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German Pages 128 [131] Year 2019
Die deutschen Nationalparks
Die deutschen Nationalparks Herausgegeben in Zusammenarbeit mit natur – Das Magazin für Natur, Umwelt und besseres Leben
Inhalt 13 Tolle Aussichten! 17 Wild gewachsen
22 Alte Wälder und Berge 25 Der Mensch ist nur Zuschauer 33 Urwald im Herzen Deutschlands 39 Wald im Wandel 45 Auf halbem Weg zur Wildnis 51 Wildwuchs wider Willen 57 Panorama unter Schutz 65 Der Evolution beim Wirken zusehen
70 Meer, Seen und Flusslandschaften 73 Die Kinderstube der Nordsee 81 So romantisch kann Kreide sein 85 Naturschutz von unten 93 Entdeckungstour im Niemandsland 99 Im Land der Lagunen
104 Blick in die Zukunft 107 Große Vergangenheit, sternklare Zukunft 113 Von Hangmooren und Ringwällen 118 Natur richtig beobachten 121 Ein ewiges Abwägen 128 Bildnachweis
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Die Kraft der Elemente Abstrakte Kunst? Ein eindrucksvolles Stück Treibholz in der Karibik? Könnte man meinen. Doch dieser Strand ist uns sehr viel näher als Barbados oder die Seychellen, aber mindestens genauso wild: der Darßer Weststrand. Auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, gelegen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, gilt dieser kilometerlange Sandstreifen als einer der schönsten Strände Deutschlands. Die Wellen der Ostsee haben ihn geformt und sie tun es noch immer. Tag für Tag entreißt ihm das Meer Sand, trägt ihn mit der Strömung entlang der Küstenlinie nach Norden und legt ihn dort an ihrer Spitze wieder ab. Aber nicht nur der Strand selbst, auch die Bäume des Darßwaldes, die ihn an der Landseite begrenzen, zeigen Spuren der Kraft der Natur: Viele der hochgewachsenen Kiefern neigen ihr Haupt landeinwärts, als wollten sie dem ständigen Wind ausweichen; manche liegen mehr als dass sie stehen. Und wieder andere – wie den Baum in diesem Bild – haben Sturm und Wellen schon entwurzelt und an sich gerissen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis nichts mehr von ihm zu sehen sein wird.
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Inhalt
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Inhalt
Brauner Bär im Baum Erinnern Sie sich noch an Bruno? Den berühmten Braunbären, der im Frühjahr 2006 die bayerische Grenze überschritt und schließlich zum Problembär erklärt und erschossen wurde. Heute steht er ausgestopft im Münchner Museum Mensch und Natur. Wollen wir hoffen, dass es dem Klettermax im Bild nicht auch einmal so geht. Auch er ist ein Europäischer Braunbär ( Ursus arctos) und hat es gewagt, sich auf dem Gebiet des Freistaates Bayern niederzulassen. Aber seine Chancen stehen gut. Denn der Baum, auf dem er es sich hier gemütlich gemacht hat, steht im Nationalpark Bayerischer Wald. Mehr noch: im Tierfreigelände in Neuschönau am Lusen. Hier werden auf über 200 Hektar heimische Wildtiere zu Bildungszwecken gehalten und zum Teil gezüchtet. Also kein Problem- sondern ein Botschafterbär. Denn so wild es die Natur auch treiben darf im ältesten Nationalpark – wildlebende Braubären gibt es hier nicht. Weil der Widerstand der Bevölkerung für eine Auswilderung zu groß ist. Aber auch, weil gerade Bärenweibchen nicht gerne wandern. Eine großflächige natürliche Wiederausbreitung ist daher nicht zu erwarten, sagen Experten. Es wird wohl bei den seltenen männlichen Besuchern aus dem italienischen Trentino bleiben, wie auch Bruno einer war. Neben den Dauerbewohnern des Nationalparks, versteht sich.
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Inhalt
Im Wind erstarrt Angefrorener Schnee an einem Stock, wie eine flatternde weiße Fahne vor blauem Winterhimmel. Ein Bild aus dem hohen Norden. Allerdings nur aus dem Norden Deutschlands: Der verschneite Pfahl steht im Nationalpark Harz in Sachsen-Anhalt – auf dem Gipfel des Brocken. Obwohl dieser mystisch verklärte Berg der Hexen und bösen Geister nur ein Mittelgebirgsgipfel ist und mit seinen 1141 Metern Höhe nicht mit den Maßen der Alpen mithalten kann, so herrschen auf dem Blocksberg doch so zapfig-kalte Temperaturen wie sonst in Skandinavien oder auf gut 2000 Metern Höhe. An 178 Tagen des Jahres liegt hier eine geschlossene Schneedecke und die Jahresdurchschnittstemperatur im Juli liegt bei frischen 10,3 ° Celsius. Aber Minusgrade allein reichen nicht aus, um ein solch wildes, vergängliches Eiskunstwerk zu formen. Dazu braucht es noch die Stürme, die den einsam aufragenden Berg seit jeher umtosen, ungebremst von Bäumen oder Nachbargipfeln und mit dementsprechender Wucht. Die Brockenkuppe gilt als der windigste Ort Deutschlands, manche sagen gar von Mitteleuropa. So unwirtlich und doch magisch schön – vielleicht ist an manchen Mythen um den Blocksberg ja doch etwas dran.
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DÄNEMARK
SchleswigHolsteinisches Wattenmeer
Bornholm
Ostsee
Sylt
Flensburg
Vorpommersche Boddenlandschaft
Nordsee Hamburgisches Wattenmeer Niedersächsisches Wattenmeer
Rostock
Schleswig-Holstein
Wilhelmshaven
Usedom
Lübeck Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg
Bremerhaven
Schwerin
Hamburg
Müritz
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Sachsen-Anhalt
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100 km
Die 16 Nationalparks sind über ganz Deutschland verteilt. Zusammen machen sie nur 0,6 Prozent der Landfläche Deutschlands aus. Doch jeder für sich ist ein unerlässlicher Hort der Wildnis und der Artenvielfalt
Tolle Aussichten!
Marieluise Denecke
Kurz vorgestellt: Das sind Deutschlands 16 Nationalparks
Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer, Hamburg Lage: vor Cuxhaven im Elbmündungsbereich Gründungsjahr: 1990 Größe: 138 Quadratkilometer www.nationalpark-wattenmeer.de/ hh/nationalpark
Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, Niedersachsen Lage: von der Elbmündung bei Cuxhaven bis zur niederländischen Grenze, inklusive Inseln Gründungsjahr: 1986 Größe: 3450 Quadratkilometer www.nationalparkhaus-wattenmeer.de
Besonderheiten: Wer die Küste mag, wird diesen Nationalpark lieben. Die Landschaft ist geprägt durch das Meer, Dünen, Sandbänke, Wattflächen, Priele, Inseln und Salzwiesen. Wattwanderungen sind hier ebenso möglich wie Kutschfahrten, Spaziergänge durch Salzwiesen, das Beobachten von Seehunden auf einer der zahlreichen Sandbänke sowie von Vögeln während ihrer Rast oder Brutzeit. Gerade von der Insel Neuwerk aus können Besucher Brutkolonien beobachten. Auf der rund 300 Hektar großen Insel rasten besonders im Frühjahr große Scharen nordischer Meeresgänse wie Ringel- und Weißwangengänse. 90 Prozent des Parkgebietes werden der Natur überlassen. (S. 73)
Besonderheiten: Das niedersächsische Wattenmeer wird von drei unterschiedlichen Landschaftstypen geprägt: die Ostfriesischen Inseln mit ihren Dünen und Salzwiesen im Osten des Nationalparks, die Wattflächen, Salzwiesen und Deiche der Küstenlinie sowie die unterschiedlich zusammengesetzten Wattflächen zwischen Inseln und Festland. In deren nahrhaftem Schlick leben pro Quadratmeter Millionen von Kieselalgen, Hunderttausende Krebse, Muscheln, Schnecken und Würmer, die wiederum Nahrungsgrundlage für eine Vielzahl von Fischen, Vögeln und Säugetieren sind. Gemeinsam mit den beiden anderen deutschen Wattenmeer-Nationalparks sowie den Gebieten in Dänemark und den Niederlanden ist das Niedersächsische Wattenmeer UNESCO-Weltnaturerbe. (S. 73)
Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, Schleswig-Holstein
Nationalpark Harz, Sachsen-Anhalt / Niedersachsen
Lage: westliches Schleswig-Holstein, von der dänischen Grenze bis zur Elbmündung
Lage: zentraler Teil des Harzes, erstreckt sich in die Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt Gründungsjahr: 1990
Gründungsjahr: 1985
Größe: 247 Quadratkilometer
Größe: 4410 Quadratkilometer
www.nationalpark-harz.de
www.multimar-wattforum.de Besonderheiten: Dieser Nationalpark ist mit seinen Wattflächen, Stränden, Sandbänken und Halligen gleichzeitig auch Biosphärenreservat. Das gesamte Wattenmeer ist das vogelreichste Gebiet Europas. Vor allem im Frühjahr und im Spätsommer lohnt sich der Besuch, wenn über zwei Millionen Vögel hier Rast machen. Ein besonderer Lebensraum sind auch die Salzwiesen, die Besucher im Rahmen von Führungen erkunden können. Hier leben Tier- und Pflanzenarten, die in keinem anderen Gebiet Europas vorkommen. (S. 73)
Besonderheiten: Ausgedehnte Buchenwälder, dunkle Fichtenwälder, moosüberwucherte Felsen, Moore, Flüsse und Bäche: Der Harz präsentiert sich Besuchern als eine einzigartige, mystisch anmutende Landschaft. Der länderübergreifende Park ist einer der größten Waldnationalparks in Deutschland und Heimat von Luchs und Wildkatze. Besucher finden ein vielfältiges Angebot. Beliebt ist beispielsweise der Wanderweg vom Torfhaus hoch zum Brocken vorbei an Mooren und Fichtenwäldern, Führungen mit Nationalpark-Rangern, ein Besuch im Luchsgehege bei Bad Harzburg oder eine Klippenwanderung. (S. 38)
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Müritz-Nationalpark, Mecklenburg-Vorpommern
Nationalpark Unteres Odertal, Brandenburg
Lage: aufgeteilt auf die Teilgebiete Müritz und Serrahn, mitten in der Mecklenburger Seenplatte
Lage: Im Odertal an der Stadt Schwedt/Oder, direkt an der polnischen Grenze
Gründungsjahr: 1990
Gründungsjahr: 1995
Größe: 322 Quadratkilometer
Größe: 103 Quadratkilometer
www.mueritzeum.de www.1000seen.de
www.nationalpark-unteres-odertal.eu
Besonderheiten: Der Müritz-Nationalpark – der größte auf dem deutschen Festland – ist geprägt durch viel Wald und zahlreiche Seen. Man kann ihn gut per Boot oder Kanu vom Wasser aus erkunden. Den westlichen Teil dominieren Kiefern, im Osten, rund um die Gemeinde Serrahn, stehen alte Buchenwälder. Im Herbst rasten Tausende Kraniche im Park. Von April bis September bieten die Ranger täglich eine Führung zu den Nahrungsplätzen von See- und Fischadlern an. (S. 85)
Besonderheiten: Das Untere Odertal schützt als einziger Park eine Flussaue und eine der letzten intakten Flussmündungen Mitteleuropas. Zugleich ist er Teil des ersten grenzüberschreitenden Schutzgebietes mit Polen. Die Landschaft wird geprägt vom Fluss, von Hängen und Laubmischwäldern. Über 160 Vogelarten brüten hier, darunter Schrei-, See- und Fischadler. Die Auen sowie die vielen Flussaltarme stellen einen idealen Lebensraum für sie dar. (S. 93)
Nationalpark Sächsische Schweiz, Sachsen Nationalpark Jasmund, Mecklenburg-Vorpommern Lage: auf der Halbinsel Jasmund, Insel Rügen Gründungsjahr: 1990 Größe: 31 Quadratkilometer www.koenigsstuhl.com Besonderheiten: Die bewaldeten Felsen aus 70 Millionen Jahre alter Kreide grenzen direkt an die Ostsee. Seit 2011 zählen diese Buchenwälder zum UNESCO-Weltnaturerbe. Am besten erkunden lassen sie sich auf dem 12 Kilometer langen Hochuferweg. Der Königsstuhl bildet mit 118 Metern den höchsten Punkt der Küste. (S. 81)
Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, Mecklenburg-Vorpommern Lage: Von der Westküste Rügens bis zur Ostseeinsel Hiddensee und der Halbinsel Darß-Zingst Gründungsjahr: 1990 Größe: 786 Quadratkilometer www.nationalpark-vorpommerscheboddenlandschaft.de Besonderheiten: Die Bodden nennt man auch die Lagunen der Ostsee. Da hier Inseln das Gewässer von der offenen Ostsee abgrenzen, haben sich Bodenketten gebildet, die Flora und Fauna einzigartige Bedingungen bieten. Bekannt sind die flachen Gewässer etwa für die Kraniche, die im Herbst zu Zehntausenden dort rasten. Besonders sehenswert ist der kilometerlange Weststrand der Halbinsel Darß. Direkt daran schließt sich der Darßwald an, ein rund 5000 Hektar großer Wald ohne menschliche Bebauung. (S. 99)
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Tolle Aussichten!
Lage: östlich von Dresden an der tschechischen Grenze Gründungsjahr: 1990 Größe: 93 Quadratkilometer www.lanu.de Besonderheiten: Kaum ein Nationalpark bietet dramatischere An- und Ausblicke als die Sächsische Schweiz, in der die Elbe über Jahrtausende tiefe Schluchten in die schroffen Felsen des Elbsandsteingebirges gegraben hat. Ein weites Wanderwegenetz führt zu Aussichtspunkten wie dem markanten Tafelberg Lilienstein. Doch auch die bewaldeten Schluchten sind einen Ausflug wert. In unmittelbarer Nähe liegt der Nationalpark Böhmische Schweiz in der Tschechischen Republik. (S. 65)
Nationalpark Hainich, Thüringen Lage: im westlichen Thüringen zwischen den Städten Eisenach, Mühlhausen und Bad Langensalza Gründungsjahr: 1997 Größe: 75 Quadratkilometer www.nationalpark-hainich.de Besonderheiten: Der Nationalpark liegt im südlichen Teil des Höhenzuges Hainich und beherbergt ein geschlossenes Buchenwald-Gebiet, wie es sonst kaum mehr in Europa zu finden ist. Besucher können dessen Einzigartigkeit am besten auf dem Baumkronenpfad bei Bad Langensalza entdecken, der in bis zu 25 Metern Höhe und auf über 500 Metern Länge durch die Wipfel führt. Die scheuen Wildkatzen, die hier leben, lassen sich am besten im „Wildkatzendorf“ Hütscheroda beobachten. (S. 45)
Nationalpark Bayerischer Wald, Bayern
Nationalpark Hunsrück-Hochwald, Rheinland-Pfalz / Saarland
Lage: An der tschechischen Grenze zwischen Bayerisch Eisenstein im Norden und Mauth im Süden.
Lage: westlicher Hunsrück im Grenzgebiet zwischen Rheinland-Pfalz und Saarland
Gründungsjahr: 1970
Gründungsjahr: 2015
Größe: 242 Quadratkilometer
Größe: 102 Quadratkilometer
www.nationalpark-bayerischer-wald.de
www.nationalpark-hunsrueck-hochwald.de
Besonderheiten: Wälder, Schluchten und Anhöhen sind die drei Merkmale, die diesen Nationalpark besonders ursprünglich wirken lassen. Bergahorn wächst an den schroffen Hängen, Fichten in den feuchten Tälern und Tannenwälder auf über 1200 Metern Höhe. Die Winter gelten als besonders schneereich. Sogenannte Erlebniswege zeigen, wie sich der Wald unbeeinflusst vom Menschen weiterentwickelt. (S. 25)
Nationalpark Berchtesgaden, Bayern Lage: im Südosten Bayerns an der österreichischen Grenze Gründungsjahr: 1978
Besonderheiten: Der noch junge Nationalpark erstreckt sich über die Höhenlagen des Hunsrücks. Das Verhältnis zwischen Laub- und Nadelwäldern ist hier in etwa ausgeglichen; etwa ein Viertel der Wälder sind deutlich älter als 100 Jahre. In der abwechslungsreichen Landschaft fühlen sich geschützte Tierarten wie Schwarzstorch, Wildkatze und Schwarzspecht wohl. Besucher können Sehenswürdigkeiten wie den Erbeskopf, die typischen Hangmoore oder die alten Köhlerplätze alleine oder bei einer geführten Tour entdecken. (S. 113)
Nationalpark Kellerwald-Edersee, Hessen
Größe: 210 Quadratkilometer
Lage: in Nordhessen südlich des Edersees
www.haus-der-berge.bayern.de
Gründungsjahr: 2004 Größe: 57 Quadratkilometer
Besonderheiten: Der einzige Alpen-Nationalpark Deutschlands wartet mit wild-romantischen Landschaften auf. Den Besucher erwartet eine abwechslungsreiche Szenerie, vom Alpenpanorama über bewirtschaftete Almwiesen und malerische Täler bis hin zum Königssee. Ein 300 Kilometer langes Wanderwegenetz zieht sich durch den Park. Mit dem Fernglas kann man Murmeltiere beobachten; Ranger zeigen bei Naturführungen botanische Besonderheiten wie das Edelweiß. (S. 57)
Nationalpark Schwarzwald, Baden-Württemberg Lage: nördlicher Schwarzwald zwischen Baden-Baden und Freudenstadt Gründungsjahr: 2014 Größe: 100 Quadratkilometer www.schwarzwald-nationalpark.de Besonderheiten: Dieser hochgelegene Nationalpark wird dominiert von dicht wachsenden Tannen und Fichten. Zur Landschaft gehören ebenso zwei größere Hochmoore, drei eiszeitliche Karseen und Feuchtheiden. Diese Mischung aus offenen und dichter bewachsenen Landschaften ist besonders wertvoll für Insekten, Schmetterlinge oder die Kreuzotter. Besucher können den Park auf ausgeschilderten Erlebnispfaden entdecken. Im Rahmen einer Führung kann man zum Wilden See wandern oder den Allerheiligen-Wasserfällen bis zum gleichnamigen Kloster folgen. (S. 51)
www.nationalparkzentrum-kellerwald.de Besonderheiten: Hier steht einer der letzten großen Rotbuchenwälder Mitteleuropas (UNESCO-Weltnaturerbe) in dem seltene Tierarten wie Rothirsch, Wildkatze oder Wald-Fledermaus leben. Rund um den Edersee an der Nordgrenze des Parks liefert der 70 Kilometer lange Urwaldsteig immer wieder schöne Aussichten. (S. 33)
Nationalpark Eifel, Nordrhein-Westfalen Lage: westlich von Bonn an der Grenze zu Belgien Gründungsjahr: 2004 Größe: 108 Quadratkilometer www.nationalparkzentrum-eifel.de Besonderheiten: Die beiden Flüsse Rur und Urft haben diese Mittelgebirgslandschaft geprägt. Den Obersee können Besucher ebenso wie die Urfttalsperre per Boot erkunden. In jedem Frühjahr verwandeln Millionen wilder Narzissen die Talwiesen im Süden des Parks in ein Blütenmeer. Weil der Himmel in dieser Region besonders klar ist, ist der Nationalpark seit 2014 auch Sternenpark – ein nächtlicher Besuch lohnt sich also. Bei Dreiborn kann man von einer Aussichtsplattform aus auch gleich nach Rothirschen Ausschau halten. (S. 107)
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Dieses Schild warnt: Ab hier herrscht die Natur. Es steht am Darßer Ort, der nördlichsten Landzunge der Halbinsel Darß im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft
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Tolle Aussichten!
Wild gewachsen
Henrike Wiemker
Im Nationalpark darf Natur sich ungestört entwickeln, hier entstehen wilde Landschaften und Wälder. Auch auf dem Papier wuchs mit der Zeit ein Urwald aus Richtlinien und Schutzkategorien. Ein Pfad durch den Paragrafendschungel des Naturschutzes Im Norden Brandenburgs an der Grenze zu Polen
park eingerichtet, der wohl auch heute noch einer
schlängelt sich die Oder durch eine flache Landschaft,
der bekanntesten ist: der Yellowstone-Nationalpark
nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Ungestört,
in den USA. Trotz, oder vielleicht auch wegen seiner
mit Altarmen und umgeben von Wiesen, die im Früh-
langen Geschichte, ist aber der Begriff „Nationalpark“
jahr überschwemmt werden, formt sie hier eine der
nie international einheitlich definiert worden. Was
letzten Flussauenlandschaften Europas, Heimat für
in Deutschland ein Nationalpark ist, ist also nicht
unzählige Vogelarten.
zwingend auch einer im Sinne der IUCN, der Inter-
Im Westen von Thüringen prägen Buchen die
national Union for Conservation of Nature. Diese auch
hügelige Landschaft. Die weiten Wälder des Hainich
als Weltnaturschutzunion bekannte Nichtregierungs-
bilden das größte zusammenhängende Laubwaldge-
organisation hat zwar Richtlinien für unterschiedliche
biet Deutschlands, das sich hier über einen Höhenzug
Schutztypen festgelegt, dennoch ist es jedem Land
zwischen den Städten Eisenach, Mühlhausen und Bad
selbst überlassen, eigene Gesetze zur Einrichtung
Langensalza erstreckt.
eines Nationalparks zu erlassen.
Nahe der Grenze zu Österreich ragt mächtig der Watzmann empor, mehr als 2700 Meter über dem
Natur Natur sein lassen
Meeresspiegel. Steil fallen seine rauen Felswände ab,
Was also macht einen Nationalpark in Deutschland
auf der Ostseite bis hinunter zum tiefblauen Wasser
aus? Die Frage geht an Volker Scherfose, den Verant-
des Königsees. Enzian, Murmeltiere, Steinböcke – die
wortlichen beim Bundesamt für Naturschutz (BfN).
Stars der alpinen Landschaften finden hier passende
„Das wichtigste Ziel im Nationalpark ist der Prozess-
Lebensräume.
schutz“, sagt er. „Es soll überwiegend eine natürliche
So unterschiedlich die drei Landschaften auch sein
Dynamik der prägenden Ökosysteme ermöglicht wer-
mögen, sie alle haben ihren Status als Nationalpark
den.“ Es geht also im Nationalpark nicht darum, ein-
gemeinsam. Und schon diese drei Beispiele geben
zelne Arten zu schützen, etwa weil sie selten gewor-
einen Eindruck davon, wie verschieden und vielfäl-
den sind, sondern vielmehr ganze Ökosysteme. Das
tig die Nationalparks in Deutschland sind. Insgesamt
Zusammenspiel zwischen vielen verschiedenen Tier-
16 davon gibt es heute in Deutschland. Der jüngste,
und Pflanzenarten, das an anderen Stellen vom Men-
Hunsrück-Hochwald, kam erst im Jahr 2015 hinzu. Der
schen verändert wird, soll hier unbeeinflusst statt-
älteste dagegen, der Nationalpark Bayerischer Wald,
finden können. Das Bundesnaturschutzgesetz nennt
feiert im kommenden Jahr seinen 50. Geburtstag.
es den „möglichst ungestörten Ablauf der Naturvor-
Noch viel älter aber als dieser älteste deutsche
gänge in ihrer natürlichen Dynamik“. Das steckt hinter
Park ist der Begriff Nationalpark. Nachdem schon
dem Begriff „Prozessschutz“. Mit diesem Schwerpunkt
im frühen 19. Jahrhundert in mehreren Ländern die
unterscheidet sich ein Nationalpark zum Beispiel von
Idee aufkam, bestimmte Teile der Natur unter Schutz
einem „Naturschutzgebiet“, in dem stärker der Schutz
zu stellen, wurde 1872 der weltweit erste National-
einzelner Arten im Vordergrund steht.
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Insektenfallen im Nationalpark Unteres Odertal. Die vom Menschen weitgehend ungestörten Gebiete liefern wichtige Daten für Forschungs projekte – etwa zur Artenvielfalt oder der Anpassung an den Klimawandel
Das Bundesnaturschutzgesetz nennt noch weitere
beeinflussten Zustand befinden“ oder – und das ist ein
Voraussetzungen, die ein Nationalpark erfüllen muss.
entscheidender Zusatz – „geeignet sind, sich in einen
Die erste ist seine Größe. Ein Nationalpark ist dem-
Zustand zu entwickeln oder in einen Zustand entwi-
zufolge „großräumig, weitgehend unzerschnitten und
ckelt zu werden, der einen möglichst ungestörten Ab-
von besonderer Eigenart“. Eine exakte Mindestgröße
lauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik
für einen Nationalpark legt das Gesetz jedoch nicht
gewährleistet“. In einem Nationalpark soll also mög-
fest. Das BfN hat zwar eine Empfehlung dafür ausge-
lichst das zu finden sein, was man umgangssprachlich
sprochen, die bei 10.000 Hektar liegt, aber nicht von
vielleicht „unberührte Natur“ nennen würde, wobei
allen deutschen Parks erfüllt wird. Der Nationalpark
„unberührt“ in unseren seit Jahrtausenden von Men-
Jasmund an den Rügener Kreidefelsen etwa ist nur
schen bewohnten Landschaften ein unerreichbares
gut 3000 Hektar groß und damit der kleinste unter
Ideal ist. Wirkliche Urwälder gibt es in Deutschland
den Deutschen Parks.
keine mehr. Und auch wie eine Heide aussehen würde,
Darüber hinaus heißt es im Gesetz, dass National-
wenn niemals Menschen mit Nutztieren in ihre Nähe
parks sich „in einem vom Menschen nicht oder wenig
gekommen wären wissen wir nicht. Das Ziel kann daher nur sein, weiteren menschlichen Einfluss zu verhindern und zu sehen, was passiert. Auch aus diesem Grund lässt das Gesetz die Möglichkeit zu, dass sich vom Menschen unbeeinflusste Gebiete im Nationalpark erst noch entwickeln können beziehungsweise sollen. In Übergangsphasen bedeutet das manchmal, zum Beispiel Wildbestände zu regulieren, damit in einem forstwirtschaftlich geprägten Wald nicht alle jungen Baumtriebe aufgefressen werden und ein „wilder“ Wald entstehen kann. „Dass im Nationalpark Natur Natur sein darf, ist gerade in Deutschland etwas ganz Besonderes“, sagt Julia Aspodien. Sie leitet beim Naturschutzbund (Nabu) das Team für Naturschutz und Landnutzung. „Es ist etwas Besonderes, weil es so selten vorkommt“, fügt sie hinzu. „Durch eine hohe Bevölkerungsdichte haben wir einen starken Nutzungsdruck auf die Flächen“, fügt sie hinzu. „Im Nationalpark kann man sehen, wie sich die Natur ohne menschliche Eingriffe ihr Habitat selbst zusammenbaut und es zurückerobert. Natürliche Prozesse können hier ungestört stattfinden und der Mensch wird vom Gestalter zum Beobachter.“ Magnus Wessel, verantwortlich beim BUND für Naturschutzpolitik, nennt Nationalparks außerdem „das größte Referenzlabor für die Anpassung an den Klimawandel.“ „Hier können wir beobachten: Welche Arten passen sich normalerweise wie an? Wie verändert sich die Vegetation jenseits der Land- und Forstwirt-
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Wild gewachsen
schaft? Viele natürliche Reaktionen sind sonst schwer zu beobachten, weil sie von den Folgen intensiver menschlicher Nutzung verdeckt werden“, sagt er.
Tourismus, möglichst naturnah Neben den eher ökologischen Merkmalen nennt das Bundesnaturschutzgesetz aber noch eine weitere wichtige Eigenschaft oder gar Bedingung: „Soweit es der Schutzzweck erlaubt“, heißt es dort, „sollen Nationalparks auch der wissenschaftlichen Umwelt-
Eine Touristengruppe auf einer Tour durch den Schwarzwald. Das Naturerlebnis der Bevölkerung zu gewährleisten, ist eine der festgeschriebenen Aufgaben eines Nationalparks
beobachtung, der naturkundlichen Bildung und dem Naturerlebnis der Bevölkerung dienen.“ Man hat also bei der Definition von Nationalparks nicht nur Tiere,
parks in Deutschland sind, auch wenn sie streng ge-
Pflanzen und Landschaften, sondern auch den Men-
schützt sind, nicht eingezäunt, sondern frei für alle
schen mit im Sinn gehabt. „Bildung und Forschung“,
zugänglich. Damit unterscheiden sie sich von den be-
sagt Volker Scherfose vom BfN, „finden auch in ande-
kannten großen Parks wie Yosemite oder Yellowstone
ren Schutzgebieten statt. Aber bei Nationalparks sind
in den USA. Um dennoch zu gewährleisten, dass die
diese Aufgaben explizit im Gesetz aufgeführt, dort
Ge- und Verbote im Park eingehalten werden, haben
kann man sich nicht darum drücken.“ Das bedeutet
die deutschen Nationalparks in der Regel „Ranger“,
mit anderen Worten: Tourismus, möglichst naturnah.
deren Aufgaben jeder Park selbst festlegen kann
Strengen Naturschutz und Tourismus auf einem Ge-
und die dementsprechend variieren. Volker Scher-
biet zu vereinen, ist häufig eine Gratwanderung und
fose zufolge spielen sie eine wichtige Rolle für die
hier ist die Situation in den verschiedenen National-
Entwicklung eines Parks. „Es reicht nicht aus, einfach
parks sehr unterschiedlich. In einigen war der Tou-
eine Verordnung aufzustellen und zu hoffen, dass die
rismus ein Argument für die Einrichtung des Parks;
Besucher sich automatisch daran halten“, findet der
andere Regionen wie das Wattenmeer wurden erst
BfN-Experte. „Die Ranger und Rangerinnen sind vor
zu Nationalparks, als sie schon über Jahrzehnte vom
Ort und sensibilisieren die Besucher mit Blick auf die
Tourismus geprägt waren. In der Praxis braucht es
zu schützenden Lebensräume und Arten.“
deswegen häufig viele Kompromisse und Flexibilität von beiden Seiten.
In der Praxis von Bedeutung ist noch eine weitere Phrase im Bundesnaturschutzgesetz, die dort gleich
Wie aber sieht ein Nationalpark in der Praxis aus?
dreimal vorkommt: „in einem überwiegenden Teil
Wie wird die im Gesetz festgehaltene Idee zu einem
ihres Gebietes“. Der strenge Schutz, den der National-
Teil der Landschaft? Grundsätzlich ist die Einrichtung
park verspricht, gilt also nicht unbedingt im ganzen
eines Nationalparks den Bundesländern überlassen,
Gebiet, sondern nur in einem Teil davon. Das heißt
die in ihren jeweiligen Landesnaturschutzgesetzen
häufig „Kernzone“, „Naturdynamikzone“ oder „Schutz-
Änderungen und Ergänzungen zum Bundesnatur-
zone 1“. Hier liegt auch einer der bedeutendsten
schutzgesetz festhalten können. Will ein Land einen
Unterschiede zwischen der Nationalpark-Definition
solchen errichten, kann es das in Absprache mit dem
des deutschen Gesetzes und der internationalen
BfN tun. Es hat dann zum Beispiel zur Aufgabe, eine
Kategorisierung der IUCN. Die IUCN wendet bei all
eigene Verwaltung für den Park einzurichten und sie
ihren Schutzkategorien die „75-Prozent-Regel“ an:
mit Personal auszustatten. Das Land legt dann auch
Der strenge Schutz muss auf mindestens 75 Prozent
konkrete Ge- und Verbote für den Park fest. National-
der Fläche gelten. Das BfN dagegen interpretiert
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Zonierung
Bayerisch Eisenstein Zonierung
© 2018 Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald Baye risch E isenstei n
Bayerisch Eisenstein
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Nationalparkgemeinden
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Zonierung Stand: 1. November 2018
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Die Zonen eines Nationalparks: Im Bayerischen Wald ist die streng geschützte Naturzone schon sehr groß. In den Entwicklungszonen gelten noch Übergangsregeln und der Randbereich dient als Pufferzone zum bewirtschafteten Wald
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„überwiegend“ im Sinne von „mindestens 50 Pro-
Die unterschiedlichen Klassifizierungen nach na-
zent“, ist also großzügiger. Außerdem erlaubt das
tionalen oder internationalen Richtlinien machen es
deutsche Gesetz die Errichtung von sogenannten
nicht gerade einfach, in Sachen Schutzgebiete den
Entwicklungs-Nationalparks. Darin kann die Natur-
Überblick zu behalten. In Deutschland sei die Situa-
dynamikzone auch weniger als 50 Prozent des Ge-
tion historisch gewachsen, erklärt Scherfose vom BfN,
bietes umfassen, soll aber perspektivisch innerhalb
und alle Formen haben unterschiedliche Schwer-
von 20 bis 30 Jahren nach Errichtung des Parks auf
punkte (siehe Kasten). Die Unterschiede seien für das
mindestens 50 Prozent ausgedehnt werden. Nach den
Management der Gebiete durchaus von Bedeutung,
aktuellsten Zahlen vom BfN von Juni 2018 haben elf
findet Volker Scherfose, für Besucher und Besucherin-
der deutschen Parks noch eine Naturdynamikzone
nen aber nicht ganz so wichtig. „Es ist eher wichtig zu
unter 75 Prozent, fünf davon sogar unter 50 Prozent.
wissen, dass es Unterschiede in den Schutzzwecken
Auch die IUCN berücksichtigt, dass sich Nationalparks
zwischen den einzelnen Gebieten gibt.“ Und ein erster
oft erst noch entwickeln müssen. Dort sind alle deut-
Schritt kann sein, sich überhaupt darüber zu informie-
schen Parks als solche gemeldet, auch wenn sie die
ren, wo es Schutzgebiete gibt. Denn solange niemand
75-Prozent-Marke noch nicht erreicht haben – das
davon weiß, ist auch der strengste Schutz auf dem
Ziel zählt.
Papier wirkungslos.
Wild gewachsen
Schutzgebiete in Deutschland Abgesehen von Nationalparks gibt es in Deutschland
Naturdenkmäler
noch viele weitere Arten von Schutzgebieten. Eine
Einzelschöpfungen der Natur oder Flächen bis zu
Auswahl der wichtigsten.
fünf Hektar, die wegen ihrer Seltenheit, Eigenart und Schönheit oder aus wissenschaftlichen, naturkund-
Naturschutzgebiete
lichen oder landeskundlichen Gründen schützens-
Gebiete mit einem besonderen Schutz von Natur und
wert sind.
Landschaft in ihrer Ganzheit oder in einzelnen Teilen, z. B. zum Schutz einzelner Arten, wegen ihrer hervorra-
Nationale Naturmonumente
genden Schönheit oder aus landeskundlichen Gründen.
Ähneln in ihrer Definition stark den Naturdenkmälern, sind aber nicht größenmäßig beschränkt und kön-
Landschaftsschutzgebiete
nen auch aus kulturhistorischen Gründen ausgewählt
Gebiete mit einem besonderen Schutz von Natur und
werden. Der Schutz entspricht dem von Naturschutz-
Landschaft z. B. zur Erhaltung und Wiederherstellung
gebieten.
der nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter, wegen ihrer besonderen kulturhistorischen Bedeutung
Natura-2000-Gebiete
oder ihrer besonderen Bedeutung für die Erholung.
Ein zusammenhängendes Netzwerk aus Schutzgebieten in der EU, das eine größere Anzahl gefährdeter Le-
Naturparks
bensraumtypen mit ihren Bewohnern sowie einzelne
Großräumige Gebiete, die überwiegend Naturschutz-
Pflanzen- und Tierarten großflächig und länderüber-
oder Landschaftsschutzgebiete sind. Sie eignen sich
greifend schützen soll. Die Natura-2000-Gebiete
z. B. wegen ihrer landschaftlichen Voraussetzungen be-
sind entweder nach FFH-Richtlinie, kurz für Flora-
sonders für die Erholung oder sind besonders dazu ge-
Fauna-Habitat-Richtlinie oder nach der Vogel-
eignet, die nachhaltige Regionalentwicklung zu fördern.
schutzrichtlinie der EU geschützt.
Biosphärenreservate
UNESCO Weltnaturerbe
Großräumige Gebiete, die für bestimmte Landschafts-
Die Organisation der UN für Bildung, Wissenschaft
typen charakteristisch sind. Sie dienen beispielhaft der
und Kultur ernennt Naturgüter, die z. B. außerge-
Entwicklung und Erprobung von Wirtschaftsweisen,
wöhnliche Beispiele für die Hauptstufen der Erd-
die für die Naturgüter besonders schonend sind. In
entwicklung darstellen, außergewöhnliche Natur-
den kleinen Kernzonen ähneln sie Nationalparks, in
schönheit darstellen oder besondere Beispiele für
den äußeren Zonen eher Naturparks.
den Ablauf von biologischen Prozessen sind.
21
Alte Wälder und Berge
Alte Wälder und Berge
Wald soweit das Auge reicht. Rangerin Alena Lettmaier kann sich an ihrem Arbeitsplatz nicht sattsehen
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Alte Wälder und Berge | Wild gewachsen
Der Mensch ist nur Zuschauer
Karin Lochner
Der Bayerische Wald ist der älteste deutsche Nationalpark und Teil des größten zusammenhängenden Waldgebiets Mitteleuropas. Er soll geschützt, gleichzeitig aber auch touristisch genutzt werden. Damit das gelingt, braucht es engagierte Ranger Vogelgezwitscher erfüllt die Luft. Eine leichte Brise
Aber die Einigung war schwierig, jeder hatte
trägt den Geruch von Harz aus den Wäldern. An die-
mit dem Wald anderes in Sinn. Die Jäger wollten
sem idyllischen Treffpunkt wartet eine achtköpfige
jagen, die Forstwirte Gewinn erzielen, die Sportler
Kindergruppe aus den Nachbardörfern auf Alena
wandern und Ski fahren. Erst am 11. Juni 1969 be-
Lettenmaier. Ihr Kollege Günter Sellmayer führt eine
schloss der Landtag einstimmig, zwischen Rachel
Gruppe Erwachsener, die die Tour „Chaos und Ord-
und Lusen einen Nationalpark mit einer Fläche von
nung“ gebucht haben. Die Wege der Ranger werden
circa 13.000 Hektar zu schaffen. Auch engagierte
sich gleich trennen – wegen der unterschiedlichen
Lokalpolitiker setzten sich mittlerweile für den Na-
Geschwindigkeiten ihrer Zöglinge.
tionalpark ein, um in der strukturschwachen Region
Der sanfte Tourismus spielt in Nationalparks
neue Impulse für den Tourismus zu schaffen. Am
eine wichtige Rolle. Bei den Führungen zeigen die
7. Oktober 1970 wurde der Nationalpark Bayerischer
Ranger die Geheimnisse des Waldes; öffnen ihn wie
Wald schließlich eröffnet.
ein lebendiges Biologiebuch für große und kleine Besucher. Denn dass er hier so wild wachsen darf,
Raumschutz statt Artenschutz
ist nicht selbstverständlich. In den 60er Jahren des
Doch damals war niemandem so richtig klar, was
vergangenen Jahrhunderts hatte es viel Streit über
ein Nationalpark bedeutet. Bis das Credo stand, das
die zukünftige Nutzung des Rachel-Lusen-Gebiets
Hans Bibelriether, von 1970 bis 1998 Leiter der Na-
im Bayerischen Wald gegeben. Neue Skigebiete soll-
tionalparkverwaltung, ausgegeben hatte: Natur Natur
ten der Region Einnahmen und Gäste garantieren.
sein lassen. Der Satz symbolisierte eine völlig neue
Hubert Weinzierl, von 1969 bis 2002 Vorsitzender
Sichtweise. Bis zum Beginn der 70er-Jahre des ver-
des BUND Naturschutz, war damals ehrenamtlicher
gangenen Jahrhunderts hieß Naturschutz nämlich
Naturschutzbeauftragter der Regierung von Nieder-
Bewahren des Bestehenden – und das verstand sich
bayern und kämpfte vehement dagegen. Schließlich
mittels menschlicher Eingriffe, Hege und Pflege. Da
hatte der damalige Regierungspräsident Johann Rie-
galt Schädlingsbefall als Katastrophe und musste
derer die Blockadehaltung satt und forderte einen
bekämpft werden. Vom Sturm gestürzte Bäume, soge-
Alternativvorschlag: „Wenn Sie dort oben am Rachel
nannter „Windbruch“, wurden schleunigst entfernt. An-
und Lusen keinen Skizirkus wollen, dann m üssen
ders Bibelriethers Ansatz: Geschützt werden soll die
Sie mir etwas anderes offerieren, was im Jahr
natürliche Entwicklung von Ökosystemen, die Kraft
200.000 Touristen bringt.“ Und Weinzierl offerierte.
der Evolution. Raumschutz statt Artenschutz.
Er führte mit der Nationalpark-Idee den Umwelt-
So werden die Ranger noch immer bei jeder
schutz und das Tourismus-Interesse der Kommunen
Führung auf das bekannteste Insekt des Walds an-
zusammen. Und war erfolgreich. Weil er sich Ver-
gesprochen: Den Fichtenborkenkäfer. Dann müssen
bündete suchte, wie den berühmten Tierfilmer und
sie weit ausholen. „Auch der Borkenkäfer ist ein Ge-
TV-Publikumsliebling Bernhard Grzimek.
schöpf der Natur“, erklärt Sellmayer. Borkenkäfer be-
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Im Nationalpark bleiben die vom Borkenkäfer gefällten Fichten einfach liegen. Zwischen den toten Stämmen wachsen junge Bäume empor
fallen schließlich nur kranke Exemplare, das sei völlig
tenforste zerstört, von denen so manche Waidler
in Ordnung, meint der Ranger, während er mit dem
familie gelebt hatte. Zurückgeblieben war damals
Fernglas den Wald nach schwachen Bäumen absucht.
eine apokalyptische Landschaft – tote Bäume, wohin
Dass viele „Waidler“, also die Einheimischen im Um-
das Auge blickte. Und dieser Schädling sollte nicht
feld des Parks, das Motto des Nationalparks skeptisch
mehr bekämpft werden? Nach einem halben Jahrhun-
sahen, hat sich weit über den Bayerischen Wald hin-
dert Aufklärungsarbeit haben sich die Menschen aber
aus herumgesprochen. Vor allem in den Höhenlagen
mit dem Schutzgebiet und dessen Zielen mittlerweile
des Parks haben schon vor Jahrzehnten Heerscharen
identifiziert. „Die Einheimischen, die früher gegen das
der vier bis fünf Millimeter großen Borkenkäfer Fich-
Liegenlassen der umgerissenen Bäume waren, sind heute stolz auf den aufkommenden Wald und schicken Gäste extra hierher“, sagt Sellmayer. Er formuliert es so: „Pessimisten sagen, wir seien der Baumfriedhof Europas, Optimisten sehen hier den größten Baumkindergarten!“
Randzone, Naturzone und Kerngebiete Doch ein durchgängiger, echter Urwald zeigt sich wohl erst für zukünftige Generationen. In den Randzonen des Nationalparks, einem etwa 500 Meter breiten Saum, werden immer noch von Borkenkäfern befallene Fichten gefällt – zum Schutz angrenzender Privatwälder. Hier dürfen auch noch Wildschweine und Rothirsche gejagt werden, deren Bestände alles andere als in Gefahr sind. In der Naturzone hingegen ist menschliches Eingreifen nicht mehr erlaubt. Sellmayer zwinkert: „Auch wenn der Borkenkäfer kommt.“ Zum sogenannten Kerngebiet wiederum gehören die Flächen, in denen besonders sensible Lebensräume und Arten, wie zum Beispiel das Auerhuhn, zu finden sind, etwa die Hochlagen oder Moore. Hier ist nicht einmal ein Verlassen der markierten Wege gestattet und der Naturschutz am strengsten. Jeden Tag und bei jedem Wetter sind Ranger wie Lettenmaier und Sellmayer in der naturbelassenen Wildnis unterwegs und beobachten das Gewusel am Boden, in den Bäumen und in der Luft. Sie freuen sich immer auf den Aha-Effekt bei ihren Besuchern, die denken, sie kennen „den Wald.“ Man mache ja Sonntagsspaziergänge. Was für ein Irrtum. Bei Führungen zeigt Sellmayer, wie Wildnis wirklich aussieht – ganz anders als in Reih und Glied stehende Fichten-Plantagen oder Douglasien-Spaliere.
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Alte Wälder und Berge | Der Mensch ist nur Zuschauer
Denn auf dem allgegenwärtigen Totholz können sich neben seltenen Käfern auch Pilze, Schwämme und Flechten ansiedeln. Günter Sellmayer macht seine Besucher auf einen geschäftigen Mikrokosmos aufmerksam. Große Pestwurzrüssler, Kopfhornschröter oder Kleinkopfflachkäfer, lauter rar gewordene Krabbler, die den Wald aufräumen. An ihnen zeigt
Der Kopfhornschröter (Sinodendron cylindricum) ist ein typischer Totholzbewohner
sich das Werden und Vergehen. Fressen und gefressen werden. „Totholz bedeutet Leckerbissen für Dutzende oft selten gewordene Käfer“, erklärt der Ranger. Kleinstlebewesen sorgen dafür, dass der Wald sich regeneriert und sich immer näher an den Urwald-Zustand heranentwickelt. Loipen. Auch bei Forschungsprojekten arbeiten die
Selbstgestaltungskraft der Natur
Ranger mit. Sie zeichnen ihre täglichen Beobach-
Auch der ungeliebte Borkenkäfer erledigt hier sei-
tungen für das Forscher-Team auf – etwa, wo ein
nen Job, und das seit Tausenden von Jahren. Besser
Biber seinen Bau erweitert hat oder wann der erste
als jeder Förster erkennt er kranke Bäume, befällt sie,
Kuckuck ruft. Auch das Aufsammeln von Müll fällt
verwandelt sie in Totholz und führt sie so dem natür-
in ihren Bereich, falls unachtsame Touristen Abfall
lichen Kreislauf zu. Die toten Bäume sind nicht nur
hinterlassen. Was glücklicherweise selten vorkommt,
Nahrung, sondern auch Lebensraum vieler Tier- und
sagt Alena Lettenmaier – obwohl es nur wenige Müll-
Pilzarten, die gefallenen Stämme vom Windbruch
tonnen bei den Besucherzentren gebe. Zu eindrucks-
ein ideales Nährbett für neue Waldgenerationen.
voll ist ihr fast 25.000 Hektar großer Arbeitsplatz!
Stolz verkündet Sellmayer: „Untersuchungen zur Ar-
Zusammen mit dem Nachbar-Nationalpark Šumava in
tenvielfalt belegen unseren markanten Anstieg im
Tschechien bildet er das größte zusammenhängende
Artenreichtum!“ Denn bei näherem Hinsehen zeigt
Waldschutzgebiet Mitteleuropas. Dieser mächtige Na-
sich: Der scheinbar tote Wald lebt. Eine Zählung im
tionalpark, der zu 98 Prozent aus Wald besteht, flößt
November 2018 ergab 3849 Tierarten, 1861 Pilzar-
einfach Respekt ein „Da nehmen fast alle ihre Hinter-
ten, 489 Moosarten, 344 Flechtenarten, 757 Gefäß-
lassenschaften wieder selbst mit.“
pflanzenarten. Nach einer Hochrechnung gibt es wohl 14.000 Arten im Nationalpark Bayerischer Wald.
In wildem Miteinander recken sich neben Altbäumen junge Birken, Fichten, Tannen, Buchen und Eber-
Als nächstes zeigt der Ranger, der seit fast ei-
eschen in die Höhe, vereinzelt auch Bergahorne: ein
nem Vierteljahrhundert dabei ist, seinen Gästen die
gesunder Mischwald, der langsam heranwächst. Da-
Flechten: „Bis zu 20 Arten siedeln auf einem Stück
zwischen halten Baumgreise die Stellung. Zum Bei-
Totholz“. Ein anders Mal deutet er auf spektakuläre
spiel eine abgestorbene Fichte, deren erste Nadeln
Farbenspiele, wie den rotrandigen Fichtenporling. Der
wuchsen, als Preußenkönig Friedrich der Große Krieg
rot-goldene Schwamm klebt auf einem ebenholzfar-
gegen Kaiserin Maria Theresia aus Wien führte –
benen Baumstamm wie eine Mini-Deutschlandflagge.
also vor rund 280 Jahren. Die ausgebildete Erziehe-
Neben der Gästebetreuung gehören die Kontrolle
rin Alena Lettenmaier zeigt ihrer Kindergruppe den
und das Markieren des Wegenetzes zu den Aufgaben
Baum-Methusalem des Parks, der sogar mehr als dop-
der Ranger: allein 350 Kilometer markierte Wander-
pelt so alt ist: eine 600 Jahre alte Tanne – innen zwar
wege gibt es. Dazu kommen Radwege und im Winter
hohl, aber immer noch stramm und fest verwurzelt.
27
a
b
Viele seltene Tiere finden Heimat im Bayerischen Wald: a) Der Auerhahn (Tetrao urogallus) b) Ein Baum marder (Martes martes) im Geäst eines Baumes im Freigehege
Alena Lettmaier an einem MethusalemBaum. Der älteste Baum im Nationalpark ist eine 600 Jahre alte Tanne
Alle acht Kinder müssen sich an den Händen fassen,
noch als Schülerin. Sie war begeistert und beschloss,
um das Naturwunder einzukreisen.
eines Tages selbst Rangerin zu werden.
Die Landschaft wie aus dem Märchenbuch ver-
Das hat sie geschafft, als sie sich vor zwei Jahren
führt allerdings auch dazu, sich tief hineinzuwagen.
gegen 127 Mitbewerber durchsetzte – auf drei freie
Tiefer als erlaubt. Ranger achten deshalb auch darauf,
Stellen. Geholfen hat ihr dabei womöglich, dass sie
dass niemand querfeldein marschiert, Feuer anzündet
nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Tsche-
oder womöglich sogar wild zeltet.
chisch als Muttersprache spricht. Solche Fremdsprachenkenntnisse sind bei ihrer Arbeit sehr willkommen.
Die wilde Natur vor der eigenen Haustür
Denn es gibt immer mehr Touristen aus dem Ausland.
Nur Kinder beim Ferienprogramm dürfen tief hinein
Das Motto „Natur Natur sein lassen“ zieht viele an und
ins Herz des Parks – unter Aufsicht. Beim heiß be-
wird gezielt als Alleinstellungsmerkmal des hiesigen
gehrten Junior-Ranger-Programm, bei dem schon
Tourismus beworben. Ob auf internationalen Reise-
mancher Nationalpark-Nachwuchs generiert wurde,
messen wie der ITB in Berlin oder auf lokaler Ebene.
verbringen sie vier Tage mit ihren Führern. Das Um-
„750.000 Besucher pro Jahr kommen gerade wegen
weltbildungsangebot wird jährlich für Fünftklässler
der für Mitteleuropa einmaligen Waldentwicklung in
aller Schultypen durchgeführt. Über 2000 Kinder
den Nationalpark“, konstatierte der damalige Bayeri-
haben dabei schon ihre Begeisterung für den Natio-
sche Umweltminister Markus Söder zum 40-Jährigen
nalpark Bayerischer Wald entdeckt. Sie dürfen – ein-
Jubiläum des Nationalparks im Jahr 2010. In den letz-
gekleidet mit blauem Junior-Ranger-T-Shirt – beim
ten Jahren zählte man sogar knapp die doppelte Zahl
Markieren der Wege helfen und Tierspuren zählen,
von Besuchern pro Jahr. Gut, dass die sich im riesi-
Vogelhäuschen bauen und Moore entdecken. Vor rund
gen Gelände so weit verteilen, dass das Waldgebiet
15 Jahren machte auch die kleine Alena mit – damals
niemals zu voll erscheint. Doch nicht nur die vielen Touristen fühlen sich im Nationalpark wohl. Scheue Luchse leben hier, erzählt Lettenmaier. Genau wie Rehe und Rothirsche erobern sie sich ihren Lebensraum zurück. Ebenso wie Elche, Füchse, Dachse und Marder, Fischotter, Biber oder Marderhund. Die Rangerin zeigt ihre Spuren und erzählt von ihrem Tageslauf. Selbst die schüchternen Wildkatzen konnten mit Fotofallen gesichtet werden. Seit mindestens 300.000 Jahren sind sie hier heimisch, schon lange bevor die Hauskatze mit den Römern nach Deutschland kam. Gut so. Schließlich ist es die wichtigste Aufgabe des Nationalparks, diese einzigartige Mittelgebirgs-
28
Alte Wälder und Berge | Der Mensch ist nur Zuschauer
c
d
landschaft als nationales Erbe für heutige und künf-
geschiedenen Knochen aus dem unverdaulichen Filz-
tige Generationen zu schützen. Wertvolle Biotope
knoten. Was hier wohl verspeist wurde? Ein Mädchen
wie Moore oder Fließgewässer werden bewahrt,
mit Zöpfen kennt die richtige Antwort: eine Maus.
gefährdete Tier-, Pflanzen- und Pilzarten geschützt,
Die Vogelwelt bewohnt hier Traumimmobilien:
ausgestorbene Arten wieder angesiedelt. Zu diesen
Fichten, Buchen, Tannen, Bergahorn, Ulmen, Eschen,
Rückkehrern zählt der Luchs. Die größte Katze des
Erben und Weiden. Aber auch Bodenbrüter wie das
europäischen Kontinents verschwand im 19. Jahrhun-
Auerhuhn haben es hier besser als anderswo. Wenn
dert aus dem Bayerwald – genauso wie Bär und Wolf.
sie auf Ackerböden brüten, so Lettenmaier, ist die Ge-
Ein Auswilderungsprojekt tschechischer Kollegen in
fahr groß, dass landwirtschaftliche Geräte sie über-
den 1980er Jahren sorgte schließlich dafür, dass der
fahren. Überhaupt werden Wiesen oft mit Gülle ge-
Jäger mit den Pinselohren wieder Fuß fassen konnte.
düngt und fünf bis sieben Mal im Jahr geschnitten. So
Als zweiter großer Beutegreifer ist auch der Wolf
gehen den Bodenbrütern viele Lebensräume verloren.
wieder heimisch. Und auch das bedrohte Auerhuhn,
Hier hingegen gehören ihnen Wegränder, Brachland
der Charaktervogel der Region, ist erst durch umfang-
und Böschungen. Man kann es sehen: Rechts und
reiche Schutzmaßnahme wieder in größerer Anzahl
links des Weges wuchern Farne wie verfilzte Kobold-
vertreten. Alles Tiere, die in den fortschrittsgläubigen
mähnen. Disteln und tote Äste versperren Besuchern
60er Jahren im herkömmlichen Wirtschaftswald kaum
das Durchkommen. Dazwischen locken Heidelbeer-
noch Überlebenschancen hatte.
und Himbeersträucher, von denen am Wegesrand ge-
c) Luchse auf einem Felsen d) Umstrittener Rückkehrer: der Wolf (Canis lupus)
nascht werden darf.
Traumimmobilien für die Vogelwelt
Laufend verändern sich die Wachstumsstadien des
Günter Sellmayer begeistert sich für die Vögel, die hier
Waldes. Einsame und mächtige Welten, in denen der
„wie im Paradies leben“. Darunter seltene Arten wie
Mensch nur Zuschauer ist, schwärmt Sellmayer. Wenn
Zwergschnäpper, Ringdrossel oder Dreizehenspecht.
er nach Wochen wieder in ein ihm vertrautes Gebiet
Seine Augen glänzen, wenn er vor seiner Gruppe den
zurückkommt, hat sich der der Bodenwuchs mitunter
Waldkauz imitiert, der tatsächlich so ruft, wie man es
enorm ausgebreitet und ist vierzig Zentimeter in die
aus Gruselfilmen kennt. Der Eichelhäher dagegen sei
Höhe geschossen. Über die Jahre haben manche Ge-
der „Wachhund im Wald“, erklärt er. Wenn sein heiserer
biete so stark ihr Aussehen variiert, dass der Ranger
Schrei ertönt, warnt er damit die restliche Tierwelt vor
findet, das muss „man eigentlich alles fotografisch
fremden Eindringlingen. Die Männer und Frauen nicken,
oder auf Film festhalten.“
sie konnten seinem Ruf soeben mehrmals lauschen.
Immer entwickelt sich etwas Neues. Das kann
Alena Lettenmaier zeigt derweil ihren Kindern das
jeder sehen, wenn er seine Sinne schärft. Wer den
„Gewölle“, die Nahrungsrückstände der Greifvögel. Sie
Nationalpark besucht, taucht in eine andere Welt ein.
verraten, wo diese wohnen und was auf ihrem Spei-
Alte und tote Bäume, junges Gehölz mit neuem Le-
sezettel steht. Andächtig packen die Kinder die aus-
ben, Felsblöcke: Besonders am Lusen in 1373 Metern
29
Auf dem Lusen in 1373 Meter Höhe liegt das Blockmeer: Auf mehr als 200.000 Quadratmetern türmen sich zahllose Blöcke aus Granitgestein. Von hier hat man außerdem einen hervorragenden Ausblick Der Rachelsee im Nationalpark Bayerischer Wald entstand nach der letzten Eiszeit aus dem Schmelzwasser eines Gletschers
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Alte Wälder und Berge | Der Mensch ist nur Zuschauer
Höhe gibt es eine geologische Besonderheit. Ein Meer
unwirklich scheint. Dort ist auch schon Lettenmaier
aus unzähligen Granitquadern mit einem einmaligen
mit den acht Kindern. Sie legt den Finger an die Lip-
Ausblick über den ganzen Bayerischen Wald, an schö-
pen, damit die dem Ruf des Wanderfalken lauschen, des
nen Tagen sogar bis in die Alpen.
schnellsten Greifvogels im Sturzflug. Dann erklärt sie
Eine ganz andere, fast gruselige Atmosphäre
die Feder, die eins der Kinder gefunden hat und zeigt
herrscht in den Moorgebieten und Schachten – den
die schallschluckenden Härchen daran, mit denen
ehemaligen Hochweiden zwischen Falkenstein und
der Raubvogel besonders leise fliegen kann. Zum Ab-
Rachel. Beim Anblick läuft vielen Gästen ein Schauer
schluss dürfen die kleinen Gäste am Fluss Ohe spielen,
über den Rücken. Das hängt mit der Geschichte der
über Äste balancieren, durch Lettenmaiers Fernglas
Hochmoore zusammen, sagt Lettenmaier: „Früher sind
schauen, barfuß am Ufer entlang um die Wette laufen.
die Menschen aus dem Moor teilweise nicht mehr he-
Die gesammelten Federn, Kieselsteine und Tierkno-
rausgekommen.“ Heute führen gesicherte Bohlenwege
chen finden klimpernd Unterschlupf in Hosentaschen.
durch das sumpfige Gebiet. Aber davon abgesehen
Und als die Eltern ihre Töchter und Söhne wieder ent-
gilt auch hier: Es ist gut, die Natur so gestalten zu
gegennehmen, erzählen nicht nur die aufgeregten Kin-
lassen, wie sie es „von Natur aus“ tut.
der von ihren Abenteuern. Auch die Blätter und Zweige,
Zum Ende seiner Führung lenkt Sellmayer seine
die noch im Haar stecken, die erdverkrusteten Zehen
Gruppe nun zum Rachelsee. Der See glitzert wie ein
und das Leuchten in den Augen zeigen den Ausflug in
geheimnisvolles Wasserauge und ist so klar, dass es
das lebendigste Biobuch Bayerns.
Links: Am Treffpunkt am Fluss Ohe lässt Günter Sellmayer ein Mädchen durch sein Fernglas schauen Rechts: Für die Kinder sind Wald und Fluss ein einziger großer Spielplatz
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Alte Wälder und Berge
Die robuste Rotbuche ist eigentlich der deutsche Baum schlechthin. Im dichten Wald kann sie bis zu 45 Meter hoch werden
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Alte Wälder und Berge | Der Mensch ist nur Zuschauer
Urwald im Herzen Deutschlands
Jürgen Nakott
Die Rotbuche ist die dominierende Baumart Mitteleuropas. Sie ist extrem anpassungsfähig und dient dem Menschen seit jeher als Holz- und Nahrungslieferant. Doch es gibt noch eine große Vielfalt uralter Buchenwälder in Deutschland – geadelt als UNESCO-Weltnaturerbe. Ein Besuch bei den Baumgreisen im Nationalpark Kellerwald-Edersee Deutsche Eiche? Von wegen. Der deutsche Baum ist
wendige Hitze zur Verhüttung von Erzen. Auch der
die Buche. Die Rotbuche Fagus sylvatica, um genau zu
Name „Kellerwald“ ist eine Ableitung vom „Köhler“.
sein. Den Beweis findet man im Register jedes belie-
Einige der Buchen, die zu des Köhlers Zeiten damals
bigen Atlasses. Von Buchau und Buchenberg reichen
keimten, stehen immer noch hier im Wald. An beson-
die Namensvarianten über Bookeloh und Bokensdorf
ders unzugänglichen Steilhängen kennt Frede sogar
bis Bookholt. Die Stadt Bocholt trägt die Buche sogar
400 Jahre alte Buchengreise, knorrig verdrehte Riesen,
im Stadtwappen. Rund 1500 Ortsbezeichnungen in
die aussehen, als hätten sie Tolkin als Vorbild gedient
Deutschland lassen sich auf die Buche zurückführen.
für seine gutmütige Baum-Armee im Kult-Epos „Der
Im grünen Schatten hoch aufragender Wipfel
Herr der Ringe“. Diese Buchen sind mit ein Grund da-
sitzen wir im Nationalpark Kellerwald-Edersee in
für, dass Teile des Kellerwaldes zusammen mit ande-
Nordhessen auf dem Leichnam einer 160 Jahre alten
ren alten Buchenwäldern in Deutschland seit Kurzem
Buche. Sie ist Opfer des Zunderschwamms gewor-
zum Weltnaturerbe der Menschheit gezählt werden,
den, erklärt Achim Frede, Abteilungsleiter Forschung
auf einer Stufe stehend mit dem Grand Canyon in den
und Naturschutz im Nationalpark und Fachmann für
USA, dem Great Barrier Reef vor Australien oder mit
Geschichte und Ökologie der Buchen. Er deutet auf
den Galapagos-Inseln.
Buchengreise wie diese knorrigen Gesellen machen den Kellerwald so einzigartig
mehrere faustgroße Wucherungen, die aus der Rinde wachsen: „Den Schwamm von der Unterseite dieses Pilzes hatte vor 5200 Jahren schon der Steinzeitmensch Ötzi in seiner Gürteltasche. Zum Feuermachen. Sie kennen den Begriff: brennt wie Zunder?“ Der Pilz hat den einst harten Kern des Buchenstammes in eine weiße, bröselnde Masse verwandelt, die kaum noch an Holz erinnert. In einem Wirtschaftswald wäre dieser Stamm vermutlich schon vor 40 Jahren zu Brettern verarbeitet worden. Erntereif wird die Rotbuche nämlich mit rund 120 Jahren, von Natur aus kann sie leicht 250 bis 300 Jahre alt werden. 300 Jahre – so alt mag die „Köhlerplatte“ sein, auf die wir von unserm Sitz auf dem Stamm blicken: eine kreisrunde Stelle im Wald, etwa 15 Meter im Durchmesser und Überbleibsel eines ehemaligen Holzkohlemeilers aus dem 18. Jahrhundert. In dieser Form lieferten die Buchen die not-
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ebenso im Norden, wo sie bereits die norwegischen Fjorde rund um Bergen erreicht hat. Ob die Rotbuche ihren Siegeszug dabei allein dem Klima zu verdanken hat, oder ob der Mensch bei ihrer Verbreitung eine maßgebliche Rolle spielte, ist bis heute ein Streitpunkt unter Fachleuten. Immerhin war die Buche als Bau- und Energieholz und als Nahrungslieferant für Mensch und Vieh unschätzbar wertvoll. Ihre Nüsschen, die Bucheckern, lieferten Öl zum Kochen und für Lampen, ihre jungen Blätter dienten als Salat oder Gemüse. Der botanische Gattungsname der Buche, Fagus, geht auf das griechische Wort phagein zurück, was essen bedeutet. In einem anderen Punkt dagegen sind sich Botaniker und Ökologen einig: Ohne ihre enorme Anpassungs- und Konkurrenzfähigkeit wäre die Rotbuche nie zur dominierenden Baumart Mitteleuropas geworden. Die Punkte markieren die Weltnaturerbestätten. Die grüne Fläche steht für die natürliche Verbreitung der Buchenwälder in Europa Zum Essen sind die leicht giftigen Bucheckern nur bedingt geeignet, dennoch wurde ihr Öl oft zum Kochen verwendet
34
Was diese Wälder weltweit einzigartig macht, ist,
Sie wächst auf saurem Gestein ebenso wie auf alka-
dass die Rotbuche nur in Europa wächst. Zwar gibt
lischen Böden, sie toleriert halbtrockene, feuchte bis
es einige andere Buchenarten verstreut im Osten der
halbnasse Bodenverhältnisse, sie gedeiht vom Tiefland
USA und in Hochlagen Japans, großflächige Buchen-
bis in Höhen von 1500 Meter und zeigt dabei überall
wälder aber sind ein europäisches Phänomen, und
ein anderes Erscheinungsbild, je nachdem, welche an-
Deutschland ist die Mitte des Verbreitungsgebietes.
deren Pflanzen neben und unter ihr vorkommen. Bo-
Und die Ausbreitung, deren letzte Episode mit dem
taniker unterscheiden vor allem den Seggen-Buchen-
Sprung über die Alpen vor etwas mehr als 5000 Jah-
wald (trocken alkalisch), den Hainsimsen-Buchenwald
ren begann, ist noch nicht zu Ende.
(trocken bis frisch, sauer), den Waldmeister-Buchen-
Zu unseren Füßen breitet Achim Frede Karten und Tabellen im raschelnden braunen Laub aus. „In der
wald (frisch bis feucht basisch) und den Eichen-Buchenwald (wechselfeucht und mäßig sauer).
letzten Eiszeit, die vor 10.000 Jahren endete, überlebte die Rotbuche im Mittelmeerraum, im Gebiet des
Vielfalt vor der Haustüre
heutigen Sloweniens, wie uns genetische Untersu-
Weltweit einzigartig ist auch, dass die typischsten
chungen zeigen“, sagt Frede. Danach folgte eine län-
Mittelgebirgs- und Flachlandausprägungen aller dieser
gere Warmphase, in der sich zuerst Eichen, Ulmen und
Typen in Deutschland vorkommen. Ein weiterer Grund,
Linden ausbreiteten. Die Chance der Rotbuche kam,
warum die uralten, zum Teil nie genutzten Buchenbe-
als es vor 7000 Jahren wieder etwas kühler wurde.
stände 2011 in die Liste der UNESCO-Weltnaturerbe
Seitdem gleicht ihre Ausbreitung einem Geschwind-
stätten aufgenommen wurden, als Ergänzung zu den
marsch. 150 bis 350 Meter drängte sie pro Jahr in
Buchenurwäldern in der Ukraine und in der östlichen
nordwestlicher Richtung quer durch Mitteleuropa.
Slowakei: „Buchenurwälder der Karpaten und Alte Bu-
Vor 6000 Jahren hatte sie die Ostschweiz erreicht und
chenwälder Deutschlands“ lautet der exakte Titel.
nur 3000 Jahre später bereits die Bretagne in Frank-
Fünf Regionen in Deutschland müsste man besu-
reich, wo sie dann auch den Sprung auf die Britischen
chen, um die ganze Vielfalt dieser Buchen-Urwälder
Inseln schaffte. Dort hält ihre Expansion bis heute an,
zu erleben: Die vier Nationalparks Kellerwald-Edersee
Alte Wälder und Berge | Urwald im Herzen Deutschlands
in Hessen, Hainich in Thüringen, Jasmund auf Rügen
seiner ungewöhnlich vielen „Methusalembuchen“, die
sowie Serrahn in der Müritz in Mecklenburg-Vorpom-
weit über 200 Jahre alt sind.
mern, außerdem den Grumsin im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in Brandenburg.
Davon, dass die Bezeichnung eines deutschen „Galapagos“ nicht übertrieben ist, kann man sich ex-
Im Kellerwald wachsen die bodensauren Hainsim-
emplarisch bei einer Exkursion über den 68 Kilometer
sen-Buchenwälder der Mittelgebirge auf Schiefer und
langen Urwaldsteig rund um den Edersee überzeugen.
Grauwacke. Der Grumsin repräsentiert die Tiefland-
Ein Großteil der steilen Hangwälder sind seit dem
buchenwälder auf eiszeitlichen Sanden und Lehmen.
Bau der Staumauer vor hundert Jahren nicht mehr
Auch in der Müritz-Region Serrahn bestimmen eiszeit-
von Menschen genutzt worden, manche unzugäng-
liche Sande die Artenzusammensetzung. Durchzogen
liche Kernflächen wahrscheinlich noch niemals.
von Seen und Mooren kommt diese Gegend dem
Hier kann man streckenweise beobachten, was
Grauen der „undurchdringlichen Wälder Germaniens“
niemand besser formuliert hat, als der französische
wohl am nächsten. So beschrieb jedenfalls der römi-
Historiker und Philosoph Alexis de Tocqueville:
sche Geschichtsschreiber Tacitus die Wahrnehmung
„Stämme, die ihre Äste nicht mehr tragen können, ha-
seiner Landsleute und Legionäre, die vor 2000 Jahren
ben sich auf halber Höhe gespalten und bieten dem
das Land erobern sollten. Ganz anders der Buchen-
Auge nur noch eine zersplitterte Spitze. Andere sind
wald des Jasmund auf Rügen. Er steht auf Kreide, ty-
in einem Stück zur Erde gestürzt. (…) Mehrere Genera-
pisch sind hier Orchideen, Riesenschachtelhalme und
tionen von Toten liegen nebeneinander. Die einen, im
Zwiebelzahnwurz im Unterwuchs. Im Hainich wach-
Endstadium der Auflösung, zeigen (…) nur noch eine
sen die artenreichsten Buchenwälder auf Kalkgestein.
lange rote Spur im Gras; andere, von der Zeit schon
In dieses Mosaik ökologisch sehr unterschied-
Blick vom Schloss Waldeck auf den Edersee. Im Hintergrund ist die Staumauer zu erkennen und die bewaldeten Gebirgs züge des Nationalparks Kellerwald
halb verbraucht, behalten noch ihre Form.“
licher Bestände, die zusammen die biologische Viel-
Um das zu sehen, muss man keine Zeitreise in
falt der alten Buchenwälder repräsentieren, würde
die Waldwildnis Amerikas zu Beginn des 19. Jahr-
nach Ansicht von Fachleuten eigentlich auch noch
hundert machen, die Tocqueville hier beschreibt. Es
der Spessart im Nordosten Bayerns gehören – wegen
reichen ein Bahnticket in die Mitte Deutschlands,
35
b
a
Urtümliche Vielfalt:
feste Schuhe und eine durchschnittliche Kondition,
gelten, schwärmten auch Moos- und Pilzexperten aus
a) Ästiger Stachelbart (Hericium coralloides)
und nach wenigen Viertelstunden wird man keinen
und stießen ihrerseits auf Arten, die nur in teils Jahr-
anderen Menschen mehr sehen, keinen Laut mehr hö-
hunderte alten, unberührten Buchenwäldern zuhause
ren außer dem Knarzen der Baumstämme im Wind:
sind. Solche Altwaldzeiger sind bei den Pilzen etwa
angekommen im Buchen-Urwald.
der Ästige Stachelbart und der Mosaikschichtpilz.
b) Feuersalaman der im Laub
Über Jahrmillionen verfestigten sich Sand und Tonablagerungen eines ehemaligen Meeres zu Tonschiefer und Grauwacke (im Bild)
Dass es wirklich Urwald ist, davon zeugen Tiere
Während an solchen Entdeckungen allerdings
und Pflanzen, die nur in weitestgehend unberührter
eher biologische Spezialisten ihre Freude haben,
Natur vorkommen. Bei den Käfern haben Biologen
lassen die Buchen-Naturwälder auch den aufmerk-
bisher elf solcher Urwaldreliktarten gefunden, dar-
samen Laien eine ungewöhnliche Vielfalt erleben:
unter der Veilchenblaue Wurzelhalsschnellkäfer so-
Schwarzstorch, Feuersalamander, Uhu und Wildkatze
wie Panzers Wespenbock. Der 12 Millimeter große,
sind hier zuhause, sieben Spechtarten wurden al-
metallisch schimmernde Schnellkäfer braucht zur
lein im Kellerwald gesichtet, außerdem die seltene
Entwicklung alte Laubbäume, vorzugsweise Buchen,
Bechtsteinfledermaus und 17 andere Fledermausar-
deren Stamm hohl und mit gut durchfeuchtetem
ten. Unter den insgesamt etwa 10.000 verschiedenen
Mulm ausgefüllt sein muss. Nachdem man die ers-
Tierarten sind allein 1000 Käferarten. Sie profitieren
ten Insekten entdeckt hatte, die als Urwaldbewohner
davon, dass im Nationalpark nicht aufgeräumt wird: „Im Totholz tobt das Leben“, bringt es Achim Frede auf den Punkt. Ein Leben, das auch die Vogelwelt zu schätzen weiß. Eine einzige große Buche kann Revier für bis zu 20 Vogelarten in unterschiedlichen Nischen sein: Von der Amsel, die in der Bodenstreu nach Insekten sucht, über diverse Spechtarten und Kleiber am Stamm, Zaunkönig und Kohlmeise in den unteren Zweigen, Gimpel und Eichelhäher in höheren Regionen, Zilpzalp und Fitis in der Baumkrone.
Fit für den Wandel So ein alter Wald hat Zukunft, selbst in Zeiten des Klimawandels. Deutliche Anzeichen dafür sieht der Wanderer auf dem Urwaldsteig etwa im Bereich der Wooghölle am Südufer des Edersees. „Aus der Sicht menschlicher Nutzung wirklich ein höllischer Teil des Waldes“, erklärt Frede. „Woog“ ist ein alter Begriff
36
Alte Wälder und Berge | Urwald im Herzen Deutschlands
c
d
für die Grauwacke, die dort den Untergrund bildet,
begraben drohten. Auch diese Pflanze ist eine nach-
und zwar in Form einer Grauwacken-Blockhalde:
eiszeitliche Reliktart, die an den Steilhängen der Eder
Lose Gesteinsbrocken liegen dicht unter dem Laub
seit mehr als 10.000 Jahren in leuchtendem Neonpink
auf extrem steilen Hängen. Hier, wo nicht einmal
blüht.
die Hufe der kletterfreudigen Ziegen Halt fanden,
Um sie zu retten, griff die Nationalparkverwaltung
war dem Menschen nie eine Bewirtschaftung mög-
zu einem außergewöhnlichen Mittel: 350 Kiefern
lich. Von hier aus hat man einen guten Blick auf das
wurden per Hubschrauber aus dem Wald gehievt.
gegenüberliegende Nordufer des Stausees. An vielen
Eine heikle Aktion, da Baumkletterer mit Kettensägen
Stellen sieht man trockene Fichtenwipfel aus dem
und Helikopterpiloten sekundengenau aufeinander
ansonsten wogenden grünen Baldachin der Buchen-
abgestimmt agieren mussten. Aber es ging alles gut,
kronen ragen. Trockenheit und steigende Temperatu-
die Pfingstnelke ist gerettet und die Natur kann sich
ren setzen dem eher nordisch-montan verbreiteten
weiter entfalten.
Nadelbaum stärker zu als der Buche. An den Hängen
Heute beträgt der Anteil der Buchen im National-
hat sie noch einen weiteren Konkurrenzvorteil: Mit
park Kellerwald-Edersee rund 65 Prozent, dazu kom-
ihren krakenhaft ausgreifenden Wurzeln kann sie
men circa 13 Prozent Eichen und einige Kastanien,
Wind und Wetter besser widerstehen, anders als die
Ulmen, Linden, Birken und Eschen. Der Anteil der
Fichte, die ihren hohen Stamm auf einem flachen
Fichten und Kiefern wird zusehend kleiner, und die
Wurzelteller balanciert.
von früheren Förstergenerationen angepflanzte ame-
Das bewies zuletzt in größerem Maßstab der Win-
rikanische Douglasie findet man immer öfter nur noch
tersturm „Kyrill“ im Jahr 2007. Er nahm den Förstern,
als halbierte Stämme am Rand der Wanderwege –
die den Wechsel vom Nadelholz zu Laubbäumen vo-
glattgehobelt in Form von Sitzbänken.
rantreiben, einen großen Teil Arbeit ab, indem er die
Das Konzept geht auf: Voraussichtlich noch im
Fichten gleich hektarweise umlegte. „Zig Flächen wa-
Lauf des Jahres 2020 wird der Nationalpark Keller-
ren nur noch ein wildes Mikado“, erinnerte sich noch
wald-Edersee um rund ein Drittel seiner Fläche er-
zehn Jahre später der Förster Harald Hofmann in der
weitert. Gefordert und unterstützt von den Menschen
„Oberhessischen Presse“ an die Waldbegehung am Tag
der Region. Denn während andernorts, etwa im frän-
nach dem Orkan.
kischen Steigerwald, erbittert gegen die Ausweisung
Nur in seltenen Ausnahmen, greift der Mensch
eines Nationalparks argumentiert wird, haben die
in wenigen Sonderpflegezonen zugunsten der Laub-
Nordhessen nicht zuletzt das touristische Potenzial
bäume ein. Dann, wenn der drohende Untergang einer
ihres Nationalparks wertschätzen gelernt. Deswegen
besonderen Art Vorrang hat vor dem Leitsatz des Ge-
sollen nun auch die artenreichen Urwaldrelikte auf
schehen Lassens. So war es im Jahr 2014, als herab-
der Nordseite des Edersees Teil des Nationalparks an-
rieselnde Kiefernnadeln den Bestand der äußerst
geschlossen werden. Das „grüne Herz Deutschlands“
seltenen und besonders geschützten Pfingstnelke zu
schlägt kräftiger denn je.
c) Jungtiere des Uhus (Bubo bubo) d) Veilchen blauer Wurzelhalsschnellkäfer
Die seltene und stark bedrohte Pfingstnelke (Dianthus gratia nopolitanus)
37
Alte Wälder und Berge
Still und friedlich liegt der dichte, grüne Fichtenwald im Morgenlicht
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Alte Wälder und Berge | Urwald im Herzen Deutschlands
Wald im Wandel
Fabian Franke
Im Harz wuchs Fichte, der Luchs war ausgerottet. So war es Jahrhunderte. Doch der Nationalpark bringt den Luchs zurück und verändert das Waldbild. Nicht allen gefällt das Es war einmal eine Riesin, die in unserem Erdball ge-
1990er Jahren immer weniger. Und Hexenpuppen
fangen war. Voller Verzweiflung hämmerte sie mit den
verstauben in den Schaufenstern. Doch es gibt einen
Fäusten von innen gegen die Kruste. So entstanden
neuen Motor in der Region, der Dinge in Bewegung
die Alpen, der Himalaya, die Rocky Mountains. Die Rie-
bringt: den Nationalpark Harz.
sin wollte sich befreien, holte zum Tritt aus. Ihr Schuh
2006 wurde er aus zwei bestehenden National-
presste sich durch Gesteine und Wälder, drückte
parks in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt zu-
Schicht um Schicht nach außen. So entstand der Harz.
sammengelegt. Er will mit Traditionen brechen. Wo
Eine Vorstellung, der Fantasie entsprungen für
es Jahrhunderte um die Fichte, den „Brotbaum des
diese Seiten. Das Mittelgebirge, aus der Luft be-
Försters“ ging, entsteht unangetastete Wildnis. Und
trachtet einem Schuhabdruck tatsächlich ähnlich,
der Luchs, 200 Jahre lang ausgerottet, wird wieder
setzt seit Jahrhunderten die Vorstellungskraft seiner
angesiedelt. Das zieht Touristen an, einige Millionen
Besucher frei: Den Gebrüdern Grimm diente es als
jährlich. Mit seinen 247 Quadratkilometern bedeckt
Wundertüte für Sagen und Märchen. Und Goethe lässt
der Nationalpark nur zehn Prozent der Fläche des ge-
in Faust die Hexen auf seinem höchsten Berg, dem
samten Harzes. Und trotzdem wird er damit zu einem
Brocken tanzen.
wichtigen Treiber für Veränderungen: in der Natur, im
Über 100 Kilometer Länge und 40 Kilometer
Tourismus und im Selbstverständnis der Region.
Breite erstreckt sich der Harz in Deutschlands Mitte,
Einer, der dazu beiträgt, ist Ole Anders. Der 49-
streift dabei drei Bundesländer: Niedersachsen, Sach-
Jährige hockt am Rand einer Forststraße am nord-
Der Brocken hat schon so einige Künstler und Literaten inspiriert. Bei Johann Wolfgang von Goethe tanzen hier die Hexen in der Walpurgisnacht
sen-Anhalt und Thüringen. Wie eine Festung, aufgetürmt aus Granit und Schiefer, erhebt er sich aus der norddeutschen Tiefebene. Hier bricht sich das Wetter, Wolken verfransen sich und regnen ab. Über 300 Tage im Jahr hüllt der Brocken, 1141 Meter hoch, seinen Kopf in Nebel. Darunter, an den Hängen: dichter grüner Fichtenwald, in Ebenen hintereinander geschichtet, unterbrochen durch hier und da einen Teich oder Felsen. Erst an den Rändern, ab 600 Höhenmetern abwärts, geht der Fichtenwald vereinzelt in Laubwälder über. Eine mystische Landschaft, lange geprägt durch den Bergbau mit seinen Fachwerkstädtchen und später den Kurtourismus, von dem vielerorts das vorangestellte „Bad“ an den Ortsschildern zeugt. Mittlerweile ist das letzte Bergwerk geschlossen. Kurgäste kommen seit der Gesundheitsreform in den
39
Ole Anders zieht die Speicherkarte aus der Kamera. Die Fotos wird er später zusammen mit seiner Kollegin auswerten. Ist ein neuer Luchs im Revier? Wurde Nachwuchs geboren? Sind die Tiere gesund? Dass die Wildkameras direkt an den Forststraßen angebracht sind, ist nicht etwa Bequemlichkeit, erklärt Anders: „Der Luchs nutzt gerne die Wege der Menschen. Das macht es auch für ihn einfacher, weite Strecken zurückzulegen.“ Die Fotofallen reichen als Datenquelle trotzdem nicht aus. Das Luchsprojekt ist auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Immer wieder gehen Anrufe und verschwommene Handyfotos von Luchsen ein. Eine besondere Chance ergibt sich, wenn Förster oder Jäger ein frisch gerissenes Reh entdecken. Denn ein Luchs kehrt in der Nacht zu seinem Riss zurück, bis zu Ole Anders überprüft regelmäßig die Fotofallen und wechselt die Speicherkarten der Kameras. Die Bilder helfen ihm, die Zahl der Luchse im Nationalpark zu schätzen
westlichen Rand des Nationalparks und fingert den
einer Woche frisst das 25 Kilo schwere Tier an seiner
Verschluss einer grauen Plastikbox auf. Darin: eine
Beute. Ein guter Moment, einen Metallkäfig aufzu-
Wildkamera. Eine von fünf auf dem Gebiet des Natio-
stellen, den Riss hineinzulegen und abzuwarten. „In
nalparks, an bis zu 60 Standorten sind sie im gesam-
der Nacht geht dann keiner schlafen, da ist die Auf-
ten Harz aufgestellt. Anders ist auf der Suche nach
regung groß“, erzählt Anders. Tappt der Luchs in die
einem Tier, das sein Berufsleben seit 20 Jahren be-
Falle, meldet das ein Sender am Käfig. Nach einer Be-
stimmt: dem Luchs.
täubung werden dem Luchs DNA-Proben entnommen
Bis ins 19. Jahrhundert war er hier heimisch. Die markante Raubkatze mit dem hellen, gescheckten
und ein Sendehalsband angelegt. Damit wird er zur laufenden Datenquelle.
Fell, dazu die spitzen Haarbüschel über den Ohren,
Und die gesammelten Daten zeigen: Rund 55 aus-
genannt Pinsel, gehörte zum Wald wie Rehe oder
gewachsene Tiere teilen sich mittlerweile den gesam-
Wildschweine. Doch umso mehr Land Bauern und Jä-
ten Harz in Reviere auf. Luchse durchstreifen ein Ge-
ger für sich beanspruchten, umso mehr wurde er zum
biet zwischen 100 und 400 Quadratkilometern. Zum
Störfaktor, riss Schafe und Ziegen, Rehe und Rotwild.
Vergleich: München ist 300 Quadratkilometer groß.
Am 17. März 1818 wurde das letzte Exemplar getötet.
Die Jungtiere trennen sich nach etwa einem Jahr von
Ein Gedenkstein erinnert an diesen Tag.
der Mutter und suchen sich ein eigenes Revier. Dort ziehen sie ihren Nachwuchs groß. Da der Harz inzwi-
40
Neue Nachbarn
schen schon belegt ist, bewegen sich die Tiere bereits
Ende der 1990er Jahre entschied die Niedersächsi-
heraus aus den Fichtenwäldern Richtung Kaufunger
sche Landesregierung: der Luchs soll in den Harz
Wald oder Solling.
zurückkommen. Anders war von Beginn an dabei, in
Ole Anders reicht das nicht: „Das alles bringt nur
den ersten sieben Jahren des Wiederansiedlungs-
was, wenn wir die Populationen miteinander ver-
projekts ließen der Forstingenieur und seine Kolle-
netzen. Denn sonst sind sie einfach viel zu klein, um
gen 24 Exemplare frei. Die Erfolgsaussichten waren
auf lange Sicht zu existieren.“ In ganz Deutschland
dennoch vage, denn die menschliche Zivilisation
werden aktuell 135 Exemplare eindeutig gezählt,
birgt Tücken: Straßen, Stacheldrähte, Abschüsse.
Schätzungen gehen jedoch von 200 Tieren aus. Der
Alte Wälder und Berge | Wald im Wandel
Großteil von ihnen lebt im Harz, die anderen im Baye-
herum. Im Nationalpark arbeiten, speziell im Luchs
rischen Wald und seit wenigen Jahren auch im Pfälzer
projekt, bedeutet auch: Akzeptanz schaffen.
Wald. Würden diese Luchspopulationen sich unter-
Um zu verstehen, warum der Wald im Harz aus-
einander paaren, bliebe der Genpool vielfältig – und
sieht, wie er aussieht, hilft ein Blick in die Vergangen-
damit widerstandsfähig. „Die Vernetzung wäre der
heit. Die ist geprägt vom Bergbau. Seit etwa 3000 Jah-
nächste wichtige Schritt.“ Dafür müsste der Luchs auf
ren wurden Stollen tief in die Berge getrieben, um an
gesamtdeutscher Ebene aktiver gefördert werden, mit
wertvolles Silber, Blei, Kupfer und Zink zu gelangen.
verbindlichen und klar formulierten Zielen seitens der
Dazu benötigte man Unmengen Holz: Baumstämme
Politik, findet Anders: „Wir müssen dringend ein bun-
stützten das Innere der Stollen, dienten als Bohlen für
desweites Konzept entwickeln.“
die Bahnschienen, als Verkleidung für Wasserkanäle, als Baumaterial für Häuser. Mit Feuern aus Holzkohle
Wandel braucht Erklärung
wurden die Metalle verflüssigt. Zeichnungen aus die-
Doch am Anfang sei die Skepsis groß gewesen. Vor
ser Zeit zeigen kahlgeschlagene Bergkuppen, gebettet
allem Jäger hätten sie überzeugen müssen, sagt An-
in wabernden Kohlenrauch.
ders: „Da ist vor allem die Angst, durch ein wildlee-
Die Epoche des Bergbaus ist vorbei, 2007 schloss
res Revier zu laufen, für das man im Jahr ein paar
die letzte Grube in Bad Lauterberg. Viele Bergwerke
Tausend Euro hinblättert.“ Früh habe man deshalb
und zugehörige Anlagen gehören zum UNESCO-Welt-
zusammengearbeitet, die Landesjägerschaft Nie-
erbe, sie sind heute Ausflugsziel für Touristen. Doch
dersachsen zählt seit Beginn zu den Trägern des
noch immer bestimmt der Bergbau das Landschafts-
Luchsprojektes. „Wir alle hier sind aktive Jäger, wir
bild: geschlossener, dunkelgrüner Fichtenwald.
sprechen dieselbe Sprache.“ Trotzdem merke man
Denn dort, wo ab dem 18. Jahrhundert aufgefors-
die Veränderung in einigen Revieren, gibt Anders zu.
tet wurde, pflanzte man Fichte. In den Höhenlagen ab
Im Landkreis Goslar beispielsweise lag der Durch-
800 Metern war sie ohnehin heimisch. Zudem barg sie
schnittswert der Rehwildabschlüsse pro Jagdjahr
viele Vorteile. Schon nach 70 Jahren kann der schnell
zwischen 1993 und 1999 bei 1485 Stück. Zwischen
wachsende Baum gefällt werden, das Holz ist stabil
Die Rückkehr des Luchses in den Harz war politisch gewünscht. Und allem Anschein nach fühlen sich die Wildkatzen hier sehr wohl
2009 und 2015 waren es 1137 Stück. „Auch wenn nicht sicher feststeht, dass der Rückgang ausschließlich auf den Luchs zurückzuführen ist, so wird er zumindest seinen Anteil daran haben“, erklärt Anders. Auch Wanderer und Touristen seien zuerst verunsichert gewesen. Sind die Luchse gefährlich? Kann ich noch wandern gehen? „Heute merken sie, dass man den Luchs kaum sieht.“ Anders manövriert den Wagen über die Serpentinen der holprigen Forststraße, die sich an den Hängen des Odertals aufwärts schlängelt. Entgegenkommende Wanderer treten zur Seite, ihr Blick bleibt an einem Schriftzug hängen, der quer über die Motorhaube gedruckt ist: „Luchsprojekt Harz“. Anders grüßt freundlich, sie grüßen zurück. Begleitet man ihn bei seiner Arbeit, wird deutlich: Der Wandel, der im Nationalpark stattfindet, braucht die Erklärung drum
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Meist ist der Gipfel des Brocken vom Nebel eingehüllt. Doch bei schönem Wetter offenbart sich eine beeindruckende Aussicht
und gleichzeitig flexibel. Um viel Ertrag auf wenig Flä-
den. Etwa eine halbe Million Bäume sind es derzeit
che zu ermöglichen, setzten die Forstwirte die Stämme
jährlich, hauptsächlich Buche, aber auch Bergahorn und
wie beim Ackerbau: in Monokulturen, dicht an dicht.
Esche. Denn wo sollen die Laubbäume sonst herkom-
In den 1980er Jahren begannen die Niedersächsischen Landesforsten mit dem „Walderneuerungs-
men, wenn es in der Region nur Samen von Fichten gibt? Hier hilft man der Natur auf die Sprünge.
programm Harz“, die Monokulturen aufzubrechen und
Von der Naturdynamikzone müssen alle die Finger
Laubbäume zu pflanzen. Ein Zugewinn für die Wald-
lassen. Umgefallene Bäume bleiben liegen, nirgends
ökologie. Denn stehen Fichten in Reih und Glied, halten
wird eine Säge angesetzt oder ein Zögling in die Erde
ihre Kronen das Sonnenlicht fern. Und dieses fehlt dann
gesteckt. Bis 2022 soll dieser Anteil auf 75 Prozent
jungen Laubbäumen, Farnen und Gräsern am Boden.
steigen. Auch tote Bäume sind gewollt. Etwa 20 bis
Der Nationalpark dreht diese Idee noch weiter:
30 Prozent der im Wald lebenden Arten, so schätzt
Der Wald soll Wildnis werden. Ein Experiment, fernab
die Nationalparkverwaltung, sind darauf angewiesen:
vom Kostendruck und Gewinnerwartung. Dafür ist die
Spechte, Pilze oder Käferarten wie der Borkenkäfer.
Fläche in zwei Zonen aufgeteilt. Menschlicher Eingriff
Doch das sorgt in den letzten Jahren häufig für
ist nur in der Naturentwicklungszone erlaubt. Auf etwa
Kritik. Denn überall im Nationalpark fallen abgestor-
40 Prozent der Fläche dürfen besonders dicht stehende
bene Baumstämme auf, die in den Himmel ragen. Da-
Fichten gefällt und junge Laubbäume gepflanzt wer-
zwischen gelbgrüne Grasbüschel und graues Totholz. Kahle Flecken im Fichtenteppich. An manchen Stellen sehen Bergkuppen nicht nach wildem Mischwald aus, sondern wie ein mit Streichhölzern gespickter Medizinball. Die trockenen Sommer der vergangenen Jahre
Der Fichtenborkenkäfer ist der Albtraum jedes Waldbe sitzers. Doch im Nationalpark darf er ungestört fressen
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haben dazu geführt, dass der Borkenkäfer sich stark vermehren konnte. Fehlt den Fichten Wasser, verlieren sie die Fähigkeit Harz abzusondern – ihr natürlicher Abwehrmechanismus. Deshalb kann der Käfer sich ungehindert in der Rinde ganzer Baumgruppen einnisten, bis sie absterben. In den Wirtschaftswäl-
Alte Wälder und Berge | Wald im Wandel
dern außerhalb des Nationalparks werden befallene
Fleischbrocken, die gleich zu ihnen durch den Käfig
Bäume schnell entfernt, in der Naturdynamikzone
geworfen werden.
hingegen bleiben sie stehen.
Ein Gehege so groß wie ein Fußballfeld für ein
„Manche befürchten, dass die Touristen ausblei-
Tier, das sonst bis zu 400 Quadratkilometer durch-
ben“, erzählt Ole Anders bei der Fahrt durch den Na-
streift? „So ein Gehege ist immer zu klein“, gibt An-
tionalpark. Touristen, die von weit anreisen für einen
ders zu. Aber die Medienresonanz, die sie mit diesem
intakten Wald – und dann an die Bilder aus den 80er
Gehege erreicht hätten, habe viel zur Akzeptanz des
Jahren erinnert werden, als ganz Deutschland über
Luchses beigetragen. „Diese Tiere hier sind Botschaf-
das Waldsterben diskutierte.
ter für ihre Artgenossen in der freien Natur.“
Aber das hier sei eben kein Waldsterben, es sei
Der Luchs ist im Nationalpark mittlerweile wieder
Walderneuern, „der Wildnis beim Wachsen zusehen“,
heimisch. Lange hat es gedauert, diese Veränderung
sagt Anders. „Es gibt für mich nichts ökologisch lang-
herbeizuführen. Aber nun wird der neue Nachbar auch
weiligeres als eine Fichtenwüste.“ Mit ausladenden
von der Bevölkerung angenommen und willkommen
Handbewegungen deutet er hingegen auf die Land-
geheißen. Ob es mit der Waldwildnis genauso schnell
schaft vor dem Fenster, auf Spechthöhlen im Totholz,
geht? Auch hier wird die Akzeptanz Zeit brauchen.
junge Buchen und die Wurzelteller umgestürzter Fich-
Manchmal eben gar Jahrzehnte.
ten. „Also ich muss ehrlich sagen, ich find das schön. Ein großartiges Waldbild!“ Was jetzt tot aussehe, sei in einigen Jahrzehnten vielfältige Natur. „Wenn die Leute das mal zehn Jahre begleitet haben und sehen, wie es sich verändert, ändern die meisten auch ihre Meinung.“ Der Nationalpark bringt damit nicht nur den Luchs als neuen Waldbewohner zurück. Er verändert auch das Landschaftsbild, an das die Menschen im Harz Jahrzehnte gewöhnt waren.
Im Dienste der Artgenossen Anders parkt den Pickup am Rand der Forststraße. Ein Linienbus drängt sich an ihm vorbei, mitten im Wald. Wanderer mit Kindern und Hunden strömen auf ein Gehege zu, das gut versteckt am Rand der Rabenklippe liegt. „Ganz schön viel los“, sagt Anders. Rund 200 Menschen drängen sich auf einer Aussichtsplattform und an einer Balustrade, hinter der ein vier Meter hoher Drahtzaun beginnt. „Herzlich Willkommen zur Luchsfütterung“, schallt ein Ranger durch ein Mikrofon. Ole Anders steht etwas abseits und lächelt. Das Luchsgehege wollte er gerne noch zeigen – es ist ein Aushängeschild des Luchsprojektes. Pamina, Tamino, Alice, Ellen und Paul laufen hinter dem Zaun auf und ab, warten auf die
Ein toter Wald? Mitnichten. Unter den kahlen Bäumen tobt das Leben
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Alte Wälder und Berge
Auf dem Baumkronenpfad bewegen sich die Besucher auf Augenhöhe mit den herbstlich bunten Wipfeln. Der Hainich beherbergt das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands
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Alte Wälder und Berge | Wald im Wandel
Auf halbem Weg zur Wildnis
Fabian Franke
Im Hainich wurde lange scharf geschossen. Heute konserviert ein Nationalpark die alten Bäume und wild wuchernde Natur auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen Christian Volk berührt mit der Hand die Vergangen-
Militär dann nach und nach von den Übungsplätzen
heit. Seine Fingerkuppen gleiten über die grau-
ab. Und am 31. 12. 1997 wurde der Nationalpark ge-
grüne Rinde einer Rotbuche, etwa 120 Jahre altes
gründet, flächenmäßig fast deckungsgleich mit der
Holz, 65 Jahre älter als er, 30 Meter höher. Er legt
ehemaligen Militärzone.
den Kopf in den Nacken, schaut hinauf ins Blätter-
Knapp drei Viertel seiner 75 Quadratkilometer
dach, lauscht den Amseln, den Buchfinken, ab und
sind bewaldet. Dazwischen weiden Schafe, Wiesen
an einem Pirol.
werden sich selbst überlassen und Bäume schnellen
Volk ist seit 2005 Ranger im Nationalpark Hai-
in die Höhe, wo früher Panzer die Erde planierten.
nich im Nordwesten Thüringens. Heute, an diesem
Momentan greift auf 90 Prozent der Fläche im Na-
Samstagmittag, führt er ein älteres Ehepaar aus Nord-
tionalpark kein Mensch mehr ein. Damit liegt im Park
deutschland und eine Wanderin aus Süddeutschland
mit mehr als 50 Quadratkilometern auch das größte
über mäandernde Pfade durch den dichten Laub-
nutzungsfreie Laubwaldgebiet Deutschlands.
wald. Früher, vor 30 oder 40 Jahren, wäre es hier nicht ungefährlich gewesen, erzählt Christian Volk. „Die
Wandern unter Buchen
Bäume dienten als Kugelfang. Jetzt kann sich der ge-
Christian Volk stapft in seiner Rangerkluft über den
schundene Wald zum Urwald entwickeln.“
Waldboden. Vier Kilometer wird er mit der kleinen
Der Hainich, ein bewaldeter Höhenzug aus Mu-
Gruppe über den Naturpfad Thiemsburg laufen. Zu
schelkalk, zieht sich nördlich von Eisenach am Rand
den geführten Wanderungen kämen mal zehn, mal
des Thüringer Beckens entlang. An den Seiten endet
nur drei Leute, wie heute. „Ist ja auch mal ganz schön“,
der Laubwald abrupt dort, wo die fruchtbaren Felder
sagt Volk, der einen fröhlichen Gesichtsausdruck hat,
des Beckens beginnen. Zur Mitte steigt der Höhenzug
auch wenn er nicht lächelt. Um ihn herum an einer
gemächlich an und erreicht mit dem Alten Berg eine
Leine schnüffelt die dreijährige Tilda, eine gescheckte
maximale Höhe von 493,9 Meter. Der 160 Quadrat-
Mischung aus Beagle und slowakischer Bracke.
kilometer große Hainich beherbergt das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands. Teile davon waren Jahrzehnte lang Sperrgebiet. Auf zwei Truppenübungsplätzen im Süden des Hainichs übten Divisionen Krieg, testeten Panzer und feilten an ihren Taktiken: Auf dem Übungsplatz Kindel schoss erst die Wehrmacht, danach waren es russische Streitkräfte. Der Übungsplatz Weberstedt wurde ab 1965 von der Nationalen Volksarmee der DDR und nach der Wiedervereinigung von der Bundeswehr genutzt. Für die Bevölkerung waren große Teile des Höhenzugs damit tabu. In den 1990er Jahren zog das
Ranger Christian Volkwar früher Forstwirt der Nationalen Volksarmee. Heute führt er Besuchergruppen durch den Buchenwald
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Volk geht vorne weg, die drei Touristen hinterher, Tilda irgendwo dazwischen. Immer wieder bleibt der Ranger stehen, zeigt auf Baumkronen, schweigt, lauscht, hockt sich hin zu Frühblühern – hohler Lerchensporn, Märzenbecher, Vogelwicke, Hohe Schlüsselblume. Er deutet auf die Blätter des Spitzahorns, wechselt die Wegseite zum Bergahorn, zeigt später den Feldahorn. Tilda an der Leine immer hinterher. Hält Volk inne und legt den Kopf in den Nacken, tun es ihm die anderen gleich. Dann stehen sie zu viert mitten im Wald unter 20 Meter hohen Buchen und versuchen den Pirol in seinem gelb-schwarzen Federkleid zu erspähen. Nur Tilda nicht, die schnüffelt umher und schnappt nach Fliegen. Vor einem grauen Stamm mit etwa einem halben Meter Durchmesser bleibt Volk stehen. Eine Rotbuche, die im Hainich dominierende Baumart. „Die ist doch gar nicht rot?!“, fragt Volk provokant in die Runde. „Wegen der Blätter im Herbst!“, kommt es zurück. „Falsch!“ Das Holz der Rotbuche habe mit zunehmendem Alter im Kern einen Rotstich. Und da sie die in Europa heimische Buchenart ist, werde sie umgangssprachlich eben einfach Buche genannt. Mit der flachen Hand klatscht er gegen die Rinde. „Im Wirtschaftswald würde sie gefällt werden. Hier bei uns hat sie Glück.“ Christian Volk muss es wissen. Denn früher hätte er vielleicht selbst die Säge angesetzt. „In der ersten 20 bis 30 Meter hoch sind die Buchen, unter denen Christian Volk und seine Gruppe entlang wandern
Zeit als Ranger habe ich noch geguckt, wie so ein Baum am besten fallen würde“, sagt er und zeichnet mit der Hand eine bogenförmige Linie durch die Luft. Volk hat erlebt, wie sich dieser Wald verändert hat. Seit 1984 arbeitete er als Forstwirt für den Forstbetrieb der Nationalen Volksarmee auf dem Truppenübungsplatz Weberstedt, dort, wo heute der nördliche
Auf dem Naturpfad Thiemsburg erläutert der Ranger sowohl biologische wie auch geologische Besonderheiten des Hainich
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Zipfel des Nationalparks liegt. „Wir mussten uns immer nach den Truppen richten“, erzählt Volk. An einem Übungsplan konnten er und seine Kollegen ablesen, wann und wo trainiert wird. „Es hat nicht jeden Tag geknallt, manchmal war natürlich Ruhe.“ Und dann fällten sie Bäume, bevor wieder Explosionen und das Geknatter von Maschinengewehren durch die Wälder
Alte Wälder und Berge | Auf halbem Weg zur Wildnis
hallten. Zwischen den zwei Übungsplätzen: die Ortschaft Craula. „Wenn auf der einen Seite die Russen geübt haben und auf der anderen Seite die NVA, dann hatten die schlaflose Nächte“, sagt Volk. Der Kalte Krieg war hier körperlich spürbar. Für Volk und seine Kollegen war das nicht ungefährlich. „Wir haben sogar scharfe Granaten gefunden. Es gibt viele solcher Anekdoten“, sagt Volk. Zum Beispiel diese: Waldarbeiter ziehen Baumstämme mit einem Traktor aus dem Wald. Der Fahrer gibt Gas und dreht sich um. Da sieht er, wie auf den holpernden Stämmen ein Blindgänger auf und ab hüpft, kreuz und quer über die Stämme. Sie stoppen sofort, passiert sei nichts, so erzählt es Christian Volk.
Vor einer Wand aus den Resten alter Panzergranaten steht ein M itarbeiter einer Munitionsräumungsfirma auf dem Gelände des ehemaligen Truppenübungsplatzes Weberstedt – heute Teil des Nationalparks Hainich. Der Räumtrupp kommt nur langsam voran, kaum zehn Hektar pro Jahr kann er von Munition und Waffen säubern
Nachdem die Truppenübungsplätze aufgegeben worden waren, blieben deren Überreste: Bunker, Panzerplatten aus Beton, Schießanlagen. Ein Foto zeigt,
abgekauft, manche sprechen sogar von Enteignung.
wie ein sowjetischer T34-Panzer auf einer Wiese
Nachdem die Panzer abgezogen waren, erwarteten
verrostet. „Die Russen waren da nicht so zimperlich“,
die ehemaligen Besitzer, meist Landwirte aus den um-
erzählt Volk. Ganze Munitionskisten hätten sie in den
liegenden Dörfern, „ihren“ Wald zurückzubekommen.
Wald geschüttet. In manchen Bäumen steckten noch
Doch dann wurde der Schutzstatus für den Hainich
Granatsplitter, machten das Holz unverkäuflich. Noch
diskutiert. „Die Flächen im Süden waren ja in öffent-
heute arbeitet sich ein Räumtrupp Jahr für Jahr durch
licher Hand“, sagt Großmann. Eine einmalige Chance,
das Gelände des ehemaligen Truppenübungsplatzes
denn manchmal steht privater Waldbesitz einem Na-
Kindel. Er kommt jedoch nur langsam voran, meist
tionalparkvorhaben im Weg. Ehemalige Waldbesitzer
unter zehn Hektar pro Jahr. Bis die letzten Spuren
fühlten sich dadurch jedoch um ihre Einnahmequelle
der martialischen Vergangenheit des Nationalparks
betrogen. Deswegen die Banner in der Region. Dazu
verschwunden sind, könnte es deshalb noch bis zu
hitzige Wortgefechte, Beleidigungen seien unter die
20 Jahre dauern.
Gürtellinie gegangen, erzählt ein langjähriger Stadtrat. Lokalpolitikern, die den Nationalpark befürworte-
Feuerschutz für die Natur
ten, sei vorgeworfen worden, sie würden Arbeitsplätze
Was heute zusätzliche Arbeit und Kosten bedeutet,
vernichten. Viele hätten nicht geglaubt, dass der Na-
hat dem Nationalpark einst günstige Startbedingun-
tionalpark etwas für die Region bewirken könnte.
gen beschert. Denn innerhalb des Sperrgebiets waren
Manfred Großmann sah es damals anders – und
Waldstücke über 50 Jahren nahezu unberührt geblie-
fühlt sich heute bestätigt. Der studierte Landespfle-
ben, die Natur konnte sich ungestört entwickeln.
ger, Jahrgang 1961, lässt sich aus dem Elektroauto
Trotzdem entfachte die Idee kontroverse Diskus-
auf seine Turnschuhe plumpsen. Er trägt Radlerhose,
sionen in der Bevölkerung. Transparente hingen in
T-Shirt und Sonnenbrille. „Ich freue mich, wenn ich
den Ortschaften: „Nein zum Nationalpark!“ So erzählt
rauskomme. Sonst sitze ich ja viel im Büro“, sagt er.
es Manfred Großmann, Leiter der Nationalparkverwal-
Gleich wolle er noch den Naturfilmer Andreas Kieling
tung. Denn um einst die Truppenübungsplätze aufzu-
treffen, danach mit einer Gruppe Reisebloggern durch
bauen, habe man den Waldbesitzern den Wald günstig
den Wald radeln und sie auf einer Nachtwanderung
47
zurück zum Waldresort führen. Aber vorher ein Abste-
Landschaftsrelief, das den Nationalpark eingebettet in
cher zum Besucherzentrum des Nationalparks, „dem
die Umgebung zeigt. Der Parkplatz füllt sich, Eltern
zentralen Anlaufpunkt“. Denn dort lasse sich auch gut
versorgen sich mit Faltkarten, schultern Rucksäcke
erklären, was der Nationalpark bringt für die Region.
und Kinder, im Restaurant sind viele Tische besetzt:
„Wir sind bei Null gestartet. Der Hainich hat ein
Mittagspause. „Wir haben jetzt in 20 Jahren National-
Schattendasein gefristet, das hier war keine Touris-
park fünf Millionen Besucher gehabt. Das muss einen
musregion“, sagt Großmann. „Es gab keine Radwege,
positiven wirtschaftlichen Effekt für die Region ha-
keine Wanderwege, nichts.“ Er hat den Nationalpark
ben“, sagt Großmann.
vom Reißbrett bis heute begleitet, saß im Thüringischen Umweltministerium, bevor er 1998 als stellver-
Akzeptanz steigt mit den Einnahmen
tretender Leiter zum Park kam. Seit 2007 leitet er ihn.
42 Angestellte sind direkt im Park beschäftigt, davon
In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan: ein
25 Ranger. „Rein rechnerisch“ seien 266 Arbeitsplätze
40 Meter hoher Baumkronenpfad, 69 Kilometer aus-
über den Nationalpark finanziert, sagt Großmann. Das
gewiesene Radwege, 105 Kilometer Rundwander-
zeigt eine Studie zu den sozioökonomischen Effekten
wege, ein Wildkatzendorf, mehrere Erlebnispfade
aus dem letzten Jahr, die der Nationalpark in Auftrag
und Umweltbildungszentren, die speziell auf Kinder
gegeben hat. Seit etwa zehn Jahren bleiben die Be-
ausgerichtet sind. „Der Hainich ist klein aber fein, er
sucherzahlen bei rund 350.000 jährlich weitgehend
braucht keinen Vergleich zu scheuen“, sagt Großmann.
konstant. Die Zahl derer, die in den umliegenden
Er steht nun vor dem Besucherzentrum neben einem
Pensionen und Hotels übernachten, stieg jedoch an.
Im Gegensatz zu anderen Nationalparks war der Hainich früher keine Tourismusregion. Heute gibt es hier einen 40 Meter hohen und 306 Meter langen Baumwipfelpfad (u.), viele Kilometer Rad- und Rundwanderwege und bisher gut 5 Millionen Besucher
48
Alte Wälder und Berge | Auf halbem Weg zur Wildnis
Deshalb sei auch die Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung mittlerweile gestiegen: Gastwirte, Hoteliers und Ladenbetreiber profitierten ebenso. Zur positiven Resonanz könnte auch der prägnante Slogan des Nationalparks beigetragen haben: „Urwald mitten in Deutschland“. Dabei habe sich schon so mancher spitzfindige Wissenschaftler darüber beschwert. Denn damit der Hainich wirklich Primärwald, also umgangssprachlich „Urwald“ wäre, dürfte menschlicher Eingriff gar nicht oder nur margi-
Anteil weiter zu erhöhen. „Vom Übungsplatz zum Welt-
nal stattgefunden haben. Doch auf der Fläche der Na-
erbe in nicht mal 20 Jahren – das ist schon phäno-
tionalparks wurde Forstwirtschaft betrieben – vor und
menal!“, sagt Manfred Großmann. Zusammen mit dem
in geringem Ausmaß eben sogar während der Trup-
UNESCO-Weltkulturerbe Wartburg in Eisenach soll
penübungsplätze. „Red Bull verleiht auch keine Flügel.
künftig die Marke „Welterberegion Wartburg Hainich“
Es ist einfach ein griffiger Slogan“, rechtfertigt Groß-
stärker nach außen getragen werden.
mann. „Wir haben hier den Anspruch, wirklich etwas
Ranger Christian Volk, seit fast zwei Stunden mit
zu verändern, zu sehen, wie die Spuren des Menschen
der Gruppe auf dem Naturpfad unterwegs, legt aber-
verschwinden. In Deutschland sind wir es gewöhnt,
mals den Kopf auf die Seite. „Meine liebste Stunde
dass alles geordnet, quadriert und abgemessen ist.“
ist kurz vor der Dämmerung, wenn das Vogelkonzert
Und so weit entfernt von einem „richtigen“ Urwald
nochmal richtig losgeht“, sagt er. Dafür ist es zu früh,
sei man gar nicht: In den Karpaten, wo sich Laubwäl-
doch aus dem Vogelstimmenwirrwarr hört er eine he-
der über Jahrhunderte ohne Axt entwickeln konnten,
raus. Mit dem Zeigefinger dirigiert er das rhythmische
würden auf einem Hektar Wald etwa 21 Buchen mit
Zwitschern. „Da, der Zilpzalp“, sagt er und strahlt. Be-
einem Stammdurchmesser über 80 Zentimeter auf
obachtet man ihn an so einem Tag, man könnte mei-
Hüfthöhe stehen, sagt Großmann. Das bedeutet, dass
nen, er habe im Nationalpark Hainich seine Berufung
sie etwa 140 Jahre und älter sind. In der Kernzone des
gefunden.
Hainich, wo das militärische Sperrgebiet die Natur
Vor einem skurril aussehenden Baum macht die
konserviert hat, seien es elf. „Wir sind also auf halbem
Gruppe Halt. Unten teilt sich der Stamm wie eine
Weg zum Urwald“, sagt er und lacht.
Zwille, das knorrige Holz bildet einen Hohlraum,
Kurz vor der Dämmerung legen die Vögel nochmal los. Immer gut zu hören: der Zilpzalp (Phylloscopus collybita)
durch den Tilda hindurch passen würde. „Diese Esche
Vom Übungsplatz zum Welterbe
ist auf einem umgefallenen Stamm gewachsen“, er-
Die Buchenwälder des Nationalparks Hainich sind seit
klärt Volk. „Und dann hat dieser sich zu Erde zersetzt
2011 Teil des UNESCO-Weltnaturerbes „Alte Buchen-
und wurde ausgespült.“
wälder und Buchenurwälder der Karpaten und ande-
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie aus Altem
rer Regionen Europas“. Dazu gehören unterschiedliche
Neues entsteht. Und wie es in ein paar Jahrzehnten
Buchenwaldregionen, in Deutschland sind es neben
im gesamten Park aussehen könnte. Denn momentan
dem Hainich auch der Grumsiner Forst in Branden-
unterscheidet sich der Wald an vielen Stellen noch
burg oder der Nationalpark Kellerwald-Edersee in
nicht von dem, was viele als „normalen“ Laubwald
Hessen. Ohne menschlichen Einfluss wären drei Vier-
empfinden. Die Wildnis braucht noch Zeit zu wach-
tel der Bäume in Deutschlands Wäldern Buchen. 2012
sen. Doch mit jedem Jahr kommt der Wald im Hainich
waren es 15 Prozent. Der Nationalpark Hainich will
seinem Slogan ein Stückchen näher: Urwald mitten in
zumindest einen kleinen Teil dazu beitragen, diesen
Deutschland.
49
Alte Wälder und Berge
Sonnenuntergang am Schliffkopf im Schwarzwald. So idyllisch ging es bei der Gründung des Nationalparks nicht zu
Wildwuchs wider Willen
Sigrid Krügel
Unter dem ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands, Winfried Kretschmann, wurde 2014 der Nationalpark Schwarzwald gegründet. Vorausgegangen waren massive Proteste. Doch immer mehr Einheimische sehen die Chancen, die das Naturschutzgebiet bietet In langen Kehren windet sich die schmale Straße vom
schaft, und Erwin Vetter, Umwelt, unterstützt wurde.
Ruhestein ins enge Tal der Murg nach Baiersbronn.
Viele Freunde machten sich die Naturschützer damit
Die Postkartenidylle alter Schwarzwaldhöfe, wie sie
schon damals nicht. Als sie das Projekt in dem klei-
sich im Süden bietet, sucht man hier vergebens. In
nen Schwarzwalddorf Hundsbach vorstellten, sind die
Baiersbronn, neun Teilorte, 15.000 Einwohner, haben
Leute massenweise aufgestanden und wollten die Na-
die Menschen jahrhundertelang von der Köhlerei, den
turschützer verprügeln, wird heute noch erzählt. Der
Glashütten und dem Wald gelebt. Über Generationen
Pfarrer, der die Diskussion leitete, habe Mühe gehabt,
hinweg haben sie die Bäume gehegt und gepflegt
die Menge zu beruhigen.
und sich dadurch ihr Einkommen gesichert. Mit dem
Auch der damalige CDU-Ministerpräsident Teufel
Nationalpark wolle man ihnen diesen Wald nehmen,
erteilte den Naturschützern eine Abfuhr. „Eine Reihe
fürchteten viele Menschen in der Region, als vor acht
von Interessenvereinigungen und Verbänden, wie
Jahren die Pläne für die Gründung eines National-
Kreisbauernverbände, Schwarzwaldverein, Holzindus-
parks öffentlich wurden. Sie sollten ihn nicht mehr betreten dürfen? Keine Pilze sammeln und keine Heidelbeeren? Die wertvollen Bäume würden verrotten und der Borkenkäfer ihren Schwarzwald nach und nach auffressen. „Die Diskussion war hochemotional“, erinnert sich Umweltpsychologin Kerstin Ensinger, die seit 2014 die sozialwissenschaftliche Forschung im Nationalpark leitet. Die Anfänge des Parks verfolgte sie von Freiburg aus, wo sie an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt beschäftigt war.
Pfiffe, Prügel und Proteste Die Grünen wollen den Einheimischen einen Nationalpark aufzwingen, empörten sich manche Einheimische. Die Protestaktionen ließen nicht lange auf sich warten und wurden mit den Monaten immer schriller. Dabei gab es bereits in den 1990er Jahren die Idee, im Nordschwarzwald einen Nationalpark einzurichten. Das Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz in Bühl, eine Forschungseinrichtung des NABU Baden-Württemberg, ergriff die Initiative, die von den CDU-Ministern Gerhard Weiser, Landwirt-
2013 hingen zahlreiche Protest-Plakate in den umliegenden Gemeinden
51
Bis Grüne und SPD 2011 die Landtagswahlen gewannen. Nach fast 58 Jahren musste die CDU zum ersten Mal in die Opposition und Winfried Kretsch mann wurde Ministerpräsident. Und wollte einen Nationalpark, der so lange hatte verhindert werden können! „Hätte die CDU während ihrer Regierungszeit den Nationalpark gründen wollen, wäre das wahrscheinlich etwas anderes gewesen, so aber brachen alte Ressentiments und Animositäten wieder durch“, glaubt Kerstin Ensinger. Kaum hatte die neugewählte grün-rote Regierung ein „Gutachten zum potenziellen Nationalpark im Nordschwarzwald“ in Auftrag gegeben, organisierten sich die Gegner im Verein „Unser NordschwarzVor dem Landtag Baden-Württembergs protestieren im November 2013 die Gegner des Nationalparks Schwarzwald
wald“. Der brachte einem Bericht im Deutschlandfunk zufolge in nur wenigen Monaten 75.000 Flyer unters Volk, verteilte 50.000 Autoaufkleber und stellte 100 Plakatwände auf Schwarzwaldwiesen auf.
trie, Fremdenverkehr und die IHK Nordschwarzwald
Das Motiv wurde bei den Stuttgart-21-Gegnern abge-
haben ihren Widerstand inzwischen deutlich zum
schaut: ein Ortsschild mit der Aufschrift Nationalpark,
Ausdruck gebracht. Der Landesregierung liegen, außer
mit einem dicken roten Balken durchgestrichen. Der
von den Naturschutzorganisationen, praktisch keine
Nationalpark solle kein „Durchmarsch“ für die Landes-
positiven Äußerungen zu der Idee vor“, heißt es in der
regierung werden, lautete das erklärte Ziel.
Landtagsdrucksache vom 9. Oktober 1992. Damit war die Idee erstmal begraben.
Auch die Befürworter organisierten sich und gründeten noch 2011 den „Freundeskreis Nationalpark Schwarzwald“. Mit Infoveranstaltungen, Exkursionen, Führungen und Flyern, die unter anderem bei
Doch nicht alle sind dagegen: Auch die Befürworter gingen in der Landeshauptstadt Stuttgart auf die Straße
den rund 100 Gastronomen ausgelegt wurden, die sich auf der Internetseite des Vereins als Befürworter outeten, plädierten sie für den Nationalpark. Doch es gab keinen Frieden. Das Thema spaltete Familien und riss Wunden, die bis heute noch spürbar sind, meint Ensinger, die mit ihrem sozialwissenschaftlichen Forschungsteam auch solche Fragen untersucht. Als der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein ebenfalls grüner Landwirtschaftsminister Alexander Bonde, in dessen Ressort der Nationalpark fiel, im April 2013 in Baiersbronn ihr Nationalpark-Gutachten vorstellten, um den Schwarzwäldern die Chancen eines solchen Parks schmackhaft zu machen, wurden sie mit einem minutenlangen Pfeifkonzert begrüßt. „Drecksack!“,
52
Alte Wälder und Berge | Wildwuchs wider Willen
„Judas!“ und „alles Schwindel!“ wurde damals skan-
gen statt. Dennoch hatten die Menschen vor Ort das
diert. Dass Bonde selbst in Baiersbronn wohnte,
Gefühl, dass über sie bestimmt wird. Als das Natio-
machte das Ganze noch schlimmer – und ihn zum
nalparkgutachten die Vorteile höher einschätzte als
Protagonisten des Schwarzwald-Krimis „Mord-
die Nachteile, war der Park im Prinzip beschlossene
schwarzwald“. In dem Roman wird ein grüner Land-
Sache.
tagsabgeordneter aus Baiersbronn gekidnappt. Damit konnte doch nur der Bonde gemeint sein.
Der Nationalpark ist heute zweigeteilt. Von den Gemeinden, die vehement gegen ihn stimmten, sind so nur noch zwei direkt betroffen
Obwohl das Ergebnis keinerlei Bindung für die Landesregierung haben würde, entschieden sich da-
Auch wenn Autor Bernd Leix, Förster und gebür-
nach noch sieben Gemeinden, die im sogenannten
tiger Baiersbronner, immer wieder beteuerte, dass
Suchraum für den künftigen Nationalpark lagen, eine
die Vorkommnisse und Personen komplett erfunden
Bürgerbefragung durchzuführen. In Baiersbronn, Bad
seien: Das Interesse an dem Buch war riesig, in der
Wildbad, Bad Herrenalb, Freudenstadt, Seewald, Enz-
kleinen Buchhandlung in Baiersbronn wurden allein am Erscheinungstag 175 Exemplare verkauft. Und als Leix in Baiersbronn aus seinem Buch lesen wollte, zog sich die Stadt kurzfristig als Hauptveranstalter zurück, woraufhin auch der örtliche Buchhändler absprang. Man wolle kein Öl ins Feuer gießen. Denn das Buch
Bühlertal
Forbach Badener Höhe
gipfelt in einem Mordversuch und auch die Wirklichkeit ist längst eskaliert: Es gibt anonyme Morddro-
Schwarzenbachtalsperre
462
hungen gegen einen Baiersbronner Hotelier, der den Nationalpark befürwortet. Monatelang hatten ihn die Gegner des Projektes auf ihrer Internetseite „Unser
500
Hoher Ochsenkopf
Nordschwarzwald“ persönlich diffamiert. Die Natio-
Raumünzach
nalpark-Befürworter revanchieren sich. Sie kapern die Internetseite und schreiben dort, der Vereinsvorsit-
d w a l z r a w S c h
Mummelsee
rg
Die Furcht vor dem Neuen
Hornisgrinde
Mu
zende gehöre „totgeschlagen“.
„So ein Projekt birgt grundsätzlich Konfliktpotenzial“, sagt Kerstin Ensinger. „Wenn die Heimat ein Stück wilder werden soll, ist das für manche Menschen erst mal ein Affront.“ Expertenwissen traf auf Emotionen. Die Furcht vieler Menschen vor dem Neuen und der
Huzenbach Seebach Hinterseebach Ottenhöfen
Wildsee
Huzenbacher See
Leinkopf
Schönmünz
Ruhestein Riesenköpfle
Ungewissheit wurde anfangs kaum thematisiert: dass Familientraditionen zu Ende gehen werden, dass sich
Schliffkopf
das Vertraute verändern wird. Und was das für die Menschen bedeutet. „Die Landesregierung hat aber beeindruckend viel Engagement in die Bürgerbe-
Obertal Buhlbach Mitteltal
teiligung gesteckt. Es gab Vor-Ort-Begehungen, man konnte mitdiskutieren.“ Es wurde informiert, immer wieder. In nur zwei Jahren fanden rund 250 Informati-
Rappenberg
Baiersbronn 0
1
2
3 km
ons- und Diskussionsveranstaltungen und -wanderun-
53
Wildnis in der Nacht. Das Gebiet um den Wilden See wurde bereits 1911 als „Bannwald“ ausge rufen und so geschützt
54
klösterle und Forbach stimmen zwischen 64 und
Baiersbronn und Forbach. Der Park ist zweigeteilt: in
87 Prozent der Teilnehmer gegen den Nationalpark.
das 7500 Hektar große Gebiet Ruhestein bei Baiers-
Die Wahlbeteiligung war mit 50 bis 81 Prozent enorm.
bronn und ein 2145 Hektar großes Gebiet um den
Nur in Bad Herrenalb gaben lediglich 16 Prozent der
Hohen Ochsenkopf. Von den Gemeinden im Tal aus
Wahlberechtigten ihr Votum ab. Auch CDU und FDP im
ist der Nationalpark nicht zu sehen. „Wenn die Leute
Landtag positionierten sich jetzt gegen den neuen Na-
nicht wollen, müssen sie nicht hingehen und bleiben
tionalpark. Dass es auch etliche prominente Befürwor-
von dem Anblick verschont“, gab Ministerpräsident
ter in den eigenen Reihen gab, änderte daran nichts.
Kretschmann zu Protokoll. Auch der regionalen Holz-
Aber auch die Landesregierung ließ sich nicht
industrie ist das Land entgegenkommen: Fehlendes
beirren. Am 1. Januar 2014 wurde der National-
Holz aus dem Nationalpark wird mit Stämmen aus
park Schwarzwald offiziell gegründet. 17.000 Hektar
den anderen Staatswäldern kompensiert. Die Liefer-
waren im Vorfeld der Ausweisung untersucht wor-
mengen an die Sägewerke ändern sich also nicht.
den, 10.000 Hektar waren schließlich ausgesucht
Und der Borkenkäfer wird in einem 500 Meter breiten
worden – ausschließlich Staatswald, also im Eigen-
Grenzstreifen intensiv bekämpft, so dass er in den Pri-
tum des Landes. Von den sieben Gemeinden, deren
vatwäldern keinen Schaden anrichten kann.
Bürger sich in der Bürgerbefragung gegen den Park
„Die Lage hat sich beruhigt“, sagt Kerstin Ensinger
ausgesprochen hatten, sind nur noch zwei betroffen:
heute. Wer heute durch Baiersbronn fährt, sieht keine
Alte Wälder und Berge | Wildwuchs wider Willen
Transparente mehr. Auch einstige Gegner wurden eingebunden. Der 24-köpfige Nationalparkrat, der die Entscheidungen fällt, ist zur Hälfte mit Vertretern der betroffenen Gemeinden und Landkreise besetzt. Den Vorsitz hat Klaus Michael Rückert, CDU-Landrat aus Freudenstadt. Erst kürzlich hat der Rat das Wegekonzept beschlossen. Einstimmig. Obwohl das Betreten der sogenannten Kern- und Entwicklungszone und damit auf 80 Prozent des Nationalparks hier nur noch auf den Wanderwegen erlaubt ist – einer der großen Aufreger im Vorfeld der Gründung. Ein Zugeständnis an die Einheimischen: Auf ausgewiesenen Flächen ist das Sammeln von Pilzen und Heidelbeeren für den Eigenbedarf außerhalb dieser Wege erlaubt. Wo genau sie liegen, muss bei den Infostellen erfragt werden.
Gegner geben keine Ruhe Die seltener gewordenen Anfeindungen seitens der Nationalpark-Gegner sind jedoch schrill geblieben.
men und erleben – welche Erwartungen sie an den
Momentan wenden sie sich gegen den CDU-Politiker
Nationalpark haben und inwieweit der Nationalpark
Gerhard Goll. „Goll – einfach mal die Fresse halten!“
zur Regionalentwicklung beiträgt. Landesweit ist die
steht auf der Internetseite „Unser Nordschwarzwald“.
Zustimmung inzwischen riesig: Laut einer Forsa-Um-
Goll ist Vorsitzender des Nationalparkbeirats, einem
frage von 2018 finden 86 Prozent der Baden-Würt-
beratenden Gremium, in dem Naturschutzverbände,
temberger den Nationalpark sehr gut oder gut. Die
Forst- und Holzwirtschaft, Tourismus, Sport, Land-
Besucherzahlen steigen – an manchen Tagen sind
wirtschaft und Kirchen vertreten sind. Vergangenen
8000 bis 9000 Gäste zu verzeichnen.
Herbst hat er die Zweiteilung des Nationalparks als
„Auch vor Ort kriegen wir inzwischen viele positive
„kleinkariert“ und „Murks“ bezeichnet und Minister-
Rückmeldungen“, konstatiert die Umweltpsychologin.
präsident Winfried Kretschmann aufgefordert, den
„Große Teile der Bevölkerung sehen die durch den
drei Kilometer breiten Streifen Wald zwischen den
Nationalpark entstandenen Chancen.“ Im Tourismus-
beiden Gebieten Ruhestein und Hoher Ochsenkopf
konzept wurden weitere Gemeinden eingebunden, um
dem Nationalpark einzuverleiben. Eine Provokation:
die gesamte Region zu stärken. Das neue Verkehrs-
Denn der Wald gehört der Murgschifferschaft, einer
konzept soll die unterschiedlichen Angebote bündeln
Genossenschaft aus Waldbesitzern, an der das Land
und so den öffentlichen Personennahverkehr für Gäste
Baden-Württemberg 55 Prozent hält. Zugleich sitzt
wie Einheimische verbessern. Auch die Loipen wer-
einer der erbittertsten Feinde des Nationalparks im
den inzwischen vom Nationalpark gespurt – was die
Verwaltungsrat: der Vorsitzende von „Unser Nord-
Gemeinden entlastet. Der Nationalpark lebt – auch in
schwarzwald“.
den abgestorbenen Bäumen. Kaum eingeweiht, fanden
Im alten Winterdienstgehöft an der Alexander-
bayerische Pilzforscher im Bannwald am Wilden See
schanze, wo Kerstin Ensingers Abteilung ihre Büros
in der Kernzone des Nationalparks die erste „Zitronen-
hat, geht die Arbeit derweil weiter. Untersucht wird,
gelbe Tramete“ – ein seltener Urwaldpilz, der Totholz
wie Menschen Natur, Wald und Wildnis wahrneh-
zum Leben braucht. Und das war erst der Anfang …
Ein Fund, der den Nationalparkgründern Recht gab: Die Zitronengelbe Tramete ist ein seltener Urwaldpilz
55
Alte Wälder und Berge
Der Watzmann ist das zentrale Bergmassiv der Berchtesgadener Alpen. Er ist nicht nur der höchste Berg im Nationalpark, sondern auch der höchste, der gänzlich auf deutschem Boden steht
Panorama unter Schutz
Monika Offenberger
Der Alpennationalpark Berchtesgaden reicht vom Königssee bis zum Watzmann und vereint alle Vegetationszonen. Früher bedrohte die Jagd die Artenvielfalt der Bergwelt, heute sind Touristen mit Wanderstock und Selfie-Stick das größte Problem für die Idylle Ein Donnerstag im April, kurz vor zehn Uhr morgens.
zwei Paare der majestätischen Vögel ihre Kreise. Kein
Der Himmel ist bedeckt, und laut Wettervorhersage
Wunder, dass die Adler-Exkursion zu den beliebtesten
soll es gegen Mittag regnen. Es gibt weiß Gott bes-
Ausflügen im Nationalpark zählt.
sere Tage, um Steinadler zu beobachten. Trotzdem hat sich ein Dutzend Optimisten vor der Infostelle des
Deutschlands unberührter See
Nationalparks Berchtesgaden versammelt. Sie warten
Die Hauptattraktion aber ist der Königssee. Vom
auf den Ranger, der sie ins Revier der großen Greife
Malerwinkel aus, wenige Gehminuten von der nörd-
führen soll. Der stellt sich kurz darauf als Klaus Melde
lichen Seelände entfernt, tut sich ein grandioses
vor, zaubert mit einem bayerischen „Griaß eich“ ein
Bergpanorama auf. Wo heute millionenfach Handys
Lächeln auf die Gesichter und zieht mit einem Strauß
und Kameras gezückt werden, haben Jahrhunderte
Vogelfedern die Kinder in seinen Bann. Man ahnt: Mit
zuvor zahlreiche Künstler diese herrliche Landschaft
diesem charmanten Führer lohnt sich die geplante
auf Leinwand gebannt. Eingebettet zwischen steil
Exkursion bestimmt bei jedem Wetter.
aufragenden Felsabstürzen, zieht sich der tiefblaue
Wir werden nicht enttäuscht. Zwei Stunden spä-
See kilometerweit nach Süden. In Deutschland gibt
ter wissen wir so ziemlich alles über die Steinadler
es nichts Vergleichbares; man wähnt sich an einen
im Alpennationalpark. Dass die Weibchen mit einer
norwegischen Fjord versetzt. In der Ferne verfängt
Spannweite bis 2,30 Meter größer sind als die Männ-
sich der Blick an den roten Zwiebeltürmen der Wall-
Bildgewaltig: Heute wird der Königssee auf zahllosen Fotos verewigt, früher bannte man ihn auf Leinwand
chen. Dass jedes der derzeit fünf Paare mehrere Horte unterhält und abwechselnd nutzt. Dass die Eltern ihr einziges Junges erst rührend umsorgen und dann von heute auf morgen brutal aus dem Revier verjagen. „Da hinten am Hochkalter geht die Sonne auf. Deswegen entsteht über dem Hügel davor in der Früh eine super Thermik“, erklärt Klaus Melde im Klausbachtal, dem Lebensraum der stattlichen Vögel. Der Ranger – er macht seinen „Traumjob“ seit 14 Jahren – lässt uns mit eigenen Augen die Weitläufigkeit des Adlerreviers ausmessen, inmitten der atemberaubenden Schönheit der Berchtesgadner Bergwelt. Diese Führung ist ein Paradebeispiel für gelungene Umweltbildung. Das Naturerlebnis ist kurzweilig, kostenlos und kein bisschen anstrengend. Man läuft zu Fuß, barrierefrei und familienfreundlich. Und obwohl es heute niemand erwartet hätte, ziehen hoch über unseren Köpfen gleich
57
fahrtskapelle St. Bartolomä, wandert unwillkürlich
Auch an Fläche übertrifft mancher das bayerische
nach oben zum Steinernen Meer, einem verkarsteten
Pendant um ein Vielfaches. Und doch gibt es ein
Gebirgsstock und bleibt an der Schönfeldspitze haf-
Alleinstellungsmerkmal: „Unser Gebiet umfasst vom
ten, die als perfekte Pyramide die südliche National-
Königssee bis zum Watzmann 2300 Höhenmeter und
parkgrenze markiert.
bildet damit durchgehend alle Höhenzonen ab“, sagt
Der Königssee ist Deutschlands einziger See, des-
Nationalpark-Leiter Roland Baier. In Deutschland
sen Stoffhaushalt nicht vom Menschen beeinflusst
gebe es wohl nirgendwo sonst eine Landschaft, die
wurde. Er enthält zehnmal weniger Phosphat- und
so viele Lebensgemeinschaften auf relativ kleinem
Stickstoffverbindungen als die bayerischen Voralpen-
Raum vereint, so der promovierte Forstwissenschaft-
seen und ist damit ein idealer Lebensraum für Pflan-
ler. Das Spektrum reicht vom Lindenwald an den
zen und Tiere, die an nährstoffarme Gewässer ange-
Ufern des Königssees über die Bergmischwälder zu
passt sind. 200 Meter misst der See an seiner tiefsten
den baumlosen Matten und spärlich bewachsenen
Stelle. Vom Seespiegel aus ragt der Watzmann mit
Schuttkaren bis hinauf in den ewigen Schnee der
seiner berüchtigten Ostwand bis auf 2714 Meter Mee-
Gipfelregion. „Die meisten anderen Alpen-Schutzge-
reshöhe auf. Damit ist er nicht nur der höchste Gipfel
biete beginnen viel höher im subalpinen oder alpi-
im Nationalpark, sondern auch der höchste Berg, der
nen Bereich, weil die Talbereiche besiedelt oder von
zur Gänze auf deutschem Boden steht.
Straßen durchzogen sind“, erklärt Baier und wartet
Zwar können etliche der zwölf Alpennational-
mit einem weiteren Superlativ auf: „Wir sind zwar
parks in Frankreich, Italien, Österreich, Slowenien
nicht der älteste Nationalpark, aber eines der ältes-
und der Schweiz weitaus höhere Berge vorweisen.
ten Schutzgebiete in den Alpen.“
Die bayerischen Könige dachten noch nicht da ran, Hirsche oder Gämse zu schützen. Sie jagten sie lieber und schmückten mit den Trophäen ihre Schlösser
58
Alte Wälder und Berge | Panorama unter Schutz
Links: Der Steinbock (Capra ibex) wurde einst fürs Jagdvergnügen der hohen Herren ausgesetzt. Heute leben hier mehr als 200 Tiere Rechts: Der Steinadler (Aquila chrysaetos) ist das zweite Markentier des Alpennationalparks. Fünf Paare können Besucher derzeit beobachten – wenn sie Glück haben
Bevor der Mensch begann, die Gebirgslandschaft
Bis das Schutzgebiet in seiner jetzigen Form ent-
zu schützen, hat er sie vielfach genutzt. Jahrhunder-
stand, dauerte es noch bis 1978. Georg Meister, der
telang hat man aus den Wäldern rund um den Kö-
damals von der Bayerischen Staatsregierung mit der
nigssee Fichten geschlagen, um Brennholz für die
Planung des Nationalparks betraut war, erinnert sich:
Berchtesgadener Saline zu gewinnen. Mit Beginn
„Kurz nach Kriegsende erreichte der Konflikt zwischen
des 19. Jahrhunderts hielten die bayerischen Könige
der Trophäenjagd und dem wiederbeginnenden Tou-
hier ihre Hofjagden ab. Die natürlichen Jäger – Bär,
rismus einen Höhepunkt. Der damalige Forstmeister
Wolf und Luchs – wurden als Konkurrenten verfolgt
von Ramsau ordnete wegen angeblicher Störungen
und ausgerottet. Doch 1910 wurde eine 8300 Hektar
der Jagd sogar das Abbrennen von Hütten am Blaueis
große Fläche südlich des Königssees als „Pflanzen-
und auf der Reiteralpe an.“ Gams, Hirsche und Rehe
schongebiet Berchtesgadener Alpen“ ausgewiesen.
hatten sich stark vermehrt und durch ihren Verbiss die
Fortan stand das Abpflücken und Ausgraben seltener
Artenvielfalt im Wald verringert. „Als dann noch Über-
Hochgebirgspflanzen unter Strafe, die Jagd aber war
legungen aufkamen, eine Seilbahn auf den Watzmann
weiterhin erlaubt. 1921 hat man den Schonbezirk
zu bauen, hat der Bund Naturschutz rebelliert und als
auf rund 20.000 Hektar ausgedehnt und zum Natur-
Gegenvorschlag einen Nationalpark präsentiert“, so
schutzgebiet erklärt. Das hinderte einen Reichsjäger-
Meister.
meister Hermann Göring freilich nicht daran, sich eine exklusive Jagdhütte am Fuße der Teufelshörner bauen
Die Dynamik der Natur
zu lassen. Dazu ließ er auf Staatskosten gleich noch
Und dieses Mal setzten sich die Naturschützer durch.
die passenden Trophäenträger kaufen und aussetzen:
Der Freistaat bekam – acht Jahre nach dem Bayeri-
einen kapitalen Steinbock und drei Geißen. Mit weite-
schen Wald – seinen zweiten Nationalpark. Meister,
ren ausgewilderten Steinböcken begründeten sie eine
promovierter Forstwissenschaftler und späterer Lei-
Population, die inzwischen mehr als 200 Tiere zählt.
ter des benachbarten Forstamtes Bad Reichenhall,
Die Art wurde neben den Steinadlern zum Marken-
vertrat schon früh einen zentralen Aspekt der Natio-
zeichen des Alpennationalparks.
nalparkidee: „Man muss Bereiche schaffen, in denen
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der Mensch die Natur völlig sich selbst überlässt. Dort können wir die Natur beobachten und von ihr lernen“. Diese Forderung geht weit über den Schutz ausgewählter Arten wie Edelweiß & Co. hinaus. Heute wissen wir, dass sich Natur dynamisch entwickelt – angetrieben durch natürliche Störungen wie Feuer, Überschwemmungen, Windwurf oder Insektenfraß. Doch vor vier Jahrzehnten, als der Nationalpark gegründet wurde, waren Georg Meisters Gedanken revolutionär: Damals ging man noch von einer statischen Der Borkenkäfer macht auch vor der Bergwald-Idylle am Obersee nicht halt (o.). Doch über die Jahre wird der Wald nachwachsen und mehr Arten als zuvor eine Heimat bieten. Das konnten Forscher an anderen Stellen im Nationalpark beobachten (u.)
Natur aus und glaubte an stabile Ökosysteme, die es zu bewahren gelte. Dass wir noch eine Menge von der Natur lernen können, hat Maria-Barbara Winter in ihrer Doktorarbeit gezeigt. Die Forstwissenschaftlerin wollte wissen, wie sich der Bergwald von den schweren Orkanen „Vivian“ und „Wiebke“ 1990 und „Kyrill“ 2007 erholt hat. Dafür untersuchte sie 2012 alle ehemals vom Sturm verwüsteten, und zwei Jahre später vom Borkenkäfer befallenen Flächen. Unterstützt von zahlreichen Studierenden erfasste sie, welche und wie viele Pflanzen und Pilze, Spinnen, Schnecken und Insekten sich inzwischen dort angesiedelt haben. Neben einstmals befallenen Flächen untersuchte das Team auch gesunde Fichtenbestände. „Damit hatten wir eine Zeitreihe und konnten den Zustand des Waldes null, drei und zwanzig Jahre nach einem Borkenkäferbefall beschreiben und vergleichen“, erläutert die Wissenschaftlerin. Die Bestandsaufnahme erbrachte 379 verschiedene Arten von Pflanzen, 306 Pilze, 160 Spinnen, 56 Schnecken und 561 Insekten. Dabei ist das Leben auf den lichten Windwurfflächen deutlich vielfältiger als im ungestörten Wald; besonders zahlreich finden sich dort licht- und totholzliebende Pflanzen und Tiere. Das war zu erwarten. Überraschend war dagegen, wie schnell sich der Wald regenerierte: „In den niederen Lagen sind die Flächen 20 Jahre nach dem Windwurf meist wieder voll bestockt, vor allem mit Fichte, Bergahorn und Vogelbeere. Dort sind die Bäume auf den Flächen schon rund vier Meter hoch. Das heißt, die Lücken schließen sich erstaunlich schnell – ganz von alleine und ohne zusätzliche
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Alte Wälder und Berge | Panorama unter Schutz
Pflanzungen, wie man sie früher für nötig hielt und praktiziert hat“, sagt Maria-Barbara Winter. Und es gab noch eine weitere Überraschung: Obwohl die 1990 vom Borkenkäfer heimgesuchten Flächen inzwischen wieder weitestgehend zugewachsen waren, leben dort mehr Tier- und Pflanzenarten – insbesondere Wildbienen, Käfer und Wanzen – als auf den erst nach 2007 gestörten, lichteren Flächen. „Aus all dem lernen wir, dass sich die volle Artenvielfalt oft erst über mehrere Jahrzehnte einstellen kann, wenn sich die Lücken im Wald langsam und von selbst schließen. Wir sollten also, wo dies im Bergwald möglich ist, die natürliche Entwicklung abwarten und nicht durch Bepflanzen beschleunigen“, so Winters Fazit.
Refugium für die Tierwelt Erstaunliches entdeckte auch Walter Ruckdeschel. Der langjährige Präsident des Bayrischen Landesamts für Umweltschutz hatte die Nachtfalter im Nationalpark erforscht und dabei über 600 Arten nachgewiesen.
Mit dem Ausflugsboot auf den Königssee: Nicht nur Tiere, auch immer mehr Menschen lassen sich von der unberührten Berglandschaft anziehen
Ein Vergleich seiner aktuellen Daten mit sämtlichen seit 1900 dokumentierten Funden zeigt: Die Zahl der Schmetterlingsarten und Individuen hat sich über die Jahrzehnte kaum verändert. „Die unberührte Berglandschaft mit ihren vielfältigen Lebensräumen dient
Die neu gebaute Jennerbahn transportiert mehr als dreimal so viele Passagiere auf den Berg wie die alten Gondeln. Naturschützer haben diesen Ausbau heftig kritisiert. Doch der Tourismus ist heute der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Region
vielen Tieren als Refugium. Hier können sie bleiben, aber auch wieder auswandern, sobald es die Bedingungen außerhalb des Schutzgebietes erlauben“, betont Roland Baier. Forschung gehört zu den zentralen Aufgaben eines jeden Nationalparks. „Doch wir sind der einzige Nationalpark in Deutschland, für den ein eigener Lehrstuhl geschaffen wurde“, berichtet der Nationalparkleiter. Unter dem Titel „Ökosystem-Dynamik in Gebirgslandschaften“ widmet sich seit Herbst 2019 eine Arbeitsgruppe der TU München dem Studium natürlicher Prozesse – auch und gerade im Hinblick auf den Klimawandel. Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sollen Nationalparks den Menschen auch Erholung bieten. Heute ist der Tourismus der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Region Berchtesgaden-Königssee: 2018 wurden dort knapp 2,5 Millionen Übernachtungen gezählt – fast
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zehn Mal so viele wie im benachbarten und flächenmäßig vergleichbaren Rupertiwinkel. Neben dem Gastgewerbe profitieren auch der Einzelhandel und diverse Dienstleister. Zusammen belief sich ihr Gewinn 2017 auf knapp 575 Millionen Euro. Die spektakuläre Landschaft ist dabei ein wesentlicher Attraktor. „Mit 1,6 Millionen Besuchern im Jahr sind wir der am meisten besuchte Nationalpark in den Alpen“, sagt Baier. Schon früh war man sich bewusst, dass solche Massen an Menschen die empfindliche Natur belasten. Daher wird die Schifffahrt über den Königssee bereits seit 1909 umweltfreundlich, lautlos und ohne Abgase betrieben: Insgesamt 19 Elektroboote beziehen ihre Energie aus Batterien, die nachts aufgeladen werden. Zusammen befördern sie im Jahresverlauf rund 700.000 – an Spitzentagen bis zu 6000 – Gäste über den See. Diese Zahlen sind seit Jahrzehnten unverändert, weil die Flotte konstant gehalten wird und auch künftig nicht aufgestockt werden soll. Die entgegengesetzte Strategie verfolgen die Betreiber der Jennerbahn. 2018 wurde die 1952 errichtete Seilbahn auf den 1874 Meter hohen Jenner modernisiert. Die neuen Zehnergondeln können sommers wie winters 1600 Fahrgäste pro Stunde befördern – mehr als dreimal so viele wie die alten Zweierkabinen.
Die Nachteile der Schönheit Naturschützer haben diesen Ausbau der Jennerbahn heftig kritisiert. Rita Poser, Vorsitzende des Bundes Naturschutz (BN) im Berchtesgadener Land, hält es in Zeiten des Klimawandels für unsinnig, in mittlerer Höhenlage in ein Skigebiet zu investieren, das künftig wohl selbst mit Kunstschnee nur bedingt betrieben werden kann. Auch im Sommer herrsche im Nationalpark und seiner Umgebung „an vielen Tagen schon ein Rummel wie auf der Wies´n“, so Poser. Immerhin hat der BN erwirkt, dass keine neuen Trassen für die Seilbahn geschlagen wurden. Und dass der Nationalpark Alles für das beste Foto? Beim Posen im „Natural Infinity-Pool“ am Königssee bringen sich immer wieder Menschen in Lebensgefahr. Das Panorama verführt zu einem einsamen Bad, doch die Steine am Rand sind rutschig und hinter der Kante geht es steil bergab
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Alte Wälder und Berge | Panorama unter Schutz
Berchtesgaden, der unmittelbar neben dem Gipfel beginnt, vor der Bergstation zwei Infostellen einrichten darf. „Wir sehen das als Chance, zur Umweltbildung der vielen Besucher beizutragen“, sagt Roland Baier.
Noch problematischer bewertet Baier die starke Frequentierung der sechs Berggaststätten inmitten des Nationalparks: „Da versuchen wir gemeinsam mit dem Alpenverein und den Hüttenwirten, eine gleichmäßige Auslastung zu erreichen.“ Besucherlenkung heißt das Zauberwort, das auch Peter Nagel, Geschäftsführer der Berchtesgadener Land Tourismus GmbH, im Munde führt. „Noch haben wir hier keinen Massentourismus. Doch es werden künftig noch mehr Menschen Natur, Ruhe, Erholung und Entschleunigung suchen. Die werden zwangsläufig zu uns kommen, weil wir genau das anbieten“, so Nagel. Noch zumindest. Deshalb tausche man sich jetzt mit der Nationalparkleitung aus, wie man den Fremdenverkehr naturverträglicher gestalten könne: „Wir wollen nicht noch mehr Übernachtungen, sondern weniger Besucher, die länger bleiben und mehr auszugeben bereit sind. Dazu müssen wir unsere Sprache und auch die Bildmotive überdenken, mit denen wir unsere Landschaft bewerben“. Eine besondere Herausforderung stellt eine neue Gruppe zweifelhafter Naturliebhaber dar. Via Instagram tauschen sich Blogger und Influencer über „magische Orte“ aus, an denen man ein „Bild des Lebens“ – sprich: ein besonderes Selfie – gemacht haben muss. Da werden die Gumpen am Königsbach als „infinitypool“ und der Wasserfall als „ne gute Gelegenheit für einen Long-Exposure Shot“ angepriesen. Aus ganz Europa reisen Erlebnishungrige an, um das geilste Panorama und den krassesten Sonnenaufgang zu sehen – und mit der Community im Netz zu teilen. Wer mit ausgefallenen Motiven besonders viele Fol-
Soll man sensible Bereiche künftig absperren?
lower auf seine Seiten lockt, kann mit Werbung gutes
Oder empfindliche Geldstrafen verhängen? „Wenn
Geld verdienen. Die besten Fotos gelingen fernab der
wir Verbote aussprechen, müssen wir sie auch durch-
markierten Wege oder nach einer Nacht im eigenen
setzen, notfalls mit Polizeigewalt. Soweit wollen wir
Biwak – und lotsen immer neue Leute an ehemals un-
noch nicht gehen“, sagt Roland Baier. Vorerst versucht
berührte Orte. Dass das Campieren in der Kernzone
man es noch mit Überzeugungsarbeit – im Park wie
des Nationalparks streng verboten ist, schert sie nicht.
auch im Netz. Eine frisch eingestellte Social-me-
Dann ist es an den Rangern, die Uneinsichtigen zur
dia-Expertin positioniert sich gerade als Gegen-In-
Ordnung zu rufen. Klaus Melde kann ein Lied davon
fluencer: Sie will die Community für nachhaltigere
singen: „Ich kann ihnen nur ins Gewissen reden. Bei
Naturerlebnisse begeistern, bei der die einzigartige
manchen hilft´s, bei anderen nicht“.
Bergwelt keinen Schaden nimmt.
Nachhaltiges Naturerlebnis: Schöne Bilder erhält man auch, wenn man auf den Wegen bleibt
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Alte Wälder und Berge
Früher ein Meer, heute Nationalpark. Das sächsische Elbsandsteingebirge
Der Evolution beim Wirken zusehen
Benjamin von Brackel
Im Nationalpark Sächsische Schweiz findet ein Umbau im Zeitraffer statt: Der Fichtenforst weicht einem Mischwald und selbst die bizarren Felsriffe sind in ständigem Wandel Hanspeter Mayr steigt bergauf durch einen toten
zum Mittelalter fast das ganze Land dominierte und
Wald. Fichten strecken sich weit dem Himmel entge-
vor allem aus Buchen, Eichen und Tannen bestand
gen, aber längst hängen keine Nadeln mehr an ihnen.
sowie aus Kiefern, die auf dem Felsgestein wurzeln
Nur noch Gerippe. „Das ist doch super“, sagt Mayr.
konnten. Bis im Spätmittelalter die Forstbehörden
Zieht der Sprecher des Nationalparks Sächsi-
begannen, die Wälder zu vermessen, zu roden und
sche Schweiz ein Stück Rinde ab, offenbaren das
planmäßig mit Fichten zu bepflanzen. Die wuchsen
herab rieselnde Holzmehl und die Maserungen den
schnell und versprachen hohen Ertrag, bis heute
Grund für den Niedergang des Waldes: einen klei-
gelten sie als „Brotbaum“ der Forstwirtschaft. Noch
nen schwarzen Käfer von der Größe eines Streich-
immer besteht etwa die Hälfte der Waldfläche aus
holz-Kopfes. Der Borkenkäfer riecht es, wenn Fich-
Fichten. Erst Anfang der neunziger Jahre hatte man
tenwälder leiden. Die harzenden Wundstellen locken
sich mit Gründung des Nationalparks eines Besse-
ihn an wie Aasgeruch Hyänen. Wenn Stürme Stämme
ren besonnen und die Devise ausgegeben: weg vom
und Äste umknicken oder Dürren das Holz austrock-
künstlichen Forst, hin zum Ursprung. „Wir wollen den
nen, können die Bäume oft nicht mehr genug Harz
Monokulturwald in einen naturnahen Mischwald um-
herauspressen, um die Käfer abzuwehren. Die fräsen
wandeln“, erklärt Mayr.
sich durch die Rinde und legen Gänge an, in die
Der Nationalpark Sächsische Schweiz besteht aus
sie ihre Eier ablegen. Schon 400 Käfer können die
zwei räumlich voneinander getrennten Teilen des
Wasserzufuhr zwischen Wurzeln und Krone unter-
sächsischen Elbsandsteingebirges. Die Buchenwälder
brechen. „Das ist, als würde man uns die Blutzufuhr
und Felsformationen erstrecken sich auf 9350 Hek-
Gänge des Borkenkäfers in einer Fichte
abschneiden“, sagt Mayr. Der 55-jährige Geograph steigt an diesem Maitag, begleitet von den Rufen eines Sperlingskauzes, einen mit Steinen ausgelegten Pfad im Nationalpark hinauf, auf dem früher Fichtenstämme per Karren den Berg hinab gezogen und später verflößt worden waren. Dann erreicht er die Kuppe des Hochhübels, der im Nebel liegt. Viele würden beim Anblick all der toten Fichten Trübsal blasen. Mayr aber sagt: „Ich habe hier unglaublich Energie.“ Dann senkt er seinen Blick, sieht durch seine Brillengläser am Boden lauter Triebe sprießen – Buchen, Fichten, Ebereschen, die alle um ihren Platz kämpfen. „Hier ist die Evolution am Wirken“, sagt Mayr. Der Wald des fast 30 Jahre alten Nationalparks befindet sich im Umbau. Vorbild ist der Urwald, der bis
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tar und grenzen im Südwesten an die Elbe und im
Wer mit Mayr in seinem elektrisch betriebenem
Süden und Südosten an den Nationalpark Böhmische
Nissan Leaf durch den Nationalpark surrt, kann den
Schweiz im benachbarten Tschechien.
Wandel vom künstlich angelegten Forst zum Misch-
Hier lässt sich der Natur förmlich bei der Hei-
wald an jeder Ecke erkennen. Der Nationalparkspre-
lung zusehen. Sukzessive erobern sich die standort-
cher fährt an alten Sägewerken vorbei, wo einst Zellu-
typischen Lebensgemeinschaften ihren Platz zurück,
lose hergestellt wurde, an Reihen von Fichtenstapeln,
während sie sich zugleich auf veränderte Umweltbe-
die mit einem orangenen „K“ für „Käfer“ markiert sind
dingungen wie die Klimaerwärmung einstellen müs-
und an Fichten, die umgekippt sind oder aus denen
sen. Von Sukzession über Selektion bis zur Evolution
Harz den Stamm herunter rinnt wie Kerzenwachs. „Die
lässt sich im Nationalpark das ganze Spektrum bio-
kämpfen!“, kommentiert Mayr. „Und wie!“
logischer Anpassungsmöglichkeiten nachvollziehen. Die Geologie der Sächsischen Schweiz spielt dabei
Vom Borkenkäfer befallener Wald. Im Nationalpark gilt der Käfer nicht als Feind, sondern als Verbündeter
Der Borkenkäfer-Befall: „Ein voller Erfolg“
eine besondere Rolle. Wegen ihres Formenreichtums
Der Borkenkäfer ist den Mitarbeitern des National-
auf engstem Raum beeinflusst sie maßgeblich, wo
parks zum Verbündeten geworden. Nach und nach ha-
welche Wälder entstehen, sofern man sie denn lässt:
ben sie Fichten aus dem Wald entnommen, die zuvor
Reliktkiefernwälder auf den Absätzen und Kuppen
durch ihre Dominanz jegliche Konkurrenz unterdrückt
der Sandsteinmassive; Buchenwälder auf den nähr-
haben. Allerdings kamen sie nur langsam voran – bis
stoffreichen Hangböden des Elbtals oder den Böden
sich im Trockenjahr 2018 der Borkenkäfer so stark
der Basaltgipfel, die aus dem Magma einstiger Vul-
entfaltete, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
kanschlote entstanden; Fichtenwälder in den kühlen
nicht mehr. Über 250 Hektar Fichtenwald waren im
Schluchtenlabyrinthen, die Bäche und Flüsse in den
Nationalpark befallen – in den 20 Jahren zuvor waren
Sandstein gegraben haben.
es nie mehr als 50 Hektar gewesen. Und das formte den Wald wie im Zeitraffer um. „Das war eigentlich ein voller Erfolg“, sagt Mayr. Ein bisschen schlechtes Gewissen schwingt in seiner Stimme mit, wenn er das sagt. Schließlich weiß Mayr auch, dass der Borkenkäfer den Privatwaldbesitzern Probleme bereitet. Ganze Fichtenwälder wurden in wenigen Wochen vernichtet und der Holzpreis brach angesichts des Überangebots ein. Dazu kommt, dass den Besuchern schwer zu vermitteln ist, durch toten Wald marschieren zu müssen. „Würden wir den ganzen Wald dem Borkenkäfer überlassen, würden wir die Akzeptanz für den Nationalpark gefährden.“ An den Grenzen zu den Privatwäldern und in den Pflegezonen soll der Borkenkäfer deshalb eingedämmt werden: Schwere Waldmaschinen schneiden befallene Bäume ab, entästen sie und ziehen sie aus dem Wald. Im Ruhebereich aber, der inzwischen über die Hälfte der Waldfläche im Nationalpark ausmacht, setzen Mayr und seine Kollegen auf eine andere Strategie: Sie überlassen die Bäume ihrem Schicksal.
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Alte Wälder und Berge | Der Evolution beim Wirken zusehen
Darf der Wald sich wieder selbst regulieren, kann er sich am besten entwickeln. Die Erfahrung hat auch der benachbarte Nationalpark Böhmische Schweiz auf tschechischer Seite gemacht: Während nach Kahlschlag junge Vegetation in der prallen Sonne vertrocknete, zeigte sich ein anderes Bild, wenn der Borkenkäfer frei walten konnte: Das Totholz der Fichten bot den neuen Bäumchen Schatten und Feuchtigkeit. Zudem konnten einige wenige Fichten den Befall überleben und geben ihren Nachkommen womöglich
Die SandsteinSchichten zeugen von der Millionen Jahre zurückliegenden Vergangenheit als Meer
ihre Resistenz weiter. So entwickelt sich im Idealfall ein Mischwald, der besser auf trockenere Sommer eingestellt und auch weniger anfällig für Borkenkäfer ist – unter anderem mit Buchen und den Trockenspezialisten Kiefern und Traubeneichen. Hinter der Postkarten-Idylle der Schrammsteine, der Felsnase der Bastei oder dem Kirnitzschtal, wo sich eine alte Straßenbahn hinauf-
Sandsteinriegel drei Kilometer von der Stadt Hohn-
schiebt, tobt also ein wahrer Konkurrenzkampf. „Die-
stein entfernt.
sen zu befördern“, sagt Mayr, „ist Sinn und Zweck von Nationalparks.“
An diesem Maitag ist es in dem tief eingeschnittenen Tal feuchtkalt, das regionaltypische Kellerklima. Und die Feuchtigkeit sorgt dafür, dass sich die Land-
Ein flüchtiger Blick in die Erdgeschichte
schaft ständig verändert. „Wir sehen hier Erosion in
Wenn Rainer Reichstein durch die Sächsische Schweiz
Echtzeit“, schwärmt der studierte Physiker.
wandert, ist das für ihn, als wandle er auf dem Mee-
Links vor Reichstein erhebt sich schroffer Fels,
resgrund. Wo andere nur Fichten und Buchen sehen
der durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Das
und sich an den bizarren Felsformationen erfreuen,
liegt am Regen und der Feuchtigkeit, die sich im-
da sieht der 63-jährige Geologieführer die Geschichte
mer weiter in die Steingänge hineinfrisst und hinten
hinter den Tafelbergen und Sandsteinriffen. Und die reicht über 90 Millionen Jahre zurück, als das Elbtal von einem Meer bedeckt war. Über Jahrmillionen spülten Flüsse aus den angrenzenden Gebirgen Sedimente aus vorwiegend reinem Quarz herein und erschufen die Sandstein-Schichten, auf die heute 2,9 Millionen Besucher pro Jahr ihre Wanderstiefel setzen. Reichstein, ein Bär von einem Mann mit grauschwarzer Mähne und Vollbart, führt seine Gäste die Polenz entlang, einen Wildbach, in dem Atlantischer Lachs und Bachforelle vorkommen; der Weg geht immer sachte hinauf. Er lässt eine Tischlerei hinter sich und biegt ab in den Wald, den „Brand“ hinauf, einen
Geologieführer Rainer Reichstein erläutert die Geschichte der Sächsischen Schweiz
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Zwei Kletterer erklimmen den Gipfel des Pfaffensteins. Für ihre 1134 Klettergipfel ist die Sächsische Schweiz bei den Sportlern bekannt und beliebt
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wieder ausdringt, bis der Fels abbricht und glatte
Obwohl es die Krebs-Art seit 240 Millionen Jah-
Wände hinterlässt. „Eigentlich können wir hier blei-
ren gebe, so Reichstein, habe sie sich bis heute kaum
ben, um die ganze Sächsische Schweiz zu erklären“,
verändert. „Das ist mal eine erfolgreiche Lebensform“,
sagt Reichstein. Er deutet auf einen Felsblock, der ein
sagt er. „Nicht so wie diese schwanzlosen Affen, die in
paar Meter von seinen Füßen entfernt liegt und des-
200.000 Jahren die Erde kaputt gemacht haben.“
sen abgerundete Kanten von Moos bewachsen sind.
Nach einer weiteren halben Stunde hält Reich-
„Der verwittert sehr schnell durch den Regen“, sagt er.
stein im Schatten einer Felsnische an. Er streicht
„Dabei liegt er noch gar nicht so lange hier.“ Mit „gar
mit seinen Händen über den dunklen Fels, dessen
nicht so lange“ meint er einige Hundert oder Tausend
Schichten einen Pfeil formen. „Wir gucken hier auf
Jahre. Geologische Zeiträume.
Meeresboden“, sagt Reichstein. Aus der Neigung
Wenig später bleibt Reichstein vor einer Felsplatte
der Laminen lasse sich die Strömungsrichtung des
auf dem Weg stehen und deutet mit seinem Wander-
einstigen Meeres ablesen, das damals bis zur Lausitz
stock auf einen versteinerten Wulst: Hier habe in der
reichte. „Das hat sich alles mit Sediment aufgefüllt“,
Kreidezeit ein Krebs gehaust, der sich auf dem Mee-
sagt er. „Bis 500 Meter unter uns befindet sich Sand-
resboden durch den Sand gegraben und diesen nach
stein.“
Mikroorganismen durchsiebt habe. Den Sand habe er
Über Jahrmillionen haben die Elbe und ihre Ne-
dann als körpereigenen Zement ausgeschieden. Und
benflüsse die kompakte Sandsteinschicht zerklüftet
damit einen Gang hinterlassen, der sich nun nach
und so dazu beigetragen, sie zu der Felslandschaft zu
über 90 Millionen Jahren vor den Füßen von Reich-
formen, wie sie heute ist und wie sie Reichstein liebt.
stein offenbart. Er deutet auf die Felsen über ihm.
Wegen seiner Leidenschaft fürs Klettern war er einst
„Wahrscheinlich war eine Platte abgeplatzt und hin-
in die Gegend gezogen, erzählt er. 1134 Klettergipfel
abgestürzt“, sagt er. Durch die Erosion ist der prähis-
besitzt die Sächsische Schweiz, über 21.000 Kletter-
torische Krebsgang nun für wenige Jahrzehnte sicht-
wege. Besonders beliebt ist bei vielen Kletterern das
bar – für geologische Zeiträume ein Wimpernschlag.
„Boofen“, also das freie Übernachten unter Felsüber-
Alte Wälder und Berge | Der Evolution beim Wirken zusehen
hängen, das in jüngster Zeit allerdings so überhandgenommen hat, dass sich Müll türmte, ganze Waldabschnitte für Lagerfeuer gefällt und allein 2018 17 Waldbrände entfacht worden waren. Deshalb will der Nationalpark damit nun an die Öffentlichkeit gehen und stärker sensibilisieren. Die Kletterbegeisterung im Nationalpark hat ihren Grund ebenfalls in der Geologie des Geländes: Die zerklüfteten Felsformationen wie die der Bastei oder der Schrammsteine gibt es nur, weil die Außenhaut der Felsen genau die richtige Festigkeit besitzt, um lange Zeit zu überdauern und den Kletterern die griffigen Kanten darzubieten. „Sie ist nicht zu hart, dass
Der Waldumbau in Nahauf nahme: kleiner Baumsprössling auf altem Stumpf
sie zersplittert“, schwärmt Reichstein. „Aber auch nicht zu weich, dass sie zerbröselt.“ Am Gipfel wird klar, warum der „Brand“ der Balkon der Sächsischen Schweiz genannt wird. Reichstein blickt weit über das Tal, das die Elbe in Jahrmillionen gegraben hat, dahinter auf die Tafelberge, die sich über die ganze Landschaft erheben, und ganz
vor zwei Jahren dafür gesorgt hat, die Fichten zu Fall
links, schon in der Böhmischen Schweiz gelegen, auf
zu bringen. Deren Stämme und Äste liegen nun kreuz
den 619 Meter hohen Rosenberg, einen einstigen
und quer. Und gerade dieser Verhau schützt junge
Vulkan. Ein Blick über verschiedene Abschnitte der
Bäumchen vor dem Verbiss von Rehen. Zwischen eini-
Erdgeschichte. Ein Ort, wo sich Raum und Zeit ver-
gen mächtigen Stämmen sprießen Triebe von Eschen,
dichten.
Fichten und Birken. „Alte und junge Bäume, hohe und niedrige, unterschiedlichste Arten“, zählt Mayr auf.
Das ganze Ökosystem stellt sich um
„Diese Lebensraum-Vielfalt ist ideal.“
Zwei Täler weiter steht Hanspeter Mayr auf dem Pla-
Der Wandel bedeutet aber auch, dass es Gewin-
teau des Hochhübels und deutet auf einen Pfad, der
ner und Verlierer gibt. Bricht das geschlossene Dach
sich vor ihm auftut: Dieser führt in einen Mischwald,
der Fichtenkronen auf, fällt Licht ein und die bislang
der sich schon vor elf Jahren von selbst zu entwickeln
an den Schatten angepasste Vegetation wird von
begann. „Gehen Sie mal vor“, animiert er einen, wäh-
Pflanzen überwachsen, die besser mit den neuen
rend ein Schwarzspecht seinen klagenden „Tliöö!“-Ruf
Bedingungen zurechtkommen. Pilzgesellschaften än-
erschallen lässt. Nach all den eintönigen Fichten-
dern sich mit dem Austausch der Wurzeln im Unter-
stangen wirkt das Hellgrün der jungen Buchen, Eber-
grund. Und auch die Tierwelt stellt sich um: Während
eschen, Eichen, Pappeln und Lerchen wie Balsam für
es Sperber womöglich schwieriger haben, weil sie
Auge und Seele. Letztere neigen sich allesamt in eine
schlechter an die Mäuse herankommen, die Schutz in
Richtung; sie stehen möglichweise unter Trocken-
den nun hochwachsenden Brombeeren finden, profi-
stress, mutmaßt Mayr. „Vielleicht selektieren sie sich
tieren Spechte und Baumläufer, weil es mehr Insekten
wieder heraus.“
gibt, die das Totholz verarbeiten. „Das ganze Ökosys-
Mayr führt an einem Abhang weiter in ein Gebiet, wo eine Allianz aus Borkenkäfern und Stürmen erst
Vögeln wie dem Schwarzspecht geht es gut in den jungen Mischwäldern, die die eintönigen Fichten wälder nach und nach ablösen
tem stellt sich um“, stellt Mayr fest. „Schick, schick, schick.“
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Meer, Seen und Flusslandschaften
Meer, Seen und Flusslandschaften
Zieht sich bei Ebbe das Meer zurück, offenbart es seinen sandig-feuchten, von Prielen und Tümpeln durchzogenen Grund
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Meer, Seen und Flusslandschaften | Der Evolution beim Wirken zusehen
Die Kinderstube der Nordsee
Tim Schröder
Ein Lebensraum aus Wasser, Sand und Schlick, der seinesgleichen sucht – das Wattenmeer macht den größten der deutschen Nationalparks aus. Viele Vögel und Fische finden hier Nahrung, die Robben kamen an die Küste zurück. Ein Rückblick auf 30 Jahre Schutzgebiet Auf den ersten Blick ist das Wattenmeer nicht viel
allein der Gedanke, über den Meeresboden zu laufen,
mehr als ein waagerechter Strich – der Horizont,
ohne eine Taucherausrüstung tragen zu müssen. Hinzu
über dem sich der Himmel weit aufspannt. Kein Berg,
kommt die eigentümliche Einförmigkeit dieses Lebens-
nicht einmal ein Baum stören die schlickige Weite.
raums. Wandert man durch waldreiche oder bergige
So öd wie das Wattenmeer wirkt wohl kein anderer
Nationalparks, ändert sich das Bild häufig: Nach jedem
Nationalpark. Und doch ist das Watt für viele Men-
Grat, hinter so mancher Wegbiegung öffnet sich ein
schen von faszinierender Schönheit. Ein Lebensraum,
neues Panorama; im Watt gibt es diese Abwechslung
der ständig sein Gesicht verändert, der in der Hitze
nicht. Und doch ist es keineswegs langweilig. Seine
der Mittagssonne flimmert oder mächtig und bedroh-
Vielfalt offenbart sich dem, der seine Sinne schärft.
lich erscheint, wenn Stürme bleigraue Wolkenberge
Während man wandert, spürt man, wie sich der Watt-
herantreiben. In jedem Fall erscheint das Watten-
boden verändert. Mal ist der Sand bretthart und tro-
meer an der Nordseeküste grenzenlos. Und das ist es
cken, mal so weich, dass man bis zum Knie im Schlick
auch fast. Es erstreckt sich über mehr als 500 Kilo-
versinkt. An anderen Stellen formen Priele den Sand,
meter von der niederländischen Insel Texel im Süden
mäandrierende Rinnen, durch die bei Ebbe das Wasser
bis zur dänischen Hafenstadt Esbjerg. Der deutsche
von den Wattflächen in die Nordsee strömt.
Teil dieser amphibischen Landschaft aus Wasser und Sand- und Schlickflächen, die im Rhythmus von Ebbe
Viel verstecktes Leben
und Flut trockenfallen, wurde in den 1980er-Jahren
Und noch eines offenbart sich erst auf den zweiten
zum Nationalpark erklärt, dem mit Abstand größten
Blick: Die ungeheure Menge an Leben, die im schein-
in Deutschland. Und nicht nur das: Im Jahr 2009 nahm
bar so leblosen Wattboden steckt, die vielen Hundert
die UNESCO das gesamte Wattenmeer in ihre Welt-
verschiedenen Arten von Algen, Krebsen, Muscheln
naturerbe-Liste auf, zu der unter anderem auch der
oder Würmern. Alle diese Organismen sind bestens
Grand-Canyon-Nationalpark in den USA oder das Great-Barrier-Reef in Australien gehören. Dass es das Watt überhaupt gibt, ist ein erdgeschichtlicher Zufall. Die Nordsee ist ein sehr flaches Meer, in dem ungeheure Mengen von Sand lagern. Stürme tragen diesen Sand seit Jahrtausenden gen Küste. Und so konnte das Watt langsam emporwachsen und mit dem natürlichen Anstieg des Meeresspiegels seit der letzten Eiszeit mithalten. An manchen Orten zieht es sich 30 Kilometer weit hinaus in die See. Für viele Menschen gehört die erste Wattwanderung ganz sicher zu den faszinierendsten Momenten –
Ein Wattwurm (Arenicola marina) aus der Familie der Sandwürmer (Arenicolidae). Meist sind diese Tiere tief im Wattboden vergraben
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Solche Löcher und Haufen verursacht der Wattwurm, wenn er sich durch den Boden gräbt, Nahrung aus dem Sand filtert und die unverdaulichen Körner wieder ausscheidet
an das Leben im Watt angepasst. Um nicht von der Flut fortgespült, von Fischen und Vögeln verspeist oder bei Ebbe von der Sonne ausgetrocknet zu werden, vergraben sich die meisten Tiere im Wattboden. Zu den bekanntesten zählt der Wattwurm, der, tief im Boden verborgen, Sand in sich hineinfrisst, um die verwertbaren Nahrungsteilchen herauszufiltern. Etwa alle 45 Minuten schiebt er sein Hinterteil aus dem Boden, um den unverdaulichen Sand auszuscheiden. Dabei entstehen die charakteristischen Sandhäufchen, die zu Tausenden auf dem Watt liegen. Bedenkt man, dass unter jedem Häufchen ein Wattwurm steckt, wird einem schlagartig bewusst, wie viele Organsimen den Wattboden bevölkern.
Nahrung für Fische und Vögel Biologen wissen seit Langem, warum das Wattenmeer
Nordseefische wie die Scholle (Pleuronectes platessa) laichen im Wattenmeer, da der Nachwuchs hier viel Nahrung findet
in dieser Hinsicht so produktiv ist. Die großen Flüsse, der Rhein, die Weser und die Elbe, tragen viele Nährstoffe vom Land in die Nordsee. Diese Nährstoffe sind ein natürlicher Dünger für die Mikroalgen im Meer, das Phytoplankton. Das Phytoplankton wiederum ist Nahrung für Kleinkrebse oder Fischlarven, von denen sich dann wieder größere Tiere ernähren. Insgesamt bietet das Watt also etlichen Tierarten Nahrung. „Das macht es zu einem sehr bedeutsamen Lebensraum“, sagt der Biologe Martin Stock von der Nationalparkverwaltung Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer in Tönning. „Viele Tierarten aus der Nordsee, die Scholle und Seezunge zum Beispiel, laichen hier, weil der Nachwuchs ausreichend Nahrung findet. Das Wattenmeer, so sagt man, ist die Kinderstube der Nordseefische.“ Hinzu kommen die vielen Zugvögel, die im Frühjahr aus Südeuropa und Afrika nach Skandinavien und Sibirien ziehen, um dort zu brüten. Auch auf dem Rückweg im Herbst legen sie im Wattenmeer einen Zwischenstopp ein. Insgesamt etwa zwölf Millionen Zugvögel ziehen dann im Laufe mehrerer Wochen durch das Watt. Der Rekordhalter im Langstreckenfliegen ist die Küstenseeschwalbe – ein hübscher Vogel mit schlanken, weißen Flügeln, der im Sturzflug
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Meer, Seen und Flusslandschaften | Die Kinderstube der Nordsee
Küstenseeschwalben sind echte Langstreckenflieger. Das Wattenmeer ist für sie ein wichtiger Rastund Brutplatz
nach Fischen jagt. Die Küstenseeschwalbe brütet im
deutung; ein Grund, warum es heute Naturerbe-Status
Wattenmeer und weiter im Norden, auch in Sibirien.
genießt.“
Den Winter verbringt sie in Südafrika, Südamerika
Natürlich brüten viele Vögel auch im Wattenmeer.
und sogar am Rande der Antarktis. Auf ihrem rund
Allen voran die Möwen, der schwarz-weiße Austern-
40.000 Kilometer langen Zugweg ist das Wattenmeer
fischer mit seinem karottenrot leuchtenden Schna-
eine lebenswichtige Tankstelle, die Nahrung und Ru-
bel oder der Rotschenkel, der wegen seines zarten,
hezonen bietet. „Solche Beispiele zeigen, dass das
langgezogenen Rufs auf Plattdeutsch auch „Tüter“
Wattenmeer ein sehr offener Lebensraum ist, der mit
heißt. Diese Vögel finden in den Salzwiesen Deckung
anderen Regionen stark vernetzt ist, der offenen See
vor Feinden und Ruhe. Die Salzwiesen bilden sich
oder den Brutgebieten der Vögel“, sagt Martin Stock.
in den höhergelegenen Wattgebieten, am Festland
„Damit ist es von herausragender internationaler Be-
oder nahe am Ufer der Inseln. Diese Wiesen werden
Die Salzwiesen bieten den Vögeln Schutz und Ruhe. Hier am Wattenmeer Schleswig Holstein mit blühendem Strandflieder
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Das Weltnaturerbe Wattenmeer erstreckt sich über die Küsten dreier Länder: Niederlande, Deutschland und Dänemark
seltener überflutet und liegen häufig trocken. Hier
„Tabuzonen“ dürfen nicht betreten werden. In anderen
wachsen Pflanzen, die wahre Überlebenskünstler
Zonen des Nationalparks hingegen können die Urlau-
sind. Denn sie kommen mit dem Salz im Wattboden
ber baden, wandern oder segeln. Genau genommen
zurecht. Normalerweise ist Salz absolut tödlich. Es
gibt es an der deutschen Wattenmeerküste nicht nur
wirkt wie die Sonne in der Wüste, saugt die Pflanzen
einen, sondern gleich drei Nationalparks, da die Ver-
geradezu aus. Doch die Salzpflanzen, die Halophyten,
waltung von Nationalparks in Deutschland Sache der
haben Strategien entwickelt, um das Salz loszuwer-
Länder ist; je einen Nationalpark Wattenmeer an der
den – der Strandflieder zum Beispiel, eine Pflanze mit
Küste Niedersachsens und Schleswig-Holsteins und
kniehohen Ästchen, die im Hochsommer blüht und die
einen, der die kleine Insel Neuwerk in der Elbmün-
Salzwiesen in violett leuchtende Teppiche verwan-
dung umgibt und zu Hamburg gehört. Das Konzept
delt. Er besitzt viele kleine Drüsen, über die er das
der Schutzzonen ist jedoch in allen drei Nationalparks
Salz wieder ausscheidet. Diese sitzen dicht an dicht
ähnlich.
auf den Blättern. Pro Quadratzentimeter Blattfläche sind es etwa 3000. Auch viele Insekten sind von die-
Krieg gegen das Meer
sen besonderen Pflanzen abhängig.
Dass man sich so um den Erhalt dieser einzigartigen
„Die Salzwiesen und andere empfindliche Berei-
und herb-schönen Naturlandschaft bemüht, ist heute
che des Wattenmeeres wie etwa die Sandbänke, auf
eine Selbstverständlichkeit. Noch vor wenigen Jahr-
denen die Seehunde ruhen, werden deshalb durch
zehnten sah das ganz anders aus. Das Watt galt als
besondere Zonen geschützt“, sagt Martin Stock. Diese
trostlos und heimtückisch, als wertlose Freifläche, die wirtschaftlich zu entwickeln sei. Man wollte große Teile des Wattenmeeres eindeichen, um sie landwirtschaftlich nutzen und Industrie ansiedeln zu können.
Varde
Weltnaturerbegebiet
Esbjerg Fanø
DÄNEMARK
großen Sturmfluten in den 1960er- und 1970er-JahRibe
Nordsee
Tønder
alte Meldorfer Bucht oder die Mündung der Eider in
Föhr
Schleswig-Holstein. Bis heute wird hier Ackerbau auf
Pellworm
Husum
Schleswig-Holstein Helgoland
Heide
DEUTSCHLAND NIEDERLANDE Ameland
Terschelling
Juist
Schiermonnikoog
Wilhelmshaven Aurich
Den Helder
Harlingen 0
Delfzijl
Leeuwarden
Groningen 20
40
76
Cuxhaven
Norden
Vlieland
Texel
Wangerooge
Norderney
60 km
Niedersachsen Oldenburg
Gründung des Nationalparks gab es noch grünes Licht für die Eindeichung der Nordstrander Bucht bei Husum, die heute Beltringharder Koog heißt. Während des zweiten Weltkrieges legte Gauleiter Hinrich Lohse seinen „Generalplan für die Landgewinnung in Schleswig-Holstein“ auf den Tisch: Er
Bremerhaven
Emden Leer
ehemaligem Wattgebiet betrieben. Selbst kurz vor der
Doch es hätte noch schlimmer kommen können.
Spiekeroog
Borkum
Nordsee und das Watt. Man riegelte große Gebiete mit mächtigen Sperrwerken und Deichen ab – die
Amrum
Langeoog
ren, als an der Nordseeküste und in Hamburg die Deiche brachen, begann der große Kampf gegen die
Rømø
Sylt
Und zum Teil geschah das auch. Besonders nach den
Bremen
Meer, Seen und Flusslandschaften | Die Kinderstube der Nordsee
wollte das nordfriesische Festland bis zu den Inseln Föhr und Amrum nach Westen erweitern. Der Plan sah einen riesigen Deich von der Südspitze Sylts über die Inseln Amrum und Pellworm bis zur Halbinsel
Eiderstedt vor. Damit wäre die einzigarte Landschaft der Halligen ganz in Ackerland aufgegangen – jener kleinen Inseln im nordfriesischen Wattenmeer, die regelmäßig bei Sturmflut überspült werden. Zwar verschwanden die Pläne aus der Nazi-Zeit nach dem Krieg in den Schubladen. „Aber so ganz aus den Köpfen waren sie eigentlich nie“, sagt Karsten Reise, Biologe und bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Jahren Leiter der Wattenmeerstation des Alfred-Wegener-Instituts in List auf Sylt. „Während des Krieges ging es darum, Land für die Produktion von Nahrungsmitteln zu gewinnen, nach den schweren Sturmfluten der 1960- und 1970er Jahre dann um den Küstenschutz.“ Für Reise sind die Eindeichungen die schwersten Wunden, die man dem Watt zugefügt hat. Tröstlich sei lediglich, dass Lohses Generalplan nie
Im Rahmen des nationalsozialistischen Siedlungsbaus entstand 1935 durch Eindeichung an der Nordsee der Adolf-Hitler-Koog (heute: Dieksanderkoog). Die Nazis wollten das Wattenmeer bis nach Amrum und Föhr trockenlegen
umgesetzt worden sei. Das Watt aber trägt noch weitere Narben aus der Zeit, als der Naturschutz kaum einen Stellenwert
meer. In Deutschland dauerte es länger, bis man sich
hatte. Unweit des Ferienortes Büsum baute man eine
endlich zum Schutz des Wattenmeeres durchrang: Am
Bohrinsel ins Watt, in Wilhelmshaven einen großen
1. Oktober 1985 verabschiedete Schleswig-Holstein
Ölhafen in die Mündung der Jade und in den Nieder-
sein Nationalparkgesetz. Niedersachsen folgte 1986.
landen Gasförderplattformen vor die westfriesischen
Und 1990 schließlich erklärte auch Hamburg sein
Inseln. Das deutsche Bundesforschungsministerium
Wattgebiet zum Nationalpark.
gab 1974 gar ein Gutachten in Auftrag, in dem man günstige Standorte für den Bau von Atomkraftwer-
Die Rückkehr der Kegelrobbe
ken im Wattenmeer auslotete. Der Kampf der Natur-
In diesen vergangenen 30 Jahren hat sich vieles zum
schützer gegen diese Bedrohungen begann Mitte der
Guten gewendet. Die wohl größte Erfolgsgeschichte
1960er-Jahre in den Niederlanden, als Wirtschaftspla-
im Wattenmeer ist die der Robben – der Seehunde
ner die Insel Ameland über zwei Autodämme mit dem
und der Kegelrobben, deren Bestände in den vergan-
Festland verbinden und das Watt dazwischen trocken-
genen Jahren enorm angewachsen sind. Über Jahr-
legen wollten. Die Argumente der Naturschützer hat-
hunderte hatte man an der Nordsee Seehunde und
ten Schlagkraft, weil sie von Wissenschaftlern unter-
Kegelrobben wegen ihres Fells und Fleisches gejagt –
stützt wurden, die schon damals die internationale
und auch, weil Fischer in ihnen Konkurrenten sahen.
Bedeutung des Wattenmeeres für die Vogelwelt und
Die Kegelrobben starben hier bereits im 16. Jahrhun-
das Leben in der ganzen Nordsee erkannt hatten. Also
dert aus und waren zuletzt fast vergessen. Die See-
machten die Naturschützer Druck. Sie demonstrierten
hunde blieben, weil sie nicht so leicht zu erbeuten
vor den Ministerien und warnten in Zeitungsartikeln
sind. Doch sank ihre Zahl dramatisch. In den 1960er
und Büchern vor dem Ausverkauf des Wattenmeeres.
und 1970er Jahren zählte man im gesamten Watten-
Und so verabschiedete sich 1974 die neue linksli-
meer zwischen den Niederlanden und Dänemark nur
berale Regierung in Den Haag von den meisten der
noch gut 3500 Tiere. Auf Druck von Naturschutzver-
geplanten Bau- und Wirtschaftsprojekten im Watten-
bänden wurde die Seehundjagd dann aber verboten:
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Kegelrobben auf Norderoogsand, einem der Außensände im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Ihre Population im Wattenmeer hat sich glänzend erholt
1962 in den Niederlanden, 1975 in Deutschland und
Noch eindrucksvoller ist die Geschichte der Kegel
1977 auch in Dänemark. Und damit wuchsen die
robben, die nach mehreren Jahrhunderten Abwesen-
Seehundbestände wieder. Heute leben im Watten-
heit zurückgekehrt sind. Vom Festland vertrieben,
meer rund 40.000 Tiere. Manche Experten gehen
hatten sie sich an die felsigen Küsten Schottlands
davon aus, dass auch Umweltschutzmaßnahmen zur
zurückgezogen. Doch mit dem Ende der Robbenjagd
Erholung beigetragen habe. Denn früher gelangten
fanden einige offenbar zurück in die alte Heimat –
über die Flüsse große Mengen an Schadstoffen in
und vermehrten sich dort. Heute leben im Watten-
die Nordsee – Schwermetalle und diverse chemi-
meer und auf Helgoland wieder 5500 Kegelrobben.
sche Verbindungen aus Industrieabwässern. Es gilt als wahrscheinlich, dass diese zu einer Schwächung
Belastung durch die Elbvertiefung
des Immunsystems der Seehunde und zu geringerer
Wattenmeer-Experte Martin Stock ist zufrieden mit
Fruchtbarkeit führten, sodass bei vielen Tieren der
dem, was man für das Wattenmeer erreicht hat. „Die
Nachwuchs ausblieb. Dank deutlich saubererer Flüsse
wesentlichen Dinge sind klar geregelt. Die Schutz-
sieht es heute sehr viel besser aus.
zonen funktionieren.“ Doch es gibt auch kritische Stimmen. Für Karsten Reise ist heute eines der größten Probleme das Ausbaggern und die Vertiefung der Elbe, der Ems und der Weser für die Schifffahrt. Damit besonders große Container- und Kreuzfahrtschiffe in die Flüsse hineinfahren können, werden
Solche Saugbagger sollen in den nächsten zwei Jahren bis zu 40 Millionen Kubikmeter Baggergut aus der Elbe holen
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jedes Jahr viele Millionen Kubikmeter an Sediment aus den Fahrrinnen gebaggert. „Wanderfische leiden in den vertieften Fahrrinnen im Sommer unter Sauerstoffmangel“, sagt Reise. Und Seeschwalben fänden in den verschlickenden Flächen entlang der Flussmündungen wegen des trüben Wassers weni-
Meer, Seen und Flusslandschaften | Die Kinderstube der Nordsee
ger Nahrung. Ein Problem für das Wattenmeer, die
dass der Druck auf das Watt im selben Maße zu-
Kegelrobben und die Seehunde ist nach Ansicht von
nimmt. Für Martin Stock ist heute aber vor allem der
Experten auch der zunehmende Meereslärm, den der
Meeresspiegelanstieg eine Bedrohung. „Niemand
Schiffsverkehr, die Frachter, Fischerboote und vor
kann die Folgen des Klimawandels abschätzen.
allem die Arbeiten in den Windparks verursachten.
Sollte der Meeresspiegel deutlich steigen, könnten
Auch der wachsende Tourismus bringe viele Be-
große Bereiche des Wattenmeeres für immer versin-
lastungen mit sich: Die Ferienorte locken Urlauber
ken.“ Dennoch ist der Nationalpark Wattenmeer für
mit Rockkonzerten direkt am Deich, mit Feuerwer-
ihn heute ein Beispiel dafür, wie erfolgreich Natur-
ken, die von Pontons im Watt abgeschossen werden
schutz sein kann – und dass sich der Kampf dafür
oder Ausflugsdampfern, die mit lauter Musik in den
lohnt. „Lange hat man das Wattenmeer in seiner
Sonnenuntergang hinausfahren. Das mögen Extrem-
Bedeutung unterschätzt. Mit der Ernennung zum
beispiele sein. Doch der Tourismus an der Nordsee
Weltnaturerbe steht es heute auf einem Tablett mit
wächst – in Schleswig-Holstein in jedem Jahr um
den anderen großen Nationalparks der Welt und ist
rund zwei Prozent. Insofern gilt es zu verhindern,
international geachtet.“
Treffpunkt Naturerbe: Vogelschwarm am Dieksander Koog
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Meer, Seen und Flusslandschaften
Diesen Blick auf die „Kreidefelsen auf Rügen“, den Caspar David Friedrich malte, hat es so wohl nie gegeben. Doch ein Besuchermagnet ist die Kreideküste bis heute
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Meer, Seen und Flusslandschaften | Die Kinderstube der Nordsee
So romantisch kann Kreide sein
Ralf Stork
Im Nationalpark Jasmund wollen alle den Königsstuhl sehen. Wer ein bisschen längere Wege in Kauf nimmt, wird mit Ruhe und grandiosen Aussichten belohnt Eine jüngere Frau, ein junger und ein älterer Mann,
Bild hat er verschiedene Perspektiven zu einer zu-
die alle ehrfurchtsvoll oder schaudernd in die Tiefe
sammengesetzt. Außerdem hat sich durch Erosion
schauen – auf eine besonders zackige Formation aus
die Kreidelandschaft so stark verändert, dass es die
Kreide. Das ikonische Bild, in dem Caspar David Fried-
damaligen Felsformationen schon lange nicht mehr
rich seinen Besuch bei den Kreidefelsen verarbeitet
gibt.
hat, ist einerseits Beleg für den frühen Tourismus und
Was bei aller Veränderung bleibt, ist der spekta-
gleichzeitig eine wichtige Quelle für den bis heute
kuläre Küstenabschnitt der sogenannten Stubben-
nicht abreißenden Besucherstrom im Nationalpark
kammer. „Der ganze Abschnitt ist toll, aber die größte
Jasmund.
Attraktion im Nationalpark ist der Königsstuhl.“ Den
Dieser liegt im Nordosten der Urlaubsinsel Rügen,
markanten Kreidefelsen wollen jedes Jahr bis zu
auf einer Halbinsel, die nur durch schmale Land-
800.000 Besucher sehen. Am Königsstuhl liegt auch
brücken mit dem Rest Rügens verbunden ist. Mit
das Nationalparkzentrum. Um ein Verkehrschaos
einer Fläche von 3200 Hektar ist er der kleinste der
zu vermeiden, müssen die Besucher ihre Wagen im
16 Nationalparks in Deutschland und liegt auch eher
zwei Kilometer entfernten Hagen abstellen und sich
abgelegen. Trotzdem kommen Jahr für Jahr Hunderttausende Besucher, um ein Naturdenkmal zu sehen, das fast so bekannt wie Schloss Neuschwanstein ist – die Kreideküste von Rügen. Die schroffen weißen Felsen, die steil zum Meer abfallen, sind seit mehr
Blick auf die Kreideküste im Nationalpark Jasmund bei Sassnitz auf der Insel Rügen. Der markante Felsvorsprung links im Bild ist der berühmte Königsstuhl
als 200 Jahren die größte Attraktion der Insel. Nicht zuletzt deshalb, weil 1818 der Maler Casper David Friedrich auf seiner Hochzeitsreise auf die Insel kam und die weißen Klippen besuchte. Noch im gleichen Jahr entstand eines seiner bekanntesten Bilder: „Kreidefelsen auf Rügen“.
Vergängliche Formationen Die Rügen-Urlauber wollen die Kreidefelsen auch deshalb sehen, weil Friedrich sie gemalt hat, am liebsten genau aus der Perspektive, die der romantische Maler eingenommen hat. Das allerdings ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. „So wie Friedrich die Felsen auf dem Bild gemalt hat, hat es sie wahrscheinlich nie gegeben“, sagt Katrin Bärwald, Sprecherin des Nationalparks. Für sein dramatisches
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So könnte der geplante Königsweg-Rundgang – eine Art schwebende Hängebrücke – aus der Luft aussehen
dann mit dem Bus zum Königsstuhl fahren lassen. Wer
kann der Weg in der Hochsaison aber ziemlich voll
mag, kann auch laufen. „Auf dem Weg kommt man am
sein.
Hertha-See und einem kleinen Moor vorbei. Da be-
Oben angekommen, lohnt sich der Besuch des
kommt man einen sehr guten Eindruck von der Land-
Nationalpark-Zentrums: Dort können die Gäste eine
schaft“, sagt Bärwald. Wie bei jeder Großattraktion
Zeitreise zur Entstehung der Rügener Kreide und zur letzten Eiszeit machen. Vor allem aber ist im Eintrittspreis der Besuch der Aussichtsplattform auf dem Königsstuhl enthalten, von der aus man einen fantastischen Ausblick in die Tiefe hat. Wer sich den Eintritt sparen will, hat von der nahe gelegenen Victoriasicht den bestmöglichen Ausblick auf den Königsstuhl. Die spektakuläre Landschaft ist nach wie vor im Wandel. Die Kreide ist so weich, dass man sie zwischen den Fingern zerbröseln kann und bietet den Elementen daher keinen dauerhaften Widerstand. An einigen Küstenabschnitten ist das Meer in den vergangenen 150 Jahren um 50 Meter weiter vorgerückt. Mit künstlichen Befestigungsmaßnahmen am Fuße der Klippen könnte man die Erosion verlangsamen. Allerdings sind solche Maßnahmen ziemlich teuer und die charakteristische Steilküste, die von den Abbrüchen lebt, ginge auch verloren. Wegen der fortschreitenden Erosion ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Zugang zum Königsstuhl so brüchig geworden ist, dass er nicht mehr benutzt werden kann.
Klein aber fein: Der Kieler Bach als Wasserfall am Steilufer auf Rügen
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Der Königsstuhl selbst – da sind sich die Mitarbeiter des Nationalparks sicher – ist so massiv, dass er noch sehr, sehr lange erhalten bleibt. Ansonsten würden auch die Planungen für eine neue Aussichtsplatt-
Meer, Seen und Flusslandschaften | So romantisch kann Kreide sein
form – eine Art schwebende Hängebrücke, die die Besucher auf einem Rundweg in ein paar Metern Höhe über den Königsstein führt – wenig Sinn machen. Allerdings ist der Neubau in der Gemeinde Saßnitz nicht ganz unumstritten, unter anderem weil der Stützpfeiler ein Stück über die Baumkronen hinausragen und so das Landschaftsbild verändern würde. Wann das rund sieben Millionen Euro teure Bauwerk tatsächlich umgesetzt wird, ist deshalb noch nicht klar. Die Erosion lässt nicht nur alte Felsformationen zusammenbrechen, sie lässt auch wieder neue entstehen. 2005 stürzten die Wissower Klinken – ein bekanntes Fotomotiv – spektakulär in die Ostsee. Mitt-
Den schönsten Gesamteindruck vom National-
lerweile entstehen an der Stelle durch Erosion schon
park bekommt man allerdings auf dem Hochuferweg,
wieder neue Formationen. „Die Milchzähne sind schon
dem knapp zwölf Kilometer langen Wanderweg, der
wieder zu sehen“, formuliert es Bärwald.
von Saßnitz nach Lohme führt. Da kann man sehen, wie der Kieler Bach als kleiner Wasserfall in die Tiefe
Zwischen Strand und Kreide
stürzt. Auf dem Weg kommt man noch an weiteren
Sie empfiehlt unbedingt, es nicht nur beim Besuch
Bächen vorbei, die tiefe Täler in die Landschaft ge-
des Königsstuhls zu belassen, sondern sich auch die
schnitten haben. Vor allem kann man auf der Tour, auf
übrigen Bereiche des Nationalparks anzuschauen.
der überraschend viele Höhenmeter zu überwinden
„Beim Kieler Bach zum Beispiel gibt es noch eine
sind, die alten Buchenwälder auf sich wirken lassen,
Treppe, auf der man runter an den Strand gehen kann“,
die seit 2011 UNESCO-Weltnaturerbe sind. Knapp
sagt sie.
zwei Kilometer nordöstlich von Saßnitz liegt direkt
Auch in direkter Nähe des Königsstuhls führen
am Wanderweg das UNESCO-Welterbeforum – eine
Stufen an den Strand. Allerdings sind die seit 2017
gute Rastmöglichkeit, um sich über die vor etwa
gesperrt. Zu gefährlich. „Wir raten allen Besuchern
800 Jahren entstandenen Wälder zu informieren und
von einem Strandspaziergang unter der Steilküste ab“,
sich mit einem kleinen Imbissangebot zu stärken.
sagt Bärwald. Denn immer wieder lösen sich Teile der Felswand und krachen auf den Sand.
Die alten Buchenwälder an der Kreideküste stellen gleich ein doppeltes Naturwunder dar
„Die Kombination aus dem Weiß der Felsen, dem Grün der Buchen und dem durch die ausgewaschene
Wer sich noch intensiver mit der Kreide beschäf-
Kreide türkisfarbenen Wasser macht für mich den be-
tigen will, hat in dem kleinen Ort Gummanz Gelegen-
sonderen Reiz des Nationalparks aus“, sagt die Natio-
heit dazu. Dort steht Europas einziges Kreidemuseum,
nalparksprecherin. Die schönste Zeit für eine längere
das in einem historischen Kreidewerk untergebracht
Wanderung ist für sie Anfang Mai, wenn das frische
ist. Die Besucher erfahren, wie das Gestein früher und
Laub der Buchen noch ganz zart ist, oder im Herbst,
heute abgebaut wurde und wie die Kreideküste ent-
wenn sich das Buchenlaub rot-orange verfärbt. Der
standen ist. Regelmäßig werden Exkursionen in den
Hochsommer ist nicht die beste Zeit für einen Be-
noch aktiven Tagebau angeboten. Unter fachkundiger
such – zumindest nicht, wenn man es möglichst ein-
Anleitung haben die Teilnehmer dann Gelegenheit,
sam und ruhig haben möchte. Dann lieber gut einpa-
nach den Überresten von Tieren zu suchen, die in dem
cken und im Winter kommen, so Bärwalds Vorschlag:
Gebiet vor rund 70 Millionen Jahren durchs Urmeeer
„Wenn im November der Nebel über der Kreideküste
schwammen.
hängt, erzeugt das eine ganz besondere Stimmung.“
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Meer, Seen und Flusslandschaften
Dass die Müritz heute ein Nationalpark ist, verdankt sie einigen engagierten Umweltschützern mit viel Glück und dem richtigen Timing
Naturschutz von unten
Ralf Stork
An der Müritz formierte sich zur Wendezeit eine Bürgerbewegung, die schließlich zur Gründung aller sieben Nationalparks in der ehemaligen DDR führte. Heute ist der Müritz-Nationalpark der größte in Deutschland. Eine Fahrradtour durch Wald, See- und Moorlandschaften Die Geschichte des Müritz-Nationalparks – ja, die
In den folgenden Wochen nimmt der National-
Geschichte aller sieben Nationalparks, die es heute
parkplan für die Müritz und andere Gebiete konkre-
in der ehemaligen DDR gibt, beginnt mit einer ein-
tere Formen an. Als stellvertretender Umweltminister
maligen Gelegenheit, die nur in einem ganz kleinen
arbeitet Michael Succow mit einer Reihe von Mitstrei-
Zeitfenster ergriffen werden konnte. Am Ende war es
tern das Nationalparkprogramm der DDR aus. Neben
sehr, sehr knapp!
der Müritz-Region sollen auch andere ökologisch
Am 2. November 1989, als die Erosion der alten
wertvolle Landschaften dauerhaft gesichert werden.
DDR bereits im vollen Gange war, richtet das Neue
Am 12. September 1990 wird das Nationalparkpro-
Forum in Waren (Müritz) ein Staatsjagdforum aus.
gramm schließlich in der letzten Sitzung, als letzter
Die Veranstaltung mit dem unscheinbaren Namen
Tagesordnungspunkt auf den allerletzten Drücker ver-
hat politische Brisanz, denn im Mittelpunkt stehen
abschiedet. Zusammen mit der Müritz werden noch
die Privilegien einiger Bonzen: Der DDR-Ministerprä-
die Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft,
sident Willi Stoph ging in den Wäldern rund um die
Jasmund, Hochharz und Sächsische Schweiz aus der
Müritz ebenso gerne zur Jagd wie Erich Honecker und
Taufe gehoben.
Minister Günther Kleiber. Für das Privatvergnügen der
Alle Beteiligten sind sich heute einig, dass die
drei Politiker wurden sogenannte Staatsjagdgebiete
Gründung nur in der kurzen chaotischen Übergangs-
eingerichtet. Viele Tausend Hektar blieben deshalb für
zeit bis zur Wiedervereinigung möglich war. Doch
Nicht nur Erich Honecker ging regelmäßig in den Wäldern der Müritz zur Jagd – in eigens für die Politiker errichteten Staatsjagdgebieten
die Öffentlichkeit gesperrt. Auf dem Jagdforum wird nun erstmals die Abschaffung der Staatsjagd, die Öffnung der Flächen für die Öffentlichkeit und die Gründung eines Nationalparks an der Müritz gefordert.
Beschluss in letzter Minute Mit dem Fall der Mauer wenige Tage später implodiert das alte Machtsystem der DDR kurz darauf endgültig. Ende November spazieren Mitglieder des Neuen Forums zum ersten Mal zum Anwesen von Stoph, das offensichtlich in Eile geräumt wurde, und lassen es versiegeln. Am 1. Dezember wird die Auflösung aller Staatsjagdgebiete verkündet. Bald darauf werden auf einer touristischen Karte die ersten Umrisse eines möglichen Nationalparks eingezeichnet und an den neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow geschickt.
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wie knapp die Zeit tatsächlich werden sollte, ahnte
Ein kurzes Stück hinter dem Hafen führt ein gut
damals niemand. Monatelang gehen die Planer vom
asphaltierter Fahrradweg geradewegs in den Wald
Fortbestand der DDR aus, die Einrichtung des Na-
hinein. Früher war der Weg eine öffentliche Stra-
tionalparks ist auf einen Zeitraum von zwei Jahren
ßenverbindung zwischen Waren und Federow, heute
angelegt. Der Zusammenbruch der DDR-Regierung
sind die Autos von der Strecke verbannt. Wo immer
im August 1990 wirft diese Planungen über den
es geht, werden Wanderer, Rad- und Autofahrer im
Haufen. Plötzlich muss der Nationalparkplan sehr
Nationalpark voneinander getrennt. Was nicht heißt,
schnell umgesetzt werden und das gegen immer
dass die verschiedenen Fortbewegungsarten nicht
noch bestehende Widerstände. Das zeigt allein die
miteinander kombiniert werden können: Viele Rund-
Tatsache, dass die Abstimmung eigentlich schon aus
wanderwege starten in den Dörfern, die man mit
der letzten Sitzung des Ministerrates gestrichen war.
dem Auto erreichen kann. Auch von den Fahrradwe-
Und dass der Tagesordnungspunkt am 12. September
gen zweigen immer wieder kleinere Wanderwege ab.
um ein Haar auch noch aus der Tagesordnung ge-
Dann sind da noch die Busse und Schiffe der Natio-
fallen wäre.
nalparklinie, die die wichtigsten Orte im Westen des
Heute, knapp 30 Jahre später, merkt man der
Parks miteinander verbinden. Wer will, kann seine
Nationalparkregion ihre dramatische Entstehungs-
Radtour kurz unterbrechen, um ein paar Kilometer
geschichte kaum noch an. Anfang Juni präsentiert
um einen kleinen See zu laufen. Man kann sich auch
sich der mecklenburgische Kurort Waren beinahe
mit dem Bus zum Ausgangspunkt einer längeren
mediterran: Wenn man nicht zu genau hinsieht,
Wanderung fahren oder nach einer langen Tour samt
kann man die Weite der Müritz für das Meer hal-
Rad wieder zum Ausgangspunkt bringen lassen.
ten. Die Motorjachten im Hafen sind zwar eine Spur
Waren an der Müritz: der mecklenburgische Kurort präsentiert sich modern und mediterran
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kleiner als in Marbella, aber auch nicht schlecht.
Wegenetz statt Abschottung
Am Strand entstehen gerade ein paar neue Ferien-
Wahrscheinlich sind die vielen Wanderrouten, die
anlagen, die der Schönheit der Altstadt aber nichts
das Gebiet durchziehen, ebenso wie die vielen Mög-
anhaben können. Es gibt eine kleine Fußgängerzone
lichkeiten, die man im Müritz-Nationalpark hat, eine
und jede Menge Restaurants mit großen Terrassen
Folge der Abschottung zu DDR-Zeiten. In der Grün-
direkt am Wasser.
dungsphase des Nationalparks kamen bei den Men-
Waren ist ein guter Ausgangspunkt für eine Tour
schen in der Region schnell Bedenken auf, dass die
durch den Nationalpark – am besten mit dem Fahrrad,
früher gesperrten Staatsjagdgebiete nun für den
weil man so seine schiere Größe am besten erleben
Naturschutz gesperrt und alle Restriktionen und Ver-
kann.
bote einfach fortbestehen würden. Dem soll das weit
Meer, Seen und Flusslandschaften | Naturschutz von unten
gefächerte Wegenetz offensichtlich entgegenwirken. Auch in den Orten ist die touristische Infrastruktur sehr gut ausgebaut: Fast in jedem Dorf gibt es Cafés, Biergärten und touristische Informationen – häufig mit Park-Rangern als Ansprechpartnern. In Federow angekommen, findet man sich in einem der großen Nationalparkstützpunkte mit einem umfangreichen Angebot an Büchern und Führungen wieder. Eine Kamera überträgt Live-Bilder aus einem Fischadler-Nest und wer will, kann sich gleich gegenüber in dem Café auf einem ehemaligen Bauernhof stärken. Auf der Weiterfahrt nach Schwarzenhof kann man nach ein paar 100 Metern noch einen direkten Blick auf den Adlerhorst werfen. Ein Schild weist die
ben wir 1990 eine der ersten Naturschutzmaßnahmen
Richtung von der aus man, hinter einer Holzblende
umgesetzt“, sagt Nationalparkleiter Ulrich Meßner, der
versteckt, den Adlern auf Nest schauen kann.
die Radtour für eine kurze Etappe begleitet. Meßner
Doch abgesehen von diesem Erlebnis, das einen
ist Nationalparkmann der ersten Stunde. Er war beim
mit voyeuristischer Spannung erfüllt, sieht dieser Teil
Neuen Forum dabei und hat die Umrisse des mög-
der Strecke nicht sehr nach Nationalpark-Wildnis aus.
lichen Schutzgebiets mit auf die Touristenkarten ge-
Eine große Stromtrasse schwingt sich durch die Land-
zeichnet.
Zwischenstopp im Café im Bauernhof
schaft und der Radweg verläuft für ein paar Kilometer parallel zur Landstraße. Einerseits. Andererseits haben sich die Fischadler einen der Strommasten als Nistplatz ausgesucht. Und die Straße ist so gut versteckt im dichten Grün und so wenig befahren, dass man sie gar nicht wahrnimmt. Hinter der Ortschaft Schwarzenhof wird die Landschaft allmählich hügeliger und feuchter. Der Radweg führt über kleinere Wasserläufe, und zwischen dem Grün der Blätter schimmert das Blau einer größeren Wasserfläche durch. „Das ist der Mühlensee. Hier ha-
Live-Übertragung aus einem Fischadlernest
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Der Mühlensee gehört zu einem größeren Feucht-
den ehemaligen Staatsjagdgebieten ablösen würde“,
gebiet, das durch einen Abflussgraben immer trocke-
sagt Meßner. Bis heute sei die Skepsis in der Bevölke-
ner wurde. „Wir haben 1990 eine Lkw-Ladung Lehm in
rung aber zumindest in Akzeptanz, zum Teil sogar in
den Graben gekippt und so den Regenerationsprozess
Zuneigung umgeschlagen.
der Moore gestartet“, sagt Meßner.
Seit ein alter Abflussgraben verstopft ist, steigt im Mühlensee wieder der Wasserspiegel
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Der Wanderweg am Mühlensee ist menschenleer.
Der überwiegende Teil des Nationalparks besteht
Das Gewässer liegt idyllisch da, ein paar Meter weiter
aus Wald, der immer wieder von kleineren Mooren
geht der See in eine dichte Schilffläche über, durch
und Seen durchzogen ist. Am Mühlensee hat die
die der Wind rauscht. Die Krebsschere, eine Wasser-
einfache Maßnahme gleich den erwünschten Erfolg
pflanzenart, breitet sich aus, Libellen sirren umher.
gehabt: Der Wasserspiegel im See stieg um rund
Fast schon überwältigend laut trompetet ein Kranich-
einen Meter an und konnte weitere kleine Feuchtge-
paar, das in dem wieder entstehenden Feuchtgebiet
biete wieder mit Wasser versorgen. Von der Bevölke-
ideale Lebensbedingungen findet. Hat es da nicht
rung wurde die Maßnahme trotzdem nicht nur positiv
auch etwas Gutes, dass es die Staatsjagdgebiete gab,
aufgenommen. Durch die Wiedervernässung starben
die über Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass die
viele Bäume ab, die sich auf den trockeneren Flächen
großen Wälder an der Müritz fast ohne menschliche
breit gemacht hatten. Ihre Stümpfe sind bis heute im
Nutzung blieben?
flachen Wasser zu sehen. Schnell wurden Stimmen
Das Argument will Meßner nicht gelten lassen:
laut, dass ein großes Baumsterben ja wohl kaum et-
„An den Staatsjagdgebieten war gar nichts gut, schon
was mit Naturschutz zu tun haben könne. „Am Anfang
gar nicht für den Naturschutz.“ Damit die Politiker bei
war die Skepsis schon ziemlich groß. Da war das böse
der Jagd immer etwas vor die Flinte bekamen, wurde
Wort von der grünen Stasi, die die rote Stasi nun in
die Wilddichte unnatürlich hochgehalten. Außerdem
Meer, Seen und Flusslandschaften | Naturschutz von unten
war Willi Stoph direkt an der Trockenlegung der wertvollen Feuchtgebiete beteiligt: Weil der Ministerpräsident gerne direkt mit dem Boot über die Müritz bis zu seinem Anwesen fahren wollte, wurde ein kleiner Graben so ausgebaut, dass das Politikerboot hindurchpasste. Durch den neu geschaffenen großen Abfluss wurden die vielen kleinen Moore rund um den Ort Speck effektiv entwässert. Das Nationalpark-Team hat auch diesen Graben gleich zu Beginn seiner Tätigkeit wieder zugeschüttet, so dass die Moore und Feuchtgebiete wieder wachsen konnten. So einfach gelingt die Wiedervernässung aber nicht überall. „An anderen Stellen im Nationalpark
Neustrelitz mit dem UNESCO-Weltnaturerbe „Alte
mussten wir an jedem noch so kleinen Gewässer den
Buchenwälder“.
Abfluss verschließen“, sagt Meßner. Mittlerweile ist
Von der 31 Meter hohen Aussichtsplattform des
bei fast allen Mooren zumindest der Einstieg in die
Käflingsbergturms in der Nähe von Speck erschließt
Renaturierung gelungen.
sich die weite, unzerschnittene Landschaft am bes-
Ein paar Seen und schier endlose Wälder: Rundumblick vom Käflingsbergturm
ten. In manche Richtungen blickend, sieht man nur
80 Prozent Wildnis
Wald und Seen. Am Fuß des kurzen Wanderwegs, der
Überhaupt ist der Müritz-Nationalpark bei der na-
zum Turm führt, sind eine ganze Reihe von Fahrrä-
turnahen Entwicklung der Flächen schon sehr weit
dern abgestellt. Auch an anderen Orten wie Federow
gekommen. „Rund 80 Prozent der Flächen sind Wild-
oder Boek trifft man immer wieder auf Touristen. In
nisgebiete, die sich ohne menschlichen Einfluss ent-
der schieren Größe des Parks fällt das aber nicht groß
wickeln können“, sagt der Parkleiter. 2018 wurde die
ins Gewicht. Nie hat man das Gefühl, der Nationalpark
Bewirtschaftung der Wälder endgültig eingestellt.
sei überlaufen. Und selbst im touristischsten Bereich
Mit einer Fläche von rund 32.000 Hektar ist der Mü-
rund um Waren finden sich Wege, auf denen man
ritz-Nationalpark außerdem der mit Abstand größte
stundenlang keiner Menschenseele begegnet – ein-
Nationalpark Deutschlands; die Wasserflächen im
mal von Extremwochenenden wie Himmelfahrt oder
Wattenmeer einmal außen vorgelassen. So entsteht
Pfingsten abgesehen.
ein riesiger zusammenhängender Rückzugsraum
In den frühen Abendstunden wird es dann noch
für selten werdende Arten. Eine ungefähre Ahnung
einmal ruhiger. Am Ziel in Waren platzen die Restau-
davon, wie groß der Park wirklich ist, bekommt man
rantterrassen am Hafen zwar aus allen Nähten. Doch
schon bei der Rundfahrt von Waren über Federow und
die Begegnungen, die man auf dem Weg dorthin
Speck nach Boek und wieder zurück. Die Tour ist rund
macht, sind eher tierischer Natur: Zehn Meter vom
50 Kilometer lang und deckt doch nur einen Bruchteil
Weg entfernt steht ein Reh im Unterholz und frisst
des Nationalparks ab. Nordöstlich davon schließt sich
an ein paar jungen Trieben. Es blickt für ein paar Se-
ein gewaltiges, kaum erschlossenes Waldgebiet an.
kunden in Richtung des Weges, dann verschwindet es
Noch weiter östlich bei Kratzeburg liegt das Quell-
mit eleganten Sprüngen im Gebüsch. Und ein paar
gebiet der Havel mit vielen kleinen Seen. Im Süden
Minuten später schnürt ein Fuchs den Fahrradweg
erstreckt sich der Park bis vor die Tore von Wesen-
entlang. Keine fünf Meter entfernt, ohne sich auch nur
berg. Und dann ist da noch die Exklave im Osten von
im Geringsten aus der Ruhe bringen zu lassen.
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Interview: Ralf Stork
Nichts mitnehmen, nichts dalassen und auf den Wegen bleiben Ronald Gipp mit Hund bei der Arbeit im Nationalpark Müritz
Ronald Gipp, 54, ist einer von 20 Rangern im MüritzNationalpark. Im Interview spricht er über seine Arbeit und das richtige Verhalten in der Natur natur: Was macht ein Parkranger eigentlich genau?
Gipp: Ich sag immer, ihr sollt nicht mehr als Eure
Ronald Gipp: Die meiste Zeit sind wir tatsächlich
Eindrücke mitnehmen und nicht mehr als Eure Abdrü-
draußen unterwegs, bieten Führungen an, machen
cke hinterlassen. Also nichts mitnehmen und keinen
Naturschutzarbeit mit Jugendlichen oder Gebietskont-
Müll dalassen. Damit kommt man schon mal ziemlich
rollen. Ich laufe häufig Wege ab, um zu sehen, ob alles
weit. Wenn dann noch alle auf den Wegen bleiben, ist
in Ordnung ist und um als Ansprechpartner für Be-
alles perfekt.
sucher da zu sein. Ab und zu stehen wir auch in einem der Besucherzentren für Fragen bereit. Büroarbeit ist
natur: Was wird denn so im Nationalpark eingesam-
zum Glück die absolute Ausnahme. Ursprünglich war
melt?
unsere offizielle Berufsbezeichnung übrigens „Mitar-
Gipp: In vielen internationalen Nationalparks gilt
beiter des Nationalparkdienstes“. Weil das den Leuten
die Regel, dass nichts, absolut nichts mitgenommen
zu kompliziert und sperrig war, sagten sie lieber Ran-
werden darf. Kein Stock, keine Blume, kein Pilz. Hier
ger zu uns. Dabei ist es dann schließlich geblieben.
sind wir nicht ganz so streng. Das Pilzesammeln am Wegesrand ist erlaubt und bei einem Wanderstock
natur: Park-Ranger, das klingt ähnlich glamourös wie
oder einem Handstrauß drücken wir auch ein Auge
Lokomotivführer oder Astronaut. Ist das tatsächlich
zu. Im Herbst passiert es aber immer wieder, dass
ein Traumberuf?
die Leute auf der Suche nach Pilzen kreuz und quer
Gipp: Für mich in jedem Fall. Für viele andere
durchs Gebiet streifen. Das geht natürlich gar nicht.
offenbar auch, jedenfalls sagen mir Besucher immer
Im Frühjahr haben wir auch Probleme mit Leuten, die
wieder, wie sehr sie mich um meinen Job beneiden.
extra kommen, um im Wald nach den abgeworfenen
Die sehen dann aber eher die Sonnenseiten und nicht,
Geweihstangen der Hirsche zu suchen.
dass wir auch bei Dauerregen und zehn Grad Kälte draußen unterwegs sind.
natur: Was für Probleme gibt es sonst noch? Gipp: Es kommt immer wieder vor, dass Hunde nicht
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natur: Sie haben viel Kontakt mit den Besuchern. Gibt
angeleint sind und die Flächen abseits der Wege er-
es eine Grundregel für das richtige Verhalten im Na-
kunden. Zum Teil mit der absurden Begründung, dass
tionalpark, die sie denen mit auf den Weg geben?
die Psyche des Hundes leidet, wenn er angeleint wird.
Meer, Seen und Flusslandschaften | Nichts mitnehmen, nichts dalassen und auf den Wegen bleiben
natur: Was ist so schlimm daran, wenn Hunde oder
Die geben sich dann auch alle Mühe, nicht erwischt
Menschen die Wege verlassen?
zu werden.
Gipp: Dass es überhaupt so viele Wanderwege gibt, ist ja schon ein Zugeständnis an die Menschen. Die
natur: Können die Ranger auch Strafzettel verteilen?
Landschaft könnte sehr gut ohne das Wegenetz aus-
Gipp: Ja, Knöllchen für Falschparker zum Beispiel.
kommen. Ein Hund wird von allen Tieren im Park als
Mit jeder Waldbrandstufe werden es fünf Euro mehr.
Bedrohung wahrgenommen. Wenn der auf dem Weg
Grundsätzlich versuche ich aber auf Strafen zu ver-
bleibt, ok. Wenn der kreuz und quer durch die Land-
zichten. Wenn ich mit den Leuten reden kann und die
schaft schnüffelt, stört und vertreibt er viele Wildtiere,
dann einsichtig sind, ist viel mehr gewonnen.
ohne dass wir das überhaupt mitkriegen. Das Gleiche gilt für die Menschen. Ein Seeadler hier im Gebiet hat
natur: Welche Tipps haben Sie für einen besonders
schon einmal seine Brut aufgegeben, weil er von Ge-
gelungenen Nationalparkbesuch?
weihstangensuchern gestört wurde.
Gipp: Wer den Besuch möglichst entspannt und mit ausreichend Zeit angeht, hat die besten Chancen, mit
natur: Wie groß ist die Einsicht bei den Besuchern,
einem besonderen Erlebnis belohnt zu werden – einem
wenn Sie sie auf ihr Fehlverhalten ansprechen?
Rehkitz, das von der Ricke gesäugt wird, einem See-
Gipp: Das meisten Parkbesucher wissen gar nicht,
adler, der versucht eine Gans zu erbeuten oder einer
dass sie etwas falsch gemacht haben und ändern ein-
Rotte Wildschweine, die den Waldweg quert. Für viele
fach ihr Verhalten, wenn ich sie darauf hinweise. Die
Besucher sind das einmalige Begegnungen, die man
meisten Pilz- und Geweihstangen-Sucher aber wissen
vor allem dann haben kann, wenn man sich auch wirk-
genau, dass das, was sie machen, nicht in Ordnung ist.
lich auf die Entschleunigung in der Natur einlässt.
Auch das Proto kollieren von Beobachtungen oder die Kontrolle besonders sensibler Ökosysteme gehören zu den Aufgaben der Nationalparkranger
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Meer, Seen und Flusslandschaften
Die großflächige FlussAuenlandschaft im Nationalpark Unteres Odertal ist Lebensraum für viele seltene oder geschützte Pflanzen und Tiere
Entdeckungstour im Niemandsland
Ralf Stork
Der Nationalpark Unteres Odertal lebt von der Dynamik der Polderflächen zwischen Deutschland und Polen. Die zeitweise überfluteten Wiesen sind im Frühling ein Eldorado für Zugvögel, im Sommer Lebensraum für Feldlerchen, Schwarzstörche und andere seltene Arten Von dem kleinen Dorf Criewen führt ein schmaler
ungestört entfalten kann. In den kommenden Jahren
Weg durch den Schlosspark, an Kirche und Teich vor-
wird der Anteil deutlich ausgeweitet.
bei hinein in einen lichten Laubwald. Links schimmert
„Die Besucher sollen hier erleben können, wie
das Wasser der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasser-
sich die Natur ohne menschlichen Einfluss anfühlt“,
straße (Ho-Fri-Wa). Nur ein paar Schritt in den Wald
sagt Hans-Jörg Wilke. Wilke ist für die Öffentlichkeits-
hinein und Parklandschaft und Schloss sind sehr, sehr
arbeit des Nationalparks zuständig. Der Wildnis-Erleb-
weit weg. Mit ein bisschen Fantasie kann man sich
nispfad geht nach ein paar hundert Metern in den et-
leicht vorstellen, in unberührter Natur unterwegs zu
was aufgeräumteren „Wilden Waldweg“ über. Trotzdem
sein. Okay, da ist der Wanderweg und der ist einem
ist er ein gutes Beispiel dafür, wie die Natur entlang
ziemlich guten Zustand. Aber alle paar Meter liegt
der Unteren Oder mehr und mehr in den Mittelpunkt
da ein Baum quer und muss irgendwie überwunden
rückt, wie sich die Akzente ganz zaghaft in Richtung
werden. Beim Klettern spürt man die glatte Rinde der
Wildnis verschieben.
Bäume, man sieht die entblößten Wurzelteller und bekommt zumindest eine Ahnung davon, wie eine
Die erste Nationalparkstadt
Landschaft aussehen könnte, in der der Mensch nicht
Etwa zehn Kilometer nördlich von Criewen liegt
ständig für Ordnung sorgt.
Schwedt, eine Kleinstadt, die in der DDR eher nicht
Die entwurzelten Bäume sind das Werk des
für ihre Schönheit bekannt war, sondern für ihre
Sturmtiefs „Xavier“, das im Oktober 2017 durch
große Papierfabrik und Ölraffinerie. Für die Indust-
Kinder durften als erste den WildnisErlebnispfad bei Criewen erkunden
große Teile der Republik fegte. Dass die Stämme danach einfach liegen bleiben durften, ist den Mitarbeitern des Nationalparks „Unteres Odertal“ geschuldet. Dieser wurde 1995 gegründet, ein schmaler, rund 50 Kilometer langer Streifen entlang der Oder, direkt an der deutsch-polnischen Grenze. Auf polnischer Seite gibt es zwei große Landschaftsschutzparks, so dass ein zusammenhängendes Naturschutzgebiet von mehr als 500 Quadratkilometern entsteht. Unumstritten war der Park bei seiner Gründung nicht: Große Teile der Nationalparkfläche werden landwirtschaftlich genutzt. Dass die Bauern die Einschränkungen, die mit dem strengen Schutzstatus einhergehen, auch skeptisch sehen, liegt auf der Hand. Bislang gehören daher erst rund 15 Prozent der Fläche zur Kernzone, in der sich die Natur
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und Ulmen zum Nationalpark. Genau wie die bis zu 30 Meter hohen Hügel, die als Grundmoränen in der letzten Eiszeit vor rund 14.500 Jahren entstanden sind und auf denen man Neuntöter, Wiedehopfe, Raubwürger und andere seltene Arten der Offenlandschaft beobachten kann. Die eigentlichen Filetstücke des Parks liegen aber noch ein Stück weiter, gleich am anderen Ufer der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße, die fast Nach der Wende verließen massenhaft Bewohner die Stadt Schwedt, heute lockt der Nationalpark immer mehr Touristen in den Nordosten Brandenburgs. Die Nationalparkstadt will diese Entwicklung nutzen und aktiv mitgestalten
riearbeiter wurden immer neue Wohnblöcke gebaut,
alle Orte am Nationalpark miteinander verbindet. Der
bis zur Wende stieg die Einwohnerzahl auf 54.000
1926 fertig gestellte Kanal ist auf seiner gesamten
an – und stürzte danach gewaltig ab: Weniger Arbeits-
Länge mit einem Deich gesichert. Auch die Oder, die
plätze, weniger Einwohner, viele leerstehende Woh-
ein bisschen weiter östlich fließt, ist fast komplett
nungen. Heute gibt es gerade noch 30.000 Schwedter.
eingedeicht. Und zwischen diesen Deichen liegt das
Als eine der ersten Städte in Ostdeutschland hat
alte Auenland der Oder – die Polderflächen, die sich
Schwedt den nicht aufzuhaltenden Schrumpfungspro-
je nach Wasserstand im Laufe eines Jahres dramatisch
zess aktiv gestaltet und früh damit begonnen, Blöcke
verändern: Um den 15. November herum, wenn das
abzureißen. Ganze Stadtviertel verschwanden, andere
Wasser der Oder mit den Herbstniederschlägen steigt,
wurden kräftig ausgedünnt, so dass die Stadt wieder
werden die Wehre im Oderdeich geöffnet, und das
grüner wurde. Schwedt ist immer noch ein wichtiger
Flusswasser strömt durch die Polder. Bis in den Früh-
Industriestandort, aber der Nationalpark könnte der
ling hinein stehen die Flächen dann komplett unter
ganzen Region dabei helfen, eine neue Identität zu
Wasser. Um den 15. April werden die Wehre entlang
finden. Schwedt jedenfalls bekennt sich nun auch of-
der Oder wieder geschlossen und das Wasser kann
fiziell zur besonderen Flusslandschaft ringsum: Seit
über das natürliche Gefälle wieder abfließen. Dieses
2013 ist sie offizielle „Nationalparkstadt“ – die erste
System ermöglicht eine extensive Landwirtschaft im
in Deutschland – und verkündet das auch stolz auf
Auengebiet bei gleichzeitigem Hochwasserschutz. Die
jedem Ortsschild.
nutzbaren Gebiete innerhalb der Polder sind Grün-
Südlich von Criewen gehört auch der von Quellen und Fließen durchzogen Laubwald mit Erlen, Eschen
landflächen, die als Viehweiden oder Wiesen zur Heugewinnung genutzt werden.
Land zwischen den Elementen Die Oder darf sich also ausdehnen, aber nur auf einer bestimmten Fläche und für einen bestimmten Zeitraum. „Für immerhin fünf Monate haben wir hier schon eine naturnahe Überflutungsdynamik. Das wollen wir in Zukunft noch ausbauen“, sagt Hans-Jörg Wilke. Gerade im Frühjahr werden die überschwemmten Flächen zum Eldorado für Hunderttausende Das Ortseingangsschild der Nationalparkstadt Schwedt an der Oder
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Zugvögel – und Ornithologen. Von den Brücken und Deichen blickt man dann auf ein Meer von Wasser, aus dem einzelne Bäume ragen. Und wo man auch hinschaut, sieht man Enten und andere Durchzügler:
Meer, Seen und Flusslandschaften | Entdeckungstour im Niemandsland
Der Nationalpark Unteres Odertal bildet mit dem angrenzenden polnischen Landschaftsschutzpark Unteres Odertal und dem Zehdener Landschaftsschutzpark und dessen Schutzzone eine räumliche Einheit
„Große Scharen von Reiher-, Schnatter, Spieß-, Krick-
entdeckt man immer wieder mächtige Biberburgen. In
und Pfeifenten und Graugänse machen hier Station. In
den noch feuchten Flächen suchen Schwarzstörche,
den Wintermonaten rasten hier Saat, Bläss- und Weiß-
Grau- und Silberreiher nach Nahrung. Weißstörche
wangengänse und – als besondere Besucherattrak-
staken zwischen grasenden Schafen herum, die sich
tion – Hunderte Singschwäne“, sagt Hans-Jörg Wilke.
an schwarz-rot-goldenen Grenzsteinen reiben.
Wenn die Zugvögel weitergeflogen und das Oder-
In den verbliebenen Gewässern ziehen Schwäne
wasser wieder abgeflossen ist, kann man die gerade
und Graugänse ihre Jungen groß, auf den Wegen
Die Vielfalt kleinteiliger Lebensräume macht die teilweise überschwemmten Auenlandschaften so besonders
noch überschwemmten Flächen dann selbst erkunden: Criewen, Stützkow, Stolpe – fast jeder der kleinen Orte hat eine Fußgängerbrücke, die in die Polder führt. Schnell stellt sich dort das Gefühl ein, in einem Niemandsland unterwegs zu sein. Nicht mehr ganz in Deutschland und noch nicht ganz in Polen. Ein Land, das tatsächlich ganz der Natur gehört, selbst wenn der Wasserstand noch künstlich reguliert wird. Plattenwege verbinden die Deiche miteinander, dazwischen schlängeln sich kleinere Pfade durchs Auenland. Direkt an der Oder, aber auch an kleineren Gewässern und Altarmen, die die Polder durchziehen,
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„Den größten Zuwachs an Wildnisgebieten wird es in Zukunft in den Poldern geben“, sagt Wilke. Im Norden von Schwedt soll ein rund 1800 Hektar großer Polder wieder komplett und ganzjährig an das Oderwasser angeschlossen werden. Der Wasserstand würde dort nicht mehr künstlich reguliert, sondern sich den Schwankungen der Oder anpassen, sodass wieder eine natürliche Flussaue entstehen kann. Und Diese Schafe weiden auf den Polderflächen der Oder und damit direkt an der deutsch-polnischen Grenze
sitzen Schafstelzen und immer wieder Feldlerchen,
damit ein einzigartiges Ökosystem: In Ufernähe domi-
die beim Auffliegen lauthals zu singen beginnen.
nieren Schilf und Rohrkolben. Etwas weiter entfernt
Kiebitze, Kraniche, Kormorane, Lachmöwen und See-
wachsen Weiden, Schwarzpappeln und Erlen, die sich
schwalben – selbst bei einer kleinen Runde durch die
an trockeneren Standorten nicht gegen die Konkur-
Polder bekommt man schon eine Ahnung davon, wie
renz anderer Baumarten behaupten könnten. Durch
wichtig die extensiv beweideten oder gar nicht mehr
die regelmäßigen Überflutungen entstehen immer
genutzten Flächen für Bodenbrüter und viele andere
neue Kleingewässer, die mit der Zeit austrocknen
Arten sind.
und Lebensraum für Schnepfen und andere Watvögel sowie für bedrohte Amphibien wie die Rotbauch-
Sind die Polder überschwemmt, rasten dort zahllose Zugvögel. In Zeiten mit niedrigerem Wasser stand ziehen beispielsweise Singschwäne ihre Jungen groß
Mehr Freiheit für die Oder
unke sind. Auch trockene Bereiche gehören zur Aue.
In Zukunft soll es noch viel mehr Wildnis in den
Sie können entstehen, wenn bei einem Hochwasser
Poldern geben. Laut Bundesnaturschutzgesetz soll
Kies und Sand auf eine Fläche gespült werden. Die-
der „überwiegende Teil“ jedes Nationalparks aus
ses kleinteilige Mosaik verschiedener Lebensräume
einer Kernzone bestehen, in der sich die Natur ohne
macht die Flussaue so besonders.
menschlichen Einfluss entwickeln kann. Der über-
Auch in den Poldern südlich von Schwedt werden
wiegende Teil beginnt bei 50,1 Prozent der National-
zusätzliche Flächen – vor allem Altgewässer und Au-
parkfläche und exakt dieser Prozentsatz soll sich im
waldgebiete – künftig zur Kernzone gehören. Möglich
Unteren Odertal wirklich frei entfalten dürfen. Wild-
wird das durch ein groß angelegtes Flurneuordnungs-
nisflächen im Poldergebiet gibt es bereits vor allem
verfahren, bei dem die Landwirte, die im Poldergebiet
im Norden des Nationalparks. Im südlichen Teil rund
wirtschaften, ihr Land dort gegen Flächen außerhalb
um Criewen und Stolpe gehören auch einige Wald-
des Nationalparks tauschen. Wo dann keine Rück-
gebiete dazu.
sicht mehr auf wirtschaftliche Interessen genommen werden muss, können einzelne Polder ganz dem Naturschutz überlassen werden. Ein Anfang wäre schon mal eine Verlängerung der Überflutungsperiode bis Ende Mai. Danach könnte dann die Regulierung der Wasserstände in Teilen der Kernzonen im Norden des Nationalparks ganz aufgegeben werden. Wenn das Wasser in einem immer größer werdenden Bereich steigen und sinken kann, wie es will, wenn die Landschaft sich wirklich wieder im Laufe eines Jahres dynamisch verändern kann, wird der Nationalpark seinem proklamierten Werbeslogan „Land im Strom“ noch ein großes Stück näher kommen.
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Meer, Seen und Flusslandschaften | Entdeckungstour im Niemandsland
Gemeinsam am Fluss Es gibt kaum Brücken über die Oder, aber eine gute Zusammenarbeit im Naturschutz. Denn Flora und Fauna machen an der Grenze nicht halt. Es lohnt ein Abstecher nach Polen ins „Tal der Liebe“ oder in die wilden Polder östlich von Gartz, von wo aus die Biber den Nationalpark wieder besiedelt haben. An diesem Baum war eindeutig ein Biber am Werk. Im Odertal ist das keine Besonderheit mehr
Egal, wo man gerade im Nationalpark Unteres Odertal unterwegs ist, die Grenze zu Polen ist nie weit. Sie verläuft mitten durch die Oder. Die Grenzsteine sind ein paar 100 Meter davon entfernt in den Polder flächen zwischen den Deichen aufgestellt. Manchmal reiben Schafe ihr juckendes Fell daran. Und ohne die Grenze wäre der Nationalpark wahrscheinlich nie entstanden. Sie macht das Untere Odertal zur abso-
am anderen Oderufer in der Nähe von Criewen. Dort
luten Randlage in beiden Ländern, was es vor Be-
kann man durch das „Tal der Liebe“ spazieren, eine
gehrlichkeiten schütze. Viele Verbindungen waren
romantische Parkanlage, die im 19. Jahrhundert ent-
Ende des Zweiten Weltkriegs gekappt worden und
standen ist und seit den 1990er Jahren wieder re-
wurden auch zu DDR-Zeiten nicht wiederaufgebaut.
konstruiert wird. Auch ein Besuch der polnischen Au-
Heute führen zwar viele Straßen in die Polder hinein,
engebiete östlich von Gartz lohnt sich. Dort konnte
aber nur zwei weiter bis nach Polen. Der eine Grenz-
sich schon eine natürliche Flussaue bilden. Und weil
übergang liegt in Schwedt, der zweite im Norden des
das Gebiet in einem weniger streng geschützten
Nationalparks bei Greifenhagen.
Landschaftspark liegt, können Besucher dort mit dem
Trotz der spärlichen Verbindungen gibt es ei-
Kanu auf den Oderarmen paddeln.
nen kontinuierlichen Austausch zwischen der Nati-
Das wilde polnische Auenland hat auch eine
onalparkverwaltung in Criewen und ihren Kollegen
wichtige Rolle bei der Wiederbesiedlung durch den
auf der anderen Seite der Oder. Von der Utopie ei-
Biber gespielt. Wie fast überall in Europa war der
nes riesigen, grenzüberschreitenden Großschutzge-
Biber auch an der Oder seit Anfang des 20. Jahrhun-
bietes mit einem gemeinsamen Management und
derts komplett verschwunden. Erst in den 1970er
gemeinsamer Entwicklung ist man zwar noch weit
Jahren wurden Biber im wieder ausgesetzt und er-
entfernt. Aber der Austausch geht soweit, dass im
reichten dann irgendwann die Oder, wo sie vor allem
Besucherzentrum in Criewen Karten mit Ausflugs-
in den polnischen Poldern beste und ungestörte Be-
tipps in Polen liegen, und dass es einen Reiseführer
dingungen vorfanden – und immer weiter wander-
für die Gesamtregion gibt. Ein beliebtes Ausflugsziel
ten. Bis heute ist der Bestand im Nationalpark auf
auf polnischer Seite ist Zaton Dolna (Niedersaaten)
mehr als 70 Familien angewachsen.
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Meer, Seen und Flusslandschaften
Der an den Darßwald grenzende Weststrand ist streng geschützt und vermittelt wildes Südseefeeling an der deutschen Ostseeküste
Im Land der Lagunen
Rike Uhlenkamp
Das Militär, jagende Minister und Landwirte haben die Natur an der Ostseeküste lange besetzt und ausgebeutet. Doch im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft wird sie nun sich selbst überlassen. In Meer, Lagunen und Wald tummeln sich Algen und Jungfische, Seeadler und Wildschweine – ein Besuch in einer der vielfältigsten Schutzzonen Deutschlands Henrik Schmidtbauer zieht das Paddel aus dem Was-
chen Küstengewässer. Allein die Wasserflächen neh-
ser, legt es quer auf das Kajak, lauscht und blickt in
men 80 Prozent des Nationalparks ein.
den Himmel. Über ihm krächzt eine Seeschwalbe.
Die west-rügischen Bodden quetschen sich zwi-
„Beeindruckende Jäger!“, ruft der 56-Jährige. „Aus der
schen die Küstenlinie Rügens und Hiddensee, die
Höhe peilen sie ihre Beute an, dann klappen sie ihre
langgezogene Halbinsel Fischland-Darß-Zingst
Flügel ein und stürzen sich ins Wasser.“
schirmt die Darß-Zingster Boddenkette nahezu kom-
Während der natürliche Lebensraum des ge-
plett vom offenen Meer ab. Einst war die Halbinsel
schickten Jagdkünstlers in Deutschland immer mehr
keine zusammenhängende Landzunge, sondern be-
bedroht wird, brütet der Vogel im Nationalpark Vor-
stand aus drei voneinander getrennten Inselkernen.
pommersche Boddenlandschaft ungestört. In den
Über Seegatts, schmale Zugänge, mischte sich das
flachen Küstengewässern findet er Nahrung. „Selbst
Wasser aus Ostsee und Bodden. Doch im Verlauf der
bei unserem trüben Boddenwasser haben die Vögel
letzten 1500 Jahre schloss stetig angespülter Sand
eine ziemlich hohe Erfolgsrate“, staunt Schmidtbauer,
die Durchlässe. Der letzte wurde im 19. Jahrhundert
der seit über zehn Jahren Kajaktouren im National-
nach einer Sturmflut vom Menschen geschlossen. Nur
park anbietet.
noch ganz im Osten der Halbinsel gibt es heute eine
Auf knapp 800 Quadratkilometern reicht der
kleine Verbindung zur Ostsee.
Henrik Schmidtbauer führt seit zehn Jahren Besucher im Kanu auf die Bodden
drittgrößte Nationalpark Deutschlands von der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst bis zur Westküste Rügens. Dass sich die Natur hier wieder wild ausbreiten darf, ist einem der letzten Beschlüsse der DDR-Regierung zu verdanken. Am 12. September 1990 wurden seine und die Errichtung von vier weiteren Nationalparks, drei Naturparks und sechs Biosphärenreservaten auf dem Gebiet der neuen Bundesländer beschlossen.
Von Halbinseln und Lagunen So viele Lebensräume wie der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft vereint kaum eine andere Schutzzone: Strände und Dünen, Moose und Mischwälder, Windwatte, Salzwiesen, Schilfinseln und Teile des weltweit größten Brackwassermeers, der Ostsee, sowie die sogenannten Bodden, lagunenartigen fla-
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Schrille, laute Rufe eines Kiebitzes hallen über das Lagunen-Paradies, einige arktische Weißwangengänse
Die Halbinsel Fischland-DarßZingst trennt die Wasserflächen der Darß-Zingster Boddenkette (r.) von der offenen See (l.) ab
100
nur zwei Meter tiefen Lagunen gelten als Kinderstube der Fische.
überfliegen Schmidtbauer auf seiner Tour, eine Rohr-
Mit kräftigen Paddelzügen steuert Schmidtbauer
weiche und Kraniche ziehen vorbei. Letztere sind die
auf die Boje am Ende des Bodstedter Boddens zu. Er
heimlichen Stars der Region. Natur- und Vogelinteres-
grinst. „Ich bin so dankbar für Momente wie diesen“,
sierte strömen im Herbst vor allem ihretwegen in den
sagt er. „Im Kajak bist du mit deinem Hintern im Ele-
Nationalpark. Zusätzlich zu den wenigen dauerhaft
ment, du bist dein eigener Motor und bekommst alles
hier lebenden Exemplaren kommen dann Zehntau-
mit, was das Wasser so mit dir machen will.“
sende Kraniche auf dem Weg in ihre Winterquartiere
Während bei ihm kaum ein Tag vergeht, an dem
und rasten auf den flachen Bodden- und Seegewässer.
er nicht in einem Kajak auf den Bodden oder der
„Mein Liebling ist aber der Seeadler“, sagt Schmidt-
Ostsee schippert, ist Rhena Schumann wohl eine der
bauer. „Mit ihm und mit den Kegelrobben haben wir
wenigen Meeresbiologinnen, die Schiffe und Stege
Deutschlands größte Raubtiere in der Luft und im
scheut. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stoffkreis-
Wasser bei uns.“
läufe und mikrobielle Aktivitäten in der Darß-Zingster
Doch nicht nur Vögel und Robben bevölkern die
Boddenkette. Während die Gewässerkette zum einen
Gewässer: 48 Fischarten wurden in den Bodden re-
über den Gellenstrom, einem Nadelöhr zur Ostsee, mit
gistriert, Meeres- und Süßwasserarten gleicherma-
Meerwasser verdünnt wird fließen neben zahlreichen
ßen. Süßwasserbewohner wie Brassen, Zander und
kleineren Bächen auch die Flüsse Barthe und Recknitz
Barsche schwimmen aus den westlichen, süßeren in
in die Lagunen. Aus dem Hinterland tragen sie Nähr-
die salzhaltigeren Bodden bis in die Ostsee. Um sich
stoffe wie Phosphor und Stickstoff aus Landwirtschaft
zu vermehren, kehren sie aber in ihr süßes Reich zu-
und Abwasser in die Bodden.
rück. Große Schwärme von Heringen laichen eben-
Von West nach Ost – von der Recknitzmündung
falls in den Bodden der Küste. Die durchschnittlich
im Saaler Bodden zur Ostseeverbindung – nimmt
Meer, Seen und Flusslandschaften | Im Land der Lagunen
der Salzgehalt in den Wasserbecken zu und der Eutrophierungsgrad, also die Konzentration der eingetragenen Nährstoffe, ab. Andere äußere Faktoren wie das Wetter bleiben über den Bodden gleich. Für
In den achtziger Jahren verschwanden die Armleuchteralgen aus den Bodden, vermutlich aufgrund von Lichtmangel. Heute wachsen sie wieder häufiger
die Meeresforscherin Schumann ein Geschenk. „Auf 55 Kilometern hat die Natur einen perfekten Experi mentaufbau geschaffen, den man künstlich nicht besser hätte konzipieren können“, erklärt Schumann, die seit 2012 die biologische Station der Universität Rostock in Zingst leitet. „Das ermöglicht uns, den Einfluss der Nährstoffbelastung auf die Organismen und das Ökosystem zu untersuchen.“ Bereits als Achtklässlerin beschäftigte sich die Biologin mit Mikroalgen in Berliner Gewässern. Heute hat sie sich auf die Lebewesen spezialisiert, die die
düngt. Einer der größten Rindermastbetriebe Europas
Kaltwasserlagunen millionenfach bevölkern: win-
entstand auf der Halbinsel. „Die Bodden wurden mit
zigstes Phytoplankton, das sich vor allem ausbreitet,
Nährstoffen überflutet, immer mehr Phytoplankton
wo der Eintrag an Nährstoffen hoch ist. Die mikros-
wuchs und die Trübung des Wassers verdoppelte sich.“
kopisch kleinen, schwebenden Algen sind der Grund, warum man selbst bei der geringen Wassertiefe der
Schutzschild für die Ostsee
Bodden ihren Boden nicht sehen kann. „Der Saaler
„Dem Wasser geht es aber gut“, beteuert Schumann,
Bodden, der am stärksten von Nährstoffen belastet
dem trüben Anblick zum Trotz. Denn das pflanzliche
ist, hat nur eine Sichttiefe von zwanzig Zentimeter,
Plankton nimmt zwar anderen Wasserpflanzen das
ab 40 Zentimeter ist es stockdunkel. Da wächst heute
Licht, es betreibt aber selbst Photosynthese und pro-
fast nichts mehr“, sagt Schumann. Die Trübung durch
duziert Sauerstoff. „Das rettet die Gewässer vor dem
das Phytoplankton hindert größere Wasserpflanzen
Umkippen.“ Außerdem sorgt der oft starke Wind an
wie Laichkräuter und Strandsalden an ihrer Entwick-
der Küste dafür, dass das Wasser zwei- bis dreimal
lung. Diese brauchen im Frühjahr ausreichend Licht.
die Stunde komplett umgewälzt und mit noch mehr
Ist das Wasser nicht klar und damit hell genug, ver-
Sauerstoff versorgt wird. „Die Boddenkette ist wie
enden sie auf ihrem Weg vom Meeresgrund zur Was-
ein Schutzschild für die Ostsee.“ Würde es sie nicht
seroberfläche.
geben, flößen alle Nährstoffe direkt in die Ostsee
So erging es in der Vergangenheit auch größeren Algenarten. „Lange wuchsen vor allem in den östli-
und dem ohnehin stark belasteten Brackwassermeer würde es deutlich schlechter gehen.
chen Bodden viele Armleuchteralgen. An einigen Stel-
Seit der Einrichtung des Nationalparks Anfang
len sogar so viele, dass überlegt wurde, sie den Kühen
der Neunzigerjahre hat sich die Belastung der Bod-
zum Fraß vorzuwerfen. Doch in den Achtzigerjahren
den schon deutlich verringert: durch das Ende der
verschwanden sie“, erklärt Schumann. Über Daten von
Landwirtschaft auf großen Teilen der Halbinsel, ver-
anderen Biologen und Ämtern und durch selbst erho-
bessertes Gülle-Management und die Umsetzung der
bene Werte weiß die Meeresforscherin, dass ihr Ver-
EU-Wasserrahmenrichtlinien. Das hat auch Folgen für
schwinden auf verschlechterte Lichtverhältnisse zu-
die Unterwasservegetation: Zunehmend wachsen im
rückzuführen ist. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden
Frühjahr wieder Armleuchteralgen, deren Aussehen
die Agrarflächen auf und um den Darß intensiver ge-
an einen Kerzenhalter erinnert, in den Bodden. Zur
101
gürtel. Sonst leben die Schweine auf der Halbinsel im nahezu 5000 Hektar großen Darßwald – dem größten zusammenhängenden Waldgebiet des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. René Dynio läuft vorbei an Ebereschen, Fichten, Birken, Kiefern und Rotbuchen. Der 47-jährige Nationalpark-Ranger hat eine Besuchergruppe im Schlepptau. Er und sein Kollege Andreas Zahn bleiben alle paar Meter stehen. Deuten auf Zitronenfalter am Wegesrand, lauschen dem Schrei des Schwarzspechts im Das Schilf ist ein Paradies für Insekten und Kleintiere
Früher wurde im Darßwald gejagt und Harz abgebaut, heute greift der Mensch nicht mehr ein. Der Ranger René Dynio erklärt den Besuchern die Geschichte dieses besonderen Waldes
Freude von Rhena Schumann: „Indem sie das Sedi-
Wald. „2011 hat es in zwei Wochen so viel geregnet,
ment unter sich festhalten, sorgen sie dafür, dass es
wie sonst das ganze Jahr. Das Wasser konnte nicht
nicht so leicht aufgewirbelt wird und zusätzlich zum
mehr ablaufen. Viele Buchen und Lärchen sind durch
Phytoplankton im Wasser herumschwimmt. Dadurch
die Staunässe gestorben“, erzählt Dynio. „Dann müssten
bleibt das Wasser klarer.“ Viele Jungfische und andere
doch überall tote Bäume liegen?“, fragt eine Teilneh-
kleinere Unterwasserorganismen nutzen die Seiten-
merin. „Sie sind überwachsen. Wenn wir nur 20 Meter
triebe der Algen außerdem als Versteck.
vom Weg in den Wald hineingehen, herrscht dort eine
Ein anderes pflanzliches Obdach bietet das Schilf-
grüne Hölle.“ Der Mensch mischt sich hier nicht ein, nur
dickicht am Rande der Bodden. Mit ihren Füßen im
Bakterien, Pilze und Käfer laben sich am Totholz. „Die
Schlick und Wasser recken sich die Halme der Sumpf-
Nährstoffe werden dem Wald wieder zugeführt.“
pflanze aus dem Nass in die Höhe. Im Wind wiegend
Das war lange anders. Unter den Nationalsozialis-
rahmen sie die Lagunen ein. Der goldgelbe Dschungel
ten und während der DDR diente der Wald als Jagdge-
ist ein Paradies für Schmetterlinge wie die Schilfeule
biet, es wurde Harz abgebaut und schnellwachsende
und Schilffliegen, seltene Wildbienen besiedeln die
Nadelbäume aufgeforstet. „In diesem Wald gibt es
Stängel. Neben Ringelnatter und Zwergmaus verläuft
kein Stück, das nicht von Menschenhand beeinflusst
sich – auf der Suche nach dem zuckersüßen Jung-
ist“, sagt Dynio. Als der gelernte Forstwirt 1990 be-
schilf – ab und an auch ein Wildschwein in die Schilf-
gann, im Nationalpark zu arbeiten, haben er und seine Kollegen noch stark eingegriffen. Mit Motorsägen dünnten sie die Monokulturen aus Kiefern und Fichten aus, pflanzten Buchen und Eichen. „Der Wald sollte natürlicher aussehen.“ Heute räumen sie nur Bäume weg, die auf den Weg zu stürzen drohen. Vor allem ältere Teilnehmer seiner Führungen reagierten zum Teil entsetzt über den „unaufgeräumten“ Wald, sagt der Ranger, auch bei der Bevölkerung hatte der Nationalpark zunächst einen schlechten Start. Zwar wurde sie nun weniger eingeschränkt als durch das Jagdgebiet und das Militärgebiet, das die Nordgrenze der DDR zur Ostsee sicherte. „Doch nachdem die Menschen so lange eingesperrt waren, wollten sie nicht weiter beschränkt werden“, erinnert sich Dynio. Doch die Stimmung hat sich in den
102
Meer, Seen und Flusslandschaften | Im Land der Lagunen
letzten drei Jahrzehnten gebessert. Das mag auch daran liegen, dass 30 Prozent der Touristen wegen des Nationalparks auf der Halbinsel Urlaub machen. Nach einer Stunde Wanderung fischt Dynio laminierte Karten der Ostsee und der Küstenlinie aus seinem Rucksack: „Noch vor 13.000 Jahren hatten wir hier einen Kilometer Eis über uns.“ Als es mit Ende der letzten Eiszeit schmolz, stieg der Meeresspiegel. Große Teile der Grundmoränenlandschaft und die entstandenen Schmelzwasserrinnen füllten sich mit Wasser, während andere inselartig hervorguckten:
klaffmuschel, baltische Plattmuschel, schließlich eine
die Ostsee, die Bodden, die Inselkerne, die Küstenli-
Herzmuschel. „Dieses Exemplar ist schön groß und sta-
nie waren geboren. „Die Ostsee ist eines der jüngsten
bil. Das ist ein Zeichen, dass Salzwasser aus der Nord-
Meere der Welt. In ihrer heutigen Form entstand sie
see in die Ostsee eingedrungen ist“, sagt der 32-jährige
erst vor etwa 5000 Jahren“, erklärt Dynio. Bis heute
Zahn. Zum Wachsen brauchen Muscheln ausreichend
verändert sich die Landschaft. Der Ranger deutet auf
Salz. Im Brackwasser der Ostsee fallen daher viele
eine seiner Reliefkarten. „Hier sehen wir das Meeres-
Lebewesen kleiner aus als im benachbarten Meer.
ufer der Ostsee vor 3000 Jahren, heute ragt das Land sechs Kilometer weiter in die See.“
Etwas abseits der Wege ist der Darßwald wild und unzugänglich – eine regelrechte grüne Hölle
Mit der Ostsee im Rücken stapfen Dynio, Zahn und die Gruppe durch den Sand zurück in den Wald. Gefährlich nah an der Abbruchkante stehen einige
Das Meer schafft neues Land
Windflüchter – Kiefern, deren Kronen sich durch den
Das Baumaterial für das neue Land klaut sich die
Wind geformt landeinwärts neigen. Einige Bäume
Natur wenige Schritte von Dynio entfernt. Am Ende
stellen ihr Wurzelwerk zur Schau. Eines Tages werden
des wilden Waldes öffnet sich der Blick auf einen der
sie vom Wind freigeschaufelt, von der See verschluckt
schönsten Strände Deutschlands: der 14 Kilometer
und anderenorts wieder angespült werden. Lässt sie
lange Weststrand. Tag für Tag entreißt ihm das Meer
der Mensch, baut sich die Natur am Strand, im Wald, in
Sand, trägt ihn mit der Strömung entlang der Küsten-
den Bodden ihre eigene Zukunft.
Der 14 Kilometer lange Weststrand gilt als einer der schönsten Strände Deutschlands
linie gen Norden, um ihn an der Spitze der Halbinsel, dem Darßer Ort und östlich davon, wieder abzulegen. Auf den Sandbänken und Dünen wachsen kurze Zeit später Strandhafer, Meerkohl, Salzmiere und Stranddistel. Ihre Wurzeln halten den Boden fest. Sträucher und seltene Moose besiedeln bald darauf die Sandhügel. Auf Reffen, trockenen Dünenwällen, wachsen Kiefern und Buchen. In Riegen, sumpfige Senken zwischen den Dünen, strecken sich Erlen in die Luft. Aus Millionen Sandkörnern entsteht so nach und nach ein neues Stück Land, ein neues Stück Wald. Der Wind fegt über den Weststrand. Dicht gedrängt steht die Wandertruppe um Dynio und Andreas Zahn. Nacheinander halten sie einige Schätze der Ostsee und des Strandes in die Luft. Miesmuschel, Sand-
103
Blick in die Zukunft
Blick in die Zukunft
Wiesen und Wälder, Bergkuppen und Täler – die Eifel kann mit vielen verschiedenen Lebensräumen aufwarten
Große Vergangenheit, sternklare Zukunft
Marieluise Denecke
Millionen Jahre alte Gebirge, Heide und Buchenwälder – die Eifel wartet mit einer vielfältigen Landschaft auf. Tagsüber locken die Wanderwege Besucher an, abends der Sternenhimmel. Und auch die Europäische Wildkatze fühlt sich schon jetzt pudelwohl in einem der jüngsten deutschen Nationalparks Nur langsam verzieht sich der Nebel aus den vielen
kuppen, Heiden, Moore. Und all das macht auch die
Schluchten der zerklüfteten Landschaft. Die Sonne
Landschaft im Nationalpark Eifel aus.
geht über den Wäldern auf und Morgentau tropft von
Das Gestein im Park stammt aus drei unterschied
den gelben Narzissen, die in dieser Jahreszeit millio-
lichen geologischen Zeitaltern: Vor 550 bis 400 Millio
nenfach auf den Wiesen blühen. Ein Raubtier streift
nen Jahren lagerten sich hier Meeressedimente ab,
durchs Gras, das Fell grau getigert, die großen Augen
die zum Gebirge aufgefaltet wurden. Auch heute noch
nach vorn gerichtet, Ohren und Schwanz gespitzt. Es
kann man im Nationalpark deshalb Fossilien finden.
ist Frühjahr im Nationalpark Eifel und sein wohl be-
Andere Sedimente wurden vor 420 bis 300 Millionen
kanntester Bewohner ist unterwegs: die Europäische
Jahren abgelagert. Sie bilden bis heute die oberste
Wildkatze.
Bodenschicht, auf der beispielsweise Kiefern und Bu-
Galt Felis silvestris vor über 100 Jahren noch als
chen gedeihen. In kleineren Teilen des Parks besteht
so gut wie ausgestorben in Deutschland, hat sie sich
der Untergrund aus Buntsandstein oder Sand – Boden
allmählich ihren Weg zurückgekämpft. Der Natur-
also, der wiederum ganz andere Landschaft hervor-
schutzbund NABU zählt landesweit inzwischen wie-
bringt.
In der Eifel hat sich die fast ausgestorbene Europäische Wildkatze wieder angesiedelt. Rund 50 Tiere leben im Gebiet des Nationalparks
der 5000 Exemplare, allein 1000 davon in der Eifel. Tier und Region sind so stark miteinander verbunden, dass ein eigener Spitzname dabei herausgekommen ist: „Eifeltiger“. Rund 50 dieser Tiere leben und jagen im Nationalpark, einem der jüngsten seiner Art in Deutschland. Wie auch sein hessisches Pendant, der Nationalpark Kellerwald-Edersee, wurde er im Jahr 2004 gegründet. Auf knapp 110 Quadratkilometern erstreckt er sich zwischen den Städten Schleiden, Monschau und Nideggen an der Landesgrenze zu Belgien.
Böden schaffen Vielfalt Hier, in der Eifel und in den Ardennen, hat die größte Wildkatzenpopulation in Mitteleuropa ihre Heimat gefunden. Das verwundert nicht, denn der getigerte Räuber braucht große, zusammenhängende Landschaften, die sich in unterschiedliche Lebensräume unterteilen: Wälder, Lichtungen, Wiesen, Täler, Berg-
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Die Gelbe Narzisse ist einer der botanischen Schätze des Nationalparks: Zwar kennt man sie aus Gärten und Blumensträußen, doch natürliche Vorkommen sind selten und streng geschützt
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Diese Böden sind Grundlage für die unterschied-
schutzgesetzes – großflächige, möglichst ungestörte
liche Vegetation, die Wildtiere wie die Europäische
Naturentwicklung – erfüllt sind. 30 Jahre nach Grün-
Wildkatze so lieben. Sie können offene, weite Flächen
dung muss diese Entwicklung auf 75 Prozent der Flä-
wie die Dreiborner Hochfläche ebenso durchstrei-
che jedoch abgeschlossen sein. Doch der National-
fen wie Buchenwälder, Moore, Heide und bewaldete
park Eifel ist noch jung und hat dafür bis zum Jahr
Schluchten, in denen sich vor allem im Frühjahr und
2034 Zeit.
Herbst starker Nebel bildet. Charakteristisch für das
Und er ist auf einem guten Weg. Als der Park ge-
Klima im Nationalpark sind die recht milden Winter
gründet wurde, betrug die Kernzone – das Gebiet,
und die kühlen, niederschlagreichen Sommer.
in dem die Natur ohne menschliche Einwirkung ge-
Neben Felis silvestris leben hier Rothirsche, Biber,
deihen kann – 37 Prozent; im Moment liegt sie bei
18 verschiedene Fledermaus-Arten, Rot- und Schwarz-
58 Prozent der Fläche und soll noch auf 87 Prozent
milane sowie zahlreiche Insekten und Reptilien. Über
anwachsen. Die derzeitige Entwicklungszone soll in-
10.000 unterschiedliche Tier-, Pilz- und Pflanzenarten
nerhalb des 30-Jahr-Zeitraums ebenfalls zur Kernzone
gibt es hier; über 2300 Arten davon stehen auf den
werden; hier sind Maßnahmen wie etwa Waldumbau
Roten Listen Deutschlands und Nordrhein-Westfalens.
noch möglich. In der Pflegezone sollen Ökosysteme
Zu den botanischen Besonderheiten zählen unter an-
der Kulturlandschaften langfristig erhalten bleiben.
derem die Gelbe Narzisse sowie verschiedene Lilienarten.
Ein Urwald zweiter Hand
Wie die meisten Nationalparks ist auch dieser ein
Die besondere Herausforderung innerhalb der Park-
sogenannter Entwicklungsnationalpark. Das bedeutet,
grenzen schildert Andreas Pardey, Leiter des Fach-
dass hier noch nicht vollständig die Kriterien eines
gebiets Forschung und Dokumentation der National-
Nationalparks laut Paragraf 24 des Bundesnatur-
parkverwaltung: „Bis vor 15 Jahren waren das meiste
Blick in die Zukunft | Große Vergangenheit, sternklare Zukunft
hier noch Wirtschaftswälder.“ Heißt: Jahrhundertelang betrieben die Menschen in dieser Region intensiv Forstwirtschaft. Das merkt man den Wäldern bis heute an, beispielsweise durch die große Zahl von Fichten und Douglasien. Letztere gilt hier als invasive Art, die vor allem im nördlichen Teil des Parks Eichenwälder verdrängen kann. Auch die frühere militärische Nutzung von Teilen des Parks merkt man noch deutlich: Ein umfangreiches Straßen-, Wege- und Militärpistennetz durchschneidet Waldgebiete und Flussläufe. Ganz ohne menschliche Eingriffe geht es also nicht: Wege müssen zurückgebaut und Fließgewässer wieder durchgängig gemacht werden. Flächen, auf denen invasive oder fremde Baumarten wachsen, sollen zu naturnahen Wäldern entwickelt werden, in denen
Rehe knabbern gerne an jungen Bäumen. Gibt es zu viele von ihnen, schadet das dem Baumnachwuchs empfindlich
Laubwald dominiert. Auf diese Weise soll sich ein sogenannter „Urwald zweiter Hand“ entwickeln. Diese Renaturierungsmaßnahmen müssen jedoch artenund biotopschutzrechtlichen Vorgaben genügen und von unterschiedlichen Gremien abgenickt werden. Dazu gehört manchmal auch das Schießen von Wild. Denn Rehe und Hirsche knabbern gerne an Laubbäumen und Sprösslingen. Und das gefährde die Verjüngung des Waldes, erläutert Pardey. Durch ein
Andreas Pardey kennt die Diskussionen. „Es gibt
großes Nahrungsangebot und keinerlei natürliche
sehr unterschiedliche Meinungen über das, was im
Feinde sei der Wildbestand derzeit zu groß. „Dadurch
Nationalpark passiert“, sagt er. Das verstehe er: Jede
gibt es hier den Sonderfall, dass der Wildbestand re-
Interessensgruppe habe schließlich ein eigenes Mei-
guliert werden muss“, so Pardey. Mit einer gewöhnli-
nungsbild. Doch die Verwaltung wolle größtmög-
chen Jagd sei dies jedoch nicht zu vergleichen; die sei
liche Transparenz herstellen, um auch Skeptiker zu
in einem Nationalpark schließlich verboten.
überzeugen. Neben forstlich ausgebildetem Personal
Stichworte wie Waldumbau und Wildbestandsre-
arbeiten auch Geografen, Biologen, Biogeografen
gulierung rufen jedoch auch Kritiker auf den Plan. Der
und Revierjagdmeister mit im Team. Extern gebe es
nordrhein-westfälische Landesverband des Bunds für
außerdem zwei Gremien, die die Verwaltung in allen
Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), hatte
grundlegenden Plänen und Entscheidungen berate.
anlässlich des zehnten Geburtstags des National-
Mitglieder sind unter anderem Vertreter der betei-
parks scharfe Kritik an der Parkverwaltung geübt. Die
ligten Landkreise, Städte und Gemeinden sowie von
Naturschützer bemängelten unter anderem „nahezu
Behörden, Verbänden und Organisationen. Eine er-
flächendeckende Jagd, Aufforstungen“ sowie „überdi-
weiterte Arbeitsgruppe tagt außerdem einmal im Jahr
mensionierten Wegebau“. Dies stehe der natürlichen
und muss alle geplanten Maßnahmen genehmigen.
Entwicklung des Nationalparks entgegen. Der dürfe
„Wir versuchen, immer in Diskussion zu bleiben“, so
kein reiner „Touristen-Park“ werden, kritisierte der
Pardey. Die ganze Bevölkerung soll so gut wie mög-
BUND.
lich eingebunden werden.
109
Öffentlichen Personennahverkehrs wie zusätzliche Buslinien, die eng mit den Angeboten im Nationalpark verzahnt werden. Um Besucher mehrere Tage lang in der Region zu halten, gibt es sogenannte Nationalpark-Gastgeber: Hotels, Jugendherbergen, Restaurants oder Campingplätze, die sich den Zielen des Parks verschrieben haben und entsprechend zertifiziert sind. Die touristischen Aktivitäten sollen der störungsfreien Entwicklung von Flora und Fauna jeDie „Erlebnis region National park Eifel“ kommt gut an. Die Besucherzahlen steigen stetig und die Ranger haben gut zu tun
Seit Einrichtung des Parks am 1. Januar 2004 spürt
doch nicht entgegenstehen. Im Vordergrund soll der
man in der Region die positiven Effekte, die der Status
Naturgenuss in Form von Wanderurlauben stehen.
mit sich bringt. Seit der ersten Vollerhebung der Be-
Aus diesem Gedanken heraus ist vor rund zehn Jahren
sucherzahlen im Jahr 2007 mit 450.000 Gästen, hat
der „Wildnis-Trail“ entstanden, der Besucher innerhalb
sich die Zahl im Jahr 2018 mit 910.000 Gästen mehr
von vier Tagen quer durch den Nationalpark führt.
als verdoppelt. Schon vor der Gründung haben Ver-
Sein Logo ist übrigens – wie könnte es in der Eifel
treter der Region und des Forstamts einen „Master-
wohl anders sein – das stilisierte Gesicht einer Euro-
plan Tourismus“ entwickelt. Darin festgehalten sind
päischen Wildkatze.
20 touristische Projekte, die in den ersten Jahren nach Gründung umgesetzt wurden, von einer eigenen
Sternenklarer Blick
Homepage über Wanderwegenetze bis hin zu Angebo-
Stolz ist man hier auf ein Alleinstellungsmerkmal:
ten für Jugendliche.
Seit 2014 ist der Park der erste Internationale Ster-
Der Nationalparkplan und die gesetzlichen Grund-
nenpark Deutschlands. Im April 2019 gab es die end-
lagen geben die Schutzziele für den Park vor. Den-
gültige Anerkennung durch die International Dark-Sky
noch wird klar, dass seine Entwicklung nicht ohne
Association (IDA). Künftig soll aus dem Sternenpark
Kompromisse vor allem im Bereich Tourismus aus-
ein sogenanntes Sternenreservat werden. Dadurch
kommt. Die „Erlebnisregion Nationalpark Eifel“ fun-
würde das Gebiet, das vor Lichtverschmutzung ge-
giert als Marke, die man gemeinsam mit den touristi-
schützt werden soll, wachsen.
schen Dienstleistern der Region weiter ausbauen will.
Wer einen sternenklaren Blick ins All werfen will,
Vor allem der Mehrtagestourismus soll gefördert
den führt der Weg zu einer weiteren Besonderheit,
werden. Dazu gehört zum Beispiel der Ausbau des
gelegen im Herzen des Gebietes: der ehemalige Truppenübungsplatz Vogelsang. Bis zum Jahr 2005 nutzte das belgische Militär die Anlage. Mittlerweile ist sie fest in das Geschehen des Nationalparks integriert. Seit 2006 trägt der Komplex den Beinamen „Internationaler Platz“ und will für Toleranz, Vielfalt und
Auf dem Wildnis-Trail wandert man innerhalb von vier Tagen quer durch den Park. Einfach der Wildkatze auf den Wegweisern folgen!
110
ein friedliches Miteinander einstehen. Hier steht die Sternwarte, die den Blick in den Himmel ermöglicht. Neben Naturschutz und Tourismus spielt auch die Forschung eine wichtige Rolle. So werden etwa verschiedene Monitorings durchgeführt, teilweise in Kooperation mit Verbänden oder anderen Nationalparks. Im Rahmen von Effizienzkontrollen, erläutert Andreas
Blick in die Zukunft | Große Vergangenheit, sternklare Zukunft
Dieser ungestörte Blick in den Nachthimmel macht aus dem Nationalpark auch einen Internationalen Sternenpark
Pardey, werden derzeit beispielsweise Wiesenflächen
Nationalpark heißt Naturschutz – das kommt auch
begutachtet: Welche Arten findet man hier vor, wel-
bei den Besuchern so an. Kontinuierlich werden ge-
che sind neu, wie häufig ist welche Art? Derzeit wird
meinsam mit Universitäten Daten über die Besucher
außerdem der Bestand der Käfer untersucht, die im
erhoben und im Rahmen eines sozioökonomischen
Totholz leben, und dies mit den Ergebnissen von vor
Monitorings (SÖM) ausgewertet – quantitative Daten
20 Jahren abgeglichen. Dies verrät den Wissenschaft-
werden hier ebenso erhoben wie Daten über die
lern beispielsweise, wie sich Flora und Fauna durch
Qualität des Aufenthaltes. Das SÖM zeigt, dass der
den Klimawandel im Nationalpark entwickeln. „Davon
Status 15 Jahre nach Parkgründung auch in Hinblick
können wir Aussagen über die Qualität des Waldes
bei Touristen die gewünschte Wirkung erzielt: Rund
ableiten“, so Pardey.
die Hälfte der Besucher kommen hierher, weil es den
Was also hat sich in Sachen Naturschutz getan,
Nationalpark gibt. Und vielleicht, wenn sie Glück ha-
seitdem im Jahr 2004 der Status „Nationalpark“ ver-
ben, können sie hier auch einen Blick auf die scheue
geben wurde? Im aktuellen Evaluierungsbericht zieht
Wildkatze werfen, die den Park ihre Heimat nennt.
Bis 2005 war der Vogelsang eine Militär anlage, heute kann man hier die Aussicht genießen: von den Mauern aus auf den Wald und von der Sternwarte in Richtung Himmel
die Parkverwaltung selbst ein positives Fazit: Die Artenvielfalt steigt kontinuierlich. Mehr und mehr für das Gebiet typische Arten können in den Bachtälern nachgewiesen werden, wo Fichten entnommen wurden. Die ehemalige Kulturlandschaft entwickelt sich allmählich wieder in ihren natürlichen Zustand zurück: Der Laubwald ist auf dem Vormarsch. Ähnlich positiv bewertet Europarc Deutschland die Entwicklung in der Eifel. Europarc ist der Dachverband für die Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks im Land. Die Handlungsempfehlungen, die der Verband ausgesprochen hatte, hat das Park-Team in Angriff genommen und mehrheitlich ganz oder teilweise umgesetzt. Für die Zukunft empfiehlt Europarc sogar die Erweiterung des Nationalparks.
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Blick in die Zukunft
Mooshügel, Schilf, Wasserlöcher – so sieht eine Moorfläche normalerweise auch. Doch viele ursprüngliche Moore im Hunsrück wurden trockengelegt
Von Hangmooren und Ringwällen
Benjamin von Brackel
Der Hunsrück-Hochwald ist der jüngste aller Nationalparks in Deutschland und darum für die Forschung besonders interessant. Die Mitarbeiter kämpfen allerdings mit einer Grundsatzfrage: Wie viel Eingriffe sind erlaubt? Selbst Andrea Kaus-Thiel fuhr der Schreck in die Kno-
Im Rahmen des EU-LIFE-Projekts lässt sie mit Seilkrä-
chen, als sie die Fläche zum ersten Mal sah. Besucher
nen Fichten entnehmen und die Gräben wieder blo-
hatten sich bei ihr beschwert, ebenso Artenschützer:
ckiert – mittels Verplombung und Spundwänden. Aber
Wie kann so etwas in einem Nationalpark nur sein?
nicht überall: An manchen Stellen wurde gar nichts
An einem sonnigen Maitag fährt die Forschungs-
verändert, um zu prüfen, ob es ausreicht, wenn die
referentin des Nationalparkamts im VW-Bus durch
natürliche Sedimentation die Gräben verschließt. An
die Mischwälder des Hunsrücks, bis sich rechterhand
manchen Stellen wurden nur die Gräben verschlossen,
eine riesige Freifläche auftut, auf der von einem eins-
an anderen zusätzlich Fichten gefällt. Anschließend
tigen Fichtenwald nur noch Hunderte Baumstümpfe
kontrollieren unter anderem Hydrologen regelmä-
zeugen. „Das ist natürlich erstmal ein Schocker“, sagt
ßig, wie sich der Boden entwickelt. Das Experiment
Kaus-Thiel. „Aber ich habe keine Bedenken, dass die
soll zeigen, ob und wie sich Moore am besten wieder
Natur das regelt.“ Sie blickt auf eine Tafel nahe der
rückvernässen lassen. „Es liegt an der Natur, was sie
Straße. „Hier entsteht ein Moor. Wir bitten um ihr
daraus macht“, sagt Kaus-Thiel.
Verständnis“, steht darauf. Zu sehen sind Mooshügel,
Dass Projekte wie dieses gerade hier geschehen,
Moorbirken und ein paar Wasserstellen – was so gar
ist kein Zufall. Denn der Nationalpark Hunsrück-Hoch-
nicht zum aktuellen Zustand passen will. Dieser Ge-
wald bietet ein exzellentes Experimentierfeld: Er ist
gensatz erklärt auch die Empörung. „Der Mensch neigt
reich an unterschiedlichsten Standorten – von nassen
Was erschreckend kahl aussieht, dient der Rückkehr der Natur. Auf dem Naturerlebnisrundweg im Nationalpark ist diese gerodete Fläche zu sehen, auf der ein Moor entstehen soll
dazu, in sehr kurzen Zeiträumen zu denken“, sagt die 51-Jährige mit dem fröhlichen Lachen. Bis sich hier aber eine Moorlandschaft entwickelt hat, wird es noch Jahre dauern. Wenn überhaupt. Denn das Moorprojekt, das voriges Jahr startete, ist ein Experiment: Wissenschaftler wollen herausfinden, ob sich Moore wieder erholen, wenn die Einflüsse des Menschen abgeschaltet sind. Bis ins 18. Jahrhundert war hier noch ein Moor, das aufgrund seiner Hanglage als Hangmoor oder im Hunsrück auch als Hangbrücher bezeichnet wird. Doch dann durchzogen es die Franzosen und Preußen mit Wegen und Entwässerungsgräben im Fischgrätenmuster, um den Boden trocken zu legen, Fichten anzupflanzen und so Bau- und Brennmaterial zu gewinnen. Diese Entwicklung will die Stiftung Natur und Umwelt Rheinland-Pfalz nun rückgängig machen.
113
versitäten und Instituten sie gerade Untersuchungen plant oder bearbeitet. Da geht es zum Beispiel um Fledermausmonitoring, Experimente mit Totholz oder eben der Renaturierung von Mooren. „Die Natur sich selbst zu überlassen und möglichst vorsichtig zugucken ist der Hammer“, sagt sie. „Ich kann da wie eine kleine Zecke partizipieren an den Wissensgeneratoren der Universitäten.“ Aber sie muss dem Ganzen auch Grenzen ziehen. Man sieht die scheuen Tiere selten, doch heute lebt eine stabile Wildkatzenpopulation in den Wäldern des Hunsrück
Hangbrüchern bis zu trockenen Rosselhalden, Block-
Daran erinnert sie täglich ein Büchlein mit blau-
schutthalden aus Quarzit.
gelbem Einband, das auf ihrem Schreibtisch liegt.
Anders als in aufgeräumten Wirtschaftswäldern
Im „Staatsvertrag über den Nationalpark“ ist immer
lässt sich hier außerdem der ungestörte Zyklus der
wieder die Rede von einem Wort: „Prozessschutz“.
Natur beobachten. Und damit, wie sich Ökosysteme
Für Kaus-Thiel ein geradezu heiliger Begriff. Egal ob
verändern und an neue Situationen anpassen – etwa
Forschung, Bildung oder Erholung – alles ordnet sich
an den Klimawandel. „Hier gibt es Raum, Ruhe und
im Nationalpark diesem ersten Grundsatz unter: Der
Beständigkeit“, sagt Kaus-Thiel. „In einem Wirtschafts-
Natur freien Lauf lassen. Bis 2020, so sieht es die Na-
wald gibt es permanent Störung und Umbruch.“
tionale Strategie zur Biologischen Vielfalt vor, soll das
Weil es den Nationalpark erst seit 2015 gibt, lässt
auf zwei Prozent der Fläche Deutschlands passieren.
sich ein Großteil der Zone noch entwickeln, bis nach insgesamt 30 Jahren drei Viertel der Gesamtfläche
Hotspot für Wildkatzen
nur noch Wildnis sein werden. Das heißt: Es lässt sich
Um einen Überblick zu bekommen führt Kaus-Thiel auf
noch experimentieren.
den 816 Meter hohen Erbeskopf, wo sie eine Aussichts-
Kaus-Thiel gerät ins Schwärmen, wenn sie von
plattform hinaufsteigt. Von dort sieht man Buchen-
den Möglichkeiten der Forschung im Nationalpark
und Fichtenwälder so weit das Auge reicht, Windräder
spricht. Kein Wunder, ist es doch Aufgabe der Biolo-
stecken die Ränder des Nationalparks ab. Kaus-Thiel
gin, die verschiedenen Projekte zu koordinieren und
zeichnet die Umrisse des Parks nach, der von oben
zu dokumentieren. In ihrem Büro in Birkenfeld hängt
einer Gitarre gleicht und die Größe von Sylt hat. In der
eine Tafel, auf der allerlei Kreise und Linien abgebil-
Mitte des Nationalparks liegt das Dorf Börfink, das von
det sind – ihre Erinnerungsstütze, mit welchen Uni-
Wildnis umgeben ist. Drum herum die Entwicklungszonen und ganz außen Pflegezonen, die Landwirte auch langfristig noch bewirtschaften dürfen. Vor dem Aussichtsturm zieht sich ein Wanderpfad in die Wälder hinab, wie es viele im Nationalpark gibt.
Ihre Jungen ziehen die Wildkatzen gerne im Schutz des Totholzes auf. Die Mischung aus Wald und Offen flächen des Nationalparks scheint den Tieren zu gefallen
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Dort allerdings trifft man nur wenig Menschen, noch ist der Hunsrück ein Geheimtipp. Noch seltener sieht man Wildkatzen, die Symbole des Parks. Wie viele hier durchstreifen, weiß man erst seit 2017, als Wildtierökologen 265 Lockstöcke verteilten – Holzpfosten, deren Enden sie mit Baldriantinktur besprühten, woran sich die Katzen mit Vorliebe reiben. Die Haare wurden eingesammelt und im Labor genetisch bestimmt. Das
Blick in die Zukunft | Von Hangmooren und Ringwällen
Ergebnis: 102 Wildkatzen waren im Nationalpark, im Jahr darauf 93. „Wir können also von einer stabilen Population sprechen“, sagt die Wildtierökologin Anja Schneider, die das Projekt koordiniert hat. „Hier ist ein Hotspot von Wildkatzen.“ Die Mischung aus Wald und Offenflächen, die Ruhe und das Totholz, unter dem sich ihre Jungen verstecken können, scheinen sie regelrecht anzuziehen, genauso wie den Schwarzspecht und den Schwarzstorch. Auch andere seltene Tier- und Pflanzenarten oder Lebens-
Schutz von Schmetterlingen wie dem Feuerfalter, von
räume sollen gemäß der EU-Vogelschutz- und Fau-
Heuschrecken wie dem Heidengrashüpfer und Vögeln
na-Flora-Habitat-Richtlinie geschützt werden. Für den
wie dem Wiesenpieper oder dem Raubwürger. Die Flä-
Nationalpark eine Herausforderung. Schließlich besagt
che gehört zur Pflegezone, sie ist also von einem Zaun
das in der Richtlinie enthaltene „Verschlechterungs-
umfasst und muss regelmäßig gemäht werden. Um
verbot“, dass die Qualität der Lebensraumtypen nicht
ihre Qualität zu verbessern, ließen sich zudem Samen
abnehmen darf – also mindestens gleichbleiben muss.
aussähen, was Kaus-Thiel aber zu weit ginge. „Dann
„Aber dieser Ansatz ist das Gegenteil vom Grundgedan-
können wir hier im Prinzip auch Garten machen“, sagt
ken eines Nationalparks“, sagt Kaus-Thiel. „Würden wir
sie. Doch das ist ihre persönliche Meinung.
den Prozessschutz ernst nehmen, müssten wir selbst dann klarkommen, wenn hier eine Steppe entsteht.“
Hier im Riedbruch kann das Wasser nicht mehr abfließen und der Wandel des Waldes zum Moor ist bereits in vollem Gange
Offiziell hat sich die Nationalparkleitung mit dem Landesumweltministerium auf eine Lösung des Di-
Denn der Grundgedanke lautet: Die Natur darf nach
lemmas geeinigt: Die Habitate dürfen sich sehr wohl
ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten walten und schalten.
verändern, es sei denn sie sind in ganz Deutschland
Und genau das hält Kaus-Thiel persönlich für das Sinn-
einzigartig.
vollste. Einmal hält sie vor einer Arnikawiese und zeigt
Kaus-Thiel weiß, dass sich der Prozessschutz
auf zwei gelbe Blüten. Ihr Wert ist unbestreitbar: Die
nicht radikal durchsetzen lässt. Eingriffe sind allein
Pflanzenart ist gefährdet und ihr Erhalt dient auch dem
deshalb schon nötig, um das Umland zu schützen,
Dieser keltische Ringwall liegt im saarländischen Teil des Nationalparks. Er steht symbolhaft dafür, dass der Nationalpark in eine uralte Kulturlandschaft eingebettet ist
115
etwa vor dem Borkenkäfer. Trotzdem stehen die Mit-
Selbst die Hangmoore im Hunsrück, so zeigen neue
arbeiter des Nationalparks immer wieder vor der
Untersuchungen, speichern dreimal so viel Kohlendi-
Frage, wie sie die Hauptaufgabe des Nationalparks
oxid wie Flächen, auf denen Fichten wachsen. Dabei
mit den anderen Aufgaben vereinbaren können, wie
reicht der Torf der Brücher, wie sie im Hunsrück ge-
der Forschung, die Kaus-Thiel so begeistert. Ihr Leit-
nannt werden, gerade mal im Schnitt 60 Zentimeter
satz: Forschung ja – aber nur, wenn sie möglichst
unter den Boden, der von Hochmooren aber viele Me-
ohne Störung passiert und kaum in die Natur ein-
ter. Weil sie wie ein Schwamm Regenwasser aufsau-
greift. Das gilt für die Malaisefallen für Insekten, die
gen, gelten sie als Puffer für Hochwasser: Sie sorgen
seit dem Frühjahr in drei Höhenlagen am 816 Meter
dafür, dass nicht alles Wasser gleichzeitig abfließt.
hohen Erbeskopf aufgebaut sind, um zu untersuchen, Gipfel hinaufbewegen. Oder einem Experiment, das
Moore: Hochwasserpuffer und CO2-Speicher
verstehen helfen soll, wie viel Totholz es in Wirt-
Kaus-Thiel biegt mit ihrem Bus von der Asphalt-
schaftswäldern braucht, um möglichst viel Biodi-
straße in einen Schotterweg ab und fährt den Süd-
versität zu ermöglichen. Insgesamt 1500 Pilzarten
hang des Erbeskopf hinauf bis zum Riedbruch. Dort
zersetzen im Nationalpark das Totholz, 1400 Käfer-
stiefelt sie über bemooste Äste und man bekommt
arten leben darin und 16 Fledermausarten nutzen es
eine Ahnung, wie es hier in ein paar Jahren einmal
als Höhlen. Darunter die Mopsfledermaus, zu der ein
aussehen könnte. Ein paar Moorbirken, ein paar
Monitoring-Programm läuft. „Das sind alles kleine
kleine Tümpel. Hier beginnt der Wandel bereits:
Eingriffe, aber es ist die Summe, die den Grundge-
Weil das Wasser nicht mehr abfließt und sich in der
danken konterkarieren kann“, sagt Kaus-Thiel.
Fläche verteilt, setzt es den Hang dauerhaft unter
ob sich die Insekten im Zuge der Erderwärmung zum
Schulkinder aus einem nahen Gymnasium helfen bei der Renaturierung der zukünftigen Moorfläche
116
Die Biologin sieht sich jeden Projektantrag genau
Wasser. Der Sauerstoffmangel hindert abgestorbene
an – und lehnt auch mal einen ab, wenn das Vorhaben
Torfmoose daran, sich weiter zu zersetzen, weshalb
zu nichts zu führen scheint oder es auch außerhalb
sie sich nach und nach auftürmen. Einen Millime-
des Nationalparks funktioniert. „Forschung muss Ma-
ter pro Jahr wächst der Torf, der damit immer mehr
nagementrelevanz haben“, sagt sie.
Wasser speichert und die Fläche vernässt. „Wir haben
Das Moorprojekt ist so ein Fall: Moore gelten als Wunderwaffe im Kampf gegen den Klimawandel.
Blick in die Zukunft | Von Hangmooren und Ringwällen
hier zumindest alle Voraussetzungen für ein Moor“, sagt Kaus-Thiel.
Zum Abschluss der Rundfahrt fährt die Biologin in den Südwesten des Nationalparks über die Landesgrenze ins Saarland zu einem magischen Ort. Ein Schotterweg schlängelt sich nach oben, ehe KausThiel vor einem knapp zehn Meter hohen Wall aus
„Hier sind ja gar keine Bäume mehr!“ Die Schüler sollen durch die Arbeit im Park für den Wert der Natur sensibilisiert werden
Quarzit-Steinen stehen bleibt. Eine antike Befestigungsanlage, die sich über die Sporne des Hochwaldkamms verteilt. Vor über 2000 Jahren siedelten hier erst Kelten, dann Römer. Sie ließen ihr Vieh in den Wäldern weiden, die sie mehr und mehr auflichteten. Damit veränderten sie ihre Umwelt nachhaltig. „Ein Nationalpark ist immer ein Kompromiss“, sagt Kaus-Thiel. „Er ist eingebettet in eine Kulturlandschaft.“ Sie führt an der Grundmauer eines kleinen römi-
ren sie schon mal hier, um Spundwände einzuziehen
schen Tempels vorbei, der ungeschützt neben dem
und die Gräben mit Hackschnitzeln zu befüllen. Jetzt
Pfad unter alten Buchen steht, bis sie die andere Seite
reißen die Schüler aus den Klassen fünf bis sieben
des Walls erreicht hat. Hier tut sich der Blick übers
die jungen Fichten aus der Erde, knipsen sie mit einer
weite Land auf: Bewaldete Hügelketten, dazwischen
Astschere durch oder sägen sie ab, wenn sie größer
ein Stausee und dahinter Häuser und Windräder. „Viele
sind.
anthropogene Einflüsse können wir gar nicht mehr zu-
Zuvor hatten zwei Nationalparks-Mitarbeiter ih-
rücknehmen“, sagt Kaus-Thiel. So haben die Menschen
nen erklärt, warum Moore besondere Lebensräume
das Klima dauerhaft verändert, die Zusammensetzung
sind und deshalb renaturiert werden sollen. Sebastian
der Luft, den Stickstoffeintrag im Boden. Ein Urzustand
Schacht ist im Nationalpark für die Bildung zuständig
lasse sich deshalb gar nicht mehr herstellen.
und war an dem Tag mit dabei, an dem die Mitarbei-
Überhaupt: Wer dürfe schon bestimmen, was ein
ter des Nationalparks regelrecht gelöchert wurden:
richtiger Wald sei? Einer, der vor 1000 Jahren exis-
Was wächst hier? Ab wann ist ein Moor ein Moor?
tierte? Oder vor 10.000 Jahren? „Möglicherweise passt
2600 Kinder und Jugendliche kamen im Jahr 2018 in
der alte Zustand gar nicht mehr zur heutigen Welt“,
den Nationalpark, um an den Bildungsprogrammen
sagt Kaus-Thiel. „Einen Urwald zu basteln ist nicht un-
teilzunehmen. „Wir wollen die Kinder sensibilisieren
sere Intention.“ Stattdessen gehe es darum, innerhalb
und zurückholen in die Natur“, sagt der 36-Jährige.
der 30 Jahre den Nationalpark einigermaßen natürlich
„Sie sollen Wildnis kennenlernen und sich daran ge-
zu gestalten. Wie das Moor.
wöhnen, dass die Natur und nicht der Mensch im Vordergrund steht.“
„Ab wann ist ein Moor ein Moor?“
Am Abend zuvor hatten sich die Schüler an eine
Vier Tage später fahren um zehn Uhr morgens zwei
kleine Mutprobe gewagt: Jeder sollte kurze Abschnitte
VW-Busse voller Kinder an der kommenden Moorflä-
eines Weges alleine im Wald zurücklegen und nur
che vorbei. Ein Junge mit Sommersprossen im Gesicht
darauf achten, was er hört. Ein aufregendes Erebnis.
und roten Haaren zeigt nach draußen. „Boah, hier sind
Hinterher erzählten die Schüler, was sie gehört hat-
ja gar keine Bäume mehr!“ Die Schüler des Götten-
ten: die Rufe einer Eule, das Saugen der Schuhe im
bach-Gymnasiums aus Idar-Oberstein sollen helfen,
Matsch. Ansonsten nur: Stille. Das kannten die meis-
das Moor zu renaturieren. Vor ein paar Monaten wa-
ten gar nicht.
117
Natur richtig beobachten
Ralf Stork
Links: Feste Schuhe und wasser dichte Kleidung: Wer sich richtig anzieht, ist gegen Wind und Wetter geschützt und kann das Outdoor-Abenteuer genießen
Der richtige Schuh: Wer der Natur ganz nahekom-
atmungsaktive Jacke. Wer sich als Zwiebel mit vielen
men will, ist am besten zu Fuß unterwegs. Da spürt
verschiedenen Schichten anzieht, ist für jede Tempe-
man die Beschaffenheit des Bodens und jede noch
ratur gerüstet.
so kleine Steigung. Man passt sich der Geschwindigkeit der Tiere an und läuft nicht selten mitten durch
Fernglas: In der Natur unterwegs zu sein, ist immer
ihren Lebensraum – also durch taunasses Gras, knö-
toll. Man riecht die Erde, lauscht den Geräuschen der
chelhohe Brombeerranken, ein Distelfeld oder auch
Tiere und sieht, wie sich die Landschaft Schritt für
mal eine Böschung mit rutschigem Geröll. Um nasse,
Schritt verändert. Mit einem fast schon magischen
zerkratzte und umgeknickte Füße zu vermeiden, greift
Gegenstand lässt sich dieses Erlebnis noch erheblich
man am besten zum guten, alten Wanderschuh. An
steigern: Ein Fernglas verwandelt kleine, unschein-
trockenen Sommertagen geht – ausnahmsweise –
bare Häuflein, die auf dem Wasser dümpeln, in Schell-
auch mal ein fester Turnschuh.
enten, Gänsesäger oder Zwergtaucher. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man auf der Wiese mit
Rechts: An die meisten Tiere kommt man nicht nah heran, ohne sie zu stören. Ein gutes Fernglas ist daher Pflicht
118
Die richtige Kleidung: Wer zu einer längeren Wande-
bloßem Auge einen Umriss sieht, der eventuell ein
rung aufbricht, ist den Elementen unterwegs schutz-
Hase sein könnte. Oder, ob man durchs Fernglas die
los ausgeliefert. Eine Jeans ist schon mal ein guter
Struktur des Fells erkennen kann, den Glanz der Au-
Anfang, um Wind, Dornengestrüpp und Blutsauger ab-
gen und wie die Nase hin und her zuckt, während ein
zuhalten, hilft aber wenig gegen einen kräftigen Re-
Löwenzahn im Hasenmaul verschwindet. Wer noch
genguss. Besser also eine wasserabweisende, schnell-
kein Fernglas hat, unbedingt eins kaufen. Und wer
trocknende Funktionshose und dazu eine wasserdichte,
seins zu Hause vergessen hat, sofort holen.
Blick in die Zukunft | Natur richtig beobachten
Proviant: Auf einer Wanderung – selbst wenn sie nur eine Stunde dauert – kommt schnell das Gefühl auf, vor Hunger und Durst einzugehen. Dagegen helfen ausreichend Wasser, Nüsse, Müsliriegel und andere Nahrungsmittel mit einem günstigen Gewicht-Kalorien-Verhältnis. Modifikationen und Erweiterungen bei längeren Touren sind möglich: Eine Thermoskanne Tee wirkt nach Stunden in Eis und Schnee Wunder. Und mit Keksen oder einer Tüte Gummibärchen kann man müde, nörgelnde oder hinfallende Kinder oft wieder auf Kurs bringen. Rucksack: Bei einem Trip ins Grüne kann ganz schön viel Ausrüstung zusammenkommen, die man irgendwie verstauen muss. Auch Plastiktüten und Jute-Beutel lassen sich kilometerweit durch die Botanik tragen, macht aber nicht so viel Spaß. Das richtige Aufbewahrungsutensil für das ganze Gedöns ist ein ordentlicher Ruck-
ten zu bieten. Man muss nur wissen, wo und wann.
sack mit gepolsterten Schulterriemen und Hüftgurt.
Deshalb macht es Sinn, sich vor Beginn der Reise
Für einen Tagesausflug den Rucksack nicht zu groß
möglichst genau zu informieren. Über die Besucher-
wählen, sonst besteht die Gefahr, mehr hineinzustop-
zentren kann man zum Beispiel in Erfahrung bringen,
fen, als man wirklich braucht und tragen kann. Es soll
welcher Wanderweg auch mit kleineren Kindern zu
Wanderer geben, die unterwegs die schon gelesenen
bewältigen ist, wo die schönsten Aussichtstürme ste-
Seiten aus ihrem Reiseführer gerissen haben, nur um
hen und wo die kalten Getränke nach der Radtour am
ein paar Gramm Gewicht zu sparen.
besten schmecken.
Die richtige Zeit: Tiere sind zu bestimmten Tages-
Tiere sehen: Wer garantiert eine bestimmte Tier-
zeiten aktiv. Menschen auch. Ziemlich viele sogar zur
art aus der Nähe sehen will, muss in den Zoo gehen.
exakt gleichen Zeit. Wer schon mal im Yosemite-Nati-
Natur ist Natur, und da sind die Tiere nun mal nicht
onalpark im Stau gestanden hat, kann ein Lied davon
festgenagelt. Aber: Viele Tiere haben einen ausge-
singen. Die deutschen Parks sind nicht annähernd so
prägten Geruchs- und Gehörsinn. Wer in Kleingruppen
überlaufen, trotzdem kann es zu Stoßzeiten voll wer-
unterwegs ist, Kleidung in gedeckten Farben trägt,
den. Wer die Natur ungestört genießen will, weicht
die nicht bei jedem Schritt raschelt und sich nicht
am besten in die Randstunden aus. Am frühen Abend
laut unterhält, hat schon einiges richtig gemacht. Die
ist das Gros der Besucher schon wieder auf dem Weg
meisten Tiere sind in den Morgen- und Abendstunden
in die Hotels. Und wer es schafft, eine Tour schon um
am aktivsten. Viele Arten sind standorttreu. Kraniche
sieben in der Früh zu beginnen, hat den Park mit Si-
nutzen immer das gleiche Schlafgewässer, Saat- und
cherheit ganz für sich allein – von den vielen dämme-
Blässgänse rasten immer zur gleichen Zeit, die Rot-
rungsaktiven Tieren einmal abgesehen.
hirsche röhren verlässlich Jahr für Jahr am gleichen
Die Nationalparkzentren sind immer ein guter Anlaufpunkt. Hier erfährt man, welche Routen sich eignen und wo man welche Tiere finden kann
Ort. Wer das weiß und sich über die richtigen (Jahres-) Die richtigen Informationen: Jeder Nationalpark hat
Zeiten und Orte informiert, wird ziemlich sicher mit
spektakuläre Arten und atemberaubende Aussich-
spektakulären Tiererlebnissen belohnt.
119
Blick in die Zukunft
Die ehemalige innerdeutsche Grenze war jahrelang völlig unzugänglich, die Natur konnte sich ungestört entfalten. Heute sind große Teile des „Grünen Bands“ Nationales Naturmonument und beispielhaft für die Vernetzung von Schutzgebieten
Ein ewiges Abwägen
Henrike Wiemker
Das Konzept Nationalpark ist nicht unumstritten. Manche fordern mehr Vernetzung, andere strengere Regeln. Viele alte Konflikte der Anfangszeit schwelen bis heute. Doch alles in allem ist es – für Mensch und Natur – ein Erfolg Der Nationalpark wie er im vierten Kapitel des Bun-
mit ihrem gesamten Set an Arten geschützt – davon
desnaturschutzgesetzes beschrieben ist, ist ein eigen-
profitieren dann auch weniger offensichtliche oder
artiges Konstrukt. Paragraf 24, der den Nationalpark
weniger erforschte Spezies wie Insekten und Pilze.“
beschreibt, ist relativ kurz, doch er enthält einige Stellen, die so viel Raum für Deutungen lassen, dass Kon-
Horte der Artenvielfalt
flikte vorprogrammiert sind. So sollen Nationalparks
Flechten sind ein Beispiel für solche Arten, die wohl
zum Beispiel „den möglichst ungestörten Ablauf der
bei den wenigsten Laien großen Naturschutzeifer
Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik“ gewähr-
hervorrufen, für das ökologische Zusammenspiel in
leisten. Sie sollen dem Naturerlebnis der Bevölkerung
einem Wald aber von großer Bedeutung sind. Johan-
dienen, „soweit es der Schutzzweck erlaubt“. Und sie
nes Bradtka ist Förster und lehrt an der Hochschule
sind unter Berücksichtigung „der durch die Großräu-
Weihenstephan zu Waldnaturschutz und Flechten,
migkeit und Besiedlung gebotenen Ausnahmen“ zu
seinem Spezialgebiet. „Es hat sich mehrfach gezeigt,
schützen. Doch was ist eine natürliche Dynamik? Wie
dass die Vielfalt von Flechten im Nationalpark um ein
viel Naturerlebnis erlaubt der Schutzzweck? Welche
Vielfaches größer ist als im Wirtschaftswald“, sagt er.
Ausnahmen sind geboten? Der Paragraf ist geradezu
„Da können auch naturnah bewirtschaftete Wälder
eine Einladung zur Diskussion.
nicht mithalten.“ Stand 2011 wurden im Nationalpark
Dennoch finden sich Nationalparks nicht etwa in
Bayerischer Wald 344 verschiedene Flechtenarten
Gesetzen zum Tourismus oder zur Regionalförderung,
nachgewiesen, rund 24 Prozent aller in Bayern vor-
Nationalparks schützen auch solche Arten, von denen die Allgemeinheit kaum Notiz nimmt. Diese Flechte (Cladonia fimbriata) etwa wächst im Bayerischen Wald
sondern im Naturschutzgesetz. Nach knapp 50 Jahren Nationalparkgeschichte in Deutschland ist daher die Frage angebracht, wie gut sie diesen Naturschutzzweck und ihre anderen Ziele erfüllen. „Nationalparks sind aus Naturschutzsicht sehr wichtig“, sagt Julia Aspodien. Sie leitet das Team Naturschutz und Landnutzung beim Naturschutzbund (Nabu). „Nationalparks sind die einzigen Gebiete in Deutschland, in denen nicht Arten, sondern komplette natürliche Prozesse geschützt sind. Dort kann Sukzession vollständig stattfinden, es können sich Ökosysteme von Grund auf entwickeln.“ Es geht also nicht um den Schutz einzelner, sondern um das ungestörte Zusammenspiel vieler Arten. Das macht die Parks einzigartig. Noch einen anderen Vorteil nennt Julia Aspodien: „In Nationalparks werden Lebensräume
121
nicht mehr gesichtet wurde. 2006 entdeckte man ihn dann im Bayerischen Wald, wo es noch weitere solcher sogenannter „Urwaldreliktkäfer“ gibt, die ausschließlich in urwaldähnlichen Wäldern vorkommen. Im Nationalpark Eifel entdeckte man die Grünliche Scheibchenschnecke, die sehr versteckt lebt und darum überhaupt nur selten erfasst wird. Und im Nationalpark Hainich in Thüringen wurde die Trauermücke Scatopsciara andrei erstmals für die Wissenschaft beschrieben. Solche Neufunde oder Wiederfunde von Arten, die über mehrere Jahrzehnte als verschwunden galten, werden aus vielen Nationalparks berichtet. Das deutet Fast lautlos bewegen sich Fledermäuse durch die Nacht und finden in den Totholzhöhlen der Bäume im Nationalpark KellerwaldEdersee Rückzugsorte
kommenden Flechten. Und das sind allein die Arten,
zumindest darauf hin, dass die Gebiete eine wichtige
die auf Bäumen oder dem Boden wachsen. Flechten
Rolle als Refugium für seltene Arten spielen. Aller-
auf Steinen seien bisher noch kaum erfasst worden,
dings können hier auch systematische Verzerrungen
sagt Bradtka. Würde man sie hinzuzählen, dürfte sich
auftreten: in ungeschützten, weniger „spannenden“
die Gesamtzahl der Flechtenarten auf 800 bis 900 er-
Gebieten wird weniger geforscht und grundsätz-
höhen, meint er.
lich berichtet man in Veröffentlichungen eher von
Trotz der Lücke bei den Flechten – was Artenviel-
den Arten, die man gefunden hat, als von denen, die
falt und Vorkommen angeht, gehören Nationalparks
nicht entdeckt wurden. Einige der Nationalparks sind
zu den am besten beforschten Gebieten in Deutsch-
außerdem einfach noch zu jung, um große Verände-
land. Klare Aussagen über die Naturschutzerfolge sind
rungen sichtbar werden zu lassen. Das gilt besonders
dennoch schwierig, denn ein systematisches Monito-
für die wald-dominierten Parks, deren Entwicklungen
ring, das die Parks miteinander oder mit ökologisch
Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte dauern können.
ähnlichen Gebieten vergleicht, gibt es nicht. Statt-
Trauermücke nebst Larve und Puppe (stark vergrößert). Die Art Scatopsciara andrei wurde im Nationalpark Hainich erstmals beschrieben
122
dessen gibt es viele einzelne Veröffentlichungen zu
Wie groß ist groß genug?
Ergebnissen von Arterfassungen in einzelnen Parks,
Welche Vor- und Nachteile aber hat das Konzept Na-
manchmal auch zu speziellen Tiergruppen. „Käfer im
tionalpark an sich? Hier ist gerade in Deutschland
Nationalpark Hainich“ etwa oder „Fledermäuse im Na-
die Größe der Parks eine interessante Frage. Das
tionalpark Kellerwald-Edersee“.
Bundesamt für Naturschutz empfiehlt für National-
Herausstechende Beispiele für Naturschutzerfolge
parks eine Mindestgröße von 10.000 Hektar, die je-
gibt es in all diesen Veröffentlichungen zur Genüge.
doch nicht verpflichtend ist. Zusammengenommen
Eins davon ist der Bindige Schnellkäfer, der auf der
machen die Landflächen in den 16 deutschen Parks
Roten Liste steht und nach 1905 rund 100 Jahre lang
einen Anteil von gerade mal 0,6 Prozent der Fläche Deutschlands aus. Julia Aspodien gibt zu: „Schaut man auf eine Deutschland-Karte, wirken die Nationalparks wie Stecknadelköpfe. Für die meisten Arten bilden sie dennoch ausreichend große Lebensräume, aber gerade größeren und migrierenden Arten genügt dies häufig nicht.“ Johannes Bradtka ist anderer Ansicht: „Nehmen Sie kleine Parks wie Eifel oder Keller-
Blick in die Zukunft | Ein ewiges Abwägen
Die Insel Memmert im Wattenmeer der Nordsee ist streng geschützt und darf von Menschen nicht betreten werden. Doch die meisten Küsten müssen sich Mensch und Natur teilen
wald-Edersee: Das sind Mini-Nationalparks! Da frage
stattdessen Vernetzung. „Nationalparke sind Monoli-
ich mich: Ist das der richtige Weg?“ Nicht 10.000,
the des Naturschutzes. Wenn es keine Verzahnung der
sondern 20.000 Hektar seien eine sinnvolle Mindest-
Schutzgebiete gibt, entstehen Inseln, zwischen denen
größe, findet Bradtka. Seine Befürchtung ist, dass vor
die Arten nicht wandern können. Dann gibt es keinen
allem kleine Parks als Alibi für die Politik dienen, die
genetischen Austausch. Was nützt es der biologischen
dann in anderen, viel größeren Teilen des Landes in-
Vielfalt, wenn sie nur in wenigen Nationalpark-Ge-
tensive Forstwirtschaft betreiben kann.
bieten besteht, aber viele Arten im Rest der Fläche
Das Stichwort, das er in diesem Zusammenhang
fehlen?“
nennt, ist Segregation, also strenger Schutz an einer
Hinter Bradtkas Überlegungen stehen zwei
Stelle kombiniert mit intensiver Bewirtschaftung an
unterschiedliche Konzepte von Naturschutz: ein
anderer Stelle. „Da wäre es besser, den gesamten Wald
segregativer Schutz, in dem einzelne Gebiete streng
naturnah zu bewirtschaften“, findet er. Nur wenige Ar-
geschützt so weit wie möglich vom Menschen ab-
ten seien wirklich auf streng geschützte Gebiete an-
geschirmt werden sowie ein integrativer Schutz, der
gewiesen. Wirklich profitieren würden nur bestimmte
stattdessen auf weniger strengen, dafür aber weiter
Arten von Käfern, Flechten und Pilzen, die große
verbreiteten Schutz setzt. Magnus Wessel, Verantwort-
Mengen Totholz benötigen, das in bewirtschafteten
lich für Naturschutzpolitik beim BUND, möchte die
Wäldern nicht liegen gelassen wird. Wichtiger sei
beiden Konzepte jedoch nicht gegeneinander aus-
123
spielen. „Ich denke, man sollte das eine tun, aber das
Land hat große Auswirkungen auf einen Nationalpark.
andere nicht lassen“, sagt er. Beim BUND habe man
Dünger beispielsweise dringt über das Wasser und die
das Ziel, auf fünf Prozent der Landesfläche Wildnis
Luft ein. Es ist aber aktuell technisch kaum möglich
zu etablieren, circa 15 Prozent der intensiven Pflege
und unbezahlbar, das Grund- und Oberflächenwasser
historischer Kulturlandschaften zu widmen und die
an den Grenzen von Parks aufzubereiten. Umso wich-
übrigen 80 Prozent so ökologisch wie möglich zu be-
tiger ist das Denken in vernetzten Systemen.“ Um die
wirtschaften. „Ein rein segregativer Naturschutz ist
Schutzbemühungen in Nationalparks zu verstärken,
in Deutschland ohnehin nicht möglich, weil wir die
sei es das Wichtigste, die störenden Faktoren außer-
Flächen dazu nicht haben“, erklärt Wessel. Deutsch-
halb – zum Beispiel Nährstoffeintrag und Klimawan-
land ist zu dicht besiedelt. „Außerdem sind die Ein-
del – zu reduzieren, summiert Aspodien.
flüsse von außerhalb der Schutzgebiete so groß, dass
Als großen Vorteil des Konzepts Nationalpark
ein solcher Schutz nicht machbar ist.“ Hier pflichtet
nennt Magnus Wessel die Langfristigkeit. Hierzu passt
ihm Julia Aspodien vom Nabu bei: „Das umliegende
auch die Praxis, sogenannte Entwicklungs-National-
Auf der niederländischen Insel Texel sind Teile der Dünen hin zum Wattenmeer mit Zäunen abgegrenzt. In Deutschland gibt es in Nationalparks keine Absperrungen, lediglich Hinweisschilder vor den streng geschützten Gebieten
124
Blick in die Zukunft | Ein ewiges Abwägen
parks einzurichten, eine Übergangsmöglichkeit, die das Gesetz zulässt. So kann ein Gebiet schon zum Nationalpark werden, wenn der streng geschützte Teil noch keine 50 Prozent der Fläche einnimmt. BUND-Experte Wessel hält diese Regelung für den einzigen realistischen Weg: „Entweder man sagt, die Dinge müssen sich entwickeln, oder man verzichtet komplett auf neue Nationalparks.“ Besucher in Nationalparks sollten einige Grundregeln beachten: nichts zurücklassen, keine Tiere stören, kein Feuer machen. Die Ranger achten so gut es geht darauf, dass diese Vorschriften eingehalten werden
Reiner Schopf sieht das anders. Der heute 81-Jährige hat 30 Jahre lang als Vogelwart auf der Insel Memmert vor der deutschen Nordseeküste gelebt. Die Insel ist streng geschützt und darf von Menschen nicht betreten werden. Schopf wohnte und arbeitete dort bis zum Jahr 2003. Schon im Jahr 1986 wurde die gesamte Region und damit auch die kleine Insel Memmert zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Fragt man Schopf, welche Erfahrungen er mit dem Nationalpark gemacht hat, ist die knappe Antwort: „Schlechte.“ Seit er 2003 in Rente ging, ist er nicht mehr am Wattenmeer gewesen, will das „Trauerspiel“ nicht mit ansehen, doch er verfolgt es aus der Ferne. „Dass Veränderungen nicht von einem auf den anderen Tag möglich sind, ist klar. Aber nach 30 Jah-
sächsisches Wattenmeer und kennt das Problem. Aber
ren? Da muss doch etwas passieren!“, ärgert er sich.
er meint: „Wir brauchen eine Menge Fingerspitzengefühl, um die vielen Interessen an einen National-
Konfliktherd Tourismus
park in Einklang zu bringen. Nationalparks brauchen
Hinter Schopfs harter Kritik steht einer der größten
Freunde und Partner in ganz vielen Bereichen.“
Konflikte rund um Nationalparks: die Vereinbarkeit
Dennoch: Der strengste Schutz auf dem Papier
mit dem Tourismus. „Zum Einkaufen musste ich regel-
nutzt nichts, wenn er nicht konsequent umgesetzt
mäßig mit dem Boot auf die Nachbarinsel Juist fahren
wird. Doch gerade hier scheint es immer wieder zu
und ich war in meiner Position dazu aufgefordert,
hapern. Im Unterschied zu Nationalparks in vielen an-
Gäste auf Missstände aufmerksam zu machen“, erzählt
deren Ländern sind die deutschen Parks überall frei
er. „Das habe ich getan und manche unschöne Situa-
zugänglich. Es gibt keine Zäune und Absperrungen,
tion erlebt.“ Er hat Hunde in Salzwiesen gesehen, in
die ungebetene Besucher aus streng geschützten Ge-
denen Vögel brüten. Menschen, die sich in den Dünen
bieten fernhalten. Wächter oder andere „Aufpasser“
sonnen, die eigentlich niemand betreten darf, Was-
gibt es ebenso wenig. Stattdessen haben alle Parks
sersportler in der strengsten Schutzzone. „Es ist kein
sogenannte Ranger, die auch auf die Einhaltung der
Wunder, dass es von manchen Strandbrüter-Arten nur
Schutzbestimmungen achten. Hoheitliche Kompeten-
noch Restbestände gibt, die Touristen belagern ja den
zen wie die Polizei haben die Ranger aber nicht. „Bei
ganzen Sand“, ärgert sich Schopf.
ernsten Übertretungen kooperieren wir aber mit der
Peter Südbeck, Vorsitzender von Europarc Deutsch-
Polizei und organisieren die Ahndung der Verstöße
land, ist gleichzeitig Leiter des Nationalparks Nieder-
auf diesem Wege eines behördlichen Miteinanders“,
125
Die Senne in Nordrhein-Westfalen ist ein möglicher Kandidat für einen neuen Nationalpark. Das Gebiet vereint Heidelandschaft, Wälder und Flusstäler wie das Silberbachtal
Ein Schutzgebiet in einem intensiv genutzten Flachland wie der Magdeburger Börde wäre wissenschaftlich noch reizvoller, aber praktisch nicht umsetzbar
sagt Peter Südbeck. Aber er gibt zu: „Das klappt mal gut, mal auch nicht so.“ Der ehemalige Vogelwart Reiner Schopf hat zu seiner Zeit andere Erfahrungen gemacht: „Wenn Touristen mit eigenen Booten unterwegs sind, kann man das nicht kontrollieren. Die Ranger haben keine Befugnisse, manche schauen weg, weil sie eh nichts machen können. ‚Das darfst du nicht‘ kann ja jeder sagen.“ Interessant ist an dieser Stelle auch die Anzahl der Ranger. Am Wattenmeer sind es heute 13, die zusammen für 3450 Quadratkilometer Schutzgebiet im Meer, auf den Inseln und am Festland zuständig sind. „Was in allen Schutzgebieten helfen würde, wäre eine bessere Personaldecke“, findet Julia Aspodien vom Nabu, „auch wenn die Nationalparks meistens schon besser ausgestattet sind als andere Schutzgebiete.“ Sie denkt dabei vor allem an Monitoring und Kommunikation und sieht ein großes Potenzial, mehr über Biotope und Arten zu informieren und mehr für
126
Blick in die Zukunft | Ein ewiges Abwägen
die Umweltbildung zu tun. „Wenn man unterwegs ist,
aus ökologischer Sicht eigentlich nicht schützenswert
merkt man manchmal gar nicht, dass man in einen
sind, aber die sich für keine andere wirtschaftliche
Nationalpark hineinkommt“, ist ihre Erfahrung. „Ich bin
Nutzung eignen und wo es keinen Widerstand aus der
auf keinen Fall für einen Zaun um die Gebiete“, sagt
Bevölkerung gibt“, warnt Mayer.
sie, „aber größere Hinweisschilder könnten schon ein
Ähnlich blicken auch andere auf die Frage nach
erster Schritt sein. Wenn es heute Schilder gibt, sind
neuen Nationalparks. Grundsätzlich seien mehr Na-
es meist Verbotstafeln. Das ist nicht gerade positive
turschutzflächen immer gut, meint etwa Magnus
Kommunikation.“
Wessel vom BUND. „Aber am interessantesten aus
Positive Kommunikation könnte auch helfen, das
wissenschaftlicher Sicht wäre vermutlich ein Park
Image von Nationalparks in Deutschland zu verbes-
im intensiv genutzten Flachland, zum Beispiel in der
sern. „Ich habe den Eindruck, der Begriff National-
Magdeburger Börde. Dort wird schon so lange Land-
park ist für Deutsche im Ausland positiver besetzt“,
wirtschaft betrieben, dass niemand weiß, wie ein
erzählt Aspodien. Man denkt an den Yellowstone,
Buchenwald auf diesem Boden aussähe. Man müsste
beeindruckende Natur, riesige Flächen… in Deutsch-
bei null anfangen. Aber ist das sinnvoll?“ Er lässt die
land ist man eher gespalten.“ Zwar gebe es grund-
Frage offen und sagt stattdessen: „In der Realität
sätzlich auch hier den Willen, Natur zu erleben, aber
wird es dort keinen Nationalpark geben. Realisti-
die positive Besetzung des Begriffs fehle. Aspodien
scher wäre ein neuer Nationalpark Senne, der klare
führt das auf Konflikte mit Anwohnern zurück, die
Bäche, flache Heiden und bewaldete Mittelgebirge
es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder
vereint.“
bei der Einrichtung neuer Parks gab. „Das positive
Peter Südbeck von Europarc hat eine ähnliche
Image rückt in den Hintergrund hinter die Sorge, zu
Auffassung: „In Bayern hätten wir geeignete Flächen
stark eingeschränkt zu werden.“ Gründe für Konflikte
für weitere Nationalparks gehabt, aber die haben
liefert nicht nur der Tourismus, sondern auch alther-
sich politisch nicht durchsetzen lassen. Im Blick auf
gebrachte Rechte etwa zu Eigentum, Jagd, Fischerei
das Ganze muss man vor allem an die naturschutz-
oder Forstwirtschaft.
fachliche Repräsentanz denken. Dann wäre eine naturnahe Moorlandschaft sicher sehr gut, aber da
Ein wirtschaftliches Erfolgskonzept
haben wir wohl nicht mehr die ausreichende Flä-
Zumindest die Sorgen um verpasste Einnahmen durch
chenqualität und ausreichende Größe.“ Förster und
eingeschränkte wirtschaftliche Nutzung sind jedoch
Flechtenexperte Johannes Bradtka befürwortet
in der Regel unbegründet. Rein wirtschaftlich seien
grundsätzlich die Idee von neuen Nationalparks,
Nationalparks ein Erfolgskonzept, sagt Marius Mayer,
„aber nur wenn sie die richtige Größe haben, in
der an der Universität Greifswald die Kosten-Nut-
Deutschland mindestens 20.000 Hektar“. Und gerade
zen-Bilanz und die Akzeptanz von Nationalparks
da liegt für Julia Aspodien vom Nabu das Problem:
erforscht. „Bisher haben keine größeren Gruppen in
„Wir bräuchten in Deutschland mehr Wildnis. Aber
Deutschland durch Nationalparks ihre Arbeitsplätze
aus meiner Sicht ist es schwer, mehr Parks als die
verloren“, berichtet er. Weil der überwiegende Teil der
schon bestehenden einzurichten, weil die Bevölke-
Finanzierung eines Parks vom Staat komme, wirke
rungsdichte einfach zu hoch ist.“ Auf die Frage, ob
das Konzept in manchen Regionen sogar als Regio-
am Konzept Nationalpark grundsätzlich etwas zu
nalfördermaßnahme. Das sei allerdings auch eine der
ändern wäre, sind sich dann auch alle mehr oder
größten Schwächen bei der Ausweisung neuer Parks:
weniger einig: Das Konzept ist gut, solange es kon-
„Man muss aufpassen, dass man nicht wegen solcher
sequent umgesetzt wird. Pläne, es zu verändern, gibt
Fördererwägungen Gebiete unter Schutz stellt, die
es keine.
127
Bildnachweis S. 2–3: Adobe Stock / AVTG | 5, 22 ff.: Adobe Stock / sidik | 5, 70 ff.: Adobe Stock / Alexkava | 5, 104 ff.: Adobe Stock / adhevaart | 6–7: picture alliance / imageBROKER, Foto: Andreas Vitting | 8–9: picture alliance / imageBROKER, Foto: Frank Sommariva | 10–11: picture alliance / imageBROKER, Foto: Marcus Siebert | 12: Peter Palm | 13 oben links: akg-images / euroluftbild.de / Gerhard Launer | 13 unten links: picture alliance / imageBROKER, Foto: Michael Dietrich | 13 oben rechts: picture alliance / dpaZentralbild / euroluftbild, Foto: Gerhard Launer | 13 unten rechts: picture alliance / imageBROKER, Foto: hwo | 14 oben links: picture alliance / imageBROKER, Foto: Andreas Vitting | 14 Mitte links: akg-images / euroluftbild.de, Foto: Hans Blossey | 14 unten links: picture alliance / blickwinkel, Foto: McPHOTO/M. Schaef | 14 oben rechts: akg-images / euroluftbild.de,Foto: Bernd Clemens | 14 Mitte rechts: akg-images / euroluftbild.de / Gerhard Launer | 14 unten rechts: picture alliance / imageBROKER, Foto: Frank Sommariva | 15 oben links: picture alliance / imageBROKER, Foto: Martin Siebmann | 15 Mitte links: picture alliance / imageBROKER, Foto: Herbert Berger | 15 unten links: picture alliance / chromorange, Foto: Huergen Feuerer | 15 oben rechts: picture alliance / Arco Images GmbH, Foto: A. Schmelzer | 15 Mitte rechts, 15 unten rechts: picture alliance / imageBROKER, Foto: Frank Sommariva | 16: picture alliance/Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB | 18: picture alliance/Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa | 19: Christoph Pueschner / Zeitenspiegel | 20: Peter Palm | 22–23: Adobe Stock / Photodesign-Deluxe | 24: Peter von Felbert | 26: picture alliance / Arco Images GmbH, Foto: C. Wermter | 27: picture alliance / blickwinkel, Foto: M. Delpho | 28 unten: Peter von Felbert | 28 oben links: picture alliance / imageBROKER, Foto: Markus Siebert | 28 oben rechts: picture alliance / imageBROKER, Foto: Ottfried Schreiter | 29 links: Adobe Stock / SueTot | 29 rechts: picture alliance/imageBROKER, Foto: Frank Sommariva | 30 oben: picture alliance / Arco Images GmbH, Foto: C. Wermter | 30 unten, 31 links, 31 rechts: Peter von Felbert | 32: Adobe Stock / Ruckszio | 33: Adobe Stock / Blickfang | 34 oben: Peter Palm | 34 unten: picture alliance / Arco Images, Foto: Sunbird Images | 35: picture alliance / Klaus Nowottnick | 36 oben links: picture alliance / blickwinkel, Foto: M. Delpho | 36 oben rechts: picture alliance / chromorange, Foto: Dieter Möbus | 36 unten: picture alliance / Arco Images GmbH, Foto: M. Delpho | 37 oben links: picture alliance / blickwinkel, Foto: M. Delpho | 37 oben rechts: Franz Rahn | 37 unten: picture alliance / dpa, Foto: Uwe Zucchi | 38: picture alliance / imageBROKER, Foto: AVTG | 39: akg-images | 40 links: Fabian Franke | 40 rechts oben, 40 rechts unten: Nationalpark Harz | 41: Ole Anders | 42 oben: Adobe Stock / ferkelraggae | 42 unten: Adobe Stock / Jiri Prochazka | 43: Fabian Franke | 44: picture alliance / imageBROKER, Foto: Werner Dieterich | 45, 46 oben, 46 unten: Fabian Franke | 47: picture alliance / ZB – Fotoreport | 48: akg-images / euroluftbild. de / Karina Hessland | 49: picture alliance / Arco Images, Foto: H. Jegen | 50: picture alliance / imageBROKER, Foto: Ronald Wittek | 51: Christoph Pueschner / Zeitenspiegel | 52 oben, 52 unten: picture alliance / dpa, Foto: Franziska Kraufmann | 53: Peter Palm | 54: Christoph Pueschner / Zeitenspiegel | 55: © Flavius Popa (Nationalpark Schwarzwald) | 56: akg-images / euroluftbild. de / Gerhard Launer | 57: picture alliance / Westend61, Foto: Martin Rügner | 58: akg-images / arkivi | 59 links: picture
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Die deutschen Nationalparks
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