte vermittelten Sinn zu gelten. 299

Andere neutestamentliche Belege zur indirekten Fundierung 629 sind, wenn aus diesem Grund Sündenbekenntnis und göttliche Vergebung für die Gemeinde unhintergehbar konstitutiv sind, dann kann, ja muss doch gefragt werden, ob nicht – unbeschadet der in Christus geschenkten Freiheit von der Macht der Sünde – diese Sündenmacht, also nicht nur die einzelne Sündentat, immer noch eine gewisse Gegenwärtigkeit, einen gewissen Einfluss beim Christenmenschen besitzt, die Macht der Finsternis und des Bösen also sehr wohl noch nach ihm ausgreift. Entkleidet man dies aber seines mythologischen Sprachgewands, dann ist damit ausgesagt, dass – neben dem fortwirkenden Einfluss negativer extern-struktureller Tendenzen und Kräfte auf den Christen, wie sie im Begriff der »Welt« zusammengefasst sind – auch das Herz, die Personmitte des Christen noch nicht ganz geheilt und vom Bösen befreit ist, dass hier mithin noch Strebungen und Regungen am Werk sind, die, dem guten Wollen des Glaubens zum Trotz, immer wieder dafür verantwortlich zeichnen, dass jene uns von Gott eröffnete und nicht mehr zurückgenommene »Möglichkeit des Nichtsündigens« nicht realisiert wird und es bei uns zu bösen Gedanken und Taten der Lieblosigkeit und des Hasses kommt. Der Christ ist daher immer auch noch Sünder!302 Von daher wäre mit Luther ein legitimes Weiterschreiten in jene Richtung denkbar, wonach auch diese Strebungen und Regungen des Herzens selbst schon als Sünde einzustufen wären und auch der Christ, obwohl er ihnen in der Regel nicht nachgibt, mit ihnen in seinem Inneren unvermeidbar konfrontiert wäre. Zusammenfassend kann also festhalten werden: Anders als Ritschl und Wilckens insinuieren, lässt sich in einem direkten Sinne auch aus 1.Joh der Vollgehalt von Luthers simul iustus et peccator nicht ableiten, obwohl dieser neutestamentliche Brief Luthers Anliegen so nahe wie möglich kommt. Eine Verbindung zu Luthers Verständnis des simul lässt sich nur durch ein, wenngleich gut begründetes, so doch nicht zwingendes Weiterdenken der in 1.Joh vorliegenden Ansätze herstellen.

Vgl. nochmals Strecker, Johannesbriefe, 84 (zu 1,9): »Das Bekennen bezieht sich demnach auf die einzelnen Sünden, die Ausdruck eines sündigen Seins sind.« (Hv.) 302

4 Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff

Nachdem wir in den vorausgegangenen Kapiteln Luthers simul iustus et peccator innerhalb des neutestamentlichen Zeugnisses zumindest indirekt fundieren bzw. als Entfaltung einzelner neutestamentlicher Linien erweisen konnten, soll in den folgenden drei Kapiteln in skizzenhafter Form zu drei zentralen Fragestellungen Position bezogen werden, die sich für eine heutige systematische Verantwortung des simul iustus et peccator im Sinne Luthers unweigerlich stellen und die auch im interkonfessionellen Gespräch bis heute virulent, wenn nicht gar ungelöst sind. Es handelt sich dabei einmal um die Frage nach der Sündhaftigkeit der Konkupiszenz (Kapitel 4), sodann um das Problem der insbesondere von katholischer Seite immer wieder angezweifelten Wirklichkeit der Rechtfertigung, wenn das simul iustus et peccator gelten würde (Kapitel 5). Schließlich muss untersucht werden, welche ekklesiologisch-interkonfessionelle Relevanz und Valenz dem Theologumenon vom simul zukommt: Hat eine interkonfessionelle Differenz an diesem Punkt Auswirkungen auf die Kirchengemeinschaft oder nicht? Oder anders gefragt: Besitzt das simul eine kirchentrennende Kraft oder hindert ein Dissens in dieser Frage die Kirchengemeinschaft nicht (Kapitel 6)?303

4.1 Der »status quaestionis« Kommen wir zum ersten Punkt. Im Laufe unserer Studie hat sich mit großer Eindeutigkeit herausgestellt, dass für Luther die Frage der bleibenden Sünde im Leben des Getauften, also des simul peccator, auf die Frage nach der Sündhaftigkeit der Konkupiszenz zugespitzt werden muss. Denn nur wenn die Konkupiszenz – als eine für das faktische (d. h. nicht für das schöpfungsgemäße) Menschsein In unserer Studie wurde mehrfach sichtbar, dass Luther das simul vom einzelnen Christen auf die Kirche ausweitet: Sie ist heilig und sündig zugleich. Die systematische Behandlung des kontroverstheologisch umstrittenen Themas der »sündigen Kirche« würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und erfordert eine eigene Untersuchung. Vgl. dazu nur von Balthasar, Casta Meretrix; Rahner, Kirche der Sünder; ders., Sündige Kirche; Miggelbrink, Sündige Kirche; Vaticanum II, Lumen Gentium, Nr. 8 (LThK2 Bd. 12, 174): »Ecclesia in proprio sinu peccatores complectens, sancta simul et semper purificanda, poenitentiam et renovationem continuo prosequitur.« (kath.); Jüngel, Kirche, 328–333; Meyer, Kirche (ev.). 303

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 631 strukturelle Konstante – selbst Sünde ist, lässt sich ein simul peccator in dem anthropologisch-existentialen Sinn, wie Luther ihn vertritt, annehmen. Ginge man nur von einzelnen hin und wieder vorkommenden Tatsünden im Leben des Christen aus, wäre das simul Luthers noch nicht erreicht.304 Dabei wird der interkonfessionelle Disput von Luther bis heute nicht um das Faktum der Konkupiszenz als solchem geführt, denn dass der Christ nach seiner Taufe mit der Konkupiszenz noch konfrontiert ist und gegen sie zu kämpfen hat, ist unstrittig. Es dreht sich allein um die Frage, wie diese verbleibende Konkupiszenz zu werten ist, ob als Sünde im strengen Sinn oder nur als allgemeine Anfälligkeit oder Disponiertheit für die Sünde, die nur dann zur Sünde wird, wenn der Christ ihr nachgibt bzw. in sie einstimmt.305 Dabei kristallisierte sich in unserer Arbeit klar das Ergebnis heraus, dass die Konkupiszenz für Luther im vollen Sinn als Sünde coram deo zu erachten ist, also als eine Wirklichkeit, die, wenn sie nicht von Gott vergeben wird, von Gott trennt und den Menschen vor dem Gericht Gottes nicht bestehen lässt. Insofern sind also die interkonfessionellen Brückenschläge, die man mit dem mehrdeutigen Begriff der »Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens« in der GE versucht hat,306 für Luther nicht begehbar, sondern unterbieten seine theologische Position eindeutig. Die »Gottwidrigkeit« widerspricht zwar nach der GE dem Plan Gottes mit dem Menschen, trennt aber ohne Konsens zu ihr nicht von Gott. Pesch, Theologie, 97, urteilt sogar, »daß in der lutherschen Theologie so gut wie alles an dieser Beurteilung der Konkupiszenz hängt. Man denke sich diese weg, dann läßt sich keine der für Luthers Theologie charakteristischen Thesen länger durchhalten.« 305 Pesch, Probleme, 196, hebt deshalb zu Recht hervor, dass neben dem Dissens über den Sündencharakter der Konkupiszenz zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens darüber besteht, dass a) die Konkupiszenz (Pesch schreibt wohl irrtümlich: Sünde), wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, den Christen nicht mehr von Gott trennt, b) die Konkupiszenz im Getauften bleibt und c) dass sie »gottwidrig« ist. Das setzt voraus, dass man sich über das Verständnis der Konkupiszenz in etwa einig ist. Dazu unten. 306 So GE 28, wo das von Katholiken und Lutheranern gemeinsam Bekannte ausgeführt wird. Vom Gerechtfertigten heißt es hier, dass »er immer noch der andrängenden Macht und dem Zugriff der Sünde nicht entzogen […] und des lebenslangen Kampfes gegen die Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens nicht enthoben ist«. Vgl. dann aber GE 29 (lutherische Position): »Diese Gottwidrigkeit ist als solche wahrhaft Sünde.« Dagegen GE 30 (katholische Position): Es bleibt nach der Taufe die nicht verdammungswürdige, »aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung im Menschen (Konkupiszenz) […]. Insofern nach katholischer Überzeugung zum Zustandekommen menschlicher Sünden ein personales Element gehört, sehen sie [die Katholiken] bei dessen Fehlen die gottwidrige Neigung nicht als Sünde im eigentlichen Sinne an. Damit wollen sie nicht leugnen, dass diese Neigung nicht dem ursprünglichen Plan Gottes vom Menschen entspricht, noch, dass sie objektiv Gottwidrigkeit und Gegenstand lebenslangen Kampfes ist; in Dankbarkeit für die Erlösung durch Christus wollen sie herausstellen, dass diese gottwidrige Neigung nicht die Strafe des ewigen Todes verdient und den Gerechtfertigten nicht von Gott trennt.« – Am Ende des Textes bleibt undeutlich, ob die Konkupiszenz per se nicht von Gott trennt (wie eigentlich von der sonst geäußerten katholischen Position her anzunehmen wäre) oder erst von Christus her. 304

632 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Man muss also für sie vor Gott nicht um Vergebung bitten! Auch die Rede von der »bleibenden Gefährdung durch die Macht der Sünde« bzw. von der Konkupiszenz als »Einfallstor der Sünde« (GOF, 2B) ist, an Luther gemessen, ein Zurückbleiben hinter seiner Position.307 Wir glauben im Voraufgehenden gezeigt zu haben, dass diese Position insofern an das biblische Zeugnis anschlussfähig ist, als sie sich als Fortentwicklung und Ausziehung bestimmter neutestamentlicher Linien verstehen lässt, ohne dass dieses Verständnis zwingend und notwendig wäre. Als ein wichtiges Ergebnis unserer Arbeit ist für den Konkupiszenzbegriff dessen umfassendes Verständnis bei Luther festzuhalten: Gegenüber der traditionellen Auffassung, wonach die Konkupiszenz eine aus der Erbsünde folgende und nach der Taufe zurückbleibende »inordinatio« allein der leiblich-sinnlichen Seite des Menschen darstellt, wogegen die rational-geistige Dimension davon mehr oder weniger unberührt geblieben wäre, begreift Luther die Konkupiszenz als den ganzen Menschen, die ganze Person, also auch deren voluntatives Zentrum betreffende Ichsucht und egoistische Motivation, die selbst im Tun des Guten – auch bei dem des Christen – noch anzutreffen ist. Die Konkupiszenz ist nach seiner Ansicht eine aus dem Unglauben, dem Misstrauen gegenüber Gott resultierende falsche Selbstbezüglichkeit und Selbstverschlossenheit, die nur das Ihre sucht und alles andere, Mitmenschen und Mitgeschöpfe, ja Gott selbst zur eigenen Sicherung und Erhaltung gebraucht. Sie pervertiert und verfehlt damit die dem Menschen einwohnende Offenheit und Relationalität auf Gott und die Mitmenschen hin. Die Konkupiszenz stellt eine Gier und Sucht dar, sich selbst das Leben und die Lebenserfüllung geben zu wollen, eben weil das Geborgensein bei, das Abhängigsein von Gott negiert worden ist. Die Konkupiszenz ist deshalb letztlich geistliche Konkupiszenz: Sie besteht, eben weil im Unglauben wurzelnd, im Seinwollen wie Gott und von daher haftet ihr eine zutiefst gottfeindliche Tendenz an. Sie manifestiert sich für Luther in inneren Regungen wie Zorn, Ungeduld, Neid, Habgier, Misstrauen gegenüber Gott und (falschem) sexuellem Begehren, ohne dass dies dem Menschen kontrollierbar und durch freie Entscheidung vermeidbar wäre.308 Erfahrbar wird sie aber auch ganz elementar an dem inneren Widerstand bzw. der inneren Überwindung, mit der wir das Gute tun. All dies stellt für Luther gleichwohl schon selbst Sünde dar, nicht erst die gedankliche, wort- oder tathafte Dasselbe gilt natürlich für das interkonfessionell gemeinsame Bekenntnis zum simul iustus et peccator im Sinne der »beständigen Gefährdung, die von der Macht der Sünde und ihrer Wirksamkeit im Christen ausgeht« (GOF 2A). Luther meint ja nicht nur, dass wir als Christen durch die Sünde gefährdet sind, sondern dass wir – wiewohl Begnadigte und insofern Gerechtfertigte – trotzdem von uns her Sünder sind. Durch die göttliche Vergebung wird die Sünde, weil nicht mehr angerechnet, aber entmachtet und steht nicht mehr trennend zwischen uns und Gott. 308 Dass die mehr konkreten sündhaften Regungen durch einen äußeren Stimulus veranlasst sind, schließt für Luther nicht aus, dass die permanente Grundsünde der Konkupiszenz selbst wesentlich aus dem Inneren, dem bösen Herzen kommt und sich quasi je und je ihre Objekte sucht. 307

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 633 Einstimmung dazu. Von Sünde ist aus Luthers Sicht nicht erst dort zu sprechen, wo Zustimmung und Einwilligung vorliegen.309 Freilich ergibt sich gerade an dieser Stelle im interkonfessionellen Gespräch eine nicht geringe Schwierigkeit dadurch, dass die Konkupiszenz in der katholischen Tradition vor und nach Luther, wie eben erwähnt, gerade in dem Sinn aufgefasst wurde, der für Luther unzureichend ist: nämlich als rebellisches Aufbegehren allein der »niederen Seelenkräfte« gegen das geistige Personzentrum des Menschen. Ein solches Verständnis der Konkupiszenz liegt z. B. bei Thomas von Aquin310, aber wohl auch im Erbsündendekret des Trienter Konzils311 und noch bei Johann Adam Möhler312 vor. Insofern ist der Hinweis richtig, dass in der interkonfessionellen Diskussion oft mit einem unterschiedlichen Konkupiszenz Dabei wird durchaus einzuräumen sein, dass in der Realität, psychologisch gesehen, die Übergänge zwischen außerhalb unserer Kontrolle stehender Neigung und Regung und willentlichem Eingehen darauf fließend sind. Sachlich ist aber an der getroffenen Unterscheidung festzuhalten. Luther selbst betont, dass der Glaubende nicht wissen könne, ob er einer als bloß unwillkürlich einzustufenden bösen Regung nicht doch schon beigepflichtet habe, und er deshalb diese nicht leichtfertig als »lässliche«, je schon vergebene Sünde beurteilen dürfe (AWA 2,188,9–189,3). 310 Vgl. oben Teil II, Kapitel 1.1. 311 Trifft diese Annahme für Trient zu, dann ergibt sich, wie schon ausgeführt (Einleitung, Kap. 2.1), für den einschlägigen Passus des Erbsündendekrets (DH 1515) eine komplizierte hermeneutische Situation: Die Konzilsväter gingen (zumindest mehrheitlich) davon aus, dass in den Getauften eine Konkupiszenz zurückbleibt, welche allein den subpersonalen, nicht aber den personalen Bereich erfasst. Diese Konkupiszenz ist – nach der Taufe und wohl auch schon vor der Taufe – nicht »vere et proprie peccatum«, es sei denn, man stimmte ihr zu. Wer das Gegenteil behauptet, sei ausgeschlossen! Luthers These vom Sündencharakter der ganzheitlichen, personalen Konkupiszenz wäre dann sachlich gar nicht im Blick und direkt auch nicht verurteilt. Historisch kann als sicher gelten, dass die Konzilsväter der Auffassung waren, mit ihrem Anathema Luthers Lehre von der Konkupiszenz zu treffen, sie bei Luther also den eigenen Konkupiszenzbegriff präsumierten. Im Blick auf ihre Einschätzung eines personalen Konkupiszenzbegriffs sind dann mehrere Optionen denkbar: Einmal dass die Konzilsväter dieses weitere Verständnis der Konkupiszenz der Sache nach kannten und solche Konkupiszenz beim Menschen vor der Taufe gegeben sahen, also dem Verlust der Urstandsgerechtigkeit zuordneten und deshalb auch als Sünde werteten (vgl. DH 1511). Eine solche Konkupiszenz wäre dann durch die Taufe und die Rechtfertigungsgnade weggenommen, es bliebe allein jene subpersonale, nicht sündhafte Konkupiszenz zurück. Denkbar wäre auch die Auffassung, dass für Trient jene ganzheitliche Konkupiszenz selbst vor der Taufe keine Sünde, sondern wie jene vorpersonale Konkupiszenz nur Sündenfolge und Disposition zur Sünde wäre. Schließlich ist auch die Möglichkeit zu erwägen, dass die Konzilsväter mit einer solchen erweiterten Konkupiszenz überhaupt nicht gerechnet haben. Wie dem auch sei: Verurteilt wäre aber in jedem Fall indirekt Luthers These, dass solche personale sündhafte Konkupiszenz nach der Taufe bleibt. Denn DH 1515 anathematisiert ausdrücklich den, der lehrt, »non tolli totum id, quod veram et propriam peccati rationem habet«. Gott hasst in den Wiedergeborenen nichts, denn es ist nach Röm 8,1 nichts Verdammliches in ihnen. 312 Vgl. Einleitung, Kap. 2.2. 309

634 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

begriff operiert wurde (und wird), so dass dann »kein Nein und Ja hinsichtlich derselben Sache« vorgelegen hat.313 Sagte die katholische Seite Nein zum Sündencharakter der Konkupiszenz in dem eingeschränkten Verständnis des Begriffs, so die evangelische Seite Ja zum Sündencharakter der Konkupiszenz in dem umfassenden Sinne Luthers. Gleichwohl ist mit dieser Feststellung das Problem noch nicht gelöst oder gar der Dissens als Scheindissens entlarvt.314 Vielmehr ist nun zu fragen, ob die katholische Theologie etwas zu jenem lutherischen Konkupiszenzverständnis Analoges kennt, also einen stets aktuellen, der einzelnen Tatsünde vorgelagerten und den totus homo betreffenden Gegenwillen gegenüber Gott, wobei hierbei nochmals zwischen dem Status des Menschen vor und nach der Taufe zu differenzieren ist. Die Antwort darauf muss komplex ausfallen: Bei Thomas von Aquin etwa ist die Erbsünde als »privatio iustitiae originalis«, welche die Unbotmäßigkeit der niederen Seelenkräfte (= Konkupiszenz) zur Folge hat, durchaus nicht nur eine Privation, sondern als im Stolz gegründete »aversio a Deo« auch eine »Gegenposition« zu Gott, die habituellen Charakter annimmt. Allerdings kann Thomas ein irgendwie geartetes Fortdauern dieses willentlichen Abgewandtseins von Gott nach der Taufe nicht konzedieren, da durch die heiligmachende Gnade der Wille fundamental gewandelt und von neuem Gott zugewandt wird.315 Andererseits ist in der heutigen katholischen Theologie der umfassende Charakter der Konkupiszenz weitgehend zugestanden, auch jener, die nach der Taufe im gerechtfertigten Menschen verbleibt. So führt schon Michael Schmaus aus, dass zwar durch die Rechtfertigung neben der Hinwegnahme der Schuld der »Zustand der Abwendung des Menschen von Gott« aufgehoben wird, es bleibe aber »die Neigung des Menschen, sich von neuem Gottes Herrschaft zu entwinden und wiederum ein Leben in Selbstherrlichkeit zu beginnen«. Genau dies dürfte also – so verstehen wir Schmaus – in der »Versuchlichkeit und den bösen Neigungen des Gerechtfertigten« bzw. in dem »Zündstoff der ungeordneten Begierlichkeit« doch zumindest

So Pesch, Theologie, 528. So Pöhlmann, Konkupiszenzverständnis, 389, der im Konkupiszenzproblem nur ein »semantisches Mißverständnis« erblickt bzw. ein »Paradebeispiel dafür, daß man in der Kontroverstheologie häufig begrifflich aneinander vorbeigeredet hat«. Vgl. ebd., 392 f., 394: »Canon 5 des tridentinischen Erbsündedekrets trifft am lutherischen Konkupiszenzverständnis vorbei, weil Tridentinum und lutherisches Bekenntnis unter demselben Begriff etwas je Verschiedenes fassen.« 315 Zu Thomas vgl. Pesch, Theologie, 469–500, bes. 492 ff., 528 f. Der Konkupiszenzbegriff des Thomas ist zwar auf das sinnliche Strebevermögen eingegrenzt, bezieht also Intellekt und Willen nicht mit ein, hebt aber innerhalb dieser Konkupiszenz die dem Menschen mit den Tieren gemeinsame »natürliche« von der spezifisch menschlichen Konkupiszenz ab, die eines gewissen rationalen Moments nicht entbehrt. Aber auch sie erreicht nicht den eigentlichen Willen bzw. das Personzentrum! Vgl. STh I-II, 30,3; Miggelbrink, Begriff, 44 ff., 47, der freilich von daher eine zu große Nähe zu Luther konstatiert. Zu Trient in dieser Frage s. o. Anm. 311. 313

314

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 635 mit gemeint sein.316 Auch Karl Rahner und in seinem Gefolge Johann Baptist Metz und Reinhard Kösters erblicken in der Konkupiszenz eine »Ganzheitsbestimmung«, ein »ganzmenschliches Phänomen« bzw. eine Art »negatives Existential« des einen geistig-sinnlich verfassten Menschen, nämlich die Tendenz, sich selbst absolut zu setzen und dem Unglauben nachzugeben.317 Weiter hat Otto Hermann Pesch gezeigt, wie man auf der Linie der thomanischen Anthropologie die Konkupiszenz niemals nur als rein sinnliches, die Personmitte nicht tangierendes Begehren, sondern immer schon auch als Verleiblichung einer auch im Getauften »bleibenden Gebrochenheit der Unterwerfung des Ich-Zentrums unter Gott« verstehen muss.318 In der im Kontext der GE um das simul und den Sündencharakter der Konkupiszenz geführten Diskussion ist ebenfalls nicht erkennbar geworden, dass die katholische Theologie bzw. das römische Lehramt nur von einem auf den subpersonalen Bereich zielenden Konkupiszenzbegriff ausgeht. Desgleichen lässt sich aus den einschlägigen Texten dieser Diskussion nicht entnehmen, dass beide Seiten letztlich mit einem unterschiedlichen Konkupiszenzbegriff operieren. Dies lässt die Vermutung zu, dass man in etwa über denselben Sachverhalt sprach. Indessen muss hinzugefügt werden, dass diese Frage auch nicht explizit geklärt wurde, was daran ersichtlich ist, dass in der GE ein eigener Abschnitt über die Sünde fehlt.319 Sieht man von Kösters (und letztlich auch Iammarrone) ab, wird man jedoch feststellen müssen, dass katholischerseits mehrheitlich aufgrund der vornehmlichen Orientierung an der Tatsünde diese ganzmenschliche,

Vgl. Schmaus, Dogmatik III/2, 119. Vgl. Rahner, Begriff, 382–387; Metz, Konkupiszenz, 845 f., 848 f.; bes. 849: Die Konkupiszenz ist eine »alle Fähigkeiten des Menschen in sich hineinziehende Versuchung der Verabsolutierung des eigenen Ich und damit der Pervertierung und Verneinung der je geöffneten und sich selbst übersteigenden personalen […] Existenz des Menschen«. Ebenso Kösters, These (1965), 149 f. Stoeckle, Begierlichkeit, 237 ff., erblickt in der Konkupiszenz einen »Drang zur Verabsolutierung« eines relativen Wertes, ja letztlich zur »Absolutsetzung des Ich« selbst. Dieser Drang ist ihm zufolge dem Menschen aber nur Werkzeug für jenen anderen »Drang zur Regression« der Person, hinter dem letztlich eine »Selbstvernichtungstendenz« steht, welche der Herausforderung zur oft schmerzlichen Reifung und Ausgestaltung der Person (auch vor Gott) ausweichen will. 318 So Pesch, Theologie, 535. Vgl. ebd., 534 f., 885 f. Iammarrone, Il Dialogo, 154, beschrieb die Konkupiszenz als »imperfezione o riserva costante di amore presente nel suo [des Gerechtfertigten] assenso e nella sua consegna personale all’ amore di Dio in questa vita«. 319 Darauf weist Brandt, Erklärung, 86 ff., hin. Ebd., 8871, der Hinweis, dass der Katholische Weltkatechismus (134, Nr. 405) die Konkupiszenz als »Neigung zum Bösen« bestimmt. Nach GE stellt die Konkupiszenz in katholischer Sicht eine »gottwidrige Neigung«, nach GOF 2B eine »aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung« dar. Beide Stellen weisen darauf hin, dass der Konkupiszenzbegriff interkonfessionell in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird. Man wird dies aber nicht dahin verstehen dürfen, dass katholischerseits der Begriff »Neigung« das Personzentrum überhaupt nicht tangiert, so sehr das »[voll]personale Element« (GE 30) im Sinne freier Entscheidung erst bei der Tatsünde gegeben ist. 316

317

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also auch das Personzentrum des Menschen erfassende Konkupiszenz als bloße Versuchlichkeit zur Sünde und nicht mit Luther als vere et proprie peccatum angesehen wird.320 Allerdings wird – das zeigen etwa die zitierten Wendungen von Schmaus – die Negierung des Sündencharakters der Konkupiszenz umso problematischer, je mehr man ihre ganzmenschliche, auch das Personzentrum einbeziehende Tendenz zugesteht. Denn dann ist das Gegengöttliche dieser Tendenz umso unverkennbarer und ihre Deutung als bloße Anfälligkeit für die Sünde umso weniger plausibel. Hier wirkt sich wohl die Bestimmung von Trient, wonach die Konkupiszenz nicht »vere et proprie peccatum« sei (DH 1515), restriktiv auf das theologische Denken aus. Zusammenfassend muss also konstatiert werden, dass der Hinweis auf den traditionell unterschiedlichen Konkupiszenzbegriff sowie die sich gegenwärtig interkonfessionell abzeichnende Verständigung darüber, was man unter Konkupiszenz zu verstehen hat, zwar das gegenseitige Aneinander-Vorbeireden vermindert, nicht aber schon das Sachproblem löst.

4.2 Konkupiszenz und Konsens Wie lässt sich nun in diesem, auch nach den terminologischen Klärungen offenkundig fortbestehenden interkonfessionellen Dissens zu einer Annäherung, wenn nicht gar Verständigung kommen? Für lutherische Theologie ist die Konkupiszenz per se schon Sünde, d. h. ohne den bewussten Konsens zu ihr in einer aktuellen Sünde, während für katholische Theologie zur Sünde unverzichtbar das »personale Element« (GE 30)321, also die willentliche Entscheidung hinzugehört. Wir verzichten an dieser Stelle darauf, die verschiedenen hier gerade von der katholischen Theologie eingeschlagenen Wege zu möglicher Konvergenz nochmals

Das wird besonders deutlich bei Miggelbrink, Kontroverse, 53–58, der Konkupiszenz als »unheile innere Grundhaltung einer Uneindeutigkeit gegenüber Gott«, ja als »schmerzhafte Trennung von Gott« (54) sowie »inhärierende Widerständigkeit gegen die Liebe zu Gott und zum Nächsten« (58) und doch nicht als Sünde, sondern nur als Disposition dazu bestimmt. Es sei hier allerdings nochmals an die bedeutsamen Überlegungen von Metz, Unglaube, zu einem »simul fidelis et infidelis« erinnert. Vgl. oben Einleitung, Kap. 3.4. Metz interpretiert die Konkupiszenz wesentlich als Versuchung (gerade auch des Glaubenden) zum Unglauben, die aber der Glaubende nie von einem Nachgeben gegenüber dieser Versuchung rein abscheiden könne. Insofern sei er faktisch, d. h. nicht essentiell, immer auch ein »simul fidelis et infidelis«. Luther würde dieser Formel voll zustimmen, aber das simul infidelis nie nur als Versuchung bzw. je aktuell sich einstellenden Unglauben, sondern als dem Menschen bis zum Tod inhärierende Seinsbestimmung fassen. 321 In der Textfassung der GE von 1996 hieß es noch klarer: Die Konkupiszenz »wird nicht als Sünde im eigentlichen Sinn verstanden, weil sie nicht eine freie, sittlich falsche Entscheidung, noch ein Zustand oder eine Neigung ist, die die Strafe des ewigen Todes verdient«. (Wendebourg, Entstehungsgeschichte, 191; Hv.) 320

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 637 erneut zu diskutieren, sie sind im Einleitungsteil hinreichend vorgestellt worden. Stattdessen möchten wir nur einen der dort genannten Vorschläge aufgreifen, der uns der einzig gangbare Vermittlungsweg zu sein scheint, wenn man am vollen Gehalt des lutherischen simul iustus et peccator festhalten zu müssen meint, zugleich aber dem katholischen Insistieren auf der Personalität der Sünde Rechnung tragen will. Dieser Vorschlag besitzt, das soll im Folgenden aufgezeigt werden, einige Anhaltspunkte bei Luther selbst.322 Reinhard Kösters323 hatte, Anregungen von Rudolf Hermann aufnehmend324, die These vertreten, dass die Alternative zwischen einer Konkupiszenz, welche durch eine von intentionaler Zustimmung getragene böse Einzeltat erneut zur Sünde wird, und einer Konkupiszenz, welche ohne jeglichen Konsens besteht und deshalb nicht als Sünde zu werten ist, im Grunde falsch ist. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass auch schon die latent im Menschen vorhandene Selbstsucht mit einem nicht-reflexen, nicht bewussten Konsens der ganzen Person verbunden ist, der im Unterschied zu den bewussten, intentionalen Einzelkonsensen quasi schon in die Konstitution der Person selbst mit eingeht. Kösters macht damit auf den Tatbestand aufmerksam, dass wir zwar alle von unserer Herkunft als Menschen her unweigerlich und in diesem Sinne notwendig Sünder sind, dies uns also vorgegeben ist, dass wir gerade dies aber in einem fundamentalen Sinne willentlich und nicht gezwungen sind. Es gibt mithin, wie schon Hermann formulierte, einen »Konsens zur bleibenden Sünde«, der vom »Konsens zum Bleiben der Sünde« als der in der (schweren) bösen Tat implizierten Negation des Glaubens abzuheben ist.325 Kösters schreibt: Es geht um ein »Zustimmen, das nicht so sehr als besonderer, abgesetzter, reflex-bewußter Akt der Konstitution des Ich nachträglich folgt, sondern […um ein] Zustimmen, das als ursprünglich-ganzheitlicher personaler Akt mit dem Erwachen des Bewußtseins, mit dem Werden des Ich selber und in ihm sich ereignet und alles folgende ›bewußte‹ Handeln des Menschen prägend Wie mehrfach in unserer Studie angedeutet, halten wir den Annäherungsversuch, wonach zwischen der Konkupiszenz vor und nach der Taufe zu unterscheiden sei, nicht für aussichtsreich. Vgl. z. B. Lehrverurteilungen I, 52; Pesch, Simul, 148 f.; Ökumenischer Arbeitskreis, Bericht, 439. Denn Erstere als peccatum, Letztere aber, obwohl doch fortdauernd, wenngleich nicht zugerechnet, nur als fomes peccati zu qualifizieren, ist keine konsistente Position. An dieser Stelle war Luther konsequenter und ging vom vollen Sündencharakter der Konkupiszenz auch nach der Taufe aus, was zu einem Rechtfertigungsverständnis als »opus aut actio perpetuo durans« führte. Zudem stellt eine derart geteilte Bewertung der Konkupiszenz nicht die offizielle römisch-katholische Lehrmeinung dar. Sie dürfte zudem eng mit der einseitigen Sicht der Konkupiszenz als dominanter Sinnlichkeit verknüpft sein, denn bei ihrem umfassenden Verständnis ist ihre personal-aktive Gottesfeindschaft unübersehbar. 323 Vgl. Kösters, These (1965), 149–154, 157 ff. Siehe auch Iammarrone, Il dialogo, der Kösters These sogar implizit vom Rechtfertigungsdekret des Tridentinums vertreten sieht. Dazu oben Einleitung, Kap 3.6. 324 Vgl. Hermann, These, 191–195. 325 So Hermann, These, 195. 322

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und bestimmend trägt. Notwendig – wenn auch keinesfalls unter äußerem oder innerem Zwang, was sich ja beides nicht zu widersprechen braucht – stimmt der Mensch in diesem Sinne der die Signatur der Schuld tragenden […] Natur zu«.326 Solche von einem fundamentalen Konsens getragene Konkupiszenz ist für Kösters selbst Sünde, »vere et proprie peccatum«, niemals also bloße Versuchung zur Sünde. Er gelangt so zu einer weitgehenden Identifikation von Konkupiszenz und Erbsünde327 und ist der Überzeugung, dass diese Position nicht dem Konzil von Trient widerspricht, weil dieses nur die Behauptung anathematisiere, wonach die konsenslose Konkupiszenz als Sünde zu erachten sei.328 Konkupiszenz ist faktisch aber niemals »konsensfrei«. Dieser ihr immer schon einwohnende, in der Tiefe der Person geleistete Konsens koexistiert dann im Glaubenden mit dessen Glaubenskonsens, wird von ihm bekämpft und bestritten, wobei allerdings ein asymmetrisches Verhältnis vorliegt: »Grund- oder Hauptkonsens« ist der Glaube als Verbundensein mit Gott und gerade nicht mit der Sünde!329 Die Position Kösters’ kann sich nun durchaus auf Luther berufen – was Kö sters auch annimmt, aber nicht explizit an Luthertexten aufgezeigt hat –,330 insofern auch dieser an wenigen, aber zentralen Stellen die Auffassung vertritt, dass im Grunde das verbleibende peccatum originale, also die Konkupiszenz bzw. der Kösters, These (1965), 151 f. Vgl. 159: »Die ›Regungen‹ der Konkupiszenz, insofern sie von einem Konsens, der freilich nicht bloß als nachträglich-sekundärer und reflex-bewußter Akt vorzustellen ist, ursprünglich und von vornherein aufgenommen und mitgetragen sind«, können und müssen als »vere et proprie peccata« angesehen werden. 327 Vgl. Kösters, These (1965), 154, 159. 328 Vgl. ebd., 157, 159 und DH 1515. Zum modifizierten Ausgleichsversuch mit Trient durch Iammarrone siehe Einleitung, Kap. 3.6. 329 Vgl. Kösters, These (1965), 158. 330 Vgl. ebd., 157: Luther hat, »wenn er von Konkupiszenz spricht, immer jene Konkupiszenz im Auge, von der sich das Ich faktisch nicht sittlich-adäquat unterscheiden kann, jene Konkupiszenz, die faktisch immer schon mit dem Konsens, wenigstens als Teilkonsens (der, wenn auch mehr oder weniger, doch immer den Menschen als ganzen, bis in den tiefsten Kern hinein engagiert) verbunden ist und von ihm wenigstens mitgetragen wird«. Nach Luther komme infralapsarische Konkupiszenz nur vor als »vom menschlichen Konsens wenigstens irgendwie aufgenommen und mitgetragen«. Die faktisch und konkret antreffbare Konkupiszenz ist niemals »›reine‹, d. h. konsensfreie Konkupiszenz«. Im Glaubenden liegt dann – so Kösters – nach Luther eine »Spaltung des Konsenses selber, d. h. des menschlichen Willens«, eben das simul zweier Grundoptionen vor. Vgl. schon Hermann, These, 192, der von »einem immer noch – auch im Gerechten – vorhandenen consensus mit der Sünde« spricht. »Luther sagt das freilich nicht. Aber würde er etwas dagegen einzuwenden haben, daß der Gerechtfertigte stets aufgefordert ist, in dem, was er gern seine Schwäche nennt, die Züge seines ganzen und eigenen Ichs wiederzuentdecken?« Vgl. ebd., 194: Es geht um den »persönlichen Charakter unserer vitia [als den Regungen der Konkupiszenz]«, um das »innere Beteiligtsein unseres Ich bei dem Verhalten, was da vergeben ist und was man Schwachheit [= Konkupiszenz] zu nennen pflegt«. Diese infirmitas ist und bleibt »Betätigung, bei der wir aufs lebhafteste beteiligt sind«. Siehe auch Metz, Konkupiszenz, 846. 326

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 639 sog. fomes, die Unterscheidung von peccatum originale und peccatum actuale bzw. von habitueller Sünde und Tatsünde transzendiert.331 Klar erkennbar wird dies etwa in Luthers Verteidigung der dritten These in der Assertio von 1521 (7,110,22–111,11), der zufolge der fomes peccati, auch wenn er nicht von einer aktuellen Sünde begleitet ist, am Eintritt in das Himmelreich hindert. Luther beweist diesen Satz, indem er ihn als Konklusion aus zwei Prämissen darstellt: Da ist einmal das biblische Zeugnis, wonach keiner, der noch Sünde an sich trägt, das Himmelreich betreten darf, und zum anderen wurde schon bei der Verteidigung von These 2 die Behauptung erhärtet, dass der fomes »vere peccatum« ist. Also ist der, der von diesem fomes noch getrieben wird, am Eingang in das Himmelreich gehindert! Luther vertritt nun weiter die Auffassung, dass der fomes, auch wenn er schon in sich und nicht erst durch die Tatsünde Sünde vor Gott ist, gleichwohl niemals ohne peccatum actuale angetroffen werden kann, vielmehr immer in peccata actualia ausbrechen muss, da, wie mit Röm 7,23 ausgeführt wird, das Gesetz der Glieder ständig gegen das Gesetz des Geistes kämpft und angeht. Wieso ist dies aber so? Luthers Begründung lautet: »Res enim viva et quotidie movens est peccatum, sicut et ipsa anima, in qua habitat. Nam et iustitia res est vivens et movens. Non enim potest quiescere anima, quin vel amet vel odiat ea, quae dei sunt. Unde fit, ut, cum ipsimet concedant, actuale peccatum morari ab introitu coeli, cogantur concedere, quod et fomes moretur, qui origo vivacissima et inquietissima actualium peccatorum est. […] Ideo fomes vere est actuale peccatum, actualis privatio sive defectus eius rei, quae adesse debet, et actualis positio seu praesentia infirmitatis et aliorum affectuum, qui deesse debent.« (7,110,35–111,8) Da die Seele selbst eine höchst bewegte und aktive Dynamik darstellt, die in fundamentaler Weise entweder auf Gott oder die gegengöttlichen Mächte ausgerichtet ist, stellen auch jene die Seele erfüllenden Grundtendenzen, eben der fomes oder die iustitia, höchst bewegte und lebendige Kräfte dar. Aus diesem Grund ist es für Luther aber evident, dass auch schon der höchst lebendige fomes vom Eintritt ins Himmelreich abhält und nicht erst die peccata actualia, da er ja der höchst dynamische und aktive Ursprung dieser Tatsünden ist. Luther will also sagen, dass der fomes bzw. die concupiscentia selbst schon Sünde ist, weil diese, noch viel mehr als die davon abgeleiteten Tatsünden, eine höchst aktive und lebendige Bewegung der Seele, also des Innersten des Menschen darstellt. Von daher darf der fomes, um im Bild zu bleiben, keineswegs als ein bloß brennbares, leicht entzündliches Material begriffen werden, das erst durch den umherfliegenden Funken der Versuchung entzündet wird, sondern er brennt immer schon! Die Sünde ist immer schon da! Und zwar deshalb, weil der Mensch in seinem Personkern, in seinem Personzentrum an jenem fomes beteiligt ist, er steckt gewissermaßen darin. Der fomes, die concupiscentia ist er selbst, er kann sich davon in seinem Personsein nicht distanzieren, nicht »absetzen«, außer insofern, als er auf sich als Glaubenden blickt. Der Mensch kann nicht sagen: »Es strebt in mir von So schon Hermann, These, 40.

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Gott los«, sondern muss bekennen: »Ich strebe von Gott los!«332 Rudolf Hermann hat deshalb von der »Ichhaftigkeit der Sünde« gesprochen.333 Und insofern kann Luther selbst dann auch den fomes paradoxerweise als peccatum actuale, d. h. als höchst lebendige und wirksame Sünde verstehen, dann aber nicht im Sinne einer Einzeltat der Person, sondern als die von der Person bejahte und gewollte Grundtat und Grundausrichtung: »ideo fomes est actuale peccatum, actualis privatio sive defectus eius rei, quae adesse debent, et actualis positio seu praesentia infirmitatis et aliorum affectuum, qui deese debent.«334 Es liegt daher nahe, aufgrund dieser höchsten Aktivität und Lebendigkeit der concupiscentia, die aus dem Inneren des Menschen kommt, zu schließen, dass in ihr ein fundamentaler Konsens, ein »personales Element« liegt. Die Konkupiszenz ist nicht »a-personal«, sie stellt vielmehr, wie Luther von der Erbsünde sagt, das »peccatum personale« dar!335 Ein solcher Fundamentalkonsens ist nach Luther im unbekehrten Menschen der einzige, ihn ganz bestimmende und erfüllende. Beim Glaubenden dagegen liegt er mit jenem anderen, aus dem Glauben erwachsenden Konsens zum Wollen des Guten nebeneinander bzw. im Kampf. Das »personale Moment« an der Sünde darf mithin nicht auf das willentliche Zustimmen bzw. die konkret »›vorsätzliche Verletzung‹ oder ›Überschreitung‹ des göttlichen Gesetzes«336 eingegrenzt werden.337 Das folgt schon aus dem Umstand, dass die Konkupiszenz alle Schichten und Aspekte des Menschen betrifft. Vgl. Kösters, These (1965), 150; Metz, Konkupiszenz, 846. 333 Vgl. Hermann, These, 203. Vgl. ebd., 65 f., 204 f. 334 Vgl. auch 8,122,39–123,5; 124,9: »caro res viva est, in assiduo motu est, qui mutatur mutatis obiectis«; 39 I,112,20–113,14. Dazu Hermann, These, 57–60; Iwand, Glaubensgerechtigkeit, 77 f.; Jüngel, Lehre, 185, mit Verweis auf Melanchthon, Loci (1521) 2,5 (48): »Est enim et originale peccatum plane actualis quaedam prava cupiditas.« 335 Vgl. 39 I,84,16 f. (hier allerdings auf den Unglauben bezogen): »Hoc est peccatum originale post lapsum Adae, nobis ingenitum et non tantum personale, sed et naturale«; 10 I/1,508,20–509,2: »die erbsund, oder natursund, oder personsund, die rechte hewbtsund. […]. Diese sund wirtt nitt gethan, wie alle andere sund, ßondern sie ist, sie lebt und thutt alle sund und ist die weßentlich sund.« 336 So Kardinal Cassidy in einem Schreiben vom 30.07.1998 (76) an den Generalsekretär des LBW. Es stellt sich die Frage, ob von einer solchen Definition der Sünde her nicht jede Erbsündenlehre unmöglich wird bzw. von vornherein als lutherisch eingestuft werden muss. 337 Luthers Gedanken werden von Joest, Dogmatik II, 406, aufgenommen, wenn er das Verständnis der Grundsünde von der Vorstellung eines bloßen Defektes in der Natur des Menschen freigehalten wissen will. Dass Sünde »ein Verhalten ist, das gegenüber Gott, Menschen und dem eigenen Ich vollzogen wird«, das gelte nicht erst von den einzelnen Aktsünden, sondern schon von der Grundsünde, aus der diese hervorgehen. Auch sie ist keine »zuständlich ruhende Eigenschaft, sondern Bewegung des menschlichen Selbst«. »In ihr verhält sich der Mensch vertrauenslos zu Gott, gleichgültig gegen den Menschen, selbstsüchtig bezogen auf sein Ich, haben-wollend zu allem, womit er sein Leben zu steigern meint.« Vgl. ebd., 408: »Aber dieses ›So sein‹ [des Menschen in der Sünde] ist nicht als ein passiver Zustand zu verstehen. Es ist auch in sich schon ein Tun – die dem Vertrauen 332

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 641 Was Luther in der Assertio ausgeführt hat, bestätigt er an mehreren anderen Stellen, an denen er darauf insistiert, dass jene Konkupiszenz wir selbst sind, dass wir sie von uns nicht als vor- oder unterpersonales Moment abschieben und distanzieren können: Die Konkupiszenz macht uns selbst schuldig, kann uns zugerechnet werden, es sei denn sie wird uns durch Gottes Barmherzigkeit nicht zugerechnet und wir stimmen ihr nicht zu.338 Von Augustinus her erhellt für Luther (!), »quomodo concupiscentia sit ipsa infirmitas nostra ad bonum, quae in se quidem rea est, sed tamen reos non facit nisi consentientes et operantes. Ex quo tamen mirabile sequitur, quo rei sumus et non rei. Quia infirmitas illa nos ipsi sumus, ergo ipsa rea et nos rei sumus, donec cesset et sanetur. Sed non sumus rei, dum non operamur secundum eam, Dei misericordia non imputante reatum infirmitatis, sed reatum consentientis infirmitati voluntatis.« (56,351,11–17)339 in Gott und der Zuwendung zu den Mitmenschen entgegenstrebende Richtung, in der der Mensch sich bewegt, sein Leben ›tätigt‹, besorgt und behauptet.« Ähnlich Track, Grundsatzüberlegungen, 36. 338 Unsere Formulierung lässt – wie auch das folgende Zitat – das Verhältnis der beiden Momente (unser Dissens mit der Konkupiszenz, Gottes non-imputatio) offen. Luther kann sowohl und primär erklären, dass die non-imputatio der Konkupiszenz durch Gott unseren Widerstand gegen sie begründet, als auch sekundär annehmen, dass die göttliche non-imputatio nur dann aufrecht erhalten wird, wenn der Mensch der Konkupiszenz nicht zustimmt. 339 Vgl. auch 8,122,19 ff. (zu Röm 7,16): »Non ergo sinit gratia dei hoc opus peccati sibi [dem Christen] imputari, quia revera non ipsum operatur. Et tamen in eo est, vere quoque ipse operatur, ut satis dictum est.« An die von Luther oft nur angedeutete, nicht aber ausgeführte Differenzierung innerhalb eines erneuten Konsenses zum peccatum remanens beim Christen sei nochmals erinnert: Ein Wieder-Zustimmen zur Sünde aus Schwachheit, bei welcher der Christ trotz eigentlich guter Intention und durchgehaltenem Glauben von der Macht der Sünde überwältigt wird, ist abzuheben von einem bewussten, mutwilligen, trotzigen Einstimmen in die Sünde, in dem auch ein »Abtreten« vom Glauben eingeschlossen ist. – Schwer nachvollziehbar ist Jüngels Argumentation, Probleme, 730 f., der unter Berufung auf die zitierte Stelle aus Luthers Römerbriefvorlesung eine Übereinstimmung mit Ratzinger (Geheimnis, 5 f.) konstatiert, demzufolge »die Sünde eine personale Wirklichkeit ist« und »der Mensch daher nur wirklich Sünder ist, wenn er eine persönliche Sünde begeht«. Folglich sei die Konkupiszenz – so Ratzinger – bloße »Veranlagung« oder »Neigung« zur Sünde, »die aber in sich noch keine Sünde ist«. Jüngel beruft sich darauf, dass auch nach Luther die Konkupiszenz für den Christen keine Sünde im Sinne der Schuld sei, sondern erst zur Sünde werde bzw. schuldig mache, wenn dieser ihr nachgebe, also personal zustimme. Dabei wird aber nicht veranschlagt, was Jüngel doch selbst erwähnt, dass die Konkupiszenz nur deshalb nach Luthers Überzeugung keine Sünde für den Christen ist, weil sie von Gott (immer wieder) vergeben bzw. nicht angerechnet wird, in sich aber sehr wohl Sünde ist und bleibt, was Ratzinger kaum zugestehen dürfte. Vgl. auch 56,350,9 f.; 513,17–20; Pesch, Theologie, 115–120. Ratzinger versteht Sünde klar nur im Sinne von Tatsünde, während Jüngel selbst einräumen muss, dass Luther mit »personaler Sünde« nicht erst die Tatsünde, sondern bereits die Erbsünde meint, die freilich immer schon im Menschen tätig sei. Meint Jüngel: immer schon vom Konsens begleitet sei? Jüngel vermag von seiner Deutung aus dann sogar der Formulierung der GOF beizu­-

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Zu ähnlichen Überlegungen gelangt man, wenn man Luthers Unterscheidung zwischen Notwendigkeit (necessitas) und Zwang (coactio) beim Sündigen heranzieht, wie er sie z. B. in De servo arbitrio getroffen hat. Der Sünder sündigt danach mit Notwendigkeit, einmal weil Gott es vorausgewusst hat, mehr noch aber deshalb, weil dieses, die Sünde tun, sein inneres Wesen darstellt. Er kann nicht anders als sündigen, weil die Grundausrichtung seines Willens vom Satan bzw. von der Macht der Sünde besetzt und beherrscht ist und er sie von sich aus nicht zu ändern vermag. Dies impliziert aber nicht, dass der Sünder unter einem äußeren Zwang sündige, sondern er tut dies mit seinem eigenen Willen und nicht gegen diesen. Er vollzieht die Bewegung seines ureigenen Trachtens und Wollens. Der Sünder tut gerne, was er tut und wozu es ihn treibt.340 Judas, der Christus verriet, sündigte, so Luther, zwar notwendig, aber nicht mit Zwang, so wie auch innertrinitarisch der Vater den Sohn notwendig zeugt, aber wiederum ungezwungen.341 Auch dies lässt sich so verstehen: Obwohl wir als Sünder unter der Herrschaft der Sünde stehen und sie uns so zu ihren Mittätern macht, wir insofern gar nicht anders können als zu sündigen, sind wir doch mit unserem Willen, mit unserer ganzen Person und insofern mit einem fundamentalen Konsens in der Sünde präsent. Wir sind einerseits Sünder, aber wir sind andererseits auch unsere pflichten, wonach (nur) eine »beständige Gefährdung […] von der Macht der Sünde und ihrer Wirksamkeit im Christen« ausgehe. Eben weil und sofern – so Jüngel – die Konkupiszenz ohne Konsens bleibe! Alle Feststellungen Jüngels kann man lutherisch interpretieren, sie sind aber auf katholischer Seite anders gemeint! Auf Jüngels Argumentation beruft sich Iammarrone, Il dialogo, 55 ff., 133–136, 158, für seine These, dass Luthers Bewertung der »christlichen« Konkupiszenz als peccatum damnabile und mortale hyperbolisch-paradox gemeint sei, und versucht von daher eine Vermittlung zum Tridentinum herzustellen. Iammarrone setzt sich aber insofern von Jüngel ab, als er bei diesem den der Konkupiszenz immer schon geleisteten, nicht (voll) reflexen Konsens (der vom bewusst-freien Konsens zu ihr zu unterscheiden sei) nicht berücksichtigt sieht. Ersterer mache sie eben zu mehr als einer vom Gerechtfertigten je schon überwundenen Gefährdung durch die Sünde, ja qualifiziere ihn vor Gott »ex parte« als Sünder (135 f.). Dazu oben Einleitung, Kap. 3.6. 340 Vgl. 18,634,14–36, bes. 21–25: »Necessario vero dico, non coacte, sed ut illi dicunt, necessitate immutabilitatis, non coactionis, […] sed sponte et libenti voluntate facit [der Mensch das Böse].« Eine Parallele hat die hier vorliegende Spontaneität in dem »sponte et hilariter«, aus dem heraus für Luther im Glauben das Gute getan wird. Dazu 18,634,37– 635,22; 1,365,25 ff.; 147,38–148,12; 7,105,23 ff. – Joest, Dogmatik II, 389–393, differenziert zwischen Wahlfreiheit (liberum arbitrium), (der eben beschriebenen) Spontaneität und Lebensfreiheit. Die beiden ersten Formen von Freiheit eignen auch dem Sünder, nicht aber die Lebensfreiheit als Leben in der Verwirklichung der eigenen Wesensbestimmung. Ihr korrespondiert die Unfreiheit als das Gebanntsein unter Mächten, welche den Menschen dieser Bestimmung »entfremden«, aber nicht unbedingt jene ersten beiden Formen der Freiheit aufheben. 341 Vgl. 18,720,28–721,9, bes. 720,31–35: »Obsecro, an disputamus nunc de coactione et vi? Nonne de necessitate immutabilitatis nos loqui tot libellis testati sumus? Scimus, quod pater volens gignit, quod Iudas volendo prodidit Christum, sed hoc velle in ipso Iuda certo et infallibiliter futurum fuisse dicimus, si Deus praescivit.« Vgl. 715,18–716,1.

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 643 Sünde!342 Luther hat diese in De servo arbitrio entfaltete Konzeption später explizit auf die Konkupiszenz angewandt: »Congenita est nobis illa concupiscentia et non involuntaria, sed est voluptas et voluntas maxima peccandi et in peccato originali, nec possunt peccare involentes.« (39 I,378,16 ff.; vgl. 378,29 ff.; 379,25 ff.)

4.3 Sünde und Schuld Wenn demnach für Luther und offenbar auch für den katholischen Theologen Reinhard Kösters343 das peccatum originale und in diesem Sinn dann auch die Konkupiszenz, weil peccatum personale, niemals ohne fundamentales Dabeibzw. Darinsein der Person, also nicht ohne ganzheitlichen Konsens des Menschen gegeben ist und sie insofern als Sünde nicht des »personalen Moments« entbehrt, so sind damit freilich noch nicht alle Einwände gegen den Sündencharakter der Konkupiszenz ausgeräumt. Denn den die Person mit konstituierenden, prinzipiellen Konsens einmal zugestanden, der beim Glaubenden aber durch einen anderen H.J. Iwand, Sed originale, 182–190, hat von daher in der Auslegung des Satzes Luthers in 56,310,2 ff. (»Actualia [peccata] enim omnia per diabolum intrant et intraverunt in mundum, sed [peccatum] originale per hominem unum«) das Sachgefälle geradezu umgekehrt: Gerade weil der Mensch in der Erbsünde ganz mit seiner Person, mit seinem Wesen präsent sei, sei er für sie verantwortlich und ihr gegenüber frei. Dagegen müsse der Mensch bei den peccata actualia, den konkreten Einzelsünden mehr oder weniger als Erleidender betrachtet werden, der unter dem Einfluss zahlreicher negativer Mächte stehe, eben dem »diabolus«. Er ist hier niemals in dem Maße als Person, als Wille präsent wie bei der Erbsünde und in diesem Sinne auch nicht frei. Iwand lässt allerdings in einer gewissen Schwebe, ob das Ausgeführte nur für Adam als den unus homo von Röm 5,12 gilt – oder, was näher liegt, von jedem Menschen, da Adam als der Typus jedes Menschen figuriert. – Von einem an Spinoza orientierten deterministischen Ansatz her hat der frühe Schleiermacher in seiner Abhandlung »Über die Freiheit« (zwischen 1790 und 1792) die These vertreten, dass die Notwendigkeit (nicht Nötigung!) all unserer Handlungen die Möglichkeit ihrer Zurechnung an uns nicht aufhebe, sondern geradezu bedinge! Denn Handlungen, die uns ethisch zugerechnet werden können, sind ihm zufolge solche, die ganz aus unserer Person, unserem Wesen und Charakter kommen. Sie sind deshalb viel mehr die unseren, wir sind daran viel mehr mit unserer Personalität beteiligt, als wenn sie nur unserer eher zufälligen freien Entscheidung entsprängen. »Die Zurechnung ist das Urtheil wodurch wir die Sittlichkeit einer Handlung auf denjenigen der sie gethan hat übertragen so daß das Urtheil über die Handlung einen Theil unseres Urtheils über seinen Werth [bzw. Charakter] ausmacht.« (Freiheit, 247) Schleiermacher verdeutlicht damit gut, dass Verantwortlichkeit bzw. das personale Moment im Tun nicht in jedem Fall erfordert, dass der Täter auch anders gekonnt haben muss, sondern dass es personale Zurechenbarkeit gibt, welche das »Nicht anders gekonnt haben können« sogar voraussetzt. Vgl. zum Ganzen Freiheit, bes. 244–255, 292–298. 343 Dessen weitgehende Annäherung an Luther hinsichtlich des Sündencharakters der Konkupiszenz ist – von Iammarrone abgesehen (s. o. Einleitung, Kap. 3.6) – unseres Wissens in der katholischen Theologie singulär geblieben und nicht aufgegriffen worden. 342

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Konsens bekämpft und bestritten wird, kann sie deshalb schon im Vollsinn als Sünde qualifiziert werden? Gehört nicht zur Sünde das Moment der Schuld im Sinne der individuellen Urheberschaft, Verantwortlichkeit und Zurechnung einer Tat? In der Konkupiszenz mag ich zwar als Person ganz präsent sein, aber ich kann doch gar nicht anders, als im Herzen zu begehren! Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass ich in dieser konkupiszent-erbsündigen Verfassung als Mensch, ja als Glaubender (noch) bin. Dies stellt vielmehr eine mir aus dem stammesgeschichtlichen Erbe der Menschheit zukommende Vorgegebenheit dar, die ich zwar durch eigenes Sündigen ratifiziere und so festige und weitertrage, über deren Vorhandensein selbst ich aber nicht zu entscheiden vermochte. Einmal davon abgesehen, dass sich diese Problematik für jede, auch für eine katholische Erbsündenlehre stellt, scheinen doch insbesondere die Reformatoren davon auszugehen, dass die bleibende Sünde als solche Schuld im vollen Sinne ist, eben weil sie nur durch die Vergebung Gottes nicht mehr von ihm trennt, also der Vergebung bedürftig ist, und weil sie dem Glaubenden um Christi willen nicht angerechnet wird, sofern er nicht erneut in sie einstimmt. Außerhalb des Glaubens wird sie also sehr wohl zugerechnet und damit doch in die Verantwortlichkeit des Menschen gelegt! Um diesem Widerspruch zu entgehen,344 ist es hilfreich, sich an jene schmale theologische Tradition anzuschließen, welche in der Hamartiologie konsequent zwischen Sünde und Schuld unterscheidet. Entgegen der in der Erbsündenlehre vorherrschenden Tendenz, das peccatum originale sowohl durch Universalität und Unentrinnbarkeit als auch durch den persönlichen Schuldcharakter bestimmt zu sehen, wird hier, um zu einer konsistenten Erbsündentheorie zu gelangen, beides im peccatum originale des Einzelnen nicht zusammengesehen. Dies geschieht etwa besonders ausgesprägt in der Dogmatik des Ritschl-Schülers Julius Kaftan.345 Für Kaftan ist Sünde »alles menschliche Wollen und Handeln, das mit dem Die traditionellen diesbezüglichen Ausgleichsversuche sind nicht (mehr) überzeugend: die Vorstellung der virtuellen Anwesenheit aller Menschen »im Samen Adams«, so dass sie alle in ihm mitgesündigt hätten; die Konzeption der Übertragung eines sündhaften (konkupiszenten bzw. der Ursprungsgerechtigkeit beraubten) Zustandes durch die geschlechtliche Zeugung; das Postulat einer vorgeburtlichen individuellen Entscheidung und die Annahme einer das ganze Leben des Einzelnen umspannenden »Lebenstat«. Der Versuch, die Sündigkeit des Menschen als vorgegebene negative Konditionierung der Freiheit, d. h. als schlechtes Beispiel und Verführung zum Bösen zu deuten, erreicht nicht die Aussage, dass der Mensch schon »propagatione, non imitatione« (Trient, DH 1513; im Anschluss an Augustinus) Sünder ist! Es wird so nur eine Disponiertheit zur Sünde anvisiert! Ich korrigiere hiermit meine früheren Ausführungen in: Kirche, 272 ff. Vgl. zum Ganzen Pannenberg, Theologie II, 290–296. Wenn Gräb-Schmidt, Sünde, 156, schreibt, »dass sich in der Erbsünde nicht einfach unser böses Tun vererbt und auch nicht einfach nur eine bestimmte Disposition zu solchem Tun – also als quasi natürliche Anlage – , sondern eine bestimmte Disposition zur Freiheit«, ein bestimmter negativer »Verwirklichungsmodus« der Freiheit, so ist nicht zu erkennen, wie hier der Schuldcharakter der Sünde anders als durch personale Einstimmung in eine Disposition entstehen soll. 345 Vgl. Kaftan, Dogmatik (1897), 1920 7–8, 318–392. Die Seitenzahlen im Text beziehen 344

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 645 göttlichen Willen in Widerspruch steht« (338), Sünde ist »eine in thatsächlichem Widerspruch mit Gottes ewigem Wesen stehende Richtung des Lebensprozesses« (340), der alle Menschen von Geburt an unterworfen sind, insofern als sie vom »Gesetz der Sünde, das eigene Ich, seine Lust und Ehre zu suchen« (335), bestimmt werden. Schuld liegt dagegen nur dort vor, »wo mit Bewußtsein und Willen, unter eigener Verantwortlichkeit gehandelt wird«. Schuld setzt Freiheit voraus, »die Fähigkeit, so und auch anders handeln zu können« (345).346 Solche Schuld ist für Kaftan aber nur dort gegeben, wo der Mensch sich im Zuge seiner unter »der erziehenden Wirkung des Geistes Gottes« (ebd.) sukzessiv herausbildenden Freiheit und Verantwortlichkeit gegen den Willen Gottes wendet und so seine Sünde allmählich in Schuld verwandelt (350 ff.). So sehr Kaftan zwar zwischen Sünde und Schuld unterscheidet, so ist ihm letztlich doch alle Sünde auch wieder Schuld (335, 373), da die »vererbte«, dem Menschen qua Mensch anhaftende Entfremdung von Gott zwar nicht dessen persönliche Schuld ist, aber in der Schuld der Generationen vor ihm gründet, so wie er seinerseits durch sein schuldhaftes Tun die Sünde der ihm Nachfolgenden verursacht. Die Sünde ist insofern die »Gesammtschuld der Menschheit«, so sehr sie für den Einzelnen zunächst ein »Geschick [ist], das er als natürliches Erbe überkommt« (348 f.).347 Der Begriff einer »Erbschuld« stellt aber einen Widerspruch dar (321). Nimmt man Kaftans Unterscheidung von Sünde und Schuld ernst, dann wird von ihr her plausibel, dass das peccatum originale, die concupiscentia, der jeder qua Mensch unentrinnbar ausgeliefert ist, zwar Sünde, aber nicht Schuld ist, d. h. sie steht zwar im Widerspruch zu Gottes Willen und Wesen, ja im Widerspruch zur ureigensten Bestimmung des Menschen, sie ist aber durch ihn nicht persönlich verursacht und zu verantworten. Sünde im Sinne des peccatum originale bezeichnet mithin den dem Menschen vorgegebenen transpersonalen, gegen Gott gerichteten Machtcharakter der Sünde, in dessen Einflussbereich der Mensch qua Mensch immer schon steht, von dem er bis ins Innerste beeinflusst und geprägt wird und der ihn zum aktuellen Sündigen hintreibt und verleitet. Sünder in diesem fundamentalen Sinn wäre der Mensch dann insoweit, als er als Mensch immer schon von einer Verfehlung seiner Bestimmung, von einem sich auf dieses Werk. Den Hinweis auf Kaftan verdanke ich Pannenberg, Anthropologie, 132. 346 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 352: »Bei der Sünde handelt es sich ausschließlich um den objektiven und absoluten Maassstab [!] des göttlichen Willens, bei der Schuld um die eigene Wahl und Tat des Individuums.« 347 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 371 ff., bes. 372 f.: »Aber die angeborene Sünde ist nicht die Schuld dessen, dem sie angeboren ist. […] Statt dessen ist die angeborene Sünde die Schuld der Gesammtheit des menschlichen Geschlechts, aus dem der Einzelne hervorgeht […]. Jeder Einzelne steht in dem doppelten Verhältnis, daß er zunächst Sünde hat, die nicht seine Schuld ist, dann aber durch seine von ihm verschuldete Sünde das sündige Verderben weiter pflanzt und auf andere überträgt, so daß nun die Sünde der künftigen Geschlechter auch seine Schuld wird.«

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Scheitern an seiner Gottebenbildlichkeit herkommt, von einer konkupiszenten Verfasstheit bzw. von Unglauben und Lieblosigkeit in einem habituellen Sinn, was er in seinen einzelnen sündigen Taten ratifiziert, verfestigt und weitergibt. Und er verwandelt dann sukzessiv jenes vorgegebene, passiv erlittene Erbe ins eigene – durch aktuelles Sündigen,348 aber auch durch die oben herausgestellte fundamentale Zustimmung der ganzen Person zu dem ihm vorgegebenen falschen Sein.349 So sehr also die Rezeption des Ansatzes von Kaftan zur Konsistenz einer Erbsündenlehre mittels der Unterscheidung von Sünde und Schuld beiträgt, so bringt sie doch ein gravierendes Problem mit sich: Für Kaftan wird nämlich jene dem Menschen »vererbte« (vgl. 366 f., 389 f.), persönlich nicht schuldhafte Sünde von Gott nicht angerechnet, sie trennt nicht von Gott. Dies trifft nur für jene Sünde zu, die aus der individuellen Schuld des Menschen resultiert. Kaftan beruft sich dafür auf Paulus, der ausführt (Röm 4,15; 5,13; 7,7 f.), dass dort, wo kein Gesetz

Vgl. 56,287,3–14: »Cepit [peccatum] in me regnare, antequam ego cepi esse, et simul mecum. […] Conceptus sum in ipsis [peccatis] et non consensi. Sed nunc facta sunt mea. […] Ideo nunc peccatum etiam meum est i. e. mea voluntate approbatum et per consensum acceptum, quia sine gratia non potui ipsum vincere in me; ideo vincit me et sum eodem fomite et concupiscentia propter opus nunc ipse quoque actualis peccator et non tamquam originalis.« 349 Diese Ratifikation der vorgegebenen konkupiszenten Verfasstheit durch das eigene Tun des Bösen (als deren Folge und Auswirkung!) kann dann natürlich auch wieder auf die Konkupiszenz als Wurzelgrund der Tatsünden zurückwirken und diese gleichsam über die jeweils »individuelle Sündengeschichte« geschichtlich stabilisieren, ja anreichern und verstärken. Die Grundsünde der Konkupiszenz wirkt und behauptet sich also nicht nur in den Tatsünden, sondern verfestigt sich auch, ja »wächst« sozusagen durch sie. Letztere muss dann nicht als rein »naturhafte Konkupiszenz« gedacht werden. Es gibt »erwor­bene, habituelle Bosheit«. Vgl. dazu Miggelbrink, Simul, 128 f., 140 (Zitate 129, 140); Track, Grundsatzüberlegungen, 37; Joest, Dogmatik II, 408: Das aktuelle Sündigen »ist nicht bloß sekundäre Auswirkung der Grundsünde; vielmehr tätigt sie sich als das, was sie ist, in aktuellem Sündigen. Mit dem, was wir konkret tun, behaupten wir uns, setzen uns gleichsam fort in dem, wie wir in jener Grundbewegung sind, wirken sie aus auf die Menschen und Dinge, mit denen wir umgehen. Unser aktuelles Tun hat auch eine Rückwirkungsmacht auf uns selbst, denn es kommt nicht nur aus der Bewegung der Grundsünde, sondern befestigt auch in ihr. Das Tun bejaht und tätigt den Grund, aus dem es kommt. Vergleichgültigung des aktuellen Sündigens würde also zugleich Vergleichgültigung der Grundsünde selbst bedeuten.« Schon Hermann, These, 154, sprach von einer »zur ›Natur‹, besser zur ›zweiten Natur‹, gewordenen Konkupiszenz«, die aus einer »Lockerung des Gewissens und der Zucht hervorgegangen ist«. – Joest, Dogmatik II, 215 f., differenziert ebenfalls zwischen Schuld (Zurechenbarkeit einer Handlung mit der Möglichkeit ihres Unterlassens) und Sünde, möchte aber den Schuldcharakter der Grundsünde durch »ein den rationalen Schuldbegriff untergreifendes Verständnis von Schuld« sichern. Dieses ist nicht an der einzelnen Tat orientiert, sondern an jener zwar nicht zwanghaften, aber dem Menschen vorgegebenen »Selbstverweigerung des ganzen Menschen« gegenüber Gott, in dem das Selbst, das Wollen des Menschen sich ganz engagiert und sich tätigt. Dieser Vorschlag lässt aber genau jenes Problem offen, das wir oben zu lösen versuchten. 348

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 647 (d. h. nach Kaftan: kein Bewusstsein von Gottes Willen, keine Freiheit und Verantwortlichkeit) ist, die Sünde tot ist und nicht angerechnet wird (321, 338, 356). Kaftan erklärt das Stehen des Menschen unter der Sündenmacht zwar nicht aus seinen Naturbedingungen,350 sondern aus der Schuld der Menschen vor ihm, aber die angeborene Sünde ist ihm nicht etwas, was Gott dem Menschen zurechnet, was ihn von Gott trennt und deshalb der Vergebung bedürftig ist. Kaftan gelangt also mit seiner Bestimmung des peccatum originale nur bis zu jenem Tatbestand, den die GE als »Gottwidrigkeit« bezeichnet. Genau die soeben genannten Aspekte sind es aber, die für Luther entscheidend zum peccatum originale dazugehören: Dass der Mensch nicht erst durch eigenes Sündigen zum Sünder wird, sondern je schon Sünder ist, dies impliziert, dass er von Gott getrennt ist, vor Gott nicht bestehen kann, diese Sünde ihm zugerechnet wird und er der Vergebung bedürftig ist. Gerade das Faktum, dass der Mensch nicht nur Sünde tut, sondern zuvor schon Sünder ist und er die Sünde erleidet,351 lässt ihn von Gott geschieden sein und nicht in seinem Gericht bestehen! Man wird deshalb mit Wilfried Härle352 innerhalb des Begriffs der Zurechnung bzw. Verantwortlichkeit nochmals differenzieren müssen, und zwar zwischen einer ethischen Verantwortlichkeit und Zurechnung und einer existentiellen Zurechnung und Verantwortlichkeit: Die Erstere liegt nur bei unseren guten oder bösen Einzeltaten, also auch beim peccatum actuale vor, auf welche ich nicht mit Notwendigkeit festgelegt bin, sondern zu denen ich Handlungsalternativen und insofern ihnen gegenüber Freiheit besitze. Für sie kann ich ethisch-moralisch und manchmal auch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden, ihnen stimme ich reflex und willentlich zu. Hier ziehe ich im negativen Fall Schuld auf mich.353 So tendenziell Pannenberg, Anthropologie, 101–107; ders., Theologie II, 299. Vgl. 1,168,4 f.; 17 I,1,29–32: »die erbsund und wesentlich sund, non quod facimus, sed patimur, sive nolimus, velimus et in homine ists eingebacken, quod nihil boni sit in homine, in collo ferimus, et adnatum«; DB 7,45 (Glosse zu Röm 5,14): »Wie Adam uns mit frembder sünde, on unser schuld verderbet hat. Also hat uns Christus mit frembder Gnade, on unser verdienst, selig gemacht«; 18,773,14 ff.: »Nostrum autem [delictum Adae] non fit imitando aut operando […], fit vero nostrum nascendo.« Ähnlich 49,94,20 ff.: »Kommen jemerlich ad peccatum originis on unser zuthun. Sic etiam venimus ad Christi obedientiam on unser zuthun.« 352 Vgl. Härle, Ethik, 201–204. In seiner Dogmatik versucht Härle noch innerhalb des Schuldbegriffs zu differenzieren: Schuld bezeichne sprachgeschichtlich »das Gesollte (»debitum«) im Sinne der Verpflichtung zu einer Leistung oder Zahlung«. Im religiösen Sinn meine das Wort »einerseits das Zurückbleiben hinter einer Forderung (Gottes), andererseits die Verantwortlichkeit im Sinne der Zurechnung«. (ebd., 475; Hv.) Härle führt an dieser Stelle noch nicht aus, dass auch bei der von der Schuld abzuhebenden Sünde ein Moment der Zurechnung angenommen werden muss. Stattdessen lehnt er die primäre Deutung der Sünde als Verhängnis im Unterschied zur Schuld ab und fährt dann fort: »Diese Unterscheidung zwischen Verhängnis und Schuld bleibt an der Oberfläche und weist in eine ganz andere Richtung als das, was hier gemeint ist.« (ebd., 477) 353 Vgl. zur ethischen Zurechnung Kant, Metaphysik, 227: »Zurechnung (imputatio) in 350 351

648 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Darüber hinaus gibt es aber offenbar noch eine zweite Verantwortlichkeit und Zurechnung, welche im weiteren Bereich meiner Existenz gründet und von mir nicht unbedingt als konkreter Täter, im Sinne individueller Urheberschaft herbeigeführt wurde. Aus den Vorgegebenheiten meiner Existenz, aus meinem Stehen in der Menschheit, in einem bestimmten Volk, einer bestimmten Kultur vermag (und beabsichtige) ich mich nicht völlig freizumachen, sondern kann bei ihnen behaftet werden, obwohl ich sie nicht konstituiert bzw. gewählt habe!354 Auf diesem Feld der existentiellen Verantwortung und Zurechenbarkeit ist die Sünde im Sinne des peccatum originale und peccatum personale zu verorten: Allein schon auf Grund meines Stehens in der Menschheitsgeschichte ist mein eigenes Menschsein bestimmt durch die Sündengeschichte der Generationen vor mir, und dies wird mir von Gott existentiell zugerechnet, qualifiziert mich als peccator, indem ich mich dadurch eo ipso in einem Widerspruch zu Gottes Willen und zu meiner eigenen Bestimmung als Mensch befinde. Dies schließt nicht aus, dass ich mich dazu positiv oder negativ, zustimmend oder ablehnend verhalten kann. Deshalb kann ja auch Sünde im Sinne der existentiellen Zurechenbarkeit zur Schuld im Sinne der ethischen Zurechenbarkeit werden. Aber von Sünde ist theologisch nicht erst da zu sprechen, wo Zustimmung und Entschluss vorliegen.355 moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.« Das schließt durchaus ein, dass wir – weit mehr als wir denken und wahrhaben wollen – ethisch mitverantwortlich sind für die Taten der anderen. Dazu Elert, Ethos, 226–231. 354 Vgl. 18,396,7–18, bes. 12–17: »Wer ynn der gemeyne will seyn, der mus auch die last, fahr und schaden der gemeyne helffen tragen und leyden, ob ers gleich nicht verwirckt hat, sondern seyn nachbar, eben wie er des frids nutzs, schutzs, gutts, freyheyt und gemach der gemeyne geneust, ob er die selbigen gleych nicht erworben noch zu wegen bracht hat.« – Als Beispiel für solche existentielle Zurechenbarkeit kann angeführt werden, dass wir uns heute z. B. als Deutsche die Leistungen und Errungenschaften der deutschen Kultur zuschreiben, aber auch die negativen Seiten deutscher Geschichte, etwa den Holocaust, nicht aus unser (existentiellen, nicht ethischen) Verantwortung ausschließen können. Vgl. Miggelbrink, Sündige Kirche, 470: »Wir interpretieren uns gerne in der Kontinuität der neuzeitlichen Erfolgsgeschichte. Die blutigen Katastrophen gerade der Moderne werden dabei jedoch in der Regel abgespalten«, fallen aber auch, so interpretieren wir Miggelbrink, unter das, was uns Heutigen existentiell zugerechnet werden kann. Im Sinne solcher existentiellen Zurechenbarkeit möchten wir auch verstehen, was Miggelbrink, ebd., 470–475, die »Kontinuität der Schuld in der Kirche« nennt, welche es möglich macht, dass die gegenwärtige Kirche ihre vergangene Schuld (bzw. die ihrer früheren Glieder) bekennt und dafür um Vergebung bittet. 355 Ein anderer Weg, den Aporien traditioneller Erbsündenlehre zu entgehen, liegt darin, den Schuld- bzw. Verantwortungsbegriff selbst zu erweitern und ihn nicht auf persönlich-freie Urheberschaft zu begrenzen. Dann wird Schuld bzw. Schuldbewusstsein in Verbindung gebracht mit dem Zurückbleiben hinter meiner Bestimmung bzw. hinter einer Norm, die ich als zu meiner Identität gehörig anerkennen muss. Vgl. Pannenberg, An­thropologie, 109 ff., 133, 149; ders., Theologie II, 300: »Schuldbewußtsein, Gewissen und Verantwortung haben also etwas zu tun mit der Bindung des Bewußtseins der eigenen

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 649 Durch solche tastenden Überlegungen lässt sich vielleicht verstehbar machen, wieso für Luther die bleibende Sünde, das peccatum remanens bzw. die Konkupiszenz, dem Menschen und auch dem Christen, abgesehen von der Vergebung Christi, zugerechnet wird bzw. würde und nur von Christus, dem Glauben bzw. der Taufe her nicht angerechnet wird, wieso sie also an sich von Gott trennt und in diesem Sinne Sünde, aber nicht Schuld ist.356 Sünde in diesem Sinn darf nicht mit Schuld identifiziert werden.357 Identität als Sollbegriff des Selbst an bestimmte Normen und an die daraus fließenden Forderungen für das eigene Verhalten. […] Das Wissen um Gott und damit auch um die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott läßt den Zustand des Gegensatzes zu Gott in der Sünde und der Trennung von ihm als solchen erscheinen, der nicht sein soll und überwunden werden muß.« Freilich knüpft Pannenberg den Schuldcharakter dieses »Zustandes der Entfremdung von Gott«, doch (auch) wieder an die, wenngleich oft diffuse Zustimmung des Menschen (301). Strukturverwandt sind dazu die Überlegungen von Wenz, Das in sich Verkehrte, 56–59, wonach der Mensch Verantwortung nicht nur »für die willentlich vollbrachte, ursächlich bewirkte Tat« (56) zu übernehmen hat, sondern schon für sein relational verfasstes »leibhaftes Dasein in seiner schieren Tatsächlichkeit« (58), wofür paradigmatisch das Gebot der Elternehrung (4. Gebot) steht. Dazu gehört dann auch das je schon Bestimmtsein des Menschen durch die ungläubige Konkupiszenz. Luther selbst stellt solche Überlegungen in dem der Erbsünde gewidmeten Abschnitt 4,625,28– 626,23, bes. 625,28–626,1: Die Erbsünde wird uns genauso zugerechnet, als ob wir uns selbst verfehlt hätten. Denn so wie der Sohn das Vermögen des Vaters erbt, so muss er auch mit selbem Recht für dessen Schulden einstehen. 356 Es sei denn die Schuld (im Sinne der ethischen Zurechenbarkeit) der vorangegangenen Generationen. 357 Man wird freilich einräumen müssen, dass Luther und die anderen Reformatoren oft – zumindest terminologisch – univok von Schuld sprechen, ohne dabei zwischen peccatum originale und peccatum actuale zu differenzieren. Vgl. nur das obige Zitat aus der Römerbriefvorlesung. Ferner 56,53,25 f.: »Est autem peccatum originale idem ipsum actuale, quod Adam peccauit, Quod omnes eius filii portant, cuius et rei sunt.« CA II spricht davon, dass alle Adamsnachkommen »nascantur cum peccato, hoc est sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia, quodque hic morbus seu vitiam originis vere sit peccatum, damnans et afferens nunc quoque aeternam mortem his, qui non renascuntur per baptismum et spiritum sanctum«. (BSLK 53,2–11) In Apol II,1 wird dann indirekt der Schuldcharakter solcher Ursünde insinuiert: »Sic inquiunt [die Konfutatoren der CA]: Sine metu Dei, sine fide esse est culpa actualis; igitur negant esse culpam originalem.« (BSLK 146,6–9) In der deutschen Fassung heißt es dann allerdings wieder: »darumb ists [für die Gegner] nicht Erbsunde«. (BSLK 147,16) Ferner Apol II,47: »Defectus [iustitiae originalis] et concupiscentia sunt poena et peccata.« (BSLK 156,53 ff.) Apol II,42 referiert als gegnerische These: »nihil esse peccatum nisi voluntarium«. (BSLK 155,47 f.) – Bei Kinder, Erbsünde, 61–72 werden Schuld- und Sündencharakter der Erbsünde undifferenziert in eins gesetzt, was zu kaum lösbaren Widersprüchen bei dem Bemühen führt, den Schuld- und den unentrinnbaren Verhängnischarakter der Erbsünde zu vereinen. Der Sachverhalt, dass der Sünder in dem ihm unausweichlich Vorgegebenen zwar notwendig, aber nicht gezwungen, sondern mit Willen existiert, ist nicht identisch mit Schuld als einem mir zurechenbaren Verhalten, bei dem ich auch anders gekonnt hätte. Eine andere

650 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Man könnte erwägen, ob mit der hier explizierten Unterscheidung von Sünde und Schuld eine tragfähigere Einigung über den Sündencharakter der Konkupiszenz in den Gesprächen, die schließlich zur GOF geführt haben, zu erzielen gewesen wäre als mit der dann faktisch gewählten Rede von der Konkupiszenz als bloßem »Einfallstor der Sünde«. Indessen dürfte die Kompromisstauglichkeit dieses Vorschlags eher nüchtern einzuschätzen sein, da die Sünde der Konkupiszenz nach lutherischem Verständnis, obwohl sie nicht Schuld ist, gleichwohl per se von Gott trennt und der göttlichen Vergebung bedürftig ist, diese für sie also erbeten werden muss, was katholischerseits eben negiert wird.

4.4 Natürliche Konkupiszenz? Zuzustimmen ist, das sei abschließend bemerkt, all jenen neueren Versuchen, im Konkupiszenzbegriff selbst nochmals zu differenzieren, was Luther selbst so noch nicht getan hat. Wenn er von concupiscentia spricht, meint er ausschließlich jene im Unglauben wurzelnde, ichverfallene Grundtendenz des Menschen, kraft deren er »in allem das Seine sucht« und welche eben deshalb als Sünde zu werten ist. Eine »natürliche«, schöpfungsmäßige Konkupiszenz erwähnt Luther dagegen nicht. Man könnte sie bei ihm höchstens insoweit erschließen, als er mehrfach von der durch den Glauben und den Heiligen Geist im Menschen geweckten »Lust und Liebe« zu Gottes Geboten spricht, wo der Begriff der Lust gegenüber seinem sonstigen Gebrauch bei Luther positiv konnotiert ist.358 Müsste es dann, so wäre zu fragen, so etwas nicht auch im Menschen, diesen rein als Gottes Geschöpf betrachtet, noch vor der Sünde gegeben haben? Weiter wird man einräumen müssen, dass zum Menschen schon qua Mensch, d. h. sofern er ein endliches, bedürftiges Wesen ist, das seine Bestimmung und Erfüllung nur außerhalb seiner selbst finden kann, so etwas wie Konkupiszenz und Begehren gehört und das darum per se gut ist (Bedürfnis nach Nahrung, Sexualität, Anerkennung).359 Insofern muss Frage ist allerdings, ob die ersten Menschen durch ein schuldhaftes, nicht zwangsläufiges Handeln der Sündenmacht Eingang in die Menschheit verschafft und so alle folgenden Menschen zutiefst beeinflusst und geprägt haben. 358 Vgl. z. B. 7,34,32 f.; 10 I/2,53,3; 156,28–157,2; DB 7,5,6.19; 7,12 ff.; 21,4 f.; BSLK 661,35 ff. Siehe auch 5,559,8–18, wo Luther eine vom Geist entzündete »nova et dulcis concupiscentia charitatis« von der »concupiscentia lege prohibita« (559,14 f.) abhebt. 359 Nach Thomas v. Aquin ist nur jene Konkupiszenz Ausdruck der Erbsünde, die infolge des Sündenfalls »ungeordnet« ist, d. h. sich der Subordination unter die ratio entzieht. Vgl. STh I-II,82,3 ad 1: »Quia in homine concupiscibilis naturaliter regitur ratione, intantum concupiscere est homini naturale, inquantum est secundum rationis ordinem: concupiscentia autem, quae transcendit limites rationis, est homini contra naturam. Et talis est concupiscentia originalis peccati«; ebd., 85,3 ad 3. Siehe auch Hermann, These, 154 f., in der Auseinandersetzung mit Augustin: Im Unterschied zu seinen sündhaften Entstellungen komme dem concupiscere auch eine »eigentliche schöpfungsgemäße Funktion«

Zur möglichen Verständigung über den Konkupiszenzbegriff 651 der Mensch qua Geschöpf neben der caritas zu seinem Mitmenschen durchaus, wenngleich in Gerechtigkeit und nicht in allem (!), auch »das Seine suchen«!360 Von Luther her muss solchen Überlegungen nicht von vornherein eine Absage erteilt werden, nur würde er wohl darauf verweisen, dass solche gute, »natürliche«, schöpfungsmäßige Konkupiszenz im Menschen faktisch nicht mehr rein vorkommt, sondern immer schon von jener sündhaften, ichsüchtigen Konkupiszenz durchwirkt und durchdrungen ist. Nicht an sich, aber eben in seinem Aufgenommensein durch jene böse Dynamik implizierte »natürliches« Begehren dann wie alles menschliche Tun Sünde. Festzuhalten ist aber mit Theodor Dieter: Die »Bedürftigkeit des Menschen ist nicht Signum der Sünde, sondern der Kreatürlichkeit, auch wenn sich die concupiscentia gerade der menschlichen Bedürftigkeit bemächtigt, um diese zu definieren und ihre Erfüllung in die eigene Regie zu nehmen.«361 Das simul peccator darf also nicht an die leiblich-sinnlichen Funktionen des Menschen als solche gebunden werden! Insofern muss man zwar theoretischabstrakt ein »neutrales Moment«362, eine »Naturdynamik« an der faktisch vorkommenden Konkupiszenz postulieren, vermag sie aber in der postlapsarischen Situation nicht »herauszudestillieren«, sind sie doch schon immer negativ überformt. Dies gilt dann aber von allem menschlichen Streben und »Begehren«, auch dem geistigsten, und darf nicht auf den Bereich des Triebhaft-Sexuellen beschränkt zu. Zu den »Funktionen leiblicher Organe« gehöre als deren Entfaltung selbst schon ein concupiscere. Es gibt die »Unwillkürlichkeit und Naturhaftigkeit sinnlicher Prozesse«, ohne dass dadurch geschichtlich gewordene, schuldhafte Unwillkürlichkeit in diesem Bereich negiert werden soll. Das concupiscere ist ein »Zeugnis für den Zusammenhang unseres gesamten persönlichen Verhaltens mit der Natur. […] Die Zugehörigkeit unseres Leibes zu uns ist immer die Brücke zwischen unserem Ich und der Natur überhaupt. Ist er aber nicht auch die Brücke zwischen unserem Ich und der Gesamtschöpfung Gottes?« Zu entsprechenden Überlegungen bei Rahner, Metz und Kösters s. o. Einleitung, Kap. 5.5. 360 So Dieter, Luther, 128. Vgl. ebd.: »Nur der ewigreiche Gott allein kann sich anderen so zuwenden, dass er in allem nicht das Seine sucht, nicht jedoch der bedürftige Mensch. Dieser muss auch – nicht in allem (!) – das Seine suchen, so dass Luthers kontradiktorische Entgegensetzung ›quaerere quae sua sunt/quae alterius sunt‹ nicht plausibel ist. Es wird nämlich dem Menschen im Glauben das Sein nicht so zuteil, dass er nunmehr aus dieser ihm mitgeteilten Fülle Liebe um Liebe geben könnte, ohne seinerseits auch von anderen Menschen (und der mitmenschlichen Kreatur) so nehmen zu müssen, dass er darin das Seine sucht. Jeder Bissen Brot, den wir zu uns nehmen, beweist das.« 361 Dieter, Luther, 127. Vgl. ebd., 126, unter Bezug auf 1,363,2 f.: »Die Krankheit der Wassersucht muss aber von dem Sachverhalt von Hunger und Durst unterschieden werden. Diese zeigen die grundsätzliche Bedürftigkeit des Menschen an. Wird die Wassersucht geheilt, so ist damit die Bedürftigkeit von Hunger und Durst nicht aufgehoben.« Siehe auch Pannenberg, Anthropologie, 102 ff.; ders., Theologie II, 287: Nicht dass der Mensch überhaupt selbstzentriert ist und insofern »begehrt«, macht seine Selbstverfehlung aus, sondern dass dies die exzentrische Bestimmung des Menschen dominiert und pervertiert. 362 Vgl. Kösters, Gerecht (1965), 147 f.; 155; Metz, Konkupiszenz, 845; Rahner, Begriff, 388 ff.

652 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

werden. Wenn Luther mithin in der ehelichen Liebe und Sexualität das Moment des sündhaften Begehrens noch am Werk sieht, dann steht bei ihm dahinter nicht mehr – wie traditionell – eine primäre Verbindung der Konkupiszenz mit der Geschlechtlichkeit, sondern das Wissen, dass eigentlich jedes Begehren und Streben und so eben auch die Sexualität von der Sünde durchwirkt ist – und zwar auch noch beim Christen! Abgeschlossen sei dieser Abschnitt mit der Vermutung, dass der Sündencharakter der Konkupiszenz zwar durchaus biblisch begründet und sachlich plausibel gemacht werden kann, dass er aber letztlich (wie alle Sünde) in freier Entscheidung und persönlicher Gewissenserfahrung übernommen und vor Gott bekannt werden will,363 insofern also auch nicht (argumentativ) erzwingbar ist. Deshalb gilt, was Hans Joachim Iwand bemerkt: »Sündenerkenntnis ist […] ein geistlicher Vorgang. Er ist nicht zu denken als Monolog, er ist vielmehr das Wahrwerden des Menschen vor Gott.«364

Wie Luther selbst sich dafür neben der Schrift auch auf die »ipsa experientia quottidiana nostra et omnium sanctorum« (8,98,16) berufen hat. 364 Iwand, Sed originale, 189. 363

5 Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung

5.1 Einwände gegen Luthers Rechtfertigungslehre Luthers Rechtfertigungslehre hat, das wurde in unserer Studie mehrfach deutlich, unzweifelhaft ihren Schwerpunkt im Gedanken der Zurechnung bzw. imputatio: Gott rechnet dem Glaubenden um Christi willen die bleibende Sünde nicht zu bzw. er rechnet ihm positiv die Gerechtigkeit Christi zu, spricht ihn von dieser her gerecht. Luther kann weiter die Aussage treffen, dass Gott den Glauben, der sich an dieser fremden Gerechtigkeit Christi festmacht, diese ergreift, als Gerechtigkeit erachtet. Dabei hängt die dem Glaubenden nicht nur einmal, sondern immer wieder in Wort und Sakrament zuzusprechende imputatio mit dem simul iustus et peccator eng, genauer gesagt kausal zusammen: Weil der Glaubende zeitlebens simul peccator ist und bleibt, ist er darauf angewiesen, dass ihm die Sünde nicht angerechnet bzw. die Gerechtigkeit je neu zugesprochen oder imputiert wird. Auch wenn Luther, wie wir gesehen haben, mit dieser forensisch-imputativen Rechtfertigung ein effektiv-sanatives Gerechtwerden untrennbar verbindet, er zudem den Gedanken der imputatio mit dem der Einwohnung Christi im Glaubenden eng zusammensieht, war und ist Luthers Rechtfertigungslehre vom Gedanken der zugerechneten, imputierten und deshalb fremden Gerechtigkeit (iustitia aliena) her den verschiedensten Einwänden ausgesetzt, unter denen der Vorwurf, bei Luther werde die Wirklichkeit der Rechtfertigung und des neuen Lebens der Glaubenden verkürzt und nicht hinreichend zur Geltung gebracht, der gravierendste ist. Wenn die Gerechtigkeit bleibend eine »fremde« Gerechtigkeit darstellt, nämlich die Gerechtigkeit Christi, und wenn der Gerechte irdisch unhintergehbar simul peccator bleibt, ist diese Gerechtigkeit dann nicht ein reines »Als ob« von Seiten Gottes, dem im Menschen aber keine Realität korrespondiert? Ja wird dann nicht einer, der ungerecht bleibt, einfach gerecht gesprochen? Dabei wird häufig auch explizit das simul iustus et peccator für diese Minimierung der Rechtfertigungsrealität verantwortlich gemacht. So heißt es z. B. in der »Antwort der katholischen Kirche« auf die GE (1998), dass die Formel des simul »für Katholiken nicht annehmbar« sei, denn »diese Aussage erscheint nämlich unvereinbar mit der Erneuerung und Heiligung des inneren Menschen, von der das Trienter Konzil spricht« (68; vgl. DH 1528). Der Vorwurf der Unterbestimmung der Rechtfertigungswirklichkeit kann freilich auch von innerevangelischer Seite gegen Luther erhoben werden. So hat schon Adolf Schlatter 1917 auf Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16 mit ihrer Konzentration auf die Aufdeckung, ja das »Großmachen« der Sünde den

654 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Sachverhalt zurückgeführt, »daß die aus der Reformation entstehenden Kirchen beredter waren, wenn sie [im Leben des Christen] das Böse, als wenn sie das Gute zeigten, und eifriger, wenn sie die Bekehrung forderten, als wenn sie die Gemeinschaft des fruchtbaren Wirkens herzustellen hatten«365. Aber auch die sog. New Perspective on Paul, welche die Paulusexegese aus dem Einfluss der Paulusdeutung Luthers befreien möchte,366 stimmt in die Kritik an Luthers imputativem Rechtfertigungsverständnis ein, so z. B. ihr prominenter Vertreter Ed P. Sanders. Während Paulus ihm zufolge nicht unter einem Gewissen litt, das sich vor Gott und den Menschen schuldig fühlte, wusste Luther sich auch als Christ noch als Sünder. »Luther, von Schuld gepeinigt, interpretierte die paulinischen Stellen über ›Gerechtigkeit aus dem Glauben‹ so, als würde Gott einen Christen für gerecht erachten, selbst wenn er oder sie ein Sünder ist. Luther verstand ›Gerechtigkeit‹ juristisch, als eine Unschuldserklärung, doch auch als fiktiven Status, der Christen ›durch bloße Zurechnung‹ zugeschrieben wird, weil Gott gnädig ist. Luthers Ausdruck für die Verfassung des Christen war nicht Paulus’ ›untadelig‹ oder ›ohne Tadel‹ […], sondern vielmehr simul iustus et peccator, ›zugleich gerecht und ein Sünder‹: ›gerecht‹ aus der Sicht Gottes, doch ein ›Sünder‹ in der alltäglichen Erfahrung.«367 Was ist nun, so fragen wir – die Ergebnisse unserer Studie zum simul iustus et peccator vorausgesetzt –, von Luther her über den Wirklichkeitscharakter der Rechtfertigung positiv zu sagen und damit auch auf jene Einwände zu antworten? Oder anders formuliert: Wie ist jene komprimierte Formel Luthers von den »iusti peccatores« – den gerechten Sündern – zu verstehen, so dass beide Bestimmungen zur Geltung kommen und einander nicht wechselseitig »schwächen«?368

Schlatter, Deutung, 43. Vgl. dazu als ersten Überblick Chr. Strecker, Paulus, passim. 367 Sanders, Paulus, 64. (Hv.). Vgl. ebd., 88 f., 90 ff., 95 f., 98–101. Siehe auch Jüngel, Evangelium, 177, der die Einwände gegen die imputative Gerechtigkeit wie folgt resümiert: »Behandelt Gott den Sünder dann nicht so, als ob er gerecht wäre, obwohl er es in Wahrheit gerade nicht ist? Theologie des als ob? Ja, betrügt Gott in solcher allein durch das Wort sich ereignenden Rechtfertigung nicht sich selbst? Ist Gott selbst noch gerecht, wenn er dem Ungerechten Recht gibt, ohne ihn zuvor gerecht gemacht zu haben?« 368 Vgl. Schlatter, Gerechtigkeit, 154 f., der das lutherische simul dann im Widerspruch zu Paulus sieht, »wenn die gleichzeitige Geltung der beiden Urteile dazu benützt wird, um sie durcheinander zu schwächen; der Glaubende sei gerecht, aber zugleich Sünder, also nicht wirklich gerecht; er sündige, sei aber auch gerecht, also nicht ernsthaft und in Wahrheit Sünder.« (154, Hv.) Schlatter sieht allerdings das simul peccator von Paulus nur im Sinne der Rettung aus vergangener Sünde und der Möglichkeit zu neuer Sünde vertreten. »Dagegen ist der Satz, dass der Glaubende täglich vielfach sündige, Paulus fremd.« Er stamme aus einem »erweichten, abstrakt gemachten Sündenbegriff« (155). 365

366

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 655

5.2 Relationale Ontologie Zunächst gilt es nochmals darauf hinzuweisen, dass Luther in der seiner Theologie zugrundeliegenden Ontologie bzw. dem darin eingeschlossenen Wirklichkeitsverständnis die Kategorie der Relation – gegenüber der jahrhundertelangen Dominanz der Kategorie der Substanz – aufgewertet, ihr gleichsam zur »Emanzipation« verholfen hat.369 Danach geht nicht ein Subjekt, das schon in sich substantial besteht, erst nachträglich Relationen ein, »hat« sekundär bestimmte Relationen, sondern die Relationen, in denen ein Subjekt steht, konstituieren dieses allererst, lassen es allererst es selbst sein bzw. werden. Die Relation steht mithin zu den Relaten, zwischen denen sie sich »ereignet«, in einem gleichursprünglichen Verhältnis. In diesem präzisen Sinne ist der Mensch für Luther ein relationales Wesen, das die Erfüllung seiner Bestimmung nicht »in sich«, sondern in und durch mannigfache Relationen, nämlich zu Gott und zum Mitmenschen sowie zu allen Mitkreaturen, findet. Insbesondere mit Gerhard Ebeling ist darauf hinzuweisen, dass Luther das relationale Sein des Menschen wesentlich von der coram-Relation her bestimmt: vom Sein »vor«, »im Angesicht von« bzw. »gegenüber« Gott und den Menschen sowie dem Angewiesensein auf das sich von dort her sprachlich vermittelnde Urteil. Insofern ist der Mensch ein forensisches Wesen.370 Von daher begreift Luther die Rechtfertigung als Gerechtsprechung, als befreiendes Urteil, d. h. er versteht die im Wort zugesprochene non-imputatio der Sünde bzw. die imputatio der Gerechtigkeit Christi als Eröffnung einer neuen Relation, einer neuen Beziehung, die Gott sola gratia zum sündigen Menschen Vgl. zum Folgenden Rolf, Zum Herzen, 70–88, die einen Überblick über die dem Ansatz einer relationalen Ontologie verpflichteten Lutherinterpretationen (bes. Joest und Ebeling) gibt. 370 Vgl. Ebeling, Luther, 120–136, 220–230; ders., Dogmatik Bd. 1, 346–355; ders., Wirklichkeitsverständnis, 467–471; ders. Theologie, 188: »ontologischer Primat des Urteils«. – Luther im Horizont einer relationalen Ontologie zu deuten, erscheint uns tragfähiger zu sein als die von der finnischen Lutherforschung um Tuomo Mannermaa bevorzugte »realontische« Sichtweise. In ihr wird v. a. auf jene Passagen bei Luther rekurriert, die von der unio des Glaubenden mit Christus und seiner darin gründenden Vergöttlichung sprechen, welche eben durch Partizipation an Gott eine real-ontische und nicht nur relationale Veränderung beim Menschen bewirke. Hier scheint zum einen der ontologische Status der Relation verkannt und diese als nur »äußerlich« bleibend eingestuft zu sein – sonst könnten nicht »ontisch« und »relational« zumeist entgegengesetzt werden. Beide Begriffe liegen aber nicht auf derselben Ebene. Zum andern ist nicht ersichtlich, was mit »real-ontischer Veränderung« – abgesehen von der Emphase auf »wirklich« bzw. »effektiv« – eigentlich gemeint sein soll, wenn man sich sowohl von der scholastischen Substanzontologie als auch vom relational-personalen Denken abgrenzt. Vgl. nur Peura, Mensch, 72–79, 129–135, 213–243, 296–302. Dass von der finnischen Lutherforschung das simul iustus et peccator mit seinem Implikat des totus peccator nur schwer zu integrieren ist, haben wir mehrfach festgestellt. Für Luther gilt aber: »Christus […] non nisi in peccatoribus habitat.« (An Georg Spenlein, 8. April 1516, Br 1,35,29) 369

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hin eröffnet und welche der Mensch im antwortenden, durch den Heiligen Geist mittels des Wortes in ihm geweckten Glauben an sich geschehen lässt. Solche Relation ist nun für Luther nicht nur eine Realität unter vielen, sondern ist die eigentliche Realität des Christen, die sein Sein und Leben primär bestimmt, ja es vor Gott bestehen, mit ihm zusammensein lässt.371 Ihr gegenüber stellt die immer noch vorhandene Realität der Sünde als »Drang in die Beziehungslosigkeit«372 und als Selbstverschlossenheit, die in Unglauben und Misstrauen gegenüber Gott dieser neuen Wirklichkeit widerspricht, eine zum Vergehen verurteilte, ja ihrer Realitätshaltigkeit schon beraubte Realität dar. Sie herrscht nicht mehr wie früher (peccatum regnans), sondern ist beherrscht (peccatum regnatum), und zwar gerade dadurch, dass sie als vergebene, nicht zugerechnete nicht mehr von Gott zu trennen, das Zusammensein von Gott und Mensch nicht mehr zu stören vermag. Wenn Luther die Rechtfertigungswirklichkeit mithin relational denkt und nicht substantial als neuen Habitus oder neue Qualität am Menschen, so darf dies nicht gegen den Realitätsgehalt der Rechtfertigung geltend gemacht werden, wenn anders man nicht in einer Substanzontologie verharren will. Die imputative Gerechtigkeit ist vielmehr im höchsten Maße real und effektiv!373 Ja letztlich ist sogar zu Vgl. Ebeling, Theologie, 188: »Wenn das Menschsein sich daran entscheidet, was der Mensch letztlich gilt, so kommt in eminentem Maß dem Urteil bestimmende Bedeutung für die Lebenswirklichkeit zu. […] Deshalb ist der göttliche Freispruch der entscheidende Machtspruch«; Pesch, Theologie, 119: »Im Raum des lutherschen personalistischen Beziehungsdenkens aber ist Nichtanrechnung nichts weniger als eine ›freundliche Fiktion‹ von seiten Gottes, sie ist alles.« Ähnlich ebd., 11322, 185 f. 372 So Jüngel, Evangelium, 95 f., 111 f., 181. Damit ist nicht gesagt, dass die Sünde selbst Beziehungslosigkeit ist, was ja einen Rückfall hinter die Grundeinsicht einer relationalen Ontologie bedeutete. Sie ist aber der Drang danach! Vgl. auch ebd., 79: »Die Sünde und das Böse sind so etwas wie die Negation der Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer. Die Sünde und das Böse betreffen das Gottesverhältnis der Kreatur in der Weise der Verhältniswidrigkeit.« (Hv.) Ähnlich ders., Lehre, 181: »Sünde ist wesentlich eine relationswidrige Relation.« (Hv.) 373 56,334,14–335,4 fordert Luther von Paulus her eine völlige Umkehrung der Blickrichtung: In der Rechtfertigung bzw. non-imputatio der Sünde wird nicht (wie nach dem »humanus sensus« zu erwarten) die Sünde von einem sich durchhaltenden Subjekt weggenommen, sondern der Mensch wird der Sünde entnommen, stirbt ihr gleichsam weg, um an einem anderen Ort, d. h. in Christus neu konstituiert zu werden, während die Sünde bleibt. »Quia Apostolus loquitur, vt significet sonet hominem potius aufferri peccato remanente velut relicto et hominem expurgari a peccato potius quam econtra. […] Quia gratia et spiritualis Iustitia ipsum hominem tollit et mutat et a peccatis auertit, licet peccatum relinquat, Vt dum Iustificat spiritum, relinquit concupiscentiam in carne et in medio peccatorum in mundo.« (334,15 ff.24–27) Luther verbindet hier die Neuschöpfung der Person mit dem peccatum remanens. Gerade so ist aber die bleibende Sünde selbst schon tot bzw. kann getötet werden, ist doch der innerste »Wille zum Sündigen« getötet worden. Vgl. 335,6–20 Zitat: 335,11; 337,18–21. Vgl. Joest, Ontologie, 251–257, der diese Texte freilich noch weitgehender interpretiert, nämlich als Aufhebung der »Subjektität« des Menschen. Ferner Grane, Modus, 94–97. 371

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 657 sagen, dass überhaupt nicht eine vom Menschen vorentworfene Ontologie festlegt, was real ist und was nicht, sondern was Gott in seiner Gnade »gelten lässt und als die eigentliche Wirklichkeit anspricht«, das ist es auch!374 Dass Luther allerdings durch die Wahl seiner nicht immer glücklichen Terminologie (peccator in re – iustus in spe bzw. imputatione Dei) selbst mitunter dem Verdacht Vorschub leistet, dass die imputatio von minderer Realität gegenüber der bleibenden Sünde sei, haben wir mehrfach hervorgehoben, konnten aber auch zeigen, dass dies nicht der eigentlichen Intention Luthers entspricht. Sowohl für den frühen als auch für den reifen bzw. alten Luther ist die imputierte Gerechtigkeit des Christen allerdings nicht zu denken, ohne dass sie im Menschen Folgen hätte und ihn von innen heraus verwandelte. Gottes Wort ist ein schöpferisches Wort, das nicht wirkungslos bleibt, sondern im Menschen den antwortenden Glauben erweckt, der seinerseits in neue Taten der Liebe ausbricht, die Sünde bekämpft und die Kraft der Hoffnung auf eschatologische Vollendung in aller Anfechtung und Bedrohung des Glaubens entstehen lässt. Dabei betont Luther immer wieder, dass solch effektiv-sanative Gerechtigkeit hier auf Erden stets anfanghaft, unvollkommen und fragmentarisch bleibt, der Anfechtung und Bedrohung durch die bleibende Sünde (Unglauben, Lieblosigkeit, Hoffnungslosigkeit) ausgesetzt ist, so dass sie niemals in die Gerechtigkeit coram deo, in das, was mich irdisch vor Gott bestehen und mit Gott zusammensein lässt, einzugehen vermag. Diese vor Gott sensu stricto geltende Gerechtigkeit ist allein die Gerechtigkeit Christi, der durch den Glauben in mir wohnt und der eigentliche Täter, das eigentliche Handlungssubjekt in meinem neuen Leben ist. Insofern ist die werdende Gerechtigkeit immer nur eine anhebende, die bleibend in der imputativen Gerechtigkeit gegründet und ihrer (der Bedeckung durch sie) bedürftig ist. Sie bleibt in ihrer Partialität immer hinter deren Totalität zurück!375 Das bedeutet aber, wie von uns dargelegt, nicht die völlige Irrelevanz dieser werdenden Gerechtigkeit im Blick auf Gott bzw. den Menschen. Vielmehr ist sie gerade insoweit für Gott selbst wichtig, als sie anzeigt, dass der Mensch unterwegs ist zu jener vollkommenen Reinigung von der Sünde, die Gott ihm zugedacht hat. Dem Menschen kann sie die tröstliche Gewissheit vermitteln, dass er unterwegs ist zu dem eschatologischen Ziel, weil Gott in ihm wirkt und seine Zusage vollkommener Lebenserneuerung einhält: »Ad finem enim purgationis patris misericordia respicit.« (7,109,28 f.) Nur innerhalb einer relationalen Ontologie ist das simul, wie unsere Studie zeigen konnte, ja überhaupt auch widerspruchsfrei denkbar: Denn wenn Luther So H.-M. Barth, Theologie, 272. Vgl. ebd., 277, 293. Nach Pannenberg, Theologie III, 245, lässt sich von Luther her »nur von anfänglichen Auswirkungen der Glaubensgemeinschaft mit Christus und seiner Gerechtigkeit auf das Leben der Glaubenden sprechen«. (Hv.) »Das, was der Mensch als Glaubender in Christus ist, ist in seinem empirischen Dasein nie schon voll zur Auswirkung gekommen.« So muss ihm das, was er in Christus ist, »im Hinblick auf seine empirische Daseinsverfassung zugerechnet« werden. 374

375

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den Gerechtfertigten und Getauften bleibend als Sünder sieht, was ja durchaus auch empirisch greifbar ist, »dann ist das logisch nur möglich, wenn zumindest die Gnade und damit die Gerechtigkeit des Sünders nicht-ontologisch, das heißt nicht-qualitativ verstanden«376, also relational interpretiert werden kann. Der Mensch ist kraft der von Gott gesetzten neuen Relation ganz gerecht, während er im Blick auf seine Eigenwirklichkeit, also in Relation zu sich selbst, (unbeschadet seiner partialen Gerechtigkeit) noch ganz als Sünder zu beurteilen ist. Dabei ist zu konstatieren, dass Luther der Sünde ihren Ort durchaus »substantial« im Menschen zuweist, sie als etwas im Menschen, quasi als dessen innerste Natur bestimmt, so wie auch die partiale Gerechtigkeit, so sehr sie in der Christusrelation gründet, sich zu gewissen habituellen Strukturen im Menschen »verfestigen« kann.377 »Dennoch färbt das relationale Verständnis der Gerechtigkeit gleichsam auf das Sündenverständnis ab«378, sofern Luther die Sünde gegenläufig zur Gerechtigkeit coram Deo (bzw. zum Glauben) schon früh als Abwendung, als »aversio« von Gott (vgl. z. B. 56,271,11–15; 42,122,12 f.) sowie in der vollen Reife seiner Theologie als Unglauben und damit als Perversion bzw. Bestreitung der Relation zu Gott deutet.

5.3 Wirkungen der Rechtfertigung Wenn wir nun konkret nach den Wirkungen bzw. Auswirkungen der Rechtfertigung im Menschen fragen, so ist zuallererst auf eine These Luthers hinzuweisen, auf die wir in unserer Arbeit schon mehrfach gestoßen sind: Das simul iustus et peccator beschreibt ihm zufolge den irdisch für den Menschen erreichbaren Heils- und Rechtfertigungsstand, ist also selber eine Wirkung des Vorganges der Gerechtsprechung!379 Denn der »bloße Sünder« wie auch der eschatologisch vollendete Mensch sind gerade nicht durch das simul gekennzeichnet! Ersterer geht nach Luther völlig in der Sünde auf und ist auf diese Weise mit sich selbst »identisch«. Sein Wille ist nicht gespalten. Letzterer dagegen ist von der Sünde gänzlich freigeworden und hat seine Identität in der vollkommenen Ausrichtung auf Gott gefunden. Es ist allein der Christ in statu viatoris (als die »Zwischenexistenz« Pesch, Simul, 162. Von einer relationalen Ontologie aus muss man freilich gegen die Qualifizierung der Relation als »nicht-ontologisch« Einspruch erheben. Siehe auch ders., Theologie, 113 f.; ders., Hinführung, 217 f. (hier 218 ebenfalls die Entgegensetzung von »ontologisch« und »relational«). 377 Es sei hier nur angedeutet, dass dieser komplexe Befund bei Luther letztlich dazu nötigt, die geläufig gewordene schroffe Gegenüberstellung von Substanz- und Relationsontologie, wenn auch nicht bei der iustitia coram deo, so doch bei der partialen iustitia actualis aufzugeben und Habitus bzw. Qualität als durch eine Relation begründet zu sehen. 378 Pesch, Simul, 163. 379 Vgl. Pesch, Hinführung, 215 f., bes. 216: »Das ›simul‹ ist eine inwendige Struktur [… der] Neuschöpfung, nicht etwa deren Infragestellung.« 376

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 659 zwischen diesen beiden Extremen), welcher durch die Spannung des simul iustus et peccator charakterisiert ist, er allein steht unter zwei konträren Urteilen, er allein ist durch die Doppelheit zweier Willenstendenzen bestimmt. Der irdische homo christianus ist so der gespaltene Mensch, der mit sich uneins und gerade nicht mit sich identisch ist. Er hat, so könnte man formulieren, seine Identität in der Nichtidentität. Luther hat diese Zerissenheit und Disharmonie des Christen in der Konzeption von den duo toti homines in dem unus totus homo zum Ausdruck gebracht, der mit sich selbst im Kampfe liegt und sich selbst entgegensteht. Aber gerade dies, dass wir sozusagen zu Feinden unserer selbst geworden sind, gegen uns selbst in Stellung gebracht sind, stellt für Luther die primäre Wirkung der göttlichen Gnade dar, welche die Identität des Sünders aufgebrochen, den Widerspruch geschaffen und den Status der Spaltung des Menschen in spiritus und caro als Weg zur vollen eschatologischen Identität des Menschen gewählt hat (2,586,9–23).380 Dabei wird der Mensch auf dem Weg dieser prozessualen Reifung von Gott durch die imputatio iustitiae so erachtet und angesehen, als ob er seine Vollidentität schon erreicht hätte. Sie ist ihm im Wort proleptisch bereits zugesprochen.381 Von diesem Ansatz her lässt sich nun auch Luthers Insistieren auf dem simul peccator, ja sein »magnificare peccatum« (56,157,6) als eine Wirkung der Rechtfer Vgl. auch Scharbau, Gerecht, 138 f., der im simul eine »eschatologische Beschreibung« erblickt, »weil der Zustand dieser Doppelexistenz die vollkommene Gerechtigkeit als Gabe der Vollendung vorwegnimmt in der Hoffnung« (139). Ferner Rieger, Freiheit, 72, 79 f. 381 Vgl. Christe, Gerecht, 82–85. – Luthers Kennzeichnung der irdischen Christenexistenz als voluntative »Persönlichkeitsspaltung« lässt sich von der Psychoanalyse her gut nachvollziehen. Denn auch diese begreift den Durchgang des Menschen durch von antagonistischen Trieben bestimmte Stadien als Etappen im Prozess der Menschwerdung und Persönlichkeitsreifung. Darauf hat besonders Antoine Vergote hingewiesen: »So macht die innere Spaltung des Ich für die Psychoanalyse überhaupt keine Schwierigkeiten. Für sie ist das Ich anfänglich nur ›zerstreut‹ vorhanden, und es wächst erst allmählich zu einer Einheit zusammen.« Das Subjekt ist »keine ursprüngliche Gegebenheit« (ders., Beitrag, 102). »Die Psychoanalyse enthüllt uns mit Hilfe ihrer, aus klinischer Erfahrung gewonnenen, Tiefenanalyse, wie ein Individuum im Lauf seiner Entwicklung durch Konflikte, Verzichte, Identifikationen und in der Entfaltung seiner Gemütsbindungen zu einer wirklich menschlichen Person heranwächst.« (ders., Religionspsychologie, 236) Vergote hat von daher zwischen dem von Freud analysierten Ödipuskomplex (während des dritten bis sechsten Lebensjahres) und der Christwerdung, wie Paulus sie in Röm 6–8 schildert, eine weitgehende »Strukturähnlichkeit« (Beitrag, 97) konstatiert. Vgl. ebd., bes. 92–116; Religionspsychologie, 236–250. Wie immer man die Theorie des Ödipuskomplexes und Vergotes Deutung von Röm 7–8 im Einzelnen beurteilen mag, so zeigen sie doch gut die schon außertheologische Plausibilität des Modells der »Persönlichkeitsspaltung« bzw. der Konfliktivität zweier Willensimpulse, welche als (nicht pathologischer) Weg zur Selbstwerdung des Menschen, zur Gewinnung seiner Identität und Personalität begriffen wird. Genau darin liegt die Parallele zu Luthers simul iustus et peccator bzw. simul spiritus et caro. Zur christlichen Existenz als »Leben in Differenz« vgl. auch Brand, Leben, 107–310 (dazu oben 300, Anm. 395). 380

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tigung verstehen. Für Luther ist es gerade der Christ, der glaubende Mensch, der um seine Sünde weiß, sie als seine Sünde (an)erkennt und vor Gott bekennt. Ja, man kann sogar sagen: Je tiefer ein Mensch in den Glauben hineinwächst, desto deutlicher wird ihm seine noch gegebene Verstrickung in die Macht der Sünde offenbar, desto deutlicher stehen ihm seine dunklen Schattenseiten vor Augen, von denen er nicht loskommt, umso mehr wird er sich seines Angewiesenseins auf Gottes Vergebung und Gottes Heiligen Geist bewusst, der allein in ihm Gutes zu wirken vermag. Der glaubenslose Mensch bzw. der unbekehrte Sünder vermag dagegen seine Diskrepanz zu dem, wie er eigentlich von Gott her sein sollte, überhaupt nicht wahrzunehmen. Er ist so sehr in seine Sünde verstrickt, so sehr in ihr engagiert, dass er sie geradezu leugnet, bagatellisiert und verdrängt, gehört doch zur Sünde gerade die Blindheit im Blick auf sich selbst. Es ist vielmehr erst eine Folge der Rechtfertigung, d. h. der Gewissheit, dass die Sünde nicht mehr in einem letzten, vor Gott mich verurteilenden Sinne herrscht, seine Sünde ungeschminkt wahrnehmen und zugeben zu können und sie nicht unterdrücken, übergehen, verkleinern oder gar auf andere abschieben zu müssen.382 Gerade darin wird etwas von der Wirklichkeit und Wirkung der Rechtfertigung erkennbar – in dem nun möglich gewordenen freien, offenen und nüchternen Umgang mit dem eigenen Negativen, der eigenen Sünde. Die sich faktisch doch immer wieder in ihrer Macht zur Geltung bringende Sünde führt, wenn sie in einem falschen Machbarkeits- oder Vollkommenheitswahn minimiert wird, zwangsläufig zu einer heuchlerischen Doppelmoral.383 In diesem Sinne kann Luther sagen, dass der Christ der größte Sünder und die Kirche die größte Sünderin ist, ja dass der Glaubende erst eigentlich zum Sünder wird: »Non est homo in terris, qui sic peccator sit ut Christianus: plus sentit peccatorum quam ullus homo. Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia. […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscunt peccata.« (34 I,276,6–12)384 Weiter darf nicht übersehen werden, dass nach Luther der Christ in der Kraft des Glaubens idealtypisch und in der Regel der bleibenden Sünde in der Gestalt des sündigen Ichwillens (concupiscentia), in der Form des Misstrauens und Unglaubens gegenüber Gott und der Lieblosigkeit gegenüber dem Mitmenschen ge Vgl. Miggelbrink, Kontroverse, 57 (Hv.): Die Fähigkeit eines Menschen, die Schattenseiten seines Selbst anzunehmen, »verdankt sich der Erfahrung einer alle Schattenseiten umfassenden bejahenden Liebe. Insofern ist die Erfahrung des iustus et peccator eine wirklich heilende Erfahrung«. 383 Vgl. dazu Jüngel, Evangelium, 189; Scharbau, Gerecht, 136; Miggelbrink, Simul, 131, 140; ders., Kontroverse, 42, 54 f.; Möller, Und sie bewegt mich doch, 133 f. 384 Vgl. auch 56,230,5 f.20 f.: »Vnde sequitur, Quod ista locutio est omnino spiritualis, quae docet nos fieri peccatores. […] Quicunque Voluerit esse sanctus, ipse confitebitur se peccatorem et impium«; 231,8 ff.: »Quia sicut per fidem Iustitita Dei viuit in nobis, Ita per eandem et peccatum viuit in nobis, i. e. sola fide credendum est nos esse peccatores«; 17 I, 297,8–299,1: »Christianus est, qui peccator est et fatetur und ist im leyt. Qui non habet peccatum, est Antichristus«; 19,515,4–11. 382

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 661 rade nicht zustimmt, nicht in sie einwilligt: »Ideo etiam non peccat, quia cum dissensu suo caro concupiscit, immo proprie ipse non concupiscit, quia dissentit concupiscentiae carnis.« (56,342,31 ff.) Der Christ gibt den in ihm immer noch vorhandenen ichsüchtigen Motiven, dem inneren Widerstand, der inneren Trägheit gegenüber dem Guten in der Regel nicht nach. Insofern sind sie ihm gegenüber ohnmächtig, peccatum regnatum! Auch wenn es nicht in der Macht des Christen steht, solche Neigungen und Regungen nicht zu haben, sondern sie unkontrollierbar in seinem Herzen als Widerstand, Hochmut und Selbstgefälligkeit aufsteigen und insofern sich in allem Ja zu Gottes Willen doch noch das oft verborgene Nein, der Gegenwille dagegen offenbart, so steht es doch in seiner (ihm verliehenen) Macht, ihnen eine Absage zu erteilen und gegen sie vorzugehen, ihnen mit seinem eigentlichen Wollen nicht zuzustimmen. Darin offenbart sich nicht Willensschwäche, sondern Willensstärke!385 So richtig es ist, die Sünde nicht allein nach der ausgeführten Tat oder dem reflektiert gefassten Gedanken oder Entschluss zu werten, sondern auch auf das noch böse Herz, auf das Innere zu achten, so sehr muss doch gesehen werden, dass es letztlich nur das Ergebnis einer neuschöpferischen Kraft, eben der Rechtfertigung bzw. des Heiligen Geistes sein kann, wenn der Mensch, äußerlich ungezwungen, seinen negativen Regungen und Trieben nicht nachgibt, sondern sie verneint und ihnen absagt. Es ist eine Frucht des Heiligen Geistes, wenn das Gute durch uns tatsächlich geschieht und wir das innere Widerstreben dagegen in uns überwinden! Insofern ist an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, was insbesondere durch Eberhard Jüngel386 mehrfach betont wird: dass das simul iustus et peccator nicht einen symmetrischen, sondern einen höchst asymmetrischen Sachverhalt beschreibt, bei dem die bleibende Sünde dem Gerechtsein und Gerechtwerden eben gerade nicht gleichrangig ist. Weiter ist erneut hervorzuheben, dass es für Luther bei dem simul peccator zunächst und primär nicht um die mehr oder weniger schwere Tatsünde, sondern eben um jenen inneren Gegenwillen gegen den Glauben und die Liebe geht, um jenes innere Nein, das in allem gläubigen Ja kopräsent ist. Es geht um die »auch in dem besten Leben« (AWA 4,191; EG 299,2) noch vorhandenen inneren selbstsüchtigen Motive, um die Trägheit, den Widerstand (repugnantia, resistentia), die Überwindung beim Tun des Guten, die aber dieses gute Leben nicht mehr zu verunmöglichen im Stande sind. Wir haben mehrfach gesehen, dass Luther von dem, was dem Christen an existentiell vollzogenem Gottvertrauen und Glauben sowie an praktisch gelebter Liebe von Christus her möglich ist, sehr hoch gedacht hat. Vieles, was wir heute unter dem Begriff »Wirklichkeit der Rechtfertigung« bzw. des neuen Lebens subsumieren, wird also von Luthers Insistieren auf dem Bleiben der Sünde gar nicht tangiert, dadurch nicht für illusorisch erklärt.387 Vgl. Saarinen, Klostertheologie, 280, 284, 289. Vgl. Jüngel, Evangelium, 187 f., 192; ders., Exegesis, 263 f. 387 So auch Saarinen, Klostertheologie, 285 f., 289. Andererseits sollte nicht unterschla385

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Ebenso kann das Ausbleiben solcher Lebenserneuerung nicht mit dem simul peccator Luthers gerechtfertigt werden! Von daher gelangt Luther auch nicht zu einer Verharmlosung oder Bagatellisierung von schweren Tatsünden bzw. zur Verkennung des graduell in unterschiedlichem Maße lebenszerstörenden Charakters menschlichen Fehlverhaltens – nach dem Motto: »Wir sind doch alle Sünder, es ist ja doch alles Sünde!«388 Schließlich sei nochmals daran erinnert, dass Luther einen durchaus auch empirisch wahrnehmbaren Fortschritt bzw. ein Wachstum in Glaube, Hoffnung und Liebe annimmt, welches der Christ sich freilich nicht selbst zuschreiben darf, sondern Christus zuschreiben muss, über das er des Weiteren nicht reflektieren soll, weil gerade dieser »Rückbezug« auf sich selbst die Grundbewegung der Sünde ist. Luther kennt sogar einen Rückschluss von den guten Werken bzw. dem erneuerten Lebenswandel auf den Glaubens- und Rechtfertigungsstand, wobei hier allerdings durchaus kritische Bedenken angebracht werden können: Dieser Rückschluss scheint zwar im Negativen zu »funktionieren«, d. h. ich vermag aus dem Fehlen einer erneuerten Lebenspraxis bei mir und anderen auf den Unglauben zu schließen. Gleichwohl ist der positive Rückschluss vom äußerlich gen werden, dass Luthers Fassung des simul im Sinne der duo toti homines in dem unus totus homo (2,586,16 f.) als Ausdruck der Zerrissenheit und Disharmonie der christlichen Existenz einen tiefen Anhalt an der Selbsterfahrung von Christen besitzt, wenn auch nicht durchgängig, so doch zumindest zeitweilig. 388 Von hier aus kann auch das oft als skandalös empfundene briefliche Wort Luthers an Melanchthon (3. August 1521 von der Wartburg aus) richtig eingeordnet werden: »Si gratiae praedicator es, gratiam non fictam, sed veram praedica; si vera gratia est, verum, non fictum peccatum ferto. Deus non facit salvos ficte peccatores. Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi. Peccandum est, quamdiu hic sumus.« (Br 2,372,82–92, bes. 82–85; vgl. auch den Brief an Georg Spenlein [8. April 1516, Br 1,35,28–36]; an Georg Spalatin [21. August 1544; Br 10,639,32–41]; ferner 1,370,9–13; 5,476,32–35; 8,107,35 f.) Es handelt sich hier nicht um eine leichtfertige Entschuldigung des Sündigens oder gar um eine frivole Aufforderung dazu, weil die Gnade schon alles richten werde bzw. diese an der Sünde die Voraussetzung ihrer Wirksamkeit habe. Vielmehr gilt dieses Wort dem in Wittenberg ohne Luther überforderten, skrupulösen Melanchthon, der all seine Kräfte für das als richtig und gut Erkannte aufbietet und durch seine dennoch unvermeidbare Sünde angefochten wird. Ihm, nicht dem die Gnade zur Rechtfertigung eigener Sünde missbrauchenden Menschen sagt Luther: »Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo!« Luther zielt damit auf die realistische Anerkennung des Faktums, dass ich als Mensch, ja als Christ Fehler gemacht und Schuld auf mich geladen habe und dass dies auch für die Zukunft nicht auszuschließen ist, ja strukturell zum Christsein dazugehört. Es geht darum, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, zu vergangener Sünde zu stehen und künftige tapfer auf sich zu nehmen, ja sich zu seinem bleibenden Sündersein zu bekennen und gleichwohl verantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Und dies aus der Gewissheit heraus, dass die Sünde den Christen nicht von Gottes Gnade, von der »Akzeptanz« durch Christus zu trennen vermag. Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 38 ff.; H.-M. Barth, »Pecca fortiter, sed fortius fide …«, bes. 16–19, 22 f.

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 663 vorbildlichen Leben auf den inneren Glaubensstand problematisch, weil nicht eindeutig, kann sich doch dahinter auch der Wille zur Selbstrechtfertigung oder gar Heuchelei verbergen und somit gerade darin der alte Adam sich durchhalten und von neuem zur Geltung bringen.

5.4 »Der Gerechtgesprochene ist auch gerecht!« 5.4.1. Der positive Sinn des Satzes Um den Verdacht einer bloß fiktiven, beim Menschen »folgenlosen« Gerechtigkeit bzw. eines bloßen »Als-ob« von Luthers imputativer Gerechtsprechung, bei welcher der Mensch in sich unverändert Sünder bleibt, abzuwenden, hat man in der Luther-Forschung den Satz geprägt: Der Gerechtfertigte bzw. der für gerecht Erklärte ist auch gerecht! Damit soll pointiert herausgestellt werden, dass Luther neben der imputativ-forensischen Gerechterklärung eben auch ein effektives Gerechtsein des Gerechtfertigten kenne, ja Letzteres aus dem Ersteren kausal folge. Jedoch ist diesem Satz gegenüber eine gewisse kritische Vorsicht geboten, insofern sein wahres bzw. mögliches Verständnis von seinem falschen bzw. unrichtigen abzuheben ist. Die genannte Formulierung hat bei Luther ihre unbestrittene und volle Wahrheit in dem Sinn, dass der, dem die aliena iustitia Christi von Gott im Glauben zugesprochen und angerechnet wird, tatsächlich gerecht ist. Eben deshalb, weil diese neue Relation zu Christus bzw. zu Gott, da der Mensch wesenhaft ein relationales Wesen ist, jetzt sein innerstes Sein bestimmt, seine eigentliche Wirklichkeit ausmacht und ihn somit verändert hat. Diese Relation ist nichts Akzidentielles, sondern das »Substantielle« schlechthin! Das Stehen in dieser Relation impliziert weiter, dass Christus die Gerechtigkeit des Glaubenden ist und vor Gott darstellt oder repräsentiert.389 Christus ist vor Gott an die Stelle des Menschen getreten bzw. hat dem Menschen bei Gott einen Raum eröffnet, in dem er vor Gott stehen und bestehen kann. Gott sieht und spricht den Menschen ganz mit Christus zusammen, sieht ihn nur noch im Bild Christi, verleiht ihm den neuen Namen Christi.390 Insofern ist die aliena iustitia Christi des Glaubenden eigene Gerechtigkeit, in der er wirklich gerecht ist. Die peccatores sind deshalb die iusti! Der Satz »Der Gerechtfertigte ist auch gerecht« wird unseres Erachtens aber dann unrichtig bzw. einseitig, wenn er sich auf die im Menschen kraft der zugesprochenen imputatio iustitiae Christi einstellenden Folgewirkungen beziehen Vgl. 2,146,8–16: »Igitur per fidem in Christum fit iustitia Christi nostra iusticia et omnia quae sunt ipsius, immo ispemet noster fit. […] at qui credit in Christo, haeret in Christo, estque unum cum Christo, habens eandem iustitiam cum ipso. Ideo impossibile est, quod in eo manet peccatum.« Ähnlich schon 56,204,15–29. 390 Vgl. 2,45,30 f.: »Nullus salvatur nomine suo proprio, sed appellativo (id est non ut Petrus, Paulus, Ioannes, sed ut Christianus).« 389

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soll. Dass solche Folgewirkungen sich quasi von selbst einstellen und nicht ausbleiben können, wenn der Glaube echt ist, ist dabei unstrittig. Denn das den Menschen treffende Wort der Vergebung bzw. der imputatio ist nach Luther ein wirkmächtiges, schöpferisches Wort, das den Menschen im Innersten seines Herzens und Personkerns trifft und verwandelt.391 Die vornehmste Wirkung dieses Wortes ist der Glaube des Menschen, in welchem der Mensch sich diesem Wort ganz überlässt und anvertraut und gerade so aus der Selbstverschlossenheit und Beziehungswidrigkeit seiner Sünde herausgerufen, im wahrsten Sinne des Wortes extra se versetzt wird. Im Glauben macht der Mensch sich an Christus fest, »ergreift« ihn, weil er von ihm ergriffen ist. Gerade auf diese Weise wird aber der Mensch zu sich selbst gebracht, er findet seine wahre Identität und die Erfüllung seiner Bestimmung, ist er doch so der Gott »entsprechende« Mensch, der seine Gottebenbildlichkeit wiedererlangt. So kann Luther sagen, dass der Glaubende das erste Gebot, nämlich auf Gott allein zu vertrauen und sich zu verlassen, erfüllt und insofern gerecht ist.392 Aus dem derart »exzentrischen« Glauben folgt dann weiter die Liebe zum Nächsten, die den Glaubenden nun ganz bei seinem Mitmenschen, also wiederum extra se sein lässt.393 All dies stellt, so ist unzweifelhaft einzuräumen, ein Stück Gerechtigkeit des Menschen dar, nun allerdings nicht in erster Linie substanzontologisch als neuer Habitus, als neue Qualität, sondern primär als neue Relation verstanden, ist doch der eigentliche Täter, das eigentliche Handlungssubjekt solch neuen Lebens nicht der Mensch kraft einer ihm verliehenen übernatürlichen Qualität, sondern Christus bzw. der Heilige Geist in ihm. Insofern stellt auch das neue Leben des Christen – wie das ihn freisprechende Urteil Gottes – eine aliena iustitia dar!394 Deshalb ist solche Gerechtigkeit des Men Vgl. Jüngel, Evangelium, 180: Allein das Wort vermag »gleichursprünglich« beides zu sein: »ein Urteil und ein schöpferisches Wort – ein Freispruch und ein in Freiheit versetzendes Wort«. Man muss indessen noch zuspitzen: Das Urteil ist das schöpferische Wort, der Freispruch versetzt in Freiheit! 392 Vg. 5,394,33 f.: »Hoc erit opus, cultus dei, si audias seu credas, idest fides est vere latria et primi mandati primum opus«; 6,209,24–35; 211,1–11 (mit Zitation von Röm 1,17 und Anspielung auf Röm 3,28), bes. 211,4–7: »Steht dan die gerechtickeit im glauben, szo ists klar, das er allein alle gebot erfullet und alle yhre werck rechtfertig macht, seint dem mal niemant rechtfertig ist, er thu dann alle gottis gebot, widderumb mugenn die werck niemant rechtfertigen fur got on den glauben«; BSLK 560,5–42; 647,36 ff. Solche Passagen haben freilich eine christologische Tiefenstruktur, die Luther auch explizit freilegt, indem für ihn im ersten Gebot der Gott spricht, der uns in Christus gerechtfertigt hat und uns dies in seinem Glauben weckenden Wort zu hören gibt. Vgl. 6,216,12–39, bes. 30 f.: »Der Glaube »musz ausz dem blut, wunden und sterben Christi quellen und fliessen.« Ebenso darf die Schwachheit und Angefochtenheit des Glaubens, ja sogar sein mögliches »Fallen« nicht ausgeblendet werden. 393 Zu dieser doppelten Weise des extra se esse vgl. 7,38,6–15. Nach DB 7,11,31–34 »gibt er [der Glaube] Gott seine Ehre, und bezalet jn, was er jm schüldig ist. Aber den Menschen dienet er williglich, wo mit er kann, und bezahlet damit jederman.« 394 Vgl. Joest, Dogmatik II, 441, 448. 391

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 665 schen, analog zu der den Menschen gerechtsprechenden Gerechtigkeit Gottes, wie Luther schon früh erkannt hat, eben ein Relationsbegriff, ein Gemeinschaftsbegriff, den man gut vom Alten Testament her als »Gemeinschaftstreue« bzw. als »bundesgemäßes Verhalten« bezeichnen kann, was auch verständlich macht, dass Luther ein solches Verhalten sowohl von Gott (= Barmherzigkeit) als auch vom Menschen (= Glaube) mit demselben Wort (»Gerechtigkeit«) prädizieren kann.395 Jedoch ist eines hier unbedingt zu beachten: Im Unterschied zur vollkommenen Gerechtigkeit Christi, die mir im Glauben zugeeignet, für mich gültig wird und die mich ganz vor Gott gerecht sein lässt, handelt es sich bei jenen Folgewirkungen der imputatio – und das gilt auch für den diese imputatio ergreifenden Glauben – irdisch immer nur um etwas Anhebendes, Anfängliches und insofern Fragmentarisches, das unhintergehbar im Raum des Partialen verbleibt und deshalb für meine Gerechtigkeit vor Gott nicht aufkommen kann. Hierfür bin ich bleibend auf die Gerechtigkeit Christi angewiesen! Dem entspricht auch, dass Luther im Blick auf den Glauben darauf insistiert, dass dieser nicht in seiner besonderen Qualität, seiner extensiven und intensiven Stärke, also seiner Gläubigkeit nach rechtfertigt, sondern nur insofern, als er sich an Christus festmacht bzw. sich nach ihm als der Rechtfertigung des Menschen ausstreckt.396 Der Glaube ist »nacktes Empfangen«.397 Er kommt also im Blick auf die Rechtfertigung coram deo gleichsam nur als »Transmissionsriemen«, d. h. in seiner mit Christus verbindenden Funktion in den Blick, weshalb Luther immer wieder davor warnt, auf

Zur Interpretation des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs (»zedakah«) als »Gemeinschaftstreue« vgl. von Rad, Theologie I, 382–395. 396 Vgl. 8,111,27–112,4, bes. 112,1 ff.: »Ecce fides non satis est, sed fides, quae se sub alas Christi recondat et in illius iustitia glorietur«; 114,20 f.: »Nullius fides subsisteret, nisi in Christi propria iustitia niteretur, et illius protectione servaretur«; 10 I/1,126,3–127,6, bes. 126,3 f.14 f.: »Er [Paulus] spricht nitt: durch unßernn glawben, sondernn: durch desselben Christus gnade, […] bleyb nit auff dyr selb oder auff deynem glawben, kreuch inn Christum«; 281,11–282,3; 17 II,15,1–14. Dass diese Aussagen nur die Insuffizienz eines solchen Glaubens festhalten wollten, der auf sich und seine Gläubigkeit blickt und vertraut, dürfte ihren Gehalt wohl nicht voll ausschöpfen. Siehe auch 25,331,20–332,14; bes. 331,30.37 ff.: »Haeres enim in Christo, quantumvis infirmiter haereas. […] Et est Christianus, non qui absolute illa [sc. die Lehren von unserer Sündenfreiheit bzw. Gerechtigkeit in Christus] intelligit, sed qui quoque modo in Christo haeret. Is enim iusticiam Christi iam habet, quia eam incipit habere«; 34 I,275,13–18: »Quantum fidis, tantum es gleich wie Christus. Tamen manet in veteri sacke vetus bild: sentio peccatum, mortem et adest schand und schmach coram deo et mundo, hertzleit, sed ghet allein yns fleisch und wendet an dem ort, da der glaube an ghet, tu es cum Christo idem, resurrexisti cum eo. Si satan, mors, peccatum videt tuam fidem, fugit«; 276,18–277,1: »Wo es noch mangelt und hab carnem am hals, dico, quod mein fides nicht hat in tota mea persona, da fur sey mir gut Christus, quia semper manet in corpore ein unflat, quod non ex corde fido deo etc. Das heist yns vater unser et in articulum remissionis peccatorum geworffen, und was dein glaube zuwenig hat, hat der, de quo canitur: ›Christus ist erstanden.‹« Zum Ganzen siehe Hof, Unterscheidung. 397 So Joest, Dogmatik II, 441. 395

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die Gläubigkeit des Glaubens zu vertrauen oder sich auf sie vor Gott zu berufen, so sehr sie ihm natürlich zum »donum Dei« bzw. »initium creaturae novae« gehört. Man könnte auch zwischen dem Glauben als Glauben und dem Glauben als Gläubigkeit differenzieren: Ersterer ist als reine Bezüglichkeit und nacktes SichVerlassen auf Christus und seine Gerechtigkeit die Gerechtigkeit, kraft welcher der Mensch von Gott für gerecht erachtet wird und es auch ist. Letzterer stellt dagegen die konkrete (und notwendige) Existenzform des Glaubens dar, welche indessen stets von der Sünde des Unglaubens kontaminiert ist. Insofern ist es eigentlich angemessener, nicht von einer Rechtfertigung propter fidem, sondern nur von einer Rechtfertigung per fidem zu sprechen.398 Denn Rechtfertigung geschieht streng genommen und ausschließlich propter Christum, wenngleich auch nicht sine fide!399 Der Satz: »Der Gerechtfertigte ist auch gerecht«, von dessen werdender, effektiv-sanativer Gerechtigkeit bzw. seiner partiellen Gemeinschafts­treue ausgesagt, ist also in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Man müsste im Blick darauf stattdessen formulieren: Der Gerechtfertigte wird auch gerecht, er steht im Geschehen, im Prozess des Gerechtwerdens, der aber der Ganzrechtfertigung der Person von der Gerechtigkeit Christi her immer »nachhinkt«, nie mit ihr »gleichzuziehen« vermag.400 Nur so kann es ja auch vom simul iustus et peccator her verstanden werden. Denn dieses besagt, dass allem Glauben des Menschen immer noch der Unglaube und das Misstrauen gegenüber Gott kopräsent sind, aller Gemeinschaftstreue immer noch Untreue und Verrat gegenüberstehen, dass in aller Liebe immer noch eigensüchtige Motive des Menschen mitspielen, so sehr dies alles beim Christen in der Regel nicht die Oberhand gewinnt und innehat.401 Vgl. 54,186,6 f.: »iustitia Dei […], qua nos Deus misericors iustificat per fidem«. Zur Rechtfertigung »per fidem« siehe Joest, Dogmatik II, 465–472. 399 Wir interpretieren Luther folglich nicht im Sinne eines Heilsobjektivismus, demzufolge es nur an ein an bestehendes Heilswerk zu glauben gilt, sondern im Sinne der Unverzichtbarkeit des Glaubens als gottgewirktes personales Einbezogensein des Menschen in das Geschehen seines Heils, welches aber als Gerechtigkeit gilt und Gerechtigkeit ist ausschließlich in diesem Ausgriff auf Christus und sein »Werk«. Somit ist festzuhalten: Christus rechtfertigt nur, sofern er Grund und Gegenstand des Glaubens ist, wie umgekehrt auch der Glaube nur rechtfertigt, weil und sofern sein Grund und Gegenstand Christus ist. Zur Unscheidbarkeit von »per fidem« und »per Christum« vgl. 56,298,22–299,27. 400 Dass Gottes forensisches Urteil die Verheißung und Kraft in sich trägt, den Menschen neu zu machen, dass dies zugleich aber ein bis zum Tod fortdauerndes Geschehen ist, betont auch Joest, Dogmatik II, 440 f., 469 f., 481–486. 401 Einzuräumen ist freilich, das Luther im Freiheitstraktat ganz in die von uns abgelehnte Richtung zu gehen scheint, wenn er hier (7,25,5–25; 53,34–54,30) ausführt, dass der Glaube Gott Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte zuerkennt, ihm so die höchste Ehre erweist und deswegen auch von Gott für gerecht erachtet wird, ja gerecht ist: »Ubi autem deus videt, veritatem sibi tribui et fide cordis nostri se honorari tanto honore, quo ipse dignus est, Rursus et ipse nos honorat, tribuens et nobis veritatem et iustitiam propter hanc fidem. Fides enim facit veritatem et iustitiam, reddens deo suum, ideo rursus reddit deus iustitiae nostrae gloriam. Verum est enim et iustum, deum esse veracem et iustum et hoc 398

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 667 Was wir mit der Unterscheidung zwischen dem Glauben als Gläubigkeit und dem Glauben als Glauben zu artikulieren suchten, hat schon Werner Elert mit seiner an Kant anknüpfenden Differenzierung zwischen dem empirischen und dem tranzendentalen Ich als Subjekt des Glaubens zum Ausdruck gebracht.402 Ausgehend von Luthers Auffassung, dass der Glaube keine qualitas und die neue Gerechtigkeit kein habitus am Menschen ist, gelangt er zu der These, dass nicht der Glaube in seiner psychischen Konkretheit, d. h. der Glaube des empirischen Ichs der rechtfertigende Glaube sein könne, sondern nur der Glaube des transzendentalen Ichs, also jenes Ichs, das »nach Abstraktion von allen Bewußtseinsinhalten übrig bleibt und doch die Setzung dieses Bewußtseins als seines Selbstbewußtseins erst ermöglicht« (69). Im Blick auf die Rechtfertigung sei dieses transzendentale Ich »rein empfangendes Ich« (75), reine Bezüglichkeit, welche sich als »Bestand des menschlichen Seelentums« (69) überhaupt nicht qualifizieren lasse, ja von allem »seelischen Besitz« (75) völlig entleert sei. Nur auf diese Weise sei auch die »absolute Gütigkeit« (73) der neuen Gerechtigkeit gesichert. Elert begründet die Notwendigkeit dieser Differenzierung des Ich-Begriffs weiter von Luthers Überzeugung her, dass die Rechtfertigung und der Glaube stets die »accusatio sui«, das totale Gericht über die eigene Person bzw. das »Durchstreichen des gesamten Bewußtseinsinhaltes« (71)403, also das Urteil »totus peccator«

ei tribuere et confiteri, hoc est, esse veracem et iustum. […] Sic Paulus Rho. 4. Abrahae dicit suam fidem esse reputatam in iustitiam, quia per eam dedit plenissime gloriam deo et nobis eadem causa reputandam ad iustitiam, si crediderimus.« (7,54,21–30) Zu beachten ist, dass der derart gepriesene Glaube sich auf das ihm vorgeordnete Wort Gottes bzw. die Verheißungen Gottes (von der Gerechtsprechung bzw. -werdung um Christi willen) richtet (7,25,10; 54,1 f.6) und insofern die Gerechtigkeit Christi empfängt und deshalb für gerecht erachtet wird. Siehe auch das Bild vom »fröhlichen Wechsel« zwischen Christus und der Seele im Glauben: 7,25,26–26,12; 54,31–55,37. Hier scheint der Glaube eher – wie oben ausgeführt – als zwischen der Seele und Christus vermittelnder »Transmissionsriemen« gesehen zu sein. Weiter geht es wohl nicht an, aus den angeführten Stellen bzw. von diesem einen Modell, Rechtfertigung zu denken (Luther hat deren mehrere), die Vollkommenheit solcher Gottesverehrung im Glauben als auch ihr Gelten vor Gott für Luther insgesamt zu folgern. Luther steht im Freiheitstraktat stark unter der immanenten Logik der auf Gegenseitigkeit zielenden Metaphern aus der Brautmystik. Vgl. zum Ganzen K. Bornkamm, Christus, 180 ff., bes. 181: »Auch die Gott auf solche Weise erwiesene höchste Verehrung macht nicht als solche die Gerechtigkeit aus, die den Menschen rechtfertigt.« (Hv.) 402 Vgl. Elert, Morphologie Bd. 1, 69–75. Alle Nachweise im Text beziehen sich auf dieses Werk. – Kant (KrV B 129–140 [Werke Bd. 3, 107–113]) spricht von der »reinen«, »ursprünglich-synthetischen Apperzeption« des »Ich denke« oder von der »transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins«, die von der »empirischen« Apperzeption abzuheben sei und die Möglichkeitsbedingung dafür darstelle, dass etwas überhaupt meine Vorstellung sein kann. 403 Vgl. bei Luther nur 1,427,31–37: »Veri autem servi iusticiae sciunt et confitentur se totos esse peccatum, totumque suum bonum non intra se, sed extra se in deo et misericordia eius situm esse volunt, quia iustus ex fide vivet, Non autem iustificatur in conspectu

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zur Voraussetzung und zum ständigen Begleiter haben, wodurch nicht nur die iustitita Dei (als iustitia aliena), sondern eben auch das Glaubens-Ich zur reinen Punktualität, zum – wie Luther selbst sagt – »punctus mathematicus« »ohne Inhalt und ohne Ausdehnung« (123) herabsinke.404 Dadurch ist aber nicht bestritten, dass das transzendentale Ich in seiner Wendung von der Selbstanklage zum Glauben auf der Ebene des empirischen Ich wirksam und spürbar wird, d. h. in der Buße den alten Menschen angreift und in der Heiligung den neuen Menschen heraufführt, ohne dass diese doppelte »Rückwirkung des Glaubens auf den seelischen Bestand« (130) im strengen Sinne zur Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«, werden könnte. Allein durch diese Unterscheidung im Ich-Begriff wird es nach Elert möglich, sowohl den Satz, »daß alles Heil an Christus gebunden sei«, als auch die »Bindung der Rechtfertigung allein an den Glauben« und damit das personale Einbezogensein des Menschen bei der Rechtfertigung aufrechtzuerhalten, ohne dass Letzteres als »psychologisch-inhaltlich bestimmter Akt« (73) in den Rechtfertigungsvorgang Eingang fände.

5.4.2 Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen 5.4.2.1 Eberhard Jüngel Von hier aus ist all jenen Lutherinterpretationen zu widersprechen, bei denen diese beiden Gerechtigkeiten nicht hinreichend klar differenziert werden und sich folglich auch die Gefahr eines überdehnten Verständnisses unseres Satzes einstellt. Bekannt ist, dass Eberhard Jüngel als der maßgebliche Initiator und Vertreter der theologischen Kritik an der GE nach der GOF seinen Widerspruch Dei omnis vivens: […] et implent hanc diffinitionem iusticiae ›Iusticia est accusatio sui in principio et iustus primum est accusator sui‹.« 404 Vgl. Elert, Morphologie Bd. 1, 72 f., mit Berufung auf 40 II,527,6–10 (Hs): »Interim, dum vivimus, quod nihil est inquinatum in nobis quo ad Christum, quo ad nos inquinatissimi, pleni concupiscentia, timore; sed, quia Christum ›peccatum non fecit‹, propter eum reputamur iusti absolute in fide. Illic attingemus punctum mathematicum arripiendo iustitiam.« Elert bezieht allerdings den letzten Satz fälschlich auf die gegenwärtige imputative Rechtfertigung. Luther blickt aber futurisch auf das eschatologisch vollendete Gerechtsein (»illic attingemus«), wie auch die Fortsetzung eindeutig bestätigt: »ubi nihil herens vitii in nostra iustitia, nihil herebit formidinis. Omnia absolutisseme et indivisibiliter pura, summa securitas; hic tantum habemus sub umbraculo et sub alis solis Iustitiae, sumus iusti propter ipsum, tum etiam in nobis ipsis.« (527,10–13) Jedoch wird 526,1 f. Christi Herrschaft und Gerechtigkeit (gegenüber der Unvollkommenheit aller weltlichen Regierung und Rechtsprechung: punctus physicus: 526,4) sowohl hinsichtlich der Aufdeckung der Sünde als auch ihrer Kommunikationsmächtigkeit von Gerechtigkeit als »punc­ tus mathematicus«, d. h. als absolut genau bezeichnet: »quia noster Rex habet verbum dei purum etiam ad punctum mathematicum.« Weiter verweist Elert auf 40 III,572,23 f. (Dr), wonach das menschliche Leben unter dem richtenden Urteil Gottes zum »mathematischen Punkt« wird. Siehe auch 572,4 f. (Hs): »Quid est 80 anni? Punctus mathematicus, i. e. nihil«; 40 II,470,1–14 (Hs).

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 669 zurückgezogen und eine Unterzeichnung befürwortet hat, weil er die von ihm benannten Kritikpunkte hinreichend ausgeräumt sah. Jüngel erblickte solche ausreichenden, eine Einigung ermöglichenden Präzisierungen gerade auch beim Streitpunkt des simul iustus et peccator, für dessen katholische Rezipierbarkeit er sich schon zuvor stark gemacht hatte. So führt Jüngel in seinem Aufsatz »Amica Exegesis einer römischen Note« – gemeint ist die »Antwort der katholischen Kirche« auf die GE –, aus, dass »die recht verstandene reformatorische These, der Christ sei simul iustus et peccator«, eigentlich auch von der römisch-katholischen Kirche müsste bejaht werden können.405 Der Tübinger Theologe kritisiert nun seinerseits die von der römischen Antwort beanstandete Formulierung des lutherischen simul in GE 28, wonach »der Christ […] ganz gerecht [ist], weil Gott ihm durch Wort und Sakrament seine Sünde vergibt. […] Im Blick auf sich selbst aber erkennt er durch das Gesetz, dass er zugleich ganz Sünder bleibt, dass die Sünde noch in ihm wohnt.« Die Wendung »im Blick auf sich selbst« könnte – so Jüngel – interpretiert werden im Sinne von: »im Blick auf seine Person«. »Im Blick auf meine Person« wäre ich also ganz von der Sünde bestimmt, während ich, wenn ich von meiner Person absehe und stattdessen auf Gottes sündenvergebendes Handeln in Wort und Sakrament schaue, »ganz gerecht« bin. Doch so verstanden wäre die Formulierung der GE nach Jüngels Auffassung auch für Luther unannehmbar, gehe dieser doch davon aus, dass die Person des Menschen für ihn allererst durch Gottes schöpferisches Wort, also relational konstituiert werde. Der Mensch sei nach Luther gerade keine in sich stehende Person! Und in höchstem Maße schöpferisch sei Gottes Wort, wenn es den Sünder rechtfertige und ihn so allererst zu seinem vollen Personsein bringe oder besser: diese Person neu konstituiere. Die Person lasse sich also gerade nicht abgesehen vom Rechtfertigungsgeschehen in Christus »in den Blick nehmen«! Luther formuliere dies auch durch die These, dass der Glaube die Person mache: »Fides facit personam!« (39 I,283,18 f.) Insofern also allein der durch das Wort gewirkte Glaube den Menschen zur Person mache, könne man mit dem Trienter Konzil durchaus von einer »Erneuerung des inneren Menschen« (DH 1528) durch die Rechtfertigung sprechen.406 Solches Personsein bestehe dann aber nicht in einem In-sich- und Für-sich-Sein des Menschen, sondern gerade in dem durch den Glauben bewirkten Aus-sich-Herausgehen des Menschen. »Aber dieser ›innere Mensch‹ ist eben erst dann der rechte, der zu seiner Bestimmung gelangende Mensch, wenn er nicht bei sich selbst bleibt, sondern aus sich herausgeht bzw. sich aus sich heraussetzen lässt. Unser Personsein ist ein extra nos esse.«407 An das Tridentinum ist deshalb – so Jüngel – die kritische Frage Jüngel, Exegesis, 261. Vgl. auch Jüngel, Evangelium, 180–183. 407 Jüngel, Exegesis, 262. Vgl. ders, Evangelium, 182: »Das rechtfertigende Wort vom Kreuz spricht den inneren Menschen auf dieses Außerhalb seiner Existenz an, damit er dort zu sich selbst komme und also wirklich und effektiv erneuert werde. […] Das rechtfertigende Wort konstituiert also das menschliche Sein neu, indem es den Menschen auf Jesus Christus bezieht und ihn dort, außer sich (extra se) zu sich selbst kommen lässt. Der 405

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zu richten, »ob es seinerseits die renovatio interioris hominis so radikal gedacht hat, dass der ›innere Mensch‹ außerhalb seiner selbst zu sich selbst kommt«408. »Sofern der ›innere Mensch‹ dagegen bei sich selbst bleibt und bleiben will, sofern er also sein Sein auf sein Selbstverhältnis reduziert, ist er Sünder und bleibt er Sünder«. Diese Sünde sei aber für den Christenmenschen seine »Vergangenheit, die freilich als Vergangenheit die Gegenwart zu bestimmen versucht«409, von Gott in Christus aber zum Vergehen verurteilt und bereits zum Vergehen gebracht ist. Auf sie kann der Christ deshalb nur zurückblicken! »Der Rückblick auf sich selbst ist der Rückblick auf das Ich, das bei sich selbst zu sich selbst kommen will und gerade damit sein wahres Selbstsein verfehlt. Der Mensch soll bei Gott zu sich selbst kommen. Deshalb existiert der Gerechtfertigte als Gerechtfertigter in Christo. Deshalb wird er durch Wort, Sakrament und Glaube in dieses extra nos versetzt. Und gerade das ist der seine wahre Ganzheit gewinnende, in Christo und deshalb in Gott zu sich selbst kommende und so sein Personsein realisierende Mensch.«410 Jüngel vermag mit dieser Interpretation des simul von einem Verständnis des menschlichen Seins »in praedicamento relationis« her gut aufzuzeigen, dass das simul nicht eine logische Widersprüchlichkeit bzw. eine Aufhebung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch darstellt. Dasselbe logische Subjekt muss zwar »die einander widersprechenden Prädikate zum selben Zeitpunkt ertragen«, aber diese gelten, wie Luther sagt, »diverso respectu«, in unterschiedlicher Hinsicht. Denn das Subjekt »ist einerseits der logische Repräsentant der von Gott neugemachten Person, die der Gerechtfertigte definitiv schon ist, und es ist andererseits der logische Repräsentant des sein Personsein verfehlenden Sünders, der zum Vergehen verurteilt ist und bereits zum Vergehen gebracht wird, aber als Externitätsbezug ist folglich keine schlechte Äußerlichkeit, sondern die den Menschen zutiefst bestimmende Relation. Der Mensch ist gerade nicht er selbst, wenn er nur bei sich selbst ist. Er findet gerade nicht sich selbst, wenn er ›in sich geht‹. Er muss aus sich herausgehen, um zu sich selbst zu kommen. […] Und in diesem Sinne ist die Gerechtsprechung des Sünders seine erneuernde Gerechtmachung – allein durch das Wort.« 408 Jüngel, Exegesis, 262. 409 Jüngel, Exegesis, 262. 410 Jüngel, Exegesis, 263. Vgl. auch ders., Ganzheitsbegriffe, 43–48. – So sehr man dieser Deutung von Personalität von Luther her zustimmen kann, so ist doch ebenso festzuhalten, dass Luther (wie in GE 28 geschehen) ganz unbefangen das simul unter dem Gesichtspunkt »im Blick auf mich, auf meine Person – im Blick auf Christus« zu formulieren vermag. So 31 I,167,25–28: »Wir aber sollen wissen, dass wir fur unser person als Adams kinder wol verdampte sünder sind und kein eigen gerechtigkeit noch heiligkeit haben, Aber weil wir getaufft sind und an Christum gleuben, so sind wir jnn Christo und mit Christo heilig und gerecht.« Freilich lädt der Text geradezu ein, das Gerechtsein (parallel zum Sündersein: »für unsere Person als Adamskinder«) als »für unsere Person in Christus« geltend zu prädizieren. Ähnlich 37,34,36–39: »Sic sumus peccatores et iusti simul, quia sumus in peccatis unser person halben, Inn unserm namens sind wir sunder, Sed Christus bringt ein andern namen, schencket uns die sunde«; 39 I,504,21 f.: »et venio ad me et ad meam personam. Heu quantum hic miseriarum video!«

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 671 Vergehender noch präsent ist«411. Ein simul von beidem ist hier insofern gegeben, als der Mensch im Glauben sein Sein von seinem Gottesverhältnis her aufbaut und darin, im Aus-sich-Herausgehen, er selbst ist. Zugleich baut er sein Sein jedoch immer noch von seinem Selbstverhältnis her auf, will sein Sein auf dieses Selbstverhältnis hin reduzieren und ist so weiterhin der »homo incurvatus in se«. »Simul iustus et peccator bedeutet, dass der Christ als Gerechter im Kampf mit seinem auf rücksichtslose Selbstverwirklichung bedachten Selbstverhältnis lebt.«412 Zwischen beidem besteht freilich ein »theologisches Ungleichgewicht«, eine »Asymmetrie«. Würde diese hinreichend bedacht, »dann müssten die Einwände der römischen Note gegen das simul iustus et peccator eigentlich hinfällig werden.«413 Jüngel ist nun offenbar der Auffassung, dass in diesem durch Gottes Rechtfertigungswort gewirkten Exzentrischsein des Glaubens des Menschen Gerechtigkeit vor Gott (zumindest auch, neben der im Wort zugesprochenen Gerechtigkeit Christi?) besteht bzw. der so Gerechtgesprochene auch gerecht ist. Dabei denkt er dieses Gerechtsein als gleichzeitig und gleichrangig, ja gleichursprünglich (also nicht erst sukzessiv folgend) zu jenem Gerechtgesprochensein, eben weil Gottes vergebendes, die Gerechtigkeit zusprechendes Wort eo ipso schöpferisches, wirkmächtiges Wort ist: »Als schöpferisches Wort Gottes spricht das Rechtfertigungsurteil den Sünder effektiv gerecht. […] Der forensische Akt der Gerechtsprechung des Sünders ist als solcher [Hv.] der effektive Akt der Gerechtmachung des Gottlosen. Als solcher! Die Gerechtmachung, von der hier […] tatsächlich gesprochen werden muss, ist kein von der Gerechtsprechung verschiedenes Ereignis, das der Gerechtsprechung entweder vorausgeht oder folgt. Die Zurechnung der fremden Gerechtigkeit (imputatio alienae iustitiae) ist nur dann recht verstanden, wenn sie als ein solches Zusprechen der göttlichen Gerechtigkeit begriffen wird, das das Sein des Menschen effektiv verändert. Ist der Sünder durch Gottes urteilendes, aber in seiner Urteilskraft eminent schöpferisches Wort gerecht gesprochen und also von Gott als Gerechter anerkannt, dann gilt er nicht nur als gerecht, sondern dann ist er auch gerecht.«414 Nur so kann Jüngel auch zu der Behauptung gelangen, dass mit dieser Interpretation eigentlich die römischen Einwände gegen das simul iustus et peccator erledigt sein müssten. Nur so kann Jüngel sich jenes von evangelischer Seite scharf kritisierte Wort des damaligen Kardinals Ratzinger zu eigen machen: »Wenn jemand nicht von Gott gerecht gemacht ist, dann ist er auch nicht gerechtfertigt.«415 Jüngel, Exegesis, 262 f. Vgl. auch ders., Evangelium, 184. Jüngel, Exegesis, 263. 413 Jüngel, Exegesis, 264. 414 Jüngel, Evangelium, 179 f. – Aus dem Vorangegangenen ist offensichtlich, dass Jüngel den Satz: »Der Gerechtgesprochene ist auch effektiv gerecht« in einem weiteren Sinn versteht, als wir ihn oben expliziert haben. 415 Vgl. Jüngel, Probleme, 729 f.; Ratzinger, Geheimnis, 5. – Der von Jüngel zur Stützung seiner Interpretation herangezogene Text AWA 2,255,11–259,16 (Operationes in Psalmos zu Ps 5,9 [1519]; vgl. Jüngel, Evangelium, 64 f.; ders., Probleme, 729) legt eine solche 411

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672 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

So richtig Jüngels Ausführungen hinsichtlich des Faktums der effektiven Gerechtigkeit beim Christen sind, so ist doch bei ihm zwischen der mir von Christus her im Glauben imputierten und zugesprochenen Gerechtigkeit, die mich vor Gott ganz gerecht sein lässt, und der von daher entstehenden, durchaus erwachsenden, aber immer partiellen und unvollkommenen Gerechtigkeit des Glaubens nicht hinreichend unterschieden und damit die effektive Gerechtigkeit »überbewertet«. Natürlich ist der Glaubende als der extra se zu sich selbst und seiner Bestimmung gelangende Mensch »gerecht«, »gemeinschaftstreu«, aber er ist dies doch immer nur in unvollkommenem, gebrochenem Maße: Dem Aus-sich-Herausgehen des Glaubens koexistiert immer noch das Bei-sich-selber-Bleibenwollen, eben die Sünde, so dass, was Jüngel in seinen Formulierungen auch selbst andeutet,416 jene Exzentrizität des Glaubens irdisch letztlich ein Geschehen, einen Prozess, eine Deutung nicht nahe. Luther spricht hier ähnlich wie in der Opera-Vorrede von 1545, nur viel zeitnäher von seiner Neuentdeckung des Begriffs iustitia Dei. Nachdem er das genuin biblische Verständnis dieses Begriffs freigelegt hat (»non eam, ›qua deus iustus est ipse‹, qua et impios damnat, ut vulgatissime accipitur, sed, ut B[eatus]. Augustinus de spiritu et littera dicit, ›qua induit hominem, dum eum iustificat‹: ipsam scilicet misericordiam seu gratiam iustificantem, qua apud deum iusti reputamur«: 257,1–258,2), konzediert Luther, dass iustitia doch auch im Sinne der Gerechtigkeit, durch die Gott selbst gerecht ist, verstanden werden könne, »ut eadem iustitia deus et nos iusti simus, sicut eodem verbo deus facit et nos sumus, quod ipse est, ut in ipso sumus et suum esse nostrum esse sit« (259,11–14). Dies gilt Jüngel als Beleg dafür, dass nach Luther der Gerechtfertigte kraft des Exzentrischseins des Glaubens auch gerecht ist. Jedoch muss dies nicht von der anfanghaften Gerechtigkeit des Menschen im Glauben verstanden werden, sondern kann sich auch auf die Gerechtigkeit Gottes beziehen, die er uns insofern kommuniziert, als er uns – um Christi willen – für gerecht anerkennt: »[misericordia seu gratia iustificans,] qua apud deum iusti reputamur«! In diesem Sinn kann auch verstanden werden: »Vocatur autem iustitia dei et nostra, quod illius gratia nobis data sit.« (259,1) Genauso möchten wir auch die parallelen Ausführungen der Opera-Vorrede deuten (54,186,3–20, bes. 186,19 f. [Verweis auf die von Augustinus unzureichend erfasste imputatio!]). 416 Vgl. Jüngel, Evangelium, 183: Es gilt vom Rechtfertigungsurteil her, »dass ein und dieselbe Person beides zugleich ist: ein vergehender, mit dem gekreuzigten Christus dem Nichts ausgelieferter Sünder und ein mit dem auferstandenen Christus ins Sein gerufener und im Werden begriffener Gerechter. In diesem – ein Ungleichgewicht darstellenden! – Sinne ist der gerechtgesprochene Mensch ein Gerechter und Sünder zugleich« (Hv.); 186 (allerdings nicht ganz klar): »Das Gerechtsein hat anfänglichen Charakter; doch handelt es sich um eine die ganze Existenz bestimmende Anfänglichkeit und nicht etwa um eine Vertröstung aufs Zukünftige: ›wir sind in Wahrheit schon total Gerechte‹«; 188. Am deutlichsten ders., Probleme 730: »Ist der Gerechtfertigte gleichwohl noch Sünder, dann deshalb, weil die Gerechtmachung des Sünders zunächst eine anhebende Gerechtmachung ist, die erst eschatologisch vollendet werden wird, weshalb das Zugleich in der Formel ›simul iustus et peccator‹ ›als Kampf und Fortschritt des neuen Lebens‹ zu verstehen ist.« Dann fallen Gerechtsprechung (in der wir schon ganz gerecht sind) und Gerechtmachung (als Prozess) aber nicht mehr zeitlich zusammen, Letztere ist anders als die Erste zeitlich gestreckt, und dann vermag Letztere nicht mehr meine Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, auszumachen. Beides muss dann deutlich unterschieden werden!

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 673 Dynamik darstellt, aber noch kein vollendetes Sein. Der Weg des Personwerdens ist noch nicht abgeschlossen, das Personsein noch nicht vollkommen realisiert. »Von Gott neugemachte Person« ist der Gerechtfertigte für jetzt ausschließlich in Christus bzw. im Urteil Gottes, aber noch nicht in seinem eigenen personalen gläubigen Nachvollzug dieser Wirklichkeit! Von Seiten des Menschen bleibt die Relation zwischen Gott und Mensch immer unvollkommen und fragmentarisch. Vom Glauben des Menschen aus, vom Aus-sich-Herausgehen des Menschen, d. h. von des Menschen Gläubigkeit wird immer nur eine partielle Gerechtigkeit erreicht, eben ein partim iustus und partim peccator, niemals aber ein totus iustus, das den Menschen vor Gott bestehen, mit Gott zusammen sein lässt. Dieses verbürgt allein die Gerechtigkeit Christi, die natürlich mit einem wie kleinen und unvollkommenen Glauben auch immer, d. h. mit dem Glauben als Glauben persönlich angeeignet bzw. »realisiert« wird. Ja, von allem Glauben (wie von allen Erscheinungsformen des neuen Lebens) des Menschen gilt – seiner Qualität, seiner Gläubigkeit nach – immer nochmals das totus peccator, weil er in seiner Partialität als Ganzer hinter dem Willen und der Forderung Gottes zurückbleibt,417 was von Jüngel nicht ausgeführt und wohl schwer in seine Interpretation zu integrieren ist. Er erwähnt zwar den Totalaspekt der simul-Formel (ja negiert eigenartigerweise sogar ihren partialen Sinn!), erreicht aber von seinem Ansatz her nicht wirklich das totus iustus (dieses liegt eben uneinholbar in dem Gerechtgesprochensein!), schon gar nicht das simultan dazu geltende totus peccator.418 Gegen Jüngel ist

Deshalb ist alle sich jeden Tag neu im Christenleben einstellende Ganzrechtfertigung immer kontrafaktisch, eben bleibend iustificatio impii. Vgl. auch Jüngel, Ganzheitsbe­ griffe, 47: »Und auch im Gottesverhältnis konstituiert nicht die Religiosität des Menschen, sondern das schöpferische Wort Gottes die Ganzheit des ganzen Menschen.« Und doch besteht solche Ganzheit vorerst nur im Urteil Gottes und noch nicht in der »Religiosität des Menschen«! 418 Vgl. Jüngel, Evangelium, 187 f.: »Es handelt sich nicht um zwei Partialaspekte (nicht teilweise gerecht, teilweise ungerecht: partim iustus, partim iniustus), sondern um zwei Totalitätsaspekte. Es geht jeweils um den ganzen Menschen. Aber insofern der ganze Mensch Sünder ist, wird seine wahre Ganzheit gerade zerstört: er ist nun ›nur‹ das Ich, das bei sich selbst zu sich selbst kommen will und kommen zu können meint. Es erzwingt sozusagen seine eigene Ganzheit, indem er sich selbst verwirklicht: eine totalitäre Ganzheit, ein totalitärer totus homo. Demgegenüber gewinnt das Ich seine wahre Ganzheit, indem es sich durch das gerechtsprechende Wort Gottes von sich weg, aus sich herausrufen und versetzen lässt – hin zu dem, bei dem es ohne jeden Zwang zu sich selbst kommt und so seine wahre Ganzheit findet. Und diese wahre Ganzheit ist sein Sein als Gerechter. Es ist von erheblicher Bedeutung, dass das gerechtsprechende Urteil Gottes, die sogenannte Imputation, die dem Sünder Gottes Gerechtigkeit zuspricht, stets als das den Sünder aus sich selbst herausrufende und heraussetzende schöpferische Wort verstanden wird, das durch diese seine das menschliche Ich versetzende Kraft dieses auch wirklich gerecht macht und es seines Gerechtseins gewiss macht. […] Die Simultaneität von Sündersein und Gerechtsein erweist sich nun als Gleichzeitigkeit desselben Ich an zwei verschiedenen Orten: einerseits bei sich selbst, andererseits in Christus und so bei Gott. […] Und außer 417

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darauf zu insistieren: Gerecht coram deo ist der Mensch nur in seinem Sich-Verlassen auf Christus und seine Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit besteht im Zielpunkt des Aus-sich-Herausgehens, nicht aber im Herausgehen als solchem!419 Zu mir selbst gekommen durch Aus-mir-selbst-Herausgehen bin ich niemals schon vollständig, das soll und muss ich erst noch werden! Insofern erreiche ich die Vollendung meiner Bestimmung, meiner Gottebenbildlichkeit erst im Eschaton.420

5.4.2.2 Sibylle Rolf In großer sachlicher Nähe zu Jüngels Ansatz steht die Arbeit von Sibylle Rolf zum Verständnis der imputatio bei Luther.421 Rolf zeigt auf, dass bei Luther in einem dreifachen Sinn von imputatio bzw. imputativer Rechtfertigung gesprochen wird: Einmal meint dieser Begriff die non-imputatio, die Nichtzurechnung der (bleibenden) Sünde, also ihre Vergebung. Weiter kennt Luther die imputatio iustitae Christi, wenngleich dieser Ausdruck nicht explizit biblisch belegt ist und auch bei Luther selbst kaum vorkommt, sondern erst von der späteren Orthodoxie verwendet wurde. Gleichwohl ist dieser Gedanke bei Luther sachlich gegeben, wenn er davon spricht, dass wir »propter Christum« für gerecht erachtet werden. Schließlich spricht Luther von der imputatio fidei, der Zurechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit. Dabei kommt der imputatio iustitiae Christi im Vergleich zu den beiden anderen Formen der imputatio ein diese ermöglichender und begründender Vorrang zu.422 Für Luthers Imputationsverständnis ist es nach Rolf konstimir selbst in Christus finde ich mich selbst, werde ich ein ganzer Mensch.« Was Jüngel zu Beginn des Zitats über den totus peccator sagt, gilt doch so nur für das totus-peccator-Sein des glaubenslosen Menschen, nicht aber für den Christenmenschen. Für diesen gilt es gerade nur partial! Und umgekehrt findet der Glaubende seine Ganzheit, sein Zusich-selbst-Kommen durch sein extra se esse hienieden noch nicht vollständig, als solcher wird er allererst. Sein Gerechtigkeit und in diesem Sinn seine Ganzheit sind jetzt allein in Christus, ihm zugesprochen und zugerechnet und partiell im Glauben angenommen. Er wird sie erst im Eschaton eingeholt haben. Jüngel deutet dies im Grunde selbst an, unterscheidet es aber nicht deutlich von der werdenden Gerechtigkeit und Ganzheit! Der Ausschluss des Partialaspekts hinsichtlich des simul trifft zwar wohl für die von Jüngel angeführte Stelle 39 I,563,13–564,7, nicht aber generell für Luther zu, was bei Jüngel aber nicht erkennbar wird. 419 Vgl. 40 I,589,8 ff. (Hs): »Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos: non debeo niti in conscientia mea, sensuali persona, opere, sed in promissione divina, veritate, quae non potest fallere.« Dazu zur Mühlen, Nos extra nos, 220–223, bes. 222: »In ihr [der göttlichen Verheißung] können wir uns selbst trotz unseres faktischen Sünderseins so radikal voraussein, daß wir wider die Erfahrung der Sünde dennoch unseres Heiles gewiß sind.« 420 Vgl. die glückliche Formulierung bei Joest, Dogmatik II, 466: Im Glauben »wird der Mensch in die Erfüllung seiner geschöpflichen Ebenbild-Bestimmung eingeholt« (Hv.). 421 Vgl. Rolf, Zum Herzen. Siehe aber schon Härle, Entdeckung, 7–11; ders., Bedeutung, 55–63; Gebhardt, Heil, 67–78. 422 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 228, 307.

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 675 tutiv, dass die imputatio in ihrem dreifachen Verständnis sprachlich-zeichenhaft, durch das Wort bzw. das Sakrament kommuniziert wird und so einen Menschen in seiner Personmitte, seinem Herz trifft und verwandelt, d. h. Glauben und Liebe weckt. So läuft der gegen den Imputationsgedanken immer wieder erhobene Vorwurf einer bloß scheinbaren Gerechtigkeit bzw. eines reinen »Als ob« zumindest bei Luther ins Leere: Die imputatio ist vielmehr höchst effektiv und schließt das personale Beteiligtsein des Menschen mit ein! Die Bedenken gegenüber dem imponierend geschlossenen Interpretations­ ansatz von Rolf erheben sich vom Verständnis der imputatio fidei her. Den Hauptbeleg für deren Deutung findet sie in 40 I,364,11–28 (bzw. in 359,15–373,17 insgesamt)423, wo Luther Gal 3,6 auslegt. Paulus bezieht sich seinerseits hier auf Gen 15,6, wonach Abrahams Glaube ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde. Wir haben diese Lutherstelle selbst oben ausführlich behandelt424 und sie im Kontext von Luthers Denken und speziell seinem Großen Galaterkommentar als nicht unproblematisch eingestuft, weil hier der Glaube als »formale«, also als »wirkliche« Gerechtigkeit beschrieben wird, vermöge welcher der Mensch Gott Ehre, Wahrheit und Gerechtigkeit gibt, weil er ihn als Gott anerkennt und verehrt, ja auf diese Weise zur »creatrix divinitatis in nobis« (40 I,360,25) wird. Da dies aber bei keinem Menschen zeitlebens vollkommen geschieht, ist der Glaube nur eine unvollkommene Gerechtigkeit, welche daher – so Luther – durch die göttliche imputatio ergänzt bzw. vollkommen gemacht wird, indem Gott um Christi willen den bleibenden Unglauben, das bleibende Misstrauen ihm gegenüber nicht ansieht und den unvollkommenen Glauben zur vollkommenen Gerechtigkeit emporhebt. Uns erschien diese Stelle deshalb bedenklich, weil sie – entgegen dem sonstigen Glaubensbegriff des Großen Galaterkommentars, wonach der Glaube nicht seiner Qualität bzw. Intensität nach einen Menschen rechtfertigt, sondern in seinem Ergreifen des vollkommen gerechten Christus, also als Glaube (vgl. 40 I,228,27–229,35)425 – den Glauben seiner »Gläubigkeit« nach in Anschlag bringt und ein fragwürdiges Ergänzungsverhältnis zwischen fides und imputatio herstellt. Zudem scheint dieser unvollkommene Glaube als iustitia formalis doch zumindest als partielle Gerechtigkeit coram Deo gelten zu können.426 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 115–122, 125–128. Dieser Passus ist darüber hinaus die Kernstelle für Rolfs Lutherdeutung überhaupt, insofern sie in ihm die Aufgabe einer adäquaten Zuordnung der Begriffe imputatio und fides in der iustitia christiana gestellt sieht: »Iustitia Christiana in his duobis constat, scilicet fide cordis et imputatione Dei.« (40 I,364,11) Fides und imputatio Dei sind die zur Rechtfertigung notwendigen, aber auch hinreichenden Momente. Vgl. Rolf, Zum Herzen, 15 ff., 29, 104 ff. 424 Vgl. Teil I, Kapitel 1.2.2. 425 In diesem Abschnitt akzentuiert Luther gegenüber der charitas Christus als »forma fidei« (228,30), d. h. als die ihn in die Wirklichkeit überführende Kraft. Insofern kann dann auch der Glaube selbst eine »formalis iustitia« genannt werden (229,25). 426 In Luthers späterer Kommentierung von Gen 15,6 in der Genesisvorlesung (42,561,30– 567,27) fehlt die Reflexion auf eine Ergänzung des unvollkommenen Glaubens durch die 423

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Rolf macht nun, wie gesagt, diese hinsichtlich des Ergänzungsmodells singuläre Stelle427 zum Herzstück ihres Verständnisses der imputatio fidei: Ähnlich wie Jüngel führt sie aus, dass der Mensch durch Gottes Wort im Glauben aus seiner sündigen Selbstverschlossenheit herausgerufen wird, er sich stattdessen Gott vertrauend überlässt, Gott so die Ehre gibt und das erste Gebot erfüllt. Gerade darin lebe der Mensch aber seine Bestimmung zum responsorischen Ebenbild Gottes. Ein solcher Mensch wird – so Rolf – von Gott nicht nur als gerecht angesehen bzw. gerechtgesprochen, sondern er ist auch gerecht, weil er sich »gemeinschaftstreu« gegenüber Gott verhält. Rolf interpretiert durchgängig den Begriff der Gerechtigkeit für Gott und Mensch mit dem alttestamentlichen Begriff der »Gemeinschafts­ treue«.428 Dabei betont sie immer wieder, dass solches Gerechtsein des Menschen im Glauben nur möglich wird durch die Kommunikation bzw. Partizipation an der Gemeinschaftstreue Christi – oder anders formuliert: dadurch, dass Gott den Menschen in Christus als gerecht ansieht und anspricht. Der Mensch ist also gerecht bzw. gemeinschaftstreu nicht aus sich selbst, sondern kraft der geschenkten Beziehung zu Gott und Christus. Es gilt folglich nicht nur das solo verbo, sondern auch das sola gratia! Mehrfach429, obgleich nicht durchgängig430 stellt Rolf weiter heraus, dass das Gerechtsein bzw. die Gemeinschaftstreue des glaubenden Men-

göttliche imputatio völlig. Zwar wird der Glaube, der sich an der göttlichen, christologisch gefüllten promissio bzw. cogitatio (reputatio) festmacht, Abraham zur Gerechtigkeit imputiert (und als solcher ist Abraham gerecht!), aber so, dass es dabei gerade nicht auf seine Gläubigkeit ankommt, sondern auf den »nackten« Vollzug des Empfangens oder Sich-Ausstreckens. Vgl. bes. 563,17–20; 563,37–564,17, bes. 564,16 ff.: »Neque autem fidei, ut nostro operi, datur [iustitia], sed propter cogitationem Dei, quam fides apprehendit«; 564,27–35: Unsere virtutes sind von der Rechtfertigung ausgeschlossen, wir werden »propter fidem, quae apprehendit filium«, für gerecht erachtet, und es gilt: »Misericordia sola, seu reputatio sola nos servat« (Das schließt doch auch unsere Gläubigkeit aus!); 565,13–18, bes. 13 ff.: »Apprehensio autem promissionis certa vocatur fides, et iustificat, non tanquam opus nostrum, sed tanquam Dei opus«; 565,19 f.: »Qui igitur promittenti Deo credit, qui sentit esse veracem, et esse paestiturum, quicquid promiserit, hic est iustus, seu reputatur iustus«; 565,29 f.; 565,38 f.: »Sola autem fides apprehendit promissionem, credit promittenti Deo, Deo porrigente aliquid admovet manum, et id accipit.« 427 Daneben beruft sich Rolf (Zum Herzen, 125, 234) auf die oben schon besprochene Stelle aus dem Freiheitstraktat 7,53,34–54,20, wo Luther Röm 4,3 und damit Gen 15,6 wie im Großen Galaterkommentar auslegt. 428 Vgl. nur Rolf, Zum Herzen, 111: »Glaube als daseinsbestimmendes Vertrauen ist deswegen ›Gerechtigkeit‹ im Sinne von Gemeinschaftstreue. Anders gesagt: Der glaubende Mensch lebt seine Bestimmung vor Gott, indem er Gott gegenüber gemeinschaftstreu, vertrauensvoll ist und auf Gottes gemeinschaftstreue Anrede in Liebe und Vertrauen antwortet. Darin erweist er sich als Ebenbild Gottes, das vertrauensvoll Gott antwortet und sich ihm hingibt, weil sich ihm Gottes Liebe erschlossen hat«; 213: »In diesem Glauben wird er von Gott als Gemeinschaftstreuer – iustus – angesehen und ist es.« 429 Vgl. z. B. Rolf, Zum Herzen, 113 f., 227 f., 234, 292 f., 346. 430 Vgl. nur Rolf, Zum Herzen, 289: »Indem er sich ansprechen lässt, erfüllt der Mensch

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 677 schen irdisch stets eine anfanghafte, gebrochene, angefochtene ist, welche eben deshalb stets der sie »ergänzenden« imputatio bedarf. Gerade dieser Aspekt werde durch Luthers simul iustus et peccator festgehalten. Luther denke relational, kommunikativ, aber auch prozesshaft-dynamisch, so dass vom Wachsen und Reifen der menschlichen Gemeinschaftstreue auszugehen ist. Gegenüber dem Einwand, der Glaube gerate bei dieser Deutung doch wieder zum menschlichen, wenngleich von der Gnade getragenen Werk, insistiert Rolf darauf, dass der Glaube ja gerade das (freilich immer gebrochene) Absehen von sich selbst und allem Eigenen darstelle, das Sich-Verlassen auf einen anderen.431 Dennoch wird immer wieder emphatisch hervorgehoben, dass der Mensch im Glauben schon gerecht bzw. gemeinschaftstreu ist! Von daher liegt eigentlich die Folgerung nahe, es handle sich bei dieser durchaus noch fragmentarischen Gerechtigkeit des Menschen um eine solche, die, wenn auch ermöglicht und umfangen von den anderen beiden Formen der imputatio, auch in den Augen Gottes eine solche ist, d. h. vor Gott als Gerechtigkeit gelten kann. Rolf spricht mehrfach davon, dass der Mensch in die ihm imputierte Gerechtigkeit Christi sukzessive »hineinwächst«.432 Ähnlich wie gegen Jüngel ist hier einzuwenden, dass damit der Glaube als »Gläubigkeit« des Menschen eine Relevanz erhält, die er insgesamt bei Luther nicht innehat. Der Glaube kommt für Luther wesentlich als der in Betracht, der Christus ergreift, sich an Christus festmacht (»fides apprehensiva« bzw. der Glaube als Glaube) und deshalb die Gerechtigkeit ist bzw. zur Gerechtigkeit angerechnet werden kann.433 Wie schon ausgeführt, fungiert der Glaube bei Luther wesentlich als »Transmissionsriemen« oder als »Scharnier« zwischen Christus und uns. Es ist – mit Elert zu sprechen – das »transzendentale Ich«, an welchem die Rechtfertigung haftet. Folglich ist es deshalb ausschließlich die Gemeinschaftstreue Christi, die uns letztlich vor Gott gemeinschaftstreu macht und mit ihm zusammensein lässt, nicht unsere fragmentarische und selbstverständlich in der Gerechtigkeit Christi gründende eigene Gemeinschaftstreue.434 Denn als partiale vermag diese

seine Geschöpflichkeit und wird auf diese Weise gemeinschaftstreu vor Gott.« Ebenso 276, 290 f., 329, 380, 388. 431 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 106–109, 114, 116 f. Rolf beruft sich dafür u. a. auf 40 I,284,29– 33 (zu Gal 2,20). 432 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 70, 122, 305. Manche Formulierungen Rolfs insinuieren förmlich den Gedanken einer iustificatio credentis als iustificatio pii. Vgl. nur 276: »Solcherart hineingenommen [in das Wirken Gottes], wenn sich dem hörenden und auf das Hören hin vertrauenden Menschen Gottes Wirklichkeit erschließt, gilt das göttliche Urteil der ›Gerechtigkeit‹ eines Menschen, wenn dieser Mensch nämlich als gemeinschaftstreuer, vorbehaltlos vertrauender Mensch vor Gott befunden wird [sic!] und Gott ihn darum – imputa­ tive – als gemeinschaftstreu ansieht und anspricht.« (Hv.) Ähnlich 283, 290 f., 335 f., 388. 433 Vgl. 46,115,21 f.: »Quia credis, quod [Christus] pro te fecit, illa fides imputabitur pro iusticia.« 434 Das wird z. B. besonders kühn von Luther 31 I,164,31–168,7 entfaltet: Er bestreitet hier einerseits den damaligen römischen Amtsträgern ihre (bei gleichzeitiger moralischer

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niemals unser Seinkönnen vor Gott zu gewährleisten, hier gilt gerade wegen der nicht zu hintergehenden Unvollkommenheit, eben wegen des simul von Glaube und Unglaube, nochmals das totus peccator. Eben weil Gottes Wille ganz erfüllt sein will und weil der partielle Unglaube mein Unglaube, der meiner ganzen Person ist. Wie es auch genau dieses totus peccator ist, das Rolf – anders als das partim iustus, partim peccator und das totus iustus – nicht recht in ihre Interpretation einzubeziehen vermag.435 Dabei ist durchaus zuzugestehen, dass Luther an der von Rolf herangezogenen Stelle 40 I,364,11–28 in die von ihr eingeschlagene Richtung zielt bzw. zu zielen scheint. Jedoch darf, wie schon dargelegt, diese Stelle nicht gegen den Duktus der sonstigen Überlegungen Luthers gestellt werden, die doch gerade nicht auf die Gläubigkeit bzw. Gemeinschaftstreue des Glaubens, sondern auf dessen Woraufhin bzw. den Externbezug insistieren. Zum andern ist zu erwägen, ob Luther nicht mit der Verwendung des Begriffs der iustitia formalis eine traditionelle Terminologie aufgreift, um in ihrem Rahmen etwas Neues, sie aber eigentlich Sprengendes auszusagen, dabei an dieses Denkmodell aber doch ungewollt Zugeständnisse machen muss. Es geht Luther in der Tat um das Großmachen des Glaubens, nämlich gegenüber der Vernunft und den Werken (bzw. der Liebe). Aber will er wirklich den Glauben als etwas hinstellen, was nur der Ergänzung durch die imputatio iustitiae Christi bzw. durch die non-imputatio des Unglaubens bedarf – oder geht seine Intention nicht dahin, innerhalb dieses Denkmodells paradox die Insuffizienz des Glaubens hinsichtlich seiner Gläubigkeit zu statuieren? »Fides est quidem iustitia formalis, et tamen non est satis. […] Imo vix est scintilla fidei quae incipit Deo tribuere divinitatem.« (40 I,364,11 f.17)436 Dekadenz) beanspruchte Amtsheiligkeit und bekennt sich zu Jan Hus, der die moralische Integrität der kirchlichen Leitungspersonen als unabdingbar für das Amt gefordert hatte. Andererseits versteht Luther selbst die unerlässliche Heiligkeit und Gerechtigkeit, ja Sündlosigkeit (vgl. 1.Joh 3,6.9) jedes Christen, deren dieser sich sogar zu rühmen habe, nicht als dessen eigene (ethische) Gerechtigkeit, sondern als Gerechtigkeit des Glaubens, die sich an Christi Gerechtigkeit bzw. seiner Proexistenz festmacht. So kann Luther in diesem Kontext auch dezidiert das simul (167,25–28) statuieren. 435 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 122, 190 f., 228 ff. 436 Vgl. auch 40 I,366,22–367,21, wo Luther dazu übergeht, nicht den Vollzug des Glaubens, sondern dessen Woraufhin, den Christus passus, d. h. Christus und sein Werk herauszustellen. »Fides imputatur ad iustitiam propter Christum.« Ähnlich 46,116,20 f.: »Quia credis, quod pro te fecit, illa fides imputabitur pro iustitia.« Vgl. dazu Seils, Grund, 32 ff. Ähnlich 40 I,370,18–32, wo Luther sich explizit gegen die Vorstellung der iustitia als qualitas und forma wendet und sie doch zugleich paradox für den schwachen Glauben übernimmt. Es heißt zudem in der Hs: »Fides est iustitia formalis, sed non est satis ad iustitiam« (363,9–364,1), wogegen das »ad iustitiam« im Dr fehlt. Dies kann man durchaus so verstehen, dass der Glaube per se letztlich keine iustitita coram deo darstellt, sondern nur in seinem Sich-Festmachen an der göttlichen imputatio bzw. non-imputatio. – In der Verwendung des Begriffes iustitia formalis schwankt Luther offenbar: 40 I,197,25–198,14; 40 II,407,10 ff. (Hs) lehnt er ihn ab: »Etiam si non sim formaliter purus, tamen consecutus

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 679 Was ebenfalls zu der Frage Anlass gibt, ob Luther – wegen der Befangenheit in einem traditionellen Begriffsrahmen – sich hier auf der Höhe seines sonstigen Denkens bewegt, ist die Beobachtung, dass er innerhalb der Auslegung von Gal 3,6 bzw. Gen 15,6 dahin geführt wird, den antiken Gerechtigkeitsbegriff des »(ius) suum cuique tribuere« zu rezipieren. Luther hat auch andernorts den Versuch unternommen, den neuen, von Paulus her wiederentdeckten biblischen Gerechtigkeitsbegriff innerhalb dieses Denkmodells auszusagen.437 Fraglich ist jedoch, ob dies als geglückt gelten kann. Gelangt man dann nicht unweigerlich zu der Feststellung: Gerecht vor Gott ist der, der jedem das Seine gibt bzw. gerecht ist der, der tut, was er soll? Genauso sagt es Luther aber in der Auslegung von Gal 3,6 bzw. Gen 15,6: »Fides ergo iustificat, quia reddit Deo quod ei debetur; qui hoc facit, est iustus. Hoc modo et iura definiunt iustum esse, qui reddit unicuique quod suum est.« (40 I,361,12 f.) Auch bei Rolf findet sich mehrfach die Formulierung, dass der Glaubende bzw. der Gemeinschaftstreue tut, was er soll, weil er seiner geschöpflichen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit entspricht.438 Doch gerade dies, Gerechtigkeit nach dem distributiv-korrektiven Gerechtigkeitsmodell zu verstehen, ist das, was Rolf gerade vermeiden möchte und bei Luther nicht gegeben sieht!439

baptismum, verbum purissimum, sanguinem Christi, et Christus est purissimus. Et sic vocor albior nive, non propter formam sed Christum.« 39 I,493,25–494,3 gebraucht er ihn (in Abhebung von der imputativen Gerechtigkeit [non-imputatio der Sünde]) zur Bezeichnung des Kampfes gegen die Sünde. Vgl. auch 39 I,491,23–492,4. Zu Luthers zwiespältigem Verhältnis zum Begriffspaar materia/forma vgl. Ebeling, Lutherstudien II/3, 472–507. Wenn Luther 39 I,228,7 ff. die »miseratio, imputatio et acceptio divina« als »causa formalis iustificationis« bezeichne, so zeigt dies nach Ebeling die »polemische Frontstellung gegenüber der scholastischen Deutung der fides iustificans als fides caritate formata«. Die Titulierung Christi als »forma mea« (40 I,283,7) lasse sich nur als »Okkupation des Formbegriffs für eine antischolastische Rechtfertigungsauffassung« erklären (ebd., 502 f.). 437 Vgl. z. B. 56,418,23–419,18; 2,503,34–504,13; DB 7,11,28–34. 438 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 283: »[…] dass ein Mensch in seiner auf Gott vertrauenden Existenz als gemeinschaftstreu angesehen wird: Er tut, was er soll, auf Grund seiner neuen Selbstgewissheit ›mit Lust und Liebe‹« (Hv.); 329: »Die Freude über das paradoxe Handeln Gottes ihm zugute setzt einen Menschen aus sich heraus und lässt ihn tun, was er als Gott entsprechender gemeinschaftstreuer Mensch vor Gott soll: Gott loben wie die Engel in der Heiligen Nacht. Darin ist er vor Gott ein ›gerechter‹ Mensch.« (Hv.) 439 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 111, 227, 376, 382 f. – Die anderen Luther-Stellen, welche Rolf für ihre Deutung anführt (vgl. Zum Herzen, 113 f.), sind diesbezüglich keineswegs zwingend. 40 I,233,16–234,17 (zu Gal 2,16) werden die drei Größen fides, Christus und acceptio bzw. reputatio in ihrer Zusammengehörigkeit herausgestellt. Der Glaube kommt aber zuerst gerade als Christus ergreifender Glaube in den Blick, der Christus gegenwärtig hat wie der Ring den Edelstein. Wer diesen Glauben hat, wird von Gott als gerecht erachtet (ähnlich 40 I,284,20–33). Luther wechselt dann freilich die Perspektive: Gegenüber der »Erstrechtfertigung« fällt sein Blick in der Folge auf die Situation des schon Gerechtfertigten, der seiner bleibenden Sünde ansichtig wird. Die acceptatio bzw. reputatio wird jetzt nötig wegen der Unvollkommenheit der werdenden Gerechtigkeit bzw. der bleibenden

680 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Dass Luther das Geschehen der imputatio bzw. non-imputatio nicht nur bei der (erstmaligen) Ganzrechtfertigung des zum Glauben-Kommens, sondern auch bei der späteren (partialen) Rechtfertigung zur Geltung bringt, haben wir in unserer Arbeit mehrfach selbst herausgestellt. Die imputatio bezieht sich insofern – wie Rolf zu Recht betont –440 auf beide Aspekte des simul, auf den totalen und den partialen. Dass gerade diese die partiale Gerechtigkeit des Menschen ergänzende imputatio große Deutungsschwierigkeiten bei Luther mit sich bringt, hat uns in unserer Studie intensiv beschäftigt. Luther sagt an vielen Stellen – und dieser Gedanke ist seiner Auslegung von Gal 3,6 verwandt –, dass Gott uns (natürlich neben dem propter Christum) die bleibende Sünde nicht anrechne – wegen unseres Glaubens bzw. wegen unseres Kampfes gegen die Sünde, mit Rolf gesprochen: wegen unserer anfänglichen Gemeinschaftstreue. Wir glaubten aber letztlich für Luther konstatieren zu müssen, dass dies nicht im Sinne einer realen Gerechtigkeit coram Deo gemeint ist, sondern die Bedeutung dieser partiellen Gerechtigkeit in ihrer Verweisfunktion auf die durch Gottes Wirken in Gang gekommene eschatologische Vollendung gesucht werden müsse. Letztlich entscheidet Christus und seine Gemeinschaftstreue, mit der Gott uns zusammenspricht und zusammensieht, über unser gegenwärtiges Zusammenseindürfen mit Gott, nichts sonst! Unsere Einwände gegen Rolf werden gut in einem Lutherzitat auf den Punkt gebracht, welches Rolf selbst (als Beleg für die non-imputatio der Sünde) anführt: »Quia in Christum credis et repugnas contra peccatum, non imputabitur. Non quia dignus et resistis, sed quia habes schutzherrn.« (41,681,38 ff.)441 Es darf hier gewiss ergänzt werden: Non quia credis (d. h. nicht wegen deiner Gläubigkeit)! Auf den Schutzherrn kommt es letztlich an, zu dem man sich freilich im Glauben flüchtet.   Mit der voranstehenden kritischen Diskussion des Satzes »Der Gerechtfertigte ist auch gerecht« sollte – das dürfte deutlich geworden sein – in keiner Weise die »Effektivität« oder gar Realität der Rechtfertigung im Verständnis Luthers in Frage gestellt werden, auch nicht hinsichtlich ihrer Folgewirkungen beim Menschen. Es sollte vielmehr nur nochmals eine der Grundthesen unserer Arbeit herausgestellt werden: Unsere einzige vor Gott geltende und in diesem Sinne »reale« und »effektive« Gerechtigkeit ist die uns imputierte iustitia Christi! Oder anders formuliert: Der Glaube ist unsere Gerechtigkeit vor Gott, weil und sofern er Christus ergreift, also als Glaube. Die peccatores sind die iusti, weil und sofern sie »Christum mediatorem apprehendunt« (39 I,222,26 f.)!

Erbsünde oder wegen bestimmter Tatsünden. Dies insinuiert in der Tat die ergänzende, vervollkommnende Funktion der imputatio. 440 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 52, 59 f., 121 f. 441 Vgl. Rolf, Zum Herzen, 306301. Eine ähnliche Akzentuierung 10 I/1,48,16–20 (zit. bei Rolf, ebd., 24753, 289230).

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 681

5.5 Einseitigkeiten und Gefahren bei Luther Nachdem wir versucht haben, im Horizont des simul iustus et peccator den Wirklichkeitsgehalt der Rechtfertigung nach Luther zu explizieren und damit dem Einwand der bloßen Fiktivität der von ihm behaupteten Rechtfertigung entgegenzutreten, soll nun am Ende dieses Abschnitts auf einige Einseitigkeiten und Gefahren in Luthers Theologie und speziell bei seiner Bestimmung des Christen als simul iustus et peccator hingewiesen werden, die dazu führen können, die Realität des Gerechtfertigtseins gegenüber seiner Bezeugung im Neuen Testament zu verdunkeln bzw. zu schmälern. Wir möchten auf drei Gesichtspunkte aufmerksam machen.

5.5.1 Überscharfe Konzentration auf das Kreuz Zunächst kann wohl, ohne Luther Unrecht zu tun, bei ihm von einer Tendenz gesprochen werden, stark die Sünde und das Leiden, das Sterben und das Kreuz im Leben des Christen, aber auch in der Existenz der Kirche hervorzuheben. Demgegenüber spricht Luther sehr viel verhaltener vom neuen österlichen Leben, das sich beim Christenmenschen, aber auch in der christlichen Gemeinde schon Bahn bricht, ja schon angebrochen ist. Luther kann das irdische Leben, in dem der Christ noch steht, in düsteren Farben malen, so dass der Vorwurf eines gewissen anthropologischen Pessimismus, den man ihm oft gemacht und gerade mit seinem simul iustus et peccator verbunden hat, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Gewiss kann er in sehr positiven, geradezu überschwänglichen Tönen die lebensmäßige Ausstrahlung des Glaubens, also seine Früchte in Liebe und guten Werken beschreiben – man denke nur an die Vorrede zur Übersetzung des Römerbriefs (DB 7,11,6–23) –, aber dennoch ist an jener geäußerten Kritik etwas Wahres. Für jetzt – so akzentuiert Luther immer wieder – steht das MitSterben, ja Mit-Gekreuzigtwerden mit Christus im Vordergrund, nicht so sehr aber das mit Christus in einem neuen Leben Wandeln. Das, was nach Paulus (Röm 6,3 ff.) seit der Taufe in der Vergangenheit liegt, das mit Christus Gekreuzigt-, Gestorben- und Begrabensein, das bestimmt bei Luther die Gegenwart, liegt simultan zum eher verhalten beschriebenen neuen Leben vor. Bei Paulus prägt dagegen das, wenn auch noch im Werden begriffene neue Leben die Gegenwart der Christen.442 Diese bei Luther zu konstatierende Tendenz lässt sich gut aufzeigen an seinen Überlegungen zu den notae ecclesiae, d. h. den Erkennungszeichen der wahren Auch Paulus betont freilich das Noch-nicht im Christenleben, wenn er Röm 6,4 zwar vom neuen Leben, aber noch nicht vom Auferwecktsein der Christen spricht. Dies steht für die Glaubenden im Unterschied zur Auferweckung Christi noch aus! Ebenso sieht Paulus den Christen bzw. den Apostel noch durch Leiden und Schwachheit bestimmt, aber doch immer dezidiert neben und mit der Auferstehungswirklichkeit. Vgl. dazu bes. 2.Kor 1,5; 4,7–12; 6,3–10; 12,9 f.; 13,4. Zum Ganzen Stolle, Luther, 433–436; Wolff, Brief, 12 f. 442

682 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Kirche. Für Luther wurde diese Fragestellung aus dem apologetischen Interesse akut, die reformatorische Kirche gegenüber der römisch-katholischen Bestreitung ihres Kircheseins als wahre Kirche Christi und in Kontinuität mit dieser stehend aufzuweisen. So benennt Luther in »Von den Konziliis und Kirchen« (1537; 50,628–643) als notae ecclesiae sieben Momente: Gotteswort, Taufe, Abendmahl, Schlüsselamt, Amt der Verkündigung, (öffentliches) Gebet und schließlich das »Heilthum des heiligen Creutzes«, an dem »eusserlich das heilige Christliche Volck« zu erkennen ist: »das es mus alles unglueck und verfolgung, allerley anfechtung und ubel […] vom Teufel, welt und fleisch, jnwendig trauren, bloede sein, erschrecken, auswendig arm, veracht, kranck, schwach sein, leiden, damit es seinem Heubt Christo gleich werde. Und mus die ursache auch allein diese sein, das es fest an Christo und Gottes Wort helt, und also um Christus willen leide.« (50,641,35–642,6) Dass die Kirche an der Kraft ihres Glaubens und an dessen Früchten in Liebe und guten Werken zu erkennen sei, erwähnt Luther zwar in der Folge, zählt aber die Früchte des Glaubens im mitmenschlichen Leben (nach der zweiten Tafel des Dekalogs) zu den »mehr äußerlichen Zeichen« (643,6), nicht zu den Erkennungszeichen der Kirche im engeren Sinn, da ihnen die Eindeutigkeit fehle bzw. sie unter einer gewissen Zweideutigkeit verborgen seien.443 Das äußere Erscheinungsbild der Christen ist stärker durch Kreuz und Leiden gekennzeichnet, daran sind sie eindeutig erkennbar, die göttliche Kraft im Positiven bleibt dagegen ambivalent. Demgegenüber ist es allein das Wort Gottes, also die erste und erstrangige nota ecclesiae, welche nach Röm 1,17 als »Gottes Kraft« zu bezeichnen und auch durch äußere Eindeutigkeit qualifiziert ist (629,2–6). Das Leiden der Christen dient nach Luther der Tötung des alten Adam, also der Sündenverfallenheit des Menschen und macht insofern heilig. Es fördert den Glauben bzw. die Erfüllung des ersten Gebotes. Luther sieht folglich – so könnte man sagen – durchaus inmitten all des Leidens und durch dieses vermittelt das neu aufbrechende österliche Leben, freilich verborgen sub contrario, unter dem Kreuz. Wie ja die notae ecclesiae für ihn zugleich media salutis sind, die Kennzeichen der Kirche sind »Heiltümer«, welche die Heiligung des Christen vorantreiben.444 In ähnlicher, wenngleich nochmals verschärfter Weise hat Luther in der Schrift »Wider Hans Worst« (1541) eine Reihe von elf notae ecclesiae aufgestellt, Vgl. 50,643,6–37, bes. 27–35: »Wiewol aber solch zeichen nicht so gewis angesehen mag werden als die droben, weil auch etliche Heiden sich in solchen wercken geübt und wol zu weilen heiliger scheinen, weder die Christen […]. Und weil gleich wol die erste Tafel höher ist, und grösser heilthum da sein mus, hab ich’s in der andern Tafel alles wollen zusamen fassen.« 444 Vgl. 50,642,27–643,2, bes. 642,27–32: »Aber wenn man dich umb Christus willen verdampt, verflucht, schilt lestert, plagt, das macht dich heilig, Denn es tödtet den alten Adam, das er mus geduld, demut, sanfftmut, lob und danck lernen und im leiden frölich sein. Das heisst denn durch den Heiligen Geist geheiliget und erneuet zum neuen leben in Christo, und also lernt sich’s Gott gleuben, trauen, hoffen, lieben.« 443

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 683 die sich mit der aus der Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« nicht vollständig deckt und insofern anzeigt, dass Luther hier eine gewisse Variabilität und Offenheit kennt und zulässt, aber weiterhin dem Leiden der Christen einen gewichtigen Platz einräumt.445 Die Kirche kann nun identifiziert werden (vgl. 51,479,20–487,5) an Taufe, Abendmahl, Schlüsselamt, Predigtamt und Gottes Wort, Apostolischem Glaubensbekenntnis, weiter an Gebet, Achtung der weltlichen Obrigkeit, Wertschätzung der Ehe, an der Geduld sowie am rechten, durch die Not erzwungenen Fasten und eben an Leiden und Kreuz der Kirche. Die Christuskonformität der Christen verlegt Luther dabei in die konkrete Situation, als Christus angenagelt am Kreuz hing und Lästerungen ausgesetzt war: »Wir sind die alte rechte Kirche, oder je jr Mitgenossen und gleiche Gesellen im leiden, Denn wir sölchs nicht ertichten auffs newe, Sondern fülens wol. Ja wir sind (wie die selbe alte Kirche auch) dem Herrn Christo selbs am Creutze gleich: da stehet fur dem Kreutze Hannas und Caiphas, sampt den Priestern, und lestern den Herrn dazu, uber das sie jn gecreuzigt haben, gleich wie uns der Papst, Cardinel und Münche verurteilt, verdampt, ermordet und unser blut vergossen haben, und lestern uns noch dazu. Da stehe die Kriegsleute, das ist der Weltlichen herrschaft zum teil, und lestern uns auch, Dazu der schalck, der linke Schecher, Heinz Wolffbüttel, samt den seinen, den Gott schon verurteilt in banden zur Hellen gehenckt hat, mus sein lestern auch da zu thun, Das dis stueck als ein alt zeichen der alten Kirchen reichlich an uns gesehen wird.« (51,484,21–485,17) Mit Volker Stolle kann man urteilen: »Während die christliche Existenz von Paulus in gleicher Weise durch Kreuz und Auferstehung geprägt ist, nimmt Luther eine deutliche Akzentverschiebung vor und legt allen Nachdruck auf das Kreuzesgeschehen, so dass die Auferstehungswirklichkeit viel stärker als Hoffnung in die Zukunft verlegt wird.« Evangelium und Glaube werden wesentlich als Wortgeschehen gefasst, das sich zwar in vielfältiger Weise äußerlich artikuliert, »seine entscheidende wirklichkeitserneuernde Seite im geistlichen Bereich jedoch vorerst in Herz und Gewissen hat – in Erwartung einer postmortalen leiblichen Auferstehung.«446 Gewiss kann man den angeführten Texten andere entgegenstellen, dennoch wird man nicht bestreiten können, dass sie eine sehr wohl konstatierbare Tendenz bzw. Gefahr bei Luther signalisieren, die wohl auch, aber nicht nur aus ihrem unmittelbaren Kontext (bedrohte, ja mitunter verfolgte Situation der reformatorischen Kirchen) zu erklären ist.

Die Tendenz, die notae ecclesiae zu vermehren, lässt sich wohl aus Luthers spezifischem Blickwinkel heraus erklären, das Kirchesein der Reformation zu verteidigen. Die Doppelfunktion der notae, die Kirche zu bezeugen und zu begründen, wird dabei von allen Kriterien gewiss nicht in derselben Intensität wahrgenommen. Viele von ihnen haben eher nur eine signifikative, nicht aber streng konstitutive Funktion. Letztere kommt nur den auf das Wort bezogenen notae zu. Vgl. Wolf, Einheit, 154–161; Bayer, Theologie, 235–239. 446 Stolle, Luther, 436. Vgl. ebd., 345, 366: »In der soteriologischen Reflexion [Luthers] dominiert der Heilstod Christi am Kreuz gegenüber seiner Auferweckung zum Leben.« 445

684 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Neben der spezifischen Situation des Christen und der Kirche kann Luther aber das irdische Leben, das der Christ noch zu leben hat, selbst in äußerst dunklen Farben zeichnen, so dass der Tod als die große Befreiung aus dem durch die irdischen Verderbensmächte und insbesondere durch die Sünde noch geprägten »Jammertal« erscheint und erst unser Begrabenwerden dem für uns ein Ende setzt.447 So besonders markant in einem Brief an Luthers im Sterben liegenden Vater vom 15.2.1530: »Ist’s aber sein göttlicher Will, dass Ihr sollt jenes bessern Lebens noch länger verzogen, mit uns fürder in diesem betrübten und unseligen Jammertal mit leiden und Unglück sehen und hören, oder auch samt allen Christen helfen tragen und uberwinden, so wird er auch Gnad geben, solchs alles williglich und gehorsamlich anzunehmen. Es ist doch ja dies [durch die Sünde] verflucht Leben nicht anders denn ein rechtes Jammertal, darin man je länger je mehr Sünde, Bosheit, Plage und Unglück siehet und erfähret, und ist des alles kein Aufhören noch Abnehmen da, bis man uns mit der Schaufel nachschlägt; da muss es doch aufhören und zufrieden in der Ruge Christi schlafen, bis er kömpt und wecke uns mit Fröhlichsein wieder auf, Amen.« (WABr 5,240,60–70)

5.5.2 Relativierung des Sieges Christi Neben dieser Tendenz zu einer einseitig negativen Sicht des christlichen, ja irdischen Lebens überhaupt, steht bei Luther – damit durchaus verbunden – die Neigung, den in Christus, in seinem Tod und seiner Auferstehung schon errungenen Sieg über die Verderbensmächte Sünde, Tod, Teufel, Gesetz, Welt und Fleisch insoweit zu relativieren, als der Kampf mit diesen Mächten gegenwärtig in der Welt noch andauert, die Christen in ihn einbezogen werden, ja dieser geradezu in die Existenz des Christen selbst hineinverlegt wird.448 Spielt sich in der Welt gegenwärtig der große Kampf zwischen Gott bzw. Christus und dem Satan ab, bei dem der Christ gleichsam zwischen Gott und Satan steht,449 so tobt im Christen selbst noch der Kampf zwischen Fleisch und Geist.450 Dieser Kampf ist erst escha Vgl. 1,188,12–22, bes. 20 f.: »Darumb ist der todt ein heylsams ding allen den, die yn Christum glauben«; 2,728,22 ff.: »Und yhe eehr der mensch stirbt nach der tauff, yhe ehr seyne tauff vollbracht wirt, Dan die sund horet nit gantz auff, die weyl dißer leyb lebt, der ßo gantz yn sunden empfangen ist, das sund seyn natur ist.« 448 Vgl. dazu Stolle, Luther, 156 f., 344 f., 365 f.; 426 f., 433 f. Stolle sieht hier eine entscheidende Differenz zwischen Luther und Paulus. – Die Teufelsvorstellung gewinnt für Luther seit den zwanziger Jahren (wenn nicht schon seit 1518) mehr und mehr an Gewicht. Er sieht ihn in seinen Gegnern am Werk und weiß sich selbst in seinen Anfechtungen den Angriffen des Teufels ausgesetzt. In all dem will er dem Evangelium schaden. Vgl. z. B. Br 4,288,1–289,26 (29. (?) Nov. 1527, an Eberhard Brisger), bes. 289,10 f.: »Ita ego inter istos duos adversantes principes [Christus und der Satan] medius iactor et miserrime collidor.« Zum Ganzen Althaus, Theologie, 144–150; H.-M. Barth, Teufel; Ebeling, Lutherstudien II/3, 246–271; Lohse, Theologie, 270 ff. 449 Ja nach 2,95,11–99,10 dem Reich Gottes und dem Reich des Teufels noch angehört. 450 Vgl. 2,584,28 f.: »Quid sit vita christiana, nempe tentatio, militia et agon.« Wenn 447

Zur Frage nach der Wirklichkeit der Rechtfertigung 685 tologisch beendet. Ja, die Welt ist für Luther noch das Reich des Teufels (18,659,6 f.; 743,32–35), dieser selbst der Gott der Welt (50,473,34–40), der fast dualistisch dem wahren Gott entgegensteht: »Mundus et Deus eius verbum Dei veri ferre non potest nec vult, Deus verus tacere nec vult nec potest; quid iam illis duobus Diis bellantibus nisi tumultus in toto mundo?« (18,626,22 ff.; 782,27–38; vgl. 40 II,174,22–34) Außerhalb Christi vermag Luther nur den Teufel mit seinem Reich zu erkennen, welches dem Reich Christi widerstrebt (18,779,11–22; 782,21 ff.). Christliches Leben ist darum wesentlich ein Kampfgeschehen. Was sich etwa bei Paulus sowohl im Blick auf Christus als auch auf die Taufe des Christen als Äonenwende darstellt, als die große Scheidung zwischen Einst und Jetzt, die freilich noch bis zur Wiederkunft Christi der vollen Durchsetzung harrt, das präsentiert sich bei Luther stärker als Nebeneinander, eben als Simultaneität, die erst eschatisch aufgelöst sein wird.451 Röm 7,23 wird für ihn so zur irdisch nicht transzendierbaren Signatur des Christseins:452 »Und diese Buße währet bei den Christen bis in den Tod; denn sie beißt sich mit der ubrigen Sunde im Fleisch durchs ganze Leben, wie S. Paulus Ro. 7. [23] zeuget, dass er kämpfe mit dem Gesetz seiner Glieder etc., und das nicht durch eigen Kräfte, sondern durch die Gabe des heiligen Geists, welche folget auf die Vergebung der Sunden. Dieselbige Gabe reiniget und feget täglich die ubrige Sunden aus und erbeitet, den Menschen recht und heilig zumachen.« (BSLK 447,20–27)

Stolle, Luther, 434, allerdings behauptet, dass die Christen in diesem Kampf »fortwährend Niederlagen erleiden«, dann trifft dies nicht Luthers Position. 451 Vgl. Stolle, Luther, 266: »Die alternativen Begriffspaare bei Paulus, wie etwa Sünder oder Gerechter, Fleisch oder Geist, Gesetz oder Gnade in Christus, hat Luther in eine dialektische Komplementarität überführt, wie gerecht und Sünder, Fleisch und Geist, Gesetz und Evangelium«; 285: »Die Existentialdialektik des simul iustus et peccator tritt an die Stelle der eschatologischen Spannung«; 321–324, 335 ff., 339 f., 366: »Das heilsgeschichtliche Nacheinander [wird] auf die menschliche Grundsituation übertragen«; 431. – Luther kann aber z. B. im Trostbrief an seine sterbende Mutter (20.5.1531) stark das durch Christus schon erzielte Überwundensein der Verderbensmächte Welt, Teufel, Tod und Sünde betonen, denen wir durch den Unglauben allererst wieder zu ihrer Macht verhelfen. Vgl. Br 6,104,26–59, bes. 104,36–45: »Aber nu der Tod und Sünde uberwunden ist, mügen wir fröhlich und tröstlich das süße Wort hören: Seid getrost, ich hab die Welt uberwunden. […] Und wer sich solche Wort nicht wollt trösten lassen, der tät dem lieben Tröster Unrecht und die größte Unehre, gleich als wäre es nicht wahr, dass er uns heißt getrost sein, oder als wäre es nicht wahr, dass er die Welt überwunden hätte, damit wir den überwundenen Teufel, Sünde und Tod uns selbs wieder zum Tyrannen stärken wider den lieben Heiland, da uns Gott fur behüte.« 452 Auf diesen zur Erfassung der »existentialen Grundsituation« des Christen nach Luther zentralen Vers weist nachdrücklich Stolle, Luther, 223–227, hin, sieht darin gerade aber keine »Korrespondenz« zwischen Luther und Paulus, obwohl Luther sie in Röm 7,23 zu finden meint.

686 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

5.5.3 Erlösung durch den Tod? Eine letzte theologische Tendenz und Akzentverschiebung Luthers sei vermerkt: Wird das simul von Gerechtigkeit und Sünde bzw. der noch andauernde Kampf zwischen Fleisch und Geist zur Signatur des Christen, in welcher sich der noch andauernde kosmische Kampf zwischen Gott und Satan widerspiegelt, dann droht zumindest die Gefahr, dass der Schwerpunkt der Erlösung und Befreiung vom Christusgeschehen, von Kreuz und Auferstehung Christi weg sich auf den individuellen Tod hin verlagert. Der Tod gerät zum eigentlichen Erlösungsmoment und Erlösungsort, zum »heilsamen Ding« (1,188,20), da allererst er die vollständige und durchschlagende Befreiung von der Sünde, die dem Christen immer noch »anhängt«, die er immer noch »am Halse trägt«, bringen wird. »Und ist des alles kein Aufhören noch Abnehmen da, bis man uns mit der Schaufel nachschlägt [d. h. begräbt]« (Br 5,240,67 f.), was sich doch wesentlich auch auf das definitive Überwundensein der Sünde bezieht.453 Auf diese drohende Einseitigkeit bei Luther hat schon sein katholischer Kritiker Heinrich Denifle hingewiesen.454 Wir haben in unserer Studie für diese Interpretation des Todes viele Belege beibringen können. Deutlich ist, dass Luther sich hier von Paulus unterscheidet. Man wird bei einer heutigen theologischen Verantwortung von Luthers simul iustus et peccator und d. h. besonders des strukturellen simul peccator dieser Gefahr einer Relativierung der Heilstat Christi nur entgehen können, wenn man hervorhebt, dass jene erhoffte eschatologische Totalbefreiung von der Sünde nicht durch den Tod als solchen eintritt, sondern nochmals als eine Auswirkung von Kreuz und Auferstehung Christi, also seines Sieges über die Sünde begriffen werden muss. Unsere Letztvollendung geschieht durch die Auferstehung der Toten! Was Luther selbst ja auch andeutet: »Da muss es [das verfluchte Leben] doch aufhören und zufrieden in der Ruge Christi schlafen, bis er kömpt und wecke uns mit Fröhlichsein wieder auf.« (Br 5,240,68 ff.)455

Gleichwohl ist für Luther der Tod nicht nur Erfahrung des »Evangeliums«, sondern bringt auch nochmals die gesteigerte Konfrontation mit dem »Gesetz«, d. h. mit dem Zorngericht Gottes über die Sünde. Vgl. dazu Pesch, Theologie, 359–362, bes. 359: »Im Tode erreicht die das ganze Leben des Menschen beherrschende Dialektik von ›Gesetz und Evangelium‹ ihre äußerste Zuspitzung.« 454 Vgl. Denifle, Luther I, 404, 412, 500. Ähnlich Stolle, Luther, 366. Batka, Peccatum, 231 f., sieht diese quasi »soteriologische« Qualität des Todes beim späteren Luther abgeschwächt, da jetzt »die Aufmerksamkeit der die Gerechtigkeit schenkenden und das ewige Leben schaffenden Kraft der Zusage Christi« gilt. »Sie ist das einzige heilwirkende Mittel!« 455 Vgl. 39 I, 204,6 f.: »Interim fovemur in sinu Dei, tanquam initium creaturae novae, Donec perficiamur in resurrectione a mortuis.« 453

6 Zum ekklesiologischen und interkonfessionellen Stellenwert des »simul iustus et peccator«

6.1 Kirchengemeinschaft trotz Lehrdifferenz beim »simul iustus et peccator«? Am Ende unserer Studie über Luthers simul iustus et peccator soll zumindest mit einigen skizzenhaften Überlegungen der Frage nachgegangen werden, welcher ekklesiologische bzw. interkonfessionelle Stellenwert diesem Theologumenon Luthers zukommen kann. Konkret formuliert: Vermag eine Differenz in der Lehre über das simul bzw. über den Sündencharakter der bleibenden Konkupiszenz eine solches Gewicht zu erlangen, dass sie kirchentrennenden Charakter gewinnt bzw. die Erklärung von Kirchengemeinschaft unmöglich macht? Dieses Problem aufzuwerfen, liegt nahe, ist doch das simul iustus et peccator und die damit verbundene Einschätzung der Konkupiszenz in der Diskussion über die GE als entscheidender noch verbleibender, also als durch die GE noch nicht befriedigend geklärter Differenzpunkt zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Lehre bezeichnet worden, der es ungewiss mache, ob ein »Konsens in (den) Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« vorliege und – so fragte insbesondere die katholische Seite – ob die diesbezüglichen Lehrverwerfungen des Trienter Konzils die heutige lutherische Lehre nicht mehr treffen. Die dann im Anhang zur GOF gefundene Einigung hinsichtlich des simul wurde gerade von lutherischer Seite heftig kritisiert und als Übernahme tridentinischer Positionen charakterisiert, die eine Abschwächung, wenn nicht gar Aufgabe des spezifisch lutherischen simul bzw. der diesem sachlich vorgelagerten Qualifizierung der Konkupiszenz als Sünde bedeute. Dass für Luther selbst die simul-Formel eine prägnante Zusammenfassung, eine Kurzformel seiner Rechtfertigungslehre darstellt, kann als zentrales Ergebnis unserer Analysen gelten. Die Formel hängt eng mit Luthers Verständnis des Evangeliums zusammen und sichert seiner Überzeugung nach das solus Christus, sola gratia und sola fide des Heils und steht so auch für die Gründung der Heilsgewissheit ausschließlich auf das Wort der göttlichen Verheißung und damit nicht auf die, wie auch immer erfahrbare, aber bleibend defizitäre Lebenserneuerung des Christen. Dabei kann Luther die mit der Formel gemeinte Sache durchaus auch ohne die Formel ausdrücken, es kommt ihm auf die durch sie abbreviativ bezeichnete Sache an! Dass zwar nicht die Formel selbst, wohl aber ihr Inhalt in

688 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

die lutherischen Bekenntnisschriften Eingang gefunden hat, ergab sich schon in der Einleitung zu unserer Studie (Kapitel 1). Als Resultat unserer eigenen exegetisch-systematischen Überlegungen ließ sich festhalten, dass das simul iustus et peccator von gewissen Linien im Neuen Testament her durchaus zu fundieren ist und als Ausziehen und Weiterdenken dieser Linien im Licht der Erfahrung der späteren Kirche und der darin implizierten permanenten Konfrontation mit der Realität der Christensünde begriffen werden kann. Somit gibt es für eine an Luther orientierte Theologie heute durchaus die begründete Möglichkeit, ja sogar die sachliche Verpflichtung, das simul in der theologischen bzw. kirchlichen Lehre zu vertreten und gegenüber den Theologien und Lehrpositionen anderer Kirchen zu affirmieren – und zwar durchaus in dem von Luther intendierten strengen Sinn der Formel als Simultaneität von vollkommenem Gerechtsein des Menschen in Christus, welches ein anfängliches Gerechtwerden aus sich entlässt, und bleibendem strukturell-anthropologisch fundiertem Sündersein in der irdischen Lebenszeit. Von daher liegt also die Frage nahe: Hat die durch eine solche Position entstehende bzw. faktisch schon bestehende Lehrdifferenz kirchentrennenden Charakter – etwa gegenüber der römisch-katholischen Kirche, die erklärtermaßen das simul im Verständnis Luthers bis heute ablehnt?

6.2 Einheit und Gemeinschaft der Kirchen nach der Leuenberger Konkordie Wir versuchen diese Frage mit Hilfe der Konzeption von Kirchengemeinschaft und Einheit der Kirche zu klären, wie sie sich explizit und implizit in der Leuenberger Konkordie von 1973 niedergeschlagen hat, weil diese die verbindliche Übereinkunft darstellt, auf deren Grundlage lutherische, reformierte und unierte Kirchen in Europa (aber mittlerweile auch darüber hinaus) nach den Jahrhunderte währenden Trennungen (v. a. wegen der Abendmahlsfrage) volle Kirchengemeinschaft unter sich erklärt haben und praktizieren. Insofern bezieht sich unser Versuch einer Antwort nur auf das evangelische Verständnis von Kirche und Gemeinschaft der Kirchen, nicht aber auf die diesbezügliche römisch-katholische Lehre. Denn das Modell der Leuenberger Konkordie unterscheidet sich wesentlich von der Ökumene-Konzeption der römisch-katholischen Kirche, wie sie exemplarisch im Ökumenismus-Dekret »Unitatis redintegratio« des Zweiten Vatikanischen Konzils dargelegt wurde und bis heute von der römischen Kirche konsequent vertreten wird. Es stellt das spezifische Proprium der Leuenberger Konkordie456 dar, dass durch sie Kirchen unter sich Kirchengemeinschaft erklä Wir zitieren deren Text nach: Plasger/Freudenberg (Hrsg.), Reformierte Bekenntnisschriften, 249–258, mit dem Kürzel LK und unter Angabe der Absatznummer. Vgl. auch das Beratungsergebnis der 4. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft (1994): Die Kirche Jesu Christi, bes. 55–63. 456

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 689 ren und praktizieren aufgrund der Feststellung des »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums« (LK 1), der unterschiedliche Lehr- und Bekenntnisstand dieser Kirchen damit aber nicht aufgehoben, sondern vielmehr, weil dem gemeinsamen Evangeliumsverständnis nicht widersprechend, respektiert wird. Zudem bleiben diese Kirchen auch nach der Annahme der Konkordie eigenständige Kirchen, und zwar aus der Überzeugung heraus, »daß sie gemeinsam an der einen Kirche Jesu Christi teilhaben« (LK 34). Demgegenüber wird für die katholische Kirche Kirchengemeinschaft erst dann möglich und herstellbar, wenn es zu einer hinreichenden und d. h. weitgehenden Übereinstimmung in der kirchlichen Lehre gekommen ist und sich daraus auch eine rechtliche und organisatorische kirchliche Einheit ergibt. Diese kann, da nach katholischer Überzeugung die Kirche Christi nur in der römischen Kirche »subsistiert«, d. h. voll verwirklicht ist,457 nur eine Reintegration bzw. Rückkehr der von Rom getrennten Kirchen in die römische Kirche bedeuten. Dies impliziert aber nichts anderes als die Anerkennung der bischöflichen Struktur der Kirche sowie der diese tragenden Weihesukzession sowie des Lehr- und Jurisdiktionsprimates des Papstes. Vorher können die anderen »kirchlichen Gemeinschaften« auch nicht als Kirche im vollen Sinn durch Rom anerkannt werden, weil ihnen konstitutive Momente des Kircheseins abgehen.458 In geringerer oder größerer Nähe bzw. Abhebung von den genannten beiden Ökumene-Modellen werden gegenwärtig auch die Konzeptionen der »versöhnten Verschiedenheit« und des »differenzierten Konsenses« vertreten, und es sind wohl insbesondere diese beiden Zielvorstellungen, welche in der GE verfolgt werden. Ob sie wirklich tragfähige Alternativen zu den beiden anderen Konzeptionen darstellen, mag hier dahingestellt bleiben. Klar ist jedenfalls, dass das Leuenberger Modell für die katholische Kirche zur Zeit nicht annehmbar ist, während das katholische Modell von den Kirchen der Reformation nicht akzeptiert werden kann.

Vaticanum II, Lumen Gentium, Nr. 8 (LThK2 Bd. 12,172 f.). Vgl. Vaticanum II, Unitatis redintegratio, Nr. 2–4 (LThK2 Bd. 13, 44–69), bes. Nr. 3 (ebd., 58 f.): »Dennoch [trotz der eingeräumten soteriologischen Funktion der getrennten Kirchen] erfreuen sich die von uns getrennten Brüder, sowohl als einzelne wie auch als Gemeinschaften und Kirchen betrachtet, nicht jener Einheit, die Jesus Christus all denen schenken wollte, die er zu einem Leibe und zur Neuheit des Lebens wiedergeboren und lebendig gemacht hat […]. Denn nur durch die katholische Kirche Christi, die das allgemeine Hilfsmittel des Heils ist, kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben. Denn einzig dem Apostelkollegium, an dessen Spitze Petrus steht, hat der Herr, so glauben wir, alle Güter des Neuen Bundes anvertraut, um den einen Leib Christi auf Erden zu konstituieren, welchem alle völlig eingegliedert werden müssen [plene incorporentur], die schon auf irgendeine Weise zum Volke Gottes gehören«; Nr. 4 (ebd., 64 f.): Alle Christen sollen »zur selben Eucharistiefeier, zur Einheit der einen und einzigen Kirche versammelt werden, die Christus seiner Kirche von Anfang an geschenkt hat, eine Einheit, die nach unserem Glauben unverlierbar in der katholischen Kirche besteht [subsistere] und die, wie wir hoffen, immer mehr wachsen wird bis zur Vollendung der Zeiten.« 457

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690 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

6.3 »Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums« Wir halten uns jetzt für unsere Fragestellung, wie angekündigt, an das Leuenberger Modell.459 Diesem zufolge gewähren Kirchen mit unterschiedlichem Bekenntnisstand (LK 30, 37) und weiter fortbestehender kirchlicher Selbständigkeit (LK 44 f.) einander Kirchengemeinschaft, d. h. »Gemeinschaft an Wort und Sakrament« (LK 29) bzw. Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft460, was die Anerkennung der jeweiligen kirchlichen Ämter sowie die Möglichkeit der Interzelebration eines Gottesdienstes einschließt (LK 33) und sich in vielfältigen Formen des gemeinsamen Zeugnisses und Dienstes ausdrücken soll (LK 29). Diese Kirchen tun das, weil sie unter sich »das gemeinsame Verständnis des Evangeliums« festgestellt haben (LK 1, 29, 31), das allen Spezialisierungen der reformatorischen Lehrtypen zugrunde liegt, sie sogar ermöglicht, ihnen aber den kirchentrennenden Charakter nimmt (LK 34, 39). Lehrverwerfungen treffen den gegenwärtigen Lehrstand der Kirchen deshalb nicht mehr (LK 33), weil man den grundlegenden Unterschied zwischen dem einen Evangelium und den dieses explizierenden theologischen und kirchlichen Lehren erkannt hat, welch Letztere notwendig auf geschichtlich sich wandelnde und darum plurale Denkformen angewiesen sind, ohne dass dadurch die Identität des Evangeliumsverständnisses verloren gehen müsste (LK 5, 22). Theologische und kirchliche Lehre ist mithin dem Evangelium dienend zugeordnet, von ihm her legitimiert und gefordert, bleibt aber auch stets hinter ihm zurück, wird von ihm begrenzt, ja kritisch geprüft und darf sich nicht als mit dem Evangelium identisch erklären.461 Grund und Gegenstand des Glau Vgl. dazu Herms, Glaubenseinheit I, 29–33; Härle, Grundlagenklärung, 178 f. Zum weitergehenden theologischen Hintergrund vgl. auch Herms, Einheit. 460 Die gegenseitige Anerkennung der Taufe war unter den beteiligten Kirchen nie strittig. 461 In ähnlicher Weise hatte schon Althaus, Paulus, 34 f., auf die Unterscheidung zwischen dem einen Evangelium und der Pluralität der das Evangelium reflektierenden Theologien hingewiesen, die sich schon innerhalb des Neuen Testaments selbst finde. Für uns verbindlich sei das eine Evangelium, nicht aber die Theologien der neutestamentlichen Autoren, die untereinander ja auch nicht völlig zu harmonisieren sind, obwohl das eine Evangelium nur in ihnen zugänglich wird. Die Einsicht in die Differenz von biblisch bezeugtem, aber zur aktuellen Verkündigung hindrängendem Evangelium und kirchlichem Bekenntnis bzw. theologischer Lehre gehört zu den Grundeinsichten der Reformation. Sie ist letztlich auch in CA VII (BSLK 61,6–14) impliziert, wenn das »consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum« von den »traditiones humanae seu ritus aut cerimoniae ab hominibus institutae« abgehoben und eine Übereinstimmung in Letzteren als zur Kircheneinheit nicht notwendig erachtet wird. Fraglich ist aber, ob den Reformatoren im 16. Jahrhundert die volle Tragweite dieser Unterscheidung im Blick auf innerprotestantische Gegensätze bewusst war. Wenn die Lehrstreitigkeiten um die Realpräsenz Christi beim Abendmahl (bei weitgehendem Konsens in der Rechtfertigungslehre) zur Kirchentrennung führten, dann ist dies nur als Missachtung der dann in LK voll zum Durchbruch gelangten Einsicht zu werten, es sei denn, man wollte die Differenzen in 459

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 691 bens und damit auch Grund der Kirche sowie der Gemeinschaft der Kirchen ist deshalb niemals die theologische Lehre bzw. das kirchliche Bekenntnis, sondern eben das Evangelium bzw. das Geschehen des Wortes Gottes als dasjenige, »was Kirche zur Kirche macht«462. Die Leuenberger Konkordie bietet nun in ihrem zweiten Teil (LK 6–16) eine Beschreibung dieses »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums«: Das Evangelium wird unter drei Rücksichten beschrieben: einmal seinem Inhalt nach (LK 7–9) als »Botschaft von Jesus Christus« (LK 7), welche ihr »rechtes Verständnis« für die reformatorische Bewegung in der »Lehre von der Rechtfertigung« gefunden hat (LK 8). Sodann wird das »gemeinsame Verständnis des Evangeliums« seiner Wirkweise nach charakterisiert (LK 10–12), wonach Gott »durch sein Wort im Heiligen Geist« die Menschen zu Umkehr und Glauben ruft und dem Sünder, der glaubt, die Gerechtigkeit Christi zuspricht. Es ist also das Evangelium von dem in Jesus Christus sich offenbarenden Gott selbst, das im Heiligen Geist, also als »Kraft Gottes« (Röm 1,16) bzw. als »lebendiges Wort« (LK 5), Menschen von der Wahrheit dieses Evangeliums überzeugt, es ihnen evident und gewiss macht, d. h. in ihnen Glauben weckt, der sich in allen Lebensdimensionen Ausdruck verschafft. Drittens wird das Evangelium hinsichtlich seiner innergeschichtlichen Begegnungsweisen im verkündigten Wort und in den Sakramenten Taufe und Abendmahl bestimmt (LK 13–16).463 Mit dieser Beschreibung des Evangeliumsverständnisses in seinen drei Aspekten bringt die Leuenberger Konkordie den Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses zur Geltung, demzufolge zur wahren Einheit der Kirche die »Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend ist« (LK 2).464 der Abendmahlslehre doch wieder auf eine Differenz im grundlegenden Verständnis des Evangeliums bzw. der Rechtfertigung zurückführen, wofür es bei Luther Ansätze gibt, über deren Legitimität aber dann zu befinden wäre. Vgl. Dieter, Antwort, 11 f. 462 So Ebeling, Bedeutung, 181 f. Der Skopus von CA VII sei: »Ihr dürft die Einheit der Kirche von nichts anderem abhängig machen als von dem, was Kirche zur Kirche macht.« (182) Vgl. ebd., 190: »Der consensus muß sich auf das erstrecken, aber auch darauf beschränken, was Kirche zur Kirche macht.« 463 Zur Differenzierung der Beschreibung des »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums« durch die LK nach Inhalt, Wirkweise und innergeschichtlichen Begegnungsgestalten vgl. Herms, Glaubenseinheit I, 78 ff., 171; ders., Glaubenseinheit II, 565. 464 Vgl. BSLK 61,3–9: »Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum.« Der deutsche Text von CA VII spricht noch deutlicher nicht von »doctrina evangelii«, sondern von der Predigt des Evangeliums (BSLK 61,5 f.10 f.). Dazu Herms, Glaubenseinheit II, 622 ff. – Obwohl die GE von einem »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« spricht«, in dessen Licht die »verbleibenden Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung des Rechtfertigungsverständnisses tragbar sind« und den erzielten Konsens nicht aufheben (GE 40; vgl. GE 5) und sie insofern in der Argumen-

692 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

6.4 Anwendung des Leuenberger Kriteriums auf das »simul iustus et peccator« Überblickt man nun diese materiale Umschreibung des gemeinsamen Evangeliumsverständnisses, das auch als die »freie und bedingungslose Gnade Gottes im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi für jeden, der dieser Verheißung glaubt« (LK 4), zusammengefasst wird, so lässt sich zunächst feststellen, dass das simul iustus et peccator in dieser Fixierung des fundamentalen Evangeliumsverständnisses nicht genannt wird, es mithin – so darf man weiter folgern – für die Konkordie offenbar zu dem vom grundlegenden Evangeliumsverständnis zu unterscheidenden Bestand kirchlich-theologischer Lehre gehört, welcher notwendig plural, ja konträr sein kann und bleiben wird, aber die Kirchengemeinschaft nicht zu verhindern vermag, da diese ausschließlich im gemeinsamen Evangeliumsverständnis fundiert ist. Erwähnt wird in den Ausführungen zur Taufe nur, dass der Getaufte »in täglicher Umkehr und Erneuerung« (LK 10) bzw. in täglicher »Umkehr und Nachfolge« (LK 14) lebt, womit Luthers schon in der ersten Ablassthese ausgesprochene Konzeption der lebenslangen Buße aufgenommen, aber nicht mit dem simul explizit verbunden worden ist. Aus den genannten Andeutungen der Konkordie könnte zudem nur ein simul in dem weiteren Sinn erschlossen werden, wonach auch Christen immer wieder sündigen, nicht aber zwingend ein simul von Gerechtigkeit und strukturell »bleibender Sünde« im Verständnis Luthers. tationsstruktur der LK vergleichbar ist, verbleibt sie doch auf der Ebene der Lehre, wenn auch der Rechtfertigungslehre, sucht hierin einen »differenzierten Konsens«, dringt aber noch nicht zu jenem fundamentaleren »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums« vor. Außerdem wird das Thema Rechtfertigung als ein Teilthema der Lehre verstanden, dem noch Einigungen in weiteren Fragen (z. B. Verhältnis von Wort Gottes und kirchlicher Lehre (!), Kirchenverständnis, Amt und Sakramente) folgen müssten (GE 43). Erst dann – so wird damit nahegelegt – könnten Schritte zur Erklärung der Kirchengemeinschaft erfolgen. Die GE stellt zwar ihrem eigenen Selbstverständnis nach einen »entscheidenden Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung« dar, Gottes Geist muss die beteiligten Kirchen aber »zu jener sichtbaren Einheit weiterführen, die der Wille Christi ist« (GE 44). Das klingt sehr nach jenem Ökumeneverständnis, wonach erst ein Konsens in allen bzw. den entscheidenden Lehrfragen Kirchengemeinschaft schafft oder zu erklären erlaubt, wie auch das Verständnis kirchlicher Einheit offen bleibt. Von der aufgrund des gottgewirkten »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums« immer schon bestehenden Gemeinschaft, die es darum nicht herzustellen, sondern nur anzuerkennen und zu bezeugen gilt, ist in GE nicht die Rede. Vgl. auch GOF 3: Es bedarf eines weiteren Dialogs bezüglich der in GE 43 genannten Themen, »um zu voller Kirchengemeinschaft, zu einer Einheit in Verschiedenheit zu gelangen, in der verbleibende Unterschiede miteinander ›versöhnt‹ würden und keine trennende Kraft mehr hätten«. Dem entspricht, dass die Unterzeichnung der GOF (und damit die Bestätigung der GE) keine direkten praktischen Folgen für die beteiligten Kirchen, etwa im Blick auf das Abendmahl, nach sich zog. Die GE übersteigt also das »satis est« dessen, was nach CA VII zur Einheit der Kirche notwendig und hinreichend ist. Ähnlich Dalferth, Antworten, 24; Scharbau, Gerecht, 155 ff.

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 693 Man darf in diesem Befund, um es nochmals festzuhalten, folglich ausgedrückt sehen, dass der Leuenberger Konkordie zufolge das simul iustus et peccator nicht zum fundamentalen, Kirchengemeinschaft begründenden Evangeliumsverständnis gehört, sondern dieses eine im Vergleich zum Evangelium bzw. zur Rechtfertigungsbotschaft sekundäre Entfaltung oder Folgereflexion kirchlich-theologischer Lehre darstellt, über die zwischen den Kirchen durchaus differente Auffassungen bestehen können, über die gerungen, ja gestritten werden darf und kann. Wie denn auch zu vermuten ist, dass die Theologen, welche die Leuenberger Konkordie formuliert haben, sowie die durch sie konkordierenden Kirchen hierüber nicht einer Meinung waren und es bis heute auch nicht sind. Dieselbe Einschätzung des simul liegt auch schon in den lutherischen Bekenntnisschriften vor, insofern weder CA 2 noch die Konkordienformel in ihren die Erbsündenthematik betreffenden Lehrverwerfungen ein Anathema über die katholische Bestreitung des Sündencharakters der postbaptismalen Konkupiszenz enthalten.465 Die Zuordnung des simul zur nicht kirchentrennenden Lehre setzt allerdings voraus, dass die Wahrheit des Evangeliums auch ohne Rekurs auf das simul formuliert werden kann.466 Anders gesagt: Vorausgesetzt wird, dass das solus Christus, sola gratia und sola fide in ihrer das Christenleben nicht nur am Anfang, sondern in seiner ganzen zeitlichen Erstreckung prägenden Funktion auch ohne das simul iustus et peccator im lutherischen Verständnis artikuliert werden können, wie es die Konkordie ja auch faktisch tut. Man wird dies vom schmalen biblischen Befund des simul her und von seinem Charakter als gegenüber dem Evangelium bzw. der Rechtfertigungsbotschaft sekundärer theologischer Reflexion

Vgl. dazu oben Einleitung, Kap. 1. Vgl. dazu die Überlegungen von Oechslen, Kronzeuge, 75–82. Oechslen sieht das hinter der Affirmation des simul stehende theologische Interesse (neben einem realistischen Sündenverständnis) im sola gratia und sola fide konzentriert, welche eben nicht nur am Beginn der christlichen Existenz, sondern auch in ihrem Fortgang gelten sollen. Gerade dieses Interesse fordere aber nicht zwingend das Postulat des bleibenden Sünderseins des Getauften, da von Paulus her gelte, »daß der Gerechtfertigte immer der gerechtfertigte Sünder bleibt, aber eben nicht immer der zu rechtfertigende Sünder ist« (79). Dies schließe indessen nicht aus, dass der Getaufte in jedem Moment von der rechtfertigenden Gnade Gottes abhängig sei. Als Analogie führt Oechslen den Unterschied zwischen der schöpferischen und der erhaltenden Tätigkeit Gottes an: Zwar ist Gott für das Geschöpf zu jeder Zeit der Schöpfer, das Geschöpf verdankt das Sein immer ganz Gott, und doch ist im Blick auf die Zeit zu unterscheiden zwischen dem ersten Moment der Erschaffung, wodurch etwas Neues entsteht, was vorher nicht da war, und der mit der Schöpfung beginnenden Geschichte des Geschöpfs mit seinem Schöpfer. Ähnlich gelte bei der Neuschöpfung, dass der Gerechtfertigte in jedem Augenblick sein neues Sein Gott verdankt, »aber er hat nicht nur Augenblicke mit Gott, sondern eine Geschichte mit Gott«, deren Beginn durch die Taufe und die damit gesetzte Lebenswende markiert wird (80). Zudem sei das »neue Sein« des Gerechtfertigten dauerhaft relational zu Gott und nicht als neue Qualität des Menschen zu verstehen und deshalb bleibend vom Glauben abhängig (81 f.). 465

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694 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

nicht bestreiten können.467 Als Fazit lässt sich ziehen: Die Anwendung des Leuenberger Kriteriums (Unterscheidung von gemeinsamem Evangeliumsverständnis und kirchlicher Lehre) verleiht dem simul keinen kirchentrennenden Charakter!468

Zu ähnlicher Einschätzung des Verhältnisses von Lehre über das simul und Kirchengemeinschaft kommt die Stellungnahme der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen zur GE (1998). Sie bestreitet einerseits, dass die GE einen »Konsens in (den) Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« formuliert und benennt als verbleibenden Differenzpunkt u. a. das »Sündersein des Gerechtfertigten« (2 f.), spricht aber andererseits die Erwartung aus, dass die GE für das ökumenische Zusammenleben vor Ort konkrete Folgen haben möge. »Die Einladung römisch-katholischer Christen zum Tisch des Herrn durch die evangelischen Kirchen muss nun besonders nachdrücklich ausgesprochen werden.« (4 f.) Diese wird also durch den fortbestehenden Lehrgegensatz beim simul nicht behindert – und zwar offenbar deshalb, weil zwischen katholischen und evangelischen Christen »das gemeinsame Verständnis des Evangeliums« vorausgesetzt wird, wenngleich es zwischen den betroffenen Kirchen noch nicht offiziell festgestellt werden kann. Auch Wenz, Konsens, 43, hält differente Einschätzungen der postbaptismalen Konkupiszenz nicht für einen »kirchentrennenden Gegensatz«. Pesch, Theologie, bes. 537, 885 f., 949 f., führt den Gegensatz hinsichtlich des simul bei Luther und Thomas von Aquin auf den Gegensatz bzw. Unterschied von »existentieller« und »sapientialer« Theologie zurück, kann darin aber keinen Grund für ein wechselseitiges Anathema sehen. 468 Für die gegenwärtige römisch-katholische Kirche dürfte sich die diesbezügliche Situation wie folgt darstellen: Wie in der Einleitung (Kapitel 2.1) dargelegt, hat das Trienter Konzil das simul nicht der Formel, aber der Sache nach anathematisiert. In der GOF (Nr. 1) erklärt die katholische Kirche 1999 unter Zitation von GE 41, dass die in der GE »vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen […] nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen« wird. Dies kann ein Zweifaches bedeuten: Entweder ist damit das Trienter Anathema hinsichtlich des simul bzw. des Sündencharakters der postbaptismalen Konkupiszenz implizit zurückgenommen, d. h. diese beiden Lehrpunkte werden nicht mehr als kirchentrennend eingestuft. Oder die römisch-katholische Kirche geht davon aus, dass im Anhang zur GOF (Nr. 2) von der lutherischen Seite der Sündencharakter der postbaptismalen Konkupiszenz nicht mehr behauptet und das simul nur im Sinne von faktischen Tatsünden der Christen und ihrer »beständigen Gefährdung« durch die Macht der Sünde statuiert wird. Die Äußerungen des katholischen Lehramts nach der GOF lassen die zweite Alternative als wahrscheinlicher erscheinen. Vgl. Kardinal Ratzinger in einem Interview in der Zeitschrift »Trenta Giorni« (6/7 1999; nach der Publikation der GOF am 11.06.1999 und vor ihrer Unterzeichnung am 31.10.1999), deutsch: epd-Dok 36,1999, 5 ff., hier 6 (Hv.): »Mit dem neuen Anhang […] liegen uns Erklärungen vor, die wirklich weitergehen. Nun ist klar, dass die Sünde eine personale Wirklichkeit ist und dass der Mensch daher nur wirklich Sünder ist, wenn er eine persönliche Sünde begeht. Mit diesem Anhang, der ein sehr wichtiges Element darstellt, haben wir die Klärungen erhalten, die der Gemeinsamen Erklärung noch fehlten.« Vgl. oben Einleitung, Kap. 4.3. Dies bedeutet dann aber, dass für die katholische Kirche die Aussage, dass mit der GE eine »Übereinstimmung in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« erreicht wurde (GOF Nr. 1), nur insofern zutrifft, als die lutherischen Kirchen nicht mehr den Sündencharakter der postbaptismalen Konkupiszenz und damit das simul im Sinne Luthers affirmieren. 467

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 695

6.5 Vertiefte Interpretation des Leuenberger Ansatzes Jedoch sind die eben angestellten Reflexionen über den Stellenwert kirchlich-theologischer Lehre und damit auch des simul iustus et peccator für die Frage der Kirchengemeinschaft von der Leuenberger Konkordie selbst her nochmals zu vertiefen. Man könnte gegen das Leuenberger Modell ja den Einwand erheben, hier werde ein Bekenntnisminimalismus propagiert, sozusagen die ökumenische Einigung auf einem »kleinsten gemeinsamen Nenner« der Lehre gesucht und von dort aus dann Kirchengemeinschaft erklärt bzw. hergestellt. Damit werde aber zugleich der übrige, bekanntermaßen differente Lehrbestand der Kirchen relativiert bzw. für gleichgültig und beliebig erachtet und in seiner Widersprüchlichkeit einfach unverändert stehengelassen. Weiter könnte das Bedenken vorgebracht werden, der Unterschied zwischen Lehre und Evangeliumsverständnis sei nur ein gradueller bzw. auch das Evangeliumsverständnis uns nur in der Form der Lehre zugänglich, eben der Lehre, wie sie sich aus den der Leuenberger Konkordie vorausgegangenen Lehrgesprächen ergeben habe. Insofern geschehe auch durch die Leuenberger Konkordie nichts anderes, als was in der GE mit der Methode des »differenzierten Konsenses« versucht worden sei. Gewiss kann man die Leuenberger Konkordie auf einer ersten Stufe als Versuch der Elementarisierung bzw. Reduktion der Lehre auf das Wesentliche, eben das fundamentale Evangeliumsverständnis verstehen, demgegenüber dann die weiteren theologischen Spezialisierungen und Differenzierungen zurücktreten müssen bzw. als für die Kirchengemeinschaft nicht wesentlich eingestuft werden.469 Dennoch stellt dies eine noch zu oberflächliche Interpretation dieser theologischen Erklärung dar. Denn Eilert Herms hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Genitiv der Formel »gemeinsames Verständnis des Evangeliums« nicht nur als genitivus objectivus, sondern auch als genitivus subjectivus bzw. genitivus auctoris verstanden werden kann und muss.470 Das heißt: die Formel bezieht sich nicht nur auf das Resultat einer menschlichen Verstehensbemühung, welche das gemeinsame Evangeliumsverständnis materialiter, also nach Inhalt, Wirkweise und Begegnungsgestalt erfasst, wie dies die Konkordie in ihrem zweiten Teil selbst unternimmt (und zwar wiederum in Gestalt eines Lehrkonsenses!), sondern die Formel intendiert auch ein solches Evangeliumsverständnis, das durch das Evangelium selbst und zwar nicht nur als biblisch überliefertes Wort, sondern darüber hinaus als »lebendiges Wort« (LK 5) bzw. als »Kraft Gottes« (Röm 1,16) sich Menschen erschließt und evident wird. Und es ist genau dieses »Verständnis des Evangeliums« (genitivus auctoris), welches Glauben weckt und Vgl. LK 37 (Hv.): »Sie [die Konkordie] stellt eine im Zentralen gewonnene Übereinkunft dar, die Kirchengemeinschaft zwischen Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes ermöglicht.« 470 Vgl. Herms, Glaubenseinheit I, 78 ff., 171 f., 1989; Glaubenseinheit II, 563–571, 574. 469

696 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

so eo ipso auch Gemeinschaft des Glaubens, also Kirche schafft, aber damit zugleich die Gemeinschaft der Kirchen untereinander. Denn dieses Verständnis des Evangeliums, welches das Evangelium selbst hervorbringt, kann nur eines bzw. ein identisches sein, weil das Evangelium selbst und der sich in ihm bezeugende und offenbarende dreieinige Gott in sich eins sind. Das vom Evangelium selbst hervorgebrachte Verständnis des Evangeliums liegt darum wesenhaft auch nur als gemeinsames vor: In ihm sind alle Glaubenden schon ursprünglich verbunden und eins, und diese Einheit ist – wie das Evangeliumsverständnis und der Glaube selbst – nicht von Menschen gemacht und erzeugt, sondern empfangen!471 Wo Kirchen untereinander Kirchengemeinschaft erklären, da tun sie das infolgedessen auf Grund des zwischen ihnen immer schon vorhandenen, durch sie aber nicht hergestellten – auch durch ihre Lehrgespräche nicht erzeugten – »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums«, das sie als Werk Gottes bei sich nur feststellen und bezeugen und von daher dann auch als glaubende Menschen äußerlichsichtbar darstellen und praktizieren können.472 Es gibt mehrere Hinweise in der Konkordie selbst, welche die Interpretation der Formel »gemeinsames Verständnis des Evangeliums« auch im Sinne des genitivus subjectivus nahelegen, ja als unverzichtbar erscheinen lassen. So beginnt der Text sogleich mit der Feststellung: Die konkordierenden Kirchen »stellen aufgrund ihrer Lehrgespräche unter sich das gemeinsame Verständnis des Evangeliums fest, wie es nachstehend aufgeführt wird« (LK 1). Hier wird am Ende des Zitats auf jene materiale Explikation des Evangeliumsverständnisses in LK 7–16 vorausverwiesen,473 zuvor aber betont, dass das »gemeinsame Verständnis des Evangeliums« auch schon vor den Lehrgesprächen »unter ihnen« vorhanden war, durch diese es aber möglich wurde, die Übereinstimmung im fundamentalen Evangeliumsverständnis auch festzustellen, so dass daraufhin Kirchengemeinschaft erklärt und praktiziert werden kann. Jenes grundlegende, immer schon vorhandene Evangeliumsverständnis und die in ihm gründende Gemeinschaft und Einheit sind also nicht von den Konkordierenden geschaffen, sondern durch das Evangelium selbst, wo und wann Gottes Geist es will (CA V)474, frei gewirkt. Vgl. Herms, Glaubenseinheit II, 504, 566, und schon Ebeling, Bedeutung, 181, zu CA VII: »Das, was die Kirche zur Kirche macht, macht eo ipso die Kirche zur una ecclesia.« 472 Vgl. Die Kirche Jesu Christi, 23, 56: »Die Einheit der Kirche ist nicht Werk der Kirchen, sondern Gabe Gottes an diese Kirchen.« Wenn sie einander Kirchengemeinschaft »gewähren« (LK 29), dann gilt: »Sie gewähren sich etwas ihnen bereits Vorgegebenes.« 473 Vgl. auch LK 6: »Im folgenden beschreiben die beteiligten Kirchen ihr gemeinsames Verständnis des Evangeliums, soweit es für die Begründung einer Kirchengemeinschaft erforderlich ist.« Selbst an dieser Stelle wird die Bedeutung der Formel als genitivus subiectivus mitzuhören sein. Vgl. auch LK 38: »Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums, auf dem die Kirchengemeinschaft beruht […].« 474 Vgl. BSLK 58,4–8: »Nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in his qui audiunt evangelium.« 471

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 697 Die Lehrgespräche ermöglichen diese Feststellung, stellen aber die Einheit im grundlegenden Evangeliumsverständnis nicht her! Weiter wird in LK 4 auf die bei den Kirchen der Reformation trotz aller Gegensätze vorhandene Gemeinsamkeit hingewiesen: »Sie gingen aus von einer neuen befreienden und gewißmachenden Erfahrung des Evangeliums«, die sie natürlich nicht selbst bewirkt haben. Das Evangelium bleibt als »Wort des Herrn aller menschlichen Gestaltung der christlichen Kirche überlegen«. Nach LK 13 ist in Verkündigungswort, Taufe und Abendmahl Jesus Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig. »So wird den Menschen die Rechtfertigung in Christus zuteil und so sammelt der Herr seine Gemeinde.« (vgl. LK 2) Immer geht es um das allem menschlichen Bemühen, allem opus hominum schon vorausgehende geistliche Geschehen, das Menschen als opus Dei an sich nur geschehen lassen können. Die Konkordie operiert folglich mit einem doppelten Begriff von Kirchengemeinschaft: einmal explizit mit dem Begriff der von glaubenden Menschen öffentlich zu erklärenden, zu gewährenden und äußerlich-sichtbar zu »verwirklichenden« Kirchengemeinschaft, zum anderen aber auch implizit mit dem Begriff jener Gemeinschaft, die zwischen den Kirchen als Gotteswerk, als Werk des Evangeliums immer schon besteht und welche die Voraussetzung und Ermöglichung der Kirchengemeinschaft im ersteren Sinne darstellt.475 Diese ist sogar mehr als Gemeinschaft, sie ist Glaubenseinheit! Gegenüber dem vom Evangelium selbst gewirkten »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums« ist aber alle theologische Lehre – das wird aufgrund der vertieften Interpretation der Leuenberger Konkordie nun erst recht evident – als menschliche Bemühung um seine sprachliche und begriffliche Erfassung notwendig sekundär, immer auf dieses geistliche Geschehen angewiesen, von ihm her ermöglicht, aber auch normiert und es nie in voller Adäquatheit erfassend. Und eben als Werk von glaubenden Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ist die Lehre wesenhaft und legitim vielfältig, ja gegensätzlich!476 Dies gilt in gewisser Weise sogar für alle Versuche, jenes vom Evangelium selbst geschaffene Verständnis seiner selbst begrifflich-lehrhaft in einem »gemeinsamen Verständnis« zu fixieren und daraufhin Kirchengemeinschaft zu erklären.477 Im So Herms, Glaubenseinheit II, 576 f., 580 f. Das schließt nach LK 39 nicht die Aufgabe aus, »an Lehrunterschieden, die in und zwischen den beteiligten Kirchen bestehen, ohne als kirchentrennend zu gelten, weiterzuarbeiten«. Die Konkordie selbst versucht dies in Teil III für die Themen Abendmahl, Christologie und Prädestination (LK 17–28). 477 Ähnlich wie der Begriff der Kirchengemeinschaft wird in LK auch die Formel »gemeinsames Verständnis des Evangeliums« (gemäß der grammatisch und sachlich zweifach möglichen und geforderten Interpretation ihres Genitivs) im doppelten Sinne verwandt: einmal als die durch Gottes Wort im Heiligen Geist in allen Glaubenden notwendig identisch gewirkte und identisch gegebene Evidenz des Evangeliums selbst und zweitens als Explikationsversuch dieser grundlegenden Gewissheit. Vgl. Herms, Glaubenseinheit II, 571 ff., 579. 475 476

698 Simul iustus et peccator: Exegetische und systematische Überlegungen

Unterschied zu anderer theologischer und kirchlicher Lehre, die jeweils einen Teilbereich bzw. ein Einzelthema des Lehrganzen betrifft, handelt es sich dabei aber um den Versuch, das gottgewirkte, also schon vorhandene und eo ipso gemeinsame Verständnis des Evangeliums elementar zu erfassen. Es geht also um eine Aussage über den Grund und Gegenstand des Glaubens sowie über den einheitlichen Grund und Gegenstand theologischer Lehre in bleibender Unterscheidung von ihm. Insofern ist der Konsens darüber im Unterschied zu anderen Lehrkonsensen ein »einzigartiger Lehrkonsens«!478 Theologische Lehre, auch die Rechtfertigungslehre479, ist von ihrem ihr bleibend überlegenen Gegenstand, der Wahrheit des Evangeliums, also stets abzuheben und muss anerkennen, dass sie fehlbar, korrigierbar und verbesserbar ist (LK 5, 38, 41).480 Eilert Herms hat deshalb von der »Selbstkonkretisierung« bzw. »Selbstidentifizierung« kirchlicher Bekenntnisse (bzw. theologischer Lehre) durch »ausdrückliche Selbstrelativierung« auf ihren Gegenstand hin gesprochen,481 die zur wesentlichen und unaufgebbaren Grundeinsicht reformatorischer Theologie gehöre, weil sie damit den Vorrang und die Überlegenheit des göttlichen Handelns vor allem menschlichen Tun anerkennt (vgl. LK 4). Insofern erfolgt in der Leuenberger Konkordie keine Vergleichgültigung oder Geringschätzung theologischer Lehre, als ob diese zweitrangig oder unmaßgeblich wäre, sondern gerade ihre rechte Selbsterfassung und Selbsteinschätzung, die eben nach reformatorischer Überzeugung nur in der bleibenden Bezogenheit auf ihren je größeren Gegenstand bestehen kann und sich, in welcher Gestalt auch immer, nicht mit ihrem Gegenstand in eins setzen darf. 482 Genau diese Tendenz besteht indessen bei der katholischen Kirche, wenn und sofern sie diese Unterscheidung von Gegenstand der Lehre und Lehre lehrmäßig und praktisch nicht vollzieht, so dass der Gegenstand des Glaubens für sie nur in der exklusiven Bindung an ihre eigene Lehrgestalt zugänglich wird. Theologische Lehre versteht sich aber nur dann richtig, wenn sie gegenüber dem einen Evangelium und dem von diesem gewirkten einen Evangeliumsverständnis ihre Selbstunterscheidung vollzieht, die eigene Variabilität und Plurali So Herms, Glaubenseinheit II, 583 f. Dazu Herms, Glaubenseinheit II, 261, 566. 480 Nach LK 38 gilt dies ebenfalls von der Formulierung des »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums, auf dem die Kirchengemeinschaft beruht«. Es »muß weiter vertieft, am Zeugnis der Heiligen Schrift geprüft und ständig aktualisiert werden«. 481 Vgl. Herms, Glaubenseinheit II, 184, 186, 568 f. – Diese Selbstrelativierung kirchlicher Lehre geschieht direkt gegenüber dem von ihr unterschiedenen Grund und Gegenstand des Glaubens, also gegenüber dem Offenbarungshandeln Gottes selbst, indirekt aber auch gegenüber anderen konkurrierenden Lehrgestalten. Siehe ebd., 503 f. 482 Vgl. dazu CA VII (BSLK 61,6–14), wo die doctrina evangelii bzw. die Predigt des Evangeliums von den traditiones humanae unterschieden wird, wozu auch die theologische Lehre, ja das kirchliche Bekenntnis zu rechnen ist. Siehe auch: Die Kirche Jesu Christi, 19, 21, 57 f., wo die für die reformatorische Theologie notwendige »Unterscheidung […] zwischen dem Grund und der Gestalt der Kirche« entfaltet wird. 478 479

Ekklesiologischer und interkonfessioneller Stellenwert des »simul« 699 tät annimmt, ja mit der Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit ihrer selbst rechnet.483 Liest man die Leuenberger Konkordie auf dem Hintergrund dieses vertieften Verständnisses, so zeigt sich von neuem, dass die Lehre selbst oder auch Lehrgespräche bzw. Lehrkonsense Kirchengemeinschaft niemals begründen, sondern nur feststellen und erklären können, dazu dann aber auch notwendig sind.484 Ebenfalls wird klar, dass Lehrdifferenzen Kirchengemeinschaft bzw. ihre Erklärung aber auch nicht aufheben bzw. verhindern können,485 es sei denn, dass es zwischen den Kirchen nicht gelingt, das gemeinsame Verständnis des Evangeliums festzustellen oder festzuhalten, wie das im Verhältnis der evangelischen Kirchen zur römisch-katholischen Kirche zur Zeit (noch) der Fall ist, und zwar wesentlich deshalb, weil die katholische Kirche jene Selbstrelativierung aller Lehre und kirchlichen Gestalt auf ihren sie begründenden Gegenstand nicht vollziehen kann und will und diesen darum in den anderen Kirchen nicht als voll gegeben anerkennen kann.486 Somit wird nochmals deutlich, dass eine unterschiedliche, ja gegensätzliche Bewertung und Einschätzung des simul iustus et peccator nach evangelischem Verständnis, ähnlich wie eine Differenz in der Rechtfertigungslehre, niemals Kirchengemeinschaft aufheben bzw. ihre Erklärung verhindern kann und darf, es sei denn, man wollte die Formel dem »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums« zuordnen, das allein Kirchengemeinschaft begründet und sie zu erklären ermöglicht. Diese Einschätzung will die vorliegende Studie aber nicht vertreten, so sehr sie dazu einladen möchte, Luthers simul iustus et peccator in Theologie, kirchlicher Lehre, ökumenischem Dialog und nicht zuletzt in der Verkündigung weiterhin zu affirmieren.

Vgl. Herms, Glaubenseinheit I, 81; ders., Glaubenseinheit II, 570. Vgl. Herms, Glaubenseinheit I, 170–175, 197 ff.; ders., Glaubenseinheit II, 260 ff. 485 Dasselbe trifft natürlich erst recht für die Unterschiede der Kirchen in Liturgie, Frömmigkeit und Kirchenordnung zu (LK 28). 486 Die faktische Unmöglichkeit, gegenwärtig das »gemeinsame Verständnis des Evangeliums« zwischen den protestantischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche zu formulieren, schließt aber nicht aus, dass zwischen diesen Kirchen »das gemeinsame Verständnis des Evangeliums«, also Glaubens- und Kirchengemeinschaft schon von Gott her gegeben ist. Nach evangelischem Verständnis muss dies sogar angenommen werden, da auch in der katholischen Kirche sich die signa ecclesiae verae (Evangeliumsverkündigung, Taufe und Abendmahl) samt der ihnen beigegebenen göttlichen Verheißung finden und in ihr dadurch (trotz der lehrmäßigen und praktischen Bestreitung) die Unterscheidung ihrer selbst vom Grund und Gegenstand des Glaubens de facto vollzogen wird. Gleichwohl fehlt dieser schon bestehenden Kirchengemeinschaft ihre wechselseitige öffentliche Deklaration und Praxis. Diese hier vorgetragene Vermutung drückt sich evangelischerseits in der Einladung katholischer Christen zum evangelischen Abendmahl aus. In diesem Sinne verstehe ich auch Herms, Glaubenseinheit I, 38; ders., Glaubenseinheit II, 261 f., 571, 624 f. 483

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Anhang

Tabelle wichtiger simul-Stellen bei Luther

Im Folgenden führen wir in chronologischer Folge zentrale formelhafte Wendungen für das simul bei Luther auf, wobei wir Vollständigkeit nicht beanspruchen und die Grenze zwischen simul-Formel und simul-Gedanke oft fließend ist. Differenziert wird dabei nach zwei Gruppen: Formeln, in denen das Wort »simul« bzw. »zugleich« explizit vorkommt, wobei aber an die Stelle von iustus und peccator andere Äquivalente treten können; und Formeln, in denen das simul nicht ausdrücklich genannt wird (sog. Varianten). Wie unsere Untersuchung ergeben hat, ist mit der expliziten Erwähnung des simul bzw. »zugleich« (Formel und Varianten) nicht ein bestimmter Sinn der Formel (etwa total oder partial) präjudiziert. Darüber entscheidet der Kontext. Zu Beispielen einer Annäherung an die simul-Formel in der ersten Psalmenvorlesung (1513–15) siehe Teil I, Kap. 1.1.1, Anm. 1.

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Simul-Formeln

1. Simul sunt Iusti et Iniusti. (56,269,21 f.; vgl. 57 I,164,7 [1515–16]) 2. Qui [Deus] nos simul peccatores et non-peccatores habet. Simul manet peccatum et non manet. (56,270,10 f.; vgl. 57 I,164,17 f. [1515–16]) 3. Immo egrotus simul et sanus. (56,272,7 f.; vgl. 57 I,165,9 [1515–16]) 4. Simul peccator et iustus. (56,272,17; 57 I,165,12: Simul iustus et simul peccator. [1515– 16]) 5. Quasi [christianus] simul sit totus caro et totus spiritus. (56,345,1 f. [1515–16]) 6. Vnus et idem simul spiritualis sum et carnalis. (56,73,7 f.; vgl. 57 I,68,11 f. [1515–16]) 7. Vide, vt vnus et idem homo simul seruit legi Dei et legi peccati, simul Iustus est et peccat. (56,347,2 ff. [1515–16]) 8. Vide nunc, […], Quod simul Sancti, dum sunt Iusti, sunt peccatores. (56,347,8 f. [1515– 16]) 9. Sic idem homo simul est spiritus et caro. (56,350,27 [1515–16]) 10. Simul sunt iusti, dum quaerunt iustificari, et simul iniusti, quia quaerunt iustificari: sibiipsis et in veritate iniusti, deo autem hanc eorum fidem et petitionem misericordiae acceptanti iusti. Simul peccatores et simul sancti, peccatores scienter, sancti ignoranter, sive peccatores in re, sancti in spe, eo quod sciunt: Dum ipsi peccatum confitentur et petunt iustitiam, deus non imputabit eis amplius peccatum et propter quaesitam iustitiam et nondum apprehensam tamen peccatores non peccatores reputat. ›Mirabilis deus‹ [Ps 67,36a] nimis, cui simul sumus iusti et iniusti, simul peccatores et sancti […]; ubi simul manent in nobis peccatum et absentia iustitiae et tamen peccatum non est peccatum nec iniustitia. […] Igitur extrinseca iustitia iusti sumus,

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intrinseca autem iniustitia iniusti sumus; extrinsece sancti, intrinsece peccatores, viventibus et operantibus nobis iniusti, reputante autem solo deo iusti. Similiter de spe dicendum, quod simul desperamus, id est, sine spe sumus, et simul speramus, quia spem in spe quaerimus. (AWA 1,548,16–549,10 [1516–17]) 11. Ecce omnis sanctus orat pro impietate sua. Ideo enim ›sanctus‹, quia orat pro ea; ideo autem ›impius‹, quia sanctitatem postulat. Non enim postularet, si haberet. Et tamen habet, quia orat eam sibi dari et auferri impietatem; simul ergo sanctus et impius; sibi impius, deo pius; impietatem suam agnoscit, sed pietatem suam non agnoscit, quia deus eam solus novit, quia eam reputat ipsi. (AWA 1,549,21,16–550,3 [1516– 17]) 12. Muß war seyn das er [der Psalmist] sund hatt, als er sagt, unnd doch auch war, das er an sunde sey, und alßo gleich wie Christus tzu gleych lebendig und todt warhafftig was, alßo zu gleych mussten sie voll sunde und an sunde seynd, die recht christen seyn. (1,177,11–14 [1517]; vgl. 18,493,25–29 [1525]) 13. Ecce simul delectatur [Apostolus] et displicet in lege Dei, Simul vult bonum secundum spiritum, et tamen hoc non agit, sed contrarium. (1,367,18 f. [1518]) 14. Si iustus in gratia non potest facere bonum, quin simul peccat, quanto magis iniustus non facit bonum! (2,408,30 f. [1519]) 15. Idem unus homo Paulus, sanctus Apostolus, plenus gratia, simul delectatur in lege dei, simul repugnat legi dei, simul vult bonum secundum spiritum, non tamen agit propter carnem, sed contrarium: ergo peccat, dum bene facit. (2,412,14–17 [1519]) 16. Simul ergo iustus, simul peccator. (2,497,13 [1519]) 17. Omne actum bonum adhuc simul ex parte malum esse et peccatum. (2,584,36 [1519]) 18. Homo, inquantum spiritu ambulat, iustus et sanctus est ac non peccat, at inquantum desyideriis adhuc movetur, peccator est et carnalis; habet ergo peccatum in carne et peccat caro eius, ipse vero non peccat. Mira sententia: Idem homo simul peccat et non peccat. (2,592,13–16 [1519]) 19. Unde et in hoc prophetae spiritus docet, fideles Christi simul esse peccatores et sanctos, et condelectari servireque eos mente legi dei et carne legi peccati. Quantum enim credunt, tantum iusti sunt, quantum vero carnem habent, tantum peccatores sunt. (5,565,2–5 [1519–1521]) 20. Quomodo enim sunt mundi et simul immundi, ut purgari egeant, qui, nisi mundi essent, fructum non afferent? (7,107,16 ff. [1520]) 21. Si ergo omnis persona simul peccatrix est, dum iusta est, quid evidentius sequi potest quam ut opus quoque partim sit bonum, partim malum? (7,137,18 ff. [1520]) 22. Szo denn nu eyn frum mensch zu gleich ist rechtfertig des geistis halben und sundig des fleisches halben. (7,435,11 ff. [1521]) 23. Necessarium est simul eos esse iustos et tamen immundos. (8,67,14 [1521]) 24. Also teile ein Christen ynn zwey stück, das er zugleich gerecht und ungerecht ist. Der heilige geist wönet ym hertzen, aber nicht ym fleisch, da wönet der Teüffel mit seinem samen. (17 I,133,30 ff. [Dr]; vgl. 133,8–11 [Hs]: In hoc, quod spiritum sanctum accepit, sanctus est et non indiget lege. In hoc, quod adhuc est in carne, impugnat eum caro, der teufel hat noch sein fussstappen, ergo homo propter carnem est peccator, propter spiritum est spiritualis. [1525]) 25. Sic sumus peccatores et iusti simul, quia sumus in peccatis unser person halben, In unserm namen sind wir sunder, Sed Christus bringt ein andern namen, schenket uns die sunde. (37,34,36–39 [1533]) 26. Est quidem ecclesia sancta, tamen simul peccatrix est. (40 I,197,23 f. [Dr 1535]) 27. Sic homo Christianus simul iustus et peccator, Sanctus, prophanus, inimicus et filius

Tabelle wichtiger simul-Stellen bei Luther 705 Dei est. (40 I,368,26 f. [Dr 1535]; vgl. 40 I,368,8 f. [Hs 1531]: Sic Christianus simul peccator et Sanctus, inimicus et filius dei.) 28. Ista ex diametro pugnant, Christianum esse iustum et amari a Deo et tamen simul esse peccatorem. […] Quomodo igitur simul vera sunt ista duo contradictoria: Habeo peccatum et sum dignissimus ira et odio divino, et: Pater amat me? […] Sic Christianus manet in pura humilitate, sentiens re vera peccatum […]. Manet tamen simul et in pura et sancta superbia, qua sese vertit ad Christum. (40 I,371,33–372,22 [Dr 1535]; vgl. 40 I,371,12–372,4 [Hs 1531]: quae pugnant sicut aqua et ignis, quod sim malus, et deus amat me […]. Sic Christianus manet in pura humilitate et superbia) 29. Nam hoc verum est, quod reputatione divina sumus revera et totaliter iusti, etiamsi adhuc sit peccatum. […] Sic etiam revera sumus et totaliter peccatores, sed quod ad nos respiciendo et prima generatione, sed e contra quoad, quod Christus pro nobis datus est, sumus sancti et iusti totaliter, ita diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel. (39 I,563,13–564,7 [1538]) 30. Wie sind sie [die Apostel als gläubige Christen] zu gleich nicht rein und doch rein? […] Denn es ist jnen [Unchrist, Papist und Rottengeist] nicht möglich, die zwey zusamen reimen, das ein Christ solt zu gleich rein und unrein sein, Denn sie wissen und kennen die kraft Christi und seines worts nicht, wie wir umb seinen willen durchs wort gar rein gesprochen werden (wie er rein ist), ob wir wol an uns selbs noch imerdar unrein sind unser sundlichen natur halben. (45,653,40; 654,36–655,3 [1538])

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Varianten der simul-Formel

1. Ac sic partim sumus iusti et non toti. (56,260,23 [1515–16]) 2. Sancti Intrinsece sunt peccatores semper, ideo extrinsece Iustificantur semper. (56,268,27 f.; vgl. 57 I,163,15 f. [1515–16]) 3. Quia si solum reputante Deo sumus iusti, necessario ex nobis sumus iniusti. (57 I,164,1 f.; vgl. 56,268,31–269,4 [1515–16]) 4. Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputante Iusti; Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti, Ignoranter Iusti et Scienter inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe. (56,269,27–30; vgl. 57 I,164,11–15, bes. 14 f.: Peccatores secundum rem et iusti secundum spem. [1515–16]) 5. Ecce omnis sanctus est peccator et orat pro peccatis suis. Sic iustus in principio est accusator sui. (56,270,5 ff.; vgl. 57 I,164,16 [1515–16]) 6. Sic ergo in nobis sumus peccatores Et tamen reputante Deo Iusti per fidem. (56,271,29 f. [1515–16]) 7. Egrotus in rei veritate, Sed sanus ex certa promissione medici. (56,272,8 f.; vgl. 57 I,165,9 f.: Egrotus in rei veritate, sed sanus in spe promise sanitatis. [1515–16]) 8. Peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa. (56,272,17 f.; vgl. 57 I,165,12 f.: Peccator scil. re vera, sed iustus ex fide promissionis et spe implecionis. [1515–16]) 9. Ac per hoc sanus perfecte est in spe, In re autem peccator. (56,272,19 f. [1515–16]) 10. Eadem persona est spiritus et caro. (56,342,34 [1515–16]) 11. Idem homo est spiritualis et carnalis, Iustus et peccator, bonus et malus. (56,343,18 f. [1515–16]) 12. Qui sunt re vera egroti, Sed inchoatiue et in spe sani seu potius sanificati i. e. sani fientes. (56,347,12 f. [1515–16]) 13. Rei sumus et non rei. (56,351,13 [1515–16])

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14. Semper peccator, semper penitens, semper iustus […] Si ergo semper penitemus, semper peccatores sumus, et tamen eoipso et Iusti sumus ac Iustificamur, partim peccatores, partim Iusti i. e. nihil nisi penitentes. (56,442,17.20 ff.; vgl. 57 I,216,18: Semper peccator, semper penitens, semper iustus. [1515–16]) 15. Cum iusticia fidelium sit in Deo abscondita, peccatum eorum manifestum in seipsis […]. Ergo omnis sanctus conscienter est peccator, ignoranter vero iustus, peccator vero secundum rem, iustus secundum spem, peccator revera, iustus vero per imputationem Dei miserentis. (1,148,35 f.; 149,8 ff. [1516]) 16. Inde omnes sanctos dicit [Augustinus] adhuc ex parte esse carnales […], licet secundum interiorem hominem sint spirituales. (57 II,102,14 f. [1516–17]) 17. Nullum reputat [deus] iustum, nisi qui sit peccator […]. Mirabilia itaque, quod homo idem tunc iustus, quando peccat, tunc bonus, quando malus, tunc verax, quando mendax, tunc sapiens, quando insipiens. (AWA 1,502,23–503,3 [1516–17]) 18. ›Beati‹ enim, ›qui lugent, quoniam ipsi consolabuntur‹ (Mt,5,5), scilicet per spem in te, qui eos iustos reputas, qui nonnisi peccatores se esse confitentur. (AWA 1,551,17 ff. [1516–17]) 19. Ein iglicher ist aus im selber ein teufel, aber aus Christo heilig. (1,277,1 [1518]) 20. Utrunque verum est, Quia natus ex Deo non peccat et peccat. […] Peccat scilicet in opere eodem propter voluntatem carnis, Non peccat propter contrarium voluntatem spiritus. (1,369,6–10 [1518]) 21. Veri autem servi iusticiae sciunt et confitentur se totos esse peccatum, totumque suum bonum non intra se, sed extra se in deo et misericordia eius situm esse volunt. (1,427,31 ff. [1518]) 22. Et opera nostra talia sunt qualia eorum qui incipiunt sanari, sanati autem nondum sunt, quae patet quod sint partim egra, partim sana, multum ab his distantia quae sani perfecte faciunt. (2,413,34 ff. [1519]) 23. Cum totus homo sit spiritus et caro, tantum spiritus quantum diligit legem dei, tantum caro quantum odit legem dei. (2,415,8 ff. [1519]) 24. Vides ergo, omne opus bonum esse partim malum […]. Est ergo verissime peccator Iob, sicut vere confitetur: est etiam verissime iustus, sicut deus eum commendat: quomodo haec convenient, nisi quod revera peccator fuit, sed sola dei ignoscente misericordia iustus? (2,418,26.30–33 [1519]) 25. Impossibile est, ut peccet filius dei quicunque. Verum tamen iuxta est, quod peccat, sed quia ignoscitur ei, ideo vere etiam peccans non peccat, nisi Paulus non fuit renatus ex deo. [….] Sic confitentibus [deus] remittit et facit, ut peccatores non sint peccatores. […] Proinde diffinitio iusti in hac vita est haec: Iustus primo accusator sui. Ideo iustitia Christiana est accusatio sui. (2,420,23 ff.30–33 [1519]) 26. Peccator et non peccator, impletor et non impletor [Paulus] dictus est. (2,498,36 f. [1519]) 27. Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibiipsi pugnet contrariusque sit, vult et non vult. (2,586,16 ff.[1519]) 28. Omnes ergo sancti habent peccatum suntque peccatores, et nullus peccat; iusti sunt iuxta illud quod gratia in eis sanavit, peccatores iuxta quod adhuc sanandi sunt. (2,592,19 ff. [1519]) 29. Also klagt sankt Paul Ro: vii. und alle heyligen mit yhm, das sie suender seyn und sund yn yhrer natur haben, ob sie woll getaufft und heylig waren. (2,730,14 ff. [1519]) 30. Alßo vorstehstu wie eyn mensch unschuldig, reyn, an sund wirt yn der tauff, und doch bleybit voll vill poßer neygung, das er nit anderß reyn heyst, dan das er angefangen ist reyn tzu werden. (2,732,9 ff. [1519])

Tabelle wichtiger simul-Stellen bei Luther 707 31. Sein Kinder, und doch szunder, sein angenem, und thun doch nit genug. (6,216,9 f. [1520]) 32. Ipsi duo homines in eodem homine sibi pugnent, dum caro concupiscit adversus spiritum et spiritus adversus carnem. (7,50,11 f. [1520]) 33. Nos esse initium creaturae dei, nondum complementum, partim iusti, partim peccatores. (7,111,8 f. [1520]) 34. Er [Paulus] spricht klerlich, das sie fleysch und geyst unnd zweyerlei widderspenstige begirde odder lust yn yhn haben. (7,329,21 f. [1521]) 35. Und des geistes halben ist er [der Mensch] frum, des fleisches halben hat er sund. (7,333,1 f. [1521]) 36. Probavimus, hominem sanctum spiritu concupiscere adversus carnem et carne adversus spiritum, esse per haec duo cum Apostolo servum peccati secundum carnem et servum dei secundum mentem, ac per hoc persona ipsa iusti partim est iusta, partim peccatrix. Sic ergo omnis persona simul peccatrix est, dum iusta est, quid evidentius sequi potest quam ut opus quoque partim sit bonum, partim sit malum? (7,137,14–20 [1520]) 37. Und ist doch der gantz mensch selbs alles beydes, geyst und fleysch, der mit yhm selbs streyttet bis er gantz geistlich werde. (DB 7,22,11 f. [1522]) 38. Istum sanctum debeo vocare, quem video peccatorem [?]. […] Christianus propter verbum iudicandus est [sanctus], non propter vitam et opus. (15,508,20–23 [1524]) 39. Si inspicimus remissionem dico: non est peccatum. Si autem debet ausfeget werden, totus [homo] peccatum est sub schatten der gratiae et secundum hanc Christianus debet gerechnet werden. (15,727,10 ff. [1524]) 40. Christianus est peccator et non, est in celo et in terra, hin auff iuxta gratiam non est discrimen inter eum et angelum, Infra videtur ut alius miser. (15,728,19 ff. [1524]) 41. Sic Christianus ist ein gemengt mensch. (17 I,4,27 f. [1525]) 42. Ich teile mich aber selbs auch ynn zwey stueck, nemlich das fleisch und den alten Adam und den geist odder newen menschen. (17 I,114,36–115,14; vgl. 114,12 f. [Hs]: Divide teipsum in duo: 1. secundum Adam, 2. secundum spiritum. [1525]) 43. Also schleuessit er selb, das sie beide [Paulus und Timotheus], gerecht und ungerecht sey. (17 I,132,25 f. [Dr]; vgl. 132,9 f. [Hs]: Quia datur, ut vides hic, lex iustis, concludit Paulus, quod iusti sunt sancti et non sancti et legem habent et non. [1525]) 44. Der dreck bleibt ymmer neben dem glauben, das er sich damit schlage und ausfege, Weil nun solchs noch da ist, rechnet uns die schrift ynn dem stueck gleich den ungerechten und sündern. (17 I,133,16 f. [Dr; 1525]) 45. Das ist aber eyn Christ, der eyn sunder ist und erkent seyne sunde, verdreust yhn und ist yhm von hertzen wider, das er sunde noch fulet, Der ist keyn Christ, der gar keyn sunde hat noch fulet, findestu aber eynen solchen, der ist eyn wider Christ, keyn warer Christ. (17 I,297,32–298,13; vgl. 297,8–298,1 (Hs): Christianus est, qui peccator est et fatetur und ist im leyt. Qui non habet peccatum, est Antichristus. [1525]) 46. Mirum est cum christiano. Sanctus est et tamen peccator propter adam, quem adhuc secum portat. (19,515,32 f. [1525]) 47. Diffini Christianum hominem: est homo iustus, pius et sanctus, scil. spiritu beatus, filius dei. Sed carne adhuc habet peccatum et peccat et quotidie debet deo. […] Et sic etiam Christiani sunt peccatores sed secundum carnem. (20,630,8 ff.16 [1527]) 48. Conditio et status Christianorum admirabilis est. Nulla enim ratione comprehenditur, sed creditur, quod homo in peccatis conceptus peccet et non peccet. Peccat propter carnem, quam adhuc habet; non peccat propter spiritum Dei in se. (48,321,5–8 [1527]) 49. Christiana ergo iustitia est agnitio et sensus magnorum et multorum peccatorum, das

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wir in den sunden sticken bis uber die ohren et tamen nosse et apprehendere illam iustitiam, scilicet remissionem peccatorum. Ideo Christianus sol ein sünder sein et tamen iustus. Das ist ein seltzamer man. Si non est peccator, non acquirit remissionem peccatorum. Quomodo ista duo conveniunt? In te es certissime peccator. Nur frisch bekennet et dic: Ego sum peccator. Coram mundo mag ich from sein. Aber das unangesehen sum peccator propter articulum illum remissionis peccatorum. Ideo debeo esse peccator, sed talis cui peccata remissa sint. […] Sic Christiani peccatores quidam sunt, sed sciunt se habere remissionem peccatorum. Sic quamquam multa peccata vident et sentiunt, sehen sie doch uber sich coelum quod dicitur remissio peccatorum […]. Ideo peccata sollen servi sein quia misericordia Domini et remissio peccatorum regnat super nos contra peccata quae in conscientia volunt regnare. Das ist verus Christianus. (29,576,11–577,11 [Hs; nicht im Dr!] 1529]) 50. Denn itzt bleiben wir halb und halb reine und heilig, auf daß der heilig Geist immer an uns erbeite durch das Wort und täglich Vergebung austeile bis in jenes Leben, da nicht mehr Vergebung wird sein, sondern ganz und gar rein und heilige Menschen. (BSLK 659,7–13 [1529]) 51. Est autem pulchrum scire, quod iusti adhuc sint peccatores. In sunden stecken est periculosum, nicht darinnen stecken ist auch periculosum. (31 I,344,29 ff. [1530]) 52. Wir aber sollen wissen, das wir fur unser person als Adams kinder wol verdampte sünder sind und kein eigen gerechtigkeit noch heiligkeit haben, Aber weil wir getaufft sind und an Christum gleuben, so sind wir jnn Christo und mit Christo heilig und gerecht. (31 I,167,25–28 [1530]) 53. Christiana ecclesia ist heilig, sed incepit. Christiana ecclesia sol sagen: Ego sum in peccatis, peccatrix et tamen Sancta, quia credo, quod corpus et sanguis [Christi] pro me data est et quod semper duret ista remissio peccatorum, quia peccatum semper durat. (34 I,208,11–14 [1531]) 54. Non est homo in terris, qui sic peccator sit ut Christianus: plus sentit peccatorum quam ullus homo. Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia. Quomodo haec est sancta et peccatrix? Credit remissionem peccatorum et dicit: ›Debita dimitte.‹ Hoc nemo dicit, nisi qui sit sanctus. […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscunt peccata. (34 I,276,6–12 [1531]) 55. Auff uns [gesehen] haben wir nihil quam peccatum, In Christo eitel gnad. (34 I,308,11 f. [1531]) 56. Bin ich denn ja ein sunder, so bin ich doch ja kein sunder, Ein sunder bin ich jnn mir selbs ausser Christo, Kein sunder bin ich jnn Christo ausser mir selbs. (38,205,27 ff. [1533]) 57. Sic igitur Ecclesia quoque est pura, quanquam in se sit plena peccatis […] Ecclesia in se est impura quo ad veterem hominem, sed purificatur per screptum [Christi]. (40 II,532,30 f.33 f. [1533 Dr]) 58. Definimus ergo hunc esse Christianum, non qui non habet aut non sentit peccatum, sed cui illud a Deo propter Christum non imputatur. (40 I,235,15 ff. [Dr 1535]) 59. Paulus suam peculiarem phrasin habet, non humanam, sed divinam et coelestem […]. Est enim plane insolens et inaudita, Ut: ›Vivo‹, ›non vivo‹, ›mortuus sum‹, non mortuus sum; sum peccator, non sum peccator; habeo legem, non habeo legem. Sed ista phrasis vera est in Christo et per Christum. (40 I,285,8–15 [Dr 1535]) 60. Cum igitur me peccatorem sentio et fateor propter transgressionem Adae, cur non dicerem me iustum propter iustitiam Christi […]? (40 I,300,19 f. [Dr 1535]; vgl. 300,3 f. [Hs 1531]: Sic [peccatorem] ergo dico ›me‹, quando an Adam gedencke, – Sic [iustum], quando an Christum gedencke.)

Tabelle wichtiger simul-Stellen bei Luther 709 61. Quis consiliat illa summe pugnantia, Quod peccatum in nobis non sit peccans, quod damnabilis non sit damnandus, quod reiectus non sit reiiciendus, quod dignus ira et morte aeterna non sit daturus poenas? (40 I,373,13–16 [Dr 1535]) 62. Sic ergo Christianus divisus est in duo tempora. Quatenus est caro, sub lege est, quatenus Spiritus, sub Evangelio est. (40 I,526,21 f. [Dr 1535]; vgl. 526,2 f. [Hs 1531]: Ideo Christianus est divisus in 2 tempora: quatenus caro, est sub lege; quatenus spiritus, est sub Euangelio.) 63. Ideo quod ad nos attinet, partim liberi a lege partim sub lege sumus. (40 I,536,11 f. [Dr 1535] ; vgl. 535,18–536,2 [Hs 1531]: Si in me [specto], sum partim iustificatus, habeo primitias spiritus.) 64. Itaque si carnem spectemus, peccatores sumus, si Spiritum, iusti. Atque ita partim peccatores, partim iusti sumus. (40 II,86,13 ff. [Dr 1535]; vgl. 86,2–5 [Hs 1531]: Si ergo spectas carnem, sumus peccatores, Si spiritum, es iustus. Sic omnis Christianus peccator et iustus.) 65. Magnam igitur habent consolationem pii ex hanc doctrina Pauli, quod norint se partim carnem partim Spiritum habere, Sic tamen, ut Spiritus dominetur, Caro subiecta sit, iustitica regnet, peccatum serviat. (40 II,93,19 ff. [Dr 1535]; vgl. 93,1–3 [Hs 1531]: Consolatio est scire, se esse partim carnem partim spiritum, tamen sic, ut spiritus dominetur, caro sit subiecta, Iustitia regnet, peccatum serviat, Ut Christianus sit maximus et potentissimus, ut peccatum damnet.) 66. Si sum peccator in me, in Christo non sum peccator, qui nobis factus est iusticia, sed sum iustus et iustificatus per iustum et iustificantem Christum. (40 II,327,31 ff. [Dr 1535]) 67. Ergo utrunque verum est, Quod nullus Christianus habet peccatum et Quod omnis Christianus habet peccatum. (40 II,352,24 f. [Dr 1535]; vgl. 352,8 f. [Hs 1531]: Nullus Christianus habet peccatum et omnis habet peccatum.) 68. Ergo David iustus et iustificatus adhuc habet peccatum et pro parte adhuc est inius­ tus. (40 II,357,19 f. [Dr 1535]; vgl. 357,3 ff. [Hs 1531]: Quem nullum peccatum accusat, terret, contristat, Ille est immundus propter peccatum, ergo Christianus habet vere peccatum mundandum et purgandum.) 69. Ergo secundum hanc puritatem, quam spiritu et fide habemus ex Christo et Sacramentis ab eo institutis, recte dicitur Christianus purior nive, imo purior sole et stellis […]. Quodsi Christianus intuearis seclusa Christi iustitia et puritate, qualis in se sit, etiam cum est sanctissimus, tum invenies non solum mundiciem nullam, sed diabolicam […] nigredinem. (40 II,407,25–34 [Dr 1535]; vgl. 407,10–408,2 [Hs 1531]: Etiam si non sim formaliter purus, tamen consecutus baptismum, verbum purissimum, sanguinem Christi, et Christus est purissimus. Et sic vocor albior nive, non propter formam sed Christum […]. Si soli, sumus diaboli.) 70. Itaque iustificati et habentes remissionem peccatorum, sunt peccatores, quia conqueruntur se non posse hoc agere, quod volunt. (43,308,35 f. [1535–1545]) 71. Sic nos quoque rei et debitores sumus quotidie et quanquam iusti sumus, tamen manent debita. […] Sumus quidem iusti et declarati filii regni, Sed peccatum originis manet adhuc rebellans in nobis. (44,490,33–491,2 [1535–1545]) 72. Iustus autem est, qui licet sit peccator, tamen si credit in filium Dei et accipit absolutionem a peccatis per ministerium verbi, baptizatus est et sacramento altaris participavit, vere absolutus et iustus est. (44,517,26 ff. [1535–1545]) 73. Ideo et peccator est adhuc, quisquis iustificatur, et tamen velut plene et perfecte iustus reputatur, ignoscente et miserente Deo. (39 I,83,18 f. [1536])

710

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74. Dei misericordia sit super credentes et iustos peccatores, qui Christum mediatorem apprehendunt. (39 I,222,26 f. [1537]) 75. Sic utrumque est in nobis, peccatum et iustitia, non tamen in eodem gradu, sed diverso. (39 I,376,9 f. [1537]) 76. Ideo Sanctorum peccatum non est peccatum, quia deus non vult imputare. Sic habent peccatum i. e. stickt in in, quod vere peccatum, sed quia umbraculum credunt Christum, qui peccatum non habet, non habent peccatum. Si vero soli inspiciuntur, sunt peccatores. Sed sub Christo non possunt peccare, donec retineant umbraculum. […] Sic Christianus homo sine peccatis propter fidem in Mediatorem. Sic peccator et sanctus: peccator, quia caro pugnat contra me. (46,127,12–17.33 ff. [1538]) 77. Quia tota ecclesia sancta est et agnoscit sese peccatum habere et perpetuo poenitentiam agendam esse. (39 I,351,19 f. [1538]) 78. Verum vos scitis nos esse quidem iustos, puros, sanctos, esse etiam peccatores, iniustos et damnatos. Sed diverso respectu sumus enim iusti, quod ad reputationem seu misericordiam Dei in Christo promissam, seu propter Christum, in quem credimus, et qui in hunc credit, non peccat, imo non potest peccare, ut ait Ioannes, sed secundum formam aut substantiam, seu secundum nos, sumus peccatores, iniusti et damnati, quia certe nihil est in tota natura hominis, quod opponi possit iudicio Dei. […] Est itaque verum, quod Ecclesia sit pura et peccatum sublatum, sed tu vide, ut recte distinguas: Quoad Christum sumus tales [sc. iusti], sed quoad nos luctamur perpetuo cum diabolo et carne et omnis generis vitiis et malis. (39 I,492,19–493,2; 493,14–17 [1538]) 79. Christianus est gemellus, est partim triumphans, partim militans. […] Inquantum Christianus non est peccator, quia ex deo natus est. […] Quomodo conciliantur peccatum et remissum et tamen orat pro peccato? Ubi sum Christianus, ibi sanctus, sed ubi homo et filius Adae, peccator sum, ideo clamo: Sursum in Christo est victoria, deorsum in Adam non est pax aut quies, sed pugna et militia. (39 I,504,24 f.; 506,22 f.; 507,22–508,19 [1538]) 80. Reim da, wer reimen kan. Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis. […] Ita, in quantum christianus, eatenus enim sum sanctus et pius et Christi, sed quatenus respicio ad me et peccatum meum, sum miser et peccator maximus. Ita in Christo non est peccatum et in carne nostra non est pax et quies, sed pugna perpetua, dum hic vetus Adam atque haec corrupta natura manet, et quae non nisi eadem morte aboletur. (39 I,508,1–9 [1538]) 81. Ut Ecclesia sancta sit, et tamen non sancta, aliquis sit iustus, et tamen non sit iustus, beatus alius et non beatus. Et hoc bene notandum est: Etsi id rationi, quae ubique in rebus et operibus Dei vult sapere, non probatur, duo contraria esse in uno et eodemque subiecto. Sed tamen reipsa sic est et sic in hoc regno et scriptura sic loquitur, ut Psalmus: Beati, quorum remissae sunt iniquitates. Hic est sanctus et beatus, statimque subiicit: Pro hoc orabit ad te omnis sanctus. Hic vides peccatorem. Item videre est Ro. 7. Sanctus es et ora pro iniquitate. Reime du es zusammen. (39 I,515,3–11 [1538]) 82. Haec autem ut contraria sunt, tamen reconciliata in christiano sunt, quod idem christianus sit sanctus et peccator, mortuus et vivus; omne peccatum et nullum peccatum, infernus et coelum sunt correlativa. Ita christianus manet in carne per synecdochen, ne dominetur peccatum. (39 I,523,4–8 [1538]) 83. Lex promiscue docenda est tam piis, quam impiis, quia pii partim iusti sunt, partim peccatores. Et quantenus iusti sunt, non sunt sub lege et sunt arguendi, donec reliquias peccatorum mortificaverint. […] christianus sit vere Thomista vel gemellus, partim sanctus, partim peccator, manent interea lex, peccata et mors. (39 I,542,6 f.18 f. [1538])

Tabelle wichtiger simul-Stellen bei Luther 711 84. Quoad Christum, dominum nostrum et remissionem peccatorum in Christo sumus vere sancti, mundi et iusti, ut vel ipse Gabriel in coelis, per fidem, et vere constituti in coelestibus cum Christo. Verum quod ad me et carnem meam, sum peccator. (39 I,552,13–553,3 [1538]) 85. Certissimum est, nos esse partim iustos, partim peccatores, quia nobiscum circumferimus carnem patris nostri Adae peccato originis infectam, in quo concepti et nati sumus […]. Iusti autem, quia certum est, nos baptizatos esse in sanguine Christi et receptos a patre in gratiam propter Christum, in quem credimus, hic prorsus sancti et iusti sumus imputative, quia non imputatur nobis peccatum. (39 I,562,10–13; 562,15–563,1 [1538]) 86. Lieber Gott, kann man denn nicht leiden, das die heilige Kirche sich für eine sünderin erkennet, gleubt vergebung der sünden, bittet dazu im Vater unser umb vergebung der sunden? (50,473,4 ff. [1539]) 87. Gott hilff, du lieber Herr und Heiland, das wir frome sunder bleiben, und nicht heilige lesterer werden. (50,431,30 ff. [1539]) 88. In praedicamento relationis est peccatum hinweg et per remissionem peccatorum. Non in praedicamento qualitatis i. e. stickt dir in der haut, fulest, quod geneigt ad omnia peccata. (49,95,33 ff. [1540]) 89. Christianus est dupliciter considerandus, in praedicamento relationis et qualitatis. Si consideratur in relatione, tam sanctus est, quam angelus, id est, imputatione per Christum […]. Sed Christianus consideratus in qualitate est plenus peccato. (39 II,141,1–6 [1540]) 90. Christen sind Gerecht und doch sünder. (DB 7,9,23 [1545])

Literaturverzeichnis

Vorbemerkung: Die Werke Luthers werden nach WA mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl zitiert, Briefe, Tischreden und die Deutsche Bibel zusätzlich mit den Kürzeln Br, Tr und DB. Alle Lutherzitate können mit Hilfe des Verzeichnisses seiner Werke (s. u.) dem betreffenden Werk und seiner Entstehungszeit zugeordnet werden. Bei Briefen und Tischreden wird das Entstehungsdatum dem Zitat selbst beigefügt. Sekundärliteratur wird (soweit möglich) nach dem ersten Substantiv bzw. Eigennamen des Titels angeführt. Hervorhebungen in Quellentexten stammen sämtlich vom Verfasser dieser Studie, Hervorhebungen in sonstigen Zitaten, die nicht original sind, werden mit Hv. gekennzeichnet.

1

Quellen

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Literaturverzeichnis 713 Ders.: Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787), Kants Werke [Akademie-Textausgabe], Bd. 3, Berlin 1968. Luther, Martin: Dass der freie Wille nichts sei, übers. von B. Jordahn (Mü3Erg 1), München 2 1962. Ders.: Der Galaterbrief. Vorlesung von 1531. Studienausgabe, hrsg. und übers. von H. Kleinknecht, Göttingen 21987. Ders.: Der 51. Psalm. Ein Grundkurs des christlichen Glaubens, übers. von H. Kleinknecht, München 1983. Ders.: Disputationen in den Jahren 1535–1545 an der Universität Wittenberg gehalten, hrsg. von P. Drews, Göttingen 1895. Ders.: Erklärungen zum Brief des hl. Paulus an die Galater, übers. und bearb. von Th. Beer, Weilheim-Bierbronnen 1998. Ders.: Geistliche Lieder und Kirchengesänge, hrsg. von M. Jenny, Köln/Wien 1985 (= AWA 4). Ders.: Kommentar zum Galaterbrief 1519, übers. von I. Mann (= Calw 10), Gütersloh 21979. Ders.: Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bde 1–3, hrsg. von W. Härle, J. Schilling, G. Wartenberg und M. Beyer, Leipzig 2006–2009. Ders.: Operationes in Psalmos 1519–1521, Teil I (Historisch-theologische Einleitung); Teil II (Psalm 1–10 Vulgata), hrsg. von G. Hammer und M. Biersack, Köln/Wien 1991 und 1981 (= AWA 1–2). Ders.: Studienausgabe, hrsg. von Hans-Ulrich Delius, Bde 1–6, Berlin bzw. Leipzig 1979– 1999. Ders.: Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, Bd. 1 (Glosse); Bd. 2 (Scholien), hrsg. von J. Ficker, Leipzig 41930. Ders.: Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, übers. von E. Ellwein (Mü3Erg 2), 41957. Ders.: Werke in Auswahl, Bde 1–8, hrsg. von O. Clemen u. a., Berlin 1959 ff. Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. (= WA), mit den Abteilungen: Schriften (ohne besondere Bezeichnung), Tischreden (= Tr), Briefe (= Br) und Deutsche Bibel (= DB), Sonderedition Weimar 2000–2007. Melanchthon, Philipp: Disputatio Philippi Melanchthonis, cum Doctore Martino Luthero. Anno 1536, in: Ders.: Epistolae, iudicia, consilia, testimonia aliorumque ad eum epistolae quae in Corpore Reformatorum desiderantur, ed. H.E. Bindseil, Halle a. d. S. 1874 (Nachdruck Hildesheim 1975), 344–348. Ders.: Loci Communes 1521. Lateinisch-Deutsch, übers. von H.G. Pöhlmann, Gütersloh 1993. Ders.: Werke in Auswahl, Bde II/1–2, Loci communes 1521. Loci praecipui theologici 1559, hrsg. von H. Engelland, Gütersloh 1952–1953. Meyer, Conrad Ferdinand: Huttens letzte Tage (1871), Wiesbaden 1950. Möhler, Johann Adam: Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen den Katholiken und Protestanten. Eine Verteidigung meiner Symbolik gegen die Kritik des Herrn Professors Dr. Baur in Tübingen, Mainz/Wien 21835. Ders.: Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften (11831), hrsg. von J.R. Geiselmann, Darmstadt, 2 Bde., 1958, 1961. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae. Editio tertia, 2 Bde, Grottaferrata (Romae) 1971 und 1981 (Sent.). Scheel, Otto (Hrsg.): Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), Tübingen 21929. Schiller, Friedrich: Das Mädchen von Orleans, in: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 1, Darmstadt 81987, 460. Schleiermacher, Friedrich: Über die Freiheit, in: Ders: Jugendschriften 1787–1796 (KGA I/1), Berlin/New York 1984, 217–356.

714

Anhang

Thomas von Aquin: Summa Theologiae, 5 Bde, Madrid 4 bzw. 31963–1985 (STh). Vaticanum II: Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium« (1964), in: LThK2 Bd. 12, 156–347. Dass.: Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio« (1964), in: LThK2 Bd. 13, 40–123.

2 Die zitierten Werke Luthers im Einzelnen (in der Abfolge der WA-Bände, ohne Briefe und Tischreden)1

WA 1

30–37 Predigt über Mt 23,34 (26. Dez. 1514 oder 1515) 37–43 Predigt über Sir 15,1 (27. Dez. 1514) 79–81 Predigt über Lk 9,46 und 22,24 (24. Aug. 1516) 85–87 Predigt über Mt 9,12 (21. Sept. 1516) 104–106 Predigt über Mt 11,5 und Jes 61,1 (7. Dez. 1516) 138–141 Predigt über Mt 11,25 (24. Febr. 1517) 145–151 Disputationsthesen für Bartholomäus Bernhardi: Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (1516) 158–220 Die sieben Bußpsalmen (1517) 224–228 Disputatio contra scholasticam theologiam (4. Sept. 1517) 233–238 Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (31. Okt. 1517) 267–277 Zwei deutsche Fastenpredigten: über Joh 9,1–38 (17. März 1518); über Joh 11,1–45 (19. März 1518) 319–324 Sermo de poenitentia (1518) 353–374 Disputatio Heidelbergae habita (25. April 1518) 398–521 Decem praecepta Wittenbergensi predicata populo (1518) 525–628 Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) 647–686 Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio (1518)



WA 2

43–47 Sermo de triplici iustitia (1519) 59–65 Eine kurze Unterweisung, wie man beichten soll (1519) 145–152 Sermo de duplici iustitia (1519 oder 1518) 158–161 Disputatio et excusatio F. M. Lutheri adversus criminationes D. Ioh. Eccii (1519) 391–435 Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis (1519) 443–618 In epistolam Pauli ad Galatas M. Lutheri commentarius (Kleiner Galater­ kommentar; 1519) 685–697 Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) 727–737 Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (1519)

Das folgende Verzeichnis wurde erstellt mit Hilfe von K. Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium, Bielefeld 19964, und O. H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Darmstadt 19852, XXI-XXXIX. 1

Literaturverzeichnis 715



WA 3

11–652 Dictata super psalterium (Erste Psalmenvorlesung; 1513–1515)



WA 4

1–462 Dictata super psalterium (Erste Psalmenvorlesung; 1513–1515; Forts.) 625–627 Predigt über Lk 11,27 (8. Dez. 1517 ?) 629–633 Predigt über Lk 1,13 (24. Juni 1518 ?) 659–666 Predigt über Sir 15,1 (27. Dez.1514; vgl. WA 1,37–43) 690–694 Predigt über 1. Mose 2,25 (? vor 1520)



WA 5

19–673 Operationes in Psalmos (Zweite Psalmenvorlesung; nur Pss 1–21 [22]; 1519–1521)



WA 6

88–98 Resolutio disputationis de fide infusa et acquisita (1520) 202–276 Von den guten Werken (1520) 285–324 Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520) 497–573 De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) 597–612 Adversus execrabilem Antichristi Bullam (1520) 614–629 Wider die Bulle des Endchrists (1520)



WA 7

20–38 Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) 42–73 Epistola Lutheriana ad Leonem Decimum summum pontificem. Tractatus de libertate christiana (1520) 94–151 Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520) 204–229 Eine kurze Form der 10 Gebote, D.M. Luther. Eine kurze Form des Glaubens. Eine kurze Form des Vaterunsers (1520) 230–231 Quaestio, utrum opera faciant ad iustificationem (1520) 308–457 Grund und Ursach aller Artikel D. M. Luthers, so durch die römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1520) [466–537 Enarrationes epistolarum et evangeliorum, quas postillas vocant D.M. Lutheri (Lateinische Adventspostille 1521)] 500–511 Postille über Mt 11,2 ff. (3. Advent) 544–604 Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521) 621–688 Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers zu Leipzig Antwort (1521)



WA 8

43–128 Rationis Latomianae pro incendariis Lovaniensis scholae sophisticis redditae, Lutheriana confutatio (1520) 340–397 Evangelium von den zehn Aussätzigen verdeutscht und ausgelegt (über Lk 17,11–19; 1521) 573–669 De votis monasticis Martini Lutheri iudicium (1521)

716



Anhang

WA 9

29–94 Randbemerkungen zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (1510–1511)



WA 10 I/1

[1–728 Weihnachtspostille (1522)] 8–18 Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522) 18–58 Postille über Tit 2,11–15, 24. Dez. 58–95 Postille über Lk 2,1–14, Christmette 95–128 Postille über Tit 3,4–7, Christmette (früh) 142–180 Postille über Hebr 1,1–12, am Christtag 180–247 Postille über Joh 1,1–14, Hohe Christmette, 25. Dez. 270–289 Postille über Mt 23,34–39, Stephani 324–378 Postille über Gal 4,1–7, Sonntag nach Weihnachten 449–503 Postille über Gal 3,23–29, Neujahrstag 504–519 Postille über Lk 2,21, Neujahrstag 519–555 Postille über Jes 60,1–6, Epiphanias



WA 10 I/2

[1– 208 Adventspostille (1522)] 21–62 Postille über Mt 21,1–9, 1. Advent 147–170 Postille über Mt 11,2–10, 3. Advent [209–441 Roths Sommerpostille (1526)] 293–306 Postille über Joh 3,1–15, Trinitatis (= Predigt am 15. Juni 1522)



WA 10 II

275–304 Vom ehelichen Leben (1522)



WA 10 III

273–292 Ein Sermon am nächsten Sonntag nach Mariae Himmelfahrt Lk 16,1 ff. (273– 282: 1. Fassung). Ein Sermon vom ungerechten Mammon (283–292: 2. Fassung; 17. Aug. 1522)



WA 11

87–91 Predigt über Lk 24,36 ff. (7. April 1523)



WA 14

97–488 Predigten über das erste Buch Mose (22. März 1523 bis 18. Sept. 1524)



WA 15

27–53 An die Rathherren aller Städte deutschen Lands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524) 506–509 Predigt über Joh 13,4 ff. (24. März 1524) 481–506 Ein Sermon von der Beichte und dem Sakrament. Item vom Brauch und Bekenntnis christlicher Freiheit (über Mt 4,1 ff.; 14. Febr. 1524) 529–533 Predigt über Lk 24,36 ff. (29. März 1524) 724–734 Predigt über Mt 18,23 ff. (23. Okt. 1524)



WA 16

1–646 Predigten über das 2. Buch Mose (1524–1527)

Literaturverzeichnis 717



WA 17 I

1–4 Predigt über Lk 2,21 (1. Jan. 1525) 102–134 Sermon von der Hauptsumme Gottes Gebots, dazu vom Missbrauch und rechten Gebrauch des Gesetzes (über 1.Tim 1,3–2,7; 17.18.24.27. März 1525; Druck 1526) 284–317 Predigt über Lk 1,67 ff. (24. Juni 1525)



WA 17 II

[5–247 Fastenpostille (1525)] 5–15 Postille über Röm 12,1 ff., 1. Sonntag nach Epiphanias 60–71 Postille über Joh 2,1 ff., 2. Sonntag nach Epiphanias 88–104 Postille über Röm 13,8 ff., 4. Sonntag nach Epiphanias 178–186 Postille über 2.Kor 6,1 ff., 1. Fastensonntag 205–213 Postille über Eph 5,1–10, 3. Fastensonntag [251–516 Roths Festpostille (1527)] 289–289 Postille über Lk 11,27 f. (1517?)



WA 18

62–214 Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525) 384–401 Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern (1525) 479–530 Die sieben Bußpsalmen (1525; zweite Bearbeitung von 1,158–220) 600–787 De servo arbitrio (1525)



WA 19

72–113 Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts (1526) 185–251 Der Prophet Jona ausgelegt (1526) 482–523 Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister (28., 29. März 1526)



WA 20

306–311 Predigt über Joh 13,1 ff. (30. März 1526) 599–801 Vorlesung über den 1. Johannesbrief (19. Aug. bis 7. Nov. 1527)



WA 21

197–551 [Crucigers Sommerpostille (1544)] 242–264 Postille über Lk 24,36 ff.



WA 23

64–283 Dass diese Worte Christi (Das ist mein Leib etc.) noch feststehen wider die Schwarmgeister (1527)



WA 24

1–710 Über das 1. Buch Mose. Predigten M. Luthers samt einem Unterricht, wie Moses zu lehren ist (1527)



WA 25

87–401 Vorlesung über Jesaja (1527–1529)

718



Anhang

WA 26

4–120 Vorlesung über den 1. Timotheusbrief (13. Jan. bis 30. März 1528) 144–174 Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn. Ein Brief Martin Luthers (1528) 261–509 Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528)



WA 28

[4–30 Wochenpredigten über Mt 11–15 (1528/29)] 10–20 Von der Sünde wider den Heiligen Geist (Predigt über Mt 12,31 f.; zwischen 10. Juni und 9. Dez. 1528; Druck 1529) [43–481 Wochenpredigten über Joh 16–20 (1528/29)] 178–186 Predigt über Joh. 17,20 f. (17. Okt. 1528) 268–276 Predigt über Joh 18,15 ff. (19. Dez. 1528)



WA 29

564–582 Ein Sermon von christlicher Gerechtigkeit oder Vergebung der Sünden (über Mt 9,1 ff.; 5. Okt. 1529; Druck 1530)



WA 30 II

657–676 Rhapsodia seu concepta in librum de loco iustificationis (1530)



WA 30 III

574–582 Der Segen, so man nach der Messe spricht über das Volk (1532)



WA 31 I

43–182 Das schöne Confitemini, an der Zahl der 118. Psalm (1530) 223–257 Der 117. Psalm ausgelegt (1530) 263–383 Auslegung der ersten 25 Psalmen auf der Coburg (1530)



WA 31 II

586–769 Vorlesung über das Hohelied (1530–1531)



WA 32

299–544 Das fünfte, sechste und siebente Kapitel Matthäi gepredigt und ausgelegt (Wochenpredigten über Mt 5–7; 1530–1532; Druck 1532)



WA 34 I

200–211 Predigt über die Passionsgeschichte (6. April 1531) 271–277 Predigt über die Ostergeschichte (9. April 1531) 301–310 Predigt über Lk 24,36 ff. (11. April 1531) 469–476 Predigt »Über die christliche Gerechtigkeit« (28. Mai 1531)



WA 36

8–42 Wie das Gesetz und Evangelium recht gründlich zu unterscheiden sind. Predigt über Gal. 3,23–29 (1. Jan. 1532) 352–375 Summa des christlichen Lebens, aus S. Paulo. 1.Tim 1 [5–7] neulich gepredigt durch D.M. Luther; 24. Nov. 1532; Druck 1533) [416–477 Etliche schöne Predigten aus der ersten Epistel S. Johannes. Von der Liebe (über 1.Joh 4,16–18; 9.16.30. Juni und 21. und 28. Juli 1532; Druck 1533)] 442–454 Predigt über 1.Joh 4,17 (30. Juni 1532)

Literaturverzeichnis 719 454–463 Predigt über 1.Joh 4,17 (21. Juli 1532) 463–477 Predigt über 1.Joh 4,18 (28. Juli 1532)



WA 37

32–35 Predigt über Lk 24,36 ff. (15. April 1533) 217–221 Predigt über Mt 1,1 ff. (19. Dez. 1533) 414–419 Predigt über Joh 3,1 ff. (31. Mai 1534)



WA 38

185–256 Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533) 447–667 Annotationes in aliquot Capitula Matthaei (1538)



WA 39 I

44–62 Propositiones disputatae Wittembergae pro doctoratu D. Hieron. Weller et M. Nik. Medler (11. und 14. Sept. 1535) 64–75 Disputation über Daniel 4,24 (16. Okt. 1535) 82–126 Disputatio de iustificatione (14. Jan. oder 10. Okt. 1536) 128–133 De illo loco Lucae 7 [47]: dimittuntur peccata multa … Disputatio D. M. Lutheri (1535; Jan. 1536 [?]) 175–180 Disputatio de homine (14. Jan. 1536) 202–257 Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann (1. Juni 1537) 256–333 Zirkulardisputation de veste nuptiali (15. Juni 1537) 342–358 Thesen gegen die Antinomer (1537–1540; 342–345: Artikel der Antinomer) 360–417 Die erste Disputation gegen die Antinomer (18. Dez. 1537) 419–485 Die zweite Disputation gegen die Antinomer (12. Jan. 1538) 489–584 Die dritte Disputation gegen die Antinomer (Promotionsdisputation des Cyriacus Gerichius; 6. Sept. 1538)



WA 39 II

3–33 Disputation de sententia: Verbum caro factum est (Joh 1,14; 11. Jan. 1539) 93–121 Disputation de divinitate et humanitate Christi (28. Febr. 1540) 124–144 Promotionsdisputation von Joachim Mörlin (10. Sept. 1540) 146–184 Promotionsdisputation von Johannes Macchabäus Scotus (die Thesen von Melanchthon, nicht von Luther; 3. Febr. 1542) 187–203 Promotionsdisputation von Heinrich Schmedenstede (7. Juli 1542) 206–232 Promotionsdisputation von Johann Marbach (die Thesen von Melanchthon, nicht von Luther; 16. Febr. 1543) 235–251 Promotionsdisputation von Hieronymus Nopp und Friedrich Bachhofen (24. April 1543) 260–283 Promotionsdisputation von Theodor Fabricius (die Thesen von Melanchthon, nicht von Luther; 23. Mai 1544) 287–336 Promotionsdisputation von Georg Maior und Johannes Faber (die Thesen von Melanchthon, nicht von Luther; 12. Dez. 1544) 339–401 Promotionsdisputation von Petrus Hegemon (3. Juli 1545)



WA 40 I

15–688 In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius, ex praelectione D. M. Lutheri col­ lectus (Großer Galaterkommentar; 1535; nach Luthers Vorlesung 1531)



720



Anhang

WA 40 II

1–184 In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius, ex praelectione D. M. Lutheri collectus (Großer Galaterkommentar; 1535; nach Luthers Vorlesung 1531; Forts.) 315–470 Enarratio psalmi LI (1532; Druck 1538) 472–610 Praelectio D. M. Lutheri in psalmum 45 (1532; Druck 1533–1534)



WA 40 III

[9–475 In quindecim psalmos graduum commentarii … (15. Nov. 1532 bis 27. Okt. 1533; Druck 1540)] 335–376 Enarratio psalmi CXXX (1538) 484–594 Enarratio psalmi XC per D. M Lutherum in schola Wittenbergensi anno 1534 publice absoluta (26. Okt bis 31. Mai 1535; Druck 1541) 685–746 Enarratio 53. capitis Esaiae prophetae ex praelectionibus D.M. Lutheri summa fide et diligentia collecta per Georgum Rorarium, anno 1544 (1550)



WA 41

647–650 Predigt über Lk 7,36 ff. (30. Juli 1536) 680–684 Predigt über Gal 5,17 ff. (24. Sept. 1536)



WA 42

1–673 Genesis-Vorlesung (3. Juni 1535 bis 17. Nov. 1545; erschienen in vier Teilen 1544– 1554)



WA 43

1–695 Genesis-Vorlesung (3. Juni 1535 bis 17. Nov. 1545; erschienen in vier Teilen 1544– 1554; Forts.)



WA 44

1–825 Genesis-Vorlesung (3. Juni 1535 bis 17. Nov. 1545; erschienen in vier Teilen 1544– 1554, Forts.)



WA 45

194–199 Predigt über Phil 1,3 ff. (28. Okt. 1537) 465–733 Das 14. und 15. Kapitel S. Johannes durch D. M. Luther gepredigt und ausgelegt (1537; Druck 1538)



WA 46

1–111 Das 16. Kapitel S. Johannes gepredigt und ausgelegt (1538) 113–119 Predigt über Gal 3,25 ff. (1. Jan. 1538) 124–128 Predigt über Gal 3,25 ff. (4. Jan. 1538) 194–201 Predigt »Von der Taufe« (3. März 1538)



WA 47

659–666 Predigt über Lk 2,22 ff. (2. Febr. 1539)



WA 48

314–323 In primam epistolam Iohannis scholia (1527)

Literaturverzeichnis 721 WA 49 92–97 Predigt über Mt 27,62 ff. (27. März 1540) 525–534 Predigt über Röm 8,12 ff. (3. Aug. 1544)



WA 50

395–431 Wider den Bischof zu Magdeburg, Albrecht Kardinal (1539) 468–477 Wider die Antinomer (1539) 509–653 Von den Konziliis und Kirchen (1539)



WA 51

173–187 Predigt über Mt 13,24 ff. (7. Febr. 1546) 469–572 Wider Hans Worst (1541)



WA 52

[1–839 Hauspostille D. M. Luthers (1544; nach Veith Dietrich)] 521–529 Predigt über Mt 18,21 ff. (22. Sonntag nach Trinitatis)



WA 54

28–100 Von den letzten Worten Davids (1543) 179–187 Vorrede Luthers zum ersten Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545)



WA 56

3–528 Vorlesung über den Römerbrief (Nov. 1515 bis Sept. 1516; 3–154: Glossen; 157–528: Scholien)



WA 57 I

5–232 Vorlesung über den Römerbrief. Nachschriften (Nov. 1515 bis Sept. 1516; 5–127: Glossen; 131–232: Scholien)



WA 57 II

5–108 Die erste Vorlesung über den Galaterbrief (27. Okt. 1516 bis 13. März 1517; 5–49: Glossen; 53–108: Scholien)



57 III

5–238 Die Vorlesung über den Hebräerbrief (ca. 21. April 1517 bis 26. März 1518; 5–91: Glossen; 97–238: Scholien)



WADB 7

2–27 Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer (1522/1546)



AWA 1

485–558 Das Vatikanische Fragment. Psalm 4 und 5 (1516 [/17?])



AWA 2

4–648: Operationes in Psalmos (Pss 1–10 [Vulgata], 1519–1521)



AWA 4

149–152 Das sind sie heilgen Zehn Gebot (1524) 188–192 Aus tiefer Not schrei ich zu dir (1524)

722

Anhang

BSLK 407–468 Artikel christlicher Lehre (= Schmalkaldische Artikel; Manuskript Dez. 1536; Druck 1538) 501–527 Der kleine Katechismus für die gemeine Pfarrherrn und Prediger (1529) 535–541 Das Taufbüchlein verdeutschet und aufs neu zugericht (1526) 545–733 Der große Katechismus (1529)

3

Sonstige Literatur

Aland, Kurt: Der Weg zur Reformation. Zeitpunkt und Charakter des reformatorischen Erlebnisses Martin Luthers, München 1965. Ders.: Hilfsbuch zum Lutherstudium, Bielefeld 41996. Althaus, Paul: Adolf Schlatters Verhältnis zur Theologie Luthers; in: Ders.: Um die Wahrheit des Evangeliums. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart 1962, 145–157. Ders.: Die Bekehrung in reformatorischer und pietistischer Sicht, in: Ders.: Um die Wahrheit des Evangeliums, a. a. O., 224–247. Ders.: Die lutherische Rechtfertigungslehre und ihre heutigen Kritiker, Berlin 1951 (entspricht: Ders.: Die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott. Zu der heutigen Kritik an Luthers Rechtfertigungslehre, in: Das Menschenbild im Licht des Evangeliums [FS Emil Brunner], Zürich 1950, 31–47). Ders.: Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben in Thesen Martin Luthers, LuJ 27 (1961), 30–51. Ders.: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 71994. Ders.: Paulus und Luther über den Menschen (1938), Gütersloh 41963. Ders., Zum Verständnis der Rechtfertigung, in: Ders.: Theologische Aufsätze Bd. 2, Gütersloh 1935, 31–44. Antwort der Katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre (25.06.1998), Texte aus der VELK 87 (1999), 26–29. Anz, Wilhelm: Zur Exegese von Römer 7 bei Bultmann, Luther, Augustin, in: C. Andresen/G. Klein (Hrsg.): Theologia crucis – signum crucis (FS Erich Dinkler), Tübingen 1979, 1–15. Assel, Heinrich: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance, Göttingen 1994. Axt-Piscalar, Christine: Taufe – Sünde – Buße bei Luther und in den Lutherischen Bekenntnisschriften, in: Th. Schneider/G. Wenz (Hrsg.): Gerecht und Sünder zugleich? Dialog der Kirchen. Veröffentlichungen des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen Bd. 11, Freiburg i. Br./Göttingen 2001, 168–184. Bainton, Roland: Martin Luther, hrsg. von B. Lohse, Göttingen 71980. Balthasar, Hans Urs von: Casta Meretrix, in: Ders.: Sponsa Verbi. Skizzen zur Theologie Bd. 2, Einsiedeln 31971, 203–305. Ders.: Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie (1951), Einsiedeln 41976. Barth, Hans-Martin: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen 1967. Ders.: Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. Ders.: »Pecca fortiter, sed fortius fide …«. Martin Luther als Seelsorger, EvTh 44 (1984), 12–25. Barth, Karl: Der Römerbrief (1922), Zürich 121978.

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724

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Anhang

Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschicht­ lichen Anthropologie, München 41978. Wendebourg, Dorothea: Die GOF – ein Pyrrhussieg der Lutheraner, epd-Dok 43/1999, 41–42. Dies.: Zur Entstehungsgeschichte der »Gemeinsamen Erklärung«, ZThK Beiheft 10 (1998): Zur Rechtfertigungslehre, 140–206. Wengst, Klaus: Der erste, zweite und dritte Brief des Johannes, Gütersloh/Würzburg 2 1990. Wenz, Gunther: Damnamus. Die Verwerfungssätze in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche als Problem des ökumenischen Dialogs zwischen der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche, in: K. Lehmann (Hrsg.): Lehrverurteilungen kirchentrennend? Bd. 2, Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, Freiburg i. Br./Göttingen 1989, 68–127. Ders.: Das in sich Verkehrte. Luthers Sündenlehre in der Tradition augustinischer Hamartiologie, in: Ders.: Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation Bd. 2, Hannover 2002, 39–70. Ders.: Einführung in die evangelische Sakramentenlehre, Darmstadt 1988. Ders.: Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre? Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Einheitsrates aus evangelischer Sicht, epd-Dok 46/1997, 39–48. Ders.: Quod non dilectio, sed fides iustificet: Zum bekenntnistheologischen Kontext von Luthers These, dass der Christ gerecht und Sünder zugleich sei, in: Th. Schneider/ G. Wenz (Hrsg.): Gerecht und Sünder zugleich? Dialog der Kirchen. Veröffentlichungen des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen Bd. 11, Freiburg i. Br./Göttingen 2001, 185–226. Ders.: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde, Berlin/New York 1996–1998. Wernle, Paul: Der Christ und die Sünde bei Paulus, Freiburg i. Br./Leipzig 1897. Ders.: Rezension »Windisch, Hans: Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes«, ThLZ 34 (1909), 586–590. Wicks, Jared: Living and praying as simul iustus et peccator. A chapter in Luther’s spiritual teaching, in: Ders.: Luther’s Reform. Studies on Conversion and the Church, Mainz 1992, 59–83. Wilckens, Ulrich: Der Brief an die Römer Bd. 2 (Röm 6–11), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1980. Ders.: Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GE) und ihre biblische Grundlage, in: Th. Söding (Hrsg.): Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? Das biblische Fundament der »Gemeinsamen Erklärung« von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund, Freiburg i. Br. 1999, 27–63. Ders.: Kann es einen Grundkonsens zwischen Katholiken und Lutheranern geben? Vorschläge zur Überwindung der Gegensätze in der »Gemeinsamen Erklärung«, Zeitwende 69 (1998), 193–206. Ders.: »Simul iustus et peccator« in 1 Joh 1,5–2,2, in: Th. Schneider/G. Wenz (Hrsg.): Gerecht und Sünder zugleich? Dialog der Kirchen. Veröffentlichungen des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen Bd. 11, Freiburg i. Br./Göt­tin­gen 2001, 82–91. Windisch, Hans: Das Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924), 265–281.

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Personenregister

Agricola, Johann 374 f., 406, 458 Aland, Kurt 129, 241, 714 Althaus, Paul 75–77, 79, 81 f., 108, 110, 169–172, 174, 189, 191, 206, 208 f., 224 f., 292, 296 f., 300, 302, 306, 312, 367, 392, 408, 425, 427 ff., 431 f., 434, 439, 449, 466, 468, 475 f., 478, 484, 534 f., 538, 540, 548, 554, 559, 561 f., 564, 566 f., 572, 587 ff., 592, 600, 602 f., 611, 684, 690 Anselm von Canterbury 128, 439 Anz, Wilhelm 297 f., 301 Aristoteles 114 Assel, Heinrich 69 f. Augustinus, auch Augustin 19 f., 25, 33, 51, 72, 75, 78, 84, 91, 10 f., 103 f., 106, 122–128, 166, 172, 182, 185, 190–204, 211, 232, 245, 257, 271, 284, 290, 296, 300 f., 303–306, 308, 316 f., 345, 356, 414, 421, 446 f., 452 f., 487, 529, 530, 534, 536–539, 558 ff., 563 f., 597, 616, 641, 650, 672, 706 Aurifaber, Johannes 202, 615 Axt-Piscalar, Christine 205, 208, 210, 211, 214, 216 f., 221, 232, 236 Bainton, Roland 507 Balthasar, Hans Urs von 36 ff., 46, 630 Barbel, Joseph 124, 194, 196 Barth, Hans-Martin 93, 478, 657, 662, 684 Barth, Karl 36, 79, 550 Batka, Lubomir 119 f., 124, 128, 130, 237, 239, 244, 439, 449 f., 686 Baur, Jörg 66 f.

Bausenhart, Guido 61 Bayer, Oswald 94, 118, 134 ff., 208, 214–217, 221, 241, 252, 346, 356, 495, 683 Becker, Jürgen 603 Beintker, Horst 144, 507 Beißer, Friedrich 22, 533 Betz, Hans Dieter 598 f. Beutel, Albrecht 66 Beyschlag, Karlman 194 f., 197 Biel, Gabriel 128, 439 Bizer, Ernst 108, 111, 121, 134– 137 Bonaventura 440 Bonhoeffer, Dietrich 15, 662 Bornkamm, Günther 602 Bornkamm, Heinrich 269, 325, 338, 344, 348 Bornkamm, Karin 138, 140, 141, 144 f., 152 f., 155, 159, 163, 293, 343, 373, 412 f., 415, 667 Borse, Udo 602 Brand, Gabriel 300, 439, 659, 723 Brandt, Reinhard 635 Braun, Wilhelm 103, 121, 123 f., 126 f., 130, 199, 440 Brecht, Martin 127, 374, 507 Brenz, Johannes 203 Bring, Ragnar 202, 405 f., 428, 434 f. Brisger, Eberhard 684 Brunner, Peter 25, 209 Brunstäd, Friedrich 228, 234 Brush, Jack E. 129, 237, 239, 241, 244 f., 251 Bühler, Paul 165, 167, 362, 507 Bultmann, Rudolf 530, 535, 537, 551 f., 556 f., 571, 584, 593, 602, 620 f., 623 f., 626 f. Byskov, Martha 602 Calvin, Johannes 405, 433 Cassidy, Edward 59 ff., 65, 640

Christe, Wilhelm 241, 249, 257, 465, 659 Cranfield, Charles E. B. 538– 542, 546 ff. Dalferth, Ingo U. 57 f., 692 Delius, Hans-Ulrich 123, 125, 192 Denifle, Heinrich 32–35, 70, 121, 124 f., 129 f., 686 Dieter, Theodor 58, 103, 113 f., 117, 123, 257, 263 f., 314, 384 ff., 448, 450, 463, 470, 502, 651, 691 Dinkler, Erich 124, 126, 194, 296 Dörries, Hermann 192, 199 Drecoll, Volker Henning 194 Dunn, James J. G. 538–542, 544–548 Duns Skotus, Johannes 439 f. Ebeling, Gerhard 92 f., 113, 151, 168–171, 173, 174, 177, 328, 341, 343, 345, 347, 348, 371, 380, 381, 403, 405 f., 413, 418, 423, 439, 441 ff., 445, 450, 454, 459, 463, 477 f., 503, 506 f., 549, 655 f., 679, 684, 691, 696 Eck, Johannes 440 Eichholz, Georg 605–608 Eisenhuth, Heinz Erich 376, 378 Elert, Werner 225, 366, 368 f., 405 ff., 428 f., 648, 667 f., 677 Ellwein, Eduard 119, 277, 284, 296 f., 315, 528, 558 Fagerberg, Holsten 228 f., 234, 236 Fendt, Leonhard 508 Ferel, Martin 208, 220 Finkenzeller, Josef 440 Floghaus, Reinhard 63 f.

744

Anhang

Florin, Mario 241, 243 Frank, Franz H. R. 498 Führer, Werner 228, 234, 439, 452, 457 Gaugler, Ernst 620, 624 Gebhardt, Rüdiger 138, 153 ff., 199, 343, 346 ff., 350, 353 ff., 674 Goethe, Johann Wolfgang von 522 Goldhahn-Müller, Ingrid 623 f., 626 Gottschick, Johannes 554, 566, 569, 579 ff., 589 Gräb-Schmidt, Elisabeth 5, 644 Grane, Leif 22, 111, 124 f., 192 f., 199, 210, 225, 228 f., 232, 234, 296, 529, 656 Gregor der Große 127, 262, 564 Gregor von Rimini 440 Greschat, Martin 97, 138, 141 f., 146, 160, 163, 169, 172, 176, 182 f., 189 f., 200–203 Grönvik, Lorenz 205 f., 209, 216 f., 220 Grosche, Robert 35 ff., 83 Gross, Julius 124 f., 440 Grundmann, Walter 111, 121, 296, 317, 565, 606, 608 f. Gyllenkrok, Axel 107 f., 110, 112, 115, 117, 135, 314, 325 Haacker, Klaus 534 Haar, Johann 469, 474 Hägglund, Bengt 328, 355 Haikola, Lauri 228, 231, 236, 241, 337 f., 381, 402, 406, 425, 433 ff. Härle, Wilfried 5, 54, 58, 62 ff., 66, 109, 152, 161, 168 ff., 173 f., 183, 188, 199, 262, 338, 471, 499–502, 505, 527, 557, 568, 647, 674, 690 Hauschild, Wolf-Dieter 69, 71, 90 Hausmann, Nikolaus 16, 506 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 458 Heidler, Fritz 313 Heimsoeth, Heinz 564 Heintze, Gerhard 375, 430, 613

Hengel, Martin 606, 610 f. Hermann, Rudolf 35, 47, 69–75, 82 ff., 94, 97, 113, 115 f., 122, 126, 228, 248, 266, 268 f., 284, 286, 297, 301, 303, 312 f., 317, 319, 325, 453, 469 f., 474, 509, 520, 559, 560, 637–640, 646, 650 Herms, Eilert 690 f., 695–699 Hirsch, Emanuel 324, 338, 355 Hof, Otto 209, 272, 397, 425, 461, 665 Hofius, Otfried 532, 535 f., 551 ff., 599 ff., 603 Holl, Karl 70, 103, 109 f., 117, 120 f., 136, 171 f., 202, 278 f., 290, 462, 474, 476, 524, 564 Holm, Bo Kristian 343 Honecker, Martin 94 Horn, Christoph 194 Hübner, Hans 108, 111, 119 f., 296, 299, 527, 563, 572, 573, 594 Hus, Jan 678 Iammarrone, Giovanni 47–52, 85, 635, 637 f., 642 f. Ihmels, Ludwig 562, 592, 729 Iserloh, Erwin 24, 266, 270, 280, 421 Iwand, Hans Joachim 71, 109, 120, 123, 132, 151, 153, 276, 334, 431, 454, 478, 505, 640, 643, 652 Jedin, Hubert 51 Jetter, Werner 123, 128 f., 215, 276 Joest, Wilfried 79–82, 97, 105, 108, 110, 113, 116, 118, 130 ff., 135, 151, 261 f., 264 f., 312, 321, 328 f., 331, 337 ff., 341 f., 346, 359, 370, 385 f., 408 f., 412, 418, 422 ff., 426– 429, 434, 469 f., 472 f., 475, 477 f., 502 f., 508 f., 513, 549, 556 f., 640, 642, 646, 655 f., 664 ff., 674 Johann von Paltz 25 Jonas, Hans 296, 300 Josuttis, Manfred 375, 428 Julian von Eclanum 25, 125

Jüngel, Eberhard 46 f., 56, 60, 67 f., 340, 343, 345 f., 348, 355 f., 490, 502, 614, 630, 640 ff., 654, 656, 660 f., 664, 668–674, 676 f. Kaftan, Julius 644–647 Kant, Immanuel 647, 667 Karrer, Martin 549 Käsemann, Ernst 531 f., 534 f., 552 f. Kasten, Horst 130 Keilus, Jörg 138, 142, 154, 159, 363, 367, 373 f., 417, 430 Keuck, Werner 535 Kierkegaard, Sören 340 Kinder, Ernst 439, 446, 457 f., 649 Kirjavainen, Heikki 505, 508 Kjeldgaard-Pederson, Steffen 228, 231, 374 Klaiber, Walter 526, 553, 559 Klauck, Hans-Josef 618, 620– 627 Kleffmann, Tom 439, 442 f. Korsch, Dietrich 343, 358 Kösters, Reinhard 35, 47, 56, 82–85, 635, 637, 638, 640, 643, 651 Kraus, Hans-Joachim 526 Kroeger, Matthias 104, 119, 129, 135, 137 f., 177, 199 f., 263, 449 f., 470 Kühl, Ernst 540 Kümmel, Werner Georg 75, 296, 305, 530–533, 536, 537, 539, 547, 549, 558, 570, 599, 618 Küng, Hans 38 Kuss, Otto 528, 546 Landmesser, Christof 527 Latomus, Jacobus 71, 89, 91, 97, 122, 255, 260, 265 f., 270, 271, 273, 275, 279 ff., 283 f., 295, 305–311, 319, 326, 336, 392, 444, 453, 462, 496, 511 Lehmann, Karl 61 Leo X. 19 Leppin, Volker 228 f. Lichtenberger, Hermann 77, 296, 316, 528, 530, 532, 535, 553, 599, 601 f., 604

Personenregister 745 Liedke, Ulf 343, 346, 352, 356 Lienhard, Marc 138, 159, 495 Link, Wilhelm 77–79, 90, 105, 112, 137, 248, 478 Lietzmann, Hans 534, 539, 547, 549 Loewenich, Walther von 51, 187, 194 f., 197, 199, 280, 564 Lohmeyer, Ernst 606, 608 f. Lohse, Bernhard 106, 192 f., 195 f., 199, 439, 442, 466, 487, 503 f., 564, 684 Lohse, Eduard 358, 534 f. Loofs, Friedrich 70, 130, 194, 196 f., 274 Luck, Ulrich 608 f. Lührmann, Dieter 598 Lunellus, Vincentius 24 Lüpke, Johannes von 66 Luz, Ulrich 605–609, 611 Mannermaa, Tuomo 138, 145, 152 f., 155, 157, 159 f., 291, 332, 474, 655 Manns, Peter 160–164 Marcuse, Herbert 352, 356 Markschies, Christoph 25, 124–127, 197 Matthias, Walter 266, 268 ff., 272, 277 Maurer, Ernstpeter 53 Maurer, Wilhelm 343 f., 355, 500 McCue, James F. 565 Melanchthon, Philipp 16, 19 f., 22, 97, 142, 146, 176, 182, 185, 201–204, 271, 405, 432 f., 440, 502, 506, 616 f., 640, 662 Metz, Johann Baptist 43 f., 84, 635 f., 640, 651 Meuser, Wilhelm 42 Meyer, Conrad Ferdinand 93 Meyer, Hans Philipp 405 f., 422, 434, 470, 498 Meyer, Harding 630 Miggelbrink, Ralf 44–47, 61, 507, 630, 634, 636, 646, 648, 660 Modalsli, Ole 292, 367, 417, 427, 468, 474 Möhler, Johann Adam 28–32, 633

Möller, Christian 660 Mühlen, Karl-Heinz zur 105, 117, 120, 123, 128, 145, 161, 266, 280, 313, 323, 328, 331, 337 f., 341, 343–346, 348, 350, 355 f., 503 f., 674 Mußner, Franz 599 ff. Nilsson, Kjell Ove 86–88, 92, 95, 481, 483, 494 f., 500 Noko, Ishmael 61 Nygren, Anders 136, 194 f., 197, 447, 478, 533, 538–548 Oberman, Heiko A. 510, 571 Oechslen, Rainer 549, 560, 564, 693 Oepke, Albrecht 602 Pannenberg, Wolfhart 126, 644, 645, 647–649, 651, 657 Pelagius 194 Pesch, Otto Hermann 27, 28, 42, 48, 68, 89-91, 98, 101, 107, 110, 121, 126, 171, 174, 177 f., 199, 205, 246, 248, 264, 425, 439 f., 457, 463 f., 470, 477, 482, 508, 615, 631, 634 f., 637, 641, 656, 658, 686, 694, 714 Peters, Albrecht 121, 134, 136, 209, 226, 260, 292, 294, 313, 334, 342, 403, 408, 429, 446 f., 458, 460, 466, 475, 561, 564 f. Petrus Lombardus 127 f., 192, 440 Peura, Simo 106, 112, 118, 139, 153, 160, 162, 264, 277 f., 291, 655 Pfleiderer, Georg 445, 484 Pfnür, Vinzenz 22, 441 Pinomaa, Lennart 103, 116, 135, 220, 242, 287, 363, 367, 369, 384, 391, 397, 406, 454, 474, 504, 507 Pöhlmann, Horst Georg 20, 24–28, 41, 248 f., 276, 444, 508, 634 Prenter, Regin 174, 263, 266 f., 269, 272, 274, 277, 281, 283, 294, 312, 466, 474, 480, 485

Rad, Gerhard von 665 Rahner, Karl 38–43, 45, 83 f., 630, 635, 651 Räisänen, Heikki 537, 552, 555 Ratzinger, Josef 65 ff., 641, 671, 694 Reventlow, Henning Graf 526 Rieger, Reinhold 300, 343, 344, 346, 352 f., 659 Rieske-Braun, Uwe 159 Ringleben, Joachim 63, 166, 343, 347, 350 Ritschl, Albrecht 574, 621, 628 f., 644 Ritschl, Otto 70, 128, 198 f., 228, 231 f., 241, 274, 406, 433 f. Rogge, Joachim 266, 286 Rohde, Joachim 600 f. Rolf, Sibylle 103 f., 109, 111, 136, 145, 151, 153, 176, 199 f., 461, 655, 674–680 Rörer, Georg 97, 138, 156, 237 Saarinen, Risto 127, 257, 259, 262 f., 301, 343, 564, 661 Sanders, Ed P. 609, 654 Sattler, Dorothea 53 Sauser, Ekkart 196 Scharbau, Friedrich-Otto 53, 60, 462, 659 f., 692 Scheel, Otto 568 Schiller, Friedrich 16 Schlatter, Adolf 75, 554, 567, 588, 653 f. Schlatter, Theodor 588–592, 598 Schleiermacher, Friedrich 67, 643 Schlier, Heinrich 532, 552 f., 599 ff. Schlink, Edmund 224, 248 Schloemann, Martin 364, 375, 378, 423, 426 Schloenbach, Manfred 266, 268, 270, 272, 275 ff., 342, 466, 469, 471–474, 480–483, 485 f. Schmaus, Michael 38, 634 ff. Schmithals, Walter 552 f. Schnackenburg, Rudolf 623, 627 Schnelle, Udo 547, 595, 619 ff., 623 ff., 627 Scholz, Hermann 574 ff.

746

Anhang

Schott, Erdmann 92, 325 ff., 337 ff., 358, 368 Schrage, Wolfgang 549, 571, 579 Schulken, Christian 373, 375, 378, 391 f., 418, 422, 428, 430, 435 f., 458, 611 Schweizer, Eduard 601, 607 f. Seeberg, Erich 288, 426 Seeberg, Reinhold 124, 126, 157, 194–197, 228 f., 288– 291, 376, 449, 474 Seils, Martin 151 ff., 219, 276, 287, 359, 459 f., 678 Seripando, Gerolamo 24, 26, 51 Siirala, Aarne 427 Slenczka, Notger 66 f. Söding, Thomas 535, 553, 555, 559, 596, 603 f. Sommerlath, Ernst 208, 210, 213, 217, 219 Spalatin, Georg 16, 271, 282, 451, 506, 513, 662 Sparn, Walter 374, 436 Spenlein, Georg 271, 514, 655, 662 Spinoza, Baruch de 643 Steiger, Anselm 495 Stendhal, Krister 565

Stoeckle, Bernhard 635 Stolle, Volker 165, 214, 224, 527, 549, 562, 596, 599, 681, 683–696 Strecker, Christian 654 Strecker, Georg 605–609, 611, 620–624, 626, 629 Stuhlmacher, Peter 532, 534, 548 f., 552, 558, 592 Süß, Theobald 241 Theißen, Gerd 531 f., 537, 550, 553, 602 Theobald, Michael 552 ff., 602 Thomas von Aquin 48, 78, 440 f., 463, 464, 507, 633 f., 650, 694 Track, Joachim 56, 59 ff., 64, 91, 641, 646 Umbach, Helmut 336, 592–595 Vergote, Antoine 659 Vielhauer, Philipp 618, 625 Vind, Anna 266, 276 Vouga, Francois 598, 625 Wallmann, Johannes 53 Walter, Nikolaus 570 Walter, Peter 24 ff.

Walther, Wilhelm 151, 276, 278 Watson, Philipp 451, 474 f. Weber, Otto 318, 497 Weizsäcker, Carl Friedrich von 611 Wendebourg, Dorothea 53 f., 56 f., 62, 66, 636 Wengst, Klaus 618–624, 626 ff. Wenz, Gunther 22, 58, 204, 206, 408, 439, 451, 649, 694 Wernle, Paul 562, 568 ff., 575– 584, 593 Wicks, Jared 232, 343 Wilckens, Ulrich 61, 528, 550, 555, 561, 563, 565, 599, 615, 618, 620 f., 628 f. Wilhelm von Ockham 101, 128, 131, 199, 439 Windisch, Hans 579, 581–587, 593, 624 f. Wöhle, Andreas H. 414, 436 Wolf, Ernst 474, 683 Wolff, Christian 681 Wulf, Friedrich 46 Zahn, Theodor 529, 535, 540, 601 Zak, Lubomir 478 Zschoch, Hellmut 255, 265

Gabriel Brand Leben in Differenz Luthers Verständnis der Sünde im Kontext von Moral und Kultur

520 Seiten | Paperback ISBN 978-3-374-03218-1 EUR 78,00 [D]

Die Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt beim Begriff der Differenz als einem Grundmerkmal humaner Existenz. Der Titel »Leben in Differenz« verweist darauf, dass sich menschliches Leben herausgefordert sieht, die ins Bewusstsein dringende Differenz des eigenen Lebensvollzugs so zu verantworten, dass das Leben mit Aussicht auf Gelingen geführt werden kann. Zur Deutung dieses humanen Selbstverständnisses folgt die Arbeit vornehmlich der Sündenlehre Martin Luthers als daseinshermeneutischem Konzept. Darüber hinaus fragt sie nach der subjekttheoretischen Relevanz des Differenzproblems bei Immanuel Kant und bringt die systematischen Problemstellungen mit der kulturgeschichtlichen und -anthropologischen Forschung des Sozialphilosophen Charles Taylor in Verbindung.

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Sibylle Rolf Zum Herzen sprechen Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Kosequenzen für die Predigt des Evangeliums Arbeiten zur Systematischen Theologie (ASTh) | 1 432 Seiten | Hardcover | 15,5 x 23 cm ISBN 978-3-374-02597-8 EUR 48,00 [D]

Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie Martin Luther den zentralen Aspekt der Zu- oder Anrechnung innerhalb seiner Rechtfertigungslehre versteht und wie er imputative Rechtfertigung predigt. Im Rückgriff auf zentrale Texte aus Luthers akademischem Wirken werden drei Aspekte der imputatio herausgearbeitet: 1. die Zurechnung des Glaubens, 2. die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi und 3. die Nicht-Zurechnung der Sünde. Den theoretischen Verständnishintergrund für die Analyse von Luthers Rechtfertigungspredigt bilden die Sprechakttheorie (J. Austin), die Semiotik (Charles S. Peirce) sowie die Rhetorik mit dem Rekurs auf die Affektenlehre. Dabei versucht die Studie, Luthers Verständnis von imputatio in einem kommunikativen, relationalen und prozessualen Deutungsrahmen zu interpretieren und für gegenwärtiges Sprechen über Rechtfertigung fruchtbar zu machen.

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Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Der Mensch vor Gott Herausgegeben von Wilfried Härle, Johannes Schilling, Günther Wartenberg † unter der Mitarbeit von Michael Beyer Band 1 720 Seiten | Hardcover | 14 x 21 cm ISBN 978-3-374-02239-7 EUR 38,00 [D]

Mit Band 1 der zweisprachigen Studienausgabe startet die dreibändige Edition der Hauptschriften Martin Luthers. Sämtliche Übersetzungen wurden neu angefertigt und ermöglichen es vor allem Studierenden, den Reformator mit Hilfe zuverlässiger und verständlicher Übersetzungen zu lesen und gleichzeitig die Übersetzungen anhand der Ursprache zu überprüfen.

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Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Christusglaube und Rechtfertigung Herausgegeben und eingeleitet von Johannes Schilling Band 2 560 Seiten | Hardcover | 14 x 21 cm ISBN 978-3-374-02240-3 EUR 38,00 [D]

Der zweite Band der Lateinisch-Deutschen Studienausgabe versammelt Texte Luthers zum Thema »Christusglaube und Rechtfertigung«. Er steht in der Mitte der dreibändigen Ausgabe – so wie Jesus Christus die Mitte des christlichen Glaubens ist und die Erfahrung der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den gnädigen Gott die Mitte der Theologie Martin Luthers bildet. Der Band enthält insgesamt 17 Texte, die sich beinahe über die gesamte Zeit Luthers Wirkens erstrecken, beginnend mit dem berühmtesten: die »95 Thesen« vom Oktober 1517. Erstmals aus dem Lateinischen ins Deutsche zurückübersetzt ist der »Tractatus de libertate christiana« samt dem lateinischen Brief an Papst Leo X. An den zahlreichen Disputationsthesen wird erkennbar, wie Luthers Neuinterpretation des christlichen Glaubens durch die Wittenberger Universitätstheologie Gestalt gewann.

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Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Die Kirche und ihre Ämter Herausgegeben von Günther Wartenberg † und Michael Beyer mit einer Einleitung von Wilfried Härle Band 3 800 Seiten | Hardcover | 14 x 21 cm ISBN 978-3-374-02241-0 EUR 38,00 [D]

Der dritte Band der Lateinisch-Deutschen Studienausgabe Martin Luthers bietet insgesamt acht Texte zum Thema »Die Kirche und ihre Ämter«. Im Zentrum stehen die beiden aufeinander bezogenen, aber selten im Zusammenhang edierten Schriften: »De captivitate Babylonica ecclesiae, praeludium« (1520) und »Ad librum ... Ambrosii Catharini … responsio Lutheri« (1521). Die Vollmacht kirchlicher Ämter einschließlich des Papsttums wird in Zusammenhang mit der Konzilsfrage u. a. erörtert in: »Sermo de virtute excommunicationis«(1518) und »Disputatio de potestate concilii« (1536). Als Grundtext für das evangelische Verständnis von Amt und Gemeinde ist »De instituendis ministris ecclesiae« (1523) aufgenommen. Als Beispiel für Luthers engagiert-polemisches Eintreten für die Kirche beenden den Band seine Thesen »Contra XXXII articulos Lovaniensium theologistarum« (1545).

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Eberhard Winkler Freiheit und Verantwortung Warum Luther aktuell

296 Seiten | Hardcover | 12 x 19 cm ISBN 978-3-374-03125-2 EUR 18,80 [D]

Der praktische Theologe Eberhard Winkler lässt den Reformator aus den Quellen heraus zu Wort kommen und zeigt in bestem allgemeinverständlichen Stil, wie frappierend aktuell Luther oft ist. Wer Antworten auf die folgenden Fragen sucht, sollte zu diesem Buch greifen: Wie kann Luthers »Freiheit eines Christenmenschen« in einer pluralistischen Gesellschaft verantwortliches Handeln fördern? Ist der Teufel nur eine Vorstellung des Mittelalters? Inwiefern ist die Bibel die Grundlage unseres Glaubens? Wie sind Kirche und Gemeinde bei Luther zu verstehen und heute zu gestalten?

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