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German Pages 208 [224] Year 1939
Photo : Cantili R u f , Z ü r i c h 1919
GEORG K E R S C H EN S T E I N E R Der Lebensweg eines Sdbulreformers VON
MARIE
KERSCHENSTEINER
MIT 8 TAFELN
MÜNCHEN-BERLIN VERLAG
1939
R.OLDENBOURG
Drudc von R. Oldenbourg, Mûnchen Printed in Germany
Bildung
ist niemals
sondern
stets
statisch,
dynamisch.
Georg Kersdiensteiner, Theorie der Bildungsorganisation, S. 19
Vorwort. Diese Blätter erheben nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Biographie zu sein. Sie wollen nur den Pfad beleuchten, den ein Mensch ging, der ein Sämann auf dem Acker der Menschenbildung gewesen ist. Die Persönlichkeit wollen sie aufstehen lassen, die in dem Erzieher, schöpferischen Schulrat und Wissenschaftler steckte. Das Werk selbst zu zeichnen, dafür gibt es Berufenere als mich. Aber ich glaube den M e n s ch e n Georg Kerschensteiner, dessen Wesenskern in großen wie in kleinsten Dingen, in der täglichen Berührung, sich immer wieder neu ankündigte, kannte ich besser. Wenigstens hat mir diese Überzeugung den Mut gegeben niederzuschreiben, was in diesem Buche steht. Ich habe nicht nur aus persönlichem Erinnern, sondern aus allerlei Quellen geschöpft: Aus alten Dokumenten, aus weit zurückliegenden und aus neueren Briefschaften, aus den Schultagebüchern und Konferenzarbeiten des ehemaligen Schulgehilfen, aus Reisetagebüchern, aus Reichstagsberichten, aus Zeitungsartikeln, aus dem dichterischen und wissenschaftlichen Nachlaß. Auch mündlich überliefertes durch alte Familienangehörige, frühere Kommilitonen, Schüler, junge und alte Freunde, nicht zuletzt meine Fahrten an jene Orte, an denen mein Mann in der Jugend gewirkt hat, haben mir den Stoff gegeben. Ich habe all das Verstreute gesammelt, auch das anekdotenhaft Kleinste, sofern es geeignet schien, dem Gesamtbilde einen charakteristischen Zug hinzuzufügen. Auch habe ich mich möglichster Objektivität beflissen. Oft beim Schreiben war mir, als sähe des Unbestechlichen kritischer Blick mir über die Schulter, da, wo die Liebe vielleicht hätte versucht sein mögen, zu viel leuchtende Farbe auf
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die Palette zu nehmen. Er hätte nicht erlaubt, daß man sein Bild retuschiert. So schicke ich diese Blätter hinaus, den Freunden zum Gedenken, den für seine Ideen Eroberten zur Bekräftigung, den Ringenden zum Beweis, daß nicht was an Gütern von außen an den Menschen herankommt, daß allein die Kraft und der Reichtum einer Seele zu den Höhen des Menschseins emporführt. München, im Oktober 1939. Dr. phil. Marie K e r s c h e n s t e i n e r .
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Inhaltsangabe Seite
Vorwort
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Vorfahren
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Eltern und Kindheit
19
Der Seminarist
34
Der Sdiulgehilfe
41
Studienzeit
58
Der Gymnasialassistent in Nürnberg
88
Der Gymnasiallehrer am Gustav-Adolf-Gymnasium in Sdiweinfurt . 105 Wolken
110
Der Stadtschulrat von München
117
Die Münchener Organisationen der „Arbeitsschule" und der fachlichen Fortbildungsschulen
127
Der Reidistagsabgeordnete
159
Krieg und harte Zeiten
167
Der Hochschullehrer
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Vorfahren. In der W e i t e der Kornfelder der Oberpfalz, zwischen Nürnberg und Regensburg, liegt ein bescheidenes Dorf, Deusmauer. Dort pflügt seit mehr als zweihundert Jahren ein Bauerngeschlecht, Kerschensteiner geheißen, seine Äcker. D e r Sitte gemäß tauften sie ihre Kinder auf die Namen der V o r fahren. Johann, Michael, Georg heißen die Männer in den Stammreihen dieses Geschlechtes. Zwischendurch taucht da und dort ein Konrad auf. Dieser Name fällt insofern auf, als er kein Bauernname, zudem auch in den Städten der Oberpfalz wenig gebräuchlich ist. Sollten die Kerschensteiner woandersher kommen? Aus einer Stadt vielleicht? Bestimmtes weiß man nicht. Doch ein in lateinischer Sprache verfaßtes Dokument aus dem Jahre 1296, gefunden im Archiv der Freiherrn von Aufseß in Oberfranken, wirft einen Schimmer des Lichts in das Dunkel dieser Frage. Es handelt sich um einen Kaufbrief Friedrichs von Truhendingen für O t t o von Aufseß über Treunitz, Königsfeld und Huppendorf, der am 12. M ä r z 1 2 9 6 in Scheßlitz geschlossen und von „unbescholtenen Bürgern" als Zeugen unterschrieben wurde. Einer dieser Bürger zeichnete als Kerschensteinerius. W i r wissen nicht, was dieser M a n n in seinem Erdenleben gewerkt und vorgestellt hat. Kaum aufgetaucht, verschlüpft seine Spur sich wieder im Schoß der Zeiten. Erst nach Jahrhunderten kommt der Name Kerschensteiner unter mancherlei Abwandlungen wie Kerstenstein, Kerschenstein, schließlich Kerschensteiner in der Oberpfalz wieder zum Vorschein. Zum ersten M a l e nachweisbar in Unterwiesenacker, Gemeinde Oberwiesenacker. 1637 vertauschte ein Hans Schwarzfärber, Müller zu Deusmauer, seine Mühle an Hans Kerschensteiner gegen gewisse Grundstücke und ein Aufgeld von hundert Gulden. V o n da ab lebte ein Mitglied der Sippe als Müller in Deusmauer. Am 26. August 1755 hat J o h a n n Kerschensteiner die Walburga Seitz aus
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Oberweilung geheiratet. Sie wurden die Urgroßeltern von Georg Kerschensteiner. Aus einem blutsverwandten Zweige hat sich die Äbtissin des Klosters zu St. Klara in Regensburg hervorgetan. Das Kloster der hl. Klara, seit dem 14. Jahrhundert auf der Stadtmauer von Regensburg aufgebaut, wurde infolge der Beschießung der Stadt 1809 durch die Franzosen ein Raub der Flammen. Die damalige Äbtissin Aloysia Kerschensteiner hat die Schrecknisse jener Tage in einem Tagebuch, das bis heute erhalten ist, lebhaft geschildert. Den obdachlosen Klosterfrauen wurde dann das säkularisierte Kapuzinerkloster zugewiesen. W i e sind die Kerschensteiner in die Oberpfalz gekommen? Falls der Scheßlitzer Kerschensteinerius ein Urahne der Deusmauerer Bauernsippe ist, — was sich nicht ganz von der Hand weisen läßt, da der Name sicher fränkischen, nicht oberpfälzischen Ursprungs ist — welche Schicksale haben die Franken bewogen, die Gewohnheit städtischen Lebens aufzugeben und ihr Heil in der Ferne auf dem Lande zu suchen? Möglicherweise sind es die Kriegszustände gewesen, die um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Deutschland erschütterten. Damals hatte Johannes Hus seine Angriffe gegen die römisch-katholische Kirche geschleudert und überall in katholischen Landen hatten sich die Heere zum Angriff gegen das ketzerische Böhmen gesammelt. Auch der dazumal regierende Fürstbischof Friedrich von Aufseß hatte in den Jahren 1422 bis 1427 seine Bamberger Truppen in das feindliche Land geworfen. Der Heerhaufen — das steht fest — drang über die nördliche Oberpfalz vor. Es kann leicht sein, daß unter diesen Kriegsleuten auch Angehörige der fränkischen Kerschensteiner-Sippe sich befanden. Und daß den durch harte Kriegsnot Gegangenen das blühende Land und die sonnige Luft der Oberpfalz ein Garten Gottes dünkte, darin die Mißlichkeiten des Daseins sich leichter ertragen ließen als im Schatten enger Kleinbürgerlichkeit zu Hause; daß sie siedelten, wo es ihnen so wohl gefiel. Möglich auch, daß die oberfränkischen Kerschensteiner sich als Beamte in der Oberpfalz angesiedelt haben, nachdem einem Vertrage aus dem Jahre 1423 zufolge, alle im Vilsecker Forst gelegenen Seen, Hämmer, Wiesen, Äcker und Fisdi10
wässer von dem Pfalzgrafen Ludwig von Bayern an das Hochstift Bamberg abgetreten werden mußten und von da an das Gebiet von Bamberger Beamten als Ansiedler vei-waltet worden war. 1920 gab es noch zwei Höfe in Deusmauer, deren Besitzer Kerschensteiner hießen. 1926 ist einer davon — beim Neubauern hieß er — verkauft worden, weil die beiden Jungbauern im Weltkriege gefallen waren. Der andere Hof besteht heute noch. So hat der N a m e Kerschensteiner durch dreihundert Jahre sich dort erhalten. Immer wenn der T o d kam, einem Alten die Pflugschar aus der Hand zu nehmen, waren die starken Schultern eines Sohnes da, die Last des Hofes auf sich zu laden. Manch einem jungen Kerschensteiner fiel auch das Los des überzähligen Bauernsohnes zu, der die Heimat verlassen und in der Fremde sein Brot suchen mußte. Ein solcher war Georg Michael, einer der Söhne des Johann Kerschensteiner und der Walburga Seitz aus Oberweilung. Georg Michael war am 20. September 1754 zu Deusmauer geboren. Gegen die Jahrhundertwende wanderte er aus. Er nahm eine Stelle als Ökonomiebaumeister beim Landrichter Schrödl, dem Inhaber des Sitzgutes Perlachsberg in Giesing bei München, an. Der kleine O r t Giesing ließ es sich damals noch nicht träumen, einmal in den Ring der Stadt München einbezogen zu werden. Auch Georg Michael ließ es sich nicht träumen, daß sein Enkel dereinst den Schulratssitz in ebendieser Stadt innehaben wird. Im übrigen ist wenig von dem Glück, dem Leid und der N o t bekannt, die das Leben dieses Mannes ausgemacht haben. Seine Frau Elisabeth Kollmayr hat er sich aus Unterbuchfeld geholt. Ein Bübchen wurde ihnen beschert, das am 24. März 1801 in der Pfarrkirche zu Giesing nach seinem Goten Mag A n t o n getauft wurde. 1802 hat Georg Michael in München eine sogenannte Herberge gekauft. Meines Wissens gibt es diese Einrichtung der „Herbergen", so wie sie in den Isarleiten Giesings und der Au des alten Münchens zu finden waren, nirgends sonst. Diese Herbergen waren allerkleinste, ebenerdige oder zweigädige Wohnbauten, die erbrechtlich erworben und meistens von zwei, auch von mehreren Besitzern gleichzeitig innegehabt wurden. Man kann sich von diesen Herbergen eine Vor11
Stellung bilden, wenn man die selten gewordenen Überbleibsel aus jener Zeit aufsucht, die in alten Münchener Bezirken da und dort heute noch zu finden sind. Es sind meist spitzgiebelige Puppenhäuser aus Holz oder aus Stein. Zumeist stehen sie eng aneinandergeschmiegt, als wollte sich eines am andern erwärmen. Da, wo sie nicht in einer Zeile aufgereiht sind, stehen sie, verlassenem Kinderspielzeug gleich, ohne Regel und Gesetz umher. Gäßchen schlängeln sich dazwischen, nicht breiter als der Rinnstein zu seinem Dasein braucht. Es gibt recht schief und wackelig aussehende Exemplare darunter. Besonders den Holzhütten kennt man die Last der Jahre an, die sie auf dem Buckel tragen. Und doch leben Menschen darin, unbekümmert, daß es eines Tages plötzlich mit der Kraft aus und amen sein und das Dach über ihrem Haupte zusammenbrechen könnte. Höchstens werden ein paar Balken gegen die hängende Seite gestemmt, im übrigen abgewartet, was die Zukunft bringt. Oberhaupt liegt ein Hauch von getrostem Genügen über diesen Armutswinkeln. Die steinernen Herbergen sind bunt angestrichen, mit so viel Farbenfreudigkeit, daß man an venezianische Schifferdörfer denken muß. W o dazwischen ein Holzhaus allzu altersbraun aus der buntscheckigen Umgebung hervorsticht, hat es wenigstens die Fenster und Türen bunt umrahmt. Oder es steht ein Blühebaum daneben und hält den Duftstrauß gegen seine Trübnis, sie zu erhellen, überall ist der Schmucksinn, ein Zug des oberbayerischen Volksschlages, am Werk, der grauen Alltäglichkeit das Muffige zu nehmen. Jedes Fenster hat seine Gardine und seinen Blumentopf. In manchem Dachspitzwinkel girrt es zuoberst, und blaue Tauben blähen dort die Brust in der Sonne. Uber vielen Haustüren steht in einer Nische hinterm Glasfensterchen eine Mutter Maria. Bald hält sich ein winziger Erker ängstlich am grauen Gemäuer fest. Bald reitet auf giebeligem Blechdach eine Dachgaube, die sich nichts daraus macht, stilhalber durchaus auf ein Mansardendach zu gehören. An allen Häuschen ist herumgetiftelt. W i e geflickte Bubenhosen sehen viele aus. Ist ein Mangel irgendwo, wird wegen des Flickmaterials nicht lange gefackelt. Man nimmt, was zur Hand ist, gleich ob es paßt oder nicht. Aber wenn die Familie wächst, wenn das Handwerk sich ausdehnt, was soll man machen auf dem kleinen Geviert, das einem gehört? 12
Köstliche Einfälle sind da Erscheinung geworden. Man liest dem sorglosen Geflicke ein Stück der Lebensgeschichte seines Besitzers ab. Ob die Herbergen in der um so viel ärmeren Zeit vor mehr als hundert Jahren ebenso schmuckhaft gewesen sind, bleibt dahingestellt. Immerhin mag Georg Michael glücklich genug gewesen sein, als er so viel Erspartes beisammen hatte, um für spätere alte Tage solch eine Zuflucht sich zu sichern. Der Lebenszuschnitt in der traulichen Kleinwelt dieser Herbergen ist dürftig gewesen. Das zeigt der Erbkaufbrief, der noch in unseren Händen ist. Dort liest man: „Ich, Maria Josepha, Gräfin von Törring Seefeld, gebohrene Gräfinn Minuci . . . bekenne hiemit, daß ich dem Georg Michael Kerschensteiner, gewestem Baumeister der gestreyten Sitzes zu Perlachsberg . . . durch . . . Kauf erblichte Herberg im Polzenhaus Nr. 8, zu ebener erde entlegen, bestehend in einer Stuben, Kammer, und mit der Andrä fridlichen Wittib gemeinschaftlichen Küche und einer Holzlege im Gärtl auch ein Klafter Holz, Erbgerechtigkeit verliehen habe, dergestallt, daß er diese Herberg samt aller Zugehör nunmehro Erbrechtsweiß innehaben, benutzen und genießen möge, dagegen ist er schuldig . . . — die jährliche Stift mit 15 Gulden und 12 Gulden Schaarwerkgeld getreulich zu entrichten. Geschehen in der Falkenau den 9. August des Eintausend Achthundert und zweyten Jahre." Es war Georg Michael nicht beschieden, lange der sauer erworbenen Heimstätte sich zu freuen. Ein Jahr darauf war er tot. Der kleine Anton zählte erst zwei Jahre. Seine Mutter gab ihm in dem Zimmermann und späteren Käskäufler Omminger „aus Kufstein, Landes Thyroll" einen zweiten Vater. Das Ehepaar erwog, einen Schuhmacher aus dem Knaben zu machen und schickte ihn, nachdem er die Schulschuhe abgelegt hatte, zum Meister Knoll in Berg am Laim in die Lehre. Man schrieb das Jahre 1813, als Anton vom Prinzipal ausgeschickt wurde, geflicktes Schuhwerk an einen Kunden zu vertragen, der jenseits der Isar wohnte. Der Strom ging damals in wilden Fluten. Das Wasser war weit über die Ufer getreten. Es umspülte bedrohlich ein kleines Haus, das nahe der Isar stand. Jeden Augenblick war sein Einsturz zu erwarten. Die Neugierigen, auf dieses Schauspiel gespannt, drängten sich
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in Massen auf der Brücke. Ein Leichenzug, der daherkam, hatte Mühe, das Menschengewühl zu durchbrechen. Um Gaffer zu vertreiben, schrie der Kirchendiener, der mit dem Kreuz vor dem Totenwagen ging: „Obacht! Der Tod kommt!" Gleich darauf stürzte die Brücke ein, achtzig Menschen mit sich in die Fluten reißend. Das Unglück geschah, als der Schusterlehrling Anton eben den Fuß auf die Brücke setzen wollte. Wäre er nicht wie durch ein Wunder verschont geblieben, könnten diese Erinnerungsblätter nicht geschrieben werden, denn er wurde der Vater von Georg Kerschensteiner. Die Schuhmacherlaufbahn mochte ihm nicht behagt haben, denn etwas später ist er in dem Käsegeschäft seines Stiefvaters tätig und legt dann die Prüfung für das Priechlergewerbe ab. Zuletzt taucht er im „Tal" zu München auf, eifrig dabei, sein Priechlergeschäft in Schwung zu bringen. In seinem Laden wurde Ellenware verkauft, wie Barchent, Baumwolle, Flanell, Futterstoffe und so weiter. Treulich half ihm dabei seine Frau Barbara, eines Maurermeisters Haltmeier Tochter aus Kelheim. In den zwanziger Jahren hatte er sie in der Peterskirche an den Mariahilfaltar zur Trauung geführt. Anton war 21, Barbara 19 Jahre alt. Das Geschäft blühte. Als Antons Mutter starb, erhielt er ein kleines Muttergut. Damit trachtete er ein Käskäuflergesdiäft hinzu zu erstehen. Das „Tal", im Mittelpunkt der Stadt gelegen, war schon damals eine gute Geschäftslage. Baulich zwar hat es sich seit jener Zeit sehr verändert. Damals floß noch der offene Stadtbach mitten durch, die Straße in zwei Hälften teilend, deren untere „Tal Petri", deren obere „Tal Mariae" hieß. Im Tal Petri, wo die Kerschensteiners wohnten, war neben dem alten Rathausturm die Königliche Polizeistation mit der Wache. Hier war das Heiliggeistspital mit seiner schönen Kirche. Auch die Fleischbank gehörte ins Tal Petri und das Gasthaus zum Bögner, wo die Bauern ihre Wagen einstellten, wenn sie ihre Waren auf den Markt, den heutigen Marienplatz, brachten. Im Tal Mariae war das Sterneckerbräu und das Bruderschaftshaus der Bäckerknechte. Hier führte die Hochbrücke über den Stadtbach. All das brachte eine Menge Leute ins Tal, so daß ein Kaufmann nicht zu sorgen hatte, die Ware könnte ihm im Laden verschimmeln. Das Paar ließ es nicht an Fleiß fehlen. An jenem Fleiß 14
süddeutscher Prägung, der nicht nur alleweile schuften, sondern daneben sein bißdien Leben auch genießen will. Es war dazumal eine patriarchalische Zeit voll Einfachheit und Genügsamkeit. Der Lebenszuschnitt der Kleinbürger war noch volkstümlich. Der Hausvater ging am Abend in sein Bierhaus, wo harmlose partikularistische Politik geredet wurde, bei einer „Halbe" Hofbräuhaus. W a r die Woche sauer, mußte der Sonntag ein Fest sein. Dann stolzierte der Vater Anton in der Uniform der Grenadiere der Bürgerwehr mit Bärenmütze und Stulpstiefeln, seine Frau im Riegelhäubchen und silbernem Geschnür in die Kirche. Am Nachmittag saß man im „Gries" im Garten der „Frau Pat", die eines Sattlermeisters Mais Ehefrau und Barbaras Tante war. Oder man nahm ein Glas Bier — das damals vier Kreuzer galt — in der Lände „zum grünen Baum", wo es urwüchsig und lustig zuging. W o die Isar ihr reißendes Wasser vorbeidrängte, hölzerne Flöße auf dem Rücken mit übermütigen Menschen darauf. Oft spazierten sie auch nur zum Isartor hinaus. Da hatte die Stadt ein Ende, da lag das Gebreite der Wiesen und Auen frei unter dem lachenden Himmel. Durch das Schwabinger T o r , das die Stadtmauer im Norden durchbrach, kamen sie nur alle heilige Zeit. Das Dorf Schwabing, damals noch nicht eingemeindet, lag zu weit ab von der Stadt für eine Familie mit einem Schwanz von Kindern, die mitgeschleppt werden mußten. Warum es sich unbequem machen, wenn Unterhaltsames genug im nächsten Umkreis zu finden war? Nur wenn etwas ganz Besonderes sich zutrug, leisteten sie sich eine Ausnahme von der Regel. So z. B. als 1839 das große Wunder der neuen Eisenbahn auszuprobieren war, die neuerdings von München nach dem zwei Wegstunden entfernten Lechhausen ratterte, wo sie wieder umkehrte, weil die Schienen nicht weiter reichten. Neben den bescheidenen Freuden mußte gespart werden mit vollem Bedacht. Ein Ausgabenbuch wurde von Anton mit peinlicher Genauigkeit geführt. In einem solchen Ausgabenbuch ersieht man, daß Barbara acht Gulden Wochengeld erhielt. Nun mochte sie zusehen, wie sie damit zurechtkam. Es mag ein Kunststück gewesen sein bei dem reichen Kindersegen, der ihnen, Buben und Mädel durcheinander, in die Ehe fiel. Mit dem 1843 geborenen Kinde war das Dutzend fast 15
voll. N u r vier davon wuchsen heran. Die anderen starben im frühen Kindesalter. „Einen Todtensarg für das gestorbene Kind" 1 Gulden 30 stand dann in dem Ausgabenbuch. Oder woanders einmal: „der kleinen Walli ihr Todtenkleid" 1 Gulden 27. Es muß ein Erbübel gewesen sein, das so schlimme Ernte in der Familie gehalten hat. Auch der Sohn Karl, ein künstlerisch veranlagter Mensch, der die Buchbinderei erlernt hatte, kam nach seiner Wanderschaft durch Ungarn und Kroatien, eines Tages an Tuberkulose zu Tod erkrankt nach Hause und starb kaum zwanzigjährig an der Lungensucht. Im Wesen des Vaters Anton lagen vielleicht mehr vergrabene künstlerische Anlagen, als ihm das Rüstzeug des Kaufmannes auf den Leib geschnitten war. Er bastelte gerne, wenn es Zeit und Umstände erlaubten. Das Anfertigen von Weihnachtskrippen war damals bei Künstlern und Laien sehr beliebt. Auch Anton hat sich einmal mit brennender Lust dahintergemacht. Wenn zu Jakobi und Dreifaltigkeit die Dultbuden auf dem Maximiliansplatz aufgeschlagen wurden, der damals noch nicht den schönen Hildebrand-Brunnen trug, der noch ein wüstes Gelände war, sah er sich dort nach allerhand Kleinkram für seine Krippe um. W e r das richtige Auge hatte und ein wenig Glück, der konnte für geringes Geld noch altitalienische Krippenfiguren aus Holz geschnitzt und manchen Fetzen köstlichen alten Brokats erwischen. Das Werk des Vaters Anton war kein Stümperwerk, vielmehr von solcher Kunstfertigkeit, daß sein Ruf sogar der Königin Marie, der Gattin Maximilians II., zu Ohren kam. Die hohe Frau erschien eines Tages im Tal N r . 27, um sie zu bewundern. Diese Krippe war so umfangreich, daß der Raum zum Aufstellen fehlte. Sie wurde deshalb über den Betten der Kinder aufgehängt, denen des Nachts im Schlaf manchmal ein Tropfen Wasser aus dem Brunnen vor dem Stall auf die Nase fiel. Der Vater Anton hing mit vollem Herzen an seiner Krippe. Als ein schlimmes Schicksal über ihn hereinbrach, als er alles hergeben mußte, was er besaß, war sie das einzige, wovon er sich nicht trennte. Er nahm sie in die tiefe Armut mit. Inzwischen hatte der Deutsche Zollverein auch den spröden Süden in seine Mitte genommen, hatte Wandel geschaffen in politischen und wirtschaftlichen Dingen. In der Kaufmannswelt war es nicht mehr so, daß jedes Land seine Märkte mit 16
den einheimischen Erzeugnissen deckte. Die auswärtigen Waren machten nicht mehr vor jedem Grenzbaum halt. Sie strömten von allen Seiten des Reiches kreuz und quer herein. In dem allgemeinen Wettbewerb sanken die Preise. Auch der Vater Anton wurde inne, daß seine Ladenkasse sich immer langsamer füllte, obwohl nicht weniger Ellen verkauft wurden. Es ging ihm nicht aus dem Kopf, daß, wollte er bestehen, ein Nebengeschäft gesucht werden mußte, den Ausfall an Einkünften zu decken. Der Zufall wollte, daß um dieselbe Zeit im Färbergraben ein Färberanwesen zum Verkauf ausgeboten wurde, das gewinnversprechend aussah. Es bestand aus einem Vorderhaus, einem Mittel- oder Manghause und dem Hintergebäude mit der Färberei. Der Vater Anton überlegte : Die Mange ist ein Geschäft, darin der Zollverein nichts zu suchen hat. Die kann er mit der Frau und einer Magd leicht selber betreiben. Die Färberei wird er verpachten und mit dem Priechlergeschäft ins Vorderhaus ziehen. Dies würde ihm nicht nur einen Pachtzins eintragen, sondern ihm auch die Laden- und Wohnungsmiete sparen, die er dem Mais Joseph zweimal im Jahre mit 105 Gulden berappen mußte. Auf diese Weise würde er ein leichteres Hausen haben mit Weib und Kindern. Das war so klar wie Quellwasser. In der bescheidenen Mitte, in der er lebte, hatte er nicht lernen können, daß zum Unternehmertum zweierlei gehört: Glück und Erfahrung. Niemand hat ihn gewarnt. Niemand hat ihm gesagt, daß ein Verlustposten in Rechnung gesetzt werden muß, soll er sicher gehen. Mit getrostem Mut erstand er das Anwesen im Färbergraben. Es auf Glanz herzurichten steckte er all sein flüssiges Geld hinein, überzeugt, leicht ein paar Tausend Gulden Hypothek ciarauf zu bekommen, wenn es recht stattlich aussah. Mit diesem Geld wollte er sich weiter helfen. Aber kaum war er handelseinig, kamen die Schwierigkeiten knüppeldick. Der Verkäufer starb, ehe das Haus „zu Protokoll" gegeben war. Erbstreitigkeiten zogen die Verbriefung in die Länge. Sie waren noch nicht völlig geschlichtet, als auch der nunmehrige Besitzer das Zeitliche segnete. Der Erbstreit entbrannte von neuem und wieder konnte das Haus nicht „zu Protokoll" gegeben werden. Das war ein übler Strich durch die Rechnung des Vaters Anton, denn so lange diese Sache nicht geregelt war, konnte er keine Hypothek auf K e r s c h e n s t e i n e r , Biographie. 2
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das Haus bekommen, wie er vorbedacht hatte. Durch Jahre ging es so fort, ohne daß dem hilflosen Manne sein Recht geworden wäre. Er hat ein langes Schreiben hinterlassen, in dem er den Hergang schildert. Es ist ein Schreiben mit Wehmut zu lesen, die Rechtfertigung eines Ehrenmannes, der im Andenken seiner Nachfahren nicht in seiner Unbraudibarkeit dastehen möchte. Bitter beklagt er sich über die amtlichen Stellen. „Das Stadtgericht", jammert er, „das Stadtgericht mit seiner saumseligkeit richtet mich vollkommen zugrund ohn alles verschulden; mit lauter zögern und warten kam ich immer weiter in schulden anstatt heraus, wo mir doch so schnell und so leicht geholfen werden könnte; oh ihr Advokaten und Stadtgericht wieviele Thränen und seufzer bereitet ihr so manchem ganz schuldlosen! wenn ihr nichts zu verantworten habt, dann ist alles was in eure hände fällt von Verantwortung frey zu sprechen, wenn nicht schlechte absiebten oder vorsaz zu gründe liegen. Nur der geld in masse hat sezt durch, der arme Tropf aber soll und muß unterliegen, oh ungerechte gleichgültigkeit!" Die Kraft der Initiative hat seinem Wesen wohl gemangelt. In seiner damals zeitüblichen Kleinbürgeruntätigkeit hatte er offenbar nicht das Herz gehabt, bei der gestrengen Obrigkeit ein vollgültiges Wort zu sprechen. Sicher fehlte seinem Wesen auch der Sporn, gegen das Unrecht anzukämpfen, das man ihm antat. Er ließ die Flügel hängen, statt sie zum Ansturm zu gebrauchen. Die Umstände sind ihm über den Kopf gewachsen. Und schlimme Ratgeber, ohne die dieses Maß an Verstrickung nicht denkbar ist, hatten es leicht, seine Gutgläubigkeit immer weiter in die Verwirrung zu reiten. Mitten in diese trübseligen Ereignisse hinein nahm ihm die Lungensucht auch noch die Frau weg. Zwei Jahre lang saß er in seiner Sorgenhaft, das Hauswesen vernachlässigt, die Kinder unversorgt. So konnte es nicht weitergehen. Er brauchte eine stärkere Natur an seiner Seite, die den gesprungenen Topf seines Wohlstandes zusammenzuhalten verstand, bevor er vollends in Scherben ging. „Wenn eine zweite Frau noch etwas Bares mitbrächte", überlegte er, immer noch ohne Einsicht, wo der Punkt lag, an dem sein Glück zerschellte, „dann wäre der Zusammenbruch noch aufzuhalten vielleicht." 18
Eltern und Kindheit. Es war kein geringes Unterfangen, als Witwer und vielfacher Kindervater bestandenen Alters noch einmal auf Freiersfüßen zu gehen, selbst wenn man ein immer noch stattlicher und ansehnlicher Mann war. Diesmal hatte es das Schicksal gut mit ihm gemeint. Es führte ihm eine junge Vollwaise zu, die in Freising von Verwandten aufgezogen worden war. Sie war ein kleines rundliches Mädchen mit blanken Braunaugen und einem zum Lachen geschaffenen Mund. Ihr Name war Katharina Karl. Nachdem sie den Vater, der ein Brauer in Neustadt a. d. Donau gewesen war, mit sechs, die Mutter mit neun Jahren verloren hatte, nahmen Verwandte, wohlhabende Brauersleute, sie auf. Sie hielten das Kind tadellos, schickten es zu den Klosterschwestern z u Freising in die Schule. Sie ließen es an nichts fehlen. Aber all ihre Fürsorge konnte nicht hindern, daß im Blute der Waise die Sehnsucht nach jenen sang, die die Ursache ihres Daseins waren. Sie fühlte, daß der Liebe der Zieheltern fehlte, was von außen nicht gegeben werden kann, was die Natur als unveräußerliche Bindung zwischen Eltern und Kinder legt. Vor allem nach einem „Vätern" sehnte sie sich, der sie bei der Hand fassen und schützend durchs Leben führen würde. Als dann Anton Kerschensteiner, der Einundfünfzigjährige, ihr, die erst neunzehn zählte, die Ehe antrug, störte es sie nicht, daß sein Bart schon anfing sich mit weißen Fäden z u mischen. Im Gegenteil. Es gab ihm das Ansehen eines „ V ä tern", das flößte ihr Vertrauen ein. Sie sagte ja, obwohl die Verwandten gegen die ungleiche Heirat waren und obwohl der Ziehvater Schmiedmeyer, ärgerlich über ihren Eigensinn, ihre Mitgift erheblich kürzte. Daß es nichts geworden ist mit Katharinas Erwartung, an der Hand des vatergleichen Mannes sorglos durchs Leben geführt zu werden, das war i*
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eine jener Prüfungen, die geschickt sind, um eines Menschen innerstes Wesen durch Sturm und Drang zur Vollendung seiner selbst zu bringen. Als die blutjunge Frau im Tal Nr. 17 einzog und der älteste Sohn Joseph, nunmehr zwanzigjährig und ein Student der Medizin, sie als Mutter begrüßte, schüttelte sie den Kopf. Der Vater hatte nämlich nicht das Herz gehabt, der Braut zu gestehen, daß außer den jungen Kindern zu Hause ein Sohn sie erwarte, älter, als sie selber war. Vermutlich hat er gefürchtet, allzu betagt bei diesem Geständnis herauszukommen, und darum vorgezogen, das Entscheidende dem Augenblick der Begegnung zu überlassen. Aber Katharina störte sich auch daran nicht. Sie nahm die Feste immer, wie sie fielen. Ihr glückliches Temperament fand in allem einen Punkt, sich daran zu freuen. Wurden die Sorgen auch nicht kleiner, so wehte doch ein frischer, mutvoller Geist über allem, seitdem die muntere Frau im Hause war. Audi das drohende Unheil fühlte sich weniger drückend an, wenn ihr fröhliches Singen durch alle Räume klang. Wohl war es ihr ein Kummer, daß das überlastete Anwesen über kurz auch die paar Tausender verschlungen hatte, die ihr Heiratsgut gewesen waren. Sie machte in dieser Zeit wohl oft den Sprung hinüber in die Heiliggeistkirche, der gnadenreichen Gottesmutter eine Verlöbniskerze zu weihen, auf daß sie ihr helfe. Aber etwas anderes war in ihr Leben getreten, das den Verlust aufwog. Sie fühlte, daß ihr ein Kind geschenkt würde. Von nun an ging sie nie zum Markt oder in die Fleischbank, ohne bei dem Wachszieher und Lebzelter Joseph Gautsch vorbeizugehen, wo im Schaufenster viele Krippen, große und kleine, standen mit dem süßen Jesuskind mitteninne. Dann flogen ihre munteren Braunaugen schaulüstern darüber hin und her, das herzigste von allen festzustellen, damit sie den lieben Gott bitte, ihr Kindlein ihm gleichzumachen. Roserl würde sie es heißen. Und zum Dank sollte es sein Lebtag wie eine Rose vor Gottes Antlitz blühen. Das Mäderl kam. Es hatte die feinen Gliederlein und das flockige Haar wie das wächserne Jesuskind, und Rosa wurde es getauft. Aber Katharinas Mutterseligkeit war von kurzer Dauer. Das Englein flog bald wieder fort und ließ ein Gräblein hienieden. 20
Das Dickicht der Sorgen wucherte immer dichter um ihren Weg. Katharina trug auch bald wieder ein Kind unter dem Herzen. Es wurde in den Julitagen jenes unseligen Sommers 1854 geboren, wo die Cholera die Geißel über München schwang. Die arge Hitze trug dazu bei, die Seuche unheilvoll zu verbreiten. Da nützte nichts das feierliche Bittamt, das auf dem Marienplatz an der Mariensäule vor der gedrängten Menschenmenge von der hohen Geistlichkeit gehalten wurde. Der Tod raffte doch an hundert Menschen am Tage dahin. In den Straßen ratterten unaufhörlich die schwarzen Totenwagen. Das Grauen ging um. Furcht saß auf jeder Schwelle. Die Kerschensteiner blieben verschont, obwohl sie nicht zu den Bevorzugten gehörten, die, ihr Leben zu retten, der Stadt entfliehen und Zuflucht in der reinen Luft der Berge suchen konnten. Der Knabe wurde auf den Namen Georg Michael getauft, dem Großvater der Herberge zum Gedenken. Vielleicht hatte auch die fromme Hoffnung mitgesprochen, daß der vielvermögende heilige Ritter Sankt Georg dem Patenkinde zuliebe den Drachen der Armut töten würde, der unbarmherzig den Rachen vor ihnen aufriß. Der kleine Georg gedieh prächtig. Die gesunde junge Mutterbrust hatte so viel Nahrung zu verschenken, daß noch ein fremdes Kind mit satt wurde, dessen Mutter weniger glücklich in ihren natürlichen Pflichten war. Die allgemeine Not hatte Katharina die heitere Zuversicht nicht schmälern können, daß doch einmal wieder alles gut werden wird, Und während die Leute ringsum nur von Weltuntergang und Gottes Zorn zu jammern wußten, streichelte sie ihrem Bübchen die Wangen und sagte: „Du wirst es trotzdem gut haben, denn du bist im Jupiter geboren." Das Haus, das der Vater Anton mit so viel kühner Hoffnung auf sich geladen hatte und das in nunmehr sechs Jahren ein Ausbund von Sorge und Kummer für ihn geworden war, kam schließlich unter den Hammer. Er verlor Hab und Gut. Das Unglück vollzumachen, konnte nicht schnell ein Unterkommen gefunden werden, billig genug, um mit den letzten Groschen bezahlt zu werden. Die Notstücke des Haushaltes, die ihnen verblieben waren, mußten im Torbräu untergestellt werden. Die Familie mußte, wie Joseph und Maria auf der Flucht, ein paar Tage auf der Streu nächtigen, 21
bis eine Wohnung im Mariengaßl ausfindig gemacht worden war. Zu den Fenstern dieser Wohnung sah nichts von der sonnigen Fülle des Sommers aufrichtend herein. Sie ging auf die Trostlosigkeit eines Hofes hinaus, wo in dem rissigen Gemäuer kein Halm den Boden für ein dürftiges Dasein fand. Eine Wohnküche war da, daneben eine Kammer, in der die beiden Buben schliefen. Es war nämlich inzwischen das Brüderchen Anton geboren worden. Des Vaters Anton Tatkraft war in dem schweren Geschick zerbrochen. Vergrämt saß er in seinen vier Wänden, ohne eine Spur von Mut sich zu erraffen. Nur im Frühnebel oder am Abend wagte er sich auf die Straße. Er, der so viel auf Anstand und Würde hielt, litt schwer unter dem Gegaffe der Leute. Er konnte das Getuschel nicht ertragen, das ihm überall mit wenig Anteilnahme doch um so mehr Eiferung nachging. Wäre die Zukunft der Familie auf Anton allein abgestellt gewesen, dann hätte es vermutlich keinen Aufstieg aus dem Elend gegeben. Aber da war noch Katharina Karl. Sie gehörte zu den Menschen, die sich mit um so größerer Kraft erheben, je tiefer das Schicksal sie beugt. Ihre Natur war robuster wie die des Mannes. Sie hatte dem Unglück unverbrauchtere Nerven entgegenzusetzen wie der fast sechzigjährige Anton. Sie sah, anpacken tat not. Tat es mit Entschlossenheit, wie nur je ein Mann sein Schicksal in die Hand genommen hat. Betrachtete sie ihre beiden Buben, die mit Backen, rot vom Schlafen, in ihren Bettchen lagen, dann wußte sie, daß sie sich dieses Glück niemals erschüttern lassen wird, solange Atem in ihrer Brust ist. Während die Natur des Mannes ihm versagte, das Kampfbeil zu schwingen, fiel Katharina eine wilde Lust an zu kämpfen, damit der Schatten der Armut die Kindheit dieser beiden niemals trübe. Die Wartung der Kinder überließ sie einstweilen dem Manne. Sie selbst lud sich den Teil der Ernährerin auf die Schultern. Sie ergriff, was an Arbeit in den Weg kam. Sie zog zu Fuß mit ihrem Karren auf die oberbayerischen Märkte und an die Wallfahrtsorte, lagen sie auch in kilometerweiter Entfernung. Vor Tagesanbruch verließ sie das Haus, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Erst am tiefen Abend kehrte sie heim. Es kümmerte sie nicht, ob solch ein Geschäft ihr anstand. 22
Worauf es ankam war, daß sie genug Geld heimtrug, damit auch der kommende T a g ohne Entbehrung für die Familie aufgehen konnte. Der Kampf war hart. Aber lächelte sie etwas Tröstliches an, war sie schnell wieder mit ihrem Dasein versöhnt. Audi Anton bewarb sich nach dem Zusammenbruch um jede frei werdende Stelle, aber alle seine Gesuche wurden von dem Bürgermeister Steinsdorf ad acta gelegt. Später erhielt er eine Stelle als Landtagsbote, die allerdings nur so lange zu versehen war, als der Landtag dauerte. Dieser N o vemberverdienst erleichterte jedesmal die schwere Lage der Familie. Als Georg ein Knirps von drei Jahren war, riß er, dem ersten Drang nach Selbständigkeit folgend, zu Hause aus. Bei diesem Anlaß fiel er in den Stadtbach, da wo er sein schäumendes Wasser der Heiliggeistmühle zutrieb. Ein Stadtgensdarm zog ihn heraus, trug ihn der Mutter zu. „Da habt's euer Dirndl", sagte er. „Ich hab koa Dirndl", war die nicht eben freundliche Antwort. Da sie aber das triefende Bündel Mensch näher ansah, wurde sie todblaß. Sie entriß dem Manne das Kind, fiel mit warmen Tüchern und wirksamer Handhabung darüber her, bis es vor liebevoller Plackerei endlich zu schreien anfing. D e r Boden, auf dem Georg Kerschensteiner in die Wildheit seiner Knabenjahre hineinwuchs, war das „Tal". Die Eltern hatten, als die Armut sich zu lockern begann, einen kleinen Käseladen dort übernommen. Sie wohnten im Winklerhaus N r . 52, zunächst dem Isartor. Später zogen sie in einen anderen Teil des gleichen Hauses, der mit seinen Fenstern auf die Westenriederstraße hinausging und die N r . 31 trug. Die Verhältnisse waren noch immer dürftig. Aber die Mutter wußte es einzurichten, daß den Kindern das Bewußtsein der Armut nicht nahe trat. Sie lernten von früh auf, daß Arbeiten zu den Selbstverständlichkeiten eines anständigen Lebens gehört und daß das Geld ein achtunggebietender Artikel ist. Sie waren zufrieden, war nur die Freiheit nicht empfindlich beschnitten und geizte die Mutter nicht zu sehr mit Leberknödeln und Dampfnudeln, die sie locker und leicht zu machen verstand zum „Davonfliegen". Für Buben war das Tal ein O r t ohnegleichen, um im Medium der Wirklichkeit zu erleben und zu lernen. Dort
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wimmelte es von schaffnerischen Leuten, von Bäckern, Schmieden, Küfnern, Schreinern, deren Tun sidi allerhand abgucken ließ. Dort standen an den Markttagen vor den Wirtshäusern dicht gedrängt die altertümlichen Gauwägen, darin die Bauern ihre Feldfrüchte zur wöchentlichen Fruchtschranne auf den Marktplatz (dem heutigen Marienplatz) brachten. Zum Entdecken und Ausprobieren waren die wie gemacht. Dort „erblühte der Säugling zum Knaben, Der jeglidie Tugend besaß, so einen Rangen nur ziert. Äpfel stahl er beim Nachbarn, Cigarren dem Vater, Unserem Herrgott den T a g . Nie war ein Baum ihm zu hoch,, Audi nicht zu tief ihm das Wasser. So gab es denn Prügel die Fülle, Solche, die er empfing, und soldie die er verteilte . . . , "
heißt es in einem launigen Gedicht, das Georg Kerschensteiner später einmal für das Niederland verfaßte. Im Tale wölbte sich auch die Hochbrücke über den flutenden Stadtbach, wo die Weiber tratschend Wäsche wuschen ; wo man mit den nackten Füßen herumwaten konnte, waren nicht gerade die schweren Bräuerpferde zur Tränke da; wo es ein herrliches Treiben war, nach den fetten Grundein zu fahnden, wenn der Bach zur Auskehr ohne Wasser war. Das wahrhafte Paradies für Knabenstreiche aber fing jenseits des Isartores an. Dort hatte die Stadt die grüne Weite noch nicht mit ihren Häuserlasten verstellt. Schafe hatten dort noch ihr Weidrecht. Nichts hinderte, in Busch .und Freie herumzutollen in der Hitze indianischer Kampfspiele, im Eifer der Schmetterlingsjagd oder mit dem Drachen, wenn der Herbst mit vollen Backen über das Land blies. Vor dem Isartor stand in jener Zeit ein Haus, halbvollendet verlassen, dem Untergang preisgegeben. Schon lange hatten die Buben beraten, was mit der „Ruine" anzufangen sei. Bis einem einfiel: Drinnen gab es lose Ziegelsteine genug, einen Herd zu bauen, auf dem es sich herrlich Äpfel braten ließ. Äpfel waren ja auf dem nahen Viktualien-, markt die Masse zu haben, und daß die gemausten besser schmeckten als die der Mutter zu Hause abgebettelten, das ist eine Regel, so alt wie die Welt. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht. Sie wußten genau, daß das Betreten 24
des baufälligen Gebäudes ebenso untersagt war wie das Äpfelmausen. Aber das war gerade der Anreiz. Natürlich ging es nach Knabenart bei dem Unternehmen nicht leise zu. Vielleicht war auch von der Straße aus das Rauchfähnlein zu bemerken, das über den lustig schmorenden Äpfeln aufstieg. Genug. Plötzlich stand der Stadtgensdarm mitten unter den Buben. Auf flinken Beinen stoben sie auseinander. Der Alte hätte keinen erwischt, wäre nicht einer gewesen, den sein duftender Apfel reute und der ihn noch schnell in die Sicherheit seiner Hosentasche retten wollte. Den nahm der Hüter der Ordnung beim Wickel. Er schrieb ihn in sein Strafbuch ein, ließ ihn dann laufen. An diesem Tage schielte der kleine Georg oft recht unsicher nach dem spanischen Rohr, das der Vater, handlich zu raschem Gebrauch, immer neben dem Küchenkasten in der Ecke stehen hatte. Dasselbe spanische Rohr, dem er manchmal heimlich ein Stückchen abknipste, um es als Zigarre zu rauchen, wobei ihm immer übel wurde, was aber im Bewußtsein männlichen Tuns in Kauf genommen wurde. Am Abend erschien der Büttel, den Buben ins Loch zu holen. Wegen „Bandendiebstahls" stand auf dem Arrestzettel! Die Eltern rangen die Hände. Erst setzte es eine Tracht Prügel. Dann bat der Vater, den Buben selber auf die Polizei bringen zu dürfen, damit es kein Aufsehen unter den Nachbarn errege. Das Arrestlokal, in das der erbitterte Vater den Sohn stieß, war kein traulicher Ort. Die Fenster in unerreichbarer Höhe, vergittert und klein, gewährten weder der Luft noch dem Licht freien Zutritt. Aus der Düsternis lösten sich ein paar verwegen aussehende Gestalten, die mit Spott und Lachen über den kleinen Sünder herfielen. Einer, der eben aus Berlin heruntergetippelt gekommen war, sagte: „Bürscheken, fängst ja zeitig an. Aus dir kann noch was werden!" In der Verzweiflung des Verlassenseins unter den fremden Männern und nun selber überzeugt, eine Todsünde begangen zu haben, durch die man in die Hölle kommt, fing der Achtjährige herzbrechend zu weinen an. Auf einer der Pritschen lag ein alter Bettelvogt, seines Zeichens ein Schuster. Dem tat das trostlose Kind leid. „Was hast denn 5 tan?" erkundigte er sich. „ A u f m Markt J n Apfel druckt", kam es schluchzend heraus. „Da leg dich her zu mir", tröstete der Alte. „ D a tut dir keiner nixen." 25
Der Knabe tat so, schlief auch bald zwischen Kummer, Reue und Müdigkeit ein. Mit dem grauenden Morgen holte der Vater Anton den Buben wieder heim. So nachgiebig wie die Mutter war der Vater Anton mit den Buben nicht. Er geriet rasch in Zorn, führte ein strenges Hausregiment und zauderte nicht, bei Gelegenheit seine Sprößlinge ordentlich zu verwalken. Gehorsam, Ordnung, Pünktlichkeit, das waren die drei Pfeiler, auf denen seine schlichte Pädagogik sich aufbaute. Waren die Schularbeiten nicht aufs Tippelchen genau gemacht, gab's kein Spielen auf der Gasse drunten. Es ergab sich von selbst, daß die wirtschaftliche Umgebung mit ihren Anforderungen an die schaffenden Kräfte der Eltern, auch den Söhnen bestimmte häusliche Pflichten auferlegte. Das Stiefelwichsen gehörte hierher. Wehe, standen sie nicht spiegelblank und schön in Reih und Glied des Morgens in der Küche! Audi die kleinen Käse, die die Mutter bereitete, in Wirtschaften und Privathäuser zu vertragen, war solch ein Amt. Diese „Geschäftsreisen" waren oft sehr ausgedehnt. Durch das Isartal bis in die Menterschwaige hinaus mußten die kleinen runden Dinger sorgsam auf einem Brette getragen werden. Der Wechsel aus dem freien Spieldasein der Isarauen in die Schulhaft der Heiliggeist-Pfarrschule trat in des Knaben Leben als er sechs Jahre alt geworden war. Nun war es aus mit dem freien Umherschweifen, dem Entdecken, Versuchen und Probieren. Statt dessen mußte er mit vielen anderen Knaben Stunden und Stunden beim Lehrer Simon Graeff in einer Stube sitzen, die nicht allzu groß geraten war. Mußte aufpassen auf unfaßbare, wahrhaft rätselvolle Dinge, mußte Striche auf die Tafel malen, dicke und dünne, und wußte doch gar nicht wozu. Der kleine Schüler, des Gehorsams gewöhnt, tat was der Lehrer ihn hieß. Aber es dauerte eine Weile, bis das Fremde aufhörte, ihm den Kopf zu verwirren. Seine Gedanken kamen häufig vom Sonnenstrand der Isar zurück, wenn der Lehrer plötzlich vor ihm stand, ihn etwas zu fragen. Dann gab es ein erschrockenes Gacksen und der Lehrer sdirieb ihm ins Zeugnis einen Verweis. „Spielt gern!" hieß es des öfteren. Oder „ziemlich unaufmerksam!" Oder „Nur nicht zerstreut!" Für die väterliche Strenge war es kein Ausgleich, daß das Zeugnis im übrigen sich sehen 26
lassen konnte. Er nahm den Sohn dennoch bei den Ohren, damit er sidi gewöhne, die schweifenden Gedanken zu regieren. Vor allem mit dem Stillsitzen hatte es seine Not. Georg, der gewöhnt war in freier Luft sich zu tummeln, zu hantieren, zu unternehmen, sollte mit einem Male festsitzen, die Hände nebeneinander unbeweglich auf den Tisch gelegt. Das war zu viel. Das brachte er nicht zuwege. Der Lehrer Graefi hatte es nicht leidit mit ihm. Einmal griff er, die quecksilberige Lebhaftigkeit zu meistern, zu dem Mittel, den schlummernden Ehrgeiz in dem Knaben begehrlich zu machen. Er versprach ihm einen Schulpreis, falls er sich drei Tage lang zusammennähme, ruhig in der Bank zu sitzen. Die Sdiulpreisverteilung war damals eine Sache von Gewicht. Schon daß sie an einem so würdigen Orte stattfand, wie der alte Rathaussaal einer war, gab ihr ein Ansehen. Es kamen außerdem auch viele Leute aus der Stadt, um an der Feier teilzunehmen. Der Pfarrer Sallinger war zugegen, sowie die Lehrer der Schule und vom Stadtrat irgendein angesehener Herr. Es wurden Lieder gesungen, und wenn die Trompetenfanfare den Preisträger aufrief, reckten sich alle Hälse, den Burschen anzuschauen, der da als ein Vorbild vor allen anderen stand. Drei Preise wurden jeweils verteilt. Den ersten hatte der glückliche Besitzer schon davongetragen. Eben trat ein Knabe vor, den zweiten in Empfang zu nehmen. Georg Kerschensteiner dachte, daß es wohl ein herzliches Glück sein müßte, vor aller Welt und vor dem Vater zumal als solch ein des Lobes würdiger Schüler dazustehen. Aber es war ihm, so sehr er sich bemüht hatte, nicht geraten, drei Tage lang nicht zu mucksen. Zwei Tage war es gelungen. Am dritten war ihm der gute Wille entwischt, er wußte selber nicht wie. Nachdem er eine Weile derart reuig dagesessen hatte, hörte er seinen Namen. Der Schrecken jagte ihm das Blut in den Kopf. Zaudernd und gar nicht selbstbewußt trat er vor. Erst als er sicher war, daß er nicht bloß geträumt, erst als er das prächtig in rotes Leder gebundene Buch, den 3. Preis, in den Händen hielt, fiel das Wundern, ein Preisträger zu sein, von ihm ab. Sein Auge suchte in der Versammlung das schmale, ernste Gesicht des Vaters. D a er es froh und gütig ihm zunicken sah, war sein Glück voll. Um den Achtjährigen an den Mittwoch- und Samstag27
nachmittagen von der Gasse fernzuhalten, schickten ihn die Eltern zu dem Lehrer Filser, einem freundlichen, gütigen Mann, der im Färbergraben für sechs Kreuzer die Woche den Kindern die Kunst des Zeichnens beibrachte. Es war damals noch nicht üblich, Hand und Auge des Schülers zum Abbilden nach der Natur zu bilden. Es wurde nach Vorlagen gezeichnet, die in den Schubladen einer gelb gestrichenen Kommode nach Stufen des Fortschritts eingeordnet waren. Es gab da eine Wellen-, Bögen-, Schnecken- und Spiralenschublade, eine Palmetten- und Ornamentenschublade, eine Augen-, Nasen-, Münder- und Gesichterschublade. Das Höchste war die Schublade mit den Landschaften von Calmette, die der Schüler Kerschensteiner wahrhaft berückend fand. In der Zeichenstunde hatte der Lehrer Filser nicht nötig, den quecksilbrigen Buben durch pädagogische Listen bei der Stange zu halten. Er war mit hitzigem Eifer dabei. Sein Kunsttrieb war hellwach. Mit den Bögen und Spiralen wußte seine Begeisterung allerdings nichts anzufangen. Wären sie nicht die Leiter zum Erklimmen der Calmetteschublade gewesen, würde er sich wahrscheinlich nach Möglichkeit darum gedrückt haben. Aber jene Höhe zu erreichen war sein Sehnsuditstraum. Eines Tages kam der Lehrer Filser mit feierlicher Miene in den Schulsaal. „Wißt ihr's schon, Kinder?" rief er aus. „Heuer werden alle Kinderzeichnungen im Glaspalast ausgestellt! Schau nur jeder, daß er was Ordentliches fertig bringt zu diesem Zweck!" Das fuhr in den Knaben Georg wie der Blitz. Der Glaspalast stand in der Meinung der Buben jener Zeit himmelhoch. Nicht wegen seiner künstlerischen Bestimmung. Nein, weil dessen Eisengerüst in nur 78 Tagen fertiggestellt worden war. „Dös haut!" schrien alle, begeistert, ihre Zeichnungen an einem derart rühmlichen Ort ausstellen zu dürfen. Der Kerschensteiner Schorschl dachte: „Nun sollen die Leute spitzen, was ich für ein ausgemachter Zeichner bin!" Fade, daß er erst bei der Nasen- und Gesichterschublade angekommen war. Mit so was konnte er sich doch nicht sehen lassen. Mit heißen Wangen schielte er nach der Calmetteschublade. Da drinn war eine Vorlage mit Schafen und einem Schäferhund! Sicher hätte er sie „pfundig" genannt, wäre dieses Wort in der Bubensprache damals schon 28
erfunden gewesen. „Ja, kannst du denn das?" fragte Herr Filser ungläubig, als der Knabe um die Erlaubnis bat, die Schafherde für die Ausstellung zu zeichnen. „I scho, i!" sagte der mit blitzenden Augen. Er kannte nämlich ein Verfahren, die Kunst zu vereinfachen. Erst kürzlich hatte er eine ganz schwierige Zeichnung zum Namenstag des Vaters zuwege gebracht, indem er die Vorlage heimlich am Fenster durchgepaust hatte. Mit der Calmettezeichnung konnte man es ebenso machen. „Nun, mein Raffael", meinte Herr Filser, „da du immer so fleißig warst, magst du es versuchen." „Raphael?" dachte der Knabe im stillen beunruhigt. Er kannte ja nur den einen, den Erzengel, der mit dem feurigen Schwert vor dem Paradiese steht. W a s meinte der Lehrer damit? W u ß t e er, daß ein kleiner Schwindel vor sich gehen sollte? Und hatte er ihn mit dem Namen des Erzengels mahnen wollen, es zu unterlassen? Denn ein Erzengel mogelt doch sicher nicht. Ein wenig beschämt schlich er, die Vorlage unter dem Kittel, in den Gang hinaus. Mit dem Pausen war er schnell fertig. Dann schlich er in den Saal zurück, um auszuzeichnen und die Schattierungen regelrecht vorzunehmen. Mit unsauberem Gewissen legte er dem Lehrer sein Blatt vor. „Ja, Kerschensteiner!" rief der mit einem belustigten Blick auf den Knaben aus. „Du bist ja ein Tausendsassa! Schaut nur, Kinder, was der alles k a n n ! . . . Weißt du was, mein Raffael — schon wieder der Raphael! — das ist so schön, daß ich es als Erinnerung für mich behalten möchte!" Dann holte er aus der Westentasche ein Guldenstück, legte es auf das Pult, sagte: „Jetzt setz dich da neben mich her und zeichne die Herde noch einmal. Diesmal für die Ausstellung. W e n n du fertig bist, kannst du den Gulden nehmen und dir kaufen, was dir gefällt." Daraufhin machte sich der Lehrer Filser nebenan mit Gipsabgüssen großer Naturblätter zu tun, eine Beschäftigung, bei der der Raffael ihm oft und oft hatte helfen dürfen. „Brauchen Sie mich heute nicht?" fragte der Knabe,, in der Hoffnung, auf diese Weise aus der Patsche zu kommen, in der er saß. „Nein, nein, heut mach ich's allein", war die Antwort. „Mach du nur d e i n Kunstwerk fertig." 29
Dem Raffael wurde unbehaglich, denn die Zeichnung wollte durchaus nicht in der alten Pracht erstehen. Er wischte und radierte fieberhaft. Schwitzte in der Aufregung so sehr, daß alles schwarz war, Hände, Vorlage, Zeichnung und Gesicht. Endlich brach er in Weinen aus, warf die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme. Und seine Locken deckten mitleidig die Herde von vierbeinigen Tieren, deren zoologischer Charakter nicht mehr mit Sicherheit festzustellen war. Jetzt kam Herr Filser herzu. „Warum weinst du denn, mein Raffael?" „Idi bring's nimmer z'samm!" kam es unter Schluchzen heraus. „Das ist nicht schlimm", tröstete ihn der Lehrer. „Das geht allen großen Künstlern so, daß sie es das zweitemal nicht mehr so schön zusammenbringen. Ich nehm bloß mein Guldenstückerl und du bleibst bei deiner Nasenschubladen, dann ist alles wieder gut." Der Georg hatte den lieben, gütigen alten Lehrer Filser verstanden. Am nächsten Mittwoch zeichnete er mit Eifer drei schöne lange Nasen, eine von links, eine von rechts, eine von vorn, ohne die symbolische Bedeutung dieser Formen für seine Lage auch nur zu ahnen. Filser, der das sah, strich ihm lustig lachend über das Haar. „Schorschl, hilfst mir heut wieder beim Gipsformen?" Den Namen Raffael hat er nicht wieder gebraucht. Der Schorschl wurde rot, aber nickte eifrig mit dem Kopf. Gepaust hat er niemals wieder 1 ). Seitdem es mit dem Lesen weniger technische Schwierigkeiten gab, war dem Eifer des kleinen Georg ein neues Licht aufgesteckt. Bücher zu kaufen hatten die Eltern kein Geld. Aber im Laden gab es stoßweise alte Exemplare der Leipziger Allgemeinen Zeitung, die als Einwickelpapier dienten. Darüber machte sich der lesehungrige Knabe her. Er las wahllos, was in seine Hände fiel. Das meiste verstand er nicht. Fiel ihm aber einmal etwas in die Hände, das seinem Verständnis zugänglich war und ihm gut gefiel, dann wurde etwas Feierliches veranstaltet. Dann wurde der Bügelteppich als Talar umgehängt. Die drei Kommoden, die längs der Wand des Zimmers standen, wurden aneinandergerückt. Und auf dieser selbstgefertigten Kanzel stolzierte feierlich der kleine Redner, laut vorlesend, auf und nieder, während die Mutter am Fenster saß und seine zerrissenen Hosen flickte.
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Es war eine strenggläubige katholische Mitte, in der das fromme Gemüt des Knaben die erste Pflege empfing. Dem christlichen Sinn der Eltern war es ein Bedürfnis, die beiden Knaben am Sonntag regelmäßig zum Gottesdienst zu führen. Der kleine Georg saß dann mit einem warmen Glanz in den Braunaugen in der hohen Halle der Heiliggeistkirdie, vom Leuditen und der Heiligkeit des Ortes andächtig durchschauert. Dann hing sein Blick zärtlich an den süßen Engelein, die ob dem Altare Rast machten, oder an der lieblichen Gottesmutter nächst der Kanzel, die ihn immer so von Herzen erbarmte, weil sie so wehmütig dreinsah. Und wenn der Gesang der Gemeinde aufquoll, mischte er seine kleine Stimme darein, froh, mit einbezogen zu sein in die Lobpreisung des unsichtbaren und doch immer daseienden Himmelsvaters. Der Kirchgang gehörte für ihn zum Sonntag, wie die neue Montur dazu gehörte und das dickleibige Evangelienbuch mit den schönen Bildern, mit den goldenen Buchstaben, die so feurig glänzten, wenn die Mutter es am Nachmittag aus dem Kasten holte, damit der Vater das Sonntagsevangelium daraus vorlese. Neben der Krippe war dieses Buch der Schatz des Hauses, der oft hat herhalten müssen dem Hausherrn als Pfand zu dienen, wenn der fällige Mietzins nicht zu erschwingen war. Verkauft hätte es der Vater nicht um den Preis der Welt. Später, als der Ältere das Lesen los hatte, fiel die Aufgabe des Vorlesens ihm zu, die er, als ein Zeichen nun für voll gerechnet zu werden, mit Wichtigkeit erfüllte. Mindestens einmal im Jahr ging der Vater mit den Buben nach Maria Eich bei Planegg wallfahrten. Das war schon um des Streifens in Wald und Flur willen ein festlicher Tag. Nach dem Kirchgang gab es auch noch Pfefferkuchen zu schnabulieren, oder farbigen Zudcer, je nachdem der Vater splendid gelaunt war. So sah die Umwelt aus, die Georg Kerschensteiners Miterzieher war, bis er das zwölfte Jahr erreichte. Es war nun an der Zeit, sich auf die Zukunft zu besinnen, zu überlegen, was aus dem Knaben werden sollte. Die Eltern wußten: er hatte einen hellen Kopf. Diese Gabe wünschten sie zu nützen, damit dem Sohne die Härte des Lebens erspart bliebe, die ihr bitteres Teil gewesen war. Aber sie hatten in ihrer kleinen Existenz nicht genug Einsicht in die Dinge der Welt gewon31
nen, um selbst eine Entscheidung treffen zu können. Darum sahen sie sich nach einer einsichtigen Person um, die ihrer Ratlosigkeit zu Hilfe käme. Es traf sich, daß Elise, eine Tochter aus Vater Antons erster Ehe, zu dem Domprobst Dr. Rampf, dem nachmaligen Erzbischof von Bamberg, in jenem Verhältnis fürsorgerischer Obhut stand, die in katholischen Kreisen als „geistliches Bräutchen" bezeichnet wird. Diesen Mann baten sie um Rat. Er zeigte sich freudig bereit, den Knaben auf seine geistigen Fähigkeiten zu prüfen. Er gab ihm Schriften und Bücher zu lesen, ließ ihn hinterher in Aufsätzen darüber berichten. Das dauerte Wochen. Endlich schlug er vor, den Knaben in das Kloster Metten zu stecken, damit er Geistlicher werde. Der Georg riß die Augen auf. Aus der Leipziger Allgemeinen wußte er, was für ein prächtig an der Donau gelegener Ort das Kloster Metten war. Für die geistlichen Herren hatte er ohnedies von jeher eine hohe Meinung, so daß er auf jeden, den er auf der Straße sah, zusprang, ihm die Hand zu geben. Daß er selber einmal in die Würde eines solchen geraten könnte, das zu denken lag ihm sternenfern. Die Vorstellung jagte ihm jetzt die helle Begeisterung ein. Sein freudiges Ja wollte ihm schon aus dem Munde springen, als die Erinnerung an die Schulstubenwelt, der er eben entronnen war, den Riegel davor schob. „Wie lange muß ich da noch lernen?" fragte er vorsichtig den würdigen Prälaten. Da er von zwölf Jahren hörte, schüttelte er entschieden den schwarzen Lockenkopf. Nicht besser erging es dem Bruder Joseph, der inzwischen praktischer Arzt in Mehring geworden war. Er wollte ihn in die Kaufmannschaft stecken, nach Köln in die Lehre geben zu einem befreundeten Händler. Zwar hatte Georg es sich in seinen kindlichen Zukunftsträumen oft als nicht übel vorgestellt, als ein bärtiger Mann hinterm Ladentisch zu stehen, Herr einer Kasse, darin die blitzenden Groschen klimpern und Geld in Menge zu verdienen. Von dem Gelde dann ein schönes Haus zu bauen, in dem die Eltern wohnen würden, die dann nicht mehr zu schuften brauchten, sondern nur beglückt auf ihren Sohn zu blicken hätten, dem Begründer ihrer schönen Tage. Aber der Ausblick auf fünf Lehrlingsjahre mit einer unbestimmten Gesellenzeit hinterher, verdunkelte auch diese Träume. Endlich erzählte ihm der Prälat von einer Lauf52
bahn als Schulmeister, die mit fünf Jahren erreichbar sei. Da griff er zu 2 ). Es war also nicht die dunkle Ahnung einer Bestimmung, die Georg Kerschensteiner auf die Bahn führte, auf der er später dem deutschen Volke dienen durfte. Er hatte ganz einfach das ergriffen, was ihm von drei Übeln als das geringste erschienen war.
K e r s c h e n s t e i n e r , Biograpnie.
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Der Seminarist. Die Herbstnebel hingen nodi zwischen den Häusern der Neuhauserstraße, als Georg Kerschensteiner in einer Morgenfrühe zum Bahnhof ging, die erste Reise seines Lebens anzutreten. Der Vater Anton begleitete ihn. Er trug den kleinen grauen Segeltuchkoffer mit den Habseligkeiten. Der Sohn hielt die Schulmappe unterm Arm, vollgepfropft mit Schulgeräten, in der auch die Aufnahmebewilligung der Präparandenschule zu Freising steckte, derzufolge er sich unverzüglich dort einzufinden hatte. Der Abschied von zu Hause war dem Knaben sauer geworden. Aber der Mutter Art in ihm begriff, daß man nun das Herz fest in die Hand zu nehmen und das Unabänderliche klaglos zu tragen hatte. Als er nach kurzer Zeit mit seinem Gepäck auf dem Freisinger Bahnhof stand, ratlos wo die Schule liegt und wie man dorthin gelangt, fiel ihm das Fremdsein so unüberwindlich an, daß er eine Weile in einer Ecke stand und herzbrechend in sein buntes Sacktudh hinein weinte. Bis der Trennungsschmerz ausgeschüttet war, hatte der trübe Frühmorgen sich in einen klaren Herbsttag gewandelt. Die Sonne trank jetzt emsig den Nachttau vom Kleid der Welt, trank auch die letzten Tränlein von des Knaben Wangen. Jetzt sah er sich um. Droben auf der Höhe erblickte er ein großes, langgedehntes Gebäude mit vielen Fenstern einladend auf die Stadt niederschauen. Besonnt lag es da, zu Füßen ein Kranz aus Bäumen im Scharlach und Gold der letzten Herbsttage. Dahinter baute ein alter Dom seine Spitztürme hoch in den Himmel. Den Sinn für das Schöne hatte die Natur als außerordentliche Gabe in die Seele des Knaben gelegt. Er stand gebannt und freute sich des Glanzes, den die Sonne in den Fensterscheiben des schönen Hauses zu entfachen begann. Er fühlte es tröstlich, daß die Welt auch anderswo schön war, nicht nur in den Isarauen daheim. 34
Das schöne Haus sei das Königliche Lehrerseminar, erklärte ein Vorübergehender, um den Namen des schönen Gebäudes von dem Knaben befragt. Dies hörend, fuhr ein Stolz in den Knaben hinein, Schützling einer so prächtigen Anstalt zu werden. Er schleppte seinen Koffer durch das Gewinde enger Gassen den Domberg hinauf, mit Vorsätzen beladen, gewiß und immer sich der Gunst solchen Unterkommens wert zu zeigen. Schließlich trat er in eine Allee hoher Bäume ein, die auf einen breiträumigen Hof, den Spielund Tummelplatz der Knaben, führte. Die Gebäude der Präparandenschule standen zweigeschossig um dieses Pflaster herum. Es waren sechzehn Schüler im ersten Kurs der Präparandenschule, die der Hauptlehrer Högg führte. Die Knaben wohnten zum Teil in dem Geschoß ob der Lehrerwohnung. Da hieß es den Übermut bändigen und hübsch stad sein, denn der Hauptlehrer Högg ging nicht zart mit den Schülern um, wenn ihm der Ärger den Kopf neblig machte. Es gab viel Neues zu erleben und nicht alles war so vollkommen, wie der neugebackene Präparand es von dem prächtigen Gebäude erwartet hatte. Für Heimweh war kein Platz in dem gedrängten Stundenplan. Um fünf Uhr des Morgens ging der Tag an mit Ankleiden, Beten, Stiefelwichsen, dem Morgenimbiß und dem Gang zur Messe ins Benediktuskirchlein, das demütig hinter dem stolzen Dome, wie der Meßner hinterm Bischof steht. Wer sein Essen bezahlen konnte, erhielt es im Hause. War einer arm, dann mußte er bitten bei guten Leuten um Gotteslohn mitessen zu dürfen. Viermal in der Woche aß Georg Kerschensteiner sich auf diese Weise satt. An den übrigen Tagen gab er sich mit dem Brotwedcen zufrieden, den er von den 1 Gulden bezahlte, die die Eltern ihm monatlich zuschicken konnten. Auf diesem Brotwecken machte er mit der Kreide Striche, zum Zeichen daß nur bis zu diesem Punkte an einem Tage gegessen werden durfte, sollte die Ration bis zum nächsten Freitisch langen. Um das Ziel, ein Lehrer zu werden, kreisten seine Gedanken nicht zu jener Zeit. Er lernte, weil es sein mußte und um die Eltern zu erfreuen. Trotzdem hielt er sich wacker im ersten Drittel der Sdiülerschar. Nur in den musikalischen Fächern wollte es nicht klappen. Ein Vierer im Geigen und 3»
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ein Dreier im Klavier, das waren üble Garnituren für ein Jahreszeugnis. Obwohl inzwischen um ein halbes Dutzend Jahre älter geworden, erging es ihm mit dem Notenlernen noch ebenso, wie es ihm als Abcschützen mit den Haarund Grundstrichen des Schreibenlernens ergangen war: er fühlte kein inneres Angetriebensein, sich mit den vielen Häkdien und Zeichen des Notensystems und allem anderen Übel der Anfangsgründe zu befreunden. Er sah den Endzweck nicht ein, und in den blauen Nebel hinein sich zu plagen, das lag ihm nicht. Es fehlte ein Anreiz, das Langweilige schmackhaft zu machen. Diesmal unternahm es der Bruder Joseph, den Georg in den Ferien manchmal auf seinen Arztfahrten begleiten durfte, den lahmen Eifer des Knaben zu beflügeln. Er versprach ihm eine Taschenuhr, wenn er es fertig brächte, bis übers Jahr ein Klavierstück ihm vorzuspielen, das für einen Anfänger recht schwierig war. Georg versprach ihm in die Hand hinein, sich zu befleißen. Es war ein Stüde Arbeit. Aber eine Taschenuhr war des Schweißes wert. Sie war seit lange der Gegentsand seiner Sehnsucht. Die Häkchen und Zeichen des Notensystems und alles andere Übel der Anfangsgründe fingen nun an, für ihn nicht mehr in kühler Fremdheit freischwebend im Räume zu hängen, unverwebt mit den Dingen, die das Herz bewegt. Sie hörten auf, langweilig zu sein, weil sie ihre Stelle hatten auf dem Weg nach einem faßbaren Ziel. Georg eroberte die Taschenuhr. Möglich, daß der Bruder Joseph bei der Prüfung ein Auge hat zudrücken müssen, wie der Lehrer Graeff damals in seiner Kinderfreundlichkeit beim dritten Preis. Die besseren Noten in den musikalischen Fächern waren der äußere Gewinn bei diesem Experiment. Was es zukunftbereitend in dem Knaben gewirkt hat, war zweierlei: Es hat etwas Angeborenes in ihm, die Spannkraft des Willens, so schwer geprüft in künftigen Lebensjahren, zum ersten Durchbruch verholfen. Es hat ferner das Tor aufgestoßen ins Reich der Töne, das ihm Tröstung und unverlierbare Zuflucht werden sollte in seinem späteren kämpferischen Leben. An den Sonn- und Feiertagen wurden die Zöglinge zum Hochamt in den Dom geführt. Georg Kerschensteiner, der eine gute Knabensopranstimme hatte, durfte im Domchor mitsingen. Dafür erhielt er im Jahre fünfzehn bis zwanzig 36
Gulden. Es war in den Jahren, da sich bei den Knaben das Geltungsbedürfnis einzustellen pflegt, als er nun Chorsänger und im zweiten Jahr ein Präparand, Besitzer einer Taschenuhr nebst Kette und einem Kommunionanzug fast noch wie neu, gerne gewußt hätte, wie ein Inhaber solch gewichtiger Dinge sich auf einem Lichtbilde ausnähme. Wochenlang schlug er sich mit dem Gedanken herum, sich photographieren zu lassen, ein Gedanke, der ihm sündhaft dünkte in Anbetracht des Preises, der zu bezahlen war. Schließlich trug das Verlangen den Sieg über die Einsicht davon. Eines Sonntags nach der Kirche begab er sich, die Chorlöhnung in der Tasche, zum Photographen. Zeit genug bis zwölf Uhr, wo er den Sonntagsfreitisch beim Bahnexpeditor hatte. Es waren schon Leute da, als er eintrat. Alle drängten sich vor, nahmen keine Rücksicht auf den Buben, der sich da ziemlich verzagt in den Ecken herumdrückte. Es wäre weiter nicht schlimm gewesen, wäre der Zeiger seiner Uhr nicht unbarmherzig auf Mittag vorgerückt. Die Expeditorsfrau hatte ihm eigens ans Herz gelegt, pünktlich zu erscheinen, da es Gansbraten mit Knödel gäbe an diesem Sonntag. Sie würden nicht warten auf ihn, das war gewiß. Und er würde, statt bei einem Gansschlegel, bei seinem trockenen Brotwecken den Sonntag verbringen müssen. Aber sein Recht als Erstgekommener geltend zu machen, oder einfach auf und davon zu gehen, wagte er gleichermaßen nicht. Es hatte längst Mittag geläutet, als er endlich dran kam. Auf dem Bilde, das dieses Erlebnis festhält, ist von der gewohnten Frische des Knabengesichts nichts zu sehen. Die ganze Q u a l des Wartens und die volle Entmutigung des Verzichtes sind ciarauf geschrieben. Und daß die Mutter Katharina vorsorglich die Hosen des Kommunionanzuges so sehr auf Zuwachs beredinet hatte, so daß sie bauschend um die dünnen Bubenbeine hingen, vollendet noch den Anschein gänzlicher Hilflosigkeit. Nach dreijähriger Vorbereitungszeit durfte der Lehramtskanditat in spe, Georg Kerschensteiner, durch den hohen Torbogen, der den Vorhof der Präparandenschule von dem Allerheiligsten des Seminars trennte, vorrücken. „Vorbehaltlich der nachträglich zu erwirkenden Altersdispens", war in dem Zeugnis vermerkt. Die Gebäude des Seminars umschlossen einen Hof, über den mittlings eine Linde ihre
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Zweige schattend senkte. An ihrer Stelle soll früher ein Ziehbrunnen gestanden haben. Von außen sah man dem freundlichen Mauerwerk nicht an, wie planlos die Jahrzehnte im Inneren daran herumgeflickt hatten. Nur über halsbrecherische Treppen und Flure konnte man von einem Lehrzimmer ins andere gelangen. Aber das Haus hatte eine Sicht über die Stadt weg ins Weite, die alles andere vergessen ließ. Die Kosttage hörten jetzt auf, denn die Seminaristen lebten in dem Internat, das dem Seminar anhing, und wo für ihre leiblichen Bedürfnisse gesorgt war. Schon seit zwei Jahren war den Jünglingen neben dem Klavier-, Violine- und Orgelunterricht auch Unterweisung in der Harmonielehre erteilt worden. Der Seminarist Kersdiensteiner hatte das rezeptive Verhalten endlich satt und fühlte brennend die Lust, sich nun schöpferisch zu bewähren. Er wollte ein Andante komponieren, das er mit einem recht poetischen Titel überschreiben würde. Ein Motiv klang ihm schon im Ohr. Nun brauchte er Zeit zu Ausarbeitung und Niederschrift. Aber Zeit war just das, was es in dem lückenlosen Aufbau der Seminarordnung nicht gab. Er mußte zur List greifen, sollte sein Künstlerdrang nicht zusdhanden werden. Als er wieder einmal seinen Husten hatte, meldete er sich krank. Unternehmungsfreudig zog er, Notenpapier und Stift unterm Rock versteckt, ins Krankenzimmer ein. Alles wäre gut gegangen, hätte er nicht bald einen großen Rechenfehler entdeckt. Er wußte nicht, daß zu den Heilmethoden im Seminarkrankenzimmer vor allem das Fasten gehörte. Für einen soliden Bubenappetit war das eine harte Probe. Am ersten Tage hielt er es aus. Am zweiten verging ihm über dem Magenknurren ein Teil der Komponistenzuversicht. So ging es nicht weiter. Da bat er einen Mitschüler, der eben aus dem Krankenzimmer entlassen wurde, ihm ein Paar Würstchen zu besorgen, die mittels eines Stricks auf dem Luftwege in den zweiten Stock befördert werden sollten, wo das Krankenzimmer lag. Das Gewagte und ein Reiz zugleich war, daß die Sendung das unterhalb gelegene Fenster des Präfekten Dresely passieren mußte. Mit Herzklopfen, doch mit Entschlossenheit wurde die Expedition unternommen. Aber wehe! Das Mißgeschick wollte, daß der Strick mit seiner Ladung sich in den Geranienstödcen dieses Fensters un38
widerruflich verfing. Alles Zerren und Probieren von oben war umsonst. Es blieb nidits übrig als den Strick seinem Schicksal zu überlassen und mit Ergebung den Fortgang der Dinge zu erwarten. Bald erschien am Fenster die Tonsur des Präfekten, der sidi die ungewöhnlichen Blüten an seinen Geranienstöcken mit betonter Umständlichkeit besah. Glücklicherweise war Joseph Dresely kein vom Strafgeist besessener Mann. War keine Böswilligkeit im Spiel, dann pflegte er über die Streiche seiner Zöglinge mit verstehender Nachsicht hinwegzusehen. Er wußte auch, wie herzlich sein Zögling Kerschensteiner ihm anhing. Er überging die Entdeckung mit Stillschweigen, vertrauend, daß sein Ansehen genügen würde, den Unfug fortan abzustellen. Der ernüchterte Komponist war froh, am nächsten Tag wieder am vollbesetzten Eßtisch des Internats zu sitzen. Das Andante hat das Licht der Welt nicht erblickt. Die seminaristische Ausbildung lag damals noch ziemlich im argen. Es wurden Leitfäden auswendig gelernt. Wer über ein nie stockendes Gedächtnis verfügte, besaß das Rüstzeug der „Bildung", das vonnöten war. Mit Bienenfleiß wurden die Lernstoffe im Speicher des Gedächtnisses aufgestapelt. Man gab sich noch nicht damit ab, im Lernenden ein Feuer des Verlangens zu entfachen, aus sich heraus in das Innere der Dinge einzudringen. Ansätze dazu, wie sie in höchsten Verordnungen da und dort zu finden waren: „das Erlernte im Zögling zu innerer Verarbeitung" und „zu größerer Gediegenheit und klarerer Anschauung zu führen", blieben vorläufig auf dem Papier. Während die Jünglinge derart mit Kenntnissen gespickt wurden, tobte im Westen der Deutsch-Französische Krieg. Der Donner der Geschütze drang nicht tief genug in die bayerischen Gaue hinein, um die Lernenden auf dem Domberg zu Freising aufzuschrecken. In dem emsigen Einheimsen für die Musterung der nahen Schlußprüfung gab es nur verstohlene Augenblicke zum Abschweifen in das Aufschäumen der Völker dort in der Ferne. Aber wenn wieder einmal ein Trupp bayerischer Streiter aus Freising nach dem Westen geworfen wurde und unter Trommelwirbel an den Bahnhof zog, riß es die Jünglinge ungestüm an die Fenster. Und es wurde ihnen im Nachstarren neidvoll inne, daß anderswo das 39
Leben hitzigere Saiten aufzog und mannhaftere Hingabe der Herzen gebot, als für eine Stilübung über die Vorzüge der Gasbeleuchtung aufzubringen war. An Randbemerkungen in Entwürfen zu Aufsätzen des Seminaristen Kerschensteiner erkennt man diese Bereitschaft jugendlicher Begeisterung, die Gedanken aus der Bindung eines Schulmeisterthemas in die Freiheit gesteigerten Lebens zu retten. Nachdem der Siegestaumel von 1871 verebbt war, duckten sich die Köpfe wieder gesammelter über die Leitfäden und Studienhefte. Das Schlußexamen lag wie ein Alp auf den Gemütern. Als die Augustsonne den heißen Atem über den Domberg schickte, ging Georg Kerschensteiner als Siebenter unter sechsunddreißig Prüflingen aus dem Schlußexamen hervor. Er hatte kürzlich erst das sechzehnte Jahr vollendet. Doch war er sich seines Wertes bewußt als ein Jüngling, der die Schülerschaft hinter sich hat und auf die Praxis des Lehrerstandes zielt, wozu er die Erlaubnis schwarz auf weiß in der Tasche trug. Die schwarze Haarfülle trug er jetzt seitlich gescheitelt und in einem kühnen Schwung aus der Stirne geworfen. Die Augen standen als blanke braune Schilder in dem pausbäckigen, immer noch knabenhaften Gesicht. Daheim fand er alles, wie es vordem gewesen war: die Mutter schaffnerisch, den Vater ein wenig altersgebeugt, doch heiter und gern dabei, am Nachmittag im Café Gröber eine Partie Domino zu spielen bei einer Schale Kaffee. Nur die freie Weite um den Fluß herum war verändert. Die Stadt hatte es aufgegeben, sich durch das Isartor beengen zu lassen. Das brüchige Haus, das ihm die Bekanntschaft mit dem Arrestlokal vermittelt hatte, war hinweggetilgt. Bis zur Brücke war Haus an Haus neu hingestellt. Eine breite Straße, Zweibrückenstraße genannt, zog sich dazwischen hin. Wer, wie Georg Kerschensteiner, die ungeduldigen jugendlichen Zukunftsträume auf einsamen Wegen spazieren zu tragen wünschte, mußte jetzt weit draußen in der Aii die holprigen, begrasten Pfade am Saum der Isar aufsuchen, wo es nach Tang roch und nach frisch geschöpftem Sand.
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Der Schulgehilfe. Das wohlige Unterschlüpfen im heimatlichen Nest war kurz von Dauer. Schon am 13. September nahm die Königliche Schulkommission den absolvierten Seminaristen Kerschensteiner beim Kragen und setzte ihn als Schulgehilfen in das Dorf Forstinning, im Bezirksamt Ebersberg. Nur bis nach Markt Schwaben ging die Bahn. Dann hieß es die Beine röhren, mehr als zwei Stunden lang. Die letzten Ausläufer des Marktes Schwaben hatte er bald hinter sich gebracht. Dann ging die Weite an, reizlos und eben. Für einen, der sidi nicht auskannte, geeignet, sich darin zu verlaufen. Der neue Schulgehilfe ging auf gut Glück in die Weite hinein, bis ihm ein Mann in den Weg kam, den er nach der Richtung fragte. „Was tust du denn in Forstinning", erkundigte sich der. In seiner neugebackenen Amtswürde durch die vertrauliche Ansprache nicht wenig gekränkt, antwortete Georg Kersdiensteiner mit Betonung: „Ich bin der neue Schulgehilfe." Da schlug der Mann die Hände über dem Kopf zusammen. „Verflucht", rief er aus, ohne seine Verdrießlidhkeit zu bemänteln. „Schickt mir da die Regierung zum Schulhalten ein Kind 3 )!" Er war nämlich der Ortslehrer von Forstinning. Er hatte es sich bequem gedacht, die großen Lümmel der Feiertagsschule dem neuen Schulgehilfen aufzuladen, um selber dieser unerfreulichen Verpflichtung ledig zu sein. Nun sah er auf den ersten Blick, daß der schmächtige Jüngling mit den dickfelligen Burschen nie und nimmer fertig werden würde. Lieber gab er ihm die Feiertagsschule für Mädchen, gleichfalls nicht ohne Bedenken, denn die Dirndl waren zum Teil ebenso alt wie der Herr Schulpraktikant. Das Dorf war, wie Dörfer sind, die weitab vom Verkehr in der Ebene liegen. Das Schulhaus traulich und klein, in dem Georg Kerschensteiner den Bauernkindern seine Schulweisheit nun eintrichtern wird. Er fühlte es erlösend, aus dem 41
Buchdasein in ein wirksames Leben zu kommen. Er glaubte sich auch aller Dinge mächtig, da er so viele Leitfäden geschluckt und das große Lob nicht vergessen hatte, das sein Seminarlehrer ob seiner Lehrprobe über die Ringelspinner ihm einmal gespendet. Mit solchen Waffen konnte es nicht fehlen. Es gab ein Selbstgefühl, gebietend vor einer Klasse zu stehen in der würdevollen Haltung, die er den Lehrern im Seminar treulich abgeguckt hatte. Es wurde aber kein so reibungsloses Unternehmen, wie er erwartete. Bald sah er ein, wie groß sein Irrtum gewesen war, wenn er früher geglaubt hatte, der Lehrer hätte es gut und nur der Schüler sei zu bedauern. Er hatte der vorgesetzten Behörde einen gehörigen „Lektionsplan" vorgelegt, mit einem nicht geringen Lernziel für jeden Tag. Das mußte jetzt eingehalten werden, sonst setzte es schlechte Tauglichkeitsnoten bei der Konferenz, und mit dem Aufrücken sah es windig aus. Es wäre ein geringes gewesen, wären die Bauernhirne nicht so schwer aus dem Zustand der Trägheit zu bequemen gewesen. Die Schülerinnen hätten lieber mit dem Schulmeisterlein geliebäugelt, als sich das Rechnen und Rechtschreiben von ihm einbleuen zu lassen. Sie waren sträflich faul. Immer wußten sie Ausreden, die Schule zu schwänzen. Bald war es ein Todesfall, bald eine Hochzeit, oder die Volkszählung oder das Schweineschlachten. Das alles war dem guten Willen des Schulgehilfen zuwider. Er wollte Staat machen mit seiner Klasse vor Gott und der Welt! Doch die Hindernisse waren wie von Eisen. Oft war ihm zumut wie einem, der einen Sack auf dem Rücken schleppen muß, zu schwer für seine Muskelkraft. „Mit eiserner Strenge wird es schon gehen!" schrieb er, sich selbst zur Ermunterung, in das Schultagebuch, das die Lehrkräfte zu führen gehalten waren. Im Seminar hatte er zwar oft erlebt, daß die Schüler aufmuckten, wenn mit dem eisernen Besen gekehrt worden war. Er selbst hatte da nicht zu den Geduldigen gehört. Aber jetzt dachte er nicht mehr daran. Jetzt, da er ein Lehrer war, war der Standpunkt ein anderer geworden, und die Dinge im Leben sehen sich bekanntlich anders an, je nachdem man sie von da oder von dort betrachtet. Da er nun alle Forschheit aufbot, fingen die Bauern an, gegen ihn zu bocken. Im Dezember vertraute er dies dem Tagebuch: „Ich hatte während des heutigen 42
Tages Verdruß. Man sagte, ich sei mit den Kindern zu grob. Idi soll midi hüten vor manchen Familien." Das hitzige Aufbrausen hatte er vom Vater geerbt, wie auch die kurzmütige Geduld. „Heiliger Simplizian", jammerte er ein anderes Mal, „zünd meinen Kindern Lichtle an!" Und als es an einem Montag wieder einmal ganz hart mit den Rechenaufgaben gegangen war, heißt es kleinmütig: „Wenn es so weiter geht, dann gut Nadit Note Eins für dieses Jahr. Dann auch gut Nacht Schullehrerei." Wenn er nicht ein Schulmeister sein kann, auf den man schaut, dann wollte er trotzig überhaupt keiner mehr sein. Der Ehrgeiz, das Beste zu tun, fing nicht erst damals in seiner Seele zu bohren an. In dieser Stimmung ging das Jahr 71 zu Ende, und an Silvester bekam er die erste Löhnung ausbezahlt. Es war nicht viel. Er erhielt im ganzen Jahre nur 250 Gulden für den vollen Lebensbedarf. Das erste selbstverdiente Geld ist ein Ereignis für jeden, wer es auch sei. Für Georg Kerschensteiner bedeutete es außerdem die Erfüllung eines langgehegten Planes. Schon im Seminar war es ihm eine liebe Hoffnung gewesen, den Eltern, sobald er zu Geld käme, einen Gulden zu schenken, damit sie einmal fühlten, wie es tut, ein Geldstück zu besitzen, um das sie sidi nicht erst hatten schinden und plagen müssen. Der Winter hatte ein großes wegloses Tuch aus Schnee zwischen Forstinning und den Markt Schwaben gespannt. Der Jüngling pilgerte aber, dem klirrenden Frost zum Trotz, dorthin, die Sendung persönlich zur Post zu tragen. Denn ein Gulden war keine Kleinigkeit, und er wollte sicher sein, daß er nicht den Weg verfehle. Schon lange war ihm nicht mehr lo leicht zumut gewesen, als auf diesem Gange, da der Gedanke an die Freude der Eltern mit ihm durch den Schnee stapfte. Bald kam ein Brief von zu Hause, in dem der Vater Anton erzählte, daß er für das Geld die Erlaubnis, Zeitungen zu vertragen, erkauft hatte. Ein Geschäft, das sich einträglich genug erwies, um die Mutter zu veranlassen, für sich ebenfalls solch eine Legitimation zu erstehen. „Auf diese Weise", heißt es im Briefe, „tun wir uns leichter schnaufen. Nur gibt es am Abend viel Hunger und Durst und müde Beine. Siehe, das ist das Lied von Deinem Gulden." Kein Wunder, daß es müde Füße gab, bei den 70 Jahren, die der Vater Anton schon auf dem Rücken trug. 43
Es wurde nicht besser mit der Schulhalterei, obwohl der Konferenzvorstand Leitner dem Schulgehilfen mit roter Tinte eine Eins unter seine Konferenzarbeit gesetzt hatte. Mittlerweile war auch in den sonst zur Heiterkeit aufgelegten Jüngling eine innere Unrast gefahren, die ihm das Gleichgewicht störte. Es war nicht die Unzufriedenheit mit seinem Wirken allein. Es war ein geheimes inneres Drängen und Gestoßensein, von dem er nicht ahnte, daß es das geheime Verlangen seiner Seele war, die Flügel zu breiten. Er fühlte sich auch einsam, ohne gleichaltrigen Verkehr, denn mit den jungen Bauern sich gemein zu machen verbot ihm seine neugebackene Autorität. Wenn er Bücher hätte, dachte er sehnsüchtig, den Durst nach Wissen zu stillen! Aber es gab keine Bücher zu leihen in dem Neste, und zum Bücherkaufen fehlte ihm das Geld. In dieser Not schrieb er eines Tages an das Kgl. Bezirksamt Ebersberg ein Gesuch um Gewährung einer Unterstützung aus dem Distriktsfonds. „Der dienstbotenmäßige Gehalt von 250 Gulden im Jahre", schrieb er, mehr unbekümmert als vorsichtig, „ist gerade ausreichend, dem gehorsamst Unterzeichneten etwas über den Hunger hinwegzuhelfen, nicht aber ihn in den Stand zu setzen, sich die nötigen Bücher und Musikalien zur eigenen Fortbildung zu schaffen." . . . Das war im Oktober 11. Das Bezirksamt Ebersberg beantwortete das Gesuch mit einer Versetzung. Georg Kerschensteiner kam nach Ledihausen bei Augsburg, mit einem Funktionsbezug von 80 Gulden pro Jahr, nebst vollständig freier Verpflegung im Hause des Lehrers. Es wurde ihm eingeschärft, auf diesem Posten, neben dem Schulunterricht, ohne Murren auch die Mesnerund Chordienste zu übernehmen, nebst der Gemeindesdireiberei, soweit sie zu den Verpflichtungen des Ortslehrers gehörten. Lechhausen war damals noch nicht in den Ring der Stadt Augsburg einbezogen, besaß aber schon alle Eigenschaften einer Fabrikvorstadt. Kleine Häuser umdrängten die Kirche. Das Wirtshaus ihr gegenüber war stattlich und groß, während das alte Schulhaus kaum Raum genug hatte, neben den Schulzimmern den Ortslehrer mit seiner Familie und den Schulgehilfen unterzubringen. Die neue Pankratiusschule war erst im Bau. Auch in Lechhausen kam es zu keiner rechten Schaffens-
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freude, obwohl Georg Kerschensteiner sich nada Kräften bemühte. Sein Ehrgeiz war nun erst recht rege. Er wollte seine Anstrengung durch einen glänzenden Stand seiner Klasse belohnt sehen. Dazu war er in Lechhausen aber erst recht fehl am Platze. Bald war es ihm zum Greifen, daß die Sprößlinge einer bodenständigen Bauernschaft, waren sie in Forstinning auch lernfaul und bockig gewesen, dem Lehrer geringere Schwierigkeiten bereiteten als die Kinder einer wurzellosen Fabrikbevölkerung. Hier ließen die Schüler an Faulheit und frechem Wesen nichts zu wünschen übrig. Der von seiner Kultursendung überzeugte Schulgehilfe ist empört über das „erziehungslose Benehmen" dieser Vorstadtjugend, die sich erdreistete, auf offener Straße hinter dem Lehrer herzulachen, ja sogar ihn auszupfeifen, wenn es gerade beliebte. Er gab die Schuld der Aufsichtslosigkeit der Kinder, deren Eltern von früh bis spät außer Haus sind. „Die Anlagen sind um die Mittelmäßigkeit gruppiert", heißt es im Schultagebuch, „Talente sind ganz selten, wohl weil die Gehirntätigkeit der Eltern selbst nicht weit her ist. Alles Denken richtet sich schon nach dem Gelderwerb." Die Kenntnisse findet er „wie bei den Hottentotten", das Rechnen „nahe dem Gefrierpunkt". Und gar das Lesen „humpelt wie auf Holzpantoffeln daher". Er hat einmal Verdruß mit dem Pfarrer gehabt. Die entsprechende Notiz in dem Schultagebuch, in höchst anfechtbarem Seminaristenfranzösisch gehalten, lautet: „Si le curé n'est pas bon, il monte moi quelquefois dans le chapeau!" Warum schreibt er im ganzen Tagebuch diesen einzigen Satz auf französisch? W a r seiner Auffassung nach der Pfarrer eine so gewaltige Persönlichkeit, daß sein verzagtes Herz Sorge tragen mußte, daß nicht ein jeder zu entziffern vermöchte, wie ein vermessener Schulgehilfe wagt, gegen die sakrosankte Person eines Ortspfarrers aufzubegehren? Vermutlich saß ihm der Respekt vor den Hochwürdigen Herrn von der Kindheit her noch in den Knochen. Auch die Lehrmittel waren in dem kleinen Betrieb recht mangelhaft, wie sich denken läßt. Es gehörte Findigkeit dazu, sich zu helfen, wenn man mit dem bloßen Worte nicht durchdrang. Es kam einmal im Naturgeschichtsunterricht bei der Behandlung der Einhufer zur Beschreibung des Pferdes. Die Vorstellungen dieses im Straßenleben doch häufig zu be45
obachtenden Tieres erwiesen sich bei diesen Gassenbuben als erstaunlich lückenhaft. Wie der Schulgehilfe sich auch plagte, es gelang ihm nicht, den Gedächtnisvorräten genaue Antwort zu entlocken. Zwar hingen an den Schulwänden wie üblich Anschauungsbilder verschiedener Art. Ein Bild des Pferdes war unglücklicherweise nicht dabei. Der Unterricht drohte zu versanden, das Unterrichtsziel wieder einmal verfehlt zu sein. Die schlechte Qualifikation stand drohend vor ihm. Was tun? Da erinnert sich der Gehilfe, daß er an diesem Tage ein buntes Hemd trägt, das mit kleinen Pferddien lustig bemustert ist. Gelegenheiten beherzt beim Schopf zu fassen, fällt ihm nicht schwer. Schnell reißt er den Rock vom Leibe, um durch die Musterung seines Hemdes die stockenden Vorstellungen in den Köpfen flottzumachen. Es gelang. Das Lektionsziel wurde erreicht und die Sorge vor der Konferenznote war wieder einmal verscheucht. Es waren nicht nur die gehäuften Schulnöte, die ihn auch des neuen Aufenthaltes nicht froh werden ließen. Das innere Ungenügen war ihm wie sein Schatten nach Lechhausen gefolgt. Der seelische Wachstumstrieb ließ sich nicht länger unterdrücken. Unbefriedigt, vergällte er ihm all sein Tun. Georg Kerschensteiner fühlte sich in Lechhausen ebenso einsam, wie es in Forstinning der Fall gewesen war. Obwohl noch eine evangelische Schule im Ort war, fand er keinen Kameraden, weil der Verkehr zwischen beiden Schulen, konfessioneller Engherzigkeit halber, nicht gern gesehen war. Sein Vorgesetzter, der katholische Oberlehrer, war ein rückständiger, wenig wohlmeinender Mann, dem jüngeren Kollegen weder ein Vorbild noch eine Stütze. Wohl gab es im Ort ein paar Familien, die den Schulgehilfen freundlich aufnahmen und bewirteten. Auch traf er im Gasthaus zum Ritter zuweilen mit dem Schulrat Bauer zusammen. Aber zu mehr als einem verlegenen Gespräch kam es dabei nie. Eine freudige Überraschung bot sich, als Joseph, mittlerweile zum Bezirksarzt in Augsburg ernannt, eines Tages in Lechhausen auftauchte, dem Bruder die junge Frau zu zeigen, die er kürzlich heimgeführt hatte. Julie Reisenegger war ein Wesen, das mit kluger und herzlicher Anteilnahme den Menschen entgegentrat. Das spürte der Schwager im ersten Augenblick und schnell faßte er eine Zuneigung zu ihr. Er 46
scheute nicht die zwei Stunden Wegs, um das Paar in Augsburg aufzusuchen, sich dort ein Buch zu holen oder sonst etwas für seinen inneren Menschen in der Fühlung mit dem akademisch gebildeten Bruder und seiner gescheiten Frau zu tun. Dabei kam es einmal vor, daß er zu lange verweilte und nicht ganz pünktlich seinen Unterricht in Lechhausen antrat. Der Ortslehrer stellte ihn füglich, doch auf eine kränkende Weise zur Rede. Da brauste der Jüngling, der ein rechter Zornnicki war zu jener Zeit, auf, daß es wohl leicht sei, die Minuten zu zählen, wenn man um seine Fortbildung keine Sorge trüge. Doch ihm dürste die Seele nach einer besseren Bildung, von der ein alter Landschulmeister natürlich keine Ahnung habe. Hinterher war er über die kühnen Worte selber erschrocken. Aber das leidenschaftliche Temperament zu zügeln, ging noch sehr lange über seine Kraft. Das junge Paar zog nach kurzem von Augsburg nach Ansbach, wohin Joseph versetzt worden war. Für Georg ein empfindlicher Verlust. Traurig schrieb er an Julie folgenden Brief: „Es ist schon eine hübsche Zeit vorbei, seitdem Du Augsburg verlassen hast; warum ich Dir nicht schon längst geschrieben habe, weiß ich selber nicht. Sitze ich doch oft manchen Tag, seitdem Ihr fort seid, auf meinem Zimmer wie eine ägyptische Mumie und gucke in die Zukunft wie ein Sterngucker in den weiten, endlosen, rätselhaften Himmelsraum. Auf allen meinen Gedankenwegen stellen sich mir fast immer riesengroße Fragezeichen entgegen, welche alle Tage einer Lösung harren und sich wieder meistens in dunkle Fernen begeben. Oft fühle ich mich so einsam und alleinstehend, daß mir all mein Mut in die Hosen sinkt und nicht selten treffe ich mich über meinen Büchern in Brütereien versunken an, die mit öder Langweile enden. Vielleicht mag es Dir unklar sein, was ich da schreibe. Ich könnte, aber ich will es Dir nicht klar machen. Zum Glück habe ich viel Arbeit, die läßt mich dann oft vieles vergessen . . . " Darüber wurde es Herbst und nun ging ihm doch eine Hoffnung in Erfüllung. Georg Kersdiensteiner wurde nach Augsburg versetzt. Diesmal lief sein Lebensschiff bewimpelt in den neuen Hafen ein. Er ahnte nicht, daß das Schicksal entschlossen war, mit diesem Wandel einen anderen Wind in seine Dinge zu bringen. Was ihn die Drangsal des Ver47
gangenen vergessen ließ waren die Bibliotheken, die die Stadt Augsburg offen hielt für jeden, dem es um Mehrung des Wissens zu tun war; das waren die mancherlei Anregungen des städtischen Lebens; das war der Umgang mit altersgleichen Jungmännern, die mit ihm das Gemeinsame des Amtes und des Strebens hatten. Sein aufgestauter Bildungshunger stürzte sich mit Ungestüm auf diese Möglichkeiten. Gute Umstände führten ihm eine Handvoll Gleichgesinnter zu, die ein wissenschaftliches Kränzdien verabredeten, um sich gegenseitig in den wissenschaftlichen Dingen zu fördern. Referate aus verschiedenen Wissensgebieten wurden verteilt. Georg Kerschensteiner lud sich die Chemie auf, die ihm wie kein anderes Fach fern lag. Das bequem Erreichbare war ihm nie ein Anreiz. Immer griff er nach Aufgaben, die den ganzen Einsatz der Kraft aufriefen. Mit Feuer sprang er in das Unternehmen. Er nahm ein Lehrbuch zur Hand, es war der alte Stöckhardt, studierte so wie er im Seminar den Umgang mit den Wissenschaften kennengelernt hatte, wo man ebenfalls nur an die Worte, nicht an die eigentlichen Dinge gekommen war. Als die Zeit da war, hielt er „wohl vorbereitet" seinen Vortrag. Er, dem sogar die Physik ohne Experiment beigebracht worden war, dachte nicht daran, seinen Vortrag durch das Experiment zu erläutern. Er dozierte drauflos. Die Wirkung war vernichtend. Er hatte sein Gedächtnis bis oben hin mit den neuen Kenntnissen beladen, so daß er aus dem Wust selber nicht mehr herausfand. Nach zwei Stunden war sein siebenköpfiges Auditorium eingeschlummert. Betroffen raffte er sein Konzept zusammen, stürmte in die Nacht hinausEr wußte nicht, wohin die dunklen Gassen führten, durch die er floh, als wäre der Hohn der Kameraden auf seinen Fersen. Sein Selbstgefühl war jämmerlich zugerichtet. Er meinte, die Schande verwinde er nie. Er kam an den Fluß, der schwarzglänzend fortströmte, die silberne Schleppe des Mondes auf dem Rücken. Der Naditwind zauste sein Haar, kühlte ihm die Stirn. In dem hitzigen Ausschreiten beruhigte sich sein Blut. Er war jetzt nahe dem Augenblick, da er Niederlage und Beschämung in einem tapferen Entschlüsse hinter sich warf. Dann trat er, ein schonungsloser Prüfer seiner selbst, vor sich hin. Hat er die Lektion am Ende wohl verdient? taucht ihm ein Frage48
zeidien auf. Eine Ahnung von der Hoheit der Wissenschaft, die sich nicht einfangen läßt mit spielerischen Händen, fliegt ihn an. Die läßt ihm nicht nur sein letztes Unterfangen, auch alles, was er vorher im Namen der „Bildung" zu tun und zu glauben gelernt hat, in einem zweifelhaften Lichte erscheinen. Er hatte das Seminar verlassen in der Sicherheit, ein wohlunterrichteter und darum — so meinte er damals — ein gebildeter Mensch zu sein. Jetzt fängt er zu begreifen an, daß die Gedächtnismast seiner Lehrjahre als ein nur oberflächlicher Firnis des Geistes ohne verbindende Kraft für sein inneres Wesen geblieben ist. Jetzt versteht er, was die quälende Unrast der letzten Zeit zu bedeuten hatte. Die Seele läßt nicht ungestraft die innewohnenden Kräfte «verkümmern, sie will ihre Fähigkeiten nützen, und wo das Leben ihr keine Möglichkeit bietet, verkümmert sie und bleibt leer. Die Erkenntnis seiner sträflichen Unwissenheit fällt ihn an. Und nun ist ihm wie dem erschrockenen Kinde, das ins Dunkel geraten, den Ausweg in die Helle nicht mehr findet. Denn nun ist ihm klar: er wird sein Leben lang ein Handlanger bleiben müssen, wo doch alles in ihm drängt, ein Meister zu werden. Darüber kommt ihn ein hoffnungsloses Weinen an. Ungewisse Zeit irrt er am Saum des Flusses her und hin. Mit dem Gram um sein ratloses Leben kehrt er aus der nächtlichen Wanderung heim. Es kam ihm kein rascher Trost aus der argen Niedergeschlagenheit. Doch trug ein Zufall dazu bei, die Wendung seines Lebens einzuleiten. Unverhofft traf er eines Tages den Bruder Joseph, der inzwischen Bezirksarzt in Ansbach geworden war und nun dienstlich in Augsburg zu tun hatte. Im Laufe einer Unterhaltung ließ der Doktor ein unbesonnenes Wort über die Halbbildung der Schulmeister fallen. In der seelischen Verfassung, darin der Jüngling sich befand, wirkte das Wort wie ein Keulenschlag. Der Sturm bäumte sich von neuem mit größter Heftigkeit auf. Als er später zum Essen in den Meuchelegarten kam, traf es sich, daß er mit Dr. Pumplin, dem Rektor der Kreisrealschule, zusammensaß. Es war nicht Georg Kerschensteiners Art, die inneren Nöte vor anderen auszubreiten. Er fraß immer alles in sich hinein. Diesmal aber war es ihm unmöglich, die aufgerührten Gefühle für sich zu behalten. Er schüttete dem Rektor sein Herz K e r s c h e n s t e i n e r , Biographie.
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aus. Warum er denn nicht das Gymnasium nachhole, was ihm doch nicht schwer fallen könnte bei der Vorbildung durch das Seminar, erkundigte sich Dr. Pumplin. W a r es der aufmunternde Ton der Frage? W a r es, daß der Gedanke, ihm unbewußt, schon lange in ihm gelebt hatte, da er ihn gleich mit solcher Zustimmung zu fassen vermochte? Doch da er sich die Frage der Ausführung stellte, türmten die Schwierigkeiten sich zur Unmöglichkeit. Von den Eltern hatte er keinen Kreuzer Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil. Er mußte sie erhalten, wenn sie später zum Arbeiten nicht mehr tauglich waren. W a r es erlaubt, bei solcher Aussicht die sichere Lebensstellung des zukünftigen Lehrers zu verlassen und seine Sache auf nichts zu stellen? Schon manche Entbehrung hatte er getragen. Sollte er neue auf sich laden? „Wach auf, mein Mut, Nidit ist es gut Und männlich nicht das Schwanken! Bist du ins Feld In Kampf gestellt, Nicht kämpfe in Gedanken."
So ruft er in einem seiner Gedichte aus jener Zeit die T a t auf. Das inwendige Drängen der brachliegenden geistigen Fähigkeiten trieb allmählich einer gewaltsamen Lösung zu. Tag und Nacht bohrte sein Verstand an dem Problem herum, wie er es anstellen könnte, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Einstweilen kaufte er eine lateinische Grammatik, probehalber neben dem Schulamt auf eigene Faust das Gymnasialpensum zu bewältigen. Ein Lateinschüler der Obertertia, ein Hausmeisterssohn, korrigierte seine Übersetzungen. Immer sechs Stüde für einen Kreuzer. Dieser jugendliche Helfer war bald überflügelt. Nun mußte ein Oberprimaner für die Korrektur gewonnen werden. Das ging schon besser ins Geld. Ein Sechser mußte jetzt dem schmalen Schulgehilfensold jedesmal abgeknackt werden. In Kürze war es sonnenklar, daß ohne geregelten Unterricht nicht durchzukommen war. Ernsthaftes Studium ließ sich mit den Lehrerpflichten nie und nimmer vereinen. Es war ihm ja nicht um den äußeren Bildungsanschein zu tun. Ein gediegenes Fundament von Kenntnissen wollte er erringen, darauf der Bau geschlossener Bildung einst sicher ruhe. Der Ehrgeiz loderte
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in ihm, es später jenen Trägern würdiger Namen gleichzutun, die beigetragen haben zum Gelingen guter Dinge im Vaterland. Eines Sonntags war er wieder vom ersten Hellwerden bis in die späte Nacht hinein hinter der lateinischen Grammatik nebst den zugehörigen Übersetzungen gesessen. Schließlich legte er Bücher und Hefte unbefriedigt aus der Hand. Die Nacht brach herein, die Sterne glühten auf. Wieder saß er „wie eine ägyptische Mumie" an seinem Fenster und begrübelte sein Schicksal. Das Ungeklärte seiner Lage steigerte sich ihm zur Unerträglichkeit. Er war vor allem unzufrieden mit sich selbst. Schon hundert Male hatte er sich vorgeworfen, daß der kein rechter Mann ist, der nicht wagt, Seelenfrieden und Lebenssicherheit und alles Lockende hinzugeben für ein als wertvoll erkanntes Ziel. Die Mahnung, das Hemmende hinter sich zu werfen, stand plötzlich unwiderstehlich vor ihm da. Sie zwang ihn nochmals an sein Schreibpult. Mechanisch nahm er ein Blatt Papier zur Hand. Noch war ihm nicht voll bewußt, was zu tun er im Begriff stand. Bis ihn der Entschluß, der lange in ihm gegärt, in jähem Sturz überbrauste. In dürren Worten stand, ehe er sich dessen versah, das Ungewöhnliche auf dem Blatt, daß ein Schulgehilfe der vorgesetzten Behörde den Stuhl vor die Türe setzt, just zu dem Zeitpunkt, da er in die Reihe der besoldeten Lehrerschaft einrücken sollte. Eilig schloß er den Brief, trug ihn, der Nacht nicht achtend, noch zur Post, damit das Unwiderrufliche getan und reuiger Umkehr der Boden entzögen sei. Das Gesuch trug das Datum des 5. Dezember 1873. Als er den hellen Aufklatsch des Briefes im Kasten hörte, war ihm, als poche ein knöcherner Finger an sein Herz. Er wußte, was kommen mußte: Ringen mit Hindernissen, hartes Kämpfen mit der Lebensnot. Es war ihm aber trotzdem frei und leicht zumut, wie es immer ist, wenn eines Menschen Tun den Punkt gefunden hat, der seinen Lebensgrund bejaht. Es wurde ihm nichts geschenkt von dem Tribut, den das Schicksal für seine Einmischung sich zollen ließ. Kreuz und quer hetzte er von nun an durch das winterliche Augsburg, dem Broterwerbe nach. Er ließ es sich nicht gereuen. Das Hungern kannte er von Freising her. Es würde ihn nicht sonderlich verdrossen haben, hätte die Zukunft sich nicht
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trotz alledem verdüstert. Je weiter die Studien fortschritten, um so unabweisbarer stellte sich die Unmöglichkeit heraus, auf dem eingeschlagenen Wege zu soliden Kenntnissen zu kommen. Er hätte jetzt einen richtigen Professor gebraucht, ihn durch den Wald auftauchender Zweifel und Fragen zu führen und dem Ungeregelten seines Studienganges eine feste Form zu geben. Aber den Luxus so kostspieliger Unterweisung konnte der Exhilfslehrer sich nicht leisten. Er sah und sah kein Ende, daß es anders werden könnte. Er glich jetzt einem Manne, der sich ins Meer gestürzt hat, um eine Insel zu erreichen, die er zu sehen geglaubt, und der nun weiß, daß es nur eine Fata morgana gewesen ist. Wenn nicht eine freundliche Fügung kam, dann war das Opfer umsonst gebracht. Die Fügung kam. Julie hatte den um Verdienst durch Privatstunden bemühten Schwager an eine Verwandte, die Notarswitwe Müller, empfohlen, deren Töchter Mathilde und Sophie in Klavier und Gesang zu unterrichten waren, für welche Leistung er monatlich zwanzig Mark bezog. Es war nicht nur, daß seine Finanzen eine kleine Erleichterung dadurch erfuhren. Ungeahnte Folgen bahnte dieser Verkehr an, so daß es aussah, als geschehe alles vorbestimmt und vorbestellt. Die Familie Müller stand in Beziehung zu den Patres von Sankt Stephan. Durch sie erfuhren die Ehrwürdigen von dem jungen Hilfslehrer, der in seinem Streben durch die Armut gehindert war. Die Benediktiner unterhielten das beste humanistische Gymnasium der Stadt. Es gab in den Klosterzellen bedeutende Lehrer, Männer von hoher Geistesbildung, voll gütiger und tätiger Menschenliebe und jeglichem edlen Streben zugetan. Unter ihnen war einer, dem die Weglosigkeit des Jünglings ans Herz ging. Es war der Pater Professor S e p p , der Ordinarius der Obersekunda des Gymnasiums. Das Christuswort: was ihr dem Nächsten tut, das habt ihr mir getan, mochte ihn geführt haben, da er sich entschloß, der Mentor dieses Suchenden zu werden. Er ließ ihn häufig zu sich kommen, seine Geistesgaben und den Stand seiner Kenntnisse zu prüfen, vielleicht mehr noch um seine Seelenhaltung kennenzulernen. Nachdem er seiner Fähigkeiten und der Lauterkeit seines Wesens sicher geworden war, bot er ihm an, aus freien Stücken ihm solange 52
privaten Unterricht zu erteilen, bis er in eine der oberen Gymnasialklassen eingereiht werden könnte. Es war dem überraschten, der sich vor Jubel kaum zu halten wußte, als hätte unversehens ein Engel Gottes seinen Weg gekreuzt. Jeden Tag wanderte Georg Kerschensteiner jetzt in den stillen Winkel des Kapuzinergäßchens, wo das Gymnasium mit seinem schönen Portale sich an die Kirche von Sankt Stephan anlehnt. Die Zeit ging dahin vom Ernst des Lernenden und der Hingabe des Lehrers beschwingt. Nach dritthalb Jahren war es so weit geschafft, daß „trotz der notwendigerweise noch vorhandenen Lückenhaftigkeit" die Aufnahmeprüfung in die Unterprima des Gymnasiums gewagt werden konnte. Um dem Prüfling an strenger Anforderung nichts zu schenken, gab man ihm in Latein und Griechisch die Absolutorialaufgaben des vergangenen Jahres zu übersetzen. Als er kurz darauf hellbefriedigt und voll Glücks ohne Maßen, nun ein Ebenbürtiger unter sechsunddreißig neuen Kameraden zu sein, in seiner Klasse saß, kam ein kleiner Dämpfer. Der Doktor Pater Narzissus Liebert, Ordinarius der Unterprima, gab ihm seine Prüfungarbeiten zurück. Unter der lateinischen stand „Nil desperandum!" Unter der griechischen: „Diese Arbeit ist ungenügend." Das warf ihn in bewegender Weise auf sein Gewissen zurück. Er begriff: wie weiland der kinderliebende Lehrer GraefT hatten auch die Patres nach dem Geiste, nicht nach dem Buchstaben gerichtet. Und er fühlte den Sporn der Ehrenpflicht, nun erst recht mit aller ihm innewohnenden Energie und Hingabe auf sein Ziel loszuschreiten. Aber auch der jungen Körperkraft sind Grenzen gesetzt. Ihr unausgesetzter Mißbrauch mußte sich rächen. Ein nervöses Kopfleiden stellte sich ein, gerade um die Zeit, da das nahende Absolutorium strengste Sammlung des Geistes gebot. Als quälendes Brennen und Kribbeln zeigte es sich an, so als kröchen Spinnen oder Ameisen über die Kopfhaut hin. Bei jeder geistigen Betätigung brach es los. Sollten die letzten Wochen nicht verloren sein, mußte mit der ständigen kalten Kompresse auf dem Kopf gelernt werden. Auch dieses lag eines Tages hinter ihm. In das treffliche Abgangszeugnis, das die Mühe so vieler Jahre krönte, stand ein Lob über die erstaunliche Beharrlichkeit seines Willens und eine Extra-
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bestätigung seiner hervorragenden musikalischen Befähigung. Da es aber eines der Gesetze seines Schicksals war, daß ihm im Leben nichts glücken sollte, es sei denn vorher durch Leid oder Prüfung entgolten, starb ihm sein Vater 77jährig an einem Bruchleiden mitten in sein Absolutorium hinein. Nun galt es, ein neues Ziel tiefer in die Zukunft zu stecken. Was soll er werden? Es lebte keine ausgesprochene Neigung zu einem bestimmten Wissensgebiete in ihm. Er war der Laufbahn des Volksschullehrers entflohen, um ein Leben zu beginnen, darin seine Sehnsucht nach wahrhafter Bildung erfüllbar wäre. Die Halbbildung des Seminars abzustreifen war es ihm zu tun gewesen, darum, nicht als ein Stümper vor Gott und der Welt zu stehen. Kurze Zeit dachte er an die Jurisprudenz. Als aber sein Lehrer Stengl ihm zur Mathematik riet, schlug er, einem Bedürfnis seines Geistes nach exaktem Wissen folgend, ein. Es war ihm auch lieb, daß das Lehrfach sein Daseinskreis bliebe. Weil er aber nicht anders konnte, als seinen Ehrgeiz immer in die Sterne zu hängen, schwor er sich den Eid: dereinst in dieser einwandfreiesten aller Wissenschaften, in der allerbesten Schule, der beste Lehrer zu werden 4 ). Inzwischen hatte der stürmische Vorwärtstrieb sich mit dem Verlangen verbündet, die Braut zu erwerben. Die kleine Klavierschülerin Sophie Müller, jetzt im vollen Liebreiz ihrer sechzehn Jahre, hatte sein Herz seit langem entflammt. Durch die Heirat Josephs mit Julie Reisenegger gehörte er in den Familienkreis der Müller, kam folglich oft in das schöne alte Haus am Karolinenplatz C 54, das mit seinen geschwungenen Giebeln auf die Apsis des Domes sieht. Dieses Haus, ein alter Domherrnhof, ehedem dem Domherrn Freiherrn von S t a u fenberg zu eigen, hat alle Phasen einer selig hoffenden und wiederum verzagenden Jünglingsliebe mit angesehen. In einem späteren Briefe nennt er jene Zeit die „jammervolle Zeit" seiner Liebe, wo er selig war, nur einen Blick von der Kleinen zu erhaschen oder ihr in schüchterner Verehrung ein kleines Gedicht zuzustecken, mit Rosen und Vergißmeinnicht sinnig bemalt. Es kamen aber noch andere Jünglinge in die Familie, die darauf brannten, der jüngsten der drei Schwestern den Hof zu machen. Diese hatte ihren kindlichen 54
Spaß daran, bald diesen, bald jenen der Anbeter am Seile ihrer Gunst ein wenig zappeln zu lassen. Je nachdem das Barometer der Gunst für Georg auf gut oder trüb stand, strömte sein Gefühl in jauchzenden oder in wehmütigen Liedern aus. In einer Februarnacht, da das Herz ihm wieder einmal bitter war vor Klage und gekränktem Stolz, hoben sich in den schlaflosen Stunden hadernde Reime in seiner Brust: „Raff dich auf, du alter Junge, Werd ein Kämpe, werd ein Mann, Mußt nicht an dem Herzen hangen, D a s dich doch nicht lieben kann."
Ist aber sein Himmel wieder heiter, verfliegen Trauer und Trotz wie Wölkdien vor die Sonne gespannt. Dann jubelt er ein preisendes Frühlingslied in die Welt mit dem Schlüsse: „Auch ich bin wieder aufgewacht Aus trüben, bösen Tagen, Von neuem wieder Liebe lacht, Die ich doch fast begraben. Drum junges Herz freue dich U n d laß die Leiden ziehen, Der liebe Gott läßt sicherlich Sein Veilchen für dich blühen 5 )."
Georg Kerschensteiner war schon damals nicht der Mann, abzuwarten, ob ein begehrtes Glück ihm in den Schoß fallen wird. War er auch arm und ein Schüler bloß, der in der Welt nichts galt, er glaubte mit dem Recht des Herzens vor die Mutter treten und sie bitten zu dürfen, ihr jüngstes Kind ihm für die Zukunft anzuvertrauen. Die Notarin ließ es an Bereitwilligkeit fehlen, angesichts der Umstände wohl zu verstehen. Sophie war noch blutjung. Und sie selber ein bequemer Mensch, dem der Sinn nicht danach stand, Verantwortung auf sich zu laden, für den Fall, daß so eine Sache später zu Enttäuschungen führen sollte. Es verkehrten außerdem in ihrem Hause junge Männer, die ihr als Schwiegersöhne gemäßer waren als der schwungvolle Jüngling, in dessen Wesen sie etwas Überlegenes witterte, das ihrem engbürgerlichen Sinne zuwider war. Doch würde sie diese Bedenken zurückgestellt haben; den Ausschlag gab, daß sie, die Katholikin strengster Observanz, dem feurigen Verehrer keine sonderliche Festigkeit in den kirchlichen Dingen zu-
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trauen konnte. In dieser Hinsicht stand es mit ihrem Vertrauen schlecht. Aber der junge Kerschensteiner, dem die Tränen trotziger Verzweiflung von den Wangen rannen, ließ mit Bestürmen nicht nach. W i e kann von Enttäuschung die Rede sein, da er sein Herz so voll von Sicherheit und von Glut fühlt? Und wenn! Wenn Gott wirklich das Unfaßbare zulassen könnte, daß zwei liebende Herzen erkalten, wäre dann das nichts gewesen, was bis zu diesem trostlosen Augenblick an Liebe und Seligkeit gelebt worden war? Nein, leer auszugehen in dieser Stunde, das kann er nicht ertragen. Und würde man ihm in der einen Hand den klugen Verzicht, in der anderen ein Glück zur Wahl reichen, dem die Vergänglichkeit auf der Stirne geschrieben steht, dann würde er ohne Zaudern das letztere wählen, trotz allem! Darum lasse man ihm wenigstens einen Funken Hoffnung, womit er sich begnügen wird für den Augenblick. Die Notarin blieb bei ihrer Weigerung. So hochmütig sah sie von ihrer Höhe der wohlsituierten Augsburger Tuchhändlerstochter herab, so ganz glaubte sie der Macht ihres Mutterwortes über ihr Kind gewiß zu sein, daß sie es nicht einmal für geraten hielt, den jungen Heißsporn aus der Nähe der Tochter zu verbannen. Nach wie vor kam er täglich in ihr Haus. Aber sie hatte die Rechnung ohne die Tochter gemacht. Sophie Müller hätte nicht jung und sie hätte kein Weib sein dürfen, sollte die stürmische Werbung ihr Herz nicht gewinnen. Sie zürnte der Mutter ob ihrer Strenge. Hatte eine Mutter überhaupt das Recht, sich zwischen zwei treuliebende Herzen zu schalten? Obwohl bisher ein fraglos gehorsames Kind, spürte sie mit einem Male den Trotz, in dieser Frage der Mutter die kindliche Gefolgschaft zu versagen. Es war ein Grüner Donnerstag, da das Paar die Gelegenheit einer unbewachten Stunde nützte, sich zu heimlicher Aussprache vor der Stadt draußen, wo man der Aufpasser sicher war, zu treffen. Gewitterfahle Wolken verschatteten den Himmel. Sie achteten es nicht, denn sie fühlten, daß in dieser Stunde Schicksal über ihnen war. Und als das Gewitter sich tobend über ihren Köpfen entlud, waren sie so durchleuchtet vom Glück ihres Treugelöbnisses, daß sie nichts fühlten als ihren gestählten Willen, wie diesem Unwetter auch allen Stürmen zu trotzen, die über ihre Liebe kommen mochten.
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So oft die nahegelegene Schule eine Pause erlaubte, sprang der junge Sausewind in langen Sätzen die Treppe im Hause am Karolinenplatz hinauf und steckte den vorwitzigen Kopf in die Küche, wo die Kleine dabei war, mit brennenden Wangen das Braten von Schweinsrippchen zu erlernen und von anderen leckeren Dingen, die er gerne aß. Fand er sie nicht am Herd, dann stürmte er hinter in den Garten, wo ein reizender Pavillon im Geschmack des Rokoko stand, darin sie häufig mit ihrgm Nähzeug saß. Die heimliche Brautschaft kannte keine rauschhaften Stunden. Es war eine kindlich harmlose Seligkeit, die wenig brauchte zu ihrem verschwiegenen Glück. Ein inniger Blick, ein Händedrude, ein seltener, heimlich geraubter Kuß, das Bewußtsein gegenseitigen Sichangehörens war ihnen genug. Daneben hatten beide ihren Pflichtenkreis. Dem Georg füllte die Schule die Zeit, wie der Hauslehrerposten, den er bei dem Rentbeamten Rietzler einnahm und der ihm den Lebensunterhalt eintrug. Sophie spielte das Hausmütterchen. Nebenbei trieb sie ein wenig Französisch, ein wenig Italienisch, ein wenig Klavier und Gesang, alles in der dilettantischen Weise, die das Merkmal der höheren Frauenbildung jener Zeit war. Nie ging sie zum Tanz, selten in eine gesellige Unterhaltung. Der enge Kreis des Hauses und der Verwandtschaft war ihr genug. Das Aufgeschlossensein der Jugend eignet Sophie Müller nicht. Sie hatte keine Kränzchenschwestern, keinen jungmädchenhaften Verkehr. Der herbe Zug um ihren Mund ließ es verstehen, daß sie nur einer einzigen Freundin erlaubte, in ihr Herz zu sehen. Der launige Gott der Liebe hatte wieder einmal sein Feuer entfacht, um entschiedene Gegensätze in Eins zu schmieden. Denn während das Mädchen nur in der Beschränkung glücklich war, loderte in dem Jüngling das Gefühl „Millionen zu umschlingen".
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Studienzeit. Mit ungeheurem Lebensschwung kehrte Georg Kerschensteiner in seine Vaterstadt zurück, um sein Studium zu beginnen. Jetzt lag das Leben vor ihm, das vielversprechende, leuchtende, wechselvolle, und es soll ihm nicht ungelebt entwischen! Kopfüber stürzt er sich hinein, begierig es an allen seinen lichten Seiten zu erhaschen. Daß er sich weiterhin wird durchschlagen müssen, was lag daran? Er war gewohnt, die dicken Bretter zu bohren. Und außerdem war die Mutter da, die Nieversagende. Sie hatte inzwischen für erschwingliches Geld vom Stadtrat in der Freibank einen Stand pachten können, in dem sie Wurstwaren feilbot. Das trug genug ein, um den beiden Söhnen wenigstens den heillosen Hunger zu stillen an ihrem Tisch. Für alle sonstigen Bedürfnisse mußten sie selber aufkommen. Weil ihre Wohnung in der Westenriederstraße sehr eng war, mietet sie für Georg, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Toni, dem angehenden Volksschullehrer, in der Zweibrückenstraße Nr. 1 im zweiten Stock ein Zimmer bei einem Schneider, der sich Köhler schrieb. Die Mutter hatte das Zimmer zum Empfang liebevoll wohnlich gemacht. Neues Linnen überzog die Betten, den Tisch zierte eine schöne Decke. Auf den Simsen lagen Fensterkissen aus rotem Plüsch, für den Ausguck bestimmt. Obwohl der Fensterblick nichts Reizvolles aufwies. Da war kein Garten, kein Brunnen, kein Baum im Umkreis, nur die nüchternen Stirnen der Häuser mit den qualmenden Rauchfängen darüber. Ein Briefwechsel zwischen den Liebenden kam in Schwung, von dem die Notarin nichts wußte. Sophies Französischlehrerin, Lotte Delonge, nahm sich der Heimlichkeit an. Sie brachte die Briefe, respektvoll in Seidenpapier eingeschlagen und in der französischen Grammatik unverräterisch verborgen, in die Lektion mit. Ein Schmelz romantischer Zärtlichkeit liegt über diesen gehäuften Briefen. Die der
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Braut sind ein tagebuchhaft treuer Spiegel der kleinen Begebenheiten eines begrenzten Lebens, umrahmt von einem duftenden Kranz von Liebesbeteuerungen. Georgs Briefe durchschimmert die männliche Tugend von Schutz und Schirm, ob er scherzt oder sinnt oder in Leidenschaft entflammt. Deutlich spürt man durch alle Wandlungen hindurch schon die Einheit einer starken Persönlichkeit. Man staunt über die ethische Reife dieses Zwanzigjährigen, der brennend die Verpflichtung fühlt, die er trägt, da er ein anderes Leben an das seine gekettet hat. Immer und ewig will er der Hort und Schatzhalter des Glückes der Liebsten sein, das ist das Leitmotiv, das unaufhörlich in diesen Briefen anklingt. Wie fühlte er noch bange das Glück, ihr, die er als den Inbegriff der Reinheit sein „Edelweiß" nennt, schreiben zu dürfen! Wie stürmisch schlug ihm das Herz, da er zum ersten Briefe sich hinsetzte! Und er wußte selbst nicht, war es Befangenheit oder die jubelnde Freude, die ihn so über alles beklommen dabei machte? Ist das strömende Glücksgefühl zu groß, dann wächst aus dem Drängen ein Lied: Ich hab ein Beim König Drin wohnt D a ß es nie
blühend reiches Land auf der Erde, der Lenz für alle Zeit, Winter werde.
Zwei Seen unergründlich tief, Von wunderbarer Reine, U n d einen Bergschacht reich gefüllt Drin lauter Edelsteine. Ich weiß, wo dieses Königreich, Der Lenz, die Edelsteine, U n d auch die Seen, doch mein Neid Behälts für sich alleine.
Ist es mit der Liebe nicht wie mit den fünftausend Broten?, sinnt er. Sie wächst im Austeilen. Und später jauchzt er, wie gut es das Glück mit ihm meint, ihn im Zeitalter der Eisenbahnen auf die Welt zu setzen und nicht vor weiß Gott wie langer Zeit, wo es noch keine Post gab und keine Briefkästlein, in das hinein man täglich gucken kann, ob die Liebe dort ein Zeichen für ihn gelegt 6 ). Die Brieftauben flogen emsig zwischen Augsburg und München hin und her nach einer bestimmten Ordnung, die sie sich zurechtgelegt und
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gewissenhaft eingehalten hatten. Noch hatten die Pflichten die Freiheit nicht verbaut, noch hing der Himmel voller Baßgeigen. Jetzt, da der Schulkittel am Nagel Jiing, da der Hochsommer die Vakanz mit strahlenden Tagen befeierte, zog es das Brüderpaar in die Berge. Viele Spitzen lodcten, der Hochfelln, die Hörndlwand, die Bründlingsalpe. Mit letzterer wurde begonnen. Noch andere Jungmänner zogen, die erprobten Wege verschmähend, mit ihnen los. Sie wollten schnurstracks in das Labyrinth der Felsen hinein, den eigenen Jugendtrotz am Trotz des Berges zu messen. Aber der Berg ließ sich nicht foppen. Stundenlang führte er die Waghälse an der Nase herum; über Geröll hinweg, durch duftendes Latschengesprüpp, über blühende Bergwiesen, immer im Harren auf einen Ausschlupf, der ihnen die Höhe weisen würde. Aber der Ausschlupf kam nicht. Statt dessen stemmte sich ihnen plötzlich eine Felswand entgegen, abweisend, steil, wohl an die vierzig Meter hoch. „Zurück!", befahl ein Hasenfuß. Die Kerschensteiner lachten. Das Kraxeln war ihre Lust. Georg war schon mitten im Felsgezack, während die anderen noch berieten. Droben auf der Höhe, versunken in die Pracht und Feier der Bergeinsamkeit, kam ihn das sehnsüchtige Entbrennen nach der fernen Lieben an. Im Rahmen der schönen Natur hätte er sie so gerne dem lieben Gott gezeigt: „Siehe, welch liebliches Edelweiß ich mir für den Lebensweg gepflückt!" Sie stiegen gen Palling ab, wo sie beim Ortslehrer Unterkunft fanden. Das Dorf war in heller Festbewegung. Des Kaisers Geburtstag zu feiern, wurde im Schulhaus von den Bundesjungfrauen Theater gespielt. Die heilige Julia hieß das Stück. Xaver Strobl, der Ortslehrer, bat den Mathematikus in spe, zwischen den einzelnen Akten auf dem Klavier ein wenig zu präludieren. Anfangs improvisierte der nur. Plötzlich fuhr ihm der Schalk in die Finger, die gefühlvolle Bühnenhandlung mit etwas Kernigem zu beleben. „Das war der Zwerg Perkeo vom Heidelberger Schloß", trommelte er drauflos, schmunzelnd über das Bauernvolk, das den fidelen Burschenkantus für ein frommes Kirchenlied hielt, wie den andächtigen Mienen zu entnehmen war 7 ). Ein anderes Mal kam er, der bereits seit 1878 ein Mit-
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glied des Alpenvereins Sektion Mündien war, mit dem Bruder Toni von der Zugspitze herunter. Damals gab es noch keine Zahnradbahn, bequemen Leuten die Wunder der Bergwelt mühelos vor die Füße zu breiten. Man mußte sich noch der Hand des Führers anvertrauen, wenn man nächtens aufbrach, von der Knorrhütte aus den Riesen zu nehmen. Sie wanderten müde, aber wohlgemut die Straße entlang, die am Ufer des Plansees nach Garmisch führt. Der Berg hatte übel an ihrem Äußeren herumgezaust. Sie sahen nicht eben vertrauenerweckend aus, da sie sich im Spiegel des Sees besahen. Die Joppen offen, das Hemd zurückgeschlagen, damit der Wind die Brust kühle, den Rucksack auf dem Rücken, die Pfeife im Mund. Brust und Gesicht nußbraun, die Haut zerfetzt vom Sonnenbrand. So kamen sie an den sogenannten Kaiserbrunnen. Es war schon sinkender Abend, kein Mensch mehr unterwegs. Zu ihrer Verwunderung sahen sie nahe des Brunnens, von dunklen Fichten und Tannen umstanden, eine schwarz gekleidete Gestalt sitzen, lesend in einem Buch. Beim Näherkommen erkannten sie Ludwig II., den König. Unweit war ein Diener beschäftigt, mit einem Blasebalg ein Feuer anzufachen, vermutlich um einen Abendimbiß für den König zu bereiten. Die Brüder blieben stehen. Was tun?, berieten sie. Schickte es sich besser, grüßend an dem König vorbeizugehen, oder Front machend vor ihm stehenzubleiben? Sie entschieden sich für das erstere. König Ludwig hob gerade mit rascher Wendung das Antlitz, die Ankömmlinge zu mustern, als sie, die Pfeife in der Linken, den Bergstock unterm Arm, den Hut im Schwung zum Gruß, ehrerbietig vorbeizogen. Es muß ein drolliger Anblick gewesen sein, denn selbst das tiefernste Gesicht des Monarchen überzog ein Lächeln. Die Jünglinge waren begeistert, dem König, der im Herzen des Volkes und der Jugend als ein wahrhafter Märchenkönig lebte, und den man so selten zu Gesicht bekam, fern vom trennenden Prunk des Hofes im Schöße der Natur begegnet zu sein. „Es sah aus, als würde er sich einen Vollbart stehen lassen", schreibt Georg der Braut. „Doch die Wiese war noch sehr dünn. Von seiner oft behaupteten Dicke habe ich nichts bemerkt." War auch die frühere schlanke Idealgestalt dahin, so schien ihm der König nun „das richtige ideale Embonpoint" zu haben 8 ). 61
Die Ferien verflogen sdinell. Nun hieß es den Übermut in die Pflicht umzulenken. Mit all der Freude des Lernens und all seiner Sehnsucht zu verehren, die Georg Kerschensteiner eigen waren, saß er jetzt in der Technischen Hochschule zu Füßen der Professoren Bischoff, Lüroth, Seidl, Bauer, „tief im Schachte der Mathematik". Mit einem Empfehlungsbrief des Bruders Joseph, der mittlerweile Regierungs- und Medizinalrat im Bayerischen Kultusministerium geworden war, begab er sich zu dem Professor Bischoff, die Wege seines Studiums mit ihm zu beraten. Dieser Mann war, seines rauhen Wesens halber, bei den Studenten gefürchtet. Erst beim vierten Besuch wurde der Studiosus vorgelassen. „Die Unterredung war kurz", schreibt er nach Augsburg. „Einmal brauste der Professor, seiner heftigen Natur entsprechend, auf. Ich, ebenso sanft veranlagt wie er, nahm unwillkürlich auch einen etwas stärkeren T o n an. Woraufhin das Hitzebarometer bei uns beiden wieder sank." Das Heimischwerden im Denkverfahren der hohen Mathematik gelang ihm nicht im Handumdrehen. Häufig verwickelte er sich heillos in dem mathematischen Formelkram, fand und fand die logisch richtige Lösung einer Aufgabe nicht. Dann lag er dem Professor mit seinen Fragen im Ohr. Bischoff war aber kein Freund des vielen Gefragtwerdens. Er verlangte von seinen Schülern jene Zähigkeit des Suchens, durch die das Denken die Lösung eines Problems sich selbst erzwingt. Als Georg Kerschensteiner ihn, der im Korridor der Technischen Hochschule eilig daherkam, wieder einmal mit einer solchen Frage überfiel, blitzte der ihn von oben bis unten ironisch an. „Das wissen Sie nicht?", staunte er und ließ ihn stehen. Genug, ihm das Fragen abzugewöhnen. Georg Kerschensteiner blieb nicht lange der unbeholfene Neuling in seiner Wissenschaft. Je deutlicher das Gefühl geistigen Wachstums und Könnens ihm zum Bewußtsein kam, um so sicherer wurde er in seinem Fach. Bald trug er die Niederschriften aus dem Kolleg nicht mehr „wie ein Rettungsseil" nach Hause, sondern mit dem Vertrauen, daß, was man im Kopfe besitzt, unverlierbares Gut ist 9 ). Aber kämpfen hieß es! Das zeitweise Ungenügen mit seinen Leistungen wird ihm allerdings für die ganze Studienzeit bleiben. Hatte er sich wieder einmal tagelang unausgesetzt
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und resultatlos mit einer Aufgabe herumgeschlagen, statt sie liegen zu lassen, um sie ein anderes Mal mit frischerem Kopf wieder aufzunehmen, dann stellte sich unentrinnbar ein moralischer Kater ein, jene wahre Mathematikerkrankheit, von der kein einziger verschont bleibt. Dann wird ihm klar, warum so viele seiner Kommilitonen mit der Zeit bärbeißig werden. „Diese mathematische Wissenschaft hat ihre Tücken! Will man sich näher an sie heranpirschen, schleudert sie einem ins Gesicht: ,Du bist ein Esel!'" Man hört das nicht gern, besonders wenn die Stimme aus dem eigenen Innern kommt. Ja, wenn er den Ehrgeiz lassen könnte! Aber er, der um der Wissenschaft willen die feste Laufbahn des Lehrers verlassen hat, mag sich nun nicht mit den Brosamen begnügen, die vom Tische der Wahrheit fallen. „So jage ich immer dem großen Hasen nach", schreibt er der Braut, „während der kleine mir viel sicherer wäre. O b ich ihn jemals erwische? Wenn nicht, ob es dann nicht zu spät ist für den kleinen? Das eine weiß ich, daß ich immer meine Pflicht erfüllen werde und daß ich nicht unfähig bin. Das genügt für das Bewußtsein eines Mannes." Ein Bild aus jener Zeit zeigt ihn mit dem ersten Flaum auf den Lippen. In den Augen sitzt ein gesammelter Ernst. In der Haltung ist etwas Stolzes, das den unabhängigen Menschen ansagt, der er sein Leben lang geblieben ist. Die Flagge der Freundschaft flatterte lustig über den Köpfen der kleinen Jungmännerschar, die sich an der Technischen Hochschule zusammengefunden hatte. Da war Adolph Hurwitz aus Hildesheim — er wird in Jahren auf dem Lehrstuhl der Mathematik in Zürich sitzen —, wie kein anderer unter ihnen mit dem Ingenium des Mathematikers gesegnet. Da war der Karlsruher Professorssohn und spätere Hochschullehrer Hermann Wiener. Da war Ludwig Schleiermacher, ein ferner Nachfahre des großen Philosophen. Da war Ernst Lange, dem jungen Kerschensteiner der Vertrauteste in jener Zeit, der Freund, der seinem Sturm und Drang ein schon gebändigteres Herz entgegenzusetzen vermochte. Auch Walter von Dyck, der zukünftige Rektor der Technischen Hochschule in München, gehörte in diesen Kreis. Obwohl gemesseneren Wesens als die andern, konnte auch er dem Jugendüberschwang sich nicht entziehen, wenn sie gemeinsam vors T o r zogen. Ins Isartal
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etwa, wo die Farben des Herbstes ihnen ins Blut brannten, so daß sie wie Knaben ungebärdig tollen und sich raufen mußten. Sie alle schwelgten noch im ersten Hochgefühle, Jünger der Wissenschaft zu sein. Die Glückssehnsucht der Jugend gärte noch in ihnen. Freiheit, Ehre, Vaterland stand auf ihrem Panier. Alle waren Mitglieder des erst vor kurzem unter Mitwirkung von M a x Plank gegründeten Mathematischen Vereins beider Hochschulen. Dieser hielt seine Sitzungen in einem Lokal in der Schellingstraße. Entzündlich, wie stets, schreibt Georg Kerschensteiner darüber an die Braut: „Das ist immer ein herrlicher Abend! Lauter junge Leute, lauter Mathematiker, meist solche, die schon im sechsten, siebten oder achten Semester stehen. Jeder tüchtig in seinem Fache, kein einziger ein fauler S t r i c k . . . Ich bin noch der Dümmste unter ihnen. Doch hoffe ich, es auch noch zu etwas zu bringen. Ein solcher Abend beginnt mit einem Vortrage aus einem mathematischen oder physikalischen Gebiet. . . Darauf werden mathematische Aufgaben gestellt und an der Tafel gelöst. Es wird darüber debattiert, zwischenhinein werden auch Witze gerissen, mathematische, prachtvolle! So wird's elf Uhr. Der ernste Teil der Sitzung wird dann geschlossen, die Kunst schwingt jetzt das Szepter. Und welche Kunst! Die allerreizendsten Burschenkantusse werden gesungen. Und was für Sänger! Hierin bin ich der Beste!" Nach den Sitzungen gab es noch einen kräftigen Spaziergang für einen, der in der Zweibrückenstraße zu Hause war. Besonders wenn er den Weg durch den Englischen Garten dem öden Straßengewirre vorzog. Georg Kerschensteiner kam auf diese Weise an der Universität vorbei, vor der zwei große Brunnen stehen, die ihr Wasser aus einer oberen Schale in das unterhalb gelegene weite Becken schütten. Einmal war die Sitzung hitzig gewesen und die Nacht war schwül. Der Mond war hinter Wolkenbänken schlafen gegangen. Es war finster. Nichts regte sich in der langen Zeile der Ludwigstraße. Nur die zwei Brunnen flüsterten verführerisch von Kühle und Erfrischung. Da kam den einsam Wandernden die Versuchung an. Ein wenig zauderte er noch, dann wars um ihn geschehen. Flugs die Kleider vom Leibe! Hinein ins nasse Element! Hatte er im Wohlsein der Kühle sich zu übermütig geberdet? Plötzlich stand ein Nacht-
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Wächter da und befahl ihm, herauszukommen, damit er ihn aufschreibe. Wenn er sich auf die Seite begäbe, damit er sich erst ankleiden könne, heuchelte schämig der Ertappte. Der biedere Nachtwächter hielt das für ein berechtiges Verlangen und ging ein wenig abseits. Georg Kerscbensteiner sprang mit einem Satze aus dem Brunnenbecken, packte sein Kleiderbündel und entfloh damit ins Dunkel der Anlagen in solcher Eile, daß dem Wächter die Lust verging, den Wettlauf aufzunehmen. Er war kein Säulenheiliger. Er war ein Mensch voll Sinnenfreudigkeit, immer bereit mitzutun, wo der studentische Übermut über die Stränge schlug. Der Verein hatte beim Sendlinger Weinbauern seine Exkneipe. Meistens ging es da hoch her. Einmal kletterten sie vor dem Heimgehen auf das Dach eines Bauernhauses, saßen rittlings auf dem First und sangen den Mond an. Der Bauer, über die nächtliche Störung ergrimmt, rief einen Knecht, und mit langen Stangen bewaffnet, suchten sie die Lärmenden von ihrem Hochsitz herunterzustoßen. Diese wehrten sich des Angriffs durch Werfen von Ziegelsteinen, vom Dache des Bauern gebrochen. Es gab eine regelrechte Schlacht, die dem Verein hinterher eine ansehnliche Dachdeckerrechnung eintrug. Ein andermal wurde beschlossen die Wache zu frozzeln, die im Alten Hof stationiert war. Verbotenerweise wollte man ihr ein nächtliches Ständchen bringen, ü b e r dem Alten Hofe, der vor langer, langer Zeit dem Burgsitze Ludwig des Strengen zugehörte, lag die Mitternacht, als die Jungmänner durch das Tor an der Burgstraße einzogen. Stille herrschte. Ein Brunnen nur sang verhalten vor sich hin. Die düsteren Häuser umstanden altersmüde das Rund des holprigen Pflasters zu ihren Füßen. Da war kein Hauch des Lebens. Wie im Dornröschenschlaf lag das schwarze Gemäuer, darüber der volle Mond sein gespenstiges Licht goß. Diese Stille schnitt der mehrstimmige Kanon: „ O wie wohl ist mir am Abend, wenn zur Ruh die Glocken läuten bim bam", mitten entzwei. Voll erhoben sich die Stimmen mit dem tönenden Baß des jungen Kerschensteiner gleich einem schwingenden Pendel dazwischen. Doch während des Gesanges schien ein Schauer sich zu entbinden, so als ob die in den Winkeln und Schatten des Alten Hofes sich verschlüpfenden Klänge dort auf eine K e r s c h e n s t e i n e r , Biographie.
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geisterhafte Weise das tote Leben beschwörten, das vor Jahrhunderten in diesem Umkreis gepulst hatte. Das letzte Bimbam verhallte glodkenähnlidh im Weiten. Die Jünglinge aber zogen, nicht eines Übermutes satt, sondern romantisch gestimmt von dannen. Mag sein, daß auch die Wächter nicht nur geschlafen, sondern den Zauber dieser Nachtstimmung mitgefühlt hatten. Jedenfalls hat sich in der Waditstube nichts gerührt und kein Strafbefehl hinkte als übler Abschluß nach. Die Instruktorpfliditen nahmen ihm die Zeit weg, die ohnedies fortwährend zu knapp war. Es war ein saueres Brot, für ein paar lumpige Zehner die Elemente der höheren Mathematik Leuten einbleuen zu müssen, deren Hirn in diesem Punkte völlig vernagelt war. Sein eigener Neffe Pepi, Josephs Sohn, der malerisch Hochbegabte, dodi den humanistischen Fächern Abholde, gehörte dazu. Georg Kerschensteiner mag damals das ganze Elend jener Jugend nachgefühlt haben, die das Standesbewußtsein der Eltern durch das humanistische Gymnasium, als der „allein bildenden" Anstalt, zwingt. Vielleicht haben die frühzeitigen Erfahrungen schon damals den Grund gelegt zu der Konzeption der elastischen Einheitsschule, die er später gefordert hat; jener einheitlichen Organisation des gesamten Schulwesens, die von der Volksschule als Basis ausgehend, bis zur Universität aufsteigt, sich unterwegs aber verzweigt in verschiedene, bestimmten Begabungen entsprechende Schultypen, in der Weise, daß der Ubergang von einem Schultyp in einen anderen ohne Verlust an Zeit und Kraft sich vollziehen kann, dann wenn bei einem Schüler unerwartet Begabungen in die Erscheinung treten, die ihn für einen anderen Schultyp prädestinieren. Weil aber die Einkünfte aus diesen Nachhilfestunden immer noch nicht langten zur Bestreitung der Auslagen, um die ein Student nicht herumkommt, mußte Georg Kerschensteiner sich um Stipendien umtun, die an der Universität zu vergeben waren. Die Semestraiexamina, die zu diesem Zwecke abgelegt werden mußten, waren ein Stüde Belastung mehr für seinen Kopf, der vor nicht langer Zeit eine schlimme Erkrankung durchgemacht hatte. Es dauerte nicht lange, da setzte das unerträgliche Brennen und Kribbeln im Kopfe wieder ein, mit solcher Heftigkeit, daß an geistige
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Arbeit nicht mehr zu denken war. Eine verzweifelte Unruhe bemächtigte sich seiner. Als ein Menetekel von fürchterlicher Drohlichkeit stand die Möglichkeit vor ihm, für das Studium dauernd unfähig zu werden, all das opferreich Errungene vernichtet und sich zurückgeworfen zu sehen in ein Dasein ohne Auftrieb und ohne inneres Genügen. Er wußte nicht, wie er dazu kam, gerade dem gefürchteten Professor Bischoff sein Herz auszuschütten. „Warum haben Sie so viel belegt!", fuhr der ihn an. Der rauhe Ton, gegossen auf das zerknirschte Herz, war zuviel. Der junge Mann fing zu weinen an und wußte es kaum. Aber sein Gesicht mußte so sehr den Stempel der Verzweiflung getragen haben, daß der Professor andere Saiten aufzog. Jetzt zeigte sich, daß die Rauhigkeit nur ein Außen bei ihm war, daß der barsche Mann sehr wohl verstand, ein bekümmertes Herz mit zarten Händen anzufassen. Er riet ihm eine Zeitlang das Studieren auszusetzen. Er sagte: Die Mathematik sei die anstrengendste aller Wissenschaften. Er selber, der nicht nur Mathematiker sondern auch Philologe war, könne wohl klassische Studien einen Tag lang ohne Beeinträchtigung der geistigen Elastizität treiben, nach drei Stunden mathematischen Nachdenkens sei er erledigt. Eine volle Stunde lang ermutigte er seinen Schüler durch seinen Zuspruch. Getröstet entließ er ihn 10 ). Auf dem Heimweg dachte Georg Kerschensteiner darüber nach, wie er seinen Professor Bischoff bisher nur als einen Gelehrten gekannt hat. Nun weiß er, daß er ein Mensch ist. „Er ist nicht so, wie andere große Professoi cn, die gleich Fixsternen nur leuchten und leuchten, dabei unzugänglich sind wie jene und nur mit dem Fernrohr zu betrachten." Ein Idealbild des Lehrers stieg ihm aus dieser Begegnung auf, das er nicht mehr verlor. So sollte jeder Lehrer sein, nicht nur Wegbereiter der Wissenschaft, auch Freund und Führer zugleich. Diesen Weg versprach er sich zu gehen, wenn seine Lehrerzukunft ihm einst Glück und Aufstieg der Jugend ans Herz legen wird. Mit sportlichen Waffen rückte Georg Kerschensteiner dem Übel zu Leibe in einer Zeit, wo in deutschen Landen der Sport noch mit Mißtrauen betrachtet wurde. Steigen, Baden, Laufen, Turnen, Schwimmen, Tanzen, Schlittschuhlaufen, alles was das Blut antreibt, wird mit jungmännlicher Strenge 5*
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getrieben. Es ging um alles, da konnte die Kur nicht lässig betrieben werden. Es störte ihn nicht, daß die Blätter schon von den Bäumen fielen und die Lüfte bereits rauh über die Isar fegten, als er noch ein Abonnement für das Freibad erstand. Außer dem Schwimmeister war um diese Zeit meistens kein Mensch mehr da. Dann und wann kamen zwei Engländer, die ebenfalls das zehngrädige Wasser liebten, wenn nur die Luft dann nicht unter zwanzig Grad war. Erst wenn die sogenannte „Auskehr" kam und ihm die T ü r vor der Nase zuwarf, gab er es auf. Im Winter badete er in Brunnthal, einer Badeanstalt in Bogenhausen, ein paar Dutzend Schritte von der Stelle entfernt, wo der Schulrat von München viele Jahre später sein Haus hinstellen wird. In der Turnhalle übte er, der mit tüchtigen Sprunggelenken begabt war, vorzugsweise den Hochsprung. Er soll einer der besten Springer der damaligen Riege gewesen sein. Der Sport färbte seine Haut tiefer und tiefer. Dazu war sein üppiges Haupthaar nahezug schwarz und seinen Augen fehlte es nicht an dunklem Feuer. Der kommende Winter war hart, so daß der Starnberger See, was selten geschieht, vollständig zugefroren war. Dieses Eisvergnügen ließ der Sportbeflissene sich nicht entgehen. Mit dem Bruder Toni und dem Freunde Lange machte er sich im Dunkel der Morgenfrühe auf. Als der Zug um Uhr in Starnberg einlief, deckte den See noch eine dicke, milchige Nebelschicht. Kaum war die Sonne über die Berge geklettert, brach der straniendste T a g an. Jetzt mit den Augenblicken gegeizt! Die Schlittschuhe angelegt! Fort über den ungeheueren gläsernen Spiegel! Geradewegs auf Seeshaupt zu! Das Eis war stahlhart, grünlich aufschimmernd, wo der Morgenwind die Bahn gefegt. Kein Loch, kein Sprung trübte seine Sicherheit. Die Ufer lagen wie gepudert da. Die fernen Berge waren in weiße Mäntel gehüllt, ü b e r all dem Geglänze und Geschimmer stand der blaueste Himmel. Stille, nichts als unbefleckte Stille rundum. Nur da, wo der See am breitesten ist, gingen die Leute geschäftig von Tutzing nach Ammerland über das Eis zur Kirche. Mit jauchzender Lust flogen die Jünglinge durch die unsägliche Glitzerwelt. Als sie in Seeshaupt ankamen, fiel eben der zwölfte Glockenschlag vom Kirchturme. Mittag! Mit Bärenhunger stürzten sie der Wirtin
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„zur Post" ins Haus. Dort hatten sich bereits drei Reisende eingefunden, die auf ihren Eisen von Ammerland herübergesegelt waren. Mit denen saßen sie jetzt eng bei eng mit Schmaus, Gesang und Übermut. Der Mathematikus spielte das Klavier dazu. Die Wirtin stiftete als Extrabeilage eine Schüssel Apfelküchle, von denen Georg und der Freund Lange allein 27 knusprige Stück vertilgten. Nach Tisch gings heimwärts. Dem Toni, der müde war, zulieb noch eine kurze Rast in Ammerland. In der Kindsstube des Wirtes, weil die Gaststuben gestopft mit Leuten waren. Es war erst vier Uhr, als sie die Eisen von neuem unter die Füße nahmen, doch es war ein Januarnachmittag, und die reine Bläue des Himmels fing schon zu verblassen an. Kaum duckte die Sonne sich hinter die Berge, wallten von allen Seiten die Nebelschleier heran, das Geglänze des Tages wieder zuzudecken. Eile war geraten, denn auch der unvergleichliche Eisspiegel fing an durch eine Reifschicht, die der sinkende Abend darüber breitete, schwerer befahrbar zu werden. Die Lichter der Ortschaften an den Ufern stachen richtungweisend durch die weißgraue Luft, so daß die Fahrer des Kompasses entraten konnten. Schließlich langten sie glücklich im Hafen von Starnberg wieder an. Um neun Uhr lagen sie todmüde, aber froh, ihre Kraft an einem so ungewöhnlichen Gradmesser gemessen zu haben, in ihren Münchner Betten 11 ). In diesem Wechsel von Studium, Sport und Lebenslust meldet sich immer wieder das Stückchen Künstlertum an, das in ihm steckt. Im Zeichnen und Malen ist er längst über die dilettantischen Anfänge weg. Sein Können zu steigern, trägt er sein Skizzenbuch immer mit sich, damit jede unverhoffte Gelegenheit zur Übung genutzt werden kann. Seine Leidenschaft aber blieb das Klavier. Es wurde regelmäßig geübt, seit sein Instrument auf dem Zimmer der Brüder stand. Dieses Klavier hatte seine Geschichte: Die Mutter Katharina, stolz auf das schöne Spiel ihres Ältesten und selber närrisch auf ein wenig Musik, hatte sich seit lange den Kopf zerbrochen, wie sie „ihren Buben" ein Klavier zukommen lassen könnte. Angesichts ihrer Finanzen ein verwegener Gedanke! Sie war aber wie der Sohn: war etwas schwierig, dann fing sie zu bohren an. In der Zeitung war ein gebrauchtes Instrument ausgeschrieben. Du 69
lieber Himmel! Es kostete dreihundertfünfzig Mark! Unerschwinglich für ihre Kasse! Jemand riet, es mit der österreichischen Staatslotterie zu versuchen. Sie setzte. Einmal, zweimal, dreimal. Beim vierten Male gewann sie 150.— Mark. Immer noch nicht genug. Doch der Toni, der schon Lehrergehalt bezog, legte 7 0 Mark darauf. Die Mutter kratzte dann noch ihre Batzen zusammen und bezahlte den Rest. Seither ging es an den Sonntagen klangvoll zu in der Zweibrückenstraße Nr. 1. Da brannte im Ofen ein lustiges Feuer, da summte die Kaffeemaschine auf dem Tisch. Da holte der Toni seine Flöte hervor und der Studio saß am Klavier, den jungen Lehrer Weißensee, Tonis Freund, zur Geige zu begleiten. Die Mutter Katharina, die ein Stoffwechselleiden unförmig stark gemacht hatte und deren kleine, durch Überanstrengungen immer wehen Füße voller Wunden waren, stellte das Publikum dar. Sie saß im Lehnstuhl und überdachte wohl, während sie dem Konzert lauschte, die Zeit, da sie diese Jungen, die jetzt im Brausen und Schäumen tätiger Jugend standen, dem Hunger hatte entreißen müssen. Dann rann ihr, deren Haar schon schlohweiß geworden war, wohl eine Träne im Andenken an den heimgegangenen Mann, der ihr hatte ein „Vätern" sein sollen, dem sie jedoch fast eine Mutter hatte werden müssen, in einer langen Ehe voll Not und dennoch voll Glück. Georgs T a g beginnt jetzt mit einer Morgenandacht am Klavier. Die Frühstückstasse steht daneben. Manchmal wird geistesabwesend ein Schluck getan. Meistens wird der Kaffee kalt. Wenn man mit den Heroen der Töne Hand in Hand geht, verbleichen die profanen Dinge. Als er, der in jener Zeit noch ganz der Welt Richard Wagners verfallen war, sich einmal den ersten Akt des Lohengrin vorspielte, fühlte er plötzlich dicke Tropfen auf seinen Händen. Ärgerlich springt er auf. Ist das eines Mannes Sache, Tränen zu vergießen? Er ist doch kein Schwächling, weiß Gott! Er trocknet sein Gesicht, schließt das Klavier. Schon hundertmal hat er sich mit Vorsätzen umbaut. Umsonst. W a s an sein Herz pocht, wühlt die Tiefe auf. Noch in späten Lebensjahren wird es ihm geschehen, daß ihm die Augen dunkel werden von heimlichen Tränen, wird seine Seele vom Hauch wahrhaft hoher Dinge berührt.
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In den Herbstferien tut sich dem Studio die Ferne auf. Die Stiefschwester Elise, an einen Brauer namens Paun verheiratet, lud ihn nach Ludwigshafen ein. Es war sein erster Ausflug in die Welt. Die Reise dauerte zwei Tage, ü b e r Ulm und Stuttgart kam er nach Heidelberg. Versonnen sitzt er dort auf der Höhe des Schlosses, trunken vom Ausblick auf die weite Rheinebene, wo sein Auge erst am Umriß weit in der Ferne verschwimmenden Berge einen Halt findet; wo der glitzernde Rhein seine Strömung lautlos durch grüne Fluren schickte, über die der Scheidegruß der Sonne den wärmenden Schimmer goß. Da fühlt der Jüngling sich vom Flügelschlag nationalen Stolzes berührt, da er dies Bild der Schönheit sein Vaterland nennen darf. Vor den Trümmern des alten Schlosses überkommt ihn das Erinnern an Glanz und Tragik deutschen Schicksals, das einst hier sich vollzog. Der Zorn sprüht in ihm auf über den frevelnden Erbfeind, der gewagt hat, an ein herrliches Denkmal deutscher Baukunst die gehässig zerstörende Hand zu legen. Wie hätte er vor diesen sprechenden Zeugen alle diejenigen Deutschen führen mögen, die lahmen Herzens sind, damit das Weh über so viel Vernichtung ihnen den Grimm zu Trutz und Schutz des Vaterlandes lehre! In Ludwigshafen wurde er von der Stiefschwester mit Gansbraten und Ungsteiner befeiert. Am nächsten Tage ging es weiter nach Neustadt, wo er mit Joseph zusammentraf. Der war zu einer Weinprobe bei dem Besitzer von Wachenheim und Forst, Wolff, eingeladen, wohin er ihn mitnahm. Vor der überfließenden Gastlichkeit des Hauses ging dem ahnungslosen Studenten zum ersten Male der Begriff des Reichtums auf. Im Wölfischen Keller lagen die goldenen Tropfen aus deutschen Reben gepreßt, im Werte von vier Millionen Mark. Neunundsiebzig verschiedene Sorten wurden jedem Gaste zur Probe vorgesetzt. W e r nicht trinkfest war, tat gut, sich zu beschränken. Georg nippte an den besten herum. Er konnte sich nicht leisten, was der Bezirksamtmann von Neustadt fertigbrachte, der alle neunundsiebzig Sorten wacker durchkostete und immer noch fest auf seinen Beinen stand 1 2 ). Nun war er wieder in München und freute sich dessen, denn er war ein Münchener von echtem Schrot und Korn: 71
Das Semester rüdkte heran, es hieß sich rüsten. Das Kopfübel hatte für dieses Mal sidi behoben. Er ging deshalb nicht mehr hypochondrisch in den Straßen herum, „Mißmut im Herzen und Finsternis in der Börse". Jetzt stürzte er sich mit neuer Kraft in sein Studium. Das Leben lachte ihn wieder mit allen seinen Gaben an. Er hatte ein festes Tagesprogramm sich aufgestellt, darin Studium und Sport die beiden Pole sind. Sein Lehrer war von nun an Felix Klein, Deutschlands großer Mathematiker. Dieser rief ihn eines Tages nach der Vorlesung zu sich. Er soll die scheinbare Bahn des Mars am Himmel für die mathematische Modellsammlung darstellen, schlug der Professor vor. Georg Kerschensteiner fand diesen Auftrag „geradezu kolossal". Aber hungrig nach Taten seit je und je und beehrt, mit einem Mann wie diesem in nähere Arbeitsbeziehung zu treten, griff er zu. „Nun, Herr Kerschensteiner, wollen wir ein wenig zusammen Astronomie treiben?" hatte der große Mann zu ihm gesagt. „Wir!!" Das Wort rieselte ihm von Nerv zu Nerv. „ W i r ! ! " Es war gerade so, wie wenn der Rothschild zu ihm sagen würde: „Nun, Herr Kerschensteiner, haben wir jetzt zusammen recht viel Geld 1 3 ) ? " Jetzt schweigen die Musen, denn jetzt mußte er die Jupiter- und Venusbahnen des letzten Jahrzehntes entwerfen. D a hieß es schanzen! Zehn dicke Bände der Berliner astronomischen Jahrbücher lagen auf seinem Klavier, bereit, ihre Schätze vor ihm auszuschütten. Sprachlexika fanden sich daneben, denn einschlägige fremdsprachige Literatur wollte bewältigt sein. Es sah in seinem Zimmer aus, wie es nur je im Zimmer eines übereifrigen Studiosus ausgesehen hat. Schreibpult, Klavier, Kommode, Tisch, Fensterbretter, kein Fleck, auf dem nicht ein bekritzelter Zettel, ein Skriptum, ein Reißbrett, Farben oder Palette lagen. Daneben wohl auch noch die frischgewaschenen Hemden, Kragen und Manschetten, die die Wäscherin vor Tagen gebracht und die aufzuräumen die Zeit gemangelt hatte. Was nicht mit den Venusbahnen zusammenhing, verlor jedes Gewicht. Vor allem der äußere Mensch. Legte er am Morgen, in Gedanken droben in der Sternenwelt, die Kleider an, dann griff er zu und sah nicht lange hin, was ihm in die Hand kam. Dabei konnte es passieren, daß er sich unbewußt an Tonis Garde72
robe vergriff. W i e in jener Herrgottsfrühe, da er davonstob, am rechten Fuß Tonis Sonntagsstiefelette, links einen der vom Vater ererbten Winterstiefeln, die gleich Indianerbooten groß und unförmig waren. Als Toni, der damals auf Freiersfüßen ging, an diesem Samstagnachmittag sich zu einer Verabredung auf dem Eis mit Maria Tierbecher, zurechtmachen wollte, sah er vor Schrecken starr, was der üble Bruder ihm wieder angestellt. Mit den alten schiefgetretenen Stiefeln vor der Angebeteten zu erscheinen, verbot ihm sein Selbstgefühl. Verzweiflung im Herzen blieb er zu Hause. Ein verfehltes Stelldichein, eine verschnupfte Braut und ein Rededuell zwischen den beiden gleich temperamentvollen Brüdern war das Ende von diesem Liede. Felix Klein verlangte von seinen Schülern Konzentration einzig auf ihr Fach. Er schätzte es nicht, sahen sie sich nebenbei zuviel auf anderen Wissensgebieten um. Daß dieser Kerschensteiner gemeinsam mit anderen Mathematikern an der Universität bei Riehl und Reber Vorlesungen belegt hatte, erklärte er für überflüssig. Sein Grundsatz lautete: Mathematik verträgt keine Zersplitterung. Darin stimmte Georg Kerschensteiner mit ihm überein. Aber Einseitigkeit war durchaus nicht, was ihm entsprach. Er begriff, daß es „für einen großen Geist wie Felix Klein, der fortgerissen wird im Wirbel des ewig Neuen, das ihm entgegentritt, keine Ruhe geben kann". Aber er? Er gehörte nicht zu den Mathematikern von Gottes Gnaden. Er war ein redlich Wollender auf der Bahn zu den ewigen Wahrheiten, weiter nichts. „Wir kleinen Geister", denkt er, „kommen ohne Rast auf dem beschwerlichen Wege, den wir nur schrittweise zu gehen vermögen, nun einmal nicht aus!" Und er fühlte es auch als ein Vorrecht der Jugend, von den hundertfältigen Gaben der Kultur, die ihm ins Leben stürzen, mit vollen Händen zu ernten. J e weiter er fortschritt, um so häufiger stand er vor dem „Granitblock seiner Wissenschaft", versucht den Meißel aus der Hand zu werfen, mutlos vor der Fülle und Unübersehbarkeit dieses Forschungsgebietes. Er hatte sich mit dem ganzen Ungestüm seines Temperamentes in seine Wissenschaft gestürzt. Nun fühlte er die grenzenlose Enttäuschung der jungen Seele ob des Zwiespaltes von Wollen und Können
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und daß all seine Emsigkeit kaum noch die Schwelle der Dinge gestreift hat. Unter seinen Kommilitonen gibt es zwar manch einen, den solche Gedanken nicht beschweren, der gar nicht tiefer eindringen will, als der Staatskonkurs vorschreibt. Aber ihm ist nichts unerträglicher als der Gedanke, zum Handwerker herabzusinken. Er greift immer nach dem Höchsten. „Wenn mir Gott nur das Ideale erhält!" ruft er aus. „Größeres kann er mir nicht schenken. Es ist zwar viel Traum d a b e i . . . aber ein schönes, süßes Träumen, das fest und sicher macht 14 )." Wieder stand ein Semestraiexamen vor der Tür. Diesmal fühlte er sich seiner Sache besonders sicher, weil er in der Analytischen Mechanik nicht nur gut gearbeitet, sondern auch wirklich verstanden hatte. Unglücklicherweise passierten ihm bei der Prüfungsarbeit ein paar ganz dumme Fehler. So etwa, wie wenn etwa ein Gymnasiast einen Gedanken zwar richtig übersetzt, zum Schlüsse sich aber noch ein paar Endungsfehler zuschulden kommen läßt. Erstens hat er „r 1" zuviel geschrieben; zweitens „1 g" vergessen; drittens ein Minuszeichen übersehen. Nun bekommt er das Cramer-Clettsche Stipendium nicht, das ist klar! Und er ist doch gerade jetzt mit dem Gelde so notig dran, daß er der Mutter, die selbst nicht mehr hat als sie braucht, jeden Zehner für ein Glas Bier abluchsen muß. Soll es im nächsten Semester so weitergehen? Außer sich stürzt er zu seinem Professor. „Ach!" stöhnt er, die Augen groß im Kopfe, „es haben sich in meine Arbeit zwei Lapsusse eingeschlichen! Ich habe zwei Integrale falsch geschrieben!" „Nun bitten Sie nicht auch noch um Gnade!" ließ Felix Klein ihn ungerührt abblitzen. Um Gnade? Nein. Daran hat er gar nicht gedacht. Der arge Schrecken hat nur hinaus müssen, seine impulsive Natur hat es von ihm verlangt 15 ). Mehrere Semester lang hatte er das Amt des Vorsitzenden des Mathematischen Vereins inne. Die vielköpfige Sozietät zu meistern, kam ihm sein quellender Humor zugute und eine Gabe, bei großer Bestimmtheit Schärfe zu vermeiden. Doch wehe, wenn schlecht gesungen wurde! Es beleidigte sein musikalisches Ohr. Es beleidigte aber auch sein Gefühl, indem es das geistig-seelische Gemeinschaftsgefühl störte, das ihm der Mutterboden des Burschenliedes war. Darum 74
nahm er die schlechten Kantonisten beim Wickel und paukte die Kommerslieder mit ihnen, bis sie saßen. Das Versammlungslokal des Mathematischen Vereins befand sich um diese Zeit beim „Donisl" am Marienplatz. Dort hatte auch ein Philologischer Verband an den gleichen Tagen seine Sitzungen, durch eine Tür nur von den Mathematikern getrennt. Es war ein Juniabend, als beim Donisl die beiden wissenschaftlichen Koronen wieder einmal tagten. Auf beiden Seiten war der ernste, offizielle Teil der Sitzung vorüber. Plötzlich wurde die trennende Tür aus den Angeln gehoben. Unter Scheffels Lied: „Oiho, nun schlagt die Pforten ein", flogen die beiden Schwärme zusammen und sangen und tranken wie die Götter bis morgens um halb drei. Manchmal schenkte einer der Koryphäen der Hochschulen der Vereinssitzung die Ehre seiner Gegenwart. Als Georg Kerschensteiner einmal mit einem Vortrag über „Das absolute Maßsystem" die Rostra bestieg, waren zwei Professoren zugegen. Es war ein begrifflich schwieriges Thema, zudem der Physik näherstehend als der Mathematik, ein Umstand, der den „anwesenden Stockmathematikern" nicht behagt haben mochte. In der Diskussion schonten sie den Vortragenden nicht. Besonders der eine hatte an der Art und Weise, wie das Thema in Angriff genommen war, manches auszusetzen. Der andere, humorvoller als sein Kollege im Fach, trat in die Diskussion mit den Worten ein: „Mir scheint, der Herr Kerschensteiner hat die Kerschen für sich behalten und die Steiner den Hörern ausgeteilt." Diesem fröhlichen tätigen Studentenleben mangelte es nie an lustigen und auch an besinnlichen Begebnissen. An einem Sonntagvormittag befand sich Georg Kerschensteiner auf dem Heimweg von einer Staatsvisite, die er einem seiner Professoren gemacht hatte. Ein Gewitter brach los. Es goß und goß, und er hatte doch den neuen schwarzen Anzug an, den die Mutter ihm vor kurzem geschenkt. Eilig flüchtete er in die Residenz. Dabei traf er auf einen Kommilitonen namens Kopp. Dieser war erst kürzlich nach München gekommen, kannte die Residenz noch nicht. Georg nahm die Gelegenheit wahr, ihm diejenigen Räumlichkeiten zu zeigen, die den gewöhnlichen Sterblichen offen standen. Den Hut in der Hand, ging er voraus, Kopp folgte in einem Abstand. Sie bogen in
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einem Korridor gerade um die Ecke, als ein Major daherkam, am Arme seine Frau. Den Arm der Dame freigeben und auf die Seite springen war eins. Er machte Front, während die Dame tief in die Knie sank. Offenbar hielten sie ihn für eine der Königlichen Hoheiten, des dunklen üppigen Haares halber, vielleicht sogar für den König selbst. Um den Mann seines liebenswürdigen Irrtums halber nicht in Verlegenheit zu setzen, nickte Georg Kerschensteiner mit dem Kopfe, ohne eine Miene zu verziehen. Der hinterdrein folgende Kopp, Jurist seines Zeichens, hatte die Situation mit juridischem Scharfsinn erfaßt und sich in der Haltung eines Untergebenen gehalten, bis das Majorspaar verschwunden war. Erst dann ließen sie ihrer Heiterkeit freien Lauf. In diesen entscheidenden Jahren, da der Jüngling sich nicht genug tun konnte im Erfassen der Gaben, die aus den Himmeln ihm ins Leben stürzten, übte auch die Welt des schönen Scheines ihre Anziehungskraft. Die Oper lag ihm am nächsten. Vor allem die Oper des großen Richard. Waren die 70 Pfennige zu erschwingen, die der Eintritt auf die Galerie des Hoftheaters kostete, hielt ihn nichts. Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich auf dem „Juchhe" (wie die Galerie im Volksmunde hieß) um einen Platz vornedran mit dem Blick auf die Bühne zerrissen. Er war nicht gekommen zu sehen, lauschen wollte er. Er breitete im Rücken der Leute auf dem Fußboden seinen Mantel aus, warf sich darauf, zog die Partitur hervor, stützte den Kopf in die Hand. Schwangen die ersten Akkorde sich zu seiner Höhe empor, gab es nichts mehr für ihn zwischen Himmel und Erde als den tönenden Götterreigen vor seinem Ohr. Nach der Vorstellung trug er, begleitet von einem gleidigesinnten Jüngling namens Sauer 16 ), musikdurchtränkt sein hochwallendes Herz in den nächtenden Straßen herum, bis unter den begeisterten Gesprächen der graue Tag schon um die Dächer strich. An einem Märzabend des Jahres 81 schlendert er nach seinem Bade in Brunnthal die Maximilianstraße herunter. Er kam am Odeon vorbei, wo ein Akademiekonzert angeschlagen war: Symphonie von Richard Strauß, stand auf dem Plakat. Dieser Komponist, der da mit einem Erstlingswerke an die öffentlichkheit trat, das wußte er, zählte erst 17 Jahre.
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Der Gedanke an Mozart schoß befeuernd ihm ins Hirn. War der geliebten Vaterstadt ein ähnlich frühentfaltetes Genie geschenkt? Unmöglich, der Lockung zu widerstehen, das Aufgehen dieses Sternes am Himmel der Kunst mitzuerleben! Er überschlug seine Barschaft. Für einen Stehplatz reichte es gerade noch hin. Schon stand der schlanke Student mit verschränkten Armen, wie es seine Gewohnheit war, in dem überfüllten Saale, Spannung vom Scheitel bis zur Sohle. Was wird er hören? Eine Tondichtung leichten Stiles, im Geschmacke eines Haydn vielleicht? Ein Werk, vergleichbar den ersten Flügelschlägen eines flügge gewordenen Nestvogels? Die Aufführung begann. Je mehr das Tonbild sich entrollte, um so höher wuchs sein anerkennendes Staunen über die mitreißende, feurige Gangart dieser Erstlingsschöpfung, über den Reichtum ihrer musikalischen Formen. Da sprühte der Funke unbestreitbarer Genialität, war auch das Individuelle noch nicht durchwegs ausgeprägt! Das Publikum spendete reichliches Lob. Es verlangte den Komponisten zu sehen. Auf das Podium trat ein schmächtiger Jüngling, schüchtern im Gebraus des Beifalls. Unter den Geigern des Hoforchesters saß der Vater Strauß, die Augen feucht von Glückstränen. Der junge Kerschensteiner stand im Rausch unter der Menge. Die Sendung des schaffenden Künstlers hat von jeher die Wogen seiner Begeisterung hoch aufzutürmen vermocht. Jetzt, da ihm, dem selber Jungen, diese mystische Urkraft in der Hülle eines jugendlichen Menschen entgegentrat, fühlte er sich ihrer seltsamen Magie gleichsam nähergebracht, so daß er von den Schauern ahnungsvoller Verehrung bis in die letzte Faser durchrüttelt wird. „Ach", schreibt er an diesem Abende der Braut, „wie fühlt man die eigene Kleinheit vor solchem Erleben." Und als wäre die Unantastbarkeit solch jugendlichen Schaffens von vorhinein bedroht, fährt er aufbegehrlich fort: „Was wohl die Schreiberseelen der Zeitungsleute daran wieder zu kritteln und zu deuten haben werden?" Der Staatskonkurs war übel ausgefallen in diesem Jahre. Von 29 Kandidaten kamen nur 12 durch. Ein Menetekel für die, die das nächste Mal ans Kreuz geschlagen werden sollten! Georg Kerschensteiner hat seinen Gaul zwar nie eigens spornen müssen, der lief ohnedies immer Galopp, wo er besser 77
bloß traben sollte. Die Freunde setzen sich enger zusammen, um sich zu wappnen gegen die gemeinsame Gefahr. Mit Hurwitz saß Georg Kersdiensteiner im Labor über Beobachtungen und Versuchen. Mit Wiener beackerte er das Gebiet der Elektrizität. Mit Theodor Kuen stürzt er sich in das Gaußsche Werk: Circa curvas superficies, wobei Kersdiensteiner, als der bessere Lateiner, Kuen, den fortgeschritteneren Mathematiker, unterstützte und umgekehrt. Um bei dieser schwierigen Arbeit unbehindert vor wohlmeinender Störung zu sein, wählten sie einen Treffpunkt, wo niemand auf den Gedanken käme sie zu suchen. Im „Tal" befand sich eine Arbeiterkneipe „Zum Sternecker", wo an den Nachmittagen zwischen zwei und vier Uhr keine Menschenseele zu treffen war. Dort konnten sie sich mit ihrem Schriftenkram breit machen, niemand kam ihnen dazwischen. Im November hatte Georg Kersdiensteiner, wie die Vorschrift gebot, sich an der Technischen Hochschule exmatrikuliert, um an der Universität cives academicus zu werden. Professor von Beetz war fortan der Matador seiner Studien. In dessen Laboratorium wurde eine Spezialuntersuchung über Thermoelektrizität in Angriff genommen. Im übrigen fleißig mathematische Optik getrieben. Sehr interessant, das muß er sagen! Doch seit Wochen hatte er kein anderes Buch in die Hand genommen und (auf gut Münchnerisch) „alleweil Bratwürscht is' zu viel". Er sehnte sich nach einer Lektüre, die mit der Wissenschaft nichts zu tun hat. Auf seinem Bücherbrett stand Gustav Freytags Roman „Soll und Haben" — die leibhaftige Verführung! Aber nein, er darf nicht. Das Examen droht! Es mußte gebüffelt werden! Schließlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Da er den Roman bereits kannte, las er aber gleich den Schlußteil, damit der Zeitverlust nicht allzu sträflich wäre. „So eine Examensvorbereitung", seufzte er, „ist wahrlich eine Schinderei. Sie hängt dem idealen Fluge wahre Bleigewichte an die Schwingen." Von morgens bis abends klappern bei ihm jetzt die Winkel und Wurzeln, tanzen die Zeichen und Zahlen — „eine Hexenküche ist nichts dagegen". Am Abend ist er dann „denkfaul wie ein Frosch". Demungeachtet hatten ihn schon wieder Pläne gefangen. Nach dem Staatskonkurs wird er bei dem Professor Brill eine Spezialarbeit machen, die ihm später als 78
Dissertation dienen soll. Als ob nicht genug zu sorgen wäre in der Gegenwart! Aber er konnte nicht aus seiner Haut heraus. Er fand keine Ruhe, solange er sein Fahrzeug nicht nach einem Ziele richten konnte 17 ). In Augsburg sahen sie es nicht gern, wenn er sein Ziel immer so hoch steckte. Sie wittern Hochmut darin, der vom Übel ist. „Warum soll ich es niedrig stellen?", fragt er zurück. „Nur an höheren Zwecken wächst der Mensch." Er will wachsen. Drum lasse man ihn. Manchmal drückte ihn ein Alp, es könnte sein, daß er nach dem Examen in irgendein ödes Nest versprengt würde, wo er versauern müßte bei all seiner Leidenschaft für eine höhere Geistigkeit. Nur eine Universitätsstadt könnte ihm genügen. Dort würde sich neben dem Amt das Studium vertiefen lassen. Fortwährend lag er dem Bruder Joseph in den Ohren, ihn bei Verfolgung dieses Wunsches zu unterstützen. Kündigte sich das unheimliche Brennen im Kopfe wieder an, dann spannte er sich ein paar Tage aus dem mathematischen Geschirre aus, flüchtete an das große Herz Gottes. Die schweren Wände der Alpen waren dann seine Zuflucht. Dort, in der Losgelöstheit von den grübelnden Problemen, in der Notwendigkeit, Härte des Körpers und Gleichmut vor der Gefahr zu erproben, zu beweisen, daß man ein Kerl ist, beruhigten sich die mißhandelten Nerven. Dann war ihm zum Lachen, daß er wegen eines angeblichen Herzfehlers zum Militärdienst für dauernd untauglich geschrieben worden war. Saß er nach solch schwieriger Fahrt, mit dem Zug aus den Bergen eben zurückgekommen, noch mit Wollhemd und Nagelschuhen angetan, am Morgen in seinem Kolleg, dann spürte er die neue Kraft, die ihm geworden war. Der Kopf war frei. Die Zukunft sah ihn nicht mehr mit den Augen der Sphinx an. Er wußte wieder, was in ihm steckt; fühlte, daß er sein Ziel erreichen wird und wenn die Welt voll Teufel wär! Nach solch einem Bergausflug nahm er eines Nachmittags den Tee bei seinem Bruder Joseph, der seit dem neuen Jahre mit dem Verdienstadel ausgezeichnet worden war. Plötzlich stürzte Hermann Wiener in die Stube, zwei Eintrittskarten für den Armenball in der Hand schwenkend. Professor Lüroth hatte sie ihm für sie beide geschenkt. Der Armenball war ein Saisonereignis. Ein unbetretbarer Boden für einen
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Studenten ohne Geld. Gerade das behext. Aber wie sah er aus! Der Bart sproßte ihm noch vom Bergausflug her wie ein Stoppelfeld um Wangen und Kinn. Außerdem besaß er ja keinen Frack und auch sonst nichts, was ein Auftreten in einem Ballsaale erlaubte. Audh war es schon 6 Uhr, um 8 geht das Fest an. Macht nichts. Den Armenball fahren lassen? Zum Lachen! Schwierigkeiten müssen gleich Stieren bei den Hörnern gepackt werden. Prestissimo zum Haarschneider! Dann heim, frische Wäsche angelegt und Tonis schwarze Hose! Zum Doktor Schweninger, Josephs Freund, den Frack zu pumpen! Der Doktor war nicht zu Hause, aber seine junge Frau gab ihm den Hochzeitsfrack ihres Mannes und die hochzeitlichen Handschuhe dazu. Ein belegtes Brot als Abendimbiß zwischen den Zähnen stürzt er zu Wiener, der inzwischen eine weiße Halsbinde für ihn gekauft hatte. Um das Garderobegeld zu sparen, denn es war wieder einmal Finsternis in seiner Börse, ließ er trotz der herrschenden Februarkälte den Mantel zu Hause. Den Hut steckte er in Wieners Manteltasche. Nun war es geschafft. Als sie das Parkett des Hoftheaters betraten, das in einen Tanzsaal umgewandelt war, erklangen die ersten Akkorde der Tannhäuser-Ouvertüre 18 ) . Um Lüroths gastlichen Tisch fanden die jungen Studenten sich häufig fröhlich vereint. Einmal fand Georg Kerschensteiner, nachdem er bei seinem Professor bei einer Bowle bis ein Uhr gesessen hatte, die Tür seines Hauses verschlossen. Irgendein vor ihm Heimgekehrter hatte den Schlüssel innen abzuziehen versäumt, so daß man nicht öffnen konnte. Den Bruder Toni durch Pfeifen und Rufen zu wecken? Nicht des Versuches wert! Der schlief wie ein Murmeltier. W a r es auch peinlich, die Nacht mußte im Freien verbracht werden. In den Anlagen des nahen Gasteigs gab es Bänke zum Rasten. Dort ließ er sich schläfrig nieder. Um halb drei weckte ihn der grauende Tag. Ihn fröstelte, obwohl er geglaubt hatte, gegen die Kühle gesichert zu sein dadurch, „daß er sich sein Sacktuch um den Hals gebunden". Ein paar Turnbewegungen machten ihm warm. Nun schlenderte er über die Brücke, die mit ihren mächtigen Quadern der reißenden Strömung der Isar standhielt. Im Tal sah es aus, als hätte alles Leben in die Häuser sich verschlüpft. Die ruhende Straße, in der er
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doch aufgewachsen war, kam ihm ohne das Durcheinander von Wagen und Leuten seltsam unvertraut vor. Ohne Ziel, kaum völlig wadi, schlängelte er durch Gassen und Gäßchen, wie vom Mond gefallen so befremdet vom ungewohnten Eindruck der leblosen Stadt. Er kam vor den Hofgarten, wußte kaum wie. Er trat ein. Auch der Hofgarten mutete in der Unerwecktheit der Frühe wunderlich an. Gelöst von der Unrast des Menschen schien jedes Ding jetzt sein sonst wohlverwahrtes Antlitz zu entblößen. Der erste Morgenhauch der Blüten strich über die taufeuchten Rasen. Der Duft von Flieder und Jasminen fing ihn gleich einer betäubenden Wolke ein. Noch schliefen die Immen und alles geflügelte Volk. Er ließ die Arkaden beiseite, deren Wände von Sage und Taten der bayerischen Geschichte voll sind. Ging dem Weckruf eines Vogels nach, der irgendwo aus den laubigen Bäumen fiel. Gleich war es um die einlullende Stille getan. Von allen Seiten fing es zu flöten und zu girren an. Und es war, als ob der erstarkende Tag aus dem Schoß der Erde die tätigen Kräfte des Lebens unsichtbar höbe. Audi der traumverlorene Jüngling fühlte das Erweckende dieses lautlosen Werdens. Er brach im Vorübergehen ein Hollerzweiglein, sein Knopfloch damit zu zieren. Setzte sich auf eine Bank, da wo vom Odeonsplatz her die Turmuhr der Theatinerkirche wie ein großes Einauge herübersah. Bald kamen die Gärtner, ihr Tagewerk zu beginnen. Da war der Zauber weg. Er zog ein Buch aus der Tasche, schmökerte ein wenig, machte sich dann auf, den versäumten Schlaf daheim nachzuholen 19 ). Der Staatskonkurs wurde auf den 18. Oktober festgesetzt. In der Prüfungskommission werden ein paar „grimmige Kerle" sitzen. Den Kandidaten lief es eiskalt über den Rücken, da sie die Namen erfuhren. Für Georg Kerschensteiner ein Trost, daß Professor Lüroth unter den Examinatoren saß, der wußte, was er von ihm zu halten hat. Das Resultat war auch in diesem Jahre betrüblich. Nur ein einziger Prüfling trug die Note Eins davon. Fünf erhielten die Note Zwei, elf die dritte Note und einundzwanzig arme Teufel fielen durch oder traten zurück. Georg Kersdiensteiner war froh, zu den guten Zweierkandidaten zu gehören. Er hätte besser abschneiden können, wäre er nicht so aufgeregt gewesen. Der deutsche Aufsatz über die „Bedeutung der NordK e r s c h e n s t e i n e r , Biographie. 6
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polfahrten" hat ihm keinen Aufschwung der Phantasie erlaubt. Das Los, das er aus der Urne für sein mündliches Examen zog, hatte die Aufschrift getragen: „ ü b e r spezifische Gewichtsbestimmungen fester und flüssiger Körper mittels Hydrostatischer Waage". Nun der Drude des Examens abgeschüttelt war, pries er sich glücklich, die Basis gewonnen zu haben, darauf er den Wechsel einlösen kann, den er vor Jahren der Liebsten, Sophie Müller, gegeben. Die Vision des eigenen Heimes mit aller Versprechung von Zuflucht, Heimat, Geborgensein schaltet sich jetzt in seine Träume ein. Wie will er dann allen Ehrgeiz fahren lassen und nur seiner häuslichen Seligkeit mit der Geliebten leben! Aber sein unstillbarer Vorwärtstrieb ruhte dennoch nicht, bis er sich neue Ziele des Fortschreitens gesetzt hatte. Spezialexamen, Preisschrift, Promotion heißen die Stationen, an denen sein Schiff noch haltmachen wird, bevor es in den Port der Ehe einfährt. Georg Kerschensteiner war nun in das Alter gekommen, wo der Mensch sich nach Selbständigkeit sehnt. Aber der Amtsschimmel ging unbekümmert seinen sehr gemächlichen Trott. Es hieß auf Anstellung und Eigenheim länger warten, als die Geduld reichte. Das war bitter. Um so mehr als die Geldsorgen wieder einen breiteren Rahmen in seinem Leben einnahmen. Der Mutter Katharina ging es mit dem Verdienste nicht mehr so gut wie früher. Sie hatte den Verkaufsstand in der Freibank verloren und die Kronfleischküche, die sie ersatzweise übernahm, rentierte sich nicht. Der Sohn mochte der Mutter nun nicht mehr länger auf der Tasche liegen. Magere Zeiten stellten sich von neuem ein. Aber er ließ sich nicht niederdrücken. Kümmernissen, die nicht zu ändern waren, erlaubte er grundsätzlich nicht, ihm über den Kopf zu wachsen. Er kannte zur Genüge die Weise, wie das Schicksal mit ihm umzugehen beliebte. Zwar war es ihm nicht ganz abhold, o nein! Aber ertrotzt wollte es alles von ihm haben. Daß das Leben Kampf ist, wußte er seit lange. Aber er hatte den Kampf lieben gelernt, weil er Kraft entbindet und den Mann stählt. „Das Glück liegt im Streben und Kämpfen", schreibt er der Braut. „Wer sein Ziel erreichen würde, hätte es sicherlich zu nieder gestellt. Ich kämpfe um so freudiger, je dichter die Widerstände kommen. Die kleinste 82
Sprosse, die erklommen ist, ist mir Antrieb genug zum Weiterschreiten." Letzten Endes, fand er, hat jede Lage auch ihr Gutes, daran man sich halten soll. Das peinliche Hinwarten auf Anstellung und Lebenssicherung zum Beispiel, gab es ihm nicht die Möglichkeit, länger an der Universität zu verweilen und seine Kenntnisse über das M a ß der Kandidatengelehrsamkeit zu erweitern? Und das war es, was er durchaus zu vermeiden trachtete: ein Spieß zu werden, später im Eingesponnensein des Berufes! Die jetzige Lage schenkte ihm Muße genug, eine solide Doktorarbeit zu schmieden, wozu es an Zeit gebrechen würde, zöge eine rasche Anstellung ihn aus der Geldnot. Die Selbstachtung forderte seine ganze Beharrlichkeit auf den Plan. Er war tapfer genug, sogar das erste Angebot einer Anstellung als Assistent am humanistischen Gymnasium in Amberg auszuschlagen, um Begonnenes vollenden zu können. Man bestaunt mit Rührung dieses klaglose Verzichten auf Nichtbeschiedenes, dieses entschlossene Hinnehmen von dem, was geschickt ist. Nie schlägt seine Bitterkeit in Lebensüberdruß und Weltverachtung um. Auch für weltschmerzliche Selbstbespiegelung ist kein Platz in dieser von Kampf so hart bedrängten Jugend. Uber allpn Staub seines Weges hebt er bewußt und stark die Schwingen ins Licht beseelender Ideale. So nahm er denn ein weiteres Jahr das Studentenschicksal auf sich. Saß im Oberseminar des Professors Brill, zu dem nur fertige Mathematiker Zutritt hatten; förderte unter dessen Führung seine Arbeit über: Die Kriterien der rationalen Kurven vierter Ordnung (bezogen auf ein Doppeltangentendreieck) in Hinsicht auf Doppelpunkte, Doppeltangenten und Wendepunkte. Sie soll seine Inaugural-Dissertation werden. Brill schenkte ihm viel Aufmerksamkeit und Zeit. Aber es gab, wie früher, immer noch Tage, wo Georg Kerschensteiners unbestechliche Selbstkritik „keine Prognose zu fällen vermochte, in bezug auf seine mathematische Begabung". Wohl war er überzeugt, tüchtig zu sein. Doch gewohnt, immer den größten Maßstab an seine Leistungen anzulegen, kam es oft zu entmutigenden Vergleichen. Mathematische Schwierigkeiten stürzten ihn immer noch leicht in Depressionen. Ende des Jahres nahm er auf Anraten seines Freundes 6*
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Erde vorübergehend eine Anstellung an der meteorologischen Zentralstation in München an, deren Direktor Professor von Bezold war. Der Dienst war stellenweise handwerksmäßig. O f t bestand er in einem stumpfsinnigen Absdireiben von Zahlen, „als ob man ein Rentamtsschreiber wäre". Der damals noch sehr mangelhaft fundierte Wetterdienst gewann ihm mehr Heiterkeit als Interesse ab. Unbefriedigend war ihm auch die geistig wenig anregende Ausrechnung von Monatsund Jahresmitteln der beobachteten meteorologischen Elemente an den verschiedenen Orten Bayerns. Aber die Stelle, die ihm monatlich hundert Mark eintrug, erlaubte ihm, die Mutter, „die nie aufhörte gut zu sein", zu unterstützen. Außerdem ließ sie ihm Zeit, die Dissertation fertigzustellen. Und auch sonst war sie nicht übel, „rauchen konnte man wie ein Türke", und mit den Kollegen vertrug er sich gut. Sträflicherweise benützte er die von ihm gezeichneten Wetterkarten als Liebesboten. Er versah in den von Ziffern begleiteten Isobaren jede Ziffer 7 mit einem Schwänzchen, was Uneingeweihten nicht weiter auffallen konnte. Aber den Besuchern des Obstmarktes in Augsburg mußte es allmählich rätselhaft erscheinen, warum ein junges Mädchen nach seinen Einkäufen jeden Tag so eifrig die Wetterkarte studierte und die Schwänzchen an den Siebenerziffern zählte. Sie bedeuteten nämlich ebensoviele Grüße. Der labende Herztrunk inmitten des Staubes dieser Zeit war die Musik. Von jeher war sie ihm Stütze und Stab gewesen. Seit er den regen Umgang mit dem jungen Archäologen Bruno Sauer pflegte, der ein guter Kenner Richard Wagners war, glühte er danach, in die Welt der heroischen Visionen des Meisters, in die Kunstform seines Schaffens eingeführt zu werden. Wann immer Sauer zu ihm in die Zweibrückenstraße kam, stürzten sie, beide hohen Eindrücken gleich offen, jugendheiß und musiktoll ans Klavier, die unvergänglichen Tondramen zu studieren, Kerschensteiner als Spieler, Sauer als Interpret. Die halben Nächte saßen sie, so wie Geizhälse über Edelsteinen sitzen, über den Tonschätzen, gierig daß ihnen kein Ton, kein einziges Wort aus dem Hohelied der tragischen Minne entgehe. Durch Zufall gerieten die beiden Freunde in den Kreis einer „Wagnergemeinde", die sich im Hause der Hofopern84
Sängerin Frau Schultze versammelte. Einflußreiche Wagnerverehrer lernten sie dort kennen, Baligand, Spork, Hans von Wolzogen, den Kapellmeister und Wagnermatadoren Porges und viele andere. Die Idee der Gründung einer Deutschen Musikschule im Sinne von Bayreuth, vom König leidenschaftlich gewollt, von Einsichtigen gepredigt im Namen des Fortschrittes der deutschen Bühnenkunst, beschäftigte alle, denen das musikalische Gut der Nation am Herzen lag. Auch die Bildung eines akademischen Wagnervereines nach dem Vorbild von Wien und Berlin wurde in diesem Kreise erwogen. Dem Grafen Spork, dem tatkräftigen Vorsitzenden des Münchener Wagnervereines, schien dieser heißblütige junge Kerschensteiner der rechte Mann, die Propaganda an den beiden Hochschulen zu übernehmen. So sahen die Jünglinge sich mitten in die Stürme und Ungewitter der Wagnerfehden versetzt. Hitzig ließ Bruno Sauer seine Wagnerartikel in der Süddeutschen Presse los. Und Georg Kerschensteiner, zornig über das kleinsinnige Gebaren eines Teiles des Münchner Publikums, dem größten lebenden Künstler angetan, läßt seinen Unmut verströmen in den Briefen an die Braut: „Was haben die Deutschen doch für eine lederne Haut! Nur wenn persönliches Unglück die gerbt, fangen sie zu fühlen an. Das Edle vermögen sie nicht zu erkennen, da ihre Herzen der elendsten Nichtigkeiten voll sind." Eine Eintrittskarte zur Bayreuther Parsifalaufführung fliegt ihm als Geschenk zu. Im August wallfahrtet er dorthin. Er wohnt in dem alten parkumhegten Markgrafenschlößchen Fantasie, anderthalb Wegstunden vor der Stadt. Im Festtempel, damals noch ein leichter Bau mit dürftigem Schmuck, verliert er Zeit und Raum vor der Offenbarung dieses Hochamtes. W e m pochte die Brust heißer bei Kundrys ergreifender Todessehnsucht? W e r fühlte des Amfortas Qual um das betrogene Heiligtum so wie er? Da quellen die Tränen. Er wehrt ihnen nicht, denn er fühlt sich nicht allein mit seiner Ergriffenheit. Alle anwesenden Herzen scheinen ihm in einem einzigen Aufschwung des Mitfühlens verschmolzen zu sein. Und dann die einsame Heimkehr durch die sternenblinkende Nacht mit dem stürmenden Herzen in der Brust! Nie wird er sie vergessen! Am nächsten Tag begeht er in der alten Bischofsstadt Würzburg die vielen Stät-
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ten, die die Geschichte geweiht hat, nur mit halbem Dabeisein. Seine Seele ist noch dem verflossenen Erlebnis zugewendet. Der Erlösungsgedanke des Mitleids brennt noch in seiner Brust. Während er dem stillen Fluten des Mains zur Seite geht, glüht das Verlangen in ihm, wie Parsifal gut und hilfreich zu werden. Doch in der Residenz, die ehemals der Sitz machtvoller Fürstbischöfe gewesen war, schreit vor all dem sinnverwirrenden Luxus sein Protest auf, und er flüchtet mit seinen Reflexionen über die Selbstherrlichkeit derer, die er von Gott zum Dienen in der Demut bestimmt glaubte, in die Laubengänge des Hofgartens. Kaum waren die Tage ins neue Jahr gegangen, kam eine Hiobspost aus dem Süden. Richard Wagner war im Palazzo Vendramin zu Venedig gestorben. In der Studentenbude an der Zweibrückenstraße saßen Sauer und Kerschensteiner trauernd beisammen und tauschten ihre wehmütigen Gefühle aus. Hinweggeweht dies Leben voll Kampf und Begnadung! Das deutsche Volk des deutschesten der Künstler beraubt! Wer wird das Erbe hüten fortan? Wer wird das Werk schützen vor dem Zugriff derer, die sich Landsleute genannt haben, wenngleich sie Feinde gewesen sind? Erschreckt von dem bitteren Gesetz des Todes, der auch dem Edelsten die Fackel löscht, eilen des jungen Kersdiensteiners sorgende Gedanken hin zu jenem anderen großen Deutschen, der ihm unter den Lebenden der Höchste ist: zu Bismarck, dem Manne des deutschen Schicksals. Wenn das unbarmherzige Geschick uns einst auch den entreißen wird! Armes Vaterland ! Was wirst du beginnen, deiner größten Söhne beraubt? Sie spielen die schönsten Weisen aus dem Parsifal und weinen dazu wie die Kinder. Kurz darauf traf der Zug mit der sterblichen Hülle des Meisters, auf der Durchfahrt nach Bayreuth in München, der Stadt der Meisteroffenbarung, ein. Der Bahnhof war schwarz von Volk. Die Künstlerschaft war mit Fackeln zugegen. Die Hofopernsänger, die Intendanten, alle, Mann oder Frau, die dem entschlafenen Dichterkomponisten Stunden der Erhebung dankten, standen in ergriffener Erwartung.. Georg Kerschensteiner schloß sich dem Wagnervereine an, der vom Grafen Spork geführt wurde. Der König hatte dem Freunde ein Ehrengeleite bis an die Grenze entgegengeschickt. Als der 86
Zug in der hochgewölbten Bahnhofhalle einfuhr, ertönte, von den Bläsern des Hoftheaters und einer Regimentskapelle gespielt, Beethovens Trauermarsch. Da blieb kein Auge trocken. Der Wagen, der den Sarg führte, war mit kostbaren Kränzen überschüttet. Der vom Münchner Wagnerverein gespendete Kranz trug auf der Schleife die Worte Parsifals: „Erlösung dem Erlöser." Ein peinlicher Abschluß störte die Feier. König Ludwig, der die Absicht geäußert hatte, den Trauerzug nach Bayreuth zu begleiten, um den Meister in Wahnfried bestatten zu helfen, fühlte sich in letzter Stunde gehemmt, seinen Trauerschmerz dem Gegaffe der Menge preiszugeben. Weitere königliche Bestimmungen blieben aus. So mußte der Trauerzug, von einer Ehrenwache gehütet, über Nacht im Münchner Bahnhof stehenbleiben. Erst um Mitternacht traf der Kranz des Königs ein mit der Meldung, „Majestät sei durch Unwohlbefinden gehindert, persönlich an dem Begräbnis teilzunehmen". Nach dieser Weisung rollte der Zug im Nebel der Februarfrühe Bayreuth zu.
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Der Gymnasialassistent in Nürnberg. Seit dem Herbst 1883 war Georg Kerschensteiner als Assistent für Mathematik und Physik am MelandithonGymnasium zu Nürnberg angestellt. Das Magisterdasein, in das er auf dem Umweg sechsjähriger Reifung nun wieder einmündete, fand ihn für sein Amt besser gerüstet, als es der kleine Schulgehilfe von Forstinning gewesen war, der geglaubt hatte, mit dem Besen eiserner Strenge alle Schwierigkeiten aus dem Schullehrerdasein hinauszukehren. Nun war er ein Dreißiger fast, dem die gehäufte Instruktortätigkeit — von der Lebensnot ihm aufgehalst — erlaubte, mit einem Vorrat selbstgewonnener Lehrerfahrung vor seine Schüler zu treten. Erinnert er sich dessen, was er, eben der Prüfung entronnen, die sein Freibrief zu höherem Aufstieg gewesen war, sich damals geschworen hatte? Dies eine hat sidi nun erfüllt: Er ist an der besten der Schulen, das war für ihn zu jener Zeit das Gymnasium, in der exaktesten Wissenschaft ein Lehrer geworden. Nun ist es an ihm, auch der beste Lehrer zu werden! Die letztverflossenen Jahre waren noch ganz im Banne des wissenschaftlichen Ideals gestanden. Jetzt in der lebendigen Berührung mit dem jungen Menschenmaterial wachte sein Trieb auf, individuelles Leben zu gestalten. Es dämmerte ihm, daß einzig ein Lehrer zu sein nicht die ganze Weite seiner Sehnsucht ausfüllte. Vielleicht schwebte ihm immer noch die Erinnerung an seinen Lehrer Bischof vor in dem glühenden Wunsche, werdenden Menschen bei ihrem Aufstieg zu höherem Sein zu helfen. Ein wenig vorwurfsvoll bedachte er, daß während der Studienzeit er versäumt hatte, sich bei den Männern umzusehen, die vor ihm auf dem Wege zum rechten Erzieher geschritten sind. Er hatte kein einziges Buch in die Hand genommen, um sich über die Prinzipien pädagogischen Tuns zu orientieren. Auf den Lehrstühlen der
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Universitäten der achtziger Jahre war Pädagogik noch gar nicht vertreten. Er würde, wären die Studienverhältnisse auch bessere gewesen, sich vielleicht trotzdem nicht darum gekümmert haben, denn diese Dinge waren ihm durch das Seminar gründlich verhaßt geworden. Mit Graus denkt er noch heute an die Zeit, da die psychologischen Begriffe qualvolle Rätsel für ihn gewesen sind, Rätsel, die der Leitfaden der Psychologie, den er hatte auswendig lernen müssen, ihm natürlich nicht gelöst hat. Doch während er so den Mangel seiner Kenntnisse beklagt, übersieht er, daß in den Beziehungen der Menschen untereinander, und auf dem Boden der Schule zumal, es unerlernbare Dinge gibt. Gaben, die dem Glücklichen geschenkt sind, die der Nichterwählte zu erwerben vergeblich sich anstrengen wird. Daß er mit der Kunst der Menschenführung begnadet sein könnte, wie hätte seine Selbstprüfung sich solcher Gedanken erdreistet! So ging er, einzig von der freudigen Ehrfurcht vor dem werdenden Menschen belehrt, auf seine Jugend zu. Er sah mit Befremden die Unverbundenheit von Schülern und Lehrern innerhalb des Schulkörpers. Gleich Inseln in einer Flut lag hier die Insel der Lehrer, die Insel der Schüler dort, und kein Steg der Liebe war da, das Abgesonderte zu überbrücken. Könnte doch sein glühendes Herz die Brücke sein! Im strengen Gang des Unterrichtes war freilich für menschliche Fühlung wenig Raum. So mögen die freien Stunden jenseits der Schule den Geist der Kameradschaft aufblühen lassen! Unter der Flagge des Sports sammelt er die Jünglinge um sich, läuft mit ihnen über Stock und Stein, mißt sein Können im Turnen, im Schwimmen, im Eislauf mit dem ihrigen. Und erlebt das Beglückende, daß die Geöffnetheit seiner Seele auch ihre Seelen erschließt, daß er an manchem Knaben, dem mit Logarithmen und Quadratwurzeln schlecht beizukommen war, andere Begabungen oder wertvolle Züge des Charakters ans Licht ziehen und wohltätig steigernd darauf einwirken kann. Weich ist er als Lehrer trotzdem nicht gewesen. Seine erzürnbare Art wird zuweilen hart an die Schüler geraten sein. Sie trugen es ihm nicht nach, weil sie wußten, daß auch er das von ihnen Verbrochene vergaß, war es durch entsprechende Maßnahmen gesühnt. Es bleibt gewiß keinem Lehrerleben erspart, an Klippen vorbeizukommen, wo es sich zeigen muß, ob der 80
Lehrer das Schiff seiner Autorität zu steuern versteht oder ob es am Widerstand der Klasse zerschellen wird. Glücklich der Lehrer, der es vermag, in einer gegebenen Lage von innen heraus und sicher zu handeln, so wie es im Sinne erzieherischer Beeinflussung das Gegebene ist. W e r sein Ansehen nur auf den Nimbus seiner Stellung aufbaut, nicht auf sein Sein, dem kann es leicht geschehen, daß er in dem Kraftspiel zwischen Klasse und Lehrer den Kürzeren zieht. Von Georg Kerschensteiner erzählt sein Amtsgenosse Stettner, daß er diese Treffsicherheit besaß. So zum Beispiel kam er einmal mit gänzlich geschorenem Kopf, so daß keine Maus mehr etwas daran zu knappern gefunden hätte, in seine Oberklasse. Es gehörte nämlidi zu seinen selbsterfundenen Heilmitteln, immer wenn das Kopfbrennen sich wieder einstellte, zur Entlastung der Kopfnerven sich den üppigen Haarpelz scheren zu lassen. Davon wußten die Schüler natürlich nichts. Sie sahen nur das Ungereimte, daß einer, der eisigen Februarkälte zum Trotz, während vernünftige Leute sich noch die Pelzmütze über die Ohren zogen, sich die Haare abrasieren ließ. Zudem war es ein Aschermittwoch, ein Umstand, der der Sache noch eine besondere Note gab. Schallendes Gelächter brach los, nicht von der übermütigen, von der ungehörigen Art. Der Professor zeigte weder Überraschung noch Zorn. Als berühre der Radau kaum sein Trommelfell, setzte er sich, ließ, die verschränkten Arme auf den Tisch gestützt, die Augen mit undurchdringlicher Aufmerksamkeit langsam von einem Knaben zum andern wandern. Die männliche Haltung, der ernste Blick wirkten bereits lähmend auf das unbotmäßige Benehmen. Der Befehl: „Genug!!", der plötzlich durch den Saal schütterte, schlug ein wie der Blitz. Ohne Zögern fuhren die Hefte aus den Mappen. Kein nachmaulender Ton wurde laut. Die Klasse kehrte willig, doch heimlich beschämt sich dem Ernste des Unterrichtes zu. Ein anderes Mal kam der Mathematiklehrer zufällig etwas vor Glockenschlag in das Klassenzimmer. Dort fand er die Knaben höchlich amüsiert um die große Tafel geschart. Beim unerwarteten Eintritt des Lehrers fuhren sie wie die Ratten auseinander, ihren Plätzen zu. Breitbeinig, mit untergeschlagenen Armen stellte der Professor sich vor die Tafel, das Opus
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zu betrachten, das die überrumpelten Schüler auszuwischen vergessen hatten. Eine Quadriga war da zu sehen, feurige Rosse davor und ein Apoll, der das Gefährt lenkte. Dem Gotte des Lichtes saß ein breitkrämpiger Schlapphut auf den Locken, von der Form desjenigen, der dem Mathematiklehrer den Spitznamen „Seeräuber" in der Schule eingetragen hatte. Audi andere Einzelheiten der Zeichnung ließen mehr auf die Gegenwart, denn auf das Altertum schließen. Kein Zweifel, dies war sein Porträt! Die Zeichnung verriet Begabung. Sie gefiel ihm. Sie erinnerte ihn an das Gaudium, mit dem er früher ebenfalls die Karikaturen seiner Lehrer entworfen hatte. Es fehlte ihm nicht an Verständnis für solch einen Scherz. Aber — wo blieb die Disziplin? Die Schulordnung gebot, daß der Klassenführer Tafel, Kreide, Schwamm dem Lehrer in tadellosem Zustand zu übergeben hatte. Wie sah es in diesem Punkte aus! Fußboden, Bänke, Tafel — überall die Spuren der überstürzten Flucht. Nein. Diesmal kam er um den Schulbakel nicht herum. „Wer hat das gezeichnet?", fragt er absichtlich streng. Peinliche Stille. Erst auf die zweite Frage erhebt sich ein langaufgeschossener Jüngling, der ein Sohn des berühmten Tiermalers Zügel war. „Nun, die Zeichnung gefällt mir. Aber was ist das für ein Zustand um die Tafel herum? Du reinigst die Tafel, ad eins; ad zwei zeichnest du bis zur nädisten Stunde als Hausaufgabe das gleiche Bild." Die Klasse atmete auf. Eine Woche später lag auf dem Katheder eine Rolle mit blauem Seidenband umwunden. Unter dem Apollo-Seeräuber stand die Widmung: „Zügel seinem lieben Dr. Kersdiensteiner." Professor Karl Tobias Fischer erzählt aus seinen Jugenderinnerungen an die 3. Lateinklasse des Melandithon-Gymnasiums zu Nürnberg: Z u den Lieblingslehrern des humanistischen Gymnasiums zu Nürnberg gehörte im Jahre 1883 der als junger Assistent für Mathematik dort wirkende Georg Kersdiensteiner mit seinen dunklen, steif hochgebürsteten Haaren und seinen gemütvollen, klar blickenden Augen. Es war zwar ein langatmiges Lehrbuch von Schröder über Planimetrie und ein Algebrabuch von Hauck an der Anstalt vorgeschrieben, aber Kersdiensteiner zog es vor, mit seinen Schülern der dritten Latein91
klasse ohne jedes Lehrbuch, vom unmittelbar Anschaulichen zum mathematisch Abstrakten zu führen und die Ergebnisse in ein Heft zu diktieren. Der von Humor gewürzte Unterricht fesselte die Schüler dermaßen, daß zu Hause außer den zu lösenden „Hausaufgaben" nicht viel zu studieren übrigblieb. Bei ihm fühlten sie sich wie zu Hause. Da im Klassenzimmer jederlei Beleuchtung fehlte, erlaubte der junge Assistent, daß für das „Anschauungsfach" durch mitgebrachte Kerzen für Beleuchtung gesorgt würde. Auch neben der Schultafel waren an seitlich angebrachten Holzstäben ein paar Lichter von den Schülern anzubringen. Eine so vernünftige, wenn auch ungewöhnliche Erleichterung des Unterrichtes brachte Lehrer und Schüler einander näher als manches freundliche Wort. Bei den damals üblichen, nur einmal im Jahre vom Klassenleiter veranstalteten Klassenausflügen, genannt Maispaziergängen, die einen ganzen T a g dauern durften, war Kerschensteiner von den Schülern immer gebeten, sich zu beteiligen, und er tollte und spielte dann mit, als ob er nicht der Vertreter eines als „trocken" verrufenen Faches, sondern wirklicher Kamerad wäre. Der Klassenleiter trat dabei in den Hintergrund, sobald er am Ausflug teilnahm. In dem alten Melanchthon-Gymnasium, in dem viele körperlich und geistig müde Männer lehrten, wehte eine etwas unbewegte Luft. Als der Reihe nach vier junge Assistenten eingestellt wurden, die die unverkümmerte Lust der Initiative und den Schneid der Jugend mitbrachten, fing ein frischerer Wind zu wehen an. Da war außer Georg Kerschensteiner der spätere Konrektor in Ansbach, Thomas Stettner, da war der Gräzist und Historiker Hugo Steiger, da war Ludwig Schleiermacher, aus der Studienzeit Georg Kerschensteiner schon eng verbunden. Das Kleeblatt hielt fest zusammen, wo es galt, dem Veralteten die Spitze zu bieten. Sie speisten gemeinsam im „Goldenen Pfauen", und wenn ein Dämmerschoppen den Alltag durchbrach, war das „Hufeisen" ihr Stelldichein. Die Gründung eines akademischen Wagnervereines in München durch Georg Kerschensteiner war infolge seiner Berufung zu Wasser geworden. Nun warf er sich dem regen Musikleben der Stadt der Meistersinger in die Arme, immer
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vorndran, wo es galt dem abgeschiedenen Meister den Lorbeer zu winden. Ein äußerst unternehmender Privatmusikverein bot den Nürnbergern seine guten Konzerte an. Dem wurde Georg Kerschensteiner eine tätige Stütze. Vertretungshalber hat er dort einmal den Chorrepetitor für die Matthäuspassion gemacht. Wo in Familienkreisen ernsthaft musiziert wurde, ließ er sich nicht vergeblich bitten. Das trug ihm viele treue Freunde zu. Um den Juli herum brütete eine außergewöhnliche Hitze über dem steinernen Häusermeer. Menschen und Tiere schmachteten unter ihrem Regiment. Die spärlichen Kiefernwälder im Weichbild der Stadt sahen wie versteinert aus, so hatte die Sonne ihr Mark ausgesogen und der Staub ihr grünes Kleid verfärbt. Zu Hause machte sich's jeder so bequem es nur ging. Auch Georg Kerschensteiner saß nur mit Hemd und Hose bekleidet über den Schülerheften. Es war gerade die Zeit der Skriptionen. Sie hatten diesmal unzählige Vierer gezeitigt. Kein Lehrer war um diese Zeit sicher vor dem Überfall geängstigter Mütter. Wie es wieder einmal bei dem Mathematikus anklopfte, band der schnell seinen Kragen um und schoß in einen Rock, der über der Stuhllehne hing. Es war aber der Rock eines Schülers, der gerade ebenfalls hemdärmelig bei ihm saß. Der Rode war ihm zum Platzen eng, wie sich denken läßt. Die Arme steckten gleichsam in Futteralen — wie eine Gliederpuppe steif stand er vor der Dame, die eingetreten war, da. Trotz ihres mütterlichen Kummers konnte diese ein Schmunzeln nicht unterdrücken vor dieser Erscheinung eines Professors in der Zwangsjacke. Das Doktorexamen stand immer noch aus. Ende Juli fuhr er nach München, um sich an der Ludwig-Maximilians-Universität die akademischen Sporen zu verdienen. Promotionen wurden damals noch höchst feierlich begangen; sie waren öffentliche Akte, von den Universitäten mit dem Nimbus der Würde umgeben. Es ging so zu: Die Zugehörigen der Feier bewegten sidi prozessionsweise vom Amtszimmer des Rektors in die Aula, wo schon das Publikum in Erwartung saß. Voran gingen, Szepter tragend, die Pedelle. Dahinter der Doktorand in Degen und Doktorhut. Es folgte in blendenden Purpur gehüllt, die glitzernde schwere Goldkette als Zeichen 93
höchster Amtswürde auf der Brust, der Rector magnificus. Ihm schloß sich der Dekan an in schleppender blauer Amtstracht, das eckige Samtbarett auf dem Köpfe. Professoren, Dozenten, Studenten beschlossen den Feierzug. Ein Lehrstuhl stand auf der Empore der Aula. Den bestieg der Doktorand, um seinen Vortrag zu halten. Die akademische Gerichtsbarkeit saß im Halbkreis um diesen Lehrstuhl herum. Nach dem Vortrag fing die Disputatio an, das gelehrte Turnier, darin der Angegriffene sich in seinem Sattel zu behaupten hatte. War es aus mit Hieb und Gegenhieb, erhob sich der Dekan, seinen Schützling vor dem hohen Tribunal herauszustreichen und ihn dem Rektor zur Verleihung der Doktorwürde zu empfehlen. Alle Hälse redeten sich lang, wenn die Magnifizenz dann vor den Bewährten trat, ihn zum Ritter der akademischen Armee zu schlagen. Der Zug gruppierte sich schließlich von neuem, um den Rektor in sein Amtszimmer zurückzugeleiten 20 ). Dem neugebackenen Doktor Georg Kerschensteiner war dabei zumute wie dem Kämpen, der nach heißer Fehde siegreich aus der Arena zieht. Im Publikum sitzt barhäuptig eine alte Frau. Ihr Haar sticht silbern aus der Menge junger Köpfe heraus. Ihr Kleid ist vom Schlichtesten. Die verschafften Hände ruhen in ihrem Schoß. Blanke Braunaugen, darin das Glück strahlende Lichter entzündet hat, verfolgen den Feierzug, bis die breite Flügeltür ihn geschluckt hat. Dann humpelt sie auf ihren schmerzenden Füßen davon. Es ist die Mutter Katharina, die den Höhepunkt des akademischen Studiums ihres Sohnes miterlebt hat. Das Thema, durch das Georg Kerschensteiner seine wissenschaftliche Beschlagenheit zu erweisen hatte, betraf die Theorien der Elektrizität. Unter den Opponenten, die in der Disputatio seine Lehrsätze angriffen, befand sich der große Physiker Max Planck, damals Privatdozent an der LudwigMaximilians-Universität. Nun ging es zu Grodmange, um mit Freunden und Nahestehenden den Doctor summa cum laude mit Sekt und Schmaus zu befeiern. Uber dies war der Herbst gekommen mit nässenden Tagen und stürmischein Nächten und all dem trostlosen Grau einer alten, der Sonne entwöhnten Stadt. Und Georg Kerschensteiner hätte nun nötig gehabt, den Karren ein wenig 94
gemächlicher laufen zu lassen. Aber zu lebhaft sprühte das Leben in seinen Adern. Im Aufstieg seiner Entwicklung war zum Verweilen kein Platz. Schon schielte er nach Erlangen hinüber, der benachbarten Universitätsstadt. Von Nürnberg gesehen nur ein Katzensprung. Und der Professor Gordon hielt dort im Wintersemester ein Kolleg über Invariantentheorie, an den Samstagen von vier bis sechs. Da hielt ihn nichts! Jeden Samstag fuhr er hinüber, nicht ahnend, daß eine engere Bindung an den anregenden, doch sarkastischen und durchaus nicht liebenswürdigen Mann daraus werden würde. Eines Tages trug Gordon, dem das Didaktische nicht lag, ihm an, seine Vorlesungen über Invariantentheorie auszuarbeiten und herauszugeben 21 ). Der fesselnde Stoff! Die Aussicht, mit einer großen wissenschaftlichen Leistung vor die Öffentlichkeit zu treten! Es war schon des Nachdenkens wert. Dennoch stellten Bedenken sich ein, und der Absprachen war lange kein Ende, bevor es zum Klappen kam. Nun saß er bis tief in die Nächte über den Invarianten, wenn die Unterrichtsstunden präpariert waren, soferne notabene nicht Schülerarbeiten zu korrigieren waren, die oft „wie Schwammerlinge nach dem Regen um ihn herumwuchsen"! Mit dem einmaligen Sprung in der Woche nach Erlangen war es audi nicht mehr getan. Viele Probleme waren mit Gordon durchzudenken und durchzusprechen, so daß er oft täglich sich die Zeit stehlen mußte, schnell hinüberzuflitzen. Es war der Hetze zuviel. Gesundheitlich tat ihm, der die reine Luft der Berge zu atmen gewohnt war, der Staub der Industrie ohnehin nicht gut. Brustkatarrhe, fiebrige Erkältungszustände, Husten mit Stichen auf der Brust stellten sich fortwährend ein. Er hielt nicht sein Gewicht, war bleich mit eingefallenen Wangen, und mit dem grundtiefen Schlaf der Jugend war es für eine Weile vorbei. Das Gespenst der Vererbung, mit der Erinnerung an so viele dem Erbübel der Familie verfallene Stiefgeschwister, stand manche schlaflose Nacht drohend an seinem Bette. Er dachte oft, doch ohne Furcht an den Tod. Nur wenn er des Kummers gedachte, der dem Lieb widerführe, stürbe er, blutete ihm das Herz. Es war eine freundliche Fügung, daß er um jene Zeit mit einer neuen Wohnung die liebevollsten Freunde fand. Er zog in die Burgschmiedstraße bei Frau Rotbart ein, die
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eine Frau von großer mütterlidier Güte war. Der neue Gast unter ihrem Dadi war für sie nicht der Zimmerherr, der gegen Entgelt ein überflüssig gewordenes Zimmer bewohnt. Vom ersten Tage an fühlte er sich einbezogen in den Kreis der Familie und betreut als wie ein Sohn. Er durfte jetzt nicht mehr seine Kräfte bis zum Zusammenbrechen überlasten. Er mußte ins Bett, kündigten die Fieberzustände sich an. Die spartanischen Flußbäder des Morgens um sieben wurden ihm nur mehr im Hochsommer gestattet. Und wenn er am Abend zu lange im Lichtkreis der Lampe hinter der Schreiberei saß, konnte es geschehen, daß ein Finger an seine Tür pochte und die Stimme der alten Dame ihn an die Pflichten mahnte, die ein Mensch auch gegen seinen Leib hat. Obwohl er in medizinischen Dingen sonst störrisch war wie ein Waldesel (er blieb es sein ganzes Leben), unterwarf er sich dem strengen Regiment, und es schlug ihm gut an. Viel trug auch der herrliche Nachbarsgarten dazu bei, der den Kindern der Frau Rotbart, der Familie Ekhardt, gehörte und den nach Herzenslust zu benutzen ihm freistand. Dort stellten sie ihm den Schöberlstuhl hin zur Siesta nach der stickigen Luft der Schulräume. Dort waren fünf allerliebste Kinderchen, die darauf warteten, daß er mit ihnen spielen und singen und toben solle; die aber auch mäuschenstill um ihn herumzusitzen angehalten waren, las er oder schien er müde zu sein. Auf seinem Heimweg vom Gymnasium lauerten sie ihm an der Straßenecke auf, so daß er nie ohne ein paar kleine Mädelchen an jedem Arm zu Hause einzog. Die kleine Emma hatte sich einen Ehrenpunkt daraus gemacht, seinen Nachmittagskaffee zu kochen. Er brauchte nur über den Zaun nach seiner Jause zu rufen, dann kam sie angesprungen und waltete gewissenhaft ihres Amtes. Bei allen Festen der Familie war er dabei, und wo es Ernsthaftes zu besprechen gab, holten sie seinen Rat. Im Wohlsein dieser Heimtraulichkeit kehrte ihm der alte Humor und die alte seelische Frische zurück. Die Körperkräfte, liebevoll gepflegt, füllten sich wieder auf. Es dauerte nicht lange, da warf seine Ungeduld das Genesungsdasein hinter sich. Er riß der liebevollen Fürsorgerin aus, um auf den Bergkanzeln des Allgäus wieder der alte zu werden. Sich zu beweisen, daß er wieder ein Kerl ist, nahm er dort vier Bergspitzen in einer Woche in
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voller Körpertüchtigkeit, nicht wie einer, der erst vor kurzem über die letzten Dinge des Menschendaseins gegrübelt hat. Als im Oktober 84 das Wählen beginnt — er meint Wühlen wäre das treffendere Wort —, ist er der Glossen voll. Die Augsburger sind geschäftig, seine Stimme für das Zentrum zu gewinnen. Aber er kann nicht wünschen, daß diese Partei wieder für längere Zeit die Oberhand behielte. Er hat genug Geschichte studiert, um zu begreifen, was Hierarchie bedeutet. Nebenbei kann er es sich nun nicht verkneifen, den wohlwollenden Zentrumsfreundinnen eins auszuwischen, indem er frozzelt: „Der Erzbisdiof von München hat in den Kirchen für einen guten Ausgang der Wahlen beten lassen. Möge der Himmel sein Gebet erhören, dann kommen gewiß nicht allzu viele Klerikale in den Reichstag." Im Grunde hält er es nicht sonderlidi mit der Parteienwirtschaft. An keiner der herrschenden Parteien finden seine Ideale volles Genügen. „Partei ist notwendiges Obel", sagt er. Aber was will er machen? Partei ist in der Gegenwart die einzige Form, die dem einzelnen ermöglicht, an seinem bescheidenen Ende mitzuwirken an den Aufgaben des Gesamtkörpers. Obwohl er in einer Zeit lebte, wo selbst in der akademischen Jugend das Interesse am politischen Leben recht niedrig brannte, wo man wohl national, aber nicht staatsbürgerlich dachte, fühlte er doch schon die Bürgerpflicht, soviel als möglich teilzunehmen am organischen Seelenleben seines Volkes. „Hätte er Macht", sagte er, „müßten die Parteien verschwinden, weil im Parteitreiben die Ideale allzuoft die Erdfarbe des Kompromisses annehmen." Das mißfällt ihm. Ein Reichstag nach seinem Herzen müßte parteilos sein; jeder Beisitzer frei in Gesinnung und Wort. Aber wie sieht die Wirklichkeit dagegen aus? Sind die Abgeordneten frei? Meistens stehen sie im Zwang ihrer Partei, der der eigene Machtanspruch häufig genug höher steht als das Vaterland. „Die Zentrumsherrn allen anderen voran." So wird er sich überhaupt keiner Partei fest verschreiben, sondern seine Stimme jeweils dorthin geben, wo ein Mann an der Spitze steht, in dessen Hand er das Vaterland in guter Hut weiß. Das ist zur Zeit Bismarck, der deutsche Reichsschmied, der Gipfelmensch, der für die Deutschen gekämpft und gesiegt hat. K e r s c h e n s t e i n e r , Biographie.
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Zuzeiten erfaßt ihn von neuem das Malfieber. Die alte Dürerstadt mit ihren versteckten Höfen, mit ihren Torbogen und mit ihren Fadiwerkhäuschen, die vom Firnis der Zeit so leuchtend braun waren, wuchs ihm immer enger ans Herz. Standen an besonderen Tagen die Altstadtwinkel im Anhauch von Luft und Licht so unaussprechlich malerisch da, dann riß es ihn hin. Mit Skizzenbuch und Stift stand er an den Straßenecken herum, wenn er den Rappel hatte, den halben Tag. Es waren aber nur selten erhaschte Gelegenheiten, denn im Netz der Pflichten gab es wenige Maschen weit genug zum Durchschlüpfen in die Freiheit selbstgewählter Tätigkeit. Noch ehe das Jahr zu Ende ging, fiel ihm etwas Unvorhergesehenes in den Schoß 22 ). Der Nürnberger Stadtrat bot ihm die Stelle eines Mathematiklehrers an der städtischen Handelsschule an. An sich kein Reiz, das Gymnasium um dieses neuen Postens willen zu verlassen. Aber die städtische Stelle war um so viel besser als die staatliche dotiert, daß sein Einkommen ihm erlaubte, endlich die Braut heimzuführen, um die er fast zehn Jahre lang gefreit hatte. Da griff er zu. Die Hochzeit wird auf den Osterdienstag festgesetzt. In den Brautbriefen weht von nun an ein anderer Wind. Es ist jetzt nicht mehr von den beseeligenden Aufschwüngen des Herzens die Rede. Höchst profane Dinge sind vordringlich geworden. Es schwirrt von Kostenberechnungen, von Maßen, von Farbenangaben, von handwerklichen Fragen buntester Art. Weil der teure Transport des Hausrates von Augsburg nach Nürnberg eingespart werden soll, wird nach Möglichkeit alles an Ort und Stelle beschafft, und man trägt ihm unbedenklich die Besorgung auf. Es würde ihm viel Herumrennen erspart haben, wäre die Braut dann und wann herübergefahren, selbst Hand an den Nestbau zu legen. Aber dagegen legte die damalige Sitte ihr engbeherztes Veto ein. Es stand dazumal einer Braut nicht wohl an, mit dem Bräutigam längere Zeit „unbeschirmt" zusammen zu sein. Und im Herzen zumindest der reinen Männer jener Zeit stand das Ideal des unbescholtenen Rufes der Frau über allem anderen hoch. Kein Lästerhauch sollte es wagen können, die schneeweiße Blütenkrone seines Edelweiß zu trüben! Die Schwiegermutter, mit 98
der er immer noch über Kreuz stand, wollte er nicht dabei haben. Lieber belud er sich selber mit all der Beschwer. Sie hatten in einer stillen Straße ihr Heim aufgebaut. Dort breitete das geliebte Hausmütterchen Wohlsein um ihn herum, so daß er vor lauter dankbarer Glückseligkeit schier seine Hände unwert fühlte, sie darauf zu tragen. Kaum waren die Flitterwochen verrauscht, hob sich aus dem Boden seines Wesens ein Zug auf, aus dem Muttererbe ihm überkommen. Auch die Mutter Katharina konnte sich ihres so überaus bescheidenen Heimes nie ganz freuen, es sei denn, daß die nachbarlich Getreuen um sie herumsaßen, die Wärme ihres Herdes zu spüren und die Anteilnahme ihres wohlwollenden Herzens. In dem Sohne wuchs das Verlangen mit jedem Tage, den Freunden so vieler Jahre das Tor seines Tuskulums gastlich aufzutun, zu fröhlichem Beisammensein bei anregender Rede und guter Musik. Bei diesem Versuche stieß er ungeahnt auf ein Hindernis. Die junge Frau besaß nicht den beglückenden Sinn für das Geselligsein, nicht das Menschlichfreie wie der Mann. Sie war scheu vor den Menschen und zweiflerisch an sich selbst. Sie gewann es nicht über sich, die beengende Schüchternheit zu überwinden, stemmte sich verzweifelt gegen jeden Versuch, dem Nürnberger Freundeskreis sich einzufügen. Der junge Ehemann war enttäuscht. Doch die Frau zu überreden oder gar zu zwingen, gegen ihre Natur zu handeln, das hätte er als Verrat an seinem Versprechen betrachten müssen, ihr Glück zu begründen. So mußte er sein Bedürfnis nach lebendiger Berührung mit Menschen ohne ihr Mittun befriedigen, außerhalb seiner Häuslichkeit, so wie zur Zeit seines Junggesellentums. Ein Übereinkommen, das für die lange Dauer dieser Ehe Geltung behielt. Es hat ihrem Einvernehmen keinen Eintrag getan. Noch Jahrzehnte später kann der Gealterte der Frau diese Verse auf den Geburtstagstisch legen: Es ist die Sonne, die das Leben spendet. Kaum spült ihr goldnes Licht um harten Stein, Da hüllt schon zartes Grün den Felsen ein, Durch das er lautlos sidi zum Leben wendet. Doch dieses Leben ist ein Sichverzehren, Ein ewig Ringen aus der Nadht zum Lidit. Hat man erschaut des Lebens Urgesicht, Was läßt uns dann das Leben noch begehren?
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Es ist die Liebe, die das Leben segnet, Die es mit überirdschem Glanz erfüllt, Die alles Leid in das Vergessen hüllt Und Himmelsbögen spannt, wo's Tränen regnet. Aus Das Die Der
Liebe wird die Seele erst geboren. bloße Leben, das ist seelenlos,Liebe erst macht dieses Leben groß. ist gestorben, der sie hat verloren.
Bald wurde ihnen ein Sohn geschenkt, den sie Walther tauften. Und kaum waren zwei Jahre herum, da lag das zweite Knäblein in der Wiege. Während der Ältere ein wenig kränkelte, „grinst das Mäxlein höchst lebensbejahend aus den Kissen". Er ist ein feister Geselle, der Ringe an Ärmchen und Beinchen hat und niemals satt wird. Der Vater, bis zum Übermut beglückt, stellt täglich fest, wie seine Buben in leiblichen und seelischen Dingen herzhaft ins Leben hineinwachsen, und spinnt seine Zukunftsträume daran. Audi der zweite Band der Invariantentheorie war mittlerweile bei Teubner in Leipzig erschienen. Nun, da der dritte Band in Angriff genommen werden sollte, streikt er. Die Unendlichkeit dieses mathematischen Formen- und Formelozeans hatte begonnen sein Herz fühlbar leer zu lassen 23 ). Zudem gab es in der Handelsschule Enttäuschung über Enttäuschung und viel Verdruß. Die Qualität der Schüler stand der der Gymnasiasten erheblich nach. W i e in Lechhausen kämpfte er gegen Indolenz und Begriffstutzigkeit einen vergeblichen Kampf. Und er war himmelweit entfernt, ein stoischer Schulmeister zu sein, besaß auch nicht das Zeug, es jemals zu werden. Mit der Kollegenschaft hörten die Reibereien nicht auf. Seine hohe Auffassung vom Lehrerberuf war ihnen unbequem. Sie fühlten den angenehmen Schlendrian in Gefahr. Hinterrüdes warfen sie ihm die dicken Knüppel in den Weg. Allmählich wurde eine häßliche Erfahrung daraus. Nun klagt der Schmerz des Enttäuschten in ihm. Kann man wirklich ungestraft Spitzbube sein in dieser Welt? Die große Anständigkeit seines Charakters steht hilflos vor so viel feiger Hinterlist. Eine Weile ist er niedergeschmettert davon. Dann entschwingt seine Hoffnung sich der argen Bedrücktheit. Von seinen Lehreridealen wird er nicht lassen! Kann er sie nicht 100
verwirklichen da, wo er steht, wird er sich eine andere Wirkungsstätte suchen. Er bewirbt sich um einen Posten anderwärts als Gymnasiallehrer. Ein anderer bekommt ihn. Darüber schreibt er an Ludwig Schleiermacher, zwar scherzend, doch mit einer heimlichen Träne im Auge: „Ich hüpfe umher wie ein lahmer Frosch, seit ich weiß, daß ein anderer auf dem Brettlein sitzt, auf dem ich mich die nächsten Jahre meines Lebens breitzumachen gedachte . . . Was bleibt mir nun übrig als mein Päcklein zu schnüren und mir draußen im Lande südlich des Danubius eine Eremitenklause mit Kinderstube zu bauen?" In München beim Obersten Schulrat hat er erfahren, daß seine Konfession der Ernennung im Wege stand. „Ich konnte mich aber nicht schnell umtaufen lassen", spottet er an Schleiermacher, „weil ich keine Zeit dazu hatte u n d . . . weils gleich ist. Aber sollte man's glauben? Bisher meinte ich im 19. Saeculum p. Chr. n. zu leben!" Doch hüpft er auch umher wie ein lahmer Frosch, sein Humor läßt ihn nicht im Stich. Da war auch die Gesellschaft der Niederländer, wo ein Mann das Sorgenbündel des Berufes für ein paar Stunden abstellen und ein harmlos heiterer Mensch sein konnte. Diese weitverbreitete Gesellschaft war von dem ehemaligen Bayreuther Reiteroffizier Ludwig Nagel gegründet, später als Karikaturenzeichner von sprudelndem Humor und unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit in den Fliegenden Blättern und anderen Publikationen rühmlich bekannt. Sie hatte zum Zweck, die Anregung zur Kunst in jeglicher Form mit freier warmer Geselligkeit und der Pflege herzlicher Freundschaftsbeziehungen zu verbinden. Eine grüne Insel im Trubel des Alltags sollte nach dem Willen des Gründers das Niederland sein; eine Zuflucht aus dem monotonen „Ticktack von des Dienstes gleichgestellter Uhr". Nur irgendwie künstlerisch veranlagte Menschen konnten, dem Sinn der Vereinigung entsprechend, Aufnahme im Niederland finden. Denn man kam nicht nur zu froher Laune und mannhaftem Trunk zusammen. Mehrmals im Jahre wurden künstlerische Aufgaben gestellt, die jeder einzelne mit den Mitteln der ihm geläufigen Kunst in ernster oder launiger Weise, wie es ihm lag, zu lösen hatte. Nur Anstand und gute Sitte durften nicht verletzt werden, denn dafür gab es gesalzene Paragraphen und Richtersprüche. Humor, Frohsinn, eine ge101
schickte Hand, das waren die Voraussetzungen für jeden Mynherrn. Sie fanden sidi allwöchentlich in einem „Losament" zusammen, wo der Alltagsrock mit einem Kneipwämslein im Geschmack von Brouwer oder Tenniers vertauscht und jeder mit seinem niederländischen Namen genannt wurde. „Gerick van Kükensteen" hieß Georg Kerschensteiner in diesem Kreis. In ihrem Schrifttum bedienten die Niederländer sich einer altertümlichen Sprechweise. Die „Treekschuyten" hieß das Nürnberger Losament, in dem Georg Kerschensteiner die Lebensbeschreibung, die jeder in die Gesellschaft neu Eintretende zu geben hatte, so begann: Achtzehnhundert und fünfundvierzig im Monat July Zwoen Tage bevor den ersten man schrieb, Kam ich am Strande der Isar, Freitags morgens um vier U h r Ohngefährdet zur Welt, dort im „Tale" der Mönchsstadt. „Jessas iatzt is er sdio d o ! " rief die erstaunte Madame (Wehmutter). „Und den Kopf, den er hot: Ah, ah! U n d dös freundliche Gsicht! Schod is nur g r a d , . . . An an Freitag! . . . O mei, da fürdit i halt allwei S'is koa glücklicha Tog. Wissen's, dös kenn i sdio lang!" Doch das Geschick zu mildern, setzten sidi an das Bettlein Zwoen liebliche Frauen, freundlich und milde im Blick. „Trink den Humor", lispelt die eine und reicht ihm das Fläsdichen. „Merke im Kummer den Spruch — Nil admirari!" . . . Und die andere küßte zärtlich die kindliche Stirne: „Trinke die Lieb und pflege sorglich der Freundschaft." Setzte sachte alsdann aufs rundliche Naschen mir eine Rosenfarbige Brille. „So, nun betrachte die W e l t ! " Leise verschwanden hierauf die beiden im Grauen des Morgens . . .
Die rosenfarbige Brille hat er Zeit seines Lebens nicht mehr von der Nase gebracht. Das ist weit entfernt von jenem seichten Optimismus, der sich vor der Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Welt durch einen Seitensprung ins Kritiklose drückt. W i e nur einer kannte er die Kleinlichkeiten des Lebens und die Widersprüche der Menschenseele. Aber sein Glaube an das Dasein und an den Wert des Großen in der Welt berührte es nicht. In der Nachsicht, mit der er die Menschen betrachtete, war etwas vom Wesen der Gerechtigkeit. Lieber will er sich zehnmal irren als einmal einem Menschen Unrecht tun. „War etwas klein, dann legtest Du den Finger darauf, zu suchen ob im Kern des Schlimmen nicht dennoch tät ein Gottesfünklein glimmen", steht in einem Ge-
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dicht, das dem Fünfundsiebzigj ährigen später auf den Geburtstagstisch fliegt. Diese Seelenhaltung, in jüngeren Jahren oft gehüllt in den Deckmantel der Ironie, körnte im Wandel der Jahre zu einer hochgesinnten Überlegenheit reif. Schon vor der Vollendung des zweiten Bandes der Invariantentheorie hatte Professor Finsterwalder ihn eingeladen, an seinen Gletschervermessungen in den Zentralalpen teilzunehmen. Wissenschaft und Bergsport, gleichgeliebt und gleichvertraut! Wie konnte er fehlen? Die Expedition, die von Vent aus ins Gletschergebiet des großen Vernagtferners ging, bestand, von den Trägern abgesehen, aus den Professoren Finsterwalder und Heß, Dr. Blümke und Georg Kerschensteiner. Ihr Quartier schlugen sie im Hochjochhospiz auf, von wo aus sechs Wochen lang anstrengende Arbeit geleistet werden mußte. Die erste Aufgabe bestand darin, das ganze Gebiet abzugehen, um auf denjenigen Spitzen die rotweißen Signalflaggen anzubringen, die später als trigonometrische Punkte für die Vermessung wichtig waren. Darüber schreibt er der jungen Frau nach Hause: „Zuerst erstieg ich allein mit dem Führer die Gußlarspitze (3200 m). Dann überquerten wir wiederum gemeinsam den Gußlarferner und den Vernagtferner, stiegen auf der anderen Talseite wieder empor auf ein paar Kogel und wieder hinunter bis fast eine Stunde vor Vent. Hier trennten wir uns. Finsterwalder und Blümke krabbelten wieder auf das Hochjoch. Ich schlenderte nach Vent, um beim Kurator zu übernachten . . . Am nächsten Nachmittag stieg ich auf die Breslauer Hütte (2900 m), um am darauffolgenden Tag am Weißen Kogel (3420 m) ein großes Signal aufzupflanzen. Etwa um neun Uhr werde ich wieder auf der Breslauer Hütte sein, um gegen Mittag auf der Platteispitze (3309 m) ein zweites Signal aufzustellen. Am Abend hoffe ich wieder auf dem Hochjochhospiz zu sein. Dann wird wieder leichtere Arbeit beginnen..." Wenn er photographierend (denn manche Teile der Karte mußten aus dem Photogramm konstruiert werden) oder Winkel ablesend in seinem Gebiete, wo starr und schweigend der Kranz der Berge stand, einsam herumstieg, auf Pfaden, die noch keines Menschen Fuß betreten, wo er einzig auf seinen Spürsinn angewiesen war, 103
wurde sein Herz den üblen Kram der Welt los. Dann ging seine Seele das ferne Haus suchen, das ihm Weib und Kinder hütete, und er sehnte sich aus tiefstem Grunde nach seinem Heim, das der friedliche Pol seines Lebens geworden war. M> Es blieb nidit bei dieser einen Vermessung. Achtzehn hundertneunzig folgte die Vermessung des Hochjochferners in Verbindung mit Heß. Ein Jahr darauf lockte es ihn, den großen Gepatschferner, 1892 upd 1897 den Obersulzbachferner auf eigene Faust zu vermessen. Die große Karte seiner Obersulzbadifernervermessung, deren Originalaufnahme heute das Alpine Museum in München besitzt, wurde aus Mangel an Mitteln erst 1911, gelegentlich einer Nachmessung, von Professor Rudel veröffentlicht.
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Der Gymnasiallehrer am Gustav-Adolf-Gymnasium in Schweinfurt. 21. 10. 1890 ist ein Brief an Ludwig Schleiermacher datiert, darin Georg Kerschensteiner, als Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik an das Gustav-Adolf-Gymnasium der Mainstadt versetzt, klagt, wie fremd er sich fühlt, so als säße er am Kongo, nicht am lieblichen Strande des Maines. Ein langjähriger erprobter Freundeskreis war in Nürnberg zurückgeblieben, hier saß er vorläufig allein. Es blieb nicht lange so. Der erste Glücksgriff in den kommenden von Lernund Lehreifer beseligten Jahren war eine unvergleichliche Wohnung, draußen vor den Toren der Stadt, im sogenannten Löhlein. Sonnig und frei war sie in einen parkähnlichen Garten gebettet, der damals der Familie Sattler gehörte, heute in den Besitz der Stadt übergegangen ist. Von den Fenstern dieses Hauses sah man den behäbigen Mainstrom zwischen grünen Auen die beladenen Frachtkähne in die Ferne tragen; sah man das Schloß Mainberg die drei gezinnten Giebel stolz in den Himmel bauen. Waldtäler und Waldhöhen grüßten in der Nähe: Das Waldtal, das den Namen „Hölle" trägt, der dunkle Höhenzug des „Hains", der zwischen Schweinfurt und Mainburg sich hinzieht. Und hob sich der Blick weit hinein in das grüne Land, traf er in der Ferne die waldigen Ausläufer des Steigerwaldes. Das Gymnasium lag dieser Wohnung diametral entgegengesetzt. Der ganze Häuserblodc der Stadt lastete dazwischen. Es war kein Katzensprung von einem Ende zum andern. Schüler aus der damaligen Zeit erzählen nodi heute, daß ihr Professor meistens mit Hopp und Galopp die Mainberger Straße heruntergestürmt kam, weil der Uhrzeiger schon hart auf den Glockenschlag des Unterrichtsbeginnes vorgerückt
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war. Nach den Verdrössen in Nürnberg bog Georg Kerschensteiner in das neue Fahrwasser mit vollen Segeln ein. Er versprach sich von den aufgeweckten fränkischen Buben mehr Magisterfreude, als die lässigen Handelsschüler ihm bereitet hatten. Bald trat auch ein Umstand ein, der all seinen Erwartungen einen ungeahnten Auftrieb gab: Der Rektor des Gymnasiums bat ihn eines Tages, den naturkundlichen Unterricht in den unteren Klassen zu übernehmen, so wie schon sein Vorgänger im Amte es getan hatte. Diese Aufgabe stand nicht in der Dienstverpflichtung des Mathematiklehrers, es lag in dessen freiem Ermessen, es zu tun oder nicht. Doch das war das Geringste. Georg Kersdiensteiner hatte aber auf der Universität weder Botanik noch Zoologie getrieben. Wie konnte er als Lehrer in diesen Fächern auftreten? Der Rektor suchte zu überreden. Das gleiche sei bei seinem Vorgänger der Fall gewesen. Es gäbe ja Lehrbücher genug. An Hand eines solchen sei es damals ganz gut gegangen. Für die kleinen Knaben genüge es. Aber das beschwor nur das Grausen vor dem naturkundlichen Unterricht im Seminar in ihm herauf, wo die Köpfe bis zum Bersten mit toten Namen gepfropft worden waren, ohne Beziehung zur lebendigen Natur. Nein, diese Sünde wider das heilige Lehramt pflanzt er nicht fort! Er will keine verschlafenen Köpfe vor sich sehen! Wo er lehrt, soll der Geist der Schüler mitschwingen in der Begeisterung des Unterrichts. Wie kann das sein, wenn das Feuer der Sache nicht im Herzen des Lehrers brennt? In der Pflanzenkunde besitzt er nicht die notwendige Sicherheit über den Stoff. Aber er ist bereit, sie sich zu holen, wenn der Rektor ihm Gelegenheit gibt, zweimal wöchentlich nach Würzburg zu fahren, um dort an der Universität seine Kenntnisse zu bereichern. Nach Ablauf eines Jahres würde er dann den Unterricht mit Freuden übernehmen. So kam man überein. Bei dem Pflanzenphysiologen von Sachs trieb er sich zunächst in der Flechten- und Algenwelt herum. Bei Semper in der Zoologie. Zudem schloß er sich dem Sdiweinfurter Naturhistorischen Vereine an, dem ein äußerst rühriger und pflanzenkundiger Mann vorstand, unter dessen Führung er sich in die Sdiweinfurter Flora einzuleben bemühte. Wer mit floristischem Interesse an die Landschaft herantrat, dem bot 106
sie mehr Gelegenheit zu lehrreichen Funden wie irgendein anderer Ort. Das war vor allem im Norden und Osten der Stadt, dem eigentlichen Kalkgebiete, der Fall, wo durdi das Zusammentreffen besonderer geologischer Voraussetzungen Pflanzen des Moores neben solchen der Heide, Gewächse der Voralpen neben solchen der Steppe gleichzeitig gediehen. Nach den Jahren gesammelter Beschäftigung im nüchternen Kreise der Invarianten packte die Scientia amabilis ihn gleidi mit festem Griff. Keine freie Stunde, in der er nicht forschend den Phanerogamen nachging, in jenen botanisch berühmten Grettstädter Wiesen, die jenseits von Gochsheim die Stundenweite einer Talsenke mit dem farbenhellen Teppich ihrer seltenen Flora bedecken. Es war nicht zu erwarten, daß er die neue Wissenschaft mit liebhaberhafter Oberflächlichkeit betreiben würde. Um volle Vertiefung in den Stoff, um ernste Wissenschaftlichkeit war es ihm zu tun. Stunden und Stunden verbrachte er am Mikroskop. Seiner Regsamkeit glückten interessante Funde genug, um die Vereinsabende mit anregenden Vorträgen zu beleben. Das helle Interesse ließ ihn bald die Einsamkeit verschmerzen, die ihn vorher bedrückt hatte. Es kam aber so, daß er ihr bald wider Willen entrissen wurde. Er gehörte ja nicht zu denen, die den Menschen nachgehen; es bedurfte immer einer unpersönlichen Mittlerin zur Knüpfung persönlicher Beziehungen. In Nürnberg war es die Musik gewesen. Hier sollte es der Naturhistorische Verein werden, der den geistigen Sammelpunkt der damals noch kleinen Stadt bildete. Die angesehensten Männer Schweinfurts, die Sattler, die Wüstenfeld, die Gademann, hingen ihm tätig und fördernd an. Es konnte nicht ausbleiben, daß das gemeinsame Interesse bald Fäden der Freundschaft zu dem das geistige Leben des Vereines mit seinem wissenschaftlichen Ungestüm beflügelnden jungen Studienlehrer anspann. Gemeinsame Exkursionen wurden bis in die Buchendome des Spessart hinein ausgedehnt oder in die waldigen Ausläufer der Rhön. Die Muschelkalksteinbrüdie hinter Bad Sennefeld nicht zu vergessen, wo einzigartige Funde von Muschel- und anderen Versteinerungen oft die Mühe des Weges reich belohnten. Nachdem das verabredete Vorbereitungsjahr abgelaufen war, übernahm Georg Kerschensteiner den Botanikunterricht 107
in den Unterklassen. Da er in der Schulzeit am eigenen Leibe gespürt hatte, wie nutzlos es ist, nur mit den Schatten der Dinge, den bloßen Worten, Anweisungen, Schilderungen zu verkehren, statt mit den Dingen selbst, sah er von der landläufigen Methode, abfragbares Wissen einzuprägen, gänzlich ab. Er konnte sich die volle Freiheit des Handelns leisten, weil dieser Unterricht freiwillig übernommen war. Kein staatlich abgestempelter Lehrplan konnte ihn beschränken. Worauf er es absah, war, in den Schülern in erster Linie den Hunger nach Erkenntnis zu wecken. War je den Absichten eines Lehrers ein günstigeres Hilfsmittel vergönnt als ihm in dem blühenden Kranz der Flora, der die Stadt umgab? In das heimatliche Pflanzenparadies wird er die Buben einführen, die Liebe zur Scholle nützend für die Notwendigkeiten des Unterrichtes. Das Schulhaus konnte nicht besser geschaffen sein, seine Absicht zu unterstützen. Es lag an der Peripherie der Stadt, die Natur wuchs sozusagen in die Schulsäle hinein. Das lockte, die Unterrichtsstunden draußen zu halten, war das Wetter nur einigermaßen dazu angetan. Das Vesperbrot in der Botanisiertrommel, zog man hinaus, die Pflanze, auf die das Lehrziel gerade abzielte, aufzusuchen, da wo sie daheim ist, ihr kleines verborgenes Leben zu belauschen im großen Haushalt der Natur. Da lag Entdeckerfreude auf allen Mienen! D a war der große Seelenöffner Interesse vollgültig am Werk. Da wurde, was sonst Zwang der Schule war, freiwilliges Dabeisein. Und der lernbegierigste Schüler war allemal der Lehrer selbst, der von der Lehreruntugend des Besserwissens kein Jota an sich hatte. Sein Schulmeisterherz hüpfte vor Freude, da er die Emsigkeit seiner Buben sah, die gar nicht heim wollten vor unersättlicher Begierde zu entdecken, zu bestimmen, einzuheimsen. „Es ist wie wenn vertrocknetes Erdreich gierig den ersten Regen schlürft", schreibt der vom reinen Glück dieses Lehrerfolges Beseligte an Ludwig Schleiermacher, den Freund. Ein lustiges Intermezzo spielte sich im Gefolge dieser Dinge a b : Just in das aufgeweckte Schultreiben hinein plumpste eines Tages ein ministerieller Erlaß. Für den naturkundlichen Unterricht in den fünf Unterklassen der Gymnasien erschien ein „Neuer Lehrplan". Er schrieb die völlig enzyklopädische Behandlung des Lehrstoffes vor, so wie sie 108
in vergangenen Jahrzehnten üblich war. Das kam gleidi einem Faustschlag in die neubesiegelten Grundsätze des jungen Botaniklehrers. Er kollerte vor Zorn. In der Allgemeinen Zeitung ließ er schleunigst einen flammenden Protest los. Er wußte nicht, daß es der Bruder Joseph — als Vorstand des Bayerischen Medizinalwesens auch Mitglied des Obersten Schulrates — war, der diesen Erlaß verbrochen hatte. Am Tage nach dem Erscheinen des Artikels lag dieser, vom Minister blau angestrichen, in Josephs Büro. Joseph war ein hervorragender Mediziner, von schulischen Angelegenheiten verstand er wenig. Er hatte geglaubt seiner Pflicht zu genügen, schrieb er den Lehrplan von Anno dazumal einfach ab. Da Georg seinen Protest ebensowenig unterzeichnet hatte wie Joseph seinen Lehrplanerlaß, entdeckten die feindlichen Brüder sich erst nach geraumer Zeit, unter großem Hallo. Leute, die vor langer Zeit zu den Schweinfurter Schülern gehörten, erinnern sich noch der hageren, beweglichen Gestalt des Lehrers, seines meist fröhlichen, gelegentlich auch zornmütigen Gesichts mit dem schütteren Bart. Vor allem blieb seine prompte Hand unvergessen, die Ungehörigkeiten mit Blitzesschnelle zu ahnden pflegte. Einer berichtet von seiner Verwunderung, die er bei einer Einladung im Hause von Verwandten erlebte, als der ihm sehr streng dünkende Professor ein äußerst lustiges Couplet vortrug von zwölf Negerknaben, von denen immer einer verunglückte, bis nur ein einziger übrigblieb, der dann heiratete, worauf bald wieder zwölf Negerknaben da waren. Georg Kerschensteiner dachte sein Leben lang mit Freude an die Zeit am sonnigen Mainstrand zurück, wo in dem Stillesein beglänzter Fluren, in der Zurückgezogenheit fernhin gestreckter Wälder der Aufbruch seiner pädagogischen Liebe geschah. W o Tiefverborgenes begonnen hat, sich an den Tag zu leben, um den Weg edler Leidenschaft zu betreten, der immer ein Weg voll Dornen und dennoch voll Segensfülle ist.
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Wolken. Als vor Jahren die Notarin Müller dem heimlichen Briefwechsel ihrer Jüngsten mit dem Studenten Georg Kerschensteiner auf die Spur gekommen war, rang sie die Hände. Was hatte da ihre Sorglosigkeit angestellt! Warum hatte sie versäumt, den Funken dieser unseligen Schwärmerei auszutreten, solange es noch an der Zeit war! Nun trug sie die Schuld, wenn ihr Kind in ein gottfernes Fahrwasser geriet! Sie eilte in den Dom hinüber, sich Trost und Stärkung dort zu erflehen. Mit dem Vorhaben, der Tochter die unerwünschte Liebschaft zu verleiden, kam sie zurück. Sie kannte Sophie, wußte, an welchem Punkte sie zu fassen war. Seitdem ließ sie keine Gelegenheit unergriffen, ihr das Gewissen zu heizen. Die Mittel, deren sie sich bediente, waren zum Teil von fast mittelalterlicher Rückständigkeit. Nicht nur, daß sie ihrer Verachtung für die Lauigkeit des jungen Kersdiensteiner die Zügel schießen ließ. Sie sorgte für Lektüre, darin die Universitäten als Hochburgen der Irrlehre gegeißelt waren; als der Boden, darauf der Böse ungehindert seine Fallstricke legen darf, jenen Jungmännern zur Versuchung, die nicht mit festen Banden angeschlossen sind an den Fels des Glaubens; Bücher voll eindringlicher Beispiele verführter Jünglinge, die nie mehr zurückfanden in die Fülle der Gnaden oder doch erst auf Umwegen verwerflicher Verblendung. Der Lesenden verging dabei vor Angst um das Seelenheil des Geliebten schier das Herz. Wagte sie ihn vor der Mutter zu rechtfertigen, bekam sie deren Ungnade zu fühlen. Adi, hätte sie ihr dodh so redit aus Herzensgrund widersprechen können! Daß sie es nidit konnte, das war die Qual! Wohl achtete er noch die Vorschriften der Kirche, hielt die Fasten, ging zur Beichte, und nie war sie seliger gewesen, als wenn er gemeinsam mit ihr die heilige Kommunion empfing! Aber die Mutter hatte wohl recht: es wehte kein Glutwind bei ihm 110
in diesen Dingen. W a s sie als ein Wahrzeichen wahrhafter Reditgläubigkeit erwarten mußte, jene Verachtung aller Menschenfurcht, jenes öffentliche freudige und kämpferische Hochhalten der Flagge des Katholizismus allen Meinungen der Welt zum Trotz, das hatte er nicht. Er war zu unseligem Grübeln geneigt, anstatt kindlich harmlos sich vom Worte der Kirche führen zu lassen. Sie dagegen kannte in diesen Dingen keinen Kompromiß. Hier stellte sie ihre Forderungen. Und sie frug sich mit Bangen, ob sie in der künftigen Ehe Gott nach Gebühr wird dienen, ob sie ihre Kinder dereinst im wahren Glauben wird erziehen können, wenn der Mann wagt, sogar an die Gotteskindschaft Christi seinen unheiligen Zweifel zu setzen. Ihre Liebe blieb standhaft in diesem Prüfungsfeuer, aber hell loderte ihr Entschluß, den Liebsten auf den Weg des Heils zu führen. Das katholische Problem schaltete sich in seiner ganzen Tragweite zwischen das Paar. Georg Kerschensteiner war tief erschrocken, als er sich in einem Briefe der Braut 25 ) zum ersten Male vor die Gewissensfrage gestellt sah. Sie, die in allen anderen Dingen in der Demut vor dem Geliebten ihre Beglückung fand, hatte es im Tone überraschender Entschiedenheit getan. Dies war ihm klar: Der Kummer um sein Seelenheil führte ihre Feder. Sie litt um seinetwillen! Das bestürzte ihn unsäglich. Um so mehr, als er zu wissen glaubte, daß bei Sophie Müller diese Sorge nicht flacher Orthodoxie entsprang, daß sie ein Ausfluß war ihres innersten Wesens, der lautersten Glaubensfreudigkeit. Nun zwang dieser Brief seine Gedanken auf den eigenen Glauben zurück und forderte Rechenschaft vor sich selbst. W o stehst du selber in diesen Dingen? Diese Frage faßte ihn mit aller Gewalt. Vorwurfsvoll fiel ihm ein, daß er in dem Ringen um einen Platz in der Welt die Frage bisher zu leicht genommen hatte, wie es bei ihm mit den Dingen um Gott bestellt sei. Ging er auf der Spur seiner Jugend zurück, wurde er sich bewußt, daß das Frommsein in Einfalt seit der Kindheit ihn bis ins Jünglingsalter begleitet hatte. Erst in der Oberklasse des Gymnasiums, als die Apologetik einsetzte und der auf biblische Uberlieferung sich stützende G l a u b e mit seinen Beweisen der auf Erfahrung sich stützenden E r k e n n t n i s gegenübertrat 26 ), hatte sein Kinderglaube leise zu wanken begonnen. Auf der Universität hat ihn dann die Luft
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Darwins empfangen. Die Darwinschen Lehren hämmerten sich damals noch neu in alle Köpfe. Dort führte die Physik ihre strengen Beweise, daß Kraft und Stoff ewig sind. Dort rüttelte die Naturwissenschaft unerbittlich an den alten Dogmen der Kirche. Und der Student Georg Kerschensteiner, in Ehrfurcht dem Worte der Wissenschaft zugewandt, fühlte sich jubelnd fortgerissen in dem mächtigen Strome gesicherter Entdeckungen und Ideen. Jetzt, da er den aufwühlenden Brief noch in den Händen hält, sieht er seiner Begeisterung jählings Halt geboten, sieht sich vor eine Entscheidung gestellt, die ihm wahrhaft bange macht. Wie kann er, ein Anfänger noch, ein Scholar, entscheiden, wo die Wahrheit liegt, ob die Kirche oder ob die Wissenschaft irren kann? O b selbst das philosophische Denken vom Fluch des Trugschlusses nicht frei ist? So vermessen ist er nicht, daß er solchen Urteilens sich heute schon unterfängt. Aber er will mit dem redlichsten Bemühen zur Majestät der Wahrheit vorzudringen suchen, soweit seine Kraft reicht. Vorläufig kann er nur auf sein religiöses Gefühl pochen. Aber sein religiöses Gefühl lehrt ihn, der Kirche zu mißtrauen, weil sie das Denken in Fesseln legt und von dem Menschen verlangt, nur das von ihr Vorgeschriebene zu glauben. Weil sie jeden, der nur leise selbst zu denken wagt, als Modernisten in Acht und Bann erklärt. Weil sie sogar den sittlich Strebenden aus der Gemeinschaft Gottes verstößt, sofern sein Denken Wege zu Gott gehen muß, die nicht die Wege der Kirche sind. W o bliebe die Würde des Höchsten, der doch den Menschen mit dem Segensgute des Denkens gekrönt hat, vermöchte er dieser hohen Gabe gleichzeitig den Sinn zu nehmen, indem er ihre freie Anwendung verpönt? Nein, das kann unmöglich von Gott sein! Gott muß über Irrtum und Fehle erhaben sein, soll der Mensch das Knie beugen vor ihm! Mit jugendlichem Ungestüm stellt er diese Forderung an ihn. Gott, das fühlt er, kann nicht verlangen, daß er Unbewiesenes als wahr hinnimmt. W a s die Kirche von den Märtyrern lehrt und von den Wundern Christi, kann keine überzeugende Beweiskraft für ihn haben. Denn stehen die Wunder der Kirche nicht oft im Widerspruch mit den weit größeren Wundern der Natur? Mit den unfaßbaren göttlichen Gesetzen alles Werdens und Vergehens? Die Märtyrer? Kann clie katholische Kirche allein 112
sich auf ihre Blutzeugen berufen? Auch andere Bekenntnisse stützen sich mit der gleichen Überzeugungsglut auf die ihrigen. Selbst das, was von Christus überliefert ist, kann ihn nicht überzeugen. Es ist Uberlieferung durch Menschenmund, dem Irrtum ausgesetzt, wie alles, was vom Mensdien kommt. Nein, dies weiß er gewiß: Er kann sich nicht mehr durch äußere Beweise führen lassen. Er sehnt sich nach einem Glauben, der Lebenskraft spendet. Den kann ihm niemand aufzwingen und sei er mit dem Zauber von Engelszungen begabt. Der muß erlebt werden. Nur was der Mensch tief innerlich als Spuren von Gottes Wirkung begreifen kann, kann ihn zum wahren Glauben führen. Da nun sein Herz aufgerissen ist vom Brand dieser Fragen, strömt sein Sehnen nach Gott überwältigend auf ihn ein. Aber seine Zweifel und Auflehnungen prallen an Sophie Müllers granitener Überzeugung von der Unfehlbarkeit kirchlicher Lehren ab wie Wogen an Felsenriffen. Sie hat die leichtere Position in dem Zweikampf, der entbrennt, weil sie auf unwankbarem Boden steht, während sein Fuß unsicher nach der Scholle tastet, darauf er fortan ruhen kann. Er anerkennt ehrlich die geschlossene Glaubensfestigkeit der Braut. Er ist gerührt vom Anblick des Seelenfriedens, darin sie ruht und nach dem sein religiöses Sehnen heißer drängt, als er sagen kann. Nur kann er ihn nicht dort finden, wo die Braut steht. Ihre Briefe, die von Anweisung und Aufmunterung voll sind, stören ihn auf der Suche nach dem festen Punkt. Er löst sich von ihrem Einspruch rücksichtsvoll, doch mit Entschiedenheit. „Für einen wie mich", schreibt er, „gibt es nur einen selbsterkämpften Glauben oder — gar keinen. Wenn ich mich in diesem Punkte immer von meiner Liebe zu Dir leiten lasse, bleibe ich der alte Mensch mit seinen alten Zweifeln, mit vielen unwahren Gedanken und Handlungen . . . W i e es auch kommen mag, hilf Du mir täglich besser zu werden 2 7 )." Das Ausgären vollzieht sich langsam, zwischen Stürmen und zeitweiser Beschwichtigung. Es geht ja nicht nur um Jenseitiges. Auch Diesseitiges steht in Frage. Seine Seele ist treu. Sie löst sich nicht leichtfertig von den Einprägungen, die das empfängliche Gemüt des Kindes als Mitgift von den gottesfürchtigen Eltern empfangen hat. Und wird er auf dem K e r s c h e n s t e i n e r , Biographie.
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unwiderruflichen Wege zur Klarheit nicht dem teuersten Menschenwesen tiefes Leid bereiten müssen? Wird er den Leitstern vielleicht verlieren, der ihm bisher aufrichtend die Bahn beleuchtet hat? Er hätte zurüdcbeben mögen vor all der Kümmernis. Doch nun geht es nicht mehr. Jetzt verlangt seine Natur, daß er prüfe und schürfe bis zum bündigen Schluß. Es ist ein Ringen um die verlorene Gläubigkeit, kein abtrünniges Fahrenlassen einer ehedem hochgehaltenen Seelenform. Die Art, wie dieser innere Kampf sich vollzog, ist wie ein Bild seiner Wesenheit. Zuweilen glaubt er dem positiven Glauben wieder näher zu sein. Dann teilt er es der Braut hoffnungsfreudig mit. Mit der Verwahrung allerdings, daß er sich auch dann die liberale Haltung nicht schmälern lassen wird. Sein Glaube kann nie mehr, wie er es bei der Braut sieht, der Glaube eines harmlos vertrauenden Kindes sein; „es wird der Glaube des gereiften Mannes werden müssen, der schon tausendmal vor den rätselhaften Dingen gestanden und getrachtet hat sie zu entwirren, ohne daß es ihm gelang 28 )". Das mühsam Erkämpfte hat keinen Bestand. Immer wieder gären die Zweifel auf aus jenen Tiefen, in die die Wurzeln der Seele hinabreichen. Dann brausen neue Stürme daher und reißen nieder, was sich inzwischen aufgebaut hatte. Dann begreift er von neuem die Unhaltbarkeit seiner Hoffnungen und die Notwendigkeit, die Fesseln loszuwerden, die beherzt abzustreifen schonende Rücksicht auf das Empfinden der Braut ihn immer wieder zurückschrecken läßt. Sie haben beide den Trieb, aus dieser Seelennot in Liebe zueinanderzufinden. Aber zu lastend ist die Verkettung der Umstände in diesem Zusammenhang. Dieselbe Liebe, die ihn zaudern läßt, ist es, die auch Sophie Müller gebietet, seine Unterwerfung unter das Gesetz der Kirche zu seinem Heile unbeugsam zu betreiben. Noch festigt die Hoffnung seinen Mut, daß das Trennende sich überbrücken lassen werde, wenn die liebste Frau erst dem Augsburger Einflüsse entzogen sei. Doch auch später in der Ehe schwelt der Brand fort. Er ist liberal in seinem Wesen, insofern als er das Recht, der eigenen Überzeugung zu dienen, das er für sich beansprucht, auch anderen zuerkennt, vorausgesetzt, daß sie ernst und echt und ohne Falsch ist. Voll Güte verspricht er der Frau, ihrer 114
Glaubensfreudigkeit immer die sorgfältigste höchste Achtung entgegenzubringen, wie auch der Kampf ausgehen möge, den er jetzt mit seinem Gewissen bestehe. Aber was nützt ihm die mannhaft betätigte Ehrfurcht vor der Überzeugung der Frau, wenn ihrerseits nicht der gleiche Freimut vor der seinigen gezollt wird? Endlich reift der Tag, wo er entschlossen ist, das Zögernde abzutun. Ein Brief gibt Zeugnis davon: „Mir stehen die Tränen in den Augen, und ich weiß nicht, wie ich mein Herz fassen soll, daß es nicht zerspringe . . . Meine Sehnsucht nach Gott ist um so größer, je weniger ich sie durch die alten gewohnten Mittel befriedigen kann. Ich habe alle Wünsche und Gedanken und Bestrebungen nach äußeren Dingen aufgegeben und will nur den inneren Frieden, das innere Gleichgewicht finden, damit ich mit Dir in Liebe und W a h r h e i t bis zu meinem Tode leben kann. Aber wenn ich mich dem verschließen muß, was ich als wahr erkenne, wenn ich Dinge glauben muß, die mit bewiesenen Sätzen im vollen Widerspruch stehen, gehe ich zugrunde, wenn nicht körperlich, so doch sicherlich moralisch... Und doch, Kind, dann tritt wieder Dein liebes Bild vor midi hin, ich sehe, wie Du darunter leidest, und dann ist mir's noch weher ums Herz als vorher. W o wird das hinausgehen? Gott gebe dem ein gnädiges Ende, ich sehe keinen Ausweg 29 )." An Ludwig Schleiermacher, den Treufreund, schreibt er kurz danach, daß er am Osterfeste zum ersten Male den Vorschriften der Kirche gemeinsam mit der Frau nicht nachgekommen ist. „Ich konnte nicht mehr, wollte ich länger ein ehrlicher Kerl bleiben." Doch kann er sein Haupt vor Gott erheben. Ein Brief aus dem darauffolgenden Jahre, von Tränen betaut fast bis zur Unleserlichkeit, zeugt von einem letzten schweren Kampf mit Sophie. „So kann es nicht weitergehen", schreibt er verzweifelt. Er rät der Frau, nach Augsburg zu fahren um sich zu sammeln. „Vielleicht findest Du dort einen braven Geistlichen, dem Du Deinen Kummer aussprechen kannst. Sage ihm, daß Du einen Mann hast, der in der Erfüllung seiner bürgerlichen Pflichten treu zu sein sucht, der seinen Nächsten mehr liebt als sich selbst und der Gott bittet, ihn die rechten Wege zu führen. Der zur Zeit aber 8*
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nicht an Christus glauben kann, wie sehr er es auch wünscht, der aber in all seinem Forschen nach der Wahrheit streben will und, soweit seine schwachen Kräfte reichen, es auch tut. Vielleicht wird er Dir dann sagen, daß wenn ein gerechter Gott herrscht, dieser ihn auf den rechten Pfad früher oder später führen wird und führen muß. Du weißt ja, daß ich nicht wie viele andere diesen Teil meines Glaubens verloren habe, weil mir die Erfüllung der Pflichten lästig war, sondern aus anderen Gründen. Ich habe solche Sehnsucht nach der alten Zeit, daß man mir auch nicht den Vorwurf wird machen können, ich strebe hoffärtig nach Wahrheit. Aber die tausend Widersprüche, die mir in den Dingen entgegengetreten sind, muß ich selbst lösen. Die Entgegnungen, die ich bisweilen gehört habe, genügen nur dem, der schon glaubt. U n d Dein Kummer, der mich nur trostlos macht, kann mich nicht über die Zweifel heben. Für Leute meines Schlages gibt es nur einen selbsterkämpften Glauben oder gar keinen 3 0 )." Es war ein bescheidener Landpfarrer, ein von hoher Menschenliebe beseelter Mann, der es verstanden hat, Sophie Müller unbeschadet ihrer Treue zum katholischen Bekenntnis so weit aus dem Bannkreis ihrer Fürchte zu erlösen, daß sie von nun an hoffen konnte, Gott werde einen Menschen nicht aus seiner Gnade verstoßen, der in Ehren und Pflichttreue, doch auf der eigenen Spur den Weg zu ihm sucht. Das hat den gestörten Frieden der Ehe gerettet. Sie gingen fortan friedlich ihrer Wege, jedes nach seinem eigenen Gesetz. W a s die mangelnde Übereinstimmung in Fragen von solcher Innerlichkeit beiden im stillen dennoch gekostet haben mag, wer kann es wissen? „Zwischen uns lag der schwere Schleier der Religion." Dieser Ausspruch des Siebzigjährigen läßt ahnen, daß es ohne innere Verzichte nicht abgegangen ist.
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