Georg Christoph Lichtenberg: Der Ketzer des deutschen Geistes 9783205103172, 3205051475, 9783205051473


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German Pages [329] Year 1988

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Georg Christoph Lichtenberg: Der Ketzer des deutschen Geistes
 9783205103172, 3205051475, 9783205051473

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Anacleto Verrecchia • Georg Christoph Lichtenberg

Anacleto Verrecchia

GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG Der Ketzer des deutschen Geistes

Aus dem Italienischen übertragen von Peter Pawlowsky

® BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN • GRAZ

Titel der italienischen Originalausgabe: Georg Christoph Lichtenberg — L'eretico dello spirito tedesco; erschienen bei La Nuova Italia Editrice, Firenze. Der Verlag dankt folgenden Stellen und Personen für die Genehmigung von Bildwiedergaben: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien Umjetniika Galerija Dubrovnik — Museum of Modern Art Dubrovnik Herrn Otto Weber, Oberramstadt Herrn Dr. Christoph Lichtenberg, Bad Vilbel

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Verrecchia, Anacleto: Georg Christoph Lichtenberg : d. Ketzer d. dt. Geistes / Anacleto Verrecchia. Aus d. Ital. übertr. von Peter Pawlowsky. - Wien ; Köln ; Graz : Böhlau, 1988 Einheitssacht.: Georg Christoph Lichtenberg < dt. > ISBN 3-205-05147-5

ISBN 3-205-05147-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Umschlagbild von Horst Janssen © by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. und Co.KG., Wien Gesamtherstellung: Plöchl-Druck Ges.m.b.H. & Co. KG., Freistadt

INHALT

Vorwort Vorwort zur deutschen Ausgabe 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Halbtot und mehr als lebendig Doppelgesichtiger Janus Lichtenberg und England Zum Thema Hypochondrie Die Aphorismen Selbstmord, Seelenwanderung und Zoophilie . . Der freie Wille Politische und soziale Ideen Philosophie Lichtenberg und Kant Der Naturwissenschaftler Lichtenberg und Volta Tommaso Bassegli Die gelehrte Barbarei

Nachwort des Übersetzers Anmerkungen Register

7 15 19 35 57 79 103 113 131 153 179 195 213 231 253 265 299 301 315

Hinweis Die „Aphorismen" Lichtenbergs sind nach der kritischen Ausgabe von A. Leitzmann zitiert: G. Chr. Lichtenbergs Aphorismen (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 123,131,136,140,141), Berlin 1902—1908. Die Buchstaben A bis L beziehen sich auf die „Aphorismenhefte", die Ziffern auf die einzelnen „Aphorismen". RA bedeutet Reiseanmerkungen. Die Briefe Lichtenbergs werden nach der Ausgabe von A. Leitzmann und C. Schüddekopf zitiert: Lichtenbergs Briefe, 3 Bände, Leipzig 1901-1904 (Abkürzung: Br). Die römische Ziffer meint den Band, die arabische die jeweilige Seite. J/S bedeutet Lichtenberg, Briefivechsel, hrsg. v. Ulrich Joost und Albrecht Schöne, München 1985 f. Mit P ist die Ausgabe Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, München 1967f, bezeichnet; es handelt sich dabei um keine kritische Ausgabe, weil die Rechtschreibung modernisiert ist. VS bedeutet Lichtenbergs Vermischte Schriften. Neue, vermehrte, von desses Söhnen veranstaltete Original-Ausgabe, Göttingen 1844—1853. Wenn ich die erste Ausgabe der Schriften Lichtenbergs, d. i.: Vermischte Schriften, hrsg. v. Chr. Lichtenberg und F. Kries, 9 Bände, Göttingen 1800—1806, zitiere, dann kennzeichne ich dies mit: VS 1. Ed. Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate sind kursiv wiedergegeben, unabhängig davon, ob sie im Original durch Sperrung, Unterstreichung, andere Schrift oder sonstwie geschehen. Auslassungen innerhalb der Zitate sind mit ( . . . ) gekennzeichnet; auch Einfügungen stehen zwischen Klammern.

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Vorwort Georg Christoph Lichtenberg - welch ein seltsames Schicksal: Von den Großen gerühmt, blieb er doch zumeist ein Stiefkind der offiziellen Kritik. Kant las seine Schriften aufmerksam; Goethe sprach von ihm mit großer Bewunderung; Schopenhauer nannte ihn den Meister der Selbstdenker- im Gegensatz zu den Sophisten; August von Platen wünschte sich seine Peitsche, um die Romantiker gehörig zu traktieren; Wagner stellte ihn über die französischen Moralisten; Hebbel erklärte, er würde es vorziehen, mit ihm in Vergessenheit zu geraten, als mit Jean Paul unsterblich zu werden; Nietzsche endlich, dieser Rutengänger des Schönen, hielt Lichtenbergs Aphorismen für eines der fünf Bücher deutscher Literatur, die es verdienten, wieder und wieder gelesen zu werden. Damit habe ich nur einige Zitate herausgegriffen: Auch Merck, der Inspirator des Goethe'schen Teufels, Alexander von Humboldt, Jean Paul, Kierkegaard, Tolstoi, Tucholsky und Einstein haben dieselbe Bewunderung zum Ausdruck gebracht. Soviel zum Literaten. Was den Naturwissenschaftler angeht, genügt es, Alessandro Volta zu nennen, der ihn als einen der größten Physiker seiner Zeit schätzte, oder Euler, der sich bei ihm Rat holte. Kurz - den großen Geistern war er teuer: similis similigaudet. Kein Zweifel also: Würden die Stimmen gewogen, statt gezählt - um ein dictum von Lichtenberg selbst zu gebrauchen - , dann hätte er alles Recht, auf dem Gipfel des Parnaß zu sitzen. Trotzdem ist es seinem Ruhm schwergefallen, sich durchzusetzen, und das bis heute. Vielleicht ist er auf dem Mond, wo ein Krater seinen Namen trägt, bekannter als auf 7

der Erde. Klänge es nicht allzu banal, so könnte man sagen, hier stehe man einer unbekannten Berühmtheit gegenüber wie dem Karneades bei Manzoni; und dies noch aus einem zweiten Grund, besteht doch zwischen dem Ketzer der deutschen Literatur und dem gescheitesten Philosophen der Antike auch eine geistige Verwandtschaft. Es war nicht der Anspruch meines Buches, Lichtenberg in Italien bekannt zu machen, wo noch immer keine umfassende Arbeit über ihn vorliegt. Ich wollte nur dazu beitragen, ihn wenigstens im Geiste in jene „klassische Erde", in das „göttliche Land" hinabsteigen zu lassen, das er so sehr liebte, und von dem er vergeblich geträumt hat, es selbst zu betreten. Italien importiert aus Deutschland seit jeher eine Menge Literaturgut, bei dem - um die Wahrheit zu sagen - die Spreu bisweilen den Weizen überwiegt. Wenn eine Dummheit auf deutsch gesagt wird, zumal auf dem Felde der Philosophie, wird sie sofort ins Italienische übersetzt und für eine Offenbarung gehalten; Gott allein weiß, wie viele Bibeln wir derartigen Offenbarungen verdanken. Von Lichtenberg aber, diesem einzigartigen Geist, der nirgends leeres Stroh drischt, ist nur ganz wenig übersetzt worden. Offensichtlich läuft etwas falsch im Einkaufsbüro unserer offiziellen Kultur, wo man nur auf dem linken Auge sieht, wie die Thunfische. Und dann: Lichtenberg ist ein außerordentlich gewinnender und erhebender Schriftsteller, dem in der eigenen Bibliothek wie im eigenen Kopf ein Ehrenplatz eingeräumt werden muß. Niemals wendet man sich vergeblich an ihn: Er weiß in der Verzweiflung zu trösten und im Enthusiasmus die Alarmglocke zu läuten - das beste Vademecum für traurige Stunden wie für heitere. Dieser deutsche Menippos des 18. Jahrhunderts ist ein großer Satiriker, wenn nicht überhaupt der größte Satiriker Deutschlands, wo die Ironie nicht immer ein gern gesehener Gast ist. Er macht sich einen Spaß daraus, der Aufgeblasenheit der Stürmer und Dränger oft mit einem einfachen Nadelstich die Luft abzulassen und ihnen dann ein Sedativum gegen die Rase8

rei einzugeben. Er vergnügt sich auch damit, den Lampenputzern des Geistes, den Aufklärern also, die Laternen einzuschlagen: Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott was hilfft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen? (L 469) Nicht einmal die Philosophen, verschanzt in den pompösen Festungen ihrer Systeme, entgehen dem mörderischen Beschuß durch seinen Sarkasmus. Aber auch dieser Rebell gegen alle Formen von Sektiererei und Philistertum, dieser Todfeind der Schwärmerei und der Sentimentalität, dieser grinsende Mephisto und Spielverderber trägt seine Fackel! Freilich handelt es sich nicht um eine der üblichen Fackeln der Wahrheit oder des Glaubens, sondern um das brennende Holzscheit seines spöttischen Skeptizismus, mit dem er an die Illusionen und Verrücktheiten der Menschen Feuer legt. Wollte der Himmel, daß jede Generation ihren Lichtenberg hätte! Wieviele falsche Götzen und Apostel könnten seinen Peitschenhieben entkommen? Wieviele Propheten würden nicht Gefahr laufen, sich wenigstens den Bart zu verbrennen? Und so ist auch gesagt worden: Hätte Deutschland in den dreißiger Jahren einen Lichtenberg gehabt, dann hätte es sich schwerlich einen so unheilvollen patriotischen Rausch geholt. Ungeachtet der enormen damit verbundenen Schwierigkeiten habe ich versucht, die komplexe und diabolische Persönlichkeit Lichtenbergs so getreu wie möglich darzustellen, auch um der Zuneigung willen, die ich für ihn stets gehegt habe, seit mir vor vielen Jahren eine schmale Anthologie seiner „Aphorismen" in die Hände geraten ist. Wenn ich von Schwierigkeiten spreche, will ich sie auch erläutern: Eine bizarre und vielseitige Figur wie Lichtenberg ist eine wahre Qual für denjenigen, der ihre unzähligen Facetten auf einen gemeinsamen Nenner bringen will. Wenn du glaubst, ihn von der einen Seite gefaßt zu haben, entkommt er dir schon wieder nach der anderen. Er 9

ist vielköpfig wie die Hydra und hat mehr Fangarme als ein Polyp, die auf der Suche nach der Wahrheit nach allen Richtungen ausgreifen. Auch ist die Bibliographie nicht sehr reichhaltig, insbesondere was den Philosophen und den Wissenschaftler betrifft; zumindest steht sie in keinem Verhältnis zur Bedeutung dieses großen Mannes. Die Kritiker überdies, anstatt sich in den Dienst Lichtenbergs zu stellen (der Kommentar, mahnt De Sanctis, hat zu dienen, nicht zu kommandieren), nehmen ihn zum Anlaß, irgendeine Theorie zu stricken, oder sie erproben an ihm ihre eigene kritische Fähigkeit - kurz, sie machen ihn zum literarischen Versuchskaninchen. So werden die Rollen vertauscht: Nicht mehr der Kritiker muß zum Autor kommen, sondern der Autor zum Kritiker - die zahlreichen Methoden der Kritik sind also offensichtlich noch um die mohammedanische zu ergänzen. Diese Vorgangsweise erinnert an Pädagogen früherer Zeiten, die ein Erziehungssystem in abstracto ausgearbeitet haben, d.h. ohne Rücksicht auf die Natur der Kinder, um dann zu verlangen, alle Heranwachsenden hätten sich danach zu richten. So wird die Gestalt Lichtenbergs, wie man sich leicht vorstellen kann, verzerrt. Je nach den verschiedenen Kritikern haben wir es mit einem aufgeklärten, spätrationalistischen oder vorromantischen Lichtenberg zu tun, mit einem Meister des schwarzen oder des weißen Humors, mit einem säkularisierten Pietisten oder einem Atheisten und Gotteslästerer, mit einem vollkommenen oder mißratenen Aphoristiker, mit einem hervorragenden Literaten oder mit einem kurzatmigen, der unfähig ist, den eigenen Gedanken eine runde Form zu geben. Man hat sogar einen Frömmler aus ihm gemacht! Es ist doch mindestens sonderbar, daß man einen Autor so gegensätzlich beurteilen kann, zumal doch die Klarheit einer der größten Vorzüge Lichtenbergs ist. Aber wer einen Grund sucht und eine Zunge im Mund hat, wird ihn damit immer finden; so entstellt und manipuliert jeder Kritiker den armen Lichtenberg, bis er schließlich die gewünschte Gestalt annimmt. Gewiß, Lichtenberg schrieb nicht systematisch, ganz im 10

Gegenteil! Er verabscheute die Systeme und gab sich der Eingebung des Augenblicks hin, auch wenn ihn das in Widersprüche zu dem brachte, was er selbst kurz zuvor geschrieben hatte. Aber das bedeutet nicht, daß er eine knetbare Masse wäre, aus der jeder die Statue formen könnte, die ihm am besten gefallt. Ist es denn wirklich so wichtig, ihn hinter diesen oder jenen Lattenzaun der Kritik zu pferchen oder mit dieser oder jener literarischen Bewegung zu etikettieren? Selbst wenn es uns gelänge, festzustellen, daß er, wie Albert Schneider gern möchte, ein Vorromantiker ist, hätten wir damit vielleicht irgendetwas gewonnen? Und könnten wir nicht, wenn wir wollten, Romantik, noch ehe das Wort erfunden war, schon bei Lukrez oder Catull entdecken? Schließlich: Was ist überhaupt diese Romantik, von der es mindestens hundert Definitionen gibt? Jeder große Geist steht für sich selbst: Lichtenberg ist Lichtenberg! Ihm dieses oder jenes Mäntelchen umzuhängen, heißt, ihn maskieren und entstellen. Hören wir auf das, was er uns sagt, und kümmern wir uns nicht um das Gewand, das er trägt. Vergessen wir aber vor allem nicht, daß es sich um einen Selbstdenker handelt, also um einen, der mehr für sich als für andere denkt. Es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, seine Sudelbücher nach der Mode zu konfektionieren und zu etikettieren, um sie dann auf den Markt zu werfen. Er war nicht das, was wir heute einen engagierten Schriftsteller nennen. Engagiert war Lichtenberg nur für sich selbst und für das verwirrende Geheimnis des sterblichen Lebens. Ein anderes Klischee, das in Schriften über Lichtenberg bereits eine Pflichtübung darstellt, ist jenes von der Hypochondrie, ein Wort, das alles und nichts sagt, geradeso wie „nervöse Erschöpfung". Croce meinte: „Es ist eine lästige und abstoßende Gewohnheit der deutschen Literaturwissenschaftler, Werke zu zerstückeln, indem sie diese auf biographische Zufalle der Autoren zurückführen" 1 . So wäre Lichtenberg wegen seiner körperlichen Häßlichkeit und wegen seines Buckels zum Hypochonder und Pessimisten geworden: „Das Schicksal hat ihn gezeichnet", schreibt 11

Max Rychner, „er wird das nie mehr vergessen" 2 . Das erinnert an jene ehrenwerten Christen, die angesichts eines Krüppels sagen: „Gott hat ihn gezeichnet, und du nimm dich in acht!" Anstatt Gedanken voll von giftigem Sarkasmus und bitterem Pessimismus niederzuschreiben, wäre offenbar ein Lichtenberg ofine Buckel - wer weiß? - ein Bukoliker oder ein Anakreontiker geworden. Allzu leicht kann man einwenden, daß ein Buckel nicht hinreicht, um Aphorismen zu schreiben, so wenig wie blind zu sein, um eine Ilias hervorzubringen; hätte sich sonst nicht so mancher selbst lahm gemacht, um ein anderer Tyrtäus zu werden? Und hatte etwa ein Pessimist wie Schopenhauer einen Buckel? Oder was soll man über Giordano Bruno sagen - in tristitia hilaris, in hilaritat'e tristis?Trotzdem war sein Leben ein furchtbarer Leidensweg, demgegenüber dasjenige Lichtenbergs geradezu glücklich erscheint. Man vergesse auch nicht, daß Cervantes den Don Quijote - so die Überlieferung - im Gefängnis schrieb. Auch hier ist also zu sagen: Lichtenberg ist Lichtenberg, mit oder ohne Buckel. Genie ist auch moralische Kraft, und es wäre wahrhaftig befremdlich, hätte sich ein Mann seines Formates vom Übel niederwerfen lassen wie eine Marionette. Er selbst war übrigens der erste, der über seine physischen Defekte lachte und anderen zu lachen erlaubte, so etwa Blumenbach, der ihn sogar karikierte. Es ist vielmehr die Welt, die nicht hören will, wie häßlich und armselig sie ist; und wer es ihr wie Lichtenberg fortwährend hineinsagt, muß zwangsläufig - nach der norma conventionis - von Hypochondrie oder irgendeinem anderen Mißgeschick befallen sein. Hier haben wir es mit dem crimen laesae humanitatis zu tun. Aus demselben Grund erklärt man Lukrez für verrückt, Schopenhauer für schrullig und Leopardi für gehemmt. Schwieriger war es schon, Byron in die Kategorien des Pathologischen einzuordnen; und siehe da, man hat ihn als poseur definiert, somit als Pessimisten mit Vorbedacht. Lichtenberg macht zudem, wie Hölderlin und Schopenhauer, den schweren Fehler, die Deutschen anzuschwärzen, ein Volk, das gegen Kritik 12

eher allergisch ist. Diese Tatsache, wie unbedeutend auch, mag dazu beigetragen haben, die Namen dieser drei großen Geister für so lange Zeit in Deutschland zu sekretieren. Doch sind das Dinge, die in allen Ländern vorkommen. Das bigotte England zum Beispiel ächtete den Autor des Kain und des Don Juan, während im allerbigottesten Italien bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts der Vater der modernen Philosophie mit einem Ring des Schweigens umgeben worden ist: Giordano Bruno. Auch ist zu sagen, daß Lichtenbergs Welt des Schreibens und Denkens dem deutschen Geist ziemlich fremd ist. Nicht umsonst hat Kurt Hiller ihn einen Jüdischen Arier" 3 genannt. Und es ist auch bezeichnend, daß gerade Nietzsche, Täufer, der er war, die Häupter der beiden so lange vergessenen Autoren, Hölderlins und Lichtenbergs, mit dem Chrisam der Größe gesalbt hat. Um mich dem Geist und dem Werk Lichtenbergs besser anzupassen, habe ich versucht, mich womöglich eines lebhaften und ungezwungenen Stils zu bedienen, immer jedoch mit dem äußersten Respekt vor den Quellen. Es wäre ein großer Fehler, Lichtenberg in einem akademischen Klageton vorzutragen. Nur das nicht! Wir dürfen ja nicht vergessen, daß Lichtenberg akademische Litaneien wie die Pest haßte. Wir wollen ihn hören, wie er war, vivace und con brio. Auch habe ich versucht, sowohl dem Literaten wie dem Naturwissenschaftler gerecht zu werden, ohne mich von der Trennwand zwischen Literatur und Wissenschaft daran hindern zu lassen. Anacleto Verrecchia

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Vorwort zur deutschen Ausgabe Es ist für mich eine besondere Freude, daß die deutsche Ausgabe dieses Buches gerade in Wien erscheint. Und warum? Weil Wien die Stadt von Karl Kraus ist und daher auch besonders passend für Lichtenberg, der in mancher Hinsicht als Vater von Karl Kraus angesehen werden kann. Auch Ironie und Sarkasmus brauchen einen geeigneten Boden, wenn sie wachsen sollen; in Wien ist dieser Boden da. Auch Bücher, wie alles auf der Welt, werden alt. Dieses ist zu Ende 1969 bei La Nuova Italia in Florenz erschienen, aber ich habe versucht, es auf verschiedene Weise wieder zu veijüngen: Was mir für den deutschsprachigen Leser nicht interessant erschien, ist weggelassen worden, und neue Kapitel sind hinzugekommen. So ist die deutsche Ausgabe um vieles umfangreicher ausgefallen als die italienische. Was jedoch nicht veraltet, das ist Lichtenbergs Geist. Im Gegenteil, er ist aktueller denn je, leben wir doch in einer Zeit der Schwätzer und der falschen Musensöhne. Lassen wir nur die Peitsche dieses deutschen Menippos mitleidlos auf jene blökende Herde niedersausen, die versucht, die Einfriedungen des Parnaß zu durchbrechen. Die Kultur ist heute zu einem solchen Tohuwabohu geworden, daß sich der Wert eines Autors fast immer verkehrt proportional zur Zahl der Paukenschläge verhält, die ihm zu Ehren ertönen. Die Lektüre Lichtenbergs ist hervorragend geeignet, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Wenn mein Buch dazu beiträgt, daß Lichtenberg wieder mehr gelesen wird, dann habe ich mein Ziel erreicht.

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Denn es gibt zu viele Leute, die über Kultur drauflosreden und sich zu Unrecht mit diesem Wort schmücken. Um die Kultur zu retten, sollte man das Wort Kultur eine Zeitlang abschaffen. Man muß den Leuten klarmachen, daß die Musen keine Huren sind, und daß es nicht genügt, über Geld oder Macht zu verfügen, um sie in den eigenen Dienst zu stellen. Was sollen denn all diese Empfänge und Veranstaltungen im Namen der Kultur? Die Musen sind diskret, sie fühlen sich in der Menge nicht wohl und mögen keine mondänen Possen. Sie ernähren sich nicht von Lachsbrötchen, Cocktails oder kaltem Büffet, sondern — wenn überhaupt — von Nektar und Ambrosia. Das muß man den Sozialtouristen auf den Parnaß ins Gesicht sagen, und das meint Lichtenberg. Die Musen kennen nur eine Aristokratie: die des Geistes! Kultur ist vor allem Suche nach Wahrheit, während die Zusammenkünfte in ihrem Namen dadurch zur Farce werden, daß alles im Zeichen der Heuchelei steht: Man sagt, was man nicht denkt, und denkt, was man nicht sagt, und mit welcher Bügelfalte man an den gewundenen Förmlichkeiten teilnimmt, ist wichtiger als mit welchen Windungen des Gehirns. Seht sie euch an, die beiden, die dort drüben einander mit überschwenglicher Herzlichkeit und freundlichem Lächeln begegnen: Der eine verkauft falsche Ware, der andere bezahlt mit falschem Geld, und das alles ist ein hohles Ritual, gespickt mit zivilisierten Banalitäten. Was soll das mit Kultur zu tun haben? Für die Hilfe, die sie mir bei der Revision des Manuskriptes haben angedeihen lassen, möchte ich Christiane Kempf, meinem linguistischen Schutzengel, danken, und ebenso Maria Seifert für die aufmerksame Korrektur. Gleichermaßen dankbar bin ich Johann Pilliater aus Wien, einem der höchst philosophischen Köpfe, die ich kenne, ebenso wie Otto Weber aus Ober-Ramstadt, der mit unvergleichlichem Eifer das Gedächtnis seines Mitbürgers pflegt und vielleicht der genuinste Lichtenbergianer ist. Ein besonderer Dank gilt aber Peter Pawlowsky, der die Geduld auf16

brachte, meine ständigen Einmischungen in die Übersetzungsarbeit zu ertragen. Er hat bereits den Geist meines Buches über Nietzsche auf exzellente Weise wiedergegeben; nun kleidet er - vielleicht mit noch größerem Vergnügen - auch mein Lichtenberg-Buch hervorragend in die deutsche Sprache. Als guter Wiener verfugt Pawlowsky über Ohren, die auf Scherz, Ironie und Sarkasmus eines Lichtenberg trainiert sind - nicht umsonst zählt auch er zu jenen, die Karl Kraus besonders hoch schätzen. Wien, im März 1988

Anacleto Verrecchia

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