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German Pages 264 Year 2014
Stefan Schukowski Gender im Gedicht
Lettre
Stefan Schukowski (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Komparatistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturtheorie, Gender Studies sowie interkulturelle Literaturwissenschaft.
Stefan Schukowski
Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik
Diese Studie entstand im Rahmen des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ermöglicht wurde sie durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Die vorliegende Arbeit wurde 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Seit der Annahme wurden geringfügige Umarbeitungen vorgenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sebastian Maas, »Primero es sólo eso (nach Luis Muñoz)«, 2011 Lektorat & Satz: Stefan Schukowski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2231-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
1.
Einleitung | 7
1.1 1.2 1.3
Erkenntnisinteresse | 7 Methode. Begriffe | 10 Korpus. Aufbau | 16
2.
Lyrik und Genderdiskurse: eine pragma-diskursiv fundierte Deviationsästhetik | 21
2.1 2.2
Die Verbindung zwischen ›Gender‹ und der Gattung Lyrik | 21 Diskursreaktivität von Literatur | 40
3.
Discours ›en retour‹: Koalitionäre lyrikhafte Diskurse | 65
3.1 3.2 3.3 3.4
Diskursproduktion ›en retour‹: Homosexuelle Wi(e)derrede | 65 Wiederrede: inversiv-transitive Tropografien | 68 Widerrede: Separatistische Tropografien | 87 Die Großbelagerungen dauern an: Zwei Stimmen zur deutschen homoerotischen Lyrik des 20. Jahrhunderts | 100
4.
Exkurs: Getarnte Selbstaussprache – Die Genese des Camouflage-Konzepts | 103
4.1 4.2 5.
5.1 5.2 6.
6.1 6.2
Camouflage und faire-parler | 103 Camouflage als »Sklavensprache« | 113
Contre-discours I: Dissidente lyrikhafte Diskurse | 115
Taktiken gegen die Selbstaussprache in »A Gregorio, en Delfos« | 115 Lyrik der Dissidenz in der Edad de Plata | 144 Contre-discours II: Subversive lyrikhafte Diskurse | 149
Travestierte Selbstaussprache in António Bottos Canções | 149 Lyrikhafte Sub-Versionen bei Luis Muñoz | 185
7.
Ausblick: Diskursreaktivität in der Fotografie | 213
7.1 7.2
Sizilianische ragazzi in antiken Sandalen | 213 »Ein Abenteuer des Sinns«: Wilhelm von Gloedens Fotografien | 219 Die Flandrin-Positur: Fotografie vs. Gemälde | 228
7.3
Abbildungsverzeichnis | 239 Literaturverzeichnis | 241
1. Einleitung
1.1 E RKENNTNISINTERESSE Literaturwissenschaftliche Queer- und Genderforschung konzentriert sich bislang primär auf Erzähltexte und dramatische Texte, während die Lyrik weitgehend ausgespart bleibt. Wo liegen die Ursachen dieser Vernachlässigung der Lyrik durch die Genderwissenschaften? Die reservierte Haltung hat offensichtlich etwas mit den ästhetischen Spezifika der Gattung zu tun: Es darf vermutet werden, dass die hohe Literarizität von Lyrik, die extreme Verdichtung von Sinnpotentialen und die damit einhergehende semantische Hermetik oder Polyvalenz es herkömmlicher literaturwissenschaftlicher Genderforschung schwer machen, an lyrische Texte mit den gleichen (diskurs-)mimetischen Lesarten heranzugehen, die sie im Falle narrativer oder dramatischer Texte nach wie vor dominant praktiziert. Die methodologische Prämisse einer vermeintlich ›unverstellteren‹ diskursanalytischen Zugänglichkeit narrativer und dramatischer Texte führt zu einer problematischen ›Lyrikvergessenheit‹ der literaturwissenschaftlichen Genderforschung. Demgegenüber wird in vorliegender Arbeit die These vertreten, dass Lyrik gerade wegen ihrer generischen und ästhetischen Eigentümlichkeiten ein besonders relevantes Objekt genderwissenschaftlicher Forschung ist. Wenn es also im Folgenden im Hinblick auf Homoerotik um die ›alte Frage‹ nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen geht und dieses ein weiteres Mal auf der Grundlage der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse ausgelotet werden soll, dann wird dies nicht rein inhaltlich, diskursmimetisch erfolgen, sondern mit dem Hauptaugenmerk auf den jeweiligen ästhetischen Realisierungen diskursiver Strukturen in lyrikhaften Texten.
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Zunächst liegen zwei Möglichkeiten der ›Diskursreaktivität‹ von Lyrik auf der Hand: Entweder reproduziert ein Gedicht (als dominante Textsorte der Lyrik) die Strukturen (homo-)sexualitätsdiskursiver Ordnungen und stellt die eigenen lyrikhaften Mittel in deren Dienst. Oder es nutzt seine Lyrikhaftigkeit, um ganz eigene Sinnstrukturen zu produzieren, die sich nicht einfach diskursiv verrechnen lassen. Beginnend in der poetischen Praxis mit der Erlebnis- und Stimmungslyrik der ›Goethezeit‹ und später in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik als das »Sichaussprechen des Subjekts« (Hegel, Vorlesungen, 322) poetologisch höchst wirkmächtig diskursiviert, wird Lyrik als die Gattung subjektiver Selbstaussage qua emotiver Sprachfunktion reflektiert und praktiziert. In dieser Hinsicht liegt es nahe, Lyrik die Fähigkeit zuzusprechen, Liebesempfindungen (womöglich diejenigen des Autors) besonders adäquat auszudrücken und damit die ihnen zugrundeliegenden Diskursordnungen zu verdichten. Läge hierin nicht ein konsensuales Potential des Weiterschreibens von Wissensdiskursen in der Lyrik? Tatsächlich werden die Textanalysen ergeben, dass eine erstaunliche Affinität besteht zwischen der dominant expressiven Sprachfunktion von Lyrik und dem von Foucault beschriebenen faire-parler des homosexuellen Subjekts, der eingeforderten Auskunft über das eigene sexuelle Sein. Solche Beichttexte nutzen Gattungsspezifika mal zur expliziten und offensiven, mal zur impliziten, camouflierenden Selbstaussprache. Wenn sie sich zu diesem Zweck in (meist kanonische) Lyriktraditionen einschreiben, stellen sie damit ihre lyrikhaften Verfahren in den Dienst machtdiskursiv verfestigter Sexualität und etablieren im literarischen System – verstanden als Spiegel der Wirklichkeit – ebenso hochkulturelle wie hochemotive Sprechräume der Homosexualität. Die Diskursreaktivität, die Gedichte dieser ersten Gruppe ausbilden, soll mit dem ebenfalls von Foucault entlehnten Begriff des discours ›en retour‹ beschrieben werden. Als Gewährsmann für eine gegenteilige Einschätzung des Verhältnisses von Lyrik und Wissen kann Rudolf Helmstetter herangezogen werden. Er sieht in der lyrikhaften Rede geradezu die Parodie der Ordnung der ›normalen‹, machtdiskursiven Rede: Für ihn steht die Gattung aufgrund ihres tendenziell vehementen Einsatzes von literarischen Verfahren für die »Präsentation von semantischen Anomalien (oder Alternativen) bei formaler Kohärenz und hochkomplexer Prägnanz, die die übliche Ordnung der Rede zugleich überbietet und unterläuft« (Helmstetter, »Lyrische Verfahren«,
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27f.). Reformuliert im Sinne der Erkenntnisinteressen vorliegender Arbeit ließe sich also fragen: Wenn es um Dissenspotentiale von Lyrik im Hinblick auf das Sprechen über Homosexualität geht, könnte sie dann nicht gerade aufgrund ihrer potenzierten Dichte und Polyvalenz am wirkungsvollsten die ›großen (Homosexualitäts-)Erzählungen‹ von Diskursstrategien und Wissensformationen durchkreuzen und ihnen ganz eigene Strukturen entgegensetzen? Denn gerade durch die Gerichtetheit auf die Spürbarkeit der Zeichen, auf die ›erschwerte Form‹, kann das Gedicht die Funktionsprinzipien der Sprache offenlegen. Qua Lyrik wird Sprache damit als Konstruktionsmedium der Wirklichkeit beobachtbar und durchschaubar gemacht und sprachlich-diskursiv erzeugte Wirklichkeiten – darunter eben auch die Homosexualität – als Konstruktionen entlarvt. Gedichte dieser zweiten Gruppe lassen sich mit Foucault als contre-discours fassen. Eine solche Diskursreaktivität anvisierend konstatiert John Vincent in der einzigen Monografie, die sich bisher der strukturellen Verbindung von (queer) Gender und Gedicht widmet, mit einiger Verwunderung: »The lyric itself, however, as a literary form, has not been examined for its relation to queer meanings.« (Vincent, Queer Lyrics, xiii) Erstaunt ist er über die Nicht-Beachtung, weil er selber von dieser Liaison geradezu euphorisiert ist: »One finds that the lyric is, by its nature, the queerest of genres.« (Ebd., xiv) Die queerness der Gattung begründet er nun damit, dass Lyrik per se subversiv sei: »Queer lyrics do not simply record lives lived and feelings felt. At their best, they offer performances, or demonstrations, of living and feeling.« (Ebd., xii) So reizvoll seine These in ihrer Leidenschaft (und Absolutheit) ist, ignoriert sie den großen Teil jener Lyrikproduktion, die gerade auf die unverstellte lyrikhafte Selbstaussprache setzt. Es scheint daher vielmehr möglich und notwendig, eine Spannweite von Reaktivitätspotentialen von Lyrik in Bezug auf gegenderte Wissensdiskurse aufzuzeigen, die es erlaubt, die emotive Selbstaussprache und die poetische Selbstreferenz in verschiedentliche Relationen zueinander zu setzen. Es gilt also, den Doppelcharakter lyrikhafter Texte, zum einen als performativpoetische Texte und zum anderen qua Gattungszugehörigkeit als mimetisch-emotive Texte, in Verbindung miteinander zu bringen. Außerdem fällt Vincent begrifflich (»by its nature«) und methodisch in präskriptiv-essentialistische Gattungskonzepte zurück, die heutigen gattungstheoretischen Standards nicht mehr genügen können. Ein adäquateres konstruktivistisch-pragmatisches Theoriefundament hingegen, wie es in
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vorliegender Arbeit zugrunde gelegt wird, geht davon aus, dass Gattungen als relative, soziale und historische Zuschreibungen in der konkreten Praxis der literarischen Kommunikation produziert werden (vgl. Zymner »Eine Einführung«, 3). Damit ist das Vorgehen und das zentrale Erkenntnisinteresse formuliert: Anhand historischer Prototypologien der Gattung Lyrik wird gezeigt, auf welche Formen der Lyrikhaftigkeit Gedichte jeweilig zurückgreifen und welche diskursanalytisch beschreibbaren Positionen sie damit gegenüber Diskursen über die Homosexualität einnehmen.
1.2 M ETHODE . B EGRIFFE Die Grundkoordinaten dieser Untersuchung liefern die Diskurse über die »peripheren Sexualitäten«, wie sie Foucault in Der Wille zum Wissen beschreibt: »Die neue Jagd auf die peripheren Sexualitäten führt zu einer Einkörperung der Perversionen und einer neuen Spezifizierung der Individuen. Die Sodomie […] war ein Typ von verbotener Handlung […]. Der Homosexuelle des 19. Jh. ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform […] besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirkendes Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. […] Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphrodismus der Seele herabgerückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle eine Spezies.« (Foucault, Der Wille zum Wissen, 47)
Ende des 19. Jh. hatte der Positivismus die gesamte Welt erklärt, vermessen, den Menschen durchschaut und alles Menschliche in Machtkonstellationen verortet. Alle Äußerungen von Individuen wurden als Äußerungen innerhalb der Kultur zusammengefasst, und Äußerungen der Kultur waren ›denkökonomisch‹ in Wissenskategorien einsortiert und in Klassen und Unterklassen einander zugeordnet. Dies geschah mit einem Hang zum Minutiösen und insbesondere zu jenen widerspenstigen ›Einzelheiten‹, die zu-
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nächst nicht den Kategorien entsprachen – um gerade diese letztlich als Ausnahmen zur Bestätigung der Regel zu reintegrieren. Der Bereich der menschlichen Sexualität wurde dabei zentral innerhalb der Disziplinen Medizin und Jurisdiktion diskursiv verhandelt, kategorisiert, verstanden und in die Ökonomie der Macht integriert; die letzte Bastion des freien, weil noch unbenannten, Handelns fiel mit Krafft-Ebing und Freud. Auch das ›Geheimnis‹ der Homoerotik wurde nun aus den verborgenen Innenräumen der Beichtstühle in den wissenschaftlichen Disziplinen kaserniert. Die Buße der singulären (sodomitischen) Verfehlungen wurde zum Geständnis des (nun ›homosexuellen‹) individuellen, vom Sex regierten, Subjekts. Das Sprechen über Sexualität wird in dieser diskursanalytischen Sicht zwar historisch kontingent, erhält jedoch eine enorme Wirkkraft auf die betroffenen – nämlich alle – Individuen. Die starke Repression der Sexualität (durch Verschweigen, Verbannen etc.), wie sie noch bis ins 19. Jh. von der Pastoralmacht der Kirche ausging, wird nun in ihr Gegenteil verkehrt und in ein proliferierendes Sprechen über Sexualität überführt. Das heißt jedoch nicht, dass sich dadurch eine ›neue Freiheit‹ etablieren konnte – im Gegenteil; gerade die proliferierende Rede über den (eigenen) Sex garantiert seine Bändigung. »Die Befreiung von der Repression bedeutet eine Bejahung des Sexes, aber diese Bejahung führt zum Sexualitätsdispositiv. Die Zustimmung ist also eine Anleitung, sich systematisch noch tiefer an die Macht zu binden, indem eine vermeintliche Befreiung oder Wahrheit über sich selbst in Aussicht gestellt wird.« (Ruoff, Foucault-Lexikon, 188) Aufgrund dieser explosionsartigen Vermehrung des Sprechens über Sexualität – und mit ihr zentral über ihre Devianzen wie die Homosexualität – kann seit der Mitte des 19. Jh. im starken Sinne nicht mehr von einem peccatum mutum, von »love that dare not speak its name«, von der ›unsagbaren‹ oder ›namenlosen‹ Liebe gesprochen werden. Ganz im Gegenteil zeigen Foucaults Analysen, dass das Zusammenspiel der medizinisch-psychologisch-juridischen Diskurse über die Homosexualität gerade erst die vermehrte Rede über sie befördert.1
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Nur innerhalb dieser wissenschaftlich-disziplinären Diskursordnungen war die unriskante Rede möglich und wurde sogar gefördert. Außerhalb blieb der alte Topos des peccatum mutum hingegen weitestgehend bestehen.
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Die Diskursregeln sollen dabei garantieren, dass ›wahre‹ Aussagen über gleich- und verschiedengeschlechtliches Begehren (re-)produziert werden. Diskurse der wissenschaftlichen ›Homosexualität‹ bestätigten so immer das Gesetz, unter dem sie antreten – auch dann, wenn sie der negativen Beschreibung ein positives Vorzeichen geben. »Glauben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt, man folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexualdispositivs.« (Foucault, Überwachen und Strafen, 187) Das Verhältnis von Sexualitätsdispositiv und Homosexualität ist bei Foucault als ein hierarchisches gedacht: Das Dispositiv ist eine »heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes […]. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.« (Foucault, Dits et Écrits, 392)
Der gebräuchliche Begriff des ›Homosexualitätsdiskurses‹ ist mithin irreführend. Es handelt sich um eine verkürzende und verfälschende metonymische Bezeichnung für ›diskursiv gebundenes Sprechen über Homosexualität‹. Foucault verhandelt das Verhältnis selber, wenn auch nur implizit: »[I]n der Psychiatrie, in der Jurisprudenz, auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts [entstand] eine ganze Reihe von Diskursen über Arten und Unterarten der Homosexualität, der Widernatürlichkeit, der Päderastie, des ›psychischen Hermaphrodismus‹.« (Foucault, Wille zum Wissen, 101) Homosexualität ist also kein Diskurs, sondern es werden Diskurse (im Plural) über sie geführt. Die metonymische Verschiebung liegt im performativen Charakter der Homosexualität begründet: Gerade durch die Rede(n) über die Homosexualität entsteht sie als vielgestaltiges Produkt des Redens. Gewiss haben sich seit der Etablierung des Sexualitätsdispositivs und mit ihm des diskursivierten Sprechens über Homosexualität andere Diskurse neben der reinen Pathologisierung der Homosexualität herausgebildet.2
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Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, etwaige Verbesserungen oder anhaltende Probleme der lebensweltlichen Situation von Homosexuellen zu erörtern. Wich-
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Davon, dass sich die Grundlagen des Dispositivs – die Unterscheidung in normale heterosexuelle und anormale andere Sexualitäten – geändert hätten, kann jedoch nicht ausgegangen werden: Die Diskurse bleiben weiterhin grundlegend dem seit rund 150 Jahren wirkenden heteronormativen Sexualitätsdispositiv verhaftet.3 ›Heteronormativität‹ bezeichnet dabei die Vorstellung von Heterosexualität als natürlicher oder von Gott gegebener oder logischer etc. Norm. Diese zieht eine Reihe weiterer notwendiger Normvor-
tig ist lediglich plausibel zu machen, dass es die – um es mit Foucault zu sagen – ›Spezies‹ des Homosexuellen seit rund 150 Jahren gibt und dass sie seit ihrem Auftauchen in den sexologischen Arbeiten der Mitte des 19. Jh. weiterhin Objekt von Aussagen innerhalb von Diskursfeldern geblieben ist. 3
Die Diskussion um die Persistenz wird seit langem äußerst polemisch geführt; vgl. z.B. in der beginnenden diskursanalytischen Gender- und Literaturwissenschaft in Deutschland zwischen Wolfgang Popp in Männerliebe von 1992 gegen Paul Derks, der 1990 in Die Schande der heiligen Päderastie argumentierte, dass sich das negative Bild des Homosexuellen nach 1850 bis heute nicht verändert hätte. Volkmar Sigusch, um einen aktuelleren Beitrag zur Debatte anzuführen, spricht aktuell von der Veränderung der einstmaligen ›Perversitäten‹ (worunter auch die Homosexualität zu verrechnen ist) zu heutigen ›Neosexualitäten‹ (Sigusch, Neosexualitäten): Die Medialisierung paraphiler Sexualität habe zu einem »Strukturwandel der Sexualität in den letzten Jahrzehnten« (ebd., 27ff.) geführt, zu einer »Normalisierung durch Entmystifizierung, Enttabuisierung und Kommerzialisierung, kurzum [zur] Banalisierung sexueller Vorlieben und Praktiken, die vordem als widernatürlich, gottlos, pervers und unmenschlich gegolten haben« (ebd., 103f.). Aus der zweiwertigen Konstellation natürlich/pervers wird damit heute die Dreierkonstellation natürlich/neosexuell/pervers: »Dabei verwischt sich die alte Aufteilung Perversion/Homosexualität/Heterosexualität in Richtung Normalsexualitäten (inklusive Mann-Mann- und Frau-Frau-Beziehungen/Neosexualitäten/krankhafte, behandelbare Perversionen)« (ebd., 105). Mit dieser Einschätzung mag Sigusch für gewisse Teile der Gesellschaft durchaus recht haben, durch die Massenmedialisierung dürften auch immer größere Gruppen dafür ›erschlossen‹ werden. Damit verkennt er jedoch die Pluralität heutiger Auffassungen von Sexualität und eben auch diejenigen Formen, die sich an traditionellen Bildern orientieren.
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stellungen mit sich, wie diejenige der dichotomen männlichen und weiblichen Geschlechtlichkeit. Die postfeministischen Genderwissenschaften arbeiten nun, anschließend an poststrukturalistische Theoreme, seit den 1990er-Jahren vehement an einer diesem Normsystem widersprechenden konstruktivistischperformativen Theorie von gender, sex und desire. Nach Andreas Kraß hat das noch jüngere akademische Projekt der Queer Studies seine Aufgabe vornehmlich in der kritischen Sichtung und Sichtbarmachung der Funktionsweisen von Heteronormativität (vgl. Kraß, »Queer Studies«, 18). Queer Studies liefern also »Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung«, so der Untertitel eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes zu den Queer Studies in Deutschland. Diskurse über die Homosexualität werden hier als Ausgangspunkt der Kritik genutzt. Das Konzept der Homosexualität erscheint in dieser Sicht nicht nur als das Andere zur Heterosexualität, sondern bildet gerade als das Anormale ex negativo das Normale mit: Die Heteronormativität ist mithin grundsätzlich angewiesen auf die (diskursive Rede über) Homosexualität und andere ›Devianzen‹. Mehr noch: In dieser Struktur liegt der zentrale Ansatzpunkt dekonstruktiver Genderwissenschaft, wird doch, durch einfache Vertauschung der hierarchischen Abhängigkeiten, auch das vermeintlich Normale als Abgeleitetes verstehbar, als sekundär erst ex post hergestellt und nur durch häufige Wiederholung naturalisiert. In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit dieser kritischen Wissenschaft von der Heteronormativität als akademisches Projekt verpflichtet und argumentiert auf der Basis der Grundannahmen der avancierten Genderwissenschaft: Die Kategorien von sex (Mann/Frau) und gender (männlich/weiblich) sowie das daraus abgeleitete zwischen- oder gleichgeschlechtliche Begehren werden im Folgenden – dem mittlerweile allgemein anerkannten Forschungsstand entsprechend – als historisch-positivistische Kategorien verstanden, die keiner diskursvorgängigen Essenz entsprechen. Gerade die Proliferation der wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Beschäftigung mit Genderfragen muss als Indiz dafür gewertet wer-
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den, dass weiterhin ein besonderer Bedarf an der Aufarbeitung und Identifizierung kultureller Geschlechterkonstrukte besteht.4 Aus der Fülle der Begrifflichkeiten zur Beschreibung gleichgeschlechtlicher Verhältnisse wird hier von ›Homosexualität‹ in den Fällen gesprochen, in denen es um das Objekt (und Produkt) der von Foucault beschriebenen Diskurse unter den Vorgaben des Sexualdispositivs geht; in allen anderen gleichgeschlechtlichen Konstellationen von ›Homoerotik‹. Wenn Gegenstandsbereiche der Homoerotik und Homosexualität gewählt werden, darf nicht stillschweigend darüber hinweggegangen werden, dass nur mann-männliche Konstellationen betrachtet werden. Der Ausschluss von weiblicher Homosexualität erfolgt dezidiert aus folgenden Gründen: In einer Wiedereinführung der Unterscheidung (legitime Sexualität/illegitime Sexualität) ins Unterschiedene (Heterosexualität/Homosexualität) ist mit Pierre Bourdieu zu argumentieren,5 dass die männliche Homosexualität die hegemoniale Sexualität gegenüber der weiblichen ist (ganz zu schweigen von intersexueller Sexualität). Männliche Homosexualität erscheint im Abgleich mit weiblicher Homosexualität als Normfolie. Dies hat u.a. mit der weit ins 20. Jh. reichenden absoluten Tabuisierung weiblichen Begehrens zu tun. In männlichen Konstellationen (eben auch in HomoKonstellationen) bedarf es hingegen keiner Legitimation des Begehrens selber. Nicht dieses ist das Skandalon der männlichen Homosexualität, sondern lediglich das ›falsche‹ Objekt des Begehrens. In der Wahrnehmung weiblicher Homosexualität kommt zum ›falschen‹ Objekt der Begierde auch verschärfend noch das grundsätzlich abgesprochene Begehren hinzu.6
4
Die Einrichtung neuer Lehrstühle in den letzten Jahren und die Etablierung neuer Forschungszweige, wie der ›Männlichkeitsforschung‹, sind Indizien für das wachsende Interesse im akademischen Bereich. Die anhaltende Diskussion um gleichgeschlechtliche Partnerschaften mögen als Indizien im Außerakademischen genügen.
5
»Mann zu sein heißt, von vorneherein in eine Position eingesetzt zu sein, die Befugnisse und Privilegien impliziert, aber auch Pflichten, und alle Verpflichtungen, die die Männlichkeit als Adel mit sich bringt.« (Bourdieu, »Männliche Herrschaft«, 188).
6
Der Mann erscheint diskursgeschichtlich als aktiv Begehrender, die Frau als passives Objekt des Begehrens – man denke an Simone de Beauvoirs Das ande-
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So wäre es weder angebracht, die Begriffe ›Homoerotik‹ und ›Homosexualität‹ stets im Munde zu führen, dabei aber doch nur die männliche Variante zu meinen, noch ist es angebracht, die weibliche Variante einzubeziehen und damit basale Unterschiede zu nivellieren.7 Wenn es also im Folgenden um Reaktivitäten von lyrischen Texten auf Diskurse über männliche Homosexualität geht, dann nicht, um lesbische Konstellationen unreflektiert unter männliche Konstellationen zu subsumieren. Als Kehrseite muss dafür in Kauf genommen werden, dass dem phallogozentrischen (Wissenschafts-)Diskurs ein weiteres énoncé zu seiner Konstitution beigesteuert wird. Die dezidierte Ausrichtung der Arbeit auf männliche Homoerotik soll daher als Hinweis auf ein weiteres Desiderat der Forschung gewertet werden.8
1.3 K ORPUS . A UFBAU Die konkrete Textauswahl wird von mehreren Faktoren geleitet: Zum einen werden bewusst solche Gedichte vorgestellt, die es bisher nicht zu verbrei-
re Geschlecht oder Lacans Unterscheidung zwischen männlichem ›Phallus Haben‹ und weiblichem ›Phallus Sein‹ (vgl. z.B. Lacan, »Signification du phallus«). 7
Hingegen wird in dieser Arbeit keine age-Unterscheidung getroffen: Homoerotik kann sich zwischen zwei gleichaltrigen Männern, zwischen zwei Adoleszenten oder einem Mann und einem deutlich jüngeren Objekt des Begehrens etc. ausdrücken. Diese Unterscheidung wird deshalb im Folgenden keinen Unterschied machen, weil sie traditionell (begonnen mit der vielbeschworenen Knabenliebe im klassischen Griechenland) im Horizont der Diskurse über die Homosexualität aufgegangen ist.
8
Ein Ansatz, der lesbische Konstellationen in ähnlicher Stoßrichtung ins Visier nimmt, ist die vom Konzept der ›Homographesis‹ geprägte Forschung zum lesbischen Petrarkismus, wie ihn Erika Greber in »Der (un-)weibliche Petrarkismus« anhand der Gedichte von Sibylle Schwarz verfolgt. ›Homographesis‹ beschreibt jedoch einen dezidiert lesbischen double-talk, der für die männlichhomoerotischen Texte, die in vorliegender Arbeit gewählt wurden, aus den oben genannten Gründen nicht geeignet ist.
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teter Bekanntheit gebracht haben und nicht zum Kanon der literarischen Genderwissenschaft zählen. Außerdem sind Texte aus verschiedenen europäischen Kulturkreisen ausgewählt; deutsche Texte wie auch portugiesische und spanische – und diese zudem aus einem 137 Jahre (von 1864 bis 2001) umspannenden Zeitraum. Dies ist eine auf den ersten Blick überaus kursorisch-kontingente Suchmatrix, die sich jedoch wegen des zentralen theoretisch-methodischen Erkenntnisinteresses anbietet. Es ist nämlich nicht Ziel, einen historisch in irgendeiner Weise repräsentativen Durchgang durch die männlich-homoerotische Lyrik Europas zu unternehmen, sondern durch die dezidiert punktuelle Analyse (dafür aber umso eingehender) Möglichkeiten der Diskursreaktivität aufzuzeigen und in ihrer Wirkungsweise zu diskutieren. Zu diesem Zweck wurden freilich Beispiele gewählt, an denen sich das vorgestellte Leseraster in besonderem Maß als produktiv erwies. Das theoretische Interesse darf nicht – zum akademischen Selbstzweck erhoben – dazu verführen, dass die literarischen Texte nur als ihre Illustration genutzt werden – theoretisches Interesse erhält seine beste Legitimation aus ihrer Adaptionsfähigkeit auf andere Texte und ihre Erweiterbarkeit auf weitergehende Fragestellungen. Daher wird immer wieder ausblickartig gezeigt werden, dass die vorgeschlagene Typologie homoerotischer Lyrik als Lektüreraster auch auf andere Texte und Textgruppen anwendbar ist. Die Korpuswahl ist neben der bereits genannten Persistenz des Sexualitätsdispositivs und damit der Konzepte über die Homosexualität über einen weiteren gemeinsamen historischen Rahmen legitimiert: Die Gedichte sind alle in Zeiten relativ freier Redemöglichkeiten über (Homo-)Sexualität entstanden, die meisten von ihnen in der kurzen Zeit gelockerter Zensur in fast allen europäischen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg, zwischen den Weltkriegen und vor den großen europäischen Totalitarismen. Beginnend mit einem Gedicht von Karl Heinrich Ulrichs entstammen die deutschen Gedichte aus dem Umkreis des Produktionszentrums der Diskurse über die Homosexualität in Deutschland und vor allem in Berlin bis zum Ersten Weltkrieg. Weitere Gedichte aus der Kriegszwischenzeit von Adolf Brand, Bruno Balz und John Henry Mackay entstanden im (noch) weltoffenen Berlin, in dem zeitgleich Magnus Hirschfelds seine wirkungsmächtigen Untersuchungen zur Homosexualität durchführte. Ein weiteres Gedicht entstammt dem Umkreis der Generación del 27 kurz vor Beginn des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur in Spanien. Der ausführlicher zu besprechende Gedichtband Canções von António Botto entstand in Portugal der
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nachmonarchischen Zeit der Ersten Republik, vor dem Salazar-Regime. Die abschließenden Gedichte von Luis Muñoz sind zeitgenössisch, also in einem historischen Kontext entstanden, in dem Homosexualität in fast ganz Europa entkriminalisiert ist.9 Insgesamt wird versucht, die Gedichte nicht in ein Theorie-Korsett zu zwängen, sondern die theoretischen Leitgedanken als Leseraster für produktive und nachvollziehbare Lektüren zu nutzen. Dies hat sich im Aufbau so niedergeschlagen, dass das einleitende Theoriekapitel nur die grundlegenden Thesen enthält. Die notwendige Theorie zur Fundierung der jeweiligen Interpretationen wird daher fallnah und kontextadäquat geliefert. Es wird zunächst in 2.1 eine Prototypologie von Lyrik aufgestellt. Dies ist deshalb notwendig, weil als theoretisches Fundament dieser Arbeit eine grundsätzliche Verbindung von ›Gender‹ und ›Lyrik‹ ausgearbeitet wird: Wie bereits angesprochen, wird es zentral darum gehen, lyrikhafte homoerotische Aussagen auf ihr Medium, oder besser: ihren Sprechmodus hin zu untersuchen. Deshalb muss zunächst geklärt werden, was dieser Modus des Lyrikhaften überhaupt ist. Dazu werden literaturwissenschaftliche und -philosophische Definitionen von Lyrik zu einer Prototypologie zusammengefasst. Das Hegel’sche »Sichaussprechen« in der Lyrik wird dabei als zentrales lyrikhaftes Moment ausgemacht. Daran anknüpfend wird gezeigt, dass die dominant emotive Sprachfunktion lyrikhaften Sprechens korreliert werden kann mit dem vom Sexualdispositiv installierten faire-parler, dem Sprechen-Machen des Subjekts zum Zwecke der klassifizierenden Selbstaussage. Als Kernproblem der Arbeit stellt sich in 2.2 die Frage, wie homoerotische Gedichte tatsächlich auf die Diskurse über die Homosexualität reagieren, wie sie diese konsensual re- und mitproduzieren oder ihnen dissensual entgegentreten. Die beiden Kategorien des discours ›en retour‹ und des
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Da neben deutschsprachigen Gedichten auch spanische und portugiesische Gedichte aufgenommen wurden, werden alle Gedichte und die fremdsprachige Forschungsliteratur (bis auf die englische) im Original und auf Deutsch wiedergegeben. Damit die Lesbarkeit dadurch nicht zu sehr leidet, sind die Übersetzungen der Forschungsliteratur in den Haupttext aufgenommen, die Originale meist in Fußnoten. Übersetzungen ohne Angabe eines Übersetzers sind von mir.
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contre-discours werden in Foucaults heterogenen Überlegungen zur Literatur verortet und mit weiteren kunst- und literaturtheoretischen Konzepten abgeglichen. Um jedoch lyrikhaftes Sprechen über Homoerotik und diskursiviertes Sprechen über Homosexualität auch strukturell in Relation zueinander setzen zu können, wird anschließend herausgearbeitet, in welcher Hinsicht diese so grundsätzlich verschiedenen Sprechweisen strukturell dennoch zusammengebracht werden können, um überhaupt vergleichbar zu sein. Dazu wird Foucaults Konzeption der Diskurse (als vorgeblich mimetische, tatsächlich jedoch performative Formation von Aussagen) mit der von Andreas Mahler ausgearbeiteten pragmasemiotischen Konzeption von Lyrik (mit ihrem Potential, sowohl ihre mimetische als auch ihre performative Kommunikationsfunktion stark zu machen) verknüpft. Im 3. Kapitel wird die Reaktivitätsvariante des discours ›en retour‹ anhand von Beispielanalysen anvisiert: Unter dem Label der ›homosexuellen Wi(e)derrede‹ werden solche Gedichte untersucht, die den heteronormativen Homosexualitätsdiskursen und ihrem faire-parler das Wort reden. Allesamt etablieren sie – wenn auch in deutlich von einander zu unterscheidender Weise – eine ›koalitionäre Diskursreaktivität‹, indem sie ihre mimetische Kommunikationsfunktion für die emotive Selbstaussprache gegenüber ihrer performativen Kommunikationsfunktion profilieren. Ausblickhaft wird sodann die These aufgestellt, dass sich in der gesamten deutschen homoerotischen Lyrikproduktion keine Beispiele finden, die als contrediscours beschreibbar wären – womit die Begründung gegeben ist, den Blick von deutscher Literatur auf andere Literaturen zu wenden, nämlich die spanische und die portugiesische. Das 4. Kapitel liefert zunächst einen Exkurs zur Genese des von Heinrich Detering ausgearbeiteten Camouflage-Konzepts zu Tarnstrategien homoerotischen Schreibens. Es wird gezeigt, dass sich dieses Konzept nicht von der Vorstellung des Sichaussprechens der Homosexualität im literarischen Text lösen kann. Dass es dennoch so ausführlich behandelt wird, liegt daran, dass einige homoerotische Gedichte gerade mit camouflierenden Struktur spielen. Dies tun sie, indem sie diese ›typisch sensible Schreibweise‹ homosexueller Autoren zwar aufrufen, nur jedoch, um sie immer wieder und immer wieder anders zu unterlaufen. So das Gedicht »A Gregorio, en Delfos« (ca. 1930-36), das im 5. Kapitel betrachtet wird. Es spielt mit tarnenden Textstrukturen, indem die Tarnung als Tarnung sichtbar wird. Durch doppelte ›Leseanweisungen‹ und
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durch die Einschreibung in frühneuzeitliche Lyriksysteme erschreibt sich das Sonett eine taktische Gegenredefunktion als contre-discours. Ausgehend von den an diesem singulären Text gemachten Befunden wird in einem Ausblick die spanische modernistische Lyrikproduktion auf ihre dissidenten Potentiale hin befragen. In Kapitel 6 werden Gedichte interpretiert, die als contre-discours eine subversive Diskursreaktivität etablieren. So in 6.1 die Canções (ab 1920) von António Botto: Die Frage, ob sie camouflierende Schreibweisen nutzen, ist so alt wie die Gedichte selber. Ob sie homosexuelle Inhalte aufweisen oder rein ästhetisch zu verstehen sind, wurde in den 1920ern in Portugal in einem solch vehementen Maß diskutiert, dass eine regelrechte literarische Krise ausgelöst wurde. Gerade die ungeheure Polemik wird als Indiz dafür genommen, dass Bottos Gedichte eben diese Doppelbödigkeit intentional als diskursreaktiven contre-discours einsetzen. Bottos Canções werden so als Texte lesbar gemacht, die die Angebote der Literaturgeschichte zur subversiven Gegenrede nutzen. Mit Butlers Konzept des drag als Geschlechtlichkeit subvertierende performance wird dies näherhin zu beschreiben sein. Den Abschluss der Gedichtinterpretationen bilden im Kapitel 6.2 Gedichte des zeitgenössischen spanischen Lyrikers Luis Muñoz. Es wird gezeigt, wie sich diese in zwei verschiedene spanische prototypische Lyrikformen einschreiben und diese zur gegenseitig subvertierenden Verhandlung bringen. Zum Abschluss wird im 7. Kapitel eine Übertragungsmöglichkeit des vorgeschlagenen Leserasters nicht nur in Aussicht gestellt, sondern als Surplus in aller Kürze in einem neuen Anwendungsbereich aufgezeigt. War es bis dorthin Aufgabe der Arbeit zu zeigen, in welcher Weise es möglich (und notwendig) ist, die spezifische prototypische Medialität von Lyrik für Interpretationen zu beachten, wird dort gezeigt, dass die entwickelten Kategorien auch für andere Medien produktiv gemacht werden können. Anhand der Akt-Fotografien von Wilhelm von Gloeden aus dem frühen 20. Jh. werden fotografische Reaktivitäten mit Diskursen über die Homosexualität in den visuellen Künsten besprochen.
2. Lyrik und Genderdiskurse: eine pragmadiskursiv fundierte Deviationsästhetik
Le texte est (devrait être) cette personne désinvolte qui montre son derrière au Père Politique. ROLAND BARTHES1
2.1 DIE VERBINDUNG ZWISCHEN ›GENDER‹ UND DER GATTUNG LYRIK Im Hinblick auf die Relationen zwischen Literatur und Gender konstatiert Franziska Schößler, dass die Literatur der Moderne »geschlechtlich organisiert ist« (Einführung, 160). Soziale Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit gehen dabei einher mit gegenderten medialen Formen der Produktion und Rezeption im literarischen Feld: »Die Hochliteratur definierte sich über die Unterscheidung von massenmedialer Kommunikation, das heißt über die Leitoppositionen Genie/Dilettant, Kunst/Unterhaltung, die noch dazu durch den bürgerlichen Geschlechterdiskurs gestützt wurden. […] Über die Kategorie Gender differenziert sich das literarische System aus […].« (Ebd., 161)
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Barthes, Le plaisir du texte, 84; »Der Text ist (sollte sein) jene ungenierte Person, die Vater Politik ihren Hintern zeigt.« (Die Lust am Text, 79).
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Neben diesen (literar-)historisch-soziologischen Verbindungen von Gender und Literatur im Allgemeinen sieht Schößler auch strukturelle Analogiebeziehungen zwischen Gender und literarischen Gattungen. Dies betrifft zum einen epische Texte: Da das Narrative eine Grundstruktur der Konstitution von Gender bilde, seien Texte, die selber Narrative ausbilden, gleichzeitig jedoch eine von alltagsdiskursiven Genderdiskursen unterschiedene Position einnehmen, dazu geeignet, diskursives gendering in sich aufzunehmen und dabei abzubilden, zu kritisieren oder zu unterminieren. 2 Demgegenüber ließen sich Drama und Gender über ihre »hohe Affinität zu Maskerade, Performanz und Theatralität« (ebd., 166) verknüpfen.3 In der noch nicht geleisteten strukturell-analytischen Verknüpfung der Gattung Lyrik mit Gender sieht Schößler nun zurecht ein Desiderat der literaturwissenschaftlichen Genderforschung. Dieser Aufgabe nimmt sich vorliegende Arbeit an. Zunächst ist auf grundlegende Probleme der Gattungs-Gender-Korrelation im Falle der Lyrik hinzuweisen. Zum Ersten mangelt es den drei basalen Gattungsbegriffen Lyrik, Epik und Dramatik an Trennschärfe. Denn weder Lyrik als Gattung noch das Gedicht als dominante Textsorte der Gattung lassen sich hinreichend als nicht-narrativ oder nicht-dramatisch klassifizieren. Insofern ist auch aus spezifisch gendertheoretischer Perspektive eine Unterscheidung zwischen den Gattungen qua Exklusion des Lyrischen aus dem Dramatischen oder Narrativen nicht möglich. Die Kopplungsstellen zwischen doing gender und (epischer) Narration sowie zwischen Theatralität/Performativität von Geschlecht und (dramatischer) Aufführung sind mithin ebenso im (epischen oder dramatischen) Gedicht denkbar. Zum Zweiten bleibt, nicht nur bei Schößler, die Historizität der Gattungseinteilung unberücksichtigt. Die Trias Lyrik, Epik, Dramatik ist weder etwas na-
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Vgl. dazu den einschlägigen Sammelband: Nieberle/Strowick, Narration und Geschlecht.
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Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen ist hier zentral: Eine Theateraufführung ist nie nur ein mimetisch Sinn (und damit auch geschlechtlichen Sinn) reproduzierender Akt, sondern auch performativ produzierender Akt, der die Sinngenerierung als solche, als Performance ins (Bühnen-)Licht rückt. Werden Geschlechterbilder auf der Bühne inszeniert, kann es die Möglichkeit geben, dass die Inszenierung/Inszeniertheit selber in den Blick gerät.
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türlich Gegebenes noch etwas immer schon Dagewesenes, sondern eine historische und mithin kontingente – wenn auch deshalb nicht weniger wirkmächtige – Setzung.4 Um dennoch die Frage nach dem spezifisch Lyrikhaften am Gedicht und nach möglichen funktionalen Relationen zwischen Gender und Lyrik beantworten zu können, wird im Folgenden eine Prototypik der Lyrik umrissen, die ihren Gegenstand nicht über Distinktionskriterien zu den anderen Gattungen, sondern über pragmatische Zuschreibungen erfasst, die einen Text zum Gedicht machen. Auf der Basis dieses dezidiert pragmatischhistorischen Zugangs kann zum einen gezeigt werden, dass und wie Texte bestimmte Komponenten dieser Prototypik nutzen bzw. auf sie rekurrieren, um sich ›Lyrikhaftigkeit‹5 zu erschreiben. Zum anderen – und damit ist die eigentliche Korrelation zwischen Lyrik und Gender angesprochen – kann der lyrikhafte Text in seiner historischen Co- und Kontextualität betrachtet und nach seinen Funktionen innerhalb einer bestimmten literarischen, sozialen und historischen Kommunikationssituation befragt werden. Konkret: Wie steht es um das jeweilige diskursreaktive Moment des Textes? Nutzt ein Gedicht seine Lyrikhaftigkeit, um Herrschaftsdiskursen über Homosexualität zu entsprechen oder um ihnen Widerstände entgegen zu setzen – ihnen, in der Diktion Roland Barthes’, den »Hintern zu zeigen« (Barth, Die Lust am Text, 79) oder ihnen in selbigen zu kriechen?
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Das weitere Vorgehen orientiert sich – ohne das weite Feld der Gattungstheorien beackern zu wollen – also an einer konstruktivistischen Gattungstheorie, wie sie Klaus Hempfer in Gattungstheorie. Information und Synthese bereits 1973 vorgeschlagen hat. Gattungen sind demnach »aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und -objekt resultierende Konstrukte« (Hempfer, Gattungstheorie, 221). Er betrachtet »›Gattungen‹ generell als kommunikative Normen (im Sinn von mehr oder minder internalisierten ›Spielregeln‹, nicht im Sinn von präskriptiven Postulaten)« (ebd., 223).
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Der Begriff ist im Deutschen nicht gängig geprägt. Dies mag evtl. an seiner Sperrigkeit liegen, er wurde aber dennoch dem etwas eingängigeren ›Lyrizität‹ vorgezogen, da eine Ähnlichkeit mit ›Poetizität‹ und dessen proliferierendem Gebrauch vermieden werden sollte.
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2.1.1 ›Lyrikhaftigkeit‹: Eine Prototypik der Lyrik Alle avancierten Arbeiten zur Lyriktheorie verweisen darauf, dass sich die Gattung einer strukturellen Kategorisierung entziehe: »The lyric, tendentiously stated, is the genre of contigency, and of contingency, as Aristotle noted, there can be no science« (Wellbery, Specular Moment, 27). »Lyrik kann nicht definiert, sondern nur historisch beschrieben werden« (Preisendanz, »Lyrik, Roman, Humor«, 739). Neuere Lyrikologie und avancierte Gattungstheorie operieren daher seit einigen Jahren auf einer kognitionstheoretischen Basis: »Gattungszuschreibungen unterliegen den natürlichen und den kulturellen Bedingungen des Kategorisierens, sie sind kulturrelativ und historisch flexibel, und sie beruhen auf der Wahrnehmung von besten Beispielen (Prototypen) und derjenigen von weniger trennscharfen als eher ›verschwimmenden‹ Grenzen zu ›besten Beispielen‹ anderer Kategorien.« (Zymner, »Eine Einführung«, 3)
Die in der Psycholinguistik ausgearbeitete Prototypentheorie geht dabei davon aus, dass es bei der Klassifizierung von Objekten nicht einen idealen, metaphysischen Archetypus gibt, zu dem alle anderen Realisationen in einer mehr oder weniger starken Ähnlichkeitsbeziehung stehen, sondern dass hinter einer Klassifizierung näherungsweise ein Prototyp auszumachen ist, der die akzidentiellen Attribute der Kategorie in besonders verdichteter Weise vertritt. Dieser Prototyp ist also ein besonders geeigneter Vertreter einer Kategorie, die sich gerade erst über ihre konkreten Realisationen (qua Prototypen) konstituiert.6 Prototypenskalen oder -kreise sind auf Empirie fußende, also induktiv verfahrende Darstellungen: Sie geben Werte wieder, die auf Grund von Erhebungen erstellt werden. Dabei handelt es sich aber nicht um Näherungswerte, die sich in Richtung der Perfektibilität eines tatsächlichen Zentrums hin orientieren. In der Unterscheidung des Prototypen vom Archetypen ist eben dieser Kern der Wahrheit zugunsten einer Gleitskala von (Kombinationen von) Möglichkeiten aufgegeben.
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Man erkennt an dieser Beschreibung der Prototypentheorie (z.B. in der Bevorzugung typischer token auf parole-Ebene gegenüber struktureller types auf langueEbene), dass sie zu den Theorien nach dem performative turn zu zählen ist.
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»The lyric prototype is a multi-componential phenomenon and consists of a number of traits or tendential attributes that apply more or less in individual cases and allow the lyric to be conceived of as a field with ›fuzzy‹ or ›permeable‹ edges and as a group of texts that, for all their heterogenity, are linked to each other through a more or less intense family resemblance.« (Wolf, »The Lyric«, 35).
Mit diesem relativistisch-konstruktivistischen Zugang werden erstens binäre Ein- und Ausschluss-Unterscheidungen zugunsten einer Gleitskala ersetzt; zweitens entscheidet nicht ein Kriterium über die Zugehörigkeit eines Objekts zu einer Gruppe (oder über dessen Ausschluss), sondern ein Merkmalsbündel (in Anschluss an Wittgensteins ›Familienähnlichkeiten‹) und drittens ist die Zuordnung abhängig von der Wahrnehmungssituation: Ändert sich der historische Kontext, wird sich auch der individuelle/kulturelle/historische Prototypenkreis ändern. Die Prototypentheorie erweist sich einerseits als »nützlich, um zu erklären, wie Menschen untypische Exemplare einer Kategorie beurteilen. Deshalb können weniger vogelige Vögel wie Pelikane und Pinguine nach wie vor als Vögel betrachtet werden.« (Aitchison, Wörter im Kopf, 69f.) Ein ganz ähnliches Erkenntnisinteresse verfolgt auch Werner Wolf. Ihn treiben die permeablen Grenzen zwischen den Gattungen um: Was ist nicht mehr Lyrik und was ist schon Drama oder Epik? Für die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung ist jedoch umgekehrt zu argumentieren, nämlich, dass sich Texte durch die Verwendung bestimmter Merkmale als besonders ›gedichtige Gedichte‹ bestimmen lassen, dass sie sich Lyrikhaftigkeit erschreiben können und dass die Häufung bestimmter Textmerkmale als marker für Lyrikhaftigkeit angesehen und ernst genommen werden muss: »Thus a textual trait such as versification cannot only be regarded as a component of a prototype frame, but also as a marker of this frame« (Wolf, »The Lyric«, 46). Essentialisierende und normierende Gattungs- und Lyriktheorien sind gegenüber pragmatischen Ansätzen deutlich in der Überzahl, in vielen Fäl7 len mögen dafür didaktische und heuristische Gründe verantwortlich sein.
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Verwiesen sei hier beispielsweise auf das seit nunmehr rund 15 Jahren maßgebliche Lehrbuch zur Lyriktheorie in der Germanistik, die Einführung in die Gedichtanalyse von Dieter Burdorf. Der Mangel an Burdorfs Versuch einer Mini-
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Doch gerade aus solchen Beobachtungen dessen, was Lyrik vermeintlich ›ist‹, lassen sich die am häufigsten und am zentralsten beschriebenen (also prototypischen) Attribute herausdestillieren, die damit zugleich als besonders wirkmächtig gelten können. Dieser empirische Zugang zur Gattungskonstitution wird für die literaturwissenschaftliche Arbeit insbesondere dann interessant, wenn die Interdependenz von Rezeption und Produktion berücksichtigt wird – denn Lyriker sind auch Lyrikleser: »Thus, before a poem is written or read, poets and readers already possess a notion of ›poeticalness‹ or ›lyricalness‹ as part of their cultural competence.« (Ebd., 33) Lyrikhaftigkeit muss nicht nur als Interpretationshorizont, sondern auch als nicht wegzukürzende Produktionsbedingung (im pragmatischen Sinne auch: ›Seins‹-Bedingung) von Gedichten berücksichtigt werden, denn »Gattungsbegriffe lenken [...] nicht nur den Leser. Als Produktionsstrategien wirken sie auch auf die Entwicklung des Literatursystems: Denn um seine Audrucksinteressen zu verwirklichen, muss ein Autor eine bestimmte Gattung auswählen und dabei zwischen individuellen Vorstellungen, Konventionen des literarischen Lesens und Erwartungen des Publikums vermitteln.« (Klausnitzer, Literatur und Wissen, 40)8
maldefinition von Lyrik wird z.B. daran deutlich, dass er eine klare Linie zwischen »normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsformen der Alltagssprache« und »Rede in Versen« (Burdorf, Einführung, 20) zieht. Historisch bedingte Eigenschaften würden sich auf dieser fundamentalen Minimaldefinitionsbasis anlagern. Diese Definition ist freilich nur dann haltbar, wenn er Prosagedichte schlichtweg ausschließt: diese »bleiben […] eindeutig Prosa.« (Ebd., 15) Die Angabe des genauen Grenzverlaufs muss er freilich schuldig bleiben. 8
Auch Helmstetter macht darauf aufmerksam, dass die Definitionen von Lyrik zwar historisch wandelbar, deshalb jedoch nicht minder ›mächtig‹ sind, haben sie doch nicht nur Auswirkungen auf die nachträgliche Bewertung von Texten, sondern auch auf die zukünftige Lyrikproduktion: »Die unterschiedlichen historischen Definitionen der Lyrik, die Poetiken und Wesens- oder Funktionsbestimmungen der lyrischen Dichtung, sind Theorien und (thematische und stilistische) Programme, Meta-Texte, die die vergangene Textproduktion klassifizieren und bewerten und damit die weitere Textproduktion beeinflussen. (Helmstetter, »Lyrische Verfahren«, 29).
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Lyrik zeichnet sich prototypischerweise durch eine Überstrukturiertheit (Link, »Lyrisches Gedicht«, 205ff.) des Sprachcodes aus.9 Auf formaler Ebene ist vor allem die metrische Gebundenheit zu nennen (Ordnung nach Versen und/oder Strophen, Zählen nach Silben, Ordnen nach Größen und Binden nach Reimen).10 Jürgen Link geht z.B. diesen Weg der Differenzierung nach der metrischen Gebundenheit und definiert Lyrik gegenüber der größeren Kategorie ›Poesie‹ nach dem »Verskriterium« (ebd.). Mit dem (auditiven) Kriterium der Metrik eng verbunden ist die (visuelle) typografische Präsentation. So Wolfgang Kayser: »Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind. Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.« (Kleine deutsche Versschule, 9). Die Abstufung hin zum weniger prototypischen Gedicht wird am Prosagedicht, an Reimprosa oder avantgardistischen Gedichtformen ersichtlich, die den typischen Umbruch von Gedichten (die gerade erst den Vers konstituieren) nicht einhalten. Durch den Sekundärcode der Metrik schreiben sich Gedichte außerdem in spezifische Dichtungstraditionen ein. Prototypisch überstrukturiert ist Lyrik zudem gegenüber nicht-lyrikhafter Verwendung von Sprache aufgrund ihrer vehementen tropischen Sprachverwendung und ihrer semantischen, syntaktischen und lautlichen Überformung durch rhetorische Figuren. Weiterhin sind inhaltlich die Einschreibung in »die literarische Tradition generell und intertextuelle bzw. interauktoriale Bezugnahmen im besonderen [sowie] Gattungskonventionen u.a. relevant.« (Weich, Paris en vers, 32). Zu den notwendigen und/oder hinreichenden Merkmalen des prototypischen Gedichts wurde auch immer wieder die »relative Kürze des Textes und seine Konzisheit des sprachlichen Ausdrucks« (Burdorf, Gedichtanalyse, 21) angeführt. Hierzu gehört auch die Vorstellung, dass die Sprache der Lyrik (noch stärker als diejenige der Prosa oder Dramatik) ›verdichtet‹ ist und die Syntax ›besonders‹ verwendet wird, also auch in dieser Hinsicht in Differenz zu nicht-lyrikhafter
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›Zeichnet sich aus‹ bedarf eines Gegenübers. Zunächst soll dieses Gegenüber als ›nicht-lyrikhafte Sprache‹ bezeichnet werden. Eine Tautologie, die es in 2.2 aufzulösen gilt. Dort soll gezeigt werden, wie sich lyrikhaftes Sprechen über Homoerotik gegenüber diskursiv gebundenem Sprechen über Homosexualität verhält.
10 Vgl. dazu z.B. Wagenknecht, Deutsche Metrik, 7-20.
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Sprache steht.11 Lyrikhaftigkeit bemisst sich außerdem durch spezifische Kontextualität – die Abhängig von ihrem ›Platz im Leben‹ – und Co-Textualität – abhängig von ihrem Platz im (Buch-)Verbund mit anderen Texten.12 Mit dem Attribut »lyrisch«, so unscharf der Begriff auch sein mag,13 ist ein weiteres Element der Prototypik gegeben – der hohe Stellenwert, den Lyrik als besonderes Sprechen in unterschiedlichen Kommunikationssituationen einnimmt: »Zu Geburtstagen, Hochzeiten und Todesfällen möchte man anders sprechen als im Alltag, nachdrücklicher und mit mehr Gefühl« (Felsner/Helbig/Manz, Arbeitsbuch Lyrik, 13)14, oder: »Gedichte galten – und gelten oft noch heute – als die anspruchsvollsten und vornehmsten Texte, auch als die dichtesten und schönsten.« (Lamping, Handbuch Lyrik, ix) Damit verbunden ist auch folgende, ebenfalls prototypisierende, Feststellung: »Die Verwendung von ›Dichter‹ oder ›Poet‹ impliziert oft ein positives Qualitätsurteil« (Felsner/Helbig/Manz, Arbeitsbuch Lyrik, 13). Lyrik erscheint so als nobilitiertes und nobilitierendes Sprechen. Kunstvoll-poetische Könnerschaft (›Poet‹) trifft im Begriff ›lyrisch‹ auf expressiv-subjektives Gefühl. 2.1.2 Expressivität: Das »Sichaussprechen« in der Lyrik Zur Prototypik der Lyrik gehört also – dies ist für den weiteren Gang der Argumentation von zentraler Bedeutung – der Topos vom »Sichaussprechen« (Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik, 322) in der Lyrik. Das damit verbundene Definitionskriterium der Emotivität oder Expressivität hängt wesentlich mit der romantischen Kategorisierung von Lyrik als derjenigen lite-
11 Dies ist eine in die Literaturtheorie durch den Formalismus eingeführte Unterscheidung. 12 Erst sein Erscheinen in einem Buch mit dem Titel Deutsche Gedichte verleiht Peter Handkes »Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968« (wenn auch prekäre) Lyrikhaftigkeit. 13 So auch Wolf: »›lyric‹ has become an umbrella term for most versified literature […] and has thus become a synonym of ›poetry‹.« (Wolf, »The Lyric«, 23). 14 Zur rein gesellschafts-praktischen Funktion der »Poesie« als Teil des Rituals und als gemeinschaftsbildendes Erinnerungsmedium in der Trauerarbeit vgl. Sperl, Kunst und Fähigkeit zu trauern, 51-85.
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rarischen Gattung zusammen, die am engsten mit dem subjektiven Gefühl (auch und besonders: dem Gefühl des Autors) verbunden ist. Im Brockhaus Conversations-Lexicon – einem repräsentativen Beispiel für den Umgang der »Gebildeten Stände« mit Lyrik – von 1815 liest sich das so: »Lyrik, lyrische Poesie ist diejenige Gattung der Poesie (oder Dichtungsart), durch welche der Dichter sein inneres Leben im Zustande des bewegten Gefühls unmittelbar darstellt. […] Was der lyrische Dichter gibt, gibt er als sein eigenes Inneres, weshalb man auch die lyrische Poesie die subjektive im Gegensatz der übrigen Dichtungsarten, genannt hat.« (Brockhaus, »Lyrik«)
Ein weiteres Beispiel, fast ein Jahrhundert später, stammt aus einer Einführung in die Deutsche Poetik (1895). Diese kann deshalb als besonders repräsentativ gelten, weil sie von einem an der Münchener Universität lehrenden Literaturprofessor dezidiert auch für die Lehre verfasst wurde und somit nicht nur den bildungsbürgerlichen (wie der Brockhaus), sondern auch den akademischen Umgang mit Lyrik erkennen lässt. Selber ausgesprochen ›lyrisch‹ heißt es über das Verhältnis von Dichter und Gedicht: »Der Dichter selbst ist der Held des lyrischen Gedichts. Sein Lieben und Hassen, seine Lust und Qual, sein Erkennen und Wollen selbst wird Gegenstand der poetischen Anschauung. Sich davon zu befreien, die Stürme seines menschlichen Ichs aus dem reinen inneren Selbst auszuscheiden und so zu bemeistern, darum singt der echte Dichter.« (Ebd., 104)
Wie einleitend bereits erwähnt, Hegel hat diesen ›lyrischen Subjektivismus‹ wirkungsmächtig in seinen Vorlesungen zur Ästhetik (1835-1838) mit dem gattungskonstitutiven »Sichaussprechen des Subjekts« (322) be- und festgeschrieben: »Die andere umgekehrte Seite zweitens zur epischen Poesie bildet die Lyrik. Ihr Inhalt ist das Subjektive, die innere Welt, das betrachtende, empfindende Gemüt, das, statt zu Handlungen fortzugehen, vielmehr bei sich als Innerlichkeit stehenbleibt und sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen kann. Hier ist es also keine substantielle Totalität, die sich als äußeres Geschehen entwickelt; sondern die vereinzelte Anschauung, Empfindung und Betrachtung der insichgehenden Subjektivität teilt auch das Substantiellste und
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Sachlichste selbst als das Ihrige, als ihre Leidenschaft, Stimmung oder Reflexion und als gegenwärtiges Erzeugnis derselben mit.« (Ebd.)
Hegel »traut dem lyrischen Genre die Fähigkeit zu […,] dem Ich ein authentisches Medium zur wesentlichen Selbstaussprache zu geben« (Plumpe, Kant bis Hegel, 336). Gefühle werden also durch das Medium der Lyrik kommunikabel.15 In philosophisch-literaturwissenschaftlicher Hinsicht wurde diese Vorstellung von Lyrik zunächst von Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung (1906), prominent gemacht und später von Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik (1946), übernommen. Besonders Staiger scheint sich regelrecht gegen ›moderne‹, sprich ›non-emotionale‹ Lyrik, zu wehren, fällt sie doch nicht mehr in den Aufgabenbereich seiner Lyriktheorie. Die Zentrierung um die Kommunikation von Gefühl hat zur Folge, dass das Subjekt, zumal das mit ingenium begabte Autor-Subjekt, in seiner Position extrem gestärkt wird: »Im historischen System der Künste, das Hegels Ästhetik entfaltet, ist die neuzeitliche Lyrik die partikulare Kunstform schlechthin, in der das freie, seiner selbst bewusste Individuum auf sich selbst als Besonderes reflektiert, d.h. als nicht mehr eingebunden in die übergreifenden Ordnungen einer Ständegesellschaft oder eines göttlichen Heilsplans […].« (Plumpe, Kant bis Hegel, 300)
Die deutsche idealistisch-romantische Konzeption von Lyrik als subjektivischer Gattung hat sich als enorm wirkmächtiges Phänomen in ganz Europa etabliert. Dies mag daran liegen, dass in diesem, wie in keinem anderen der ›großen Philosopheme‹ »die Verschränkung von Ästhetik und Geschichts-
15 Aus systemtheoretischer Perspektive stellt sich Hegels Subjektzentrierung in der Lyrik folgendermaßen dar: »So mag es in der Lyrik wohl um Empfindung gehen, diese ist aber Kunst nur als künstlich strukturierte Sprache. Jeder ›Unmittelbarkeit‹ trat Hegel mit diesem ästhetischen Formgebot kategorisch entgegen.« (Plumpe, Kant bis Hegel, 336). Der Überblick in diesem Kapitel zeigt hingegen, dass Lyrik – aller moderner Ausdifferenzierung zum Trotz – weiterhin als Kunstform reflektiert und praktiziert wurde und wird, der es in besonderem Maße möglich ist, Gefühle sprachlich auszudrücken.
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philosophie, die Vermittlung von ästhetischem und geschichtlichem Bewußtsein« (Barck, Poesie und Imagination, 253) so zentral über literarische Konzeptionen vollzogen wurde. Literarische Ästhetik und Weltbeschreibung wurden im Idealismus nahezu zur Deckung gebracht: Der Gegensatz von Poesie und Prosa16 wurde so hierarchisierend auf die »prosaischen Zustände« der (meist dysphorisch empfundenen) Lebenswelt übertragen, wohingegen die Poesie (euphorisch) »mit der Philosophie und dem spekulativen Denken« (ebd., 254) verbunden wurde. Literatur und ganz speziell Lyrik erfuhr so eine enorme Aufwertung. Für ganz Europa kann gelten, dass mit der Romantik die Regelpoetik – zumal der vorhergegangenen Klassizismen – nun zugunsten einer subjektiv hergestellten Regelhaftigkeit (Stichwort: ›Genieästhetik‹) abgelöst wurde. Wie die späteren Textanalysen noch erweisen werden, übt der romantische Idealismus samt seiner Subjektzentrierung – zumal in der Lyrik – auch auf die iberische Literatur einen erheblichen Einfluss aus.17 In einer der einschlägigen spanischen Literaturgeschichten wird der Subjektivismus in der spanischen Lyrik geradezu pathologisiert: »Obwohl die Dichter schon immer das Ich besungen haben, ist für die Romantiker eine Art von Exhibitionismus, von egozentrischer Psychose charakteristisch, welche sie soweit bringt, auch die dunkelsten Gefühle zu ergründen.« (Navas/Díez, »Poesía romántica y posromántica«, 255).18 Wenn dies auch eine überaus tendenziöse Darstellung ist, so wird hier durchaus eindringlich die Zentralität des Aussprechens des Eigenen deutlich. Wenn auch historisch relativ, 19 kann sich diese Gattungskonvention in der aktuellen wissenschaftlichen Arbeit halten, besonders aber auch in der
16 Wobei hiermit nicht die Gattungen Prosa und Lyrik gemeint sind, sondern allgemeinere Kategorien, oder »[z]wei Sphären des Bewußtseins« (Plumpe, Kant bis Hegel, 243). 17 So z.B. für Portugal: Aguiar e Silva, Teoria da Literatura, bes. 358-365 und 385 oder für Spanien: Lope, »Die Literatur des 19. Jahrhunderts«. 18 Orig.: »Aunque los poetas siempre han cantado el yo, caracteriza a los románticos una especie de exhibicionismo, die psicosis egocéntrica, que les lleva a descubrir hasta los más oscuros sentimientos.« 19 Dies erkannte Boris Tomaševskij schon 1923: »[I]n der Epoche des individuellen Schaffens, in der Epoche, die den Subjektivismus in der künstlerischen Kon-
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›alltäglichen‹ Kopplung von Autor und Text,20 ein pan-europäisches Erbe der Romantik, das sich auch gegenüber allen anderen modernen, avantgardistischen oder postmodernen Autor- und Literatur-Konzepten behaupten konnte.21 Das romantische Paradigma der Lyrik als Ausdrucksmedium von Gefühlen bildet also auch für heutige Lyrikrezeption und -produktion einen basalen prototypischen Gattungsrahmen. Dieter Lamping weiß um die Prototypik dieses Moments: »Der Begriff der lyrischen Subjektivität ist vielmehr in seiner Reichweite systematisch zu relativieren: er bezeichnet ein empirisch häufiges und in diesem Sinn typisches, keinesfalls jedoch konstitutives Moment lyrischen Sprechens.« (Lamping, Das lyrische Gedicht, 116). Dennoch bleibt die Vorstellung der subjektiven Erlebnislyrik bestehen und die Frage: ›Wer ist das Ich des lyrischen Gedichts?‹ wird auch in aktueller Forschung, z.B. in der Theorie der literarischen Gattungen von András Horn ganz in diesem Sinne beantwortet: »Wenn etwa ein Kontinent
struktion kultivierte, schieben sich Namen und Person des Autors nach vorn, und das Interesse des Lesers dehnt sich vom Werk auf den Schöpfer aus.« (»Literatur und Biographie«, 51). 20 Diese Verbindung wird auch in Bezug auf vorromantische Epochen angesetzt, man denke an die florierenden autorzentrierten Lesarten der großen Nationaldichtungsbegründer Petrarca, Camões oder Shakespeare. Über letzteren schreibt Tomaševskij, er »bleib[e] in biographischer Hinsicht die Eiserne Maske der Literatur« (»Literatur und Biographie«, 51), was aber gerade dazu führt, dass die Spekulationen über die wahre Identität Shakespeares umso buntere Blüten treiben und besonders seine Sonnets immer wieder als Zeugnisse ihres Autors gelesen werden; vgl. Höfele, »The happy hunting ground«. 21 Carolin Fischer begründet überzeugend die Konstanz der Überblendung von Autor und lyrischem Ich mit einem zwar historisch wandelbaren, jedoch nichtsdestotrotz äußerst wirkmächtigen »implizite[n] poetische[n] Pakt« im literarischen Kommunikationssystem (Fischer, Der poetische Pakt, 72); da mag die literaturwissenschaftliche Forderung nach einer kategorialen Trennung zwischen extratextueller Produktionsinstanz und innertextueller Sprechinstanz (die bekanntlich schon 1910 von Margarete Susman in Das Wesen der modernen deutschen Lyrik mit ihrer Einführung des Begriffs des ›lyrischen Ich‹ geleistet wurde) noch so vehement geführt werden.
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wie Afrika sich im Umbruch befindet und seine Dichter mit schweren Identitäts- und Hingehörigkeitsproblemen zu kämpfen haben, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Stimme, die solche Probleme wälzt, eine angenommene, eine verstellte Stimme ist.« (Horn, Theorie, 55) 2.1.3 Pluralisierung in der modernen Lyrik Alle im Anschluss zu analysierenden Gedichte sind zwischen der zweiten Hälfte des 19. und der erste Dekade des 21. Jh entstanden, also in einer Phase der Pluralisierung und Durchmischung von Kanones und Epochenparadigmen. Dies hängt mit der weiten Ausdifferenzierung des konkreten kommunikativen Gebrauchs von Lyrik zusammen, die höchst heterogene, durchaus auch gegenstrebige Gebrauchsweisen von Lyrik nebeneinander ermöglichte. Dieter Lamping grenzt den Objektbereich der modernen Lyrik dadurch ein, dass er diese just von der »Erlebnis- und Stimmungslyrik« des 18. und 19. Jh. unterscheidet. »[Die Lyrik des 18. und frühen 19. Jh] ist in nahezu allen europäischen, selbst in den amerikanischen Literaturen noch stark von der Romantik geprägt und deshalb wesentlich Erlebnis- und Stimmungslyrik, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat und von G.F.W. Hegel im dritten Teil seiner Vorlesungen über die Ästhetik mit großer Resonanz beschrieben worden ist. Diese Erlebnis- und Stimmungslyrik ist realistisch insofern, als sie nicht nur auf eine subjektive Erfahrung von Wirklichkeit bezogen ist, sondern in deren Darstellung auch außerpoetische Konventionen des Redens und Schreibens über solche Realität. Von dieser Erlebnis- und Stimmungslyrik weicht die moderne Lyrik ab, indem sie deren realistischen zunächst betont nicht-realistische Darstellungsweisen entgegensetzt.« (Lamping, Moderne Lyrik, 13)
Verlagert sich so der Blick von der Prototypik von Lyrik im Allgemeinen zu einer dezidierten Prototypik moderner Lyrik im Besonderen, rücken andere, ja entgegengesetzte Attribute ins Zentrum. Diese hat diskursbegründend Hugo Friedrich in Die Struktur der modernen Lyrik von 1956 als »negative Kategorien« (13ff.) von modernem Dichten beschrieben, als »ein Deformieren der Wirklichkeit« (z.B. 73). Um nur einige zu nennen: »Enthumanisierung« (83f.), »Nähe des Schweigens« (89f.), »Dunkelheit« (90f.),
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»Suggestives, nicht verstehbares Dichten« (91f.), »Abkehr vom Wirklichen« (93ff.), »ontologische Dissonanz« (99ff.), »[d]iktatorische Phantasie, Abstraktion und ›absoluter Blick‹« (104ff.), »inkongruenter Stil« (113ff.) und einige Attribute mehr.22 Ebenso wie Friedrich muss sich Lamping (1999) mit besonders repräsentativen Beispielen der jeweiligen Gruppen begnügen und argumentiert mit Dominanzen in der Lyrikproduktion. »Lyrik, wie sie in diesen – und vielen anderen – Gedichtbänden [von Baudelaire, Mallarmé, Pound, Majakowskij, Ungaretti, Appollinaire, T.S. Eliot, Lorca, Brecht, Breton, Celan] vorliegt, ist repräsentativ für die Moderne und von einem bestimmten Punkt an auch dominant in der Zeit, die sie umspannt. Das heißt allerdings nicht, dass zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts nur solche moderne Lyrik geschrieben worden wäre. In diesem Zeitraum gibt es vielmehr auch weiterhin Poesie, die sich an der Tradition etwa der Klassik oder der Romantik orientiert.« (Lamping, Moderne Lyrik, 12)
Der Zeitraum der sogenannten ›Moderne‹ und ›Nachmoderne‹, in den alle später zu analysierenden Texte fallen, zeichnet sich also gerade durch die Vielstimmigkeit der lyrikhaften Produktion aus. Oder einfacher ausgedrückt: In diesem Zeitraum sind mitnichten nur ›moderne‹ Gedichte entstanden. Das bedeutet für die anschließenden Analysen, dass zunächst die jeweilige prototypische Lyrikhaftigkeit, die sich ein Text erschreibt, zu klären ist. Daher ist Folgendes festzuhalten: Stellt die Gattung Lyrik in der einen Kommunikationssituation nobilitierende Sprechweisen zu besonderen Anlässen zur Verfügung (wie in Hegels Beispielen zu Goethes ›geselligen Liedern‹), so in anderen Kommunikationssituationen die Möglichkeiten zum Ausdruck intimsten Gefühls (Erlebnis- und Liebeslyrik), und in der
22 Dabei hält Friedrich Abstand von einer essentialistischen Definition von moderner Lyrik. Wenn auch keine explizite Prototypologie, so ist sein Vorgehen doch induktiv: »Was ist moderne Lyrik? Ich will mich auf keine Definition einlassen. Die Antwort mag sich aus dem Buche selber ergeben.« (Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, 8).
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nächsten fungiert sie als meta-sprachliches, meta-mimetisches Reflexionsfeld (Avantgarden, Dada, Postmoderne). »As a consequence of this terminological situation, the lyric covers a vastly heterogeneous text corpus that is moreover in a continuous process of development and ranges from traditional lyric forms such as the sonnet to free verse and various experimental forms, of which the twentieth century with its notorious transgressive tendencies has produced so many.« (Wolf, »The Lyric«, 23)
Neben dieser enormen Bandbreite der möglichen Strukturen und Funktionen von lyrikhaften Texten muss zudem noch bedacht sein, dass auch alle Zwischenstufen und Kombinationen möglich sind.23 Warum dieses Lavieren um Formen und Abstufungen der Gedichthaftigkeit? Alle genannten Merkmale prototypischer Lyrik stehen der modernen Lyrikproduktion baukastenartig zur Verfügung. In diesem Sinne argumentiert auch Link: »Die strukturellen Faktoren bilden darüber hinaus ein Reservoir von Möglichkeiten, aus denen einzelne historische Konkretisationen sozusagen ausgewählt haben.« (Link, Elemente der Lyrik, 99) Sie bilden also den Fundus der Möglichkeiten, aus denen selegiert werden kann, um sich in das System Lyrik einzuschreiben und einem Text Lyrikhaftigkeit zu verleihen. Die These, der im Weiteren nachgegangen werden soll, ist nun, dass sich die zu untersuchenden Texte durch die Aufnahme jeweils spezifischer
23 Burdorf verkennt die produktivsten Orte der Gattung, nämlich ihre Grenzen: Ist es doch just hier, wo sich solche (noch nicht) prototypisch gedichthaften Texte finden, die gerade durch ihre Nicht-Konformität mit dem System Lyrik das System Lyrik erweitern. Hingegen schreibt Burdorf: »Neue Formen wie Lautgedichte und visuelle Poesie sprengen nicht nur die bisherigen Grenzen der Lyrik, sondern auch die der Literatur« (Burdorf, Gedichtanalyse, 5) Vom »Sprengen« kann hier nicht die Rede sein, sondern von einer historisch bedingten Erweiterung, siehe das Beispiel der poésie en prose von Baudelaire im System Lyrik des 19. Jh. Auch die Namensgebung, »Lautgedicht« bzw. »visuelle Poesie« weist ja bereits auf eine die Möglichkeiten produktiv erweiternde Hybridität hin.
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prototypischer Merkmale (formal, thematisch, modal) in die Gattung Lyrik einschreiben und dass ihrer Lyrikhaftigkeit eine zentrale Rolle in der Analyse zukommen muss. Die zu analysierenden Gedichte werden – und das ist nun kein Pleonasmus mehr – dezidiert als Lyrik gelesen. Es wird im Hinblick auf die Verknüpfung von Gender und Lyrik zu eruieren sein, was die Funktion dieser Moduswahl ist: In was für ein Verhältnis setzen sie ihre Lyrikhaftigkeit zu den Diskursen über die Homosexualität? Welche Verbindungen bestehen zwischen der Subjektzentrierung der Lyrik und der Subjektzentrierung in den modernen Wissenschaften über die Sexualität? 2.1.4 Diskursivierung der (Homo-)Sexualität und »faire-parler« Die generelle diskursive Form(ierung) der Sexualität um 1900 ist dem allumfassenden Krisenempfinden jener Jahrzehnte geschuldet: Von etwa 1880 bis 1925 »vollzieht sich vor dem Hintergrund beschleunigter sozialer, medialer und politischer Modernisierungen auch ein deutlicher Umbruch der sozialen und symbolischen Geschlechterordnung.« (Brunotte/Herrn, »Männlichkeit und Moderne«, 17) Dieser Umbruch – oder vielmehr, dieses Umbruchsempfinden – findet seinen Ausgangspunkt und Niederschlag unter anderem in einer explosionsartigen Vermehrung des Sprechens über die Sexualität. Geschlechtliches Krisenempfinden und das Sprechen über (die krisenhafte) Sexualität verhalten sich dabei korrelational; die Annahme einer einfachen Ursache-Wirkung-Beziehung würde der Komplexität des Phänomens nicht gerecht: Gerade das Sprechen über die Krise produziert die Krise mit. Sie betrifft vor allem – in einer durchweg patriarchalen Gesellschaft – die hegemoniale Männlichkeit, die durch eine Pluralisierung der Männlichkeitskonzepte im Laufe des 19. Jahrhunderts an Absolutheit einzubüßen beginnt.24 Aus dem Mann werden Männer und mit ihnen erscheinen auch devianten Männlichkeitsformen, seien es der masturbierende Knabe, der Päderast, der Homosexuelle etc.
24 Vgl. z.B. den Plural im Titel zum Sammelband: Brunotte/Herrn, Männlichkeiten in der Moderne.
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Nachfolgend gilt die Aufmerksamkeit dem letztgenannten Teilaspekt der generellen Neuformierung (und den konservativen Versuchen der Reinstallierung) von Männlichkeit: den medizinischen, juridischen und soziologischen Diskursen über Homosexualität. Foucault fasst die Etablierung der neuartigen Rede über den Homosexuellen folgendermaßen: Die akzidentielle innere Beschaffenheit des gleichgeschlechtlich Liebenden wird nun zur konstitutiven inneren und äußeren Seinsform. Seine Sexualität ist dem Homosexuellen »konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie – und hier kann der berühmte Artikel Westphals von 1870 über ›die conträre Sexualempfindung‹ die Geburtsstunde bezeichnen – weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgerückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle eine Spezies.« (Foucault, Wille zum Wissen, 47)
Foucaults These, dass die Homosexualität »[a]ls eine der Gestalten der Sexualität« in Erscheinung tritt, kann durch aktuellere gendertheoretische Konzepte weiter präzisiert werden. Denn »die Sexualität«, von der Foucault spricht, basiert nämlich auf Heteronormativität: Heterosexualität fungiert als Normdiskurs, demgegenüber sich alle anderen Sexualitäten als Devianzen formieren. Gleichzeitig konstituiert sich der Normdiskurs just über seine Differenz zu (den als deviant) ausgeschlossenen Diskursen.25
25 Diese retroaktive differenzlogische Bewegung ist von der kulturwissenschaftlichen Forschung auch in anderen Diskursformationen offengelegt worden, so z.B. durch Edward Saids Orientalism. Dort argumentiert Said, dass sich der rationale, männliche, Kultur schaffende Westen just im differentiellen Abgleich mit seinem Anderen, Ausgeschlossenen, dem körperzentrierten, weiblichen, naturverbundenen Orient, selbst erschuf.
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»Dagegen brachte die Zeitspanne, die sich ungefähr zwischen Wilde und Proust erstreckt, geradezu verschwenderisch Versuche hervor, dieses neuartige Geschöpf, den homosexuellen Menschen, zu benennen, zu erklären und zu definieren – ein derart drangvolles Projekt, daß es in seinem Unterscheidungswahn eine noch neuere Kategorie erfand: den heterosexuellen Menschen.« (Sedgwick, »Epistemologie des Verstecks«, 133)
Das Sprechen über die deviante Homosexualität (bei Sedgwick maßgeblich auch in der Literatur: »zwischen Wilde und Proust«) ist also notwendig zur Konstitution heterosexueller Geschlechtlichkeit. Der Schnittpunkt zwischen Gender- und der Literaturwissenschaft ist in diesem Kontext die sprachliche Herstellung von Geschlechtlichkeit: In einer textorientierten Analyse werden so Rhetoriken und ihre literarischen Mittel der Herstellung von Geschlechtlichkeit untersuchbar. Dabei funktioniert das Sprechen und damit Herstellen von Geschlechtlichkeit nicht nur auf eine Weise: Mit der Proliferation von Männlichkeitsbildern wächst auch die Zahl der möglichen Be- und Erschreibungen des Homosexuellen als Spezies. Damit einher geht freilich auch eine Vermehrung der rhetorischen und literarischen Sprech- und Schreibweisen. Eine weitere grundlegende Frage der folgenden Gedichtinterpretationen wird daher sein, wie im Medium Lyrik über Homoerotik gesprochen wird, welche Bilder von Männlichkeit genutzt, welche verabschiedet werden und in welche diskursreaktive Stellung sich dieses lyrikhafte Sprechen zu den Diskursen über Homosexualität setzt. Zunächst jedoch stehen Medizin und Jurisprudenz als diskursbegründende Disziplinen der Homosexualität im Zentrum. Mit Foucault ist davon auszugehen, dass sich das Sexualitätsdispositiv in den Wissenschaften verfestigte und dass es hier zu einer Proliferation des Sprechens über den neuen Gegenstand kam. Was zuvor in den Beichtstühlen im Hinblick auf die Sodomie passierte, wird nun wissenschaftlich produktiv gemacht: »Durch eine klinische Kodifizierung des ›Sprechen-Machens‹: das Bekenntnis mit der Prüfung kombinieren, den Selbst-Bericht mit der Ausbreitung deines Komplexes von Zeichen und entschlüsselbaren Symptomen; die Befragung, den exakten Fragebogen und die Hypnose mit dem Rückrufen der Erinnerungen, den freien Assoziationen: alles Mittel, um die Geständnisprozedur in ein Feld wissenschaftlich akzeptabler Beobachtungen einzugliedern.« (Foucault, Wille zum Wissen, 68f.)
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Die Verwissenschaftlichung der Beobachtung, die Herstellung von Theoremen, die Einrichtung von Kliniken, die Einlagerung der Sexualität in die ›harten‹ Wissenschaften und in soziale Einrichtungen sowie die ins Öffentliche getragene Diskussion über Sexualität soll nun, quasi die noch verborgene Beicht-Praxis früherer Zeiten ablösend, die Sexualität zum Sprechen über sich selbst bringen: »[D]ie Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen« (Foucault, Wille zum Wissen, 134). Das neue sexualisierte Subjekt ist sogar dazu angehalten, über sich selber zu sprechen: »Ein Mensch, der vorher nichts als ›infam‹ war, um mit Foucault zu reden, erhielt jetzt als infames Sub-iectum eine Stimme – und erhob sie selbst, seine Sonderbarkeit war nicht mehr namenlos.« (Sigusch, Neosexualitäten, 96) Die Institutionalisierung der Sexualität in den Wissenschaften hat dabei die Aufgabe, die Geständnisprozedur in allen Lebensbereichen zu installieren. Foucault bezeichnet diesen Zwang als omnipräsentes »›faire-parler‹« (Volonté de Savoir, 87) der Subjekte – die Übersetzung findet dafür den treffenden Terminus des »›Sprechen-Machens‹«. Foucaults ›Angebot‹, auch der Literatur eine diskurskonstitutive Funktion zuzusprechen, wird im Folgenden angenommen. Denn es ist unzutreffend, dass die Homosexualität ausschließlich im Feld der ›harten‹ Wissenschaften entstanden ist. Die oft vorgebrachte These, »dass nicht der ›Homosexuelle‹, sondern allein der Arzt Auskunft geben konnte über die Männerliebe« (Müller, Homosexuelle Autobiographien, 150), ist nicht haltbar: 26 Wie später noch ausführlicher zu zeigen sein wird, erschließt bereits Karl Heinrich Ulrichs, einer der Begründer und gleichzeitig Betroffenen der neuen Kategorisierung, dem homosexuellen Subjekt in der Lyrik einen neuen, dezidiert nicht-wissenschaftlichen Raum des Sich-Aussprechens.
26 Über die Herstellung des Diskurses in den Wissenschaften wird seit Jahren ausführlich geforscht, so letztens: Weiß, Zum richtigen Geschlecht? In diesen Untersuchungen werden nicht selten ›literarische‹ Mittel innerhalb der harten Wissenschaften analysiert. Dieser Blick auf Lebensweltdiskurse und ihre Herstellung steht in der von Sedgwick begründeten Tradition der semiotischen Queer bzw. Gender Studies.
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Dies nun bietet die Grundlage für eine Verbindung von Gender (im Hinblick auf männliche Homosexualität) und der Gattung Lyrik: Mit dem Aufkommen der Wissenschaft über die Sexualität werden die nun als solche rubrizierten paraphilen Subjekte zum Sprechen über sich selbst angehalten. Wenn nun Lyrik genau diejenige Gattung ist, deren historisch wirkmächtigstes Kriterium gerade dasjenige der Selbstaussprache ist, dann gilt es, diese frappierende Parallele genauer zu untersuchen.27 Dabei ist bei lyrischem Sprechen natürlich die Differenz zu nichtliterarischem Sprechen zu beachten; im Folgenden wird es daher zunächst um eine klare Differenzierung der Reaktionspotentiale von Lyrik auf homosexuelle Wissensdiskurse gehen – unter Berücksichtigung des künstlerischen Sonderstatus lyrikhafter Rede.
2.2 D ISKURSREAKTIVITÄT
VON
L ITERATUR
2.2.1 Literatur vs. Wissen? Konterdiskurs, contre-discours und discours ›en retour‹ Aus diskursanalytischer Sicht definieren sich Lyrik/Literatur dadurch, dass sie nicht auf die Produktion wahrer Aussagen abzielen, wohingegen nichtliterarisch/lyrischen Diskursformationen Wahrheitsdispositive zugrunde liegen. Aufgrund des »Doppelcharakter[s] der Kunst als autonom und fait social« (Adorno, Ästhetische Theorie, 19) kommt der Literatur jedoch eine besondere diskursive Position zu. Literatur ist ein sekundär modellbildendes System (sensu Lotman), das außerliterarische Diskurse importiert, allerdings immer unter der Bedingung der irreduziblen Literarizität.28
27 Freilich finden sich unter den erzählenden Textsorten solche wie der Brief(-roman) oder die Autobiografie, die in ähnlicher Weise an die Selbstaussprache geknüpft sind. Die Korrelierung dieser Gattungen mit Homosexualitätsdiskursen ist Aufgabe weiterer Forschungen. 28 Vgl. Lotman, Struktur literarischer Texte. Als ein weiterer wichtiger Beitrag zur Positionierung von Literatur in einem ›sozialen Zwischenraum‹ kann Jürgen Links Interdiskurs-Theorie nicht ungenannt bleiben. Er jedoch beschäftigt sich mit der Vermittlung (und Verhandlung) von Kollektivsymbolik(en) in und qua
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Wegen dieser Sonderstellung kann der literarische Text nicht einfach als Knotenpunkt oder als Variable von Äußerungspraktiken diskursanalytisch ›aufgelöst‹ werden. Ein derart reduktionistisches Vorgehen einer Vielzahl herkömmlicher literaturwissenschaftlicher Diskursanalysen wird von Warning zurecht kritisiert:29 »Man ging mit poetischen Texten um wie Foucault mit wissenschaftlichen, fand also in mittelalterlicher Literatur die Episteme der Ähnlichkeit, in klassischer Literatur eine taxonomisch repräsentierte Wissensorganisation und in nachklassisch-moderner Literatur Geschichtlichkeit und Tiefendimensionalität. Der damit einhergehende Nivellierungseffekt, d.h. der Verzicht auf Ausdifferenzierung spezifisch poetischer Diskurse aus einem umfassenden Diskursfeld wurde dabei eher als Vorteil gesehen, konnte man mit eben diesem Verzicht doch die Annahme eines wie auch immer gearteten Sonderstatus poetischer oder literarischer Texte abtun als ideologische Befangenheit in traditioneller Kunstmetaphorik.« (Warning, »Konterdiskursivität«, 316)
Die Problematik dieser Art literaturwissenschaftlicher Diskursanalyse besteht also darin, dass die Literarizität der Texte aus dem Blick gerät, weil das jeweilige historische Apriori der Episteme unvermeidlich text-nivellierend wirkt und damit keine Trennung zwischen literarischer und nichtliterarischer Kommunikation gezogen werden kann. Unter einer derartigen Prämisse ließe sich die Frage nach der Diskursreaktivität der Literatur/Lyrik erst gar nicht stellen. Um dieser Nivellierung zu entgehen, soll hier Warnings Konzept der »Konterdiskursivität« genutzt werden. Warning schließt an Überlegungen Wolfgang Isers zur Fiktionstheorie an, der dem literarischen Text die Struktur eines »Kipp-Spiels« von Nachahmung und Symbolisierung zuspricht:30 Der literarische Text bildet zum
Literatur und leistet daher einen Beitrag zur avancierten Thematologie, die sich diskursanalytisch von herkömmlicher, essentialisierender Stoff- und Motivgeschichte absetzt. Diskursreaktive Potentiale, wie sie hier verfolgt werden, sind in diesem Ansatz jedoch nicht mitgedacht. 29 In diesem Sinne auch: Gerigk, Verhältnis, die sich auf Kittler/Turk u.a., Urszenen stützt. 30 Vgl. dazu: Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Eine ähnliche Stoßrichtung, nämlich dem Ein- und Ausbetten bzw. dem ›Kipp-Spiel‹, wieder aber in einem
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einen ab, ist also diskursiv gebunden, aber immer unter den Bedingungen einer je individuellen Symbolisierungsstruktur der uneigentlichen Rede. Und so ist es, nun mit Warning, Distinktionsmerkmal des literarischen Textes als »Vorstellungsterritorium«, dass er »zwischen Codebestimmtheit und freigesetzten Implikationen des Signifikanten oszilliert« (Warning, Heterotopien, 27). Systemtheoretisch formuliert Gerigk dies so: »[A]lles kann in die literarische Kommunikation eingehen – Soziales, Politisches, Moralisches –, es wird aber gemäß dem Code und den Programmen der Literatur kommuniziert.« (Gerigk, Verhältnis, 27). Dirk Kretzschmar fasst dies historisch und mit besonderem Blick auf die Integration sozialer Tabus in den literarischen Diskurs infolge der systemischen Ausdifferenzierung der Literatur folgendermaßen: Kant beschreibt die Folgen der gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung des späten 18. Jahrhunderts für die Kunst, indem er das Paradigma einer vollständig autonomen Kunst formuliert, die sich von nun an jede Freiheit nehmen kann, moralische, politische, religiöse, didaktische oder wissenschaftliche Funktionserwartungen nicht nur zurückzuweisen, sondern geradeheraus zu düpieren und das Verwerfliche, das Subversive, das Falsche etc. ästhetisch interessant zu inszenieren. (Kretzschmar, Identität, 120).
Hier wird auf den Inszenierungscharakter der Kunst abgehoben: Literatur wird im 18. Jahrhundert zu einem autonomen, nicht jedoch autarken sekundär modellbildenden System; mit der Folge, dass außerliterarische ›Realitäten‹ nicht mehr mimetisch abgebildet, sondern ›nur noch‹ inszeniert werden sollen und können. Literatur hat jedoch die Möglichkeit, Realitätseffekte zu produzieren und diese zugleich qua Literarizität als Effekte auszustellen. Das Tabuisierte »ästhetisch interessant zu inszenieren« bedeutet also nicht, dass es in der außerliterarischen ›Realität‹ tatsächlich vorhanden wäre und lediglich in das literarische System hineinkopiert wird, sondern dass es aus textuellen Sinnstrukturen als Effekt entsteht.31
anderen Theoriedesign, verfolgt Link mit dem Label von »Desemantisierung und Resemantisierung« (Link, Elemente der Lyrik, 95ff.) von diskursivem Sinn. 31 Zu zeigen, dass Sprache (und zwar nicht nur sogenannte ›literarische‹) gegen das Gesetz antreten kann, unter dem sie angetreten ist, kann als das poststruktu-
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Warning hat dieses »Kipp-Spiel« mit der Wendung der ›diskursiven Ein- und Ausbettung‹ beschrieben und benennt diesen Vorgang als ›Konterdiskursivität‹ von Literatur: »Auch als Konterdiskurs bleibt der literarische Text allemal eingebettet in sein jeweiliges diskursives Umfeld. Er hat teil an jenem je historischen Wissen, wie es diese kontextuellen Diskurse artikulieren. Aber man würde ihn reduktiv lesen, wenn man auch ihn allein auf dieses Wissen befragt, auch in ihm nur ein epistemologisches Dokument sieht. Denn mit seiner spezifisch imaginären Verarbeitung der Episteme grenzt er sich zugleich auch aus diesem diskursiven Umfeld aus. Es geht also um eine Dialektik von Einbettung und Ausbettung.« (Warning, Heterotopien, 24)
Warnings Konterdiskurs-Konzept richtet allerdings insgesamt zu wenig Aufmerksamkeit darauf, dass literarische Texte zwar eine grundsätzliche konterdiskursive Struktur aufweisen (bei diskursiver Ein- und Ausbettung), aber trotzdem in jedem Einzelfall daraufhin untersucht werden müssen, ob und in welchem Ausmaß sie ihr konterdiskursives Potenzial tatsächlich nutzen. Bezogen auf Erkenntnisinteresse und Textkorpus der vorliegenden Arbeit heißt das: Es wird immer wieder zu prüfen sein, ob und inwieweit der konkrete lyrikhafte Text konterdiskursive Potenziale entwickelt, oder ob er im Gegenteil alles daran setzt, nicht konterdiskursiv zu wirken – z.B. indem er wissenschaftlich und gesellschaftlich sedimentierte Geschlechternormen möglichst ungebrochen kopiert und seine Lyrikhaftigkeit in den Dienst der wahrheitsgemäßen Selbstaussprache stellt. Zum Allgemeinplatz, dass sich Foucault (der auch bei Warning den Theoriehorizont bildet) immer wieder – und immer wieder anders – mit dem Charakter von Literatur und dem Verhältnis literarischer Aussagen zu wissens-diskursiven Aussagen beschäftigt hat, sei hier in aller Kürze Position bezogen.32 Dabei wird es nicht um die Festschreibung von Foucaults Litera-
ralistische Anliegen angesehen werden; hier sei noch einmal auf das Motto von Roland Barthes verwiesen, das diesem Kapitel vorangestellt ist. 32 Auch Warning konstatiert, es sei »schwer zu sagen, was an [Foucaults] Umschreibungen poetischer Konterdiskursivität historisch, was normativ und was vielleicht systematisch gemeint ist.« (»Konterdiskursivität«, 317).
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turbegriff(en) gehen. Vielmehr soll die Freiheit, die Foucaults »Umschreibungen« (Warning, »Konterdiskursivität«, 317) bieten, als Offerte aufgenommen und produktiv angewendet werden. Denn schon die Frage: ›Was ist für Foucault Literatur?‹ unterstellt, dass Foucault eine Antwort auf diese Frage hätte geben wollen. Da die Antwort auf eine derart essentialistische Frage gleichfalls nur essentialistisch ausfallen könnte, läuft sie Foucaults historisch und konstruktivistisch angelegtem Strukturalismus bereits im Ansatz völlig zuwider. Foucault ist demgegenüber darauf bedacht, essentialisierende Ausdrucksweisen zu vermeiden. So heißt es etwa in die Ordnung der Dinge: »In der modernen Zeit ist die Literatur das, was das signifikative Funktionieren der Sprache kompensiert (und nicht bestärkt).« (76). Mit dem historisierenden Vorsatz, »In der modernen Zeit«, relativiert Foucault hier dezidiert das Sein von Literatur. Seine jeweils unterschiedliche Beschreibung von Literatur in stets neuen Zusammenhängen legt zudem nahe, dass Foucault in seinem Gesamtwerk eine funktionsorientierte Bestimmung von Literatur verfolgte, die nicht auf eine wahre (und wie in dem Beispiel oben, schon gar nicht auf eine systematische, sondern höchstens historische) Antwort abzielte, sondern vielmehr Möglichkeitsspielräume der Beschreibung der Funktionsweise von Literatur aufzeigen wollte. Achim Geisenhanslüke hat gezeigt, dass in Foucaults Denken eine anfängliche Euphorie gegenüber den dissensualen Widerstandspotentialen von moderner Literatur einer deutlichen Ernüchterung wich und er damit Literatur in den Blick nahm, die konsensual an Wissensformationen mitschreibt: »Spielte die Literatur der Moderne von Wahnsinn und Gesellschaft bis zur Ordnung der Dinge die empathisch aufgeladene Rolle eines Gegendiskurses, der für Subversion des Wissens, für die Foucaults eigene Theorie einsteht, eine Vorbildfunktion übernahm, so verliert die systematische Begründung des Diskursbegriffs die Literatur zunehmend aus dem Blick.« (Geisenhanslüke, Gegendiskurse, 66)
Damit sind zwei diskursreaktive Grundmodi von Literatur aufgerufen: »Entweder verhält sich die Literatur zum allgemeinen Diskurs als deren integrativer Bestandteil, der eine bestimmte Rolle in der Positionierung von Subjekten, Wissen und Macht einnimmt, oder aber sie verhält sich als Gegendiskurs, den eine Subversion des Wissens leitet.« (Ebd., 129) In Fou-
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caults Werk lassen sich diese beiden Vorstellungen in eine zeitliche Abfolge bringen: »Gegendiskurs«-Funktion im Frühwerk und wissens-»integrativer Bestandteil« im Spätwerk. Die vielzitierte Passage aus der ›euphorischen Phase‹ ist dabei folgende: »On peu dire en un sens qu la ›littérature‹, telle qu’elle s’est constituée et s’est désignée comme telle au seuil de l’âge moderne, manifeste la réapparation, là où l’on ne l’attendait pas, de l’être vif du langage [...] Or, tout au lang du dix-neuvième siècle et jusqu’à nous encore – de Hölderlin à Mallarmé, à Antonin Artaud – la littérature n’a existé dans son autonomie, elle ne s’est détachée de tout autre langage par une coupure profonde qu’en formant une sorte de ›contre-discours‹, et en remontant ainsi de la fonction représentative ou signifiante du langage à cet être brut oublié depuis le seizième siècle.« (Foucault, Les mots et les choses, 58) »Man kann in einem bestimmten Sinne sagen, daß die ›Literatur‹, so wie sie sich gebildet und als solche an der Schwelle des modernen Zeitalters sich bezeichnet hat, das Wiedererscheinen des lebendigen Seins der Sprache dort offenbart, wo man es nicht erwartet hätte. [...] Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in unsere Zeit – von Hölderlin zu Mallarmé, zu Antonin Artaud – hat die Literatur nun aber nur in ihrer Autonomie existiert, von jeder andern Sprache durch einen tiefen Einschnitt nur sich losgelöst, indem sie eine Art ›Gegendiskurs‹ bildete und indem sie so von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war. (Foucault, Die Ordnung der Dinge, 76)
Wenn Foucault hier der modernen Literatur die Fähigkeit zuschreibt, »das Wiedererscheinen des lebendigen Seins der Sprache« auszustellen, ist das ihrer poetischen Selbstbezüglichkeit geschuldet, die eben nicht nur ›etwas‹ aussagt, sondern auch ihr Aussagen selber in seiner Produktivität, man könnte sagen, die Sprache in ihrer Sprachhaftigkeit, ausstellt. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist Literatur also das, was über die Seinsweise von Sprache und ihre Fähigkeit zur Konstruktion von Realität nachdenkt (oder nachdenken lässt). In diesem Sinne sieht Foucault in der modernen Literatur übrigens eine Komplizin seiner eigenen Diskursanalyse. Rainer Warning nun hat dieses Konzept des contre-discours übernommen, in sein Konterdiskurs-Konzept übertragen und für Literatur allgemein verabsolutiert: So konstatiert er, »daß Foucault poetische Texte grundsätz-
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lich in einem Spannungsverhältnis zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur ›Ordnung des Diskurses‹ sieht, als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven« (Warning, »Poetische Konterdiskursivität«, 317), oder: »Literarische Texte sind keine Diskurse« (ders., Heterotopien, 23), oder: »Fiktionale Literatur ist [...] prinzipiell interessiert an sprachlicher Dichte, an Opazität. Sie will das Medium selbst mit in den Dienst der Bedeutungsproduktion stellen.« (Ebd., 25)33 Warning leitet also von Foucaults relativer und historischer Bestimmung von Literatur bestimmter Epochen (v.a. der aus der modernen Ismen-Zeit und der Postmoderne) und nach bestimmten Autoren (u.a. Mallarmé, Roussel, Klossowski, Bataille, Blanchot, Genet, Borges u.v.m) ein Universalprinzip von Literatur ab. Unter dem Blickwinkel einer solchen subversions-euphorischen Identifikation von Literatur allgemein verwundert es nicht, dass gerade die prototypischerweise besonders überstrukturierte – also poetische und literarische – Lyrik als die gegendiskursive Gattung schlechthin erscheinen kann. So konstatiert Rüdiger Zymner: »Lyrik ist diejenige Gattung, die Sprache als Medium der sprachprozeduralen Sinngenese demonstriert bzw. demonstrativ sichtbar macht, die mithin den Eigensinn von Sprache vorzeigt, Lyrik ist als diejenige Gattung zu bezeichnen, deren generisches Charakteristikum darin besteht, ein Display sprachlicher Medialität zu sein.« (Zymner, Lyrik, 96f.)34 Folgende Kritik Geisenhanslükes an solch subversionseuphorischer Literaturwissenschaft muss daher ebenso für Warnings Konterdiskurs-Konzept wie auch für Zymners Display-Theorie geltend gemacht werden: »Die Begründung der Diskursanalyse als einer subversiven Form der Literaturwissenschaft, die die Erkenntnisfunktion der Literatur durch die Analyse ihrer selbstreferentiellen Bezüge ersetzt, [...] vereinseitigt die Funktion der Literatur in Fou-
33 Erstaunlicherweise kommt Geisenhanslüke ohne jeden Hinweis auf Warnings Konzept aus. 34 Dieser verabsolutierende Blick auf die Gattung verwundert zumal bei Zymners ansonsten immer wieder explizit gemachtem Anti-Essentialismus, seiner stetigen Betonung der Abhängigkeit der Wahrnehmung von lyrikhaften Texten von diskursiven Praktiken und der Gattungsformation als wandelbarer kultureller Konstruktion; vgl. z.B. Zymner, Lyrik, 49.
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caults Schriften [...] auf ihre Bedeutung als Ausdruck eines Seins der Sprache, das sich der modernen Analyse der Bedeutung wiedersetze.« (Geisenhanslüke, Gegendiskurse, 55)
Warning übersieht also die von Geisenhanslüke herausgearbeitete Wandlung bei Foucault; und Zymner verabsolutiert im Bereich der Lyrikologie eben dieses diskurssubversive Potential. Daher stellt sich nun die Frage, welche Diskursreaktivität von Literatur, neben dieser dissensualen Form des contre-discours, von Foucault außerdem angedacht wurde. Eine explizite Aussage über diese andere Reaktivität findet sich in folgender, wiederum vielzitierten, Stelle in der Wille zum Wissen. Foucault spricht hier von einem »discours ›en retour‹«:35 »Or, l’apparition au XIXe siècle, dans la psychiatrie, la jurisprudence, la littérature aussi, de toute une série de discours sur les espèces et sous-espèces d’homosexualité, d’inversion, de pédérastie, d’›hermaphrodisme psychique‹, a permis à coup sûr une très forte avancée des contrôles sociaux dans cette région de ›perversité‹; mais elle a permis aussi la constitution d’un discours ›en retour‹: l’homosexualité s’est mise à parler d’elle même, à revendiquer sa légitimité ou sa ›naturalité‹ et souvent dans le vocabulaire, avec les catégories par lesquelles elle était médicalement disqualifiée. Il n’y a pas d’un côté le discours du pouvoir et en face, un autre qui s’oppose à lui.« (Foucault, Volonté de Savoir, 134) »Als dann in der Psychiatrie, in der Jurisprudenz, auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Diskursen über Arten und Unterarten der Homosexualität, der Widernatürlichkeit, der Päderastie, des ›psychischen Hermaphrodismus‹ aus dem Boden schossen, hat das gewiß zu einem starken Vormarsch der sozialen Kontrollen auf jenem Gebiet der ›Perversitäten‹ geführt; es hat aber auch die Konsti-
35 Dem Umstand, dass sich diese grundsätzliche Unterscheidung bei Foucault sogar in zwei Begriffen kristallisiert, wurde bisher keinerlei Aufmerksamkeit zuteil. Die deutschen Übersetzungen machen den Unterschied sogar beinahe unsichtbar: Ulrich Köppen übersetzte 1971 contre-discours mit »Gegendiskurs«. Raulff/Seitter übersetzen 1983 discours ›en retour‹ mit »Gegen-Diskurs«. Die Bindestrich-Übersetzung macht aus einem großen einen nur noch minimalen Unterschied.
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tution eines Gegen-Diskurses ermöglicht: die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Rechtmäßigkeit oder auf ihre ›Natürlichkeit‹ zu pochen – und dies häufig in dem Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde. Es gibt nicht auf der einen Seite den Diskurs der Macht und auf der andern Seite den Diskurs, der sich ihr entgegensetzt.« (Foucault, Wille zum Wissen, 101)
Es geht Foucault hier, wie in den ersten beiden Bänden von Sexualität und Wahrheit überhaupt, darum, seine eher statisch angelegte machtapparatzentrierte archäologische Analyse auf eine bewegliche genealogische Analyse der Produktionsweisen von Macht hin neu bzw. weiter zu denken. Waren es in seinem früheren Werk die Funktionsweisen, Mittel und Techniken der Machtausübung, die im Zentrum von Foucaults Interesse standen,36 werden diese nun hin zu polyvalenten Diskursstrategien und den weit komplexeren produktiven Bedingungen der Machtemergenz erweitert. Denn, so erkennt Foucault in seinem späteren Denken, der Diskurs etabliert sich nicht nur einseitig von einer Machtposition her, sondern dialektisch aus allen möglichen Aussagen innerhalb eines Diskursfeldes.37 Foucaults Argument im obigen Zitat ist nun erstens, dass auch Sprechhandlungen, die den Machtdiskurs der Sexualität verändern oder sogar angreifen wollen, letztlich den Machtdiskurs selber mitformieren (können). Wenn die in heteronormativer Weise hergestellte Homosexualität, also das Objekt der Diskursbildung, selber als Subjekt zu sprechen beginnt, werden die komplexen Zusammenhänge der Diskursformierung virulent: Das Ob-
36 Durch Ausschluss des Wahnsinns (in Wahnsinn und Gesellschaft), durch reglementierende (Para-)Textstrategien (in Die Ordnung des Diskurses), durch die epistemologische Beschreibung der Weltwahrnehmung und -konstruktion (in Die Ordnung der Dinge) oder durch die Techniken der Überwachung (in Überwachen und Strafen). 37 In Der Wille zum Wissen hat sich Foucault in besonderer Weise damit beschäftigt, dass Diskurse nicht nur statisch durch Ein- und Ausschlussmechanismen, d.h. durch Repressionen jeder Art produziert werden (archäologisches Projekt), sondern dass die Frage nach der Macht vielmehr auf die strategischen und Techniken der Diskurszusammenhänge (genealogisches Projekt) gerichtet werden muss.
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jekt der Konstruktion konstruiert an seiner eigenen Konstruktion mit. So kann das heteronormative Sexualitätsdispositiv und mit ihm die Rede über die Homosexualität auf verschiedenste (auch – vermeintlich – gegensätzliche) Weisen ›fortetabliert‹ werden. Dieses Sprechen bildet als discours ›en retour‹38 damit als mal zustimmende, mal missbilligende Wi(e)derrede weitere énoncés im heteronormativen Sexualitätsdispositiv.39 Zweitens nennt er die wissenschaftlichen Diskurse der Psychiatrie und der Jurisprudenz in einem Zuge mit Literatur. Sein, wenn auch knappes, Argument ist hier, dass ›harte‹ Wissenschaften und Literatur gemeinsam machtdiskursiv an der Be- bzw. Erschreibung der Sexualität und besonders ihrer neuen devianten Formen arbeiten. Literarischem Sprechen wird an dieser Stelle also Diskurshaftigkeit zugesprochen bzw. die Fähigkeit, wahre Diskurse zu produzieren. Damit wird Literatur nicht grundsätzlich von wissensdiskursivem Sprechen gesondert. Mehr noch: Literatur kann, das legt Foucaults Argumentationsschema nahe, auf vergleichbare Weise wie die ›harte Wissenschaft‹ am Dispositiv der Sexualität mitwirken.40 In dieser
38 Foucaults Schreibweise mit einfachen Anführungszeichen soll im Folgenden beibehalten werden: Sie markiert just die Zweiwertigkeit dieser mal zustimmenden, mal missbilligenden, ihrem Betrag nach aber immer die Heteronorm mitund weiterproduzierenden Diskursivität. 39 Nun war Foucault nicht der erste, der auf diese Doppelbewegung der Setzung (und Produktion) von Sexualität gerade durch ihren Ausschluss abgezielt hat. So schreibt schon Kierkegaard: »Da das Sinnliche überhaupt das ist, was negiert werden soll, so kommt es erst recht zum Vorschein, wird erst gesetzt durch den Akt, der es ausschließt dadurch, dass er das Entgegengesetzte Positive setzt. […] Wenn man den Satz, das Christentum habe die Sinnlichkeit in die Welt gebracht, recht verstehen will, so muss er als identisch mit seinem Gegensatz aufgefasst werden, dass das Christentum gerade die Sinnlichkeit aus der Welt hinausgetrieben, die Sinnlichkeit aus der Welt ausgeschlossen habe.« (Entweder – Oder, 74f.) Was hier im Hinblick auf die Sinnlichkeit im Kontext der Religion beschrieben wird, ist bei Foucault als Struktur für die ›nach-religiösen‹ positivistischen Diskurse über die Sexualität und ihrer Variante, der Homosexualität, wiederzufinden. 40 Heinrich Detering weist auf die Komplexität des Homosexualitätsdiskurses (oder besser im Plural: der Homosexualitätsdiskurse) hin und unterstellt, mit Jür-
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Sicht verliert sie jedoch ihre exklusive Funktion des Sprechens außerhalb (und zumal als subvertierende Kritikerin) von Wahrheitsdispositiven41 und nutzen selber eine »sexographische[n] Schreibweise, die das Gesetz der Pornographie und manchmal auch der hohen Literatur war: den Punkt zu erreichen, wo man das Unaussprechlichste des Sex ausspricht.« (Foucault, »Nein zum König Sex«, 185f.) Solche Literatur redet also dem faire-parler des Sexualitätsdispositiv das Wort. Diejenige Literatur, die er nun ins Auge fasst, scheint keine konterdiskursive Kraft zu haben oder zumindest nicht zu nutzen: »In ihrer geheimnisvollen Fähigkeit, das nicht Aussagbare doch aussagefähig zu machen, erkennt Foucault [...] keinen Gegendiskurs mehr, sondern eine Strategie der Macht, die dem Zusammenhang von Diskurs und Wahrheit inhärent ist« – Literatur als Reflex des Machtdispositivs, durch den gerade erst Wahrheit mitproduziert wird; Literatur als »Bestandteil der Ökonomie des Diskurses, nicht ihr Widerpart« (Geisenhanslüke, Gegendiskurse, 101).
gen Habermas, Foucault eine illegitime Vereinfachung der tatsächlich weit komplexeren Verhältnisse. Als Gegenargument führt Detering an: »[W]as wäre mit denjenigen medizinischen Forschungsbeiträgen anzufangen, die Homosexualität für ein nicht pathologisches Phänomen erklären?« (Detering, »Fiktionalisierung«, 59) Tatsächlich aber hat Foucault niemals davon gesprochen, dass sich die Homosexualitätsdiskurse ausschließlich oder auch nur zentral in der Medizin ausgebildet hätte, sondern sprach immer von einer diskursiven ›Amtshilfe‹ vieler ›humanities‹ der Zeit, von Medizin, Jurisdiktion, Anthropologie, Kriminalistik, Soziologie, die gemeinsam am Sprechen über und damit der Formung des Homosexuellen beteiligt waren. 41 Als empirischer Beleg dafür, dass auch die Literatur ein Austragungsort (oder sogar Produktionsort) der neuen Homosexualitätskonzepte war, sind zwei wichtige Medienorgane zu nennen. Zum einen der Verlag von Max Spohr, der neben Hirschfelds Sappho und Sokrates (1896) und dem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen für das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee eben auch viele literarische, explizit homoerotische Bücher verlegte. Außerdem die erste Homosexuellenzeitschrift der Welt, Der Eigene (1896 bis 1932), in der auch häufig Gedichte und Kurzgeschichten abgedruckt wurden (zu letzterem vgl. Kapitel 3).
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Diesem Umdenken Foucaults ist nun auch geschuldet, dass er in seinem Spätwerk kaum mehr ›klassisch moderne‹ Literatur,42 sondern die Geständnisliteratur ›infamer Menschen‹ zum Untersuchungsobjekt nimmt, wie die Lebensbeichten des Mörders Pierre Rivière in Der Fall Rivière und des Hermaphroditen Herculine/Hercule Barbin in Über Hermaphrodismus. Foucault erkennt in beiden Beichttexten durchaus literarische Schreibweisen. Diese dienten jedoch »[n]icht als Widerstand gegen die Macht des Diskurses [...], sondern als deren heimliche[r] Vollzug.« (Ebd., 104f.) Die Selbstaussprache des ›infamen Subjekts‹ steht in solchem Maße im Vordergrund, dass die literarischen Verfahren, so stark sie – besonders bei Barbin – auch sein mögen, rein dienenden Charakter haben. Die hohe Poetizität und die Einschreibungen in verschiedene literarische Traditionen, die Foucault in Rivières Zeugnis ausmacht, übernehmen gerade nicht die Funktion des literarisch-»lyrische[n] Widerstand[s] gegen die Macht des Diskurses« (ebd., 105), sondern stellt sich in den Dienst der diskursiven Subjektkonstitution und macht damit gemeinsame Sache mit den wissenschaftlichen Diskursen: »[S]o erscheinen die Diskursivierung des Verbrechens durch die Wissenschaften der Justiz, Medizin und Psychologie auf der einen Seite und das [literarisch-›lyrisch‹ gestaltete] Geständnis Rivières auf der anderen Seite als zwei Seiten einer diskursiven Strategie, die sie umfasst und ermöglicht.« (Ebd., 105)43 Literarizität fungiert hier also lediglich
42 Nur wenige Bemerkungen zur ›en-retour‹-Wirkung von ›Höhenkammliteratur‹ lassen sich bei Foucault finden, so jedoch diese: »Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erscheint eine ganze Literatur der Homosexualität, die sich stark von den Erzählungen der Libertins unterscheidet; denken Sie an Wilde oder an Gide. Das ist die strategische Umkehrung ›desselben‹ Willens zur Wahrheit« (Foucault, »Nein zum König Sex«, 183f.). Foucault spricht also den literarischen Texten dieser beiden Autoren die Diskursreaktivität als contre-discours ab und versteht sie somit als Komplizen des heteronormativen Sexualitätsdispositivs. 43 Freilich handelt es sich bei beiden Texten nicht um Gedichte, sondern um eine Autobiografie und ein juristisches Zeugnis – beide sind jedoch, wie das Gedicht, dominant expressive Textsorten. Außerdem sind beide Texte historische Dokumente und partizipieren nicht als schöne Literatur am Kunstsystem. Foucault geht es also hier darum, Literarisches als Diskursstrategie in nicht-literarischen Texten zu beschreiben.
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als Instrument, sozial Tabuisiertes auszudrücken – und als Ausdrucksmittel für das Subjekts, sich selbst samt sexueller Devianz auszusprechen. Zurecht sieht Geisenhanslüke im Hinblick auf diese so unvereinbaren Konzeptualisierungen dessen, was Literatur bei Foucault diskursreaktiv zu leisten vermag, ein dringliches Desiderat für die diskursanalytisch geprägte Literaturwissenschaft: »Vom Pathos der Literatur als Wiedererinnerung an die tragische Unvernunft und das Sein der Sprache hat er sich verabschiedet. Aus der Perspektive des Philosophen, Historikers und Wissenschaftstheoretikers Foucault ist dieser Schritt nur plausibel. Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft bleiben jedoch offene Fragen an die Adresse der Diskursanalyse – Fragen, die sich ohne Foucault nicht stellen, mit ihm aber auch nicht beantworten lassen.« (Geisenhanslüke, Gegendiskurse, 114f.)
Zwei basale – und diametral entgegengesetzte – Formen der Diskursreaktivität sind mit dem konsensualen discours ›en-retour‹ und dem dissensualen contre-discours bis hierher benannt. Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Sprechens in Literatur hat Foucault also bereits angedacht, jedoch nicht weiter ausgearbeitet. Im Folgenden wird daher eine originär literaturwissenschaftliche Erweiterung dieser Kategorien notwendig, um diese auch literaturtheoretisch beschreibbar und schließlich in Textinterpretationen produktiv zu machen.44
44 Außerdem bedarf es einer Erweiterung des Untersuchungsbereichs: Foucault hatte mit den narrativ-autobiografischen Texten Rivières und Barbins Objekte gewählt, die gesellschaftlich nicht als primär literarische Texte im Kunstsystem kommunikativ anschlussfähig waren, sondern als (hoch) literarisch gestaltete juristisch-psychologische Texte. Doch auch solche Texte, die sich vehement Lyrikhaftigkeit erschreiben und daher zum Kernbestand des literarischen Systems zu zählen sind, können eine Diskursreaktivität ›en-retour‹ ausbilden.
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2.2.2 Mimesis und Performanz – in Foucaults Diskursanalyse und in Mahlers Pragmasemiotik lyrikhafter Texte Foucault beschreibt Diskurse als Ketten oder Serien von Aussagen, »die einem gleichen Formationssystem zugehören« (Archäologie des Wissens, 156). Aufgabe einer archäologischen Diskursanalyse sei es »nicht mehr […] die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« (Ebd., 74) Diese Einsicht Foucaults vollzieht eine revolutionäre Wende im Geiste des Konstruktivismus: weg von der Vorstellung mimetisch operierender hin zu performativ operierenden Sinnproduktionssystemen, wie sie in den Kulturwissenschaften seit dem sogenannten performative turn beobachtet werden. Performativität wird in dieser Sicht zur Grundlage von Sinnkonstitution, als deren Effekt mimetischer Sinn entsteht. Aus der sprachlichen Verfasstheit von Diskursen resultiert nun ein spezifisches Verhältnis zwischen Mimesis und Performanz. Dazu Warning: »Beim Diskurs steigt die inhaltliche Prägnanz des von ihm artikulierten Wissens proportional zur Durchlässigkeit der Ebene sprachlicher Vermittlung. Was zählt, ist das Ausgesagte, der ›énoncé‹, nicht der Aussageakt, die ›énonciation‹. Das sprachliche Zeichen muss sich […] zum Verschwinden bringen im Interesse der von ihm repräsentierten Dinge, Sachverhalte.« (Warning, Heterotopien, 24f.)
Da Diskursregeln der Bildung wahrer Aussagen dienen, ist es also notwendig, die hervorbringende, performative Seite der Aussage in den Hintergrund und die mimetische Seite, die vorgibt, nur bereits natürlich-logisches, Prä-Existentes zu (re-)produzieren, in den Vordergrund zu stellen.45 Der Diskurs muss sich transparent machen und darf sich nicht zeigen als das, »was der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder
45 ›In den Hintergrund schieben‹ bzw. ›in den Vordergrund stellen‹ sind meine Übersetzungen von foregrounding und backgrounding im Sinne von Mukařovský, »Standard Language«. So auch im Anschluss an ihn bei Mahler, »Pragmasemiotics«.
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geschriebenes Ding ist« (Foucault, Ordnung des Diskurses, 9). Nach dieser Unterscheidung, den beiden ›Seiten‹ des Diskurses der Mimesis und der Performanz, ließe sich auch folgende so oft zitierte und von der FoucaultRezeption durchaus unterschiedlich aufgefasste Äußerung Foucaults interpretieren: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« (Ebd., 10f.)
Um mimetisch auf etwas anderes verweisen zu können, muss sich der Diskurs transparent machen, seine »Materialität« mithin invisibilisieren. Spezifisch bezogen auf Lyrik lässt sich die Relation mimetisch/performativ nun folgendermaßen fassen: Wie Andreas Mahler gezeigt hat, haben lyrikhafte Aussagen das Potential, diese beiden Ebenen miteinander interagieren zu lassen. Auch Mahler kommt, wie bereits Preisendanz und Warning, zu dem Schluss, dass Lyrik nur pragmatisch in einer co- und kontextuellen Kommunikationssituation beschrieben werden kann. Dabei legt er das Augenmerk auf die Aktivität, die seitens der Kommunikationsteilnehmer notwendig ist, um aus Zeichen auf einem Blatt Papier einen syntagmatisch geordneten lyrikhaften Text herzustellen: »Poetry can thus be described as an activity in which participants compose (and decompose) syntagmatic chains according to rules and towards a specific effect it can therefore be approached theoretically as a text-making process.« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 218f.) Das Moment einer konkreten Kommunikationssituation betonend, beschreibt Mahler das Verhältnis von ›Wort‹ und ›Inhalt‹ folgendermaßen: »Communication either transforms textuality into meaning or it transforms meaning into textuality. These are the two poles of the purely transactional and, much less obviously, of the purely interactional aspect of communication.« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 225) Die Ausrichtung auf das Signifikat als Fremdreferenz (»textuality into meaning«) oder auf den Signifikanten als Selbstreferenz (»meaning into textuality«) gilt für jede Kommunikation, mithin auch für Lyrik. Generell gilt dabei, dass Literatur und zumal Lyrik aufgrund ihrer Überstrukturiert-
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heit die eigene Gemachtheit in besonderem Maße wahrnehmbar machen kann, was indes nicht heißt, dass sie dies auch immer tut.46 Es wird also in jedem Einzelfall die Verteilung des Akzents auf die beiden Seiten der Differenz zu klären sein. Diese Betonung entweder der Fremdreferenz oder Selbstreferenz der Nachricht lässt sich zunächst auch mit Jakobsons Modell der differenten Sprachfunktionen beschreiben.47 Die Markierung der Selbstreferenz firmiert bei Jakobson bekanntlich als »poetische Funktion«, die von den übrigen (fremdreferentiellen) Sprachfunktionen unterschieden werden muss. Das grundsätzliche Problem, das sich aus Jakobsons Überlegungen zur Dominanz der poetischen Funktion als Distinktionskriterium von Literatur zu nicht-literarischen Texten ergibt, benennt Karlheinz Stierle: In der »Appellsprache« der Werbung und anderen »pragmatische[n] Sprachverwendung[en]« sei die poetische Funktion zwar ebenso zu finden, jedoch nicht zur Ausstellung der eigenen Gemachtheit: »Zweifellos hat hier die sprachlich-formale Organisation der Botschaft eine die Botschaft selbst unterstützende und sie präsent haltende Funktion. Das heißt aber, daß hier die Leistung des ›poetischen Prinzips‹ jener genau entgegengesetzt ist, die Jakobson bei Dominanz der poetischen Funktion ansetzt.« (Stierle, Ästhetische Rationalität, 506).48
46 Um noch einmal das Beispiel aktueller lyrikologischer Theoriebildung für einen vereindeutigenden Blick auf Lyrik anzuführen: Rüdiger Zymners »Display«Theorie verabsolutiert die performative Kommunikationsfunktion von Lyrik gegenüber ihrer mimetischen. Ein Lesen, das die mimetische Kommunikationsfunktion stark macht, wird bei ihm zwar angedacht, jedoch als defizitäre Abwehr- oder Verweigerungshaltung gegenüber den »›Störungen‹ des lyrischen Gebildes« gewertet (Zymner, Lyrik, 121). Ein zwar historisches, jedoch wirkmächtiges gegenteiliges Beispiel, welches die mimetische Kommunikationsfunktion verabsolutiert, wäre Emil Staigers subjektivitätszentrierte Definition von Lyrik, die sämtliche lyrikhaften Merkmale als im Dienste der Selbstaussprache stehend sieht. 47 Vgl. Jakobson, »Linguistik und Poetik«. 48 Auch Karl-Heinz Barck stellt fest, »daß es poetische Sprache als Sondersprache nicht gibt, sondern nur poetisch verwendete Sprache, was schon dadurch auf der Hand liegt, daß jede Alltagssprache voller poetischer Elemente ist« (Poesie und
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Eben das ist der Punkt: Die poetische Funktion unterstützt z.B. in der Werbung die appellative Funktion, ist ihr untergeordnet. Die sich aufdrängende phonetische Wiederholungsstruktur in »I like Ike« unterstützt so die Appellstruktur der Werbeaussage, der »horrible Harry« hat in dieser Hinsicht die Aufgabe, die emotive Funktion zu betonen, nämlich die Nachricht affektiv aufzuladen, um in der entautomatisierten Sprachverwendung die Nicht-Normalität des Sprechakts zu signalisieren.49 Die Kommunikationsfunktion der poetischen Sprachfunktion ist also die mimetisch-emotive Aufladung des Inhalts der Aussage, nicht die performativ-selbstreferentielle Bloßlegung der Aussage in ihrer Gemachtheit. In der im ›lebensweltlichen Kontext‹ getätigten Aussage über den »horrible Harry« kann die poetische Funktion (durch die Paradigmatisierung des phonetischen Syntagmas) stark wirken, sie ist jedoch daraufhin eingesetzt, in der konkreten Kommunikation hinter der emotiven Funktion zurückzustehen und sich ihr unterzuordnen. Die Mahler’schen Kategorien der mimetischen und performativen Kommunikationsfunktion erweitern Jakobsons innertextuelle Sprachfunktionen um eine pragmatische Dimension im Rahmen einer konkreten literarischen Kommunikation.50 Was Mahler für Lyrik in Anschlag bringt, ist zunächst
Imagination, 260, meine Herv.). Erst durch die pragmatische Setzung, dass ein Text Literatur ›ist‹ (also die poetische Funktion dominant gesetzt wird), kann die emotive Funktion – aus der hegelianischen Tradition heraus, wie sie gerade dargestellt wurde – als Distinktionskriterium zu den Gattungen Epik und Drama dienen und wird in dieser Sicht zum prototypischen Merkmal. 49 Doch Stierles Kritik ist aus pragmasemiotischer Sicht zu entschärfen: Ob die poetische Funktion dominant wirkt oder Hilfsaufgaben übernimmt, entscheidet die co- und kontextuelle Verwendung. 50 So argumentiert z.B. auch Jonathan Culler. Für ihn ist Literatur und speziell Lyrik »less […] a property of language [than] a strategy of reading« (Culler, Structuralist Poetics, 163). Diese pragmatische ›Definition‹ bezeichnet das hier angelegte Verständnis von Lyrik. Erst der Blick der/s Rezipierenden entscheidet über die Seinsweise des Objekts, eben auch darüber, ob das Objekt Lyrik ist, oder nicht. »Das heißt, dass sie [Dichtung] also keine Qualität des Textes, sondern Resultat des Verhaltens des Lesers ist.« (Dahlerup, Dekonstruktion, 8).
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eine Beschreibung jeder kommunikativ, also pragmatisch fundierten Aussage. Für ›poetische‹ Texte im Besonderen gilt jedoch: »Whereas ›ordinary‹ text-making tries to ensure the (transparent) transmission of (semantic) content by concealing its paradigmatic aspect and naturalizing the syntagmatic order, ›poetic‹ text-making (self-reflexively) explores the two aspects before it finally tilts into naturalization (mimetic reading) or into the foregrounding of its artificiality (performative reading).« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 236, Fn 66)
Poetische Aussagen haben also die Möglichkeit, die Struktur von Aussagen, die sich auf den Sinn hin transparent machen, zu kopieren. Sie können aber auch diese Transparenz durch ihre eigene Gemachtheit ›verdunkeln‹. In diskurstheoretischer Hinsicht kann für lyrikhafte Aussagen formuliert werden: Sie haben das Potential, diskursiv zu werden, wenn sie sich Diskursivierungsstrategien bedienen und ihr énoncé in den Vordergrund stellen. Ihre prototypische Überstrukturiertheit jedoch wirkt dem entgegen (oder besser: kann dem entgegenwirken) und markiert die Seite der énonciation. Als prototypischerweise von wissensdiskursiver Alltagssprache (qua Überstrukturiertheit) abweichender Sprechmodus ist Lyrik dazu prädestiniert, den Blick auf die zwei Seiten von Text und Sprache zu richten: auf diejenige Seite, die sich auf etwas anderes bezieht als auf sich selbst, und auf diejenige Seite, die sich auf sich selber bezieht. »The mimetic and the performative can thus be seen as two co-present yet divergent forces operating on a sliding scale foregrounding (and backgrounding) the one to the detriment of the other.« (Ebd., 226) Einem Text, dem Lyrikhaftigkeit zugeschrieben wird (oder: der sich diese Qualität durch prototypischen Sprach- und Formgebrauch sowie die Situierung in einen Lyrikhaftigkeit verleihenden Co- und Kontext erschreibt), weist Mahler nun die Möglichkeit zu, seine poetische Sprachfunktion als marker für die Performativität der Aussage einzusetzen, diejenige Seite der Nachricht also in den Vordergrund zu stellen, die nicht nur ihre Materialität im Kommunikationsprozess ausstellt,51 sondern ihre Tex-
51 Diese Seite der Nachricht ist durch die phatische Sprachfunktion sensu Jakobson abgedeckt.
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tualität und damit ihre Produktion von Bedeutung – i.e. ihre Diskursiviertheit – in den Vordergrund stellt.52 Plumpe formuliert dies so: »Die poetische Rede schöpft Möglichkeiten der Sprache aus, die im zielgerichteten Gebrauch nicht genutzt werden, gerade dadurch aber zeigt sie die Strukturen und die Funktionsprinzipien der gewöhnlichen Sprache auf. Wenn im Gedicht der normale Sprachgebrauch verfremdet und überformt wird, so eröffnet es die Möglichkeit, der Sprache bei der Arbeit zuzusehen: zu beobachten, nicht nur woraus die Formen bestehen, die wir benutzen, sondern auch, wie die Effekte entstehen, denen wir im normalen Sprachgebrauch erliegen: nämlich das Gesagte abzulösen vom Sagen und z.B. als ›Wirklichkeit‹ zu betrachten, was sprachlich bedingt, konstruiert und vermittelt ist.« (Plumpe, Kant bis Hegel, 34)
Bezogen auf Erkenntnisinteresse und Untersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit heißt das: Wenn Lyrik darauf verweisen kann, dass es keine stabile, transparente Relation zwischen Wort und Sache gibt, lässt sich folgern, dass Lyrik(-haftigkeit) bevorzugt dazu genutzt werden kann, sprachlich induzierte Wahrheiten – z.B. ›Wahrheiten‹ über ›die Homosexualität‹ in nicht-literarischen Diskursen – zu dekonstruieren, als sprachliche Konstrukte bloßzulegen, Diskurse ihrer wahrheitsförmigen Deckung zu entkleiden. Diese Diskursreaktivität ist es, die Foucault mit »›contre-discours‹« bezeichnet hat. Ob die poetische Funktion jedoch tatsächlich als marker einer performativen Kommunikationsfunktion wahrgenommen wird, oder lediglich als dienender Schmuck (z.B. zur Emotivierung der Aussage oder der Nobilitierung des Sprechgegenstandes), ist schließlich abhängig von der aktualisie-
52 Mahlers Konzeption steht in direkter Folge zur Denktradition des russischen Formalismus und tschechischen Strukturalismus. So heißt es z.B. bereits bei Mukařovský: »gerade aufgrund ihrer ästhetischen ›Selbstzweckhaftigkeit‹ ist die Dichtersprache vor allem dazu geeignet, das Verhältnis des Menschen zur Sprache und der Sprache zur Wirklichkeit ständig neu zu beleben, die innere Zusammensetzung des Sprachzeichens neu zu enthüllen und neue Möglichkeiten seiner Anwendung aufzuzeigen.« (Mukařovský, »Über die Dichtersprache«, 146).
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renden Lektüre.53 Historisch betrachtet ist im westlichen Kulturraum sogar die mimetische Funktion lyrikhafter Texte dominant: »Historically, Western poetry, as most Western art, has for a long time been marked by a strong mimetic bias […] this drift towards illusion is enhanced by the classicist ideal of transparency expanding the principle of iconicity from the (syntactically determined) phonological level to practically all levels of textualization with the result of making poetry the mere instrument for presenting the (more or less) stable semantics of ›What oft was thought, but ne’er so well express’d‹.« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 226)
Mahlers Überlegungen können nun in diskurstheoretischer Richtung ausgebaut werden: Poetische Texte sind solche Aussagen, die die Struktur der (vermeintlich reinen) Referentialität von Sprache und der gleichzeitig (meist unsichtbar) wirkenden Performativität von Sprache qua poetischer Funktion in besonderer Weise als Struktur sichtbar machen (können). Was im normalen, informationsvermittelnden, also diskursiv eingebetteten, und, damit einhergehend, automatisierten Sprachgebrauch unsichtbar bleibt, kann in lyrikhaften Texten deviationsästhetisch durch die Paradigmatisierung der poetischen Aussage entautomatisiert, also beobachtbar gemacht werden: ihre hervorbringende, performative Seite.54 Wie oben bereits angesprochen beschreibt Warning dies als Ausrichtung entweder auf »das Aus-
53 Das künstlerische Konzept des Ready-Made fußt eben auf dieser Translation, der co- und kontextuellen Umbettung aus einem funktionsorientierten Zusammenhang in einen eigenfunktionsorientierten Zusammenhang. Im Bereich der Literatur kann hier wiederum auf Handkes »Aufstellung des 1. FC Nürnberg« verwiesen werden. 54 Die Entautomatisierung wirkt dabei deviationsästhetisch in zwei Richtungen: Einmal, extraliterarisch, um einen neuen Blick auf die Welt zu provozieren, und einmal, innerliterarisch, um eingeschliffene literarische Kommunikationsformen zu entautomatisieren. Mahler macht darauf aufmerksam, dass der Blankvers im Englisch zum einen poetisch gebildet ist, durch die wiederholte und dadurch automatisierte Rezeption jedoch in vielen Kontexten seine verfremdende Funktion eingebüßt hat und so wie mimetische Sprachverwendung wirken kann.
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gesagte, de[n] ›énoncé‹« oder auf den »Aussageakt‹, die ›énonciation‹« (Warning, Heterotopien, 24f.). Abschließend sei das bislang umrissene Verhältnis zwischen inner- und außerliterarischer Diskursivität im Hinblick auf das spezifische Untersuchungsobjekt vorliegender Arbeit zusammengefasst: Diskursformationen bilden ihre Aussagen zu festen syntagmatischen Reihen, indem die Auswahl der Syntagmen und ihre Kombination natürlich und logisch erscheint – bzw. als Auswahl gar nicht in den Blick gerät. In gefestigten, historischen Apriori unterworfenen und von Dispositiven geregelten Aussageformationen entstehen so feste Matrizen möglicher logisch-natürlicher Verknüpfungen. Für Genderkonstellationen gelten Matrizen aus sex, gender und desire genau dann als natürlich-logisch, wenn sie den Individuen folgendermaßen zugeordnet werden können: Mann-männlich-heterosexuell oder Frauweiblich-heterosexuell. Dass für diese Korrelation jedoch eine poietische (nämlich hervorbringende, erschaffende) Operation der Auswahl aus den unendlichen Paradigmen (der potentiell unendlichen Kombinierbarkeit von Individuen, die von sex, gender und desire diskursiv aufgeteilt und geordnet werden) erfolgen musste, verschleiert ein heteronormativer Diskurs; durch wiederholtes, reglementiertes Sprechen stellt er sich als natürlich, mimetisch dar – auch und besonders durch das Sprechen über die ›unnatürlichen‹ Matrizen z.B. der Homosexualität (aber auch die Päderastie, die Onanie uvm.) oder durch Versuche, die Devianzen wieder in eine ›logische‹ Matrix hereinzuholen.55 Schließlich kann lyrikhafte Deviationsästhetik also mit Diskursreaktivität gekoppelt werden: Lyrikhafte Aussagen können, wenn sie über Homoerotisches sprechen, entweder Homosexualitätsdiskursen entsprechen, indem sie ihre eigene mimetische Kommunikationsfunktion stark machen und ihre Lyrikhaftigkeit in den Dienst des faire-parler stellen; diese Diskursreaktivität entspricht Foucaults discours ›en-retour‹. Oder sie stär-
55 Diese Strategien der ›Wiedereingliederung‹ in Gedichten werden in Kapitel 3 behandelt. Das proliferierende Sprechen über die Devianzen von der Norm nimmt die Queer-Wissenschaft zum Ausgangspunkt der Dekonstruktion des natürlichen Originals: Konstituiert es sich doch in dieser Hinsicht gerade erst negativ, als Sekundäres, über das Reden über das Andere.
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ken ihre performative Kommunikationsfunktion, um nicht nur die eigene Gemachtheit auszustellen, sondern damit zugleich die Konstruiertheit diskursiver Aussagen über Homosexualität gegenüber ihrer vermeintlichen Natürlichkeit und Referentialität zu profilieren – in diesem Fall läge, mit Foucault, ein contre-discours vor. 2.2.3 Differenzierungen: koalitionäre, dissidente und subversive Diskursreaktivität von Lyrik Natürlich kann jede (lyrikhafte oder nichtlyrikhafte) Aussage auf ihre performative Seite hin gelesen werden. Dies ist genau die Lektüremethode, die die Queer Studies zentral betreiben. In Lesarten ›gegen den Strich‹ nehmen sie die hervorbringende Seite von Aussagen innerhalb des Dispositivs der Heteronormativität in den Blick.56 Mahler macht diesen Umstand explizit, indem er von »mimetic reading« und »performative reading« (»Pragmasemiotics« 236, Fußnote 66) spricht. Jeder Text – oder besser: jede Lektüre – muss durch die beiden Aspekte der poetischen Kommunikation hindurch. Das muss im Umkehrschluss jedoch nicht heißen, dass, nur weil ein Text »überstrukturiert« (Link, ›Lyrisches Gedicht‹, 205ff.) ist, diese Überstrukturierung auch die Funktion hat, einen Entautomatisierungseffekt in der Rezeption auszulösen. Wie erwähnt kann ein Text seine Überstrukturiertheit auch für die (Selbst-)Aussprache in einem besonders emotionalen oder nobilitierenden Kontext nutzen, also versuchen, das recto-verso-Spiel zugunsten der mimetischen Kommunikationsfunktion anzuhalten. So lassen sich lyrikhafte Aussagen finden, die ihre mimetische Funktion derart stärken, dass ihre eigentlich hervorbringende Seite verdeckt wird. Im Hinblick auf die Untersuchungsobjekte der vorliegenden Arbeit soll ein etwas anderer Weg beschritten werden als bei Mahler. Hier geht es nicht nur um einen möglichen »epiphanous moment« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 231), der beim Lesen durch die letztliche Unentscheidbarkeit zwischen performativer und mimetischer Kommunikationsfunktion im Rezeptionsvorgang hervorgerufen werden kann, sondern die Texte werden da-
56 Zur prekären Potentialität der Wahrnehmung entweder stabilisierender oder destabilisierender geschlechtlicher Sinnstrukturen bei Judith Butler, vgl. 6.1.4.
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nach befragt, wo sie sich auf der »sliding skale« zwischen Mimesis und Performanz verorten lassen. Zur Differenzierung werden daher drei Analysekategorien vorgeschlagen: Zum einen diskursmimetische Texte, die sich in lyrikhaften Modi des Sprechens in und über Diskurse der Homosexualität koalitionär zu diesen verhalten, mit Foucault also als discours ›en retour‹ wirken. Es handelt sich dabei um solche Gedichte, die das prototypische »Sichaussprechen« des Subjekts in Lyrik dominant setzen – lyrikhafte Merkmale funktionalisieren sie mimetisch. Damit schwächen sie ihre performative Kommunikationsfunktion (gegen Null) und stärken dafür ihre mimetische Kommunikationsfunktion. Sie reproduzieren gefestigte Diskursformationen, indem sie die eigene Poetizität konsensual in den Dienst der diskursiv vorgegebenen Selbstaussprache stellen. Die von Eve Kosofsky Sedgwick herausgearbeiteten Grundkategorien der kultursemiotischen Herstellung von Homosexualität bieten sich hierfür als gendertheoretisch fundierte, dabei jedoch immer literaturwissenschaftlich vorgehende, Analyseraster an. Demgegenüber stehen zwei zu unterscheidende dissensuale Reaktivitäten, die als contre-discours wirken: Diese werden im Folgenden als dissident und subversiv bezeichnet. Dissidente Texte forcieren das mimetischperformative Kipp-Spiel und halten das Vexieren von Performanz und Mimesis unentscheidbar in der Schwebe. Durch die Aneignung und neu kombinierende ré-écriture etablierter hetero- wie auch homosexueller, literarischer wie lebensweltlicher Diskurse erschreiben sie sich ›taktische Subjektpositionen‹, die sich nicht einfach in Wissensdiskursen verrechnen lassen. Letztendlich steht dieses Schreiben im Zeichen der Subjektkonstitution mit dem Ziel der Etablierung eines Sprechraums, der einen dissidenten Nebenraum zu den modernen (Homo-)Sexualitätsdiskursen einnimmt. Diesem dissidenten lyrikhaften Sprechen wird eine subversive Gegenrede beigestellt. In ihr vollzieht sich ein Ebenensprung von der Diskursebene auf ein metadiskursives Niveau: Die Konstruiertheit der Diskurse, ihre Diskursiviertheit, wird dadurch sichtbar. Die für die Existenz des Diskurses notwendige Natürlichkeit erscheint nun als Konstrukt, da die performative Kommunikationsfunktion der Gedichte ihre mimetische letztlich überlagert. Die Diskurshaftigkeit der aufgenommenen Diskurse stellen sie aus, wenn sie ihre eigene performative Seite in den Vordergrund stellen, indem sie ihre in ein Wechselspiel mit der mimetischen Funktion eintreten und das poetische Kipp-Spiel schließlich zugunsten der Seite der Performanz anhal-
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ten. Aufgenommenen Diskursen blüht damit dasselbe: Sie werden in ihrer Gemachtheit statt ihrer Natürlichkeit sichtbar. Die Emergenz von Subjektivität wird mithin auf einer Metaebene obsolet, die Konstruktionsweise des Emergierens als Effekt von Machtrhetoriken wird ausgestellt. Judith Butlers an Jacques Derrida angelehntes Konzept travestierter Geschlechtlichkeit (drag) wird dafür eines der Beschreibungsmodelle bieten. Dabei sind die Begrifflichkeiten ›koalitionär‹, ›dissident‹ und ›subversiv‹ ebenso tentativ, wie die hier angebotenen drei Kategorien, die sie bezeichnen. Es geht jeweils darum, Ansätze der Gendertheorie für die lyrikologische Forschung mit diskursanalytisch geprägter literaturwissenschaftlicher Analyse zu verbinden und anhand von Gedichtinterpretationen auf ihre Produktivität hin zu prüfen. Dabei ist kein erschöpfendes Analyseraster gegeben, sondern eine nach verschiedentlicher Erweiterung verlangende Propädeutik. Diverse Erweiterungen sind dabei durchaus denkbar: auf andere kulturwissenschaftliche Katergorien (race, class, age – und nicht zu vergessen weibliche Homoerotik!), auf andere Gattungen (wie den Briefroman oder die Autobiografie), nach weiteren kulturphilosophischen Konzepten (vielleicht Michel Serres’ Konzept des Parasitismus oder Roland Barthes’ Liebesfragmentarik) sowie auf andere Medien. Zumindest zum letzten Punkt werden im abschließenden Kapitel Vorschläge gemacht.
3. Discours ›en retour‹: Koalitionäre lyrikhafte Diskurse
L’aveu a diffusé loin ses effet […] et dont on fait des livres. MICHEL FOUCAULT1
3.1 D ISKURSPRODUKTION › EN RETOUR ‹: H OMOSEXUELLE W I ( E ) DERREDE Im Folgenden werden zunächst Gedichte vorgestellt, die dem Sexualitätsdispositiv und damit den Diskursen über die Homosexualität das Wort reden – solche Gedichte also, die eine diskursreaktive Wi(e)derrede, ›en retour‹ vollziehen. Lyrikhaftigkeit nutzen sie zur mimetischen Selbstaussprache, ihre performative Kommunikationsfunktion schieben sie in den Hintergrund und sichern sich im Modus der Lyrikhaftigkeit feste subjektive Sprechräume. Damit gehorchen sie dem diskursivierenden faire-parler des homosexuellen Subjekts. Die Unterscheidung zweier grundlegender Kategorien von Homosexualitätsdiskursen, die Eve Kosofsky Sedgwick für ihr Programm des queer reading ausgearbeitet hat, wird als theoretische Basis für den folgenden Abschnitt dienen. Sedgwick untersucht unterschiedliche Modelle der Konstruktion von Homosexualität als machtdiskursiv gesteuerte »konzeptuelle Großbelage-
1
Foucault, La volonté de savoir, 79; »Die Wirkungen des Geständnisses sind breit gestreut […] und daraus macht man dann Bücher.« (Wille zum Wissen, 62f.).
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rung[en]« (Sedgwick, »Epistemologie des Verstecks«, 138). Auf semiotischer Grundlage beschreibt sie, wie über rhetorische Sinnzuschreibung (besonders über Sprung- und Verschiebungstropen) ein Objekt wie die Homosexualität erst hergestellt wird. Ihre Analyse richtet sich mithin darauf, wie unter dem Denkraster der Heteronormativität Diskurse der Homosexualität entstehen können. Die ›semiotischen Großbelagerungen‹, denen weiterhin nachgegangen werden soll, um die koalitionäre Rhetorik der folgenden Gedichte näher zu beschreiben, sind raumlogisch angelegte ›Tropografien‹ der heteronormativen Geschlechtsidentität homosexueller Individuen.2 Eine dieser von Sedgwick herausgearbeiteten Tropografien operiert gleichzeitig inversiv und transitiv. Demnach sind Homosexuelle ›invertiert‹, weil ihr sichtbares körperliches Geschlecht (sex) nicht ihrer Geschlechtsidentität (gender) und ihrem Begehren (desire) entspricht. Das Konzept des »dritten Geschlechts« von Magnus Hirschfeld hat z.B. diese tropografische Basis – hier finden sich die »›weibischen Männer‹ und ihre männlichen Schwestern« (ebd., 138). Ein weiterer bekannter Vertreter dieser Tropografie der Homosexualität ist der bereits erwähnte Karl Heinrich Ulrichs, der mit seinem berühmten Diktum von der »anima muliebris in corpore virili inclusa«, der im männlichen Körper eingeschlossenen weiblichen Seele, eine proto-transsexuelle Semiotisierung des Homosexuellen betrieb.3 In seiner Beschäftigung mit antiken Texten (er-)findet er die Bezeichnung »Urninge« für solche innerlich weiblichen, äußerlich männlichen Individuen.4 Auf der Grundlage dieser Inversion des homophilen Individu-
2
›Tropografie‹ soll gegenüber dem Begriff ›Topografie‹, der auf die metaphorische Räumlichkeit geschlechtlichen Sinns abhebt (z.B. die Trope des ›Verstecks‹, closet, bei Sedgwick), darauf aufmerksam machen, dass Sedgwick ein Lektüremodell für literarische Texte vorgeschlagen hat. Was sie speziell mit Erzähltexten und der Narration von Geschlecht verbindet, soll hier auf Lyrik angewendet werden.
3
Zur tropischen Konstruktion bei Ulrichs aus soziologischer Sicht siehe: Volker
4
›Urning‹ kommt von Uranus, dem gegenüber die ›heterosexuellen‹ Dioninge,
Weiß, Richtiges Geschlecht?. von ›Dione‹, stehen. Ulrichs entnimmt dies für den ersten Teil seiner Studien, Vindex, aus folgender antiken Quelle: »eine poetische Fiction Plato’s leitet nämlich den Ursprung der mannmännlichen Liebe ab vom Gotte Uranus, den der
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ums wird auch zwischen Individuen desselben körperlichen Geschlechts ein heterosexuelles und damit transitives (also die Geschlechtergrenze überschreitendes) Begehren möglich: »Begehren nährt sich dieser Ansicht nach per definitionem an jenem Strom, der zwischen einem männlichen und einem weiblichen Selbst fließt, in welchem körperlichen Geschlecht auch immer das jeweilige Selbst sich manifestieren mag.« (Sedgwick, »Epistemologie des Verstecks«, 139) Das Begehren funktioniert in dieser inversivtransitiven Tropografie der Homosexualität also immer im Überschreiten der Grenze vom eigenen Geschlecht (gender) zum anderen, wenn auch zwischen Individuen desselben sex. Auf diese Weise wird – so paradox dies zunächst klingen mag – die »Erhaltung einer essentiellen Heterosexualität« (ebd., 138) auch in homosexuellen Konstellationen gewährleistet. Eine weitere wirkmächtige tropografische Kategorie bezeichnet Sedgwick als ›separatistisch‹. Separatistische Tropen der Homosexualität basieren auf einer Semantik der Identifikation, d.h. der Gruppenbildung; teilen sich Individuen viele Gemeinsamkeiten, wirkt sich dies auch auf sexueller Ebene aus, Selbstidentifikation und Begehren fallen in eins. Aus dieser Sicht ist es, so Sedgwick, »die natürlichste Sache der Welt, daß Menschen desselben Geschlechts (gender), Menschen, die sich unter einem einzigen, in höchstem Maße determinierenden Unterscheidungsmerkmal sozialer Organisation gruppieren, Menschen, deren ökonomische, institutionelle, emotionale, physische Bedürfnisse und Kenntnisse sehr viel gemein haben können, sich folglich auch auf der Achse des sexuellen Begehrens miteinander verbinden sollten.« (Ebd., 139)
Der Sexologe Benedict Friedländer argumentierte auf dieser Grundlage, wenn er gerade die Männlichkeit der Homosexuellen als Differenzkriterium gegenüber einer als defizitär eingeschätzten Weiblichkeit setzt und der Gemeinschaft der Homosexuellen damit eine gruppenstiftende Gemeinsamkeit verleiht.
Weiberliebe von der Dione« (Ulrichs, Vindex, 2). – eine »poetische Fiction« kann hier erstaunlicherweise die Basis seiner lebensweltlichen Wissenschaft bilden.
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Wie Sedgwick überzeugend feststellt, ist es zwischen diesen beiden wirkmächtigsten, aber auch an sich widersprüchlichen (ja, inkommensurablen), Homosexualitätsdiskursen auf hochkomplexe Weise zu Verschränkungen gekommen. Lesarten à rebours, also queerwissenschaftliche Lesarten im Dienste einer Heteronormativitätskritik, welche die Ungereimtheiten und damit fehlende logische Basis der Heteronormativität ergründen, würden eben nach solchen widersprüchlichen Vermischungen in einem literarischen oder kulturellen Text fahnden. Sedgwicks Projekt des queer reading zum Aufspüren solcher Inkohärenzen in der Beschreibung der Homosexualität wird hier dem gegenüber zugunsten eines Nachvollziehens der unterschiedlichen Positionen nicht weiter verfolgt. Es wird darum gehen, in klar dem einen oder dem anderen Modell zuzuordnenden Gedichten die jeweilige Konstruktionen ›mitzulesen‹.
3.2 W IEDERREDE : INVERSIV - TRANSITIVE T ROPOGRAFIEN 3.2.1 Karl Heinrich Ulrichs: »Lieber ist mir ein Bursch« Exemplarisch für den frühen Übergang der wissenschaftlichen Wahrheitsdiskurse über die Homosexualität ins Diskursfeld des Lyrikhaften ist Karl Heinrich Ulrichs. Ulrichs’ sexologische Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe (1864-1879) befassen sich mit dem Beweis des folgenden »Fundamentalsatz[es]«: »Die Natur ist es, die einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau weibliche Geschlechtsliebe giebt, d.i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern.« (Inclusa, 1)
Dieser Satz ist beispielhaft für Sedgwicks inversiv-transitive Tropografie zur Aufrechterhaltung der Heteronorm durch Naturalisierung. Ulrichs hat jedoch nicht nur wissenschaftliche Arbeiten, sondern auch poetische Text über die mannmännliche Geschlechtsliebe geschrieben. Wolfram Setz bescheinigt ihm sogar in der kurzen »Vorbemerkung« zur Sammlung von Matrosengeschichten und Gedichte ein gewisses dichterisches Geschick:
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»Schon Ulrichs’ ›Forschungen‹ sind keineswegs gelehrte Traktate, sondern ein Begleitbuch zu seinem Kampf um gleiches Lebensrecht für Urninge wie für Dioninge, geschrieben von einem, der mit der Feder umzugehen wußte, der je nachdem nüchtern-kämpferisch, bissig-ironisch oder auch pathetisch und humorvoll formulieren konnte.« (Setz, »Vorbemerkung«, 6f.)5
Dabei scheut sich Setz zu Recht nicht vor einer eins-zu-eins-Übertragung des Menschen und ›Urnings‹ Ulrichs in seine literarischen Texten: »Unter den Zeugnissen urnischen Lebens, die er gesammelt hat, stehen auch seine eigenen Gedanken und Ängste, seine Phantasien, Vorlieben und Sehnsüchte. Ihren deutlichsten Ausdruck fanden sie in den Liebesgedichten, die zum Teil auf ein konkret genanntes Gegenüber bezogen sind und so Ulrichs’ Lieben und Leiden nacherleben lassen, daneben aber auch quasi Sinnbilder urnischer Liebe formulieren.« (Ebd., 7)
Die zwei von Ulrichs selbst herausgegebenen Gedichtbände, »Auf Bienchens Flügeln. Ein Flug um den Erdball in Epigrammen und poetischen Bildern« (1875) und »Apicula Latina. Lateinische Studentenlieder« (1880), erscheinen Setz so jeweils als »poetisches Tagebuch« (ebd.). Tatsächlich verfolgt Ulrichs mit seinem literarischen Schreiben ein politisches Ziel. So steht es auch in der Satzung des Urningsbunds, den Ulrichs gründete: Dessen Aufgabe sei es u.a. »eine urnische Literatur zu gründen« (zit. in: Kennedy, Ulrichs, 147).
5
Auch publiziert Ulrichs Briefe zur Selbstrechtfertigung zusammen mit den seinen wissenschaftlichen Studien. »Mich zu rechtfertigen, und zwar vollständig zu rechtfertigen, ist mir jetzt geradezu Lebensaufgabe« schrieb Ulrichs in einem Brief, der von Hirschfeld 1899 im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen aufgenommen wurde. In diesem Brief, der persönliche Beichte ist, aber auch wissenschaftliches Traktat, wird seelisches Empfinden »umstandslos zur wissenschaftlichen Erkenntnis«, wobei Ulrichs »Erkennen und Empfinden, zunächst nur das eigene, später auch das anderer in eins« setzt. (Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, 157).
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Dieser Verzahnung von wissenschaftlichen Aussagen über die und Selbstaussagen von der Homosexualität wird im Folgenden nachgegangen: Zur lebensweltlichen Anbindung, so die hier vertretene These, inkludiert Ulrichs auch in seine sexologischen Abhandlungen ein (mit großer Wahrscheinlichkeit selbstverfasstes) Gedicht als Beispiel der urningischen Lebensweise. Diese Nähe soll als ein erstes Indiz dafür genommen werden, dass die literarischen Aussagen bei ihm keine konterdiskursive Kraft ausbilden (sollen), sondern sich mimetisch mit dem Sexualitätsdiskurs auseinandersetzen. Der Einsatz von Gedichten wirkt hier also koalitionär als discours ›en-retour‹. Von einer rein biografischen Sicht – wie sie Setz praktiziert und damit nur Ulrichs’ Programmatik wiederholt – abstrahierend, soll auf diskursanalytischer und textzentrierter Basis argumentiert werden, um die ideologische Basis in Ulrichs’ Schreiben herausarbeiten zu können: Es geht um die Literarisierung, genauer, um die Übertragung ›seines‹ inversiv-transitiven Homosexualitätsdiskurses in die Lyrik und somit um die Ausdehnung eines der Diskurse über die Homosexualität ins Literarisch-Lyrikhafte. Im zweiten Band der Forschungen mit dem Titel »Inclusa.« findet sich das zu besprechende Gedicht. »Lieber ist mir ein Bursch« könnte mit seinem Abdruck 1864 das erste Gedicht sein, dass man dezidiert und im starken Sinne als ›homosexuell‹ bezeichnen kann. Da dieses Gedicht so eng in den wissenschaftlichen Text eingewoben ist, muss hier, neben dem Scan der Doppelseite (Abbildung 1 und 2), der textuelle Rahmen um das Gedicht wiedergegeben werden. Im § 40 hatte Ulrichs davon gehandelt, dass »von einem kräftig und blühend gebauten Körper eine [sic] belebenderer magnetischer Strom ausgeht, als von einem schwächlichen, mag auch der Geist, welchen dieser schwächlichere Körper beherbergt, noch so klug und gebildet sein.« Der § 41 soll nun mit einem Gedicht diesen Umstand verdeutlichen; Ulrichs schreibt: »Dem entsprechen ganz folgende Verse eines Urnings,« (ebd., 30) 1 Lieber ist mir ein »Bursch«, vom Dorf, mit schwellenden Gliedern, 2 Als das feine Gesicht eines blassen städtischen »Jünglings« (d.i. eines unmännlichen). 3 Lieber ist mir ein Reiter zu Rosse oder ein Jäger, 4 Und der Matrose an Bord.
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An dieser Stelle wird der Gedichttext vom wissenschaftlichen Text unterbrochen: »Schon das Wort ›Jüngling‹ ist uns nicht männlich genug.« Es folgt § 42, der über die »bezaubernde Uebergewalt der Soldaten für das Mädchenherz« handelt, um dann den zweiten Teil des Gedichts folgendermaßen einzuleiten: »Ganz dieselbe Uebergewalt findet nun auch ganz entschieden beim Urning statt. Jene sehr offenherzigen Verse melden weiter:« 4
Doch unter allen die liebsten:
5 Das sind mir die Soldaten, die jungen stattlichen Krieger; 6 Sei es die hohe Gestalt blauäugiger schmucker Gardisten, 7 Oder blonde Husaren, mit blühendem Flaum auf den Lippen, 8 Die mit kräftigem Schritt und klirrendem Sporn mir begegnen, 9 Und nicht wissen, wie schön sie doch sind, und wie mächtig ihr Anblick.
Das Gedicht ist im Hexameter abgefasst.6 Der hier, sozusagen in der Fiktion des wissenschaftlichen Textes, eingesetzte Autor-Urning schreibt sich mit diesem Versmaß in die griechisch-römische Tradition der epischen Verserzählung7 und in die deutsche klassische Tradition eines Klopstock, Goethe und Schiller ein. Der Sekundärcode der Metrik verleiht so dem Gegenstand, der (homosexuellen) Liebe zu Soldaten und anderen männlichen Männern, hochliterarische Weihen. Hier kommt also jene Funktion lyrikhafter Rede zum Tragen, die im vorhergehenden Kapitel als Nobilitierung und Gravitierung des Redegegenstands durch die Gattung Lyrik beschrieben wurde.
6
Mit beweglichen Zäsuren nach dem 3. und 4. Longum, wobei in Vers 3 und 5 keine regeltreue Zäsur nach einem Longum stehen kann und in 7 nur schwerlich setzbar ist.
7
Auch thematisch – als ›Soldateske‹ – steht das Gedicht in dezidierter Verbindung zu den antiken Hexameterepen.
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Abb. 1 und 2: Karl Heinrich Ulrichs, Seiten 30 und 31 aus Inclusa.
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Im Gedicht werden alle Register viriler Ikonografie gezogen: Die begehrte Virilität findet sich im Körper des Bauernburschen, vor allem aber in Gestalt des jungen, kriegerischen, uniformierten Soldaten. Homosoziale Lebensweise (»Matrose an Bord«4) und ein dezidierter Militarismus und Elitarismus (»schmucker Gardisten«6, »Husaren«7) spielen in dieser Konstruktion des virilen Mannes (»stattlich«5, »kräftig«8) die zentrale Rolle.8 Die Virilität der adoleszenten Liebesobjekte wird dadurch verstärkt, dass diesen dichotom der »Jüngling« als effeminiertes Gegenstück zugeordnet wird. Die Opposition wird noch durch das topische Lob des natürlichen, gesunden Landlebens (»ein ›Bursch‹, vom Dorf, mit schwellenden Gliedern«1) und der Schmähung des ungesunden Stadtlebens (»blassen städtischen ›Jünglings‹«2) unterstrichen und in einen größeren soziokulturellen Kontext gestellt.9 Damit ist »Lieber ist mir ein Bursch« ein früher Beleg für die virulente Diskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts über das psychisch ungesunde Stadtleben.10 Hegemoniale Männlichkeit wird hier unter homose-
8
Vgl. zur Homosozialität: Sedgwick, Between men. Zum hohen Renommee der Husaren zur Zeit des Erscheinens des Gedichts vgl. Neppel, Husaren, 49-66. Der Militarisierung des hegemonialen Männlichkeitsbildes um 1900 und dem damit einhergehenden »konstitutive[n] Zusammenhang von ›Nation‹ und ›Männlichkeit‹, von Vaterlandsliebe und Mannesmut, von Bürgertugend und physischer Kraft‹« geht Ute Frevert nach: Frevert, »Militär als Schule der Männlichkeit«, 146.
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Birgit Dahlke widmet sich unter der Frage, inwiefern »Adoleszenz als Krise hegemonialer Männlichkeit« um 1900 behandelt wurde, einer Schrift von Stanley Hall (Adolescense) von 1904. Dort wird dieser Stadt-Land-Diskurs einschlägig wissenschaftlich verhandelt: »Die größte Gefahr für junge Männer, aber zugleich auch für die Nation, sieht Hall in der Verweichlichung/Verweiblichung der Großstadtjugend.« (Dahlke, »Proletarische und bürgerliche Jünglinge, 121).
10 Diese Diskussion wird sich im psychoanalytischen Diskurs, besonders über die ›neue‹ Hysterie der Frau, verfestigen und zur Metanarration der nächsten Jahrzehnte werden. Zur allgemeinen Relevanz des (wissenschaftlichen) Großstadtdiskurses um 1900 vgl. z.B. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben.
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xuellen Vorzeichen mitkonstruiert.11 Die Erschreibung einer Gruppenzugehörigkeit geschieht an dieser Stelle über ein denunziatorisches othering nicht auf sexueller, sondern auf soziokultureller Ebene. Die geschlechtliche Subjektivität herstellende ›Pointe‹ dieses Textes ist also die ›neue‹ Dichotomisierung von virilem jungen Mann (»›Bursch‹«) und effeminiertem jungen Mann (»›Jüngling‹«). Die geschlechtsübergreifende Heteronorm bleibt dennoch gewahrt: Das lyrische Ich wird im wissenschaftlichen Text als innerlich weiblicher Urning ausgewiesen. Die Geschlechtergrenze wird also dem Begehren nach überschritten. Dies unterstützend muss das Liebesobjekt des Urnings umso männlicher dargestellt werden: »mit schwellenden Gliedern«1 und »mit kräftigem Schritt und klirrendem Sporn«8 bemühen daher eine starke sexuell-körperliche Bildlichkeit.12 Je eindeutiger das Liebesobjekt eines Urnings männlich ist, desto sicherer ist auch die inversiv-transitive Tropografie dieses Homosexualitätsdiskurses gewahrt. Wie beschrieben gibt der wissenschaftliche Textrahmen außerdem dezidiert Aufschluss darüber, wie das Gedicht zu verstehen ist. So soll sein erster Teil subjektives Zeugnis davon geben, dass das Begehren des Urning-Ichs ein dezidiert fleischliches, nicht geistiges ist – also den männlichen Körper zum Ziel hat. Der zweite Teil des Gedichts gibt Zeugnis davon, dass es tatsächlich die männlichsten unter den Männern, nämlich Soldaten, sind, nach denen es den Urning verlangt. An der zweiwertigen Logik (viril/effeminiert) darf kein Zweifel beim Leser des Gedichts entstehen, daher auch die paratextuelle Klärung des Begriffs, »(d.i. eines unmännlichen)«zu 2. Die paratextuelle Besorgnis um das richtige Verstehen der Zweiwertigkeit ist mithin nichts anderes, als die Sorge um die Aufrechterhaltung der grundlegend inversiv-transitiven Heteronormativität. Der lyrikhafte Text mit seiner großen (potentiell unendlichen) Interpretationsbedürf-
11 Dies zeigt z.B. Martin Lücke, »Komplizen und Klienten«, für die Homosexuellenbewegungen, die sich um 1900 formieren. 12 Außerdem muss sich Ulrichs’ Bild von Männlichkeit gegen die anderen Männlichkeits- und Unmännlichkeitsbilder der Zeit durchsetzen, so auch gegen den sublimierenden Schönheitsidealismus des 18. Jh. und besonders Winckelmanns. Vgl. dazu nochmals Brunotte, Männlichkeiten in der Moderne.
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tigkeit muss hier durch das Eingreifen des Autors in die eine, richtige Interpretationsbahn gelenkt werden. An dieser Intervention des Wissenschaftlichen in die eigentlich intendierte Aussprache des Eigenen wird ersichtlich, dass es sich in der Kombination aus lyrikhaftem und wissenschaftlichem Text nicht um ein gegenseitiges Unterlaufen, sondern vielmehr um eine gegenseitige Legitimation handelt. Damit ist das Gedicht auch Paratext für den wissenschaftlichen Text, es besitzt Legitimationsstatus für den wissenschaftlichen Diskurs. Diese wechselseitige Paratextualität wird jedoch in keine dialogische (Verhandlungs-)Situation verschiedener und gegenläufiger Subjektpositionen eingespeist.13 ›Dialogizität‹ im Bachtin’schen Sinne liegt hier nicht vor, da die ›inner-fiktional‹ voneinander geschiedenen Individuen (der wissenschaftliche Autor Ulrichs und der von ihm zitierte Urning) hinter den beiden Textsorten ein und dieselbe Subjektposition besetzen.14 In beiden Fällen spricht ein »Urning«: Einmal in der Sprache des wissenschaftlichen Diskurses und einmal in der Sprache der Lyrik: Keine verhandelnde oder womöglich subversive Dialogizität soll hier entstehen, sondern ein Monolog in zwei verschiedenen Sprechweisen mit jeweils gegenseitiger Legitimationsfunktion. Foucaults Begriff der ›Konsubstantialität‹ (vgl. Kapitel 2.1.4) zwischen Körper und inneren Eigenschaften des homosexuellen Subjekts wird hier zwischen den Textgattungen und den zwei Sprechersubjekten, dem Wissenschaftler-Urning und dem Dichter-Urning, hergestellt. Bei Ulrichs liest sich diese Konsubstantialität als einleitender Satz in § 41 so: »Dem [gerade Beschriebenen] entsprechen ganz folgende Verse« (meine Herv.). Der textuelle Phänotyp ist unterschiedlich, der Genotyp hingegen ganz derselbe. Auch grafisch wird die Kluft zwischen den Sprechweisen und Textsorten überbrückt: »›Jüngling‹« und »›Bursch‹« stehen jeweils in doppelten Anführungszeichen. Diese markieren hier keine uneigentliche, sondern eine zitierte Rede. Auf die Zitierung macht Ulrichs explizit aufmerksam: »Schon das Wort ›Jüngling‹ ist uns nicht männlich genug.« (Ulrichs, Inclusa, 30).
13 Vgl. dazu: Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. 14 Dass zudem noch anzunehmen ist, dass auch noch dasselbe Individuum, nämlich Ulrichs selbst, hinter beiden Texten steht, mag als weiteres belegendes Indiz der identischen Subjektpositionen angeführt werden, ist jedoch nicht zu verifizieren.
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In diesem Kommentar wechselt Ulrichs von der Objektebene auf die metasprachliche Ebene, um wiederum die Interpretation des Gedichts zu lenken. Dabei wird dem Leser außerdem bewusst gemacht, dass es sich bei den beiden Ausdrücken um lebensweltlich gebrauchte Bezeichnungen handelt: Es geht also in beiden Textsorten um eine Abbildung der tatsächlichen lebensweltlichen Situation der Gruppe der Urninge, also auch im lyrikhaften Text um eine mimetische Darstellung. Dies ist wiederum ein Beleg dafür, wie Ulrichs den lyrikhaften Text hier einsetzt und verstanden wissen will: Er ist mimetisch und transportiert in einer besonders schönen, hochwertigen Weise das Gemeinte, adelt es, stellt es in eine würdevolle Tradition der Höhenkammliteratur und führt damit eine Nobilitierung des eigenen ›neuen‹ Homosexualitätsdiskurses durch.15 Die performative Seite der Herstellung des Gesagten wird möglichst zurückgenommen. Der damit verbundene Aufwand ist enorm: Es bedarf eines höchst umfänglichen wissenschaftlichen Textes, um die möglichen konterdiskursiven Kräfte des lyrikhaften Textes zu bändigen. Die Differenz zwischen wissenschaftlichem und lyrikhaft-literarischem Text über die Homosexualität wird hier weitestgehend eingeebnet, um einen Wahrheitseffekt zu zeitigen: Eine parallele Legitimation durch Wissenschaftlichkeit und hochkulturelle Einbettung. »Lieber ist mir ein Bursch« nutzt außerdem und ganz zentral seine Lyrikhaftigkeit zum emotiven Sichaussprechen des Subjekts, wie es in Kapitel 2.1.2 herausgearbeitet wurde. Der Wissenschaftler Ulrichs nutzt eben dieses prototypische Attribut von Lyrik explizit, indem er dem eingelagerten Gedicht einleitend eine dezidiert emotive Funktion zuspricht, »[j]ene sehr offenherzigen Verse« (meine Herv.). Die identitätszentrierte Selbstaussprache
15 Diese Auffassung von Literatur zieht sich durch Ulrichs’ gesamtes literarisches Schaffen. Im Jahrgang 1859 der Zeitschrift Teut, dem offiziellen Organ der Junggermanischen Gesellschaft (einer literarischen Gesellschaft, die außerdem nationale Ziele verfolgte), schrieb Ulrichs ein politisches Gedicht, »Schlachtruf«, als lyrischer »Aufruf für ein vereinigtes Großdeutschland gegen den Erzfeind Frankreich (›Gen Frankreich richtet der Mündung Lauf‹)« (Kennedy, Ulrichs, 3). Auch hier gehen also Homosexualität und Lyrikhaftigkeit, diesmal auf der Ebene des (National-)Politischen, eine Liaison zum Zwecke der Agitation ein.
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hat hier mithin die Aufgabe, die objektiv-wissenschaftliche Aussage der ›Inclusa‹-Arbeit in einem anderen Sprechmodus zu bestätigen. Die dem Gedicht eingeschriebene Tragik ist, dass die Objekte des Begehrens von dem auf sie gerichteten Blick nichts wissen: Der Urning konstituiert sich ja gerade aus einem weiblichen Inneren. Der nach außen männlich wirkende Blick verrät so den wahren, weiblich fühlenden Kern nicht. Diese Liebe steht also noch im Zeichen der Nichterfüllung: »Und nicht wissen, wie schön sie doch sind, und wie mächtig ihr Anblick.«9 Doch was der Dichter im Leben nicht erreicht, erreicht er doch in besonderem Maße in und qua hoher Dichtkunst. Dieser Topos ist aus der (vor allem petrarkistischen) Liebeslyrik bekannt – gerade die sexuelle Nichterfüllung ist dort Antrieb zur textuellen Produktion. Betrachtet man diese sexuell-textuelle Struktur im Kontext des faire-parler – denn die ganze Studie ist ja auch eine Aufklärungsschrift –, so wird deutlich, dass erst und gerade in der doppelten Selbstaussprache, zum einen der wissenschaftlichen, zum anderen der lyrikhaften Beichte, das Innere vollständig aufgedeckt wird. Dabei gibt es zwei potentielle Adressaten: die beschriebenen Objekte des Begehrens und gleichzeitig die potentiellen Leser der Forschungen. Natürlich darf eine Lesart gegen den Strich, oder in der aktuellen Diktion – eine ›queere‹ Lesart, all diesen Legitimationsstrategien nicht auf den Leim gehen. Sie muss vielmehr zeigen, wie der Text die performative Seite von Aussagen über Sexualität gegenüber seiner vermeintlich mimetischen Seite zum Verschwinden bringen will. Des Weiteren ist eine Kritik am Logozentrismus des Aussprechens des Inneren gefragt, die zeigt, wie das Gedicht von seiner sekundären Schriftlichkeit in eine primäre Präsenz des Gefühls überführt wird. Eine diskursanalytische Lektüre à rebours hätte anhand dieser textuellen Eingelagertheit des subjektiven Sprechens in eine disziplinierende Aussageformation ein hochsignifikantes Beispiel dafür, dass Innerlichkeit immer schon Innerlichkeit eines Subjekts ist, wobei das Subjekt jedoch gerade durch die Inklusion in den wissenschaftlichen Text als eine nachträgliche Diskursgröße sichtbar wird.16 Dies aber wäre eben
16 Freilich wird unter Berücksichtigung der Aufhebung der Differenz zwischen Lyrischem und Wissenschaftlichem eine weitere Beobachtung möglich. Nämlich wird dadurch auch die performative Seite des wissenschaftlichen Textes sichtbar, die Hervorbringung ganz im Gegensatz zur angeblichen Beschreibung der
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eine Lektüre gegen den Strich, das Gedicht selber setzt einiges daran, all diese widerstrebigen Momente zu bändigen und einen koalitionären Diskurs im heteronormativen Sexualitätsdispositiv zu führen. Zu belegen ist diese Sicht auf das Gedicht damit, dass sich der Autor selber ständig einschalten muss mit seiner paratextuellen Sorge um das ›richtige‹ Verstehen des Textes. Bei einem so hoch artifiziellen Text, wie es ein Hexametergedicht ist, steht nämlich zu befürchten, dass die poetische Hervorbringung als Hervorbringung in ihrer Performativität sichtbar wird. Dies muss verhindert werden, damit die Konstruktion nicht ins Auge fällt. Der lyrikhafte Text darf nicht im Kunstsystem aufgehen, sondern soll hier als mimetische Abbildung einer Innerlichkeit verstanden werden. Es wurde gezeigt, dass Ulrichs’ Gedicht unter der ständigen Angst vor der performativen Funktion der Sprache einiges daran setzt, eine emotiv-mimetische Lesart zu provozieren. So erhält das homosexuelle Subjekt zusätzlich zum ihm angestammten objektivischen Wissenschaftsdiskurs einen neuen Sprechort in der subjektivischen Literatur, wo es seine innerste Stimme erheben kann und Zeugnis ablegen kann von der eigenen Sexualität. Dabei gehorcht Ulrichs dem faireparler des Sexualitätsdispositivs, stellt sich unter das »Joch des Geständnisses« (Foucault, Wille zum Wissen, 64), etabliert einen weiteren Diskurs über die Homosexualität und redet der Heteronormativität als discours ›en retour‹ das Wort. Ulrichs’ Einlagerung eines Gedichts in den wissenschaftlichen Text ist ein schlagendes Beispiel für die Herstellung wahrer Aussagen über die Sexualität in zwei Modi, im Modus der Wissenschaftlichkeit und im Modus der Lyrikhaftigkeit, also ein Beispiel für die »Überlagerung zwischen beiden Modalitäten der Wahrheitsproduktion: den Prozeduren des Geständnisses und der wissenschaftlichen Diskursivität.« (Ebd., 68)
Homosexualität. Die Wissenschaftssprache wird tropisch, uneigentlich und verliert mithin ihre vorgegebene rein mimetische Funktion.
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3.2.2 Adolf Brand: »Begegnung« Ein weiteres Beispiel (rund vierzig Jahre nach Ulrichs’ Forschungen) für den Übergang von soziologischen, rechtlichen, medizinischen und juridischen Diskursen, innerhalb derer über Homosexualität gesprochen wurde, hin zu dezidiert künstlerischen und literarischen Äußerungen ›der Homosexualität selbst‹, wird im Folgenden Gegenstand sein. Dass sich dieses neue Sprechen über die Homosexualität gerade in Deutschland stabilisieren konnte, hat soziokulturelle und mediale Gründe. So verfügte die aufkommende Homosexuellenbewegung mit Der Eigene – Ein Blatt für männliche Kultur, der »erste[n] Homosexuellenzeitschrift der Welt« (Hohmann, Der Eigene, 5), über ein zentrales Publikationsorgan, das von 1896 bis 1931 in Berlin erschien.17 Dabei legte es der Herausgeber Adolf Brand nicht nur darauf an, die unterschiedlichsten Strömungen der Homosexuellenbewegung in seiner Zeitschrift zu versammeln. Sie war außerdem als Zusammenstellung aller möglichen Themen konzipiert, die eine homosexuelle Leserschaft ansprechen konnten, »neben vielfältigen kulturpolitischen und gesellschaftskritischen Beiträgen vornämlich Erzählungen, Gedichte, Satiren, Romanauszüge sowie (Akt-)Fotos, Zeichnungen, Buchschmuck und Gemäldereproduktionen zu den Themenbereichen Homosexualität, mannmännliche Homoerotik, Jugendbewegung und Päderastie« (ebd.).
17 Zunächst 1896 »als Anarchistenblatt in der Tradition des Individualismus von Max Stirner gegründet« (Kennedy, Ulrichs, 279). Bereits 1870 war, so Kennedy (269-284) weiter, von Karl Heinrich Ulrichs eine erste »Zeitschrift für Homosexuelle« mit dem Titel Prometheus geplant, von der jedoch nur eine Ausgabe erschien. Ulrichs Projekt als »Zeitschrift für Homosexuelle« zu titulieren, ist freilich hier nicht passend, da der Begriff der ›Homosexualität‹ (zum ersten Mal nachgewiesen 1868 bei dem Schriftsteller Karl Maria Kertbeny) noch lange nicht als übliche Bezeichnung der mann-männlichen Liebe diente. Erst mit Krafft-Ebings Psychiopathia sexualis 1886 und sicherlich mit der Verwendung der Begrifflichkeit in Magnus Hirschfelds Die Homosexualität des Mannes und des Weibes 1914 kann korrekterweise von der vollständigen Etablierung des Begriffs und des damit verbundenen Diskurses gesprochen werden.
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Die im Eigenen etablierte Nähe zwischen außerliterarischen und literarischen Aussagediskursen – ganz parallel also, wie es schon an Ulrichs’ wissenschaftlich-lyrikhaftem Textverbund gezeigt wurde – soll als erstes Indiz dafür genommen werden, dass die literarischen Aussagen auch in diesem Fall keine konterdiskursive Kraft ausbilden, sondern sich mimetisch mit außerliterarischen und vorgeprägten literarischen Diskursen aktiv spiegelnd auseinandersetzen, also erneut nicht als contre-discours, sondern als discours ›en-retour‹. Im Januar 1905 erschien folgendes Gedicht von Adolf Brand:
Begegnung 1
Rehscheu floh zu mir Dein Blick,
2
Mainachtwarm und mild;
3
Schloss Dich tief ins Herze ein,
4
Holdes Engelsbild!
5
Knabe, schön und wunderbar
6
Stille Märchen blühn,
7
Wann wie Pfirsich zart und frisch
8
Deine Wangen glühn!
9
Wann der Wimper Schattendach
10
Birgt die dunkle Glut,
11
Dass ich möchte küssen Dich,
12
Herzlieb, fein und gut!
13
Nippen, Wildfang, Deinen Mund,
14
Wie die Englein tun,
15
Wann sie nachts, Dein Haupt im Arm,
16
Wie auf Rosen ruhn!
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Abb. 3: Adolf Brand, »Begegnung«.
Mit Andreas Mahler lässt sich wiederum ein »strong mimetic bias« in diesem Gedicht nachweisen; erneut ist Lyrik »the mere instrument for presenting the (more or less) stable semantics of ›What oft was thought but ne’er so well express’d‹« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 226). Einen ersten Anhaltspunkt dafür liefert uns bereits die Präsentation des Gedichts: Ihm ist eine Illustration (Abbildung 3) beigegeben, deren Aufga-
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be allein darin besteht, den Text zu dekorieren, ihm einen würdigen Rahmen zu geben. Denn die holzschnittartige romantische Landschaft, gerahmt von spätsommerlichen Kastanienblättern und -hülsen, stellt den Redegegenstand selber nicht dar, erklärt mithin nicht ›inhaltlich‹. ›Erklärend‹ wirkt sie vielmehr in dem Sinne, dass sie Emotionen mittransportiert – vielleicht der melancholischen vanitas-Melancholie gerade in der Fülle der Erntezeit vor dem einsetzenden Herbst. Der Illustration fällt damit die Aufgabe zu, nicht durch ihre Kunsthaftigkeit die performative Seite der lyrikhaften Aussage in den Vordergrund zu stellen, sondern im Gegenteil die mimetische Kommunikationsfunktion des Gefühls visuell zu stärken. Das Gedicht ist in einer 4-strophigen Chevy-Chase-Strophe streng trochäischer Bauart abgefasst, mit abwechselnd 4- und 3-hebigen männlichen Versen kongruent alternierenden (x a x a) Waisen. Es handelt sich also um eine formal stark romantisierende Volksliedform, die durch die Gedichte von Brentano und Eichendorff und besonders durch die Lieder von Heine als die automatisierte Lyrikform schlechthin Geltung hatte.18 Durch ihre häufige Verwendung auch in narrativen Balladentypen ist die Chevy-Chase-Strophe außerdem eines derjenigen Versmaße, das eine stark referentielle Kommunikationsfunktion mit sich führt. ›Romantisierend‹ ist dieser Text auch deshalb zu nennen, weil er auf pragmatischer Ebene die prototypischste Sprechsituation der Liebeslyrik etabliert: Personaldeiktisch spricht ein lyrisches Ich (»zu mir«1) ein Du (»Knabe«5) an; temporaldeiktisch handelt es sich um eine vorzeitige Liebesentfachung (über den topischen Blick des Geliebten1), die zu einer Reflexion über die Schönheit des Liebesobjekts5-10 führt und zu dem Wunsch der Erfüllung der Liebe in der Zukunft (»Dass ich möchte küssen Dich«11). Im Gedicht wird also eine typisch romantische Pragmatik etabliert; der dysphorischen Mangelsituation eines sprechenden Ichs wird eine euphorische Hoffnung auf Erfüllung in der Zukunft entgegengestellt. Durch die prototypische pragmatische Sprechsituation wird der Effekt einer referentialistischen Beschreibung einer Liebessituation ermöglicht. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass das lyrische Ich mit dem Autor des Textes gleichzusetzen ist, wohl aber, dass der Text diese Gleichsetzung provoziert. Das Gedicht wirkt seiner Kommunikationsfunktion nach vollkommen mimetisch, weil die abso-
18 Vgl. Wagenknecht, Deutsche Metrik, 50f.
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lut automatisierte lyrikhafte Sprechweise der Rezeption aktiv keine Verfremdungshindernisse in den Weg legt; eine, im formalistischen Sinne, verzögerte Wahrnehmung, ein ›neues Sehen‹ auf einen Gegenstand werden an keiner Stelle eingefordert. Dabei, und das ist wiederum der zentrale Punkt, wird die traditionelle heterosexuelle Pragmatik in eine homosexuelle invertiert: Das Du ist mit »Knabe«5 explizit männlich, mit dem Vergleich der glühenden Pfirsiche für seine Wangen ist der leichte Flaum der Adoleszenz aufgerufen. Das einleitende Attribut »rehscheu«1, das in Positionsäquivalenz zum bezeichneten Knaben steht, invertiert, oder zumindest irisiert, jedoch in einem gendertwist die Geschlechtscharakteristik. Die weiteren Attribute »[h]oldes Engelsbild«4 und »Wildfang«13 bleiben hingegen geschlechtsneutral und bezeichnen lediglich die Kindlichkeit des Liebesobjekts.19 Das Du ist mithin dem sex nach männlich, dem gender nach hingegen unbestimmt bzw. weiblich. Das Geschlecht des lyrischen Ich wird dabei nicht explizit genannt. Der Co- und Kontext des Eigenen als Publikationsort des Gedichts muss mit in die Überlegungen einfließen, um die Aussage treffen zu können, dass es sich um ein männliches Ich handelt. Da kein Geschlechtsmarker für das Ich zu finden ist, ergibt sich die Annahme einer ›normalen‹ Sprechsituation, und diese ist hier nun mal co- und kontextuell homoerotisch. Eine er-sieKonstellation wird also in eine er-er-Konstellation umgeschrieben. Die Kontextualisierung in einem dezidiert männlich homoerotischen Umfeld ist hier wesentlich, da mit gutem Recht entgegengehalten werden könnte, dass hier einem Text, der männliche Homoerotik gar nicht explizit ausspricht und viel mehr eine heterosexuelle Verbindung bearbeitet, Homoerotik nur untergeschoben wird. Der Kontext erlaubt es jedoch mit einiger pragmatischer Sicherheit, diesen Text als männlich homoerotisch zu lesen; und in der Folge dieser Entscheidung danach zu fragen, wie er sich zu heteronormativen Diskursen über die Homosexualität verhält. Die Unerreichbarkeit des Liebesobjekts ist weiterhin mit einem anderen prototypischen Lyrikdiskurs verbunden: So bedient sich der Text ausgiebig
19 Der Eintrag zu »Engel« in Grimms Wörterbuch beginnt mit »1. unschuldige kinder heiszen vorzugsweise engel« und weiß erst unter Punkt 2. von der Bedeutung als »schöne und geliebte frauen«. »Wildfang« wird in Grimms Wörterbuch dezidiert als Bezeichnung für Kinder beiden Geschlechts geführt.
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im Fundus des Petrarkismus: Der Blick löst die Liebe aus »Rehscheu floh zu mir Dein Blick, […] Schloss Dich tief ins Herze ein«1,3. Die Augen, als Fenster zur Seele, spiegeln die innere »dunkle Glut«10 und rufen mit dieser Struktur die paradoxal-antinomischen Affekte (Regn) des petrarkistisch Liebenden auf.20 Das Du wird mithilfe der prototypischen partes des petrarkistischen Schönheitskatalogs synthetisch erschrieben: »Wangen«8, »Wimper«9, »Mund«13 und »Haupt«15 bleiben dabei allesamt im keuschen Bereich des Kopfes. Außerdem fehlt es nicht an Topoi des Schmucks pathetischer Liebeslyrik: Frühling (»mainachtwarm«2), »Engelsbild/Englein«4,14, »Märchen«6, »Rosen«16 lassen als topisches Inventar eine pralle, für den heutigen Lesegeschmack kaum erträgliche ›lyrische‹ Atmosphäre entstehen. Die parallele, fast tautologische Häufung ›leerer‹, eben in literarischer Liebesrhetorik automatisierter, Attribute (»schön und wunderbar«5, »zart und frisch«7, »fein und gut«12) ist so auch nicht als Hinweis auf einen (durchaus ebenfalls anzunehmenden) Mangel an Originalität aufzufassen, sondern zeugt von der Prototypenhaftigkeit dieses Liebesgedichts, das Versatzstücke der gängigsten Prätexte harmonisierend kombiniert.21 Trotz – oder besser: gerade wegen – dieser starken prototypischen Lyrikhaftigkeit des Textes wird die Literarizität nicht in den Dienst einer die Textualität aufdeckenden performativen Sprachfunktion gestellt. Lyrikhaftigkeit ist hier nicht eingesetzt, um durch die Differenz von Normalsprache und lyrikhafter Sprache einen verfremdenden Effekt der Wahrnehmung zu erzielen (oder womöglich sogar auf die eigene Poetizität hinzuweisen), sondern reiht sich differenzlos in die ›Normalsprachigkeit‹ (romantischer deutscher) Lyrik ein. Jeder performative Anteil (sensu Mahler) ist hier durch die
20 Vgl. Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, darin: »Typische Merkmale des petrarkistischen Systems im Cinquecento«, 21-70, bes. 26ff. 21 Bei den Analysen von António Bottos Gedichten (Kapitel 6.1) wird eine ähnliche hypertrophe Ansammlung automatisierter literarischer Topoi zu konstatieren sein. Dort wird jedoch im Gegensatz zur hier angelegten Interpretation gezeigt werden, dass es sich nicht um eine harmonisierende Kombination handelt, sondern die Exuberanz und die spezifische Inkommensurabilität der Kombinationen bei Botto als Ironiesignale zu verstehen sind, die eben mit lyrikhaft-emotiven Sprechweisen subversiv spielen.
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Weiterschreibung einer bereits ganz automatisierten Liebeslyrik aufgehoben. Innerhalb der romantisierenden Vorstellung von Lyrik ist diese Art der entautomatisierten Sprache und Syntax höchst konventionell. Dieses Gedicht schreibt sich mithin, wie schon »Lieber ist mir ein Bursch«, in diejenige Tradition der Lyrikproduktion und Lyrikrezeption ein, die diese Gattung als besonders subjektivisch einstuft und deren Lyrikhaftigkeit als Mittel der Aussprache des Eigenen eingesetzt ist. Der Logozentrismus, der sich hier ausdrückt, stärkt die These noch: So werden Liebesgedichte von ihrer sekundären Schriftlichkeit in eine primäre Präsenz des Gefühls überführt. Aus differenzpragmatischer Sicht beurteilt, ist die Diskursreaktivität koalitionär und schreibt die Herstellung von homosexueller Diskursivität durch eine transitive Tropografie weiter. Es handelt sich um ein einfaches Umschreiben einer er-sie-Kommunikationssituation in eine er-er-Konstellation. Die Lyrikhaftigkeit hat also die Funktion, mimetisch abzubilden, einen Sprechgegenstand zu repräsentieren, d.h.: präsentisch darzustellen und das Gemeinte in möglichst ›schöner‹ Form wiederzugeben. Das Gedicht nutzt die grundsätzliche Möglichkeit der Verhandlung von mimetischer und performativer Sprachfunktion nicht. Obwohl die poetische Funktion enorm hoch ist, wird keine selbstreflexive Bewegung des Textes in der Lektüre angeregt. Die affichiert ›poetische Sprache‹ ist hier als Persuasions-Rhetorik zu kategorisieren. In diesem Sinne ist dieser Text wohl poetisch, auch lyrisch, aber nicht solche Literatur, die sich konterdiskursiv Normdiskursen entgegensetzt, sondern ihnen – wenn auch mit Homo-Vorzeichen – das Wort redet und damit die Naturhaftigkeit der Heteronorm in die Lyrik einspeist. Und nicht nur ist das Gedicht domestiziert vom heteronormativen Sexualitätsdiskurs, sondern auch und gerade vice versa: Er bildet als énoncé einen Diskurs über die Heterosexualität mit, verschafft ihr durch die Nähe zur Höhenkammliteratur zudem noch eine systemüberschreitende Gültigkeit und erschafft dem von sich Zeugnis gebenden Subjekt einen künstlerisch-literarischen Ort des Sichaussprechens. »Begegnung« ist kein ›queerer‹ Text, sondern spricht der Heteronormativität das Wort und erschafft sie gleichzeitig mit. Brands Gedicht schreibt auch deshalb hegemoniale Männlichkeit weiter, weil es eine homosexuelle Beziehung im Modus des Lyrischen nobilitiert. Lyrikhaftigkeit erzeugt hier einen Oberflächenfirnis hochkultureller Tradition und ist somit lesbar als ein literarischer Versuch der Teilhabe an heteronormativer hegemonialer Geschlechtlichkeit.
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3.3 W IDERREDE : S EPARATISTISCHE T ROPOGRAFIEN 3.3.1 Bruno Balz: »Wir wachen« Am 29. September 1927 wurde folgendes Gedicht des Schlagertexters Bruno Balz (1902-1988) vor dem »Bund für Menschenrecht« vorgetragen und darauf in der Novemberausgabe einer weiteren Homosexuellenzeitschrift, der Insel, gedruckt.22 Wir wachen 1
Wir kämpfen und streiten Jahr um Jahr
2
Um Freiheit und um Verstehen.
3
Wir kämpfen – und sehen Jahr um Jahr
4
Das Leid vorübergehen.
5
Noch immer gellt der Verzweiflungsschrei:
6
»Wir können es nicht mehr tragen!«
7
Doch sind wir auch noch immer nicht frei,
8
Wir sind auch nicht geschlagen!
9
Wir wissen, was auf dem Spiele steht,
10
Schon immer gab’s Kampf auf Erden!
11
Wenn noch mal Jahr um Jahr vergeht,
12
Das Recht muß uns doch werden.
13
Es sollen Spott und Unverstand
14
Uns nicht mehr mutlos machen,
15
Wir ballen trotzig jetzt die Hand
16
Und wachen, wachen, wachen!
22 Ebenfalls von Bruno Balz sind die im Zweiten Weltkrieg als Durchhaltelieder berühmt gewordenen Gassenhauer »Das wird doch einen Seemann nicht erschüttern«, »Davon geht die Welt nicht unter« und »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n« – nur Balz’ Texterruhm rettete den bekanntermaßen Homosexuellen vor dem Konzentrationslager.
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17
Und tönt auch noch mancher Verzweiflungsschrei:
18
»Wir können es nicht mehr tragen!«
19
Wir rufen die Arme der Götter herbei:
20
Noch sind wir nicht geschlagen!
Dieser Text war für den Anlass des politischen Vortrages vor einer explizit homosexuellen Zuhörerschaft geschrieben worden, ein agitatorischer Text, Gebrauchslyrik also. Die Sprecherinstanz spricht daher auch aus einer Gruppe heraus. »Wir«, neunmal und zumal achtmal am Versbeginn stehend, separiert den Sprecher und seine eigene Gruppe von einer Gruppe von Feinden. Das Verhältnis beider Gruppen zueinander ist zum einen stark asymmetrisch, zum anderen höchst konfliktgeladen. Von der Gruppe der Anderen gehen Unterdrückung, Spott und Unverstand aus. Der Gruppe der Wir in der aktuellen Sprechsituation (»jetzt«15) werden Trostlosigkeit (»Verzweiflungsschrei«5), aber auch ein starker Wille zur gewaltbereiten Änderung der Situation (»Wir ballen trotzig die Hand«15) sowie mehr noch die Hoffnung auf Veränderung, Gewissheit der Veränderung zugeschrieben: »Das Recht muß uns doch werden«12. Das Anliegen der Wir wird an dieser Stelle als legitim dargestellt, als »Recht«12. Dem Titel nach und dem wiederholten »wachen, wachen, wachen!«16 handelt es sich um einen Durchhaltetext mit der appellativen Sprachfunktion eines politischen Aufrufs.23 »Wachen« steht hier jedoch neben der Grundbedeutung von »wachsam sein, auf seiner hut sein, die augen offen halten« auch im Sinne von »feindliches auflauern« (Grimm). Neben dem Appell an die Gruppe der Eigenen ist die Sprechweise also auch eine Drohung gegenüber der Gruppe der Anderen in ihrer nur vermeintlichen Überlegenheit. Die Grenze zwi-
23 Dieses Gedicht reiht sich damit in das Genre der patriotischen Lyrik ein, die in der Zeit der »ruhmreichen Kriege unseres Volkes von 1864, 1866 und 1870 einen ungeahnten neuen Aufschwung« nahm, wie es eine Deutsche Litteraturgeschichte von 1900 weiß und ihr mit neun Seiten Abriss auch einige Aufmerksamkeit schenkt. Das »Rheinlied« von Nikolaus Becker oder die »Wacht am Rhein« von Karl Wilhelm (beide von 1840) waren wieder im Ersten Weltkrieg in aller Deutschen Munde und sind auch 1927, zur Entstehungszeit von »Wir wachen«, noch Gassenhauer (und werden es unter den Nazis weiterhin bleiben).
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schen den beiden ungleichen Lagern ist zur Sprechzeit jedoch (noch!) stabil: Ein Kampf wird »Jahr um Jahr«1,3,11 gekämpft, durch eine in der Sprechzeit noch unterlegene Gruppe der Wir. Gruppenbildung funktioniert hier über die letztlich integrativ wirkende Ausgrenzung aus einer anderen Gruppe und wird in eine Situation des möglichen Umbruchs und Aufbruchs zum Besseren gestellt – mithin ein schlagendes Beispiel für Sedgwicks separatistische Tropografie. Das Leiden der eigenen Gruppe wird der Notwendigkeit zum weiteren Kämpfen untergeordnet (»Und tönt auch noch mancher Verzweiflungsschrei«17) und in einen Kontext der teleologischen antagonistisch-antithetischen Weltentwicklung gestellt: »Schon immer gab’s Kampf auf Erden!«10. Der ›marxistische Topos‹ der Weltgeschichte als Geschichte der Klassenkämpfe wird hier aufgerufen, der dezidiert politische Impetus dieses Textes ist offensichtlich. In der letzten Strophe sind es die Wir, die eine Verbindung zu den Göttern herstellen. Das Unternehmen erscheint der Gruppe der Wir in solchem Maße ungleichgewichtig, dass die Macht der »Götter«19 angerufen wird. Dadurch, dass das Anliegen der Wir zunächst in den profanen (»auf Erden«10) Kontext des Rechts gerückt wird, wird durch den Götteranruf das eigene Recht transzendiert und einer göttlichen Gerechtigkeit anheimgestellt. Eine Verbindung zu biblischen Episoden drängt sich mit der Dichte der Anspielungen durch das ganze Gedicht hindurch auf: So sind Verspottung wie auch Tragen eines schweren Loses den Szenen des Kreuzweges Jesu ausgesprochen nahe.24 Auch die Geschichte des Exodus des jüdischen Volkes mag hier aufgerufen sein.25 Die lyrikhafte Form der (halben) Vagantenstrophe (alternierend männliche und weibliche Kadenzen mit kongruenter 4-3-alternierender Hebungszahl und Füllungsfreiheit) ist ebenfalls, wie schon die Chevy-ChaseStrophe, in der »Begegnung« verfasst ist, eine prototypische Volksliedstro-
24 Vgl. Mt 27, 27-31, Mk 15, 16-20 und Joh 19, 16-17. 25 Wenn es sich hier um eine dezidierte Aufrufung nicht des einen Christen-Gottes, sondern der vielen antiken Götter handelt, wäre hier noch eine weitere Legitimationsstrategie zu finden mit der antiken Welt der ›freieren‹ zwischenmännlichen Liebe. Dieser Punkt soll jedoch nicht zu stark gemacht werden, da Invocatio eine weitverbreitete rhetorische Figur ist, zumal in einer rhetorischen Umgebung der flehentlichen Bitte (Obsecratio).
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phe und macht »ohne merkliche Unterbrechung einen in jeder Hinsicht beträchtlichen Teil der [deutschen] poetischen Produktion« aus. (Wagenknecht, Deutsche Metrik, 50) Pragmatik, Semantik und Metrik stehen in diesem Gedicht absolut kongruent im Dienste der Agitation. Es geht um den Kampf gegen »Unverstand«13 und für »Verstehen«2: Es geht um die Anerkennung einer Gruppe von Unterlegenen. Dabei bleibt in diesem Gedicht eine explizite Benennung des Missverstehens aus. Dies ist im Kontext der bezweckten Rezitation vor dem Bund für Menschenrechte bezeichnend: »Wir wachen« schreibt nicht gegen Diskurse über die Homosexualität an, sondern schreibt im Zeichen politischer Agitation für eine Neubewertung der Homosexualität. Freilich könnte die Nicht-Nennung der Homosexualität als ein intentionales camouflierendes Auslassen des Eigentlichen interpretiert werden, da solche Nennungen immer der Gefahr der Zensur durch die Anwendung des »Gesetzes zur Wahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« (Reichsgesetzblatt, 1926) ausgesetzt waren.26 Zumal in einem solchen Kampftext. Über die textexternen Beweggründe der Auslassung mag daher spekuliert werden. Unter der Maßgabe, dass auch dieser Text sich in die Diskurse über die Homosexualität einordnen lässt, ist die Nichtnennung profaner Sexualität als Strategie aufzufassen: Der konkrete Anlass (die Unterdrückung der Gruppe der Homosexuellen) wird so nicht nur erhöht zu einem Kampf um Recht, gegen »Spott und Unverstand«, sondern auch in einem nächsten Schritt, namentlich in der letzten Strophe, in religiöse Höhen gehoben. Als Gebrauchslyrik wird dieser Text auch bis heute verstanden: Als »[…] prophetisch auf die kommenden Jahre der Unterdrückung und Verfolgung gerichtet«, als »Kampflied« gegen Homophobie (Hohmann, Heimlicher Sexus, 258). Eben das macht auch die spezifische Widerredefunktion dieses Textes aus: Nicht greift er den Diskurs über die Homosexualität als solchen an, sondern plädiert nur für einen gerechten Umgang mit den von diesem kategorisierten Individuen. Als Gedicht etabliert »Wir wachen« neben den objektivischen wissenschaftlichen Diskursen ein lyrikhaftsubjektivisches Sprechen über die Homosexualität mit starken Affekten des Kampfes, der Unterdrückung und des Leides. Die intertextuelle Anbindung
26 Dazu z.B. Lücke, Komplizen und Klienten.
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an die göttliche Gerechtigkeit – Kreuzweg Jesu, Anrufung der Götter – lädt dieses Sprechen außerdem extrem auf und rückt es in die Nähe religiöser Diskurse. In diskursanalytischer Sicht handelt es sich also auch hier um einen – wenn auch in Form der Gegenrede – discours ›en retour‹. 3.3.2 John Henry Mackay: »Die namenlose Liebe« Die nächste Interpretation widmet sich nun einem Gedicht, das ebenso Homosexualität in einer separatistischen Tropografie erschreibt. Jedoch in einer Extremform, die bei Sedgwick nicht genannt wird: in einer vermeintlich anarchischen Form des Umgangs mit dem Diskurs. Diese Art der Diskursreaktivität leugnet schlichtweg die Möglichkeit einer vereinheitlichenden, kategorisierenden Beschreibung der Sexualität (und mithin auch der Homosexualität und anderer ›Devianzen‹). Es wird jedoch im Folgenden gezeigt, dass auch diese vermeintlich anarchische Gegenstellung ihrem diskursreaktiven Wert nach ein Sprechen in dem vom Sexualitätsdispositiv geforderten Modus des Geständnisses ist und damit ebenfalls ein discours ›en retour‹, der dem heteronormativen Dispositiv das Wort redet. Die Zeitschrift Der Eigene war durch seinen Herausgeber Adolf Brand stets eng mit anarchistischem Denken verbunden. Die Beiträge distanzierten sich von Hirschfelds pathologisierendem Umgang mit der Homosexualität und pochten hingegen auf ihre Natürlichkeit: »Die noch zu guten Teilen in den Idealvorstellungen der Jugendbewegung befestigten Ideen der ›Gemeinschaft der Eigenen‹ betrachteten die gleichgeschlechtliche Liebe als freies Spiel der Natur und als natürliche Gabe, die für sie einzig durch künstlerische Formgebung, durch Zärtlichkeit und Liebesbeweis gebändigt wird. Der auch vom Faschismus verfolgte jüdische Arzt und Gelehrte Magnus Hirschfeld zieht das homosexuelle Phänomen ihrer Meinung nach zu sehr in eine – wenn auch ins Positive verkehrte – Krankheitsdiagnostik hinein.« (Hohmann, Heimlicher Sexus, 256)
Einer der bekanntesten Schriftsteller und Beiträger des Eigenen, der jener anarchistischen Idee der Freiheit der Liebe angehörte, war John Henry Mackay, der unter seinem Pseudonym Sagitta u.a. den bis heute nicht ganz vergessenen Puppenjungen und die Buecher der namenlosen Liebe schrieb
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und die pädophil-homoerotische Liebe politisch, essayistisch wie literarisch bearbeitete.27 Wobei er bis heute mehr für seine z.T. propagandistischen Schriften zum individualistischen Anarchismus und radikalen Liberalismus bekannt wurde.28 Es soll eines seiner bekanntesten Gedichte, »Die namenlose Liebe«, betrachtet werden, zunächst jedoch seien einige Informationen zur Co- und Kontextualität des Gedichts gegeben. In seinen theoretischen Schriften, wie auch in seinen literarischen Texten, geht Mackay einen ganz anderen Weg der Etablierung einer Form der Sexualität gegenüber einer heteronormativ gebändigten Homosexualität als die bisher vorgestellten Autoren. Er schreibt nämlich einen dezidierten Anti-Diskurs: Es geht dabei nicht um die Integration durch transitive Tropen der Geschlechtsüberschreitung, sondern um separatistische Tropen der Selbstausgrenzung aus dem (Homo-)Sexualitätsdiskurs. Die neue Diskursivierung und Pathologisierung war, wie gesagt, schon zeitgenössisch durchaus diskutiert. Mackay lässt im Fenny Skaller einen Ich-Erzähler sprechen, der gleichzeitig als Identifikationsfigur in der Geschichte fungiert und mithin als fiktive Stimme Mackays gelten kann: 29 »Von den Pfaffen aller Religionen und aller Art als unnennbare Sünde verflucht; von den Richtern, die die Menschen in ihrer Thorheit als solche über sich gestellt, als Verbrechen verfolgt, war sie nun glücklich in die Hände von Ärzten gefallen, von denen die einen sie immer noch als eine Krankheit heilen, die anderen aber, die wußten, daß sie keine Krankheit sein konnte, sie zu retten versuchten, indem sie sie zwischen die Geschlechter stellten, nach ihren körperlichen und seelischen Unterschie-
27 Aus heutiger Sicht ist eine solche Engführung von Homosexualität und Pädophilie unzulässig, verkennt sie doch strukturelle, rechtliche und nicht zuletzt moralische Unterschiede. Die Ausdifferenzierung dieser beiden zu trennenden Sexualdiskurse ist tatsächlich auch schon zur Zeit Mackays vorgenommen worden. Als erster nannte Krafft-Ebing 1886 die »Paedophilia erotica« als gesonderte Kategorie in seiner Psychopathia sexualis. Mackay verbindet jedoch Pädophilie und Homosexualität aufs Engste. 28 Vgl. dazu: Uwe Timm, »John Henry Mackay«. 29 Dies ist ein biograf(ist)ischer Kurzschluss, der von Mackay selber insinuiert wurde: Seine essayistischen Schriften und politischen Aussagen argumentieren auf genau dieselbe Weise.
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den bohrten, um sie dann in dicken Büchern zu systematisieren, in die sie dann alle miteinander eingesperrt wurden, alle miteinander, rettungslos …« (Mackay, Fenny Skaller, 94)
Mit den »Pfaffen«, »Richtern« und »Ärzten« werden hier die drei konstitutiven Institutionen der Erzeugung der Wahrheit über die Sexualität aufgeführt: Religion, Jurisdiktion und Medizin. Zwar versucht sich der IchErzähler hier dezidiert von den Normdiskursen abzugrenzen, tatsächlich aber ist Fenny Skaller ein Paradebeispiel der von Foucault beschriebenen ›Geständniskultur‹. »Die Wirkungen des Geständnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der Pädagogik, in den Familien- wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man seine Verbrechen, gesteht man seine Sünden, gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und seine Träume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden; mit größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen, was zu sagen am schwierigsten ist; man gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anders möglich wären, und daraus macht man dann Bücher.« (Foucault, Wille zum Wissen, 62f., meine Herv.)
Fenny Skaller ist in dieser Hinsicht ein beispielhaftes Buch: Anhand von Fotografien einstmals geliebter Knaben lässt der Ich-Erzähler sein Leben vor sich und dem Leser vorbeiziehen. Durchaus lustvoll, wie es die Beschreibungen sind, erklärt er so mit geradezu psychotherapeutischen Geständnissen seinen jetzigen schmerzhaften Seelenzustand. Selbstreflexion trifft hier immer auf Reflexion über das Wesen von Liebe und Sexualität. Die Textintention – nämlich, den Ich-Erzähler als individuell fühlendes und nicht kategorisierbares Wesen darzustellen – läuft der stets kategorisierenden, (psycho-)analysierenden Textaussage frappierend entgegen. Fenny Skaller selber ist Teil eines größeren Buchprojekts: Die Buecher der Namenlosen Liebe sind ein von Mackay selber zusammengestelltes Werk aus sechs Teilen: (1) eine essayistisch-wissenschaftliche Einleitung über die Entstehung des Gesamtprojekts (mit dem Untertitel »Ein Bekenntnis«!), (2) ein kurzer historisch-wissenschaftlicher Abriss der leidvollen Geschichte der Namenlosen Liebe, (3) ein episches Langgedicht über das
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Hadern eines lyrischen Ich mit sich selbst in der Situation einer ›akuten‹ namenlosen Liebe, (4) die Geschichte Fenny Skaller, (5) eine »Szene der Namenlosen Liebe« in dramatischer Dialogform und (6) dem abschließenden Gedichtbuch. Die Aufgabe der Buecher wird in der Einleitung unter dem Stichwort »Entschluss zu dem Kampfe« genannt. Sie sollen »Licht und Wahrheit über das Wesen einer Liebe […] verbreiten, die ganz allgemein seit zweitausend Jahren hier für ein Verbrechen, dort für eine Krankheit, immer aber, hier und dort für ein Laster angesehen wurde, dessen Bekämpfung und Unterdrückung in jedem Falle als eine unabweisbare Forderung der Kultur betrachtet werden müsse, während diese Liebe in Wirklichkeit weder ein Verbrechen noch eine Krankheit, und, wenn sie Liebe war, schon deshalb kein Laster sein konnte.« (Mackay, Bücher, 10)
Die Buecher nutzen für diese Aufgabe alle drei Gattungen der Literatur sowie (politische) Essayistik und den wissenschaftlichen Abriss. Wiederum werden, wie es schon bei Ulrichs, verschiedene Modi des Sprechens genutzt.30 Die Interpretation eines der Gedichte wird im Folgenden die koalitionäre Diskursreaktivität auch dieser anarchischen Widerrede erweisen. »Die namenlose Liebe« gibt als erstes der Gedichte ebenso das Programm vor, wie schon der Titel des Gedichtabschnittes, »Am Rande des Lebens. Die Gedichte der namenlosen Liebe«: Einer marginalisierten Form der Liebe soll eine lyrische Stimme verliehen werden und die Homosexualität – befreit aus dem pathologisierenden Zugriff der Ärzte und anderer Diskursmächte – als natürliche Form etabliert werden.
30 Die Buecher wurden unter dem Pseudonym Sagitta herausgegeben. Mackay schaltet ihnen folgendes Gedicht vor: »Ich bin der Pfeil, der von der Sehne springt, / Und durch die Nacht der Zeiten schwirrend singt – / Muth hier, dort Trost, und allen Heilung bringt: // Heil, wenn ihm Heilung ohne Tod gelingt! // SAGITTA bin ich! // – Wisse: bin der Pfeil, / Der tötet oder heilt ... // Steh! – – oder – enteil’!« Der topische Liebespfeil wird hier zum mächtigen Kampfmittel für die eigene Sache. Als kleines Icon ›fliegt‹ dieser Pfeil durch die Buecher und installiert so ein einheitliches Sprechersubjekt hinter den verschiedenen Sprechmodi.
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Die namenlose Liebe. 1
Weil noch auf ihren jugendlichen Schwingen
2
Der Duft der unberührten Schönheit liegt,
3
Der leicht zu Staub in fremder Hand zerfliegt –
4
So muß ich zart von dieser Liebe singen.
5
Doch weil, gepaart mit Euren schmutzigen Dingen
6
In Schlamm und Schmach Ihr sie so tief gezerrt;
7
Und weil Ihr sie in Nacht und Kerker sperrt –
8
So darf ich frei von dieser Liebe singen.
9
Und weil mein Lied zu den Verfolgten dringen
10
Und den Enterbten soll zu dieser Frist,
11
Weil sie mein eigenes Glück und Unglück ist –
12
So will ich hoch von dieser Liebe singen.
Der musisch-lyrikhafte Diskurs wird hier als Ermöglichungsort des vorsichtigen, heimlichen (»zart«4),31 unbehelligten (»frei«8) und euphorischen, konsekrierenden (»hoch«12) Sprechens – nämlich Singens – gefeiert. Ein poetologisches Gedicht also. Lyrik wird hier explizit im logozentrischen Sinne mit dem Innersten des Dichters verknüpft: »Dieses Verständnis von Ausdruck, das sich im 18. Jh. ausbildet, verrechnet lyrische Sprache auf die Zustände, Emotionen und Intentionen eines zur ›Sprache kommenden‹ Subjekts [...]; es setzt voraus, dass die Sprache im Hinblick auf das Innenleben dieses Subjekts transparent ist [...]. Die innige Verbindung von Sprache und Subjektivität in diesem modernen Begriff von Ausdruck, die Emphase unmittelbarer Seelen-Aussprache, die in der Goethe-Zeit ihren Höhepunkt fand, wird besonders deut-
31 Vgl. Grimm: »schön, fein, anmuthig«, in älterer Bedeutung vor allem auch in sakralisierender Sprache als Attribut des Heiligen im Sinne von »lieb, theuer, werth« verwendet.
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lich in der Metaphorik der Stimme, in der viele Gedichte ihren sprachlichen Gestus explizit als mündlich inszenieren. […] Die Stimm-Metaphorik suggeriert eine unmittelbare Präsenz des lyrischen Subjekts in der lyrischen Sprache […].« (Horn, Subjektivität in der Lyrik, 302)
Die erste Versgruppe spricht vom Anlass des Geständnisses: der Flüchtigkeit des noch »unberührten«2 Dichtungsobjekts. Dieses Objekt wird im Titel genannt, es ist die »Namenlose Liebe«, die hier besungen wird. Im Gedichttext wird dieses Abstraktum metonymisch mit einem konkreten Liebesobjekt identifiziert. Dabei wird, diese Metapher ist bereits aus »Begegnung« bekannt, das über das Attribut »jugendlich«1 personifizierte Liebesobjekt mit sublimierenden »Schwingen«1, Engelsflügeln, ausgestattet. Man mag sich eine Amor-Figur denken; mit dem besonderen Merkmal, dass Amor hier nicht nur für die Liebe steht, sondern selber als jugendliches Liebesobjekt fungiert. Dessen »noch«1 vorhandene »Schönheit«2 ist jedoch durch Übergriffe anderer bedroht. Dabei erscheint das Objekt äußerst labil gegenüber seiner feindlichen Umwelt: Es ist der Gefahr ausgesetzt, dass es wie »Duft«2 »leicht zu Staub […] zerfliegt«3. Der letzte Vers der ersten Versgruppe nimmt das unheilkündende »noch« des ersten Verses auf und verweist bereits auf das kommende Desaster. Die zweite Versgruppe realisiert als starker Kontrapunkt zu der sakralisierenden Beschreibung die Bedrohung: Einer Gruppe der »Ihr« wird der Vorwurf gemacht, das Liebesobjekt »mit Euren schmutzigen Dingen«5 zu besudeln und zu erniedrigen, »In Schlamm und Schmach Ihr sie so tief gezerrt«6, um es letztlich zu verurteilen: »weil Ihr sie in Nacht und Kerker sperrt«7. In der letzten Versgruppe solidarisiert sich das lyrische Ich mit seinem Objekt und lässt so im Zeichen des gemeinsam erlittenen Unrechts (»Verfolgten«9 und »Enterbten«10) eine Gruppe der Wir entstehen. Die letzte Versgruppe verbindet dann politische Agitation, »mein Lied [soll] zu den Verfolgten dringen«9, mit der individuellen Situation des lyrischen Dichter-Ichs, »mein eigenes Glück und Unglück«11. Die politische Agitation wird dabei mit Lyrikhaftigkeit und dem Ausdrücken des Eigenen verbunden: »mein Lied«9. Die jeweils (durch die fehlenden Einrückungen auch grafisch) zwischen die Versgruppen gestellten Verse wechseln auf die Metaebene und geben die Begründung für den hier gewählten Modus des lyrikhaften Sprechens: »So muß ich zart von dieser Liebe singen«4, »So darf ich frei von dieser
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Liebe singen.«8, »So will ich hoch von dieser Liebe singen.«12 Diese Verse bilden das refrainartige stabile Fundament der Aussprache des Eigenen: Es ist der Rahmen des Lyrikhaften, der das Sprechen gerade erst ermöglicht. Im Kontext der Lyrikhaftigkeit in Koppelung mit Diskursreaktivität ist signifikant, dass dieses Geständnis jeweils mit wechselnden Attributen geradezu metatextuell auf die eigene Lyrikhaftigkeit aufmerksam macht und so das poetologische Programm (dieses und der folgenden Gedichte) vorgibt: »zart«4 und »frei«8 und »hoch«12 will das lyrische Ich von seiner »Liebe singen«. Die prototypischen Merkmale des lyrikhaften Sprechens finden sich hier explizit in Form einer Poetologie wieder: Könnerschaft und Emotion nobilitieren den lyrikhaften Sprechakt und den Sprechgegenstand. ›Objektive‹ Verpflichtung, Erlaubnis und individueller Willen (»muß«4, »darf«8, »will«12) geben dem agitierenden Singen seine argumentativ gefestigte Basis. Es ergibt sich ein umarmendes Reimschema mit monoreimendem Abschluss: abb A acc A add A. Dieses äußerst spezielle Schema verweist auf die Dichtung – und zumal auf die Ghaseldichtung – August Graf von Platens:32 Damit schreibt es sich nicht nur in die Höhenkammliteratur seiner Zeit ein, gleichzeitig stellt es sich auch in die Tradition eines der ›Säulen-
32 Dies ist freilich ein Reimschema, das sich an die strenge Ghaselform (AAxAxAxA... etc., wobei es sich bei den Reimen im Original um Monoreime handelt) nur anlehnt. Die Reimhäufung, zumal mit den drei eingelegten monoreimenden Versen, ist aber durchaus ghaselhaft – in seiner ›Sperrigkeit‹ durch den Monoreim sogar den besonders ghaseligen Ghaselen Platens besonders ähnlich. Doch auch Platens Ghaselen sind z.T. recht frei im Umgang mit dem Vorbildschema. Das gilt so auch für »Farbenstäubchen«: aa ba xa xa xa b’a b’a. Auf die Abweichungen von der strengen Ghaselform sei nur hingewiesen: die Monoreime (A) sind durch reinen Reim ersetzt (a), außerdem reimen sich die Verse »verlang ich«11 und »zerbrechlich«13 unrein auf das durch diese Positionsäquivalenz verstärkte – und damit thematisch werdende »vergänglich«3. Es handelt sich der Form nach gleichzeitig um eine Unter- wie Übererfüllung der Vorgabe. Die jeweils die drei Versgruppen und Sinneinheiten abschließende metapoetische Nennung des Sänger-Ichs ist außerdem am obligatorisch am Schluss eines klassischen Ghasels genannten takhallus (nom de plume) orientiert.
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heiligen‹ einer erotischen mann-männlichen Gegenkultur.33 Dabei ist der sekundärkodierte intertextuelle Verweis auf Platen nicht nur systemreferentiell, sondern verweist auf einen konkreten Prätext: Auch Platens einleitendes poetologisch-programmatisches Ghasel »Farbenstäubchen auf der Schwinge« (Platen, Werke I, 209) der Ausgabe letzter Hand von 1834 spricht von der Flüchtigkeit der Schönheit, aber auch von der Flüchtigkeit des Singens. 1
Farbenstäubchen auf der Schwinge
2
Sommerlicher Schmetterlinge
3
Flüchtig sind sie, sind vergänglich
4
Wie die Gaben, die ich bringe,
5
Wie die Kränze, die ich flechte,
6
Wie die Lieder, die ich singe:
7
Schnell vorüber schweben alle,
8
Ihre Dauer ist geringe,
9
Wie ein Schaum auf schwanker Welle,
10
Wie ein Hauch auf blanker Klinge.
11
Nicht Unsterblichkeit verlang ich,
12
Sterben ist das Los der Dinge:
13
Meine Töne sind zerbrechlich
14
Wie das Glas, an das ich klinge.
Die Ähnlichkeiten in der Metaphorik und Motivik (Schwinge, Labilität, Lied, singen, Hauch) sowie die Korrelation von Dichten/Singen und Flüchtigkeit fallen sofort ins Auge. Mackays Kampf-Gedicht argumentiert jedoch ganz anders als sein resignativer Prätext: Platens durchaus melancholischer Grundtenor der vanitas geht vollständig verloren. Werden »die Lieder, die ich singe«6 bei Platen als ebenso vergänglich beschrieben, wie es das von ihnen Besungene ist, wird ganz im Gegenteil dazu bei Mackay dem Singen euphorisch die Möglichkeit zugesprochen, dem besungenen labilen und bedrohten Dichtungsobjekt Würde, Kraft und Macht zu verleihen und das Eigene in einer Gleichzeitigkeit von Lust und Schmerz (»mein eigenes Glück
33 Man denke an die berüchtigte Polemik Heines gegen Platen, der sog. ›PlatenAffäre‹, vgl. dazu: Mayer, »Streit zwischen Heine und Platen«.
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und Unglück«11), auszudrücken – eine überbietende Einschreibung in die (homoerotische) Lyriktradtion.34 Mackays Einleitungs- und Programmgedicht gibt vor, was die Aufgabe besonders des Lyrikteils der Sammlung und überhaupt der literarischen Buecher, ist: Aus dem Geständnis des Eigenen werden hier, wenn auch im Zeichen der Revolution, ganze homosexuelle Bücher gemacht – nämlich Buecher der Namenlosen Liebe. Dem Gebot des faire-parler wird so in besonderem Maße entsprochen. Wenn auch gegen die pathologisierenden Diskurse über die Homosexualität, die sich in »Euren schmutzigen Dingen«5 ausdrückt, erhebt das dichtende lyrische Ich die Stimme für eine andere, individuelle Form der Liebe, außerhalb sexologischer Devianz-Zuschreibungen und weit entfernt von Platens poetisch überformter Resignation. Mackays lyrikhaftes Projekt schreibt sich jedoch gerade durch sein Ausschreiben aus den medizinischjuridischen Masterdiskursen mit – wenn auch negativen – lyrischen Vorzeichen wieder in diese ein. Der vermeintliche Liebesanarchismus seines AntiDiskurses redet letztlich der Heteronormativität in Form einer separatistischen Tropografie wieder das Wort, indem es zum einen dem Zwang zur subjektiven Selbstaussprache gehorcht und zum anderen den Wissensdiskursen über die Homosexualität schlicht nur einen weiteren, ›natürlichen‹ Diskurs gegenüberstellt. Seine poetisch-emotive Widerrede partizipiert schließlich doch an der Produktion von wahren Aussagen über die Homosexualität. Mackays Anti-Projekt attackiert die diskursive Ordnung zwar inhaltlich z.B. durch die Kontrastierung der niederen Dinge der Gruppe der Ihr gegenüber den sakralisierten Dingen der Gruppe der Wir. Auf struktureller Ebene jedoch produziert es in und qua Lyrik mimetische Aussagen als discours ›en retour‹. Eine vermeintlich freie Form der Liebe konstituiert sich im Mackay’schen Rahmen nur als ein Homosexualitätsdiskurs unter vielen
34 Der Unterschied fällt hier besonders auf in der Bildlichkeit: Sind es bei Platen noch Schmetterlingsflügel, die als Dichtungsobjekt für die vanitas stehen, so sind die Schwingen bei Mackay, wie bereits beschrieben, mit dem Attribut »jugendlich« personifiziert und mithin nahe an einem Knaben aus Fleisch und Blut, gleichzeitig aber auch mit sakralisierenden Engelsflügeln nah an einer AmorFigur.
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innerhalb des heteronormativen Sexualitätsdispositivs und bildet so weitere subjektivische Aussagen unter dem Joch des Geständnisses.
3.4 D IE G ROSSBELAGERUNGEN DAUERN AN : Z WEI S TIMMEN ZUR DEUTSCHEN HOMOEROTISCHEN L YRIK DES 20. J AHRHUNDERTS Elmar Kraushaar behauptet 1977 von den Beiträgen in seiner Anthologie Schwule Lyrik, schwule Prosa: »In vielen Beiträgen wird Homosexualität dargestellt als eine heterosexuell imaginierte Sexualität. Die er-sie Konstellation heterosexueller Liebeslyrik wird übersetzt in das entsprechende erer.« (Kraushaar, Schwule Lyrik, 255) Kraushaar ist außerdem ein enorm selbstkritischer Herausgeber, wenn er betont, dass die biografische Ausrichtung der von ihm zusammengetragenen Lyrik einem banal-romantisierenden Verständnis von Erlebnislyrik folgt. Die eigene (meist als defizitär empfundene) Situation soll mimetisch beschrieben und verarbeitet werden: »Primär entscheidend für eine Aufnahme war nicht eine, wie auch immer geartete künstlerische Qualität. Entscheidend war die vorwiegende Thematik der Texte – Homosexualität, wobei Homosexualität nicht als ein literarisch bearbeiteter Gegenstand für sich allein steht. Der Bezug der Autoren zu ihren literarischen Produkten ist vor allem dadurch hergestellt, daß die Thematik ihre eigene ist. Schreiben muß hier also gesehen werden vor allem als ein Versuch, eine ins gesellschaftliche Abseits gedrängte Problematik darzustellen, zu beschreiben und durch ein Vergegenständlichen solcherart zu verarbeiten. Eine sprachliche Aneignung eigener Wirklichkeit steht hier primär als Mittel der Reflexion und Erarbeitung von Identität.« (Ebd., 254)
Thematisch seien die Texte klar der (eigenen) Homosexualität gewidmet, sie sprechen dabei weiterhin einer Präsenzlogik der Identität das Wort, die im politischen Umkreis der Homosexuellenbewegung ihre Wurzeln hat. Auch die neuere und durchaus einschlägigere Anthologie Ach Kerl, ich krieg Dich nicht aus meinem Kopf, zur Männerliebe in deutschen Gedichten unseres Jahrhunderts von Hans Stempel und Martin Ripkens von 1997 konzentriert sich ganz auf solche Texte der Selbstaussprache. Im Nachwort heißt es: »Sie können einem schon die Sprache verschlagen, die respektlo-
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sen Verse einiger junger Schwuler. Weit entfernt vom verschwiegenen Pathos georgescher Lyrik, benennen sie ihre Erfahrungen ungeschminkt, scheuen sie keine four-letter-words.« (Stempel/Ripkens, Ach Kerl, 181) Die Einschätzung der Herausgeber von Texten »junger Schwuler« wird sofort deutlich: Es gehe den versammelten Gedichten um das schockierende, oder schockieren wollende, lyrikhafte Nachvollziehen der Gefühle marginalisierter Individuen, um die wiederum mimetische Darstellung des eigenen Gefühls. Tatsächlich kann sich kaum einer (keiner?) der Texte von der Wi(e)derredefunktion innerhalb von Homosexualitätsdiskursen und ihrer sie fundierenden Heteronormativität freimachen. Mimetische Weltabbildung steht ganz im Vordergrund, ihre performative Kommunikationsfunktion bleibt ausgeblendet. Lyrik samt ihren prototypischen Verfahren wird auch hier wiederum nur aus Gründen der Sangbarkeit, der Nobilitierung durch Einschreibung in die Tradition sowie wegen der romantisierenden Vorstellung von Lyrik als besonders emotiv aufgeladener Gattung genutzt.35 Die Verschiebung von der Nobilitierung hin zur Parodie der Tradition sehen die beiden Herausgeber als »einen Qualitätssprung vom Ende der sechziger Jahre bis heute« (ebd., 181). Hier wird nun im adelnden Medium der Lyrik ›kein Blatt mehr vor den Mund genommen‹, die explizite Kreatürlichkeit, Sexualität, ja Anrüchigkeit dieser Gedichte wird als Emanzipation gegenüber der Herrschaft ausgewiesen. Doch die Umhierarchisierung von Norm- und Marginaldiskurs ist noch kein Qualitätssprung im Umgang mit dem heteronormativen Sexualitätsdispositiv. Im Gegenteil wird dadurch nur wieder einmal dem faire-parler gehorcht, sich und seine (möglichst deviante) Sexualität auszusprechen. Außerdem widersprechen sich die Herausgeber in der unkritischen, Differenzen einebnenden Zitierung des berühmten Diktums von Klaus Mann aus den 30er-Jahren: »Es ist eine Liebe wie eine andere auch, nicht besser, nicht schlechter; mit ebenso vielen Möglichkeiten zum Großartigen, Rührenden, Melancholischen, Grotesken, Schönen oder Trivialen wie die Liebe zwischen Mann und Frau.« (Mann, Heute und morgen, 187) – ein Satz wie
35 Auch manche Versuche parodistischen Spiels mit der Tradition in einigen Gedichten werden lediglich genutzt, um bürgerlich Goutierbares durch drastische Umkehrungen oder Zuspitzungen zu düpieren.
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ein Paradestück für die »konzeptuelle Großbelagerung, der moderne homosexuelle und heterosexistische Schicksale unterworfen sind« (Sedgwick, Epistemologie, 138). Wenn die Herausgeber vom »parodistischen Spiel mit der Tradition« (Stempel/Ripkens, Ach Kerl, 181) sprechen, dann meinen sie vielmehr eine Erdung vormals sakralisierter heterosexueller zur profanen homosexuellen Liebe. Und was ist das anderes als bestätigendes Sprechen ›en retour‹, eine durch Lyrik erschriebene Widerrede wie bei Bruno Balz und John Henry Mackay – und damit ein Mitkonstruieren an den Wahrheitsdiskursen über die Homosexualität? Kraushaar hatte bereits 1977, seine Anthologie abschließend, die Forderung nach einer Emanzipation von den vorgegebenen Rastern der Homosexuellenbeschreibung gestellt: »Diese Anthologie muß ein Anfang sein, ein neugewonnenes Selbstbewußtsein über das eigene Sexualverhalten zu dokumentieren. Es kann nicht mehr darum gehen, ein Gegen zum Herrschenden zu entwickeln; sondern das Autonome. Sonst bliebe es das Gleiche.« (Kraushaar, Schwule Lyrik, 256) Eine Forderung, die in Ach Kerl zwanzig Jahre später immer noch nicht eingelöst werden konnte. Für deutsche homoerotische Lyrik scheint auch heute noch das 1977 Festgestellte zu gelten, nämlich dass sie kaum (ja, keine?) Literatur hervorbrachte, die über die Wi(e)derrede ›en retour‹ hinauskäme.36 Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass eine solche Forderung nach einem ganz anderen Umgang mit dem Herrschaftsdiskurs der Homosexualität gerade am Ende einer Lyrikanthologie gestellt wird: Denn so wie Kraushaar vertritt auch vorliegende Arbeit die These, dass die Möglichkeit eines contre-discours, der nicht bloße Wi(e)derrede ›en retour‹ wäre, gerade im Medium der Literatur und vor allem der Lyrik gegeben ist – wie in den folgenden Kapiteln im Umkreis der portugiesischen und spanischen homoerotischen Lyrik gezeigt werden soll.
36 Diese These ist freilich daraufhin getätigt, Widerspruch zu erregen.
4. Exkurs: Getarnte Selbstaussprache – Die Genese des Camouflage-Konzepts
4.1 C AMOUFLAGE
UND FAIRE - PARLER
Bis hierher wurden solche Gedichte betrachtet, die ihre homosexuelle Selbstaussprache entweder durch eindeutige co- und kontextuelle Eingebundenheit in homosexuellen Zusammenhängen oder gar in direkter Benennung zum Ausdruck brachten. Primär sexuell kategorisierte Subjektivität folgte hier dem Gebot der beichtenden Selbstaussprache; lauter lyrikhafte Texte, in denen »die Homosexualität [...] begonnen [hat], von sich selber zu sprechen« (Foucault, Wille zum Wissen, 134). Der überwiegende Teil homoerotischer Literatur jedoch bleibt, was gleichgeschlechtliche Begehrensstrukturen angeht, vor allem aus Repressionsgründen andeutend, implizit, verbergend, umschreibend, indirekt – lediglich potentiell homoerotisch. Es ließe sich vermuten, dass die diversen dazu genutzten Tarnstrukturen an sich schon gegendiskursiv funktionieren – entziehen sie doch das ›Eigentliche‹ dem direkten Zugriff. Es wird im Folgenden jedoch zu zeigen sein, wie eng auch diese Art des camouflierenden homosexuellen lyrisch-literarischen Sprechens – ebenso wie die direkte Selbstaussprache – an das moderne heteronormative Sexualitätsdispositiv und dessen faire-parler gebunden sein kann – das Camouflage-Konzept wird schließlich selber als ein wirkmächtiger Homosexualitätsdiskurs erscheinen. In seiner 1994 noch bahnbrechenden Arbeit Das offene Geheimnis über deutsche homoerotische Literatur beantwortet Heinrich Detering die Frage,
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wie über ›die Namenlose Liebe‹ gesprochen werden konnte, mit seiner Theorie der Camouflage. Demnach lassen sich in literarischen Texten zu Zeiten, in denen offenes und öffentliches Sprechen über Homosexualität außerhalb juridischer und medizinischer Diskurse nicht ohne die Gefahr starker Repressionen möglich war, Strategeme nachweisen, die sanktionsfreie Mitteilungen homoerotischer Inhalte dennoch ermöglichen. Die sich in Form der Camouflage manifestierende »literarische[n] Produktivität des Verbotenen« (Detering, Offenes Geheimnis, 9) besteht demnach in einer zweiwertigen Textstrategie: Erstens werden homoerotische Inhalte auf eine subtextuelle Ebene verschoben, zweitens wird auf der Textoberfläche das eigentlich Gemeinte in einer Art und Weise codiert, dass sich nicht eingeweihten Rezipienten oder Zensurinstanzen lediglich ein unverdächtiger Text präsentiert; Eingeweihten hingegen wäre es möglich, die versteckte Botschaft zu decodieren. Deterings Arbeit rekurriert auf ein bereits Ende der 1980er Jahre von Marita Keilson-Lauritz entwickeltes Konzept, mit dem sie ebensolche doppel-geschichteten Textstrukturen unter dem Label von »Maske und Signal« beschreibt (Keilson-Lauritz, »Maske und Signal«). Maskierende »Strategeme« funktionieren beim »informierten Leser« als Signale, während sie für diejenigen Leser, denen die homoerotischen Aspekte verborgen bleiben sollen, Masken bleiben. Zu solchen Strategemen zählen: »[1] das geschlechtsneutrale Du-Gedicht, von dem zu gelten scheint, daß es zu Zeiten ein prächtiges Strategem im Dienst maskierender Strategie darstellte, während es andrerseits gerade dadurch so etwas wie eine geheime Signalfunktion erhalten hat [2] andere Formen geschlechtsneutraler Redeweise, bei George z.B. besonders »Kind« für »Knabe« […] [3] Geschlechtsneutralität auf dem Assoziationsniveau (z.B.: wie »männlich« sind Engel?); [4] Einbettung in religiöse Sprache und Attitüde […], die zumal Gesten und Worte der Unterwerfung und des Erleidens akzeptabel macht; [5] Einbettung in die Rede über »Schönheit« und »Ästhetik« (man denke an Winckelmann und die Winckelmann-Rezeption); [6] Einbettung in historische oder ethnische Ferne, wobei z.B. die griechische Antike als Maske dem Signal der »Greek Love« entspricht. [7] code-ähnliche Aufladung von Lexemen mit Sonderbedeutungen […]; (ebd., 6971)«
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Insgesamt nennt Keilson-Lauritz 26 Strategeme, wobei sie zugleich mit dem Hinweis auf mögliche weitere Kriterien den tentativen Charakter ihrer Aufzählung betont. Daran zeigt sich bereits eine Unwägbarkeit des Konzepts: Alles wird zum potentiellen Signal, alles kann eine Maske sein! »Das Karussell der Masken scheint sich in rasender Fahrt zu drehen.« (Ebd., 74) Letztlich kommt es darauf an, wie »hellhörig« (ebd., 72) der Leser mit den potentiellen Strategemen umgeht. Keilson-Lauritz ist sich bewusst, dass ihrer »›homoerotischen Konstellation‹ ein ausgesprochen essentialistischer Gedanke zugrunde liegt« (ebd., 74). Sie teilt sich dieses konzeptionelle Problem mit Jacob Stockingers in den 1970er Jahren ausgearbeiteten Vorschlag der ›Homotextualität‹, einer ›typisch‹ homosexuellen Ästhetik (Stockinger, »Homotextualität«). Auf solche konzeptionellen Probleme, wie den Status des »›eingeweihten‹ oder besonders aufmerksamen Leser[s]« (ebd., 66), oder die vorgängige Suche nach homosexuellen Autoren (wieder einmal müssen George, Platen, Thomas Mann und die anderen Säulenheiligen der homoerotischen Literaturgeschichte herhalten), deren Homosexualität dann in ihren Texten wieder ›aufgefunden‹ wird, macht Keilson-Lauritz explizit aufmerksam. Auch Detering war sich zwar der Kurzschlüssigkeit einer solchen biografistischen ›Homosexuellenriecherei‹ bewusst, doch möchte er KeilsonLauritz’ Angebote auch nicht ganz zurückweisen und stellt daher ihr Konzept auf eine neue methodische Basis, die er in doppelter Weise zu legitimieren sucht. Erstens hält Detering »die Annahme, es müsse sich aus psychischen Voraussetzungen, die allen ›homosexuellen‹ Schriftstellern gemeinsam seien, so etwas wie ›eine Typologie homosexueller Ästhetik‹ ableiten lassen«, für »vorläufig bedenklich« (Detering, Offenes Geheimnis, 21).1 »Vorläufig« deshalb, weil er diese Vorstellung der intentionalen Spezial-Ästhetik selbst wieder einführt – nun aber nachdrücklich diskursanalytischen fundiert: Als eine Art Knotenpunkt der Diskurse spreche das immer schon verortete ›homosexuelle‹ Subjekt, nicht aber ein vor aller Diskursivierung fühlendes Individuum. »Nicht eine hypothetische Konstanz homosexueller Psycholo-
1
Detering bezieht sich hier nicht direkt auf Keilson-Lauritz, sondern auf Wolfram Schüttes Rezension von Hans Mayers Außenseiter, Frankfurter Rundschau vom 06.09.1975.
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gie sollte, wie mir scheint, von einer Untersuchung ihrer Texte vorausgesetzt werden, sondern eine Konstanz der sozialen Sanktionierung« (ebd., 22). Zweitens greift Detering auch auf nicht-fiktionale, vor allem auf (auto-)biografische Texte der von ihm untersuchten Autoren zurück – andernfalls wären wilden Spekulationen allzu hellhöriger Leser Tür und Tor geöffnet – und weist ihnen als textuelle Beweisträger sogar eine herausgehobene Position zu: »Um die Intentionalität der Differenz von Oberflächen- und Subtext nachweisen zu können, wird die Analyse in den meisten (bei völlig gelungener Camouflage wohl in allen) Fällen auf fiktionsexterne Texte zurückgreifen müssen – nicht nur auf Entwürfe und frühere Textfassungen, sondern auch auf Briefe und Tagebücher. Zumindest einige Autoren haben offenbar eine solche Zusammenführung geradezu beabsichtigt.« (Detering, »Fiktionalisierung«, 67)
Allerdings sind Briefe und Tagebücher für Detering »keineswegs ›authentische‹ Dokumente, sondern unterliegen der fiktionalen Regulierung allen autobiographischen Schreibens« (Detering, Offenes Geheimnis, 27). Auf diese Weise versucht er seinen Zugang – im Unterschied zur Arbeit von KeilsonLauritz – von jeder »Neuauflage eines positivistischen ›Biographismus‹« sowie einer »Psychoanalyse homosexueller Autoren« (Detering, »Fiktionalisierung«, 68) freizuhalten und die Diskursabhängigkeit mit der Fiktionalität der Objekte zu verbinden, um vermeintlich authentische Selbstaussagen konstruktivistisch zu ent-essentialisieren. Es kann nicht genug betont werden, dass Detering mit dieser Absage an die ausschließlich mit der Homosexualität der Autoren argumentierende Kontextualität früherer Arbeiten und der dezidierten Beschäftigung mit den literarisch-symbolischen Verarbeitungen der ›Lebenswelt‹ einen großen analytischen Schritt über seine Vorgänger, besonders Stockinger und Keilson-Lauritz, hinausgegangen ist.2 Zu seinen Verdiensten gehört es außer-
2
Auf dasselbe Problem weist Erika Greber hin, weiß aber – unter post-essentialistischen Bedingungen – sehr wohl um die Produktivität dieses Ansatzes: »Problematisch sind aber die in diesem Ansatz implizierte Orientierung auf Erlebnisdichtung und das Voraussetzen eines Identitätsbegriffs; dieser muß unbedingt
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dem, kanonisierte Beispielautoren – auch er befasst sich ausschließlich mit den ›üblichen Verdächtigen des schwulen Kanons‹ wie Platen, Kleist, Chamisso, Andersen sowie Klaus und Thomas Mann – unter dem neuen Label der ›Camouflage‹ durchaus produktiven Lektüren unterzogen und damit auch die Entmarginalisierung queer-wissenschaftlicher Fragestellungen maßgeblich vorangetrieben zu haben.3 Dennoch lassen sich gewichtige Argumente gegen Deterings Konzept ins Feld führen: Wie schon Keilson-Lauritz’ Masken-Signal-Struktur basiert auch Deterings Camouflage-Konzept – auch wo es vermeintlich diskursanalytisch abgesichert ist – auf der Vorstellung vom literarischen Text als trivialer Input/Output-Maschine: Ein Sender verschlüsselt seine Nachricht und ein Empfänger, der den richtigen Code kennt, entschlüsselt diese wieder. Mit dem Konzept der Camouflage wird die multidirektionale Offenheit des Sinns von Literatur reduziert auf einen, zwar ambiguen, aber dennoch geschlossenen Inhalt mit einer Intention. Solche Lektüren, die lediglich verschleiernde Strukturen des literarischen Texts in den Fokus nehmen, ignorieren dessen selbstreflexives Potential, mithin also gerade seine Poetizität als basales Differenzkriterium zu nicht-literarischen ›Funktionstexten‹. Die primäre Opposition des Camouflage-Konzepts – ›Homoerotik‹ (im Subtext) vs. Tarnstrategeme (auf der Oberfläche) – operiert ausschließlich auf der Seite der mimetischen Kommunikationsfunktion von Literatur.
durch das komplexere performative Konzept eines doing gender im Sinne von Butler konturiert werden.« (»Petrarkismus als Geschlechtercamouflage«, 152f.) Grebers Übertragung des Camouflage-Konzepts auf barocke Texte beweist seine Adaptionsfähigkeit. 3
Emanzipatorisch wirkte maßgeblich die zeitweise sehr erfolgreiche Zeitschrift Forum Homosexualität und Literatur (1986-2008), der auch Jacob Stockinger, Marita Keilson-Lauritz und Heinrich Detering eng verbunden waren. Als ein Beispiel für die veränderten Bedingungen, unter denen die vorliegende Arbeit in Zeiten institutionalisierter Gender und Queer Studies entsteht, sei der vor gerade einmal zwei Jahrzehnten erschienene Sammelband Homoerotische Lyrik (1992) angeführt. Dieser musste noch mit einem Beitrag über »Das Vorurteil gegenüber Homosexualität im Abendland« gegen Restriktionen anschreiben und sich – auch wissenschaftliche – Sprechräume erkämpfen.
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Die Selbstreflexivität der performativen Kommunikationsfunktion bleibt unberücksichtigt, sodass der literarische Text zum reinen Repräsentationsmedium der Gedanken und Gefühle des Autors gerät. Das CamouflageKonzept wirkt somit selbst als ein in die Literaturwissenschaft übertragener Homosexualitätsdiskurs. Dieser für die weitere Argumentation zentrale Kritikpunkt am Camouflage-Konzept lässt sich durch die Rekonstruktion seiner Genese untermauern. Trotz aller ent-essentialisierenden Beteuerungen seiner Vertreter wurzelt es doch erstaunlich fest im Nährboden der von Foucault beschriebenen Wissenschaft über die Homosexualität in den Jahrzehnten um 1900. So führt der Weg über Verweise in Deterings Arbeit zu KeilsonLauritz’ Monografie Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges (1987). Sie wiederum betont an zwei Stellen (auf den Seiten 23 und 138) ihre Gegenstellung zu Gerd Mattenklotts Studie Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George (1970). Mattenklott argumentierte dort wohl als erster Forscher im Bereich der homoerotischen Kunst eingehend mit einem Konzept von explizitem Oberflächentext und implizitem homoerotischem Subtext.4 Keilson-Lauritz geht es zwar darum, sich von Mattenklotts zuweilen »offensichtliche[n] Skrupel[n]« (Keilson-Lauritz, Von der Liebe, 138) gegenüber der Homoerotik in Beardsleys und Georges Werk abzusetzen. Gleichzeitig betont sie die Übertragbarkeit seines Konzepts auf das ihre. Ihm ginge es wie ihr um »DAS GEHEIMNIS« der Homosexualität im Werk Georges »als dessen organisierendes Prinzip.« (Ebd.)
4
Einige interessante Arbeiten zu tarnenden Schreibweisen sind im Bereich der Zensurforschung entstanden, hier aber häufiger im Hinblick auf den technischen und den repressiven Charakter von Zensur. Gerade im spanischen Zusammenhang wird jedoch auch auf die produktive Seite der Zensur abgehoben. So empört sich Hans Jörg Neuschäfer über den »Irrglaube[n], in der Franco-Diktatur habe es keine nennenswerten kulturellen Leistungen gegeben« (Macht und Ohnmacht der Zensur, 1). Eine kurze aber präzise theoretische Basis für die Funktionsweisen der Waffen der Kreativen bietet z.B. Gabriele Knetsch im Zusammenhang mit der Bücherzensur und Umgehungsstrategien im Franquismus, vgl. bes. 33-48.
4. G ETARNTE S ELBSTAUSSPRACHE | 109
Mattenklott ging in seiner 1970 erschienenen, viel Aufsehen erregenden Studie von Folgendem aus: »Bilder Beardsleys zu betrachten, ist gleichbedeutend mit dem Lösen zweideutiger Rätsel, deren eine Auflösung banal, die erwartete anstößig ist.« (Mattenklott, Bilderdienst, 59) Schreibt George also über Männerfreundschaft, meint er eigentlich eine homoerotische Beziehung. Und Beardsley nutze den sicheren Boden der hellenischen Kultur, wie bei der Illustration zu Aristophanes’ Drama der Lysistrate, um männlich-homoerotische Sinnpotentiale verschlüsseln zu können.5 Derjenige nun, der über die entsprechenden kognitiven Dispositionen verfügt, wird die eigentlich intendierte Mitteilung, das Geheimnis der Homoerotik, auch dechiffrieren können. Um diese Vermutung auf eine solide Basis zu stellen, schreibt Mattenklott: »[D]ie Sprache der Homosexuellen besitzt ein eigenes, oft unbewußt benutztes System unscheinbarer Erkennungszeichen.« (Ebd., 57) Aus dieser Annahme folgert er, dass eine exakte Interpretation via kollektivem psychischem Kontext des Homosexuellen möglich ist: »Dasselbe, was zu Interpretation und Erkundung herausfordert, ist die Grundlage der Vertrautheit ihrer Glieder untereinander« (ebd., 56). Doppeldeutige Rätsel also nur für die Nicht-Homosexuellen, für die In-Group hingegen eindeutige Aussagen. Dies nun ist just die bereits explizierte Grundlage des gemeinsamen Gruppen-Codes von Sender und Empfänger. Zwar nimmtes kaum Wunder, dass die Wurzeln von Mattenklotts Studie in positivistischen Wissenschaftsdiskursen des späten 19. Jh. zu finden
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Hier freilich beachtet Mattenklott zu wenig den kunsthistorischen Kontext der Illustrationen: Als einer der Vorreiter und als Hauptakteure der illustrativen Sezessionskunst muss Beardsley vielmehr als revolutionärer Spieler mit grotesk dargestellten Sexualitäten gesehen werden. Betrachtet man die Illustrationen in ihrer Gesamtheit, kann keinesfalls zentral auf eigentlich verarbeitete Homosexualität geschlossen werden. Diesen Schluss lassen weder die inhaltliche noch die formale Ebene der Bilder zu: Dargestellt werden meist mann-weibliche Konstellationen und die grotesk vergrößerten männlichen Geschlechtsteile wirken durchaus – auch – verfremdend. Mithin handelt es sich hier mehr um ein Spiel mit pornografischer Schaulust und ihrem künstlerischen Unterlaufen. Dass Mattenklott gerade Beardsleys »Examination of the Herald« abgedruckt, vermittelt einen falschen Eindruck.
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sind – samt ihrer Pathologisierung des Homosexuellen als Kategorie und der Verbindung mit dem kriminalistischen Bestreben zu gruppieren und zu systematisieren. Die Direktheit dieser Verbindung muss allerdings schon frappieren: Mattenklott fand 1970 die Basis seiner Beschreibung des Homosexuellen in einem Aufsatz eines gewissen Albert Moll von 1902 mit dem Titel »Wie erkennen und verständigen sich Homosexuelle untereinander?«, veröffentlicht im Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik.6 Molls Artikel ist nicht nur ein Basistext in der Genese des CamouflageKonzepts;7 er ist zudem ein enormes Beispiel dafür, was Foucault die »neue Jagd auf die peripheren Sexualitäten« (Foucault, Wille zum Wissen, 47) nennt. Indem Mattenklott – sich explizit auf den kriminal-anthropologischen Bericht Molls stützend – davon ausgeht, dass es diese überindividuelle Beziehung zwischen allen Teilnehmern der homogenen ›Gruppe von Homosexuellen‹ gibt, schreibt er sich in die positivistische volonté de savoir des Sexualitätsdispositivs ein, die Foucault so eindringlich beschreibt. Zudem, die bisherigen Befunde stützend, kann mit Andreas Kraß (»Camouflage und Queer Reading«) gegen das Camouflage-Konzept argumentiert werden, dass es problematisch bleibt, Tagebucheinträge und persönliche Briefe in die Analyse mit aufzunehmen, da auf diese Weise der Biografismus erneut in das Camouflage-Konzept eindringe. Literarische
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Dieser Bezug wird in Fußnote 56 (Mattenklott, Bilderdienst, 56) gemacht. Die paratextuelle Stellung darf dabei nicht als Marginalie unterbewertet werden. Im Gegenteil hat der Paratext hier eine zentrale diskursbegründende Funktion: Ohne eine solche fundierende Grundannahme des gemeinsamen Codes ist das Konzept gar nicht zu denken. Die ›Verbannung‹ in eine Fußnote deutet auf ein Unbehagen des Autors hin, das man umso ernster nehmen muss.
7
Dabei ist jedoch festzuhalten: Die Produktivität des Tabus wurde nicht erst mit der neueren genderwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft entdeckt: Die Beschreibung camouflierender Strukturen ist schon in Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) zu finden und erhält sogar einen ganzen Abschnitt: »[Die Sodomie war] geschützt durch die griechische Mythologie (Jupiter, Apoll, Herakles) und durch die antike Kultur.« (Curtius, Europäische Literatur, 123) Damit nennt Curtius bereits eine jener Maskenstrategien, die Keilson-Lauritz später anführt.
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Texte als verlängerten autobiografischen Eintrag im Tagebuch eines Autors zu verstehen, bedeute, das bereits erwähnte Nullsummenspiel zu perpetuieren: Es wird ein homosexueller Autor angenommen, dessen Homosexualität dann zirkelschlussartig aus seinen Texten wieder herausgelesen wird. Camouflage-Lesarten teilen sich – so könnte man Kraß’ Einwände reformulieren – eine grundsätzliche Eigenschaft mit der polizeilichen Kriminalstatistik, speziell mit der Hell- und Dunkelfeld-Problematik: Ihr Korpus, also das Hellfeld, wird gebildet über das Selbstanzeigeverhalten der Autoren (bei Detering sind dies die autobiografischen Dokumente) in Kombination mit dem kontrollierenden Verhalten des Lesers/Literaturwissenschaftlers: In Texten von Homosexuellen homosexuelle Inhalte zu finden, bedeutet in diesem Sinne dasselbe, wie écriture feminine in Literatur von Frauen zu finden – es muss erst dasjenige angenommen werden, was es später zu entdecken gilt – im Falle von homoerotischem Schreiben so etwas wie ›écriture queer‹.8 Um es auf den Punkt zu bringen: Kraß behauptet, dass Deterings diskursanalytisches, ent-essentialisierendes ›Sicherheitsnetz‹ gar keines ist, sondern letztlich positivistisch – in dieser Hinsicht ist ihm zuzustimmen. Auch wenn Detering versucht, seine Analysen mit der Grundannahme einer diskursanalytisch fundierten »Fiktionalisierung homoerotischer Erfahrung« auf eine sichere text-theoretische Basis zu stellen, entgeht er doch nicht einem strukturellen Fallstrick. Denn mit der Grundannahme seines Camouflage-Konzepts, dass die Notwendigkeit bestehe, das Eigene versteckt literarisch wiederzugeben, schreibt er ein genuines und konstitutives Strukturmerkmal der Diskurse über die Homosexualität weiter. Schon die These, dass literarische Produkte aus der Notwendigkeit der Selbstaussprache heraus zu erklären sind, argumentiert, wie anhand der Genese des Konzepts nachgezeichnet werden konnte, in der Logik der wissenschaftlichen Diskurse über die Homosexualität des 19. Jahrhunderts. Literarische Texte werden so just als die Bekenntnisse, Selbst-Berichte und Beichten verstanden, die dem faire-parler gehorchen. Deterings Camouflage-Konzept weist sogar frappierende Ähnlichkeiten mit Freuds Theorie der »Sublimierung« des (homo-)sexuellen Sexualtriebs
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Kraß’ Analysen von Andersens Kleiner Meerjungfrau zielen demgegenüber auf innerfiktionale heteronormative Grundstrukturen ab, die im Text selber ›gequeert‹ werden.
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durch Kulturarbeit auf. Kunstproduktion ist in dieser Sicht nichts anderes als (der Versuch) der Überführung von gesellschaftlich geächteter sexueller Energie in angesehene kulturelle Energie: »[Der Sexualtrieb] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.« (Freud, »›Kulturelle‹ Sexualmoral«, 18)
Auch konstatiert Freud, dass gerade Personen, die besonderen Arten des Sexualtriebes ausgesetzt seien (also jeglichen Arten der Paraphilie), aufgrund ihrer Nichtausführbarkeit als Ventil zur Sublimierung in der Kunstproduktion greifen würden. »Die Konstitution der von der Inversion Betroffenen, der Homosexuellen, zeichnet sich sogar häufig durch eine besondere Eignung des Sexualtriebes zur kulturellen Sublimierung aus.« (Ebd., 20)9 Was Freud hier im Allgemeinen über die Bedingungen homosexueller Kunstproduktion sagt, ist zum Topos des schreibenden Homosexuellen geworden, der gerade wegen seiner verbotenen Gefühle sensible Wege der Selbstaussprache gehen muss – und zwar kulturübergreifend. So heißt es z.B. über die dichterische und malerische Kunst Gregorio Prietos: »Sie hat
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Damit könnte ›das Problem‹ gelöst sein – soll der Homosexuelle doch dichten, um den Erwartungen der Gesellschaft zu genügen. Jedoch: »Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft. Die meisten anderen werden neurotisch oder kommen sonst zu Schaden. Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der unsre Gesellschaft zusammensetzenden Personen der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell nicht gewachsen ist. Wer auch bei milderer Sexualeinschränkung erkrankt wäre, erkrankt unter den Anforderungen unserer heutigen kulturellen Sexualmoral um so eher und um so intensiver, denn gegen die Bedrohung des normalen Sexualstrebens durch fehlerhafte Anlagen und Entwicklungsstörungen kennen wir keine bessere Sicherung als die Sexualbefriedigung selber.« (Freud, »›Kulturelle‹ Sexualmoral«, 23).
4. G ETARNTE S ELBSTAUSSPRACHE | 113
Anteil daran, was man üblicherweise verstanden hat als ›sensibler‹ Künstler, ein Euphemismus, der häufig in Spanien zur Tarnung einer homosexuellen Orientierung eingesetzt wird.«10 (Mira, Para entendernos, 589) Kunstproduktion wird hier mit (typisch homosexueller) Sensibilität verschränkt. Es ist deutlich geworden, in welchem Maße – nämlich fundamental – das Camouflage-Konzept eben mit dem faire-parler zusammenhängt. Die positivistische Beschreibung des Homosexuellen bildet die Grundlage des Camouflage-Konzepts: Deterings »homosexueller Autor« (Detering, Offenes Geheimnis, 10) ist nicht nur homosexuell, sondern hat – innerhalb seiner epistemischen Umgebung – eines mit allen seinen zeitgenössischen Kollegen gemeinsam: eine spezielle Sensibilität dafür, das innigste Thema, nämlich die eigene Homosexualität, auszudrücken. Seine literarischen Produkte nutzen literarische und lyrikhafte Mittel zur mimetischen Kommunikation des Eigenen und Eigentlichen.
4.2 C AMOUFLAGE
ALS
»S KLAVENSPRACHE «
Im Schlusskapitel seiner Untersuchung stellt Detering offen sein Problembewusstsein gegenüber solchen Einwänden vor. Er stellt die Frage nach der »Sklavensprache« (Detering, Offenes Geheimnis, 333) der Camouflage und damit exakt meine Frage nach der Diskursreaktivität, nach den gegendiskursiven Möglichkeiten von Literatur. Er konstatiert, dass Camouflage eine Ermöglichungsstrategie der literarischen Rede über Homoerotik ist und mithin ein – bei ihm in doppelten Anführungszeichen, aber ohne Quellenbeleg – »Gegendiskurs«. Gleichzeitig weiß er darum, dass die camouflierende literarische Sprache aber auch ein diskursstabilisierendes Weitersprechen in der Herrensprache der Heteronormativität ist: »Lauter produktive Effekte des Zwangs zur Camouflage, lauter kleine Siege der Literatur über Sprachlosigkeit und Sprechverbot, gar ein ›Gegendiskurs‹ gegen Ein-
10 Orig.: »Forma parte de lo que convencionalmente se ha entendido por artista ›sensible‹, un eufemismo empleado a menudo en España para camuflar la orientación homosexual.«
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grenzung, Sanktionsdrohungen, Pathologisierung: Über der Bewunderung für die literarischen Leistungen dieser Texte könnte am Ende doch in Vergessenheit geraten, dass sie alle von einem übermächtigen Zwang bestimmt sind, von Demütigung und Isolation, dass sie nicht nur eine Reihe von Siegen darstellen, sondern zugleich eine einzige Niederlage. Listenreiche, findige, kunstvolle, zu Selbstbehauptung und Gegenwehr entschlossene Sklavensprache, aber Sklavensprache eben doch.« (Ebd.)
Was Detering hier schon mit dem »Zwang[s] zur Camouflage« andeutet, soll weitergedacht werden: die ›Strategeme‹ camouflierenden Schreibens sind nämlich tatsächlich Teile des großen Systems, der großen ›Strategie‹ des Sexualitätsdispositivs und besonders der ›Master‹-Diskurse über die Homosexualität selber. Camouflage wirkt in dieser Sicht ebenso diskursstabilisierend wie die juridische und medizinische Rede über die Homosexualität. Es handelt sich bei dieser Sklavensprache (welche Detering verwirrenderweise »Gegendiskurs« nennt) also um einen discours ›en-retour‹. Ein konsensuales Sprechen, das die Natürlichkeit der diskursiven Rede über Homosexualität mimetisch reproduziert. Einige der im vorangegangenen Kapitel besprochenen Gedichte haben mann-männliche Erotik nicht explizit genannt, oft blieb sie, im Sinne Deterings ›verschlüsselt‹. Daher wurden einige Texte einer Art CamouflageLektüre unterzogen und sogar, ganz wie bei Detering, ihr co- und kontextuelles Umfeld mit in die Überlegungen einbezogen. Gerade dass sie – ohne eine konkrete Notwendigkeit, immerhin sind die ›eindeutigen‹ Texte in dieser Umgebung nicht selten – camouflierend sprechen, kann nach meinen Befunden zu den Wurzeln des Konzepts als Indiz dafür gelten, dass sie ihre Sprache zur Sklavensprache machen, ihr Sprechen koalitionär in den Dienst des Sexualitätsdispositivs und der Diskurse über die Homosexualität stellen. Ihre Strategeme sind also Teil der Wissens- und Machtstrategie. Andere Texte, und solche sollen im Folgenden vorgestellt werden, wären zu kurz betrachtet, würde man ihnen ›nur‹ Camouflage unterstellen: Sie, so die These der folgenden Analysen, spielen mit genau dieser tarnenden Textstruktur – und damit mit dem konstitutiven Element der Diskurse über die Homosexualität, dem faire-parler. Sie setzen ihm konterdiskursive lyrisch-literarische Strukturen entgegen. Ihre tarnenden Strategeme erweisen sich nicht als Teil der Strategie, sondern als Taktiken gegen die Strategie, sie sind im starken Sinne das, was Detering ein ›offenes Geheimnis‹ nennt.
5. Contre-discours I: Dissidente lyrikhafte Diskurse
5.1 T AKTIKEN GEGEN DIE S ELBSTAUSSPRACHE »A G REGORIO , EN D ELFOS «
IN
Ein literarischer Spaß zwischen befreundeten Dichtern soll ein Beispiel für die Überlegungen zum dissidenten Potential von männlich-homoerotischer Lyrik liefern. Im Nachlass des spanischen modernistischen Malers und Dichters Gregorio Prieto (1897-1992) findet sich ein nachlässig beschriebener Zettel (Abbildung 4). Auf diesem bilden eine kleine Sonnen-Strand-Zeichnung, ein unverständlicher kinderreimähnlicher Text, »En el Fisch / haciendo pisch«, alles wohl aus Rafael Albertis Hand, einen karnevalesken Rahmen für das Sonett »A Gregorio, en Delfos«. ›Unterschrieben‹ ist es von »Homero y Safo«, signiert mit den Namen der Dichter Rafael Alberti, Rosa Chacel, Emilio Prados und María Teresa León. Zur Entstehungsgeschichte ist leider nichts, zur Entstehungszeit nur wenig herauszufinden. Der Katalog zur Ausstellung über Gregorio Prietos Freundschaftsverhältnisse zu anderen Dichtern und Malern anlässlich seines 100. Geburtstages 1997 druckt das Blatt als Faksimile und in Transkription ab, der »Catálogo de Obras« weiß jedoch nichts über die Entstehungsgeschichte des Dokuments: »s[in] d[ato]« (Prieto, Gregorio Prieto y sus amigos poetas, 133). Mit Prieto bekannt und befreundet waren die meisten der vier genannten Dichter bereits seit Anfang/Mitte der 1920er-Jahre. María Teresa León jedoch wurde erst 1930 mit Rafael Alberti bekannt. Ein Entstehen nach 1936 ist wegen des Ausbruchs der Guerra Civil und der
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damit verbundenen Exilierung der hier versammelten Künstler in die verschiedensten Gegenden der Welt (wegen ihrer Verbundenheit mit antifaschistischen und kommunistischen Bewegungen) eher nicht anzunehmen. Somit fällt dieses Gedicht in die Hochzeit der Textproduktion der Generación del 27, zwischen 1930 und 1936. A Gregorio, en Delfos
1
1
Joven mancebo griego desflorado
2
que tocas tu siringa entre las flores
3
y miras entre espasmos y temblores
4
el pífano que yace adormilado.
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No le contemples, póstrate a su lado,
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traspásale el hervor de tus ardores,
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y que blancos, purísimos licores
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rieguen de aljófar el verdor del prado.
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Los racimos se inclinan, se desvaen
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los antes ígneos, lánguidos capullos,
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y la noche lasciva se desnuda.
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Las cascadas se duermen cuando caen,
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las palomas apagan sus arrullos…
14
Se alza Selene, blanca, fría, muda.1
Die Kenntnis dieses Textes verdanke ich Horst Weich; ihm und den Teilnehmern der Wissenschaftlichen Übung zur »Schwulen Lyrik auf der Iberischen Halbinsel« im Wintersemester 2008/09 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verdanke ich so manchen interpretativen Zugang.
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An Gregorio, in Delphi 1
Junger griechischer deflorierter Bursch,
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der du deine Syrinx spielst zwischen den Blumen
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und anschaust zwischen Krämpfen und Zittern
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den Flötenspieler, der eingenickt daliegt.
5
Betrachte ihn nicht, wirf dich ihm zur Seite,
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übertrage ihm das Kochen deiner Glut
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und auf dass weiße, reinste Liköre
8
sprengen mit schiefrunden Perlen das Grün der Wiese.
9
Die Trauben beugen sich, es verblassen
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die vorher feurigen, kraftlosen Knospen
11
und die lüsterne Nacht entkleidet sich.
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Die Wasserfälle schlafen während sie fallen,
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die Tauben hören auf zu gurren…
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Es erhebt sich Selene, weiß, kalt, stumm.2
Die handschriftliche Form, das Trägermedium, die banale Rahmung und die Marginalität innerhalb des Schaffens seiner Verfasser erzeugen den Eindruck eines kleinen Spaßes, einer literarischen Frotzelei unter befreundeten Literaten. Die ausführliche Analyse und die anschließende theoretische Unterfütterung mögen daher wie Kanonen gegenüber diesem Spatz erscheinen. Oder aber der Ludismus des Sonetts wird ernst genommen, ja zentral gesetzt, um es danach befragen zu können, in welcher Hinsicht sein spielerisch-anderer Diskurs unter der Fragestellung der Gegendiskursivität den großen Diskursformationen seiner Zeit konterdiskursive Kräfte entgegensetzen kann.
2
Meine Übersetzung.
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Abb. 4: Rafael Alberti, Rosa Chacel, Emilio Prados und María Teresa León: »A Gregorio, en Delfos«, ca. 1930-1936.
5. D ISSIDENTE LYRIKHAFTE D ISKURSE | 119
5.1.1 Lyrik des Siglo de Oro: Ein- und Ausschreibungen Die Syrinx spielend sagt Pan in Ovids Metamorphosen: »hoc mihi conloquium tecum […] manebrit« – »Diese Art der Zwiesprache [mit dir] wird mir bleiben.« (Ovid, Metamorphosen, I 710) Von seinem Nachstellen nach der Nymphe Syrinx bleibt Pan nur ein Ersatz: Die flüchtende Nymphe hatte sich, um ihm zu entgehen, in Schilf verwandeln lassen. Des Gottes Flötenspiel, der Klang der aus ihrem Schilfkörper gebauten Panflöte und dessen »arte nova« (I 709) ersetzt nun die körperliche Vereinigung. So steht das Panflötenspiel für eine Kunst der Sublimierung des Körperlichen durch die Kunst. Pan erscheint in den Metamorphosen sozusagen als (sublimierender) Petrarkist avant la lettre. Denn das conloquium in arte macht just die zwei Grundkoordinaten des petrarkistischen Liebesdiskurses aus, in den sich das Gedicht »A Gregorio, en Delfos« deutlich einschreibt: Fernando de Herrera hatte 1580 im Hinblick auf die Texte Garcilaso de la Vegas (dem ersten spanischen Petrarkisten) in seinen Anotaciones a las obras de Garcilaso den Petrarkismus als amor honesto ›ehrbare Liebe‹ konzeptualisiert und sie geradezu als die paradigmatische Form der menschlichen Liebe bestimmt, die sich zwischen »ver y conversar« manifestiert: »die aktive [Liebe], welche die menschliche ist, ist das Vergnügen zu sehen und mit jemanden darüber zu sprechen« (Herrera in: Gallego Morell, Garcilaso, 329)3. Schon der Form nach schreibt sich »A Gregorio« in diese petrarkistische Tradition ein – und erschreibt sich selber Lyrikhaftigkeit: ein prototypisches Sonett im durchgängigen endecasílabo. Auch die thematischstrukturellen Grundkoordinaten sind enthalten: Die Unerreichbarkeit des geliebten Objekts bringt die »antinomisch-paradoxale[n] Affektstruktur« (Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, 26) der dolendi voluptas zwischen Liebendem/r und Geliebtem/r hervor und macht die Körpersublimierung durch Dichtkunst notwendig. Der unendliche Kampf zwischen schmerzhaften und glücklichen Affekten (affetti dogliosi und lieti) führt nicht selten zur berüchtigten (psychiatrisch gesprochen: ›bipolaren‹) Liebeskrankheit. So setzt das Gedicht gleich mit den Koordinaten des »ver y conversar« ein: Die Kunst des Flötenspiels in seiner Supplementarität kor-
3
Orig.: »el [amor] activo, que es el humano, es el deleite de ver y conversar«.
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reliert also mit dem Betrachten (»miras«3) des Liebesobjekts »entre espasmos y temblores«3, das körperliche Reaktionen auslöst, die symptomatisch sind für den amor hereos. Schon hier aber erfährt das System eine erste prekäre variatio: Die Auswirkungen auf den Körper sind symptomatisch, aber in ihrer synekdochischen Partialität nicht typisch: Der ganze Reichtum der Beschreibung der affetti dogliosi des petrarkistischen Systems wird reduziert auf, zumal sexuell konnotierte, Krämpfe und Zittern (»espasmos y temblores«3), keine geistigen, sondern körperliche affetti sind beschrieben – von geistiger Liebe keine Spur. Neben dem amor honesto des Petrarkismus schreibt sich das Gedicht auch in die anderen beiden von Herrera angeführten Liebesniveaus ein: in den körperzentrierten amor lascivo (nämlich die rein körperlichen Symptome der Liebeskrankheit) und den (neu-)platonischen amor contemplativo. In den Versen 5 und 6 werden diese beiden entgegengesetzten Diskurse in einer Weise hierarchisiert, die systemische Möglichkeiten des Petrarkismus überschreitet: Explizit auf den kontemplativen Diskurs bezogen stellt sich die Sprecherinstanz4 mit der Aufforderung »No le contemples«5 gegen die Tradition der platonischen Liebe. Mit »traspásele el hervor de tus ardores«6 wird eine körperliche (im Niederknien, »póstrate a su lado«5, zumal ketzerische) Annäherung als remedium amoris angeboten und gefordert. Die sich hier auftuende Kluft zwischen den drei Liebeskonzeptionen soll weiter untersucht werden. Marsilio Ficino ist u.a. mit seinem Symposion-Kommentar De amore von 1469 der hier anzuführende Liebesdiskursverarbeiter und Begründer des Neuplatonismus der europäischen Renaissance. Er schreibt im Kapitel »Was die Liebenden erstreben«:
4
Paratextuell ist eine explizite Sprechinstanz auffindbar: Nicht nur haben Rafael Alberti, Rosa Chacel, Emilio Prados und María Teresa León als Verfasser des Textes unterschrieben. Mit den noms de plume »Homero y Safo« verortet sich die Sprechsituation im antiken Griechenland. In der Überschrift wird Gregorio Prieto adressiert, jedoch in eine fiktive mythische Situation versetzt. Die lebensweltlichen Verfasser stellen sich damit nicht nur in die Folge berühmter Vorgänger, sondern markieren die Sprechsituation im Rollengedicht als dezidiert literarisch-textuell. Außerdem wird so eine Sprechsituation etabliert, die sich außerhalb der Vorgaben neuzeitlicher Schreibsysteme befindet.
5. D ISSIDENTE LYRIKHAFTE D ISKURSE | 121
»Was suchen nun die, welche sich gegenseitig lieben? Die Schönheit. Die Liebe ist nämlich das Verlangen, die Schönheit zu genießen. Die Schönheit ist ein Lichtglanz, welcher die menschliche Seele zu sich hinzieht. Die Schönheit des Körpers besteht ausschließlich in der Pracht der Farben und Umrisse. Die Schönheit der Seele ist leuchtende Herrlichkeit, welche auf der Harmonie von Geistesbildung und Charakter beruht. Die strahlende Schönheit des Körpers wird weder durch das Gehör noch den Geruchssinn noch den Geschmack noch den Tastsinn, sondern nur das Auge erkannt. Indem dieses allein sie erkennt, genießt es sie auch allein. Das Auge allein genießt also die körperliche Schönheit. Da nun die Liebe das Verlangen ist, die Schönheit zu genießen, und diese allein durch das Auge wahrgenommen wird, so findet der Liebhaber des Körpers seine Befriedigung im Sehen. Das Gelüste des Tastsinnes hingegen gehört weder zu der Liebe, noch ist es die Gemütsbewegung eines Liebenden, sondern ist eine Art von Unkeuschheit und die Verirrung eines niedrigen Menschen. Ebenso nehmen wir die strahlende Schönheit der Seele ausschließlich durch den Geist wahr. Daher findet, wer die Schönheit der Seele liebt, seine Befriedigung einzig in der geistigen Betrachtung.« (Ficino, Über die Liebe, 77)
In platonisch geschulter Schönheits- und Lichtmetaphorik5 und klassischphilosophischer Rhetorik (dreigliedriger Syllogismus: Liebende suchen Schönheit, Schönheit ist nicht körperlich, wahre Liebe richtet sich auf das Unkörperliche) wird hier »pulchritudo« als der irdische Abglanz der wahren göttlichen Schönheit verstanden. Sie ist jene höchste Form der Schönheit, die der betrachtenden sehnenden Seele einen Eindruck von den verlorenen Ideen vermittelt. Ficino folgt einer der mittelalterlichen scala naturae verpflichteten und gleichzeitig platonistisch geschulten Kosmogonie (oder »great chain of being«, wie sie Lovejoy in seiner gleichnamigen Studie behandelt hat). Der amor contemplativo steht, weil verbunden mit dem Geist, nicht mit dem Körper in Verbindung und damit in Dichotomie zum unkeuschen »Gelüste des Tastsinns«. Dies ist eine besonders interessante Stelle für Hempfers Konzept des Diskurstypenspiels, da hier die platonische Be-
5
Im lateinischen Original: pulchritodo – ›Schönheit‹, splendor – ›Pracht‹, fulgor – ›Blitz‹, lux – ›Licht‹ etc. etc. Vgl. Ficino, De amore, 75.
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trachtungs-Lehre strikt von anderen Arten der Liebe (zumal der hedonistischen) getrennt wird, eben »einzig in der geistigen Betrachtung«.6 Wie im auditiven Kunst-Medium des Flötenspiels, das über die »nova arte« des Pan mit Poesie verbunden ist, handelt es sich beim kunstvollpetrarkistischen Schreiben um eine Supplementform der Liebe, jenes Supplement, das die Verbindung von irdisch-hedonistischer Schönheit und der wahren Schönheit der reinen Ideen darstellt. Der petrarkistische Diskurs ist – mit Herrera – mithin als Zwischenstufe und Vermittler des amor contemplativo und des amor lascivo zu bezeichnen. 7 Für das petrarkistische Schreibsystem wurde spätestens in den ersten Adaptionen Petrarcas durch z.B. Bembo oder Garcilaso das Diskurstypenspiel (Hempfer) konstitutiv. So besteht stets »die Möglichkeit, daß in einem konkreten Text bzw. in einem konkreten Textkorpus das petrarkistische System ›aufgebrochen‹ erscheint, daß dem petrarkistischen System inkompatible Elemente indiskriminiert mit Elementen vermischt werden, die dem petrarkistischen System spezifisch sind« (Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, 24). Der petrarkistische Liebesdiskurs formiert sich just als Überschreitung diskursiver Ordnungen, durch »Systemunterminierung und Systemtransgression« (Regn). Gerade hiermit ist seine andauernde Produktivität – bis hinein in die spanische Edad de Plata – zu erklären. Grundsätzlich handelt es sich beim petrarkistischen amor honesto um eine die absoluten Grenzen in beide Richtungen überschreitende Liebesdiskursform, da sie körperliche Liebe ebenso wie die rein kontemplativen Vergeistigungen der Liebe durch Kunst sublimiert. In der künstlerischen Sublimierung muss ein weiterer
6
Zur nicht nur literarischen, sondern auch theoretischen Beschäftigung mit der systematischen Ausdifferenzierung der erotischen Diskurse in der Renaissance vgl. z.B. Klaus W. Hempfer: »Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz)«.
7
Daher ist das genus medium – oder hier besser: mixtum – nach frühneuzeitlicher rhetorischer Angemessenheitslehre von Sprechgegenstand und Sprechweise (aptum) die zur Verhandlung von (petrarkistischen) Liebesdingen zu wählende Stilhöhe – damit wiederholt sich die liebesdiskursive Mischung auf Verfahrensebene.
5. D ISSIDENTE LYRIKHAFTE D ISKURSE | 123
›Motor‹ der petrarkistischen Textproduktion (gleichwertig neben der antinomisch-paradoxalen Affektstruktur) gesehen werden. Die diskursive Ordnung wird jedoch in vielen petrarkistischen Zyklen durch die Restauration der Liebeshierarchie wiederhergestellt (z.B. durch Sublimierung mittels erlösender Gottesliebe bei Petrarca oder durch die Heirat bei Boscán etc.). Jede letztliche Sublimierung fehlt in »A Gregorio« jedoch ganz: Im Gegenteil handelt es sich um ein klares Statement sowohl gegen die Sublimierung des Neuplatonismus als auch gegen die Supplementierung des Petrarkismus: Es ist ein Aufruf zur hedonistischen körperlichen Aktivität. Die These, die für »A Gregorio« verfolgt werden soll, ist nun, dass das Sonett mit diesen bereits im Siglo de Oro angelegten gleichzeitig ver- und aufdeckenden Camouflage-Techniken spielt und sie als Textverfahren ausstellt.8 Um die Spezifik des Umgang von »A Gregorio« mit dem literarischen System des Siglo de Oro herauszuarbeiten, sollen zwei Folientexte aus dem ›Zentrum‹ des Systems herangezogen werden. Ziel wird es sein, die Einund Ausschreibungen aus den bereits im Siglo de Oro – meist unter dem allumfassenden Label des ›Petrarkismus‹ – in Verhandlung miteinander tretenden Liebesdiskursen herauszuarbeiten. Letztlich wird sich zeigen, dass das Sonett sich in ganz ähnlicher Weise in die Tradition ein- und wieder ausschreibt, wie es Horst Weich für »Juan Gil-Alberts schwule[n] Sonettkranz Misteriosa Presencia« gezeigt hat:
8
Betrachtet man so manches Gedicht Garcilasos oder Góngoras, nimmt es Wunder, dass mit Stephan Leopolds Arbeit, Die Erotik der Petrarkisten, erst in neuester Zeit eine systematische Lektüre möglich wurde, welche die hedonistischen Anteile auch des ›klassischen‹ Petrarkismus energisch ausbuchstabiert – erst mit einer liberalen Öffnung des philologischen universitären Diskurses wird es endlich möglich, schon lange in die Diskussion eingespeisten Konzepten, wie dem Liebesdiskurstypenspiel, in ihrer Leidenschaftsbetonung auch in passionierter Textarbeit nachzugehen. So explizieren Studien wie die von Stephan Leopold ›frivole‹ Sinn- und Lesepotentiale und machen darauf aufmerksam, dass frivole Mitsinne ›gut versteckt‹ bereits den kanonisierten petrarkistischen Texten des Siglo de Oro eigen sind – wie bereits gesagt, ist dem petrarkistischen System seine eigene Überschreitung inhärent, ein Ein- und Ausschreiben um die Grenzen des Systems herum ein konstitutives Moment.
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»Gil-Albert schreibt sich in die klassischen Filiationen der Liebeslyrik ein. Er sucht, wie er an der Textoberfläche signalisiert (Sonettform, Zyklusbindung, topisches Arsenal von Motiven und Verfahren), zunächst den Bund mit der petrarkistischen Tradition, überschreibt diese aber, indem er den antipetrarkistischen Hedonismus dominant setzt und zudem die Geschlechterverhältnisse invertiert zu einer homoerotischen Paarbeziehung.« (Weich, »Juan Gil-Alberts schwuler Sonettkranz«, 171)
Zunächst soll kurz Leopolds Argumentation unter dem Label der »Spielräume höchster Begierde« (Leopold, Erotik, 126ff.) nachvollzogen werden, in der er das Diskurstypenspiel Garcilasos im berühmten »Soneto XXII« einer ›unkeuschen‹ Lektüre unterzieht: 1
Con ansia estrema de mirar qué tiene
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vuestro pecho escondido allá en su centro
3
y ver si a lo de fuera lo de dentro
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en aparencia y ser igual conviene,
5
en él puse la vista, mas detiene
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de vuestra hermosura el duro encuentro
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mis ojos, y no pasan tan adentro
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que miren lo qu’el alma en sí contiene.
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Y así se quedan tristes en la puerta
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hecha, por mi dolor, con esa mano,
11
que aun a su mismo pecho no perdona;
12
donde vi claro mi esperanza muerta
13
y el golpe, que en vos hizo amor en vano,
14
non esservi passato oltra la gonna.9
Mit äußerstem Verlangen zu betrachten, was Eure Brust dort in ihrem Zentrum versteckt hält und zu sehen, ob dem Äußeren das Innere seinem Aussehen und seinem Sein nach gleich kommt, legte ich auf sie den Blick, doch die harte Begegnung hält meine Augen von Eurer Schönheit ab und sie kommen nicht soweit hinein, als dass sie betrachten könnten, was die Seele enthält.
9
Garcilaso, Poesía Completa, 107.
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Und so bleiben sie traurig vor der Tür, die – zu meinem Schmerz – mit dieser Hand gemacht ist, dass sie nicht mal ihrer eigenen Brust verzeiht; (dort,) wo ich klar meine erstorbene Hoffnung sah und den Treffer, den Amor Euch umsonst versetzt hat, konnte ich es nicht schaffen, unter das Gewand zu gelangen.10
Garcilasos berühmtes Sonett schreibt sich sehr wohl in das petrarkistische Liebessystem des »ver y conversar« [»sehen und darüber sprechen«] ein, jedoch mit einer deutlichen Überblendung des neoplatonischen mit dem hedonistischen Diskurstyp: Steht der typisch neoplatonische und petrarkistische Blick des Liebenden schon im ersten Vers zentral, ist jedoch sowohl das Objekt des Blicks wie auch der Modus des Blicks nicht unter diese beiden Diskurstypen zu subsumieren: »Con ansia estrema«1 richtet sich der Blick auf einen kaum platonisch zu nennenden Ort des Frauenkörpers, den »pecho«2. Die, wie im oberen Ficino-Zitat gezeigt, voneinander klar zu scheidende sublimierende Inspektion des Blicks vermischt sich mit einer sexualisierenden Penetration des »ver si a lo de fuera lo de dentro«3. So »schlägt die Hand [welche die Angeblickte gegen den voyeuristischen Blick auf ihre Brust legt] gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie verhindert sowohl einen platonisierenden als auch einen hedonistischen Gestus des Betrachters.« (Leopold, Erotik, 127) Das abschließende, nur im Subjekt angepasste (»esservi« statt »essermi«) Zitat eines Verses aus Petrarcas Metamorphosenkanzone ist nicht nur eine Strategie der Legitimation durch die auctoritas veterum, sondern bewirkt auch, so Leopold überzeugend, eine Verstärkung der hedonistischen Lektüre: So ist es hier nicht mehr der Liebespfeil Amors, der, abgehalten von der »gonna«14, nicht in die Brust der Dame eindringen kann, »sondern auch das Scheitern eines lüsternen Blicks« (ebd., 128). Die argute Schlussfolgerung Leopolds: »Liest man das Sonett XXII, wie vorgeschlagen, als ein begrenztes Diskurstypenspiel, dann erscheint die petrarkistische Endstellung des Liebenden in einem merkwürdigen Licht. Sie nimmt nicht mehr die Mittelstellung in der Liebestypologie [gemeint ist Herreras Hierarchisierung der Liebesdiskurse] ein, sondern ist gleichsam eine Schwundstufe, auf die das gescheiterte Sprechersubjekt zurückgeworfen wird.« (Ebd.)
10 Meine Übersetzung.
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Der petrarkistische Liebesdiskurs erscheint hier also in seiner, wie oben beschriebenen, Sublimationsform (damit aber auch in einer defizitären Form in Hinblick auf das eigentlich Begehrte) der körperlichen Liebe. Weitere Lektüren von Gedichten Garcilasos mit und gegen Petrarca kulminieren bei Leopold in der Aufdeckung einer männlichen sexuellen Gewaltphantasie im »Soneto IV« (ebd., 129-132). Mag diese Lektüre für Texte der Renaissance in ihrer typischen »zureichend verhüllten Sinnlichkeit« (Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, 45) noch gewagt anmuten,11 so drängt sich durch die ›Offensichtlichkeit des Versteckens‹ eine solche Lektüre für den spanischen Barock und zumal für einige Texte Luis de Góngoras auf. Bernhard Teuber hat die Veränderungen in der Ästhetik von der Renaissance zum Barock im Hinblick auf Sublimierungsstrategien von Sexualität betont: »Wenn die Renaissance eine Ordnung der durchgeistigten Transparenz, der gegliederten Unterscheidung und des maßvollen Insichruhens beinhaltet, dann veranschaulicht das barocke Körperideal umgekehrt all jenes, was diese Ordnung der Renaissance ausschließt, was sie verdrängt – opake Materialität, indistinkte Konfusion, ekstatischen Exzess. All dies Verdrängte kehrt im Barock wieder.« (Teuber, Curiositas et crudelitas, 624)
Die berühmte »Überfunktion des Stils« (Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, 599) des Barock stellt gerade jene Mittel zur Verfügung, die benötigt werden, die neuen pluralen, skeptizistischen und anti-humanistischen Sinnangebote der krisenhaften Barockzeit darstellbar zu machen.12 Die Funktion der Überfunktion des Stils ist mithin – auch – eine kognitionszentrierte Vertextungsstrategie von (in der Renaissance) zunächst latenter, nun (im Barock) virulenter Sexualität. Man denke hier an die dichteri-
11 Wobei man gegen die zureichende Verhüllung argumentieren kann, dass jede Stelle, an der man eine zureichende Verhüllung feststellen kann, schon eine Stelle der unzureichenden Verhüllung wäre, da bei tatsächlich ausreichender Verhüllung das Verhüllen gar nicht als solches in den Blick hätte geraten können. 12 Zu Filiationen des Barock zur Renaissance im Hinblick auf geistesgeschichtliche Hintergründe, vgl. Buck, Forschungen zur romanischen Barockliteratur.
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sche agudeza der konzeptistischen Dichtungstradition: Im konzeptistischen Barock ist weder die Weltwahrnehmung noch die Text-Welt-Verbindung von einer noch in der Renaissance gültigen, aus dem Mittelalter übernommenen analogia entis gestützt. Welt und Weltwahrnehmung werden nun in der kognitiven Vertextungsarbeit des Dichters geschaffen. Zur Verdeutlichung soll auf einen zweiten Folien-Text, ein – bisher wenig beachtetes – Sonett Góngoras von 1621 eingegangen werden. Die Marginalität der Rezeption dieses Sonetts ist gleichzeitig der Grund, warum es hier angeführt wird: Selten wurden Gewalt, Sexualität und Schreiben so eng verknüpft wie hier. Gerade diese Struktur wird sich im Abgleich mit »A Gregorio« gewinnbringend ansetzen lassen. 1
Al tronco Filis de un laurel sagrado
2
reclinada, el convexo de su cuello
3
lamía en ondas rubias el cabello,
4
lascivamente al aire encomendado.
5
Las hojas del clavel, que había juntado
6
el silencio en un labio y otro bello,
7
vïolar intentaba, y pudo hacello,
8
sátiro mal de hiedras coronado;
9
mas la invidia interpuesta de una abeja,
10
dulce libando púrpura, al instante
11
previno la dormida zagaleja.
12
El semidiós, burlado, petulante,
13
en atenciones tímidas la deja
14
de cuanto bella, tanto vigilante.13
Phyllis, an den Stamm eines heiligen Lorbeers gelehnt, leckte das Haar die Biegung ihres Halses in blonden Wellen, lasziv der Luft ausgeliefert. Die Blätter der Nelke, die die Stille in einer Lippe und einer anderen schönen zusammengefügt hatte, versuchte ein Satyr, schlecht mit Efeu gekrönt, zu vergewaltigen – und konnte es tun. Doch die dazwischen gestellte Eifersucht einer Biene, süßes Purpur saugend, warnte in dem Moment das schlafende Hirtenmädchen.
13 Góngora, Sonetos completos, 161.
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Der Halbgott, getäuscht, anmaßend, lässt sie in schüchterner Aufmerksamkeit, genauso schön wie wachsam, zurück.14
Was in diesem eng an die Narrationen der ovidischen Metamorphosen und die spanische Schäferdichtung in Folge Jorge de Montemayors anschließenden bukolischen Sonett auffällt und im Vergleich zu rinascimentalen Texten frappieren muss, ist der explizit sexuelle Diskurs: mit offenem Haar, das ihr in blonden Wellen den nackten Hals leckt, liegt die Nymphe Phyllis15 lasziv an einen Lorbeerstamm gelehnt und schläft.1-4 Ein in einer enorm gesperrten hyperbatischen Struktur mehr schlecht als recht verrätselter Vergewaltigungsversuch eines Satyrs kann nur durch den Stich einer Biene, der die Schlafende weckt und warnt, in die für eine Nelke gehaltenen Lippen der Nymphe abgewendet werden.5-11 Solch explizite Körperlichkeit, Sexualität und Gewalt sind hier weiterhin verschränkt mit einer auto(r)reflexiven Geste: Mit dem »laurel«1 schreibt sich das Sonett zum einen in die petrarkistische Tradition ein (man denke an Petrarcas Umgang mit »Laura« und »loro«, der Überblendung der Geliebten mit dem Dichterlorbeer). Zum anderen, und dies scheint mir der hier wichtige Punkt zu sein, schreibt sich der Dichter mit dem LorbeerAttribut selbst in den Text ein, verbindet sich nämlich als poeta laureatus mit Petrarca. Im 148. Sonett, das ein Jahr später entstand, wird der Lorbeer und der bei dessen Anblick von Vanitasgefühlen ergriffene Dichter mit der topischen Lyra des Sängers verbunden: »Laurel que de sus ramas hizo digna / mi lira«5,6 [Lorbeer, der durch seine Zweige würdig machte / meine Leier].
14 Die sogar für Góngoras Verhältnisse grammatikalisch überaus komplexe ›Fältelungs-Struktur‹ des Sonetts muss in meiner Arbeitsübersetzung etwas ›geglättet‹ werden. 15 Mit doppelt sprechendem Namen: φιλíα und Φυλλίς, also sowohl »Liebe« als auch »Blatt«/»Laub«. Häufig wird Phyllis in Vergils Bucolica genannt, dort als ein hübsches Mädchen (unter vielen), z.B. sagt der einsame Hirte Meliboeus, er hätte »keine Alcippe oder Phyllis« (VII, 14), oder es heißt in der metapoetischen 10. Ekloge: »Gewiß, hätte ich eine Phyllis oder einen Amyntas oder sonst jemanden, der mir den Verstand raubt« (X, 37f.). Phyllis ist also eine der zahlreichen Laura-Vorgängerinnen.
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Diese Verbindung mit dem Dichter wird in »Al tronco« mit dem Bild der Biene wieder aufgenommen: Die Biene ist seit Vergil und Horaz16 ein geläufiges Bild für den Dichter selbst. »Die Biene ist in besonderem Maße ein Symbol für den hellenistischen Dichter, weil Rezeption und Produktion, Arbeit und Nahrungsaufnahme in ihrer Tätigkeit unauflöslich miteinander verbunden sind.« (von Albrecht, »Kommentar«, 216) Covarrubias betont für das rinascimentale und barocke Dichten in Spanien die imitatio/aemulatio-Matrix des Dichterbildes als Biene: »Die Biene ist Symbol für den Neugierigen/Sorgfältigen und Fleißigen, der von dem einen und anderen Autor die bemerkenswerten Sentenzen entdeckt – wie die Biene, die Blumen verschiedener Pflanzen entdeckt – und daraus ein sanftes und süßes Werk herstellt und formt, wie es die Honigwabe ist.« (Covarrubias, Tesoro, -A- fol. 2v)17 Schreibt sich nun der Dichter als Biene in »Al tronco Filis« ein, so wird er zum Akteur im Text und hält den Satyr von der Vergewaltigung ab. Dies ist als eine enorme Selbstermächtigungsgeste des Dichters über einen »semidiós«12 zu verstehen.18 Gleichzeitig kommt die Dichterbiene vor dem animalischen semicabrón (Halb-Bock) selbst zum Stich, was ihre sexuelle Potenz und damit, auf der auto(r)reflexiven Ebene, des Autors textuelle Potenz herausstellt.19 Im Gegensatz zum Petrarkismus – als Einübung in den Verzicht bzw. als Strategie der Sublimierung von Sexualität – wird hier Sexualität explizit in Verbindung mit Gewalt profiliert. Der ansonsten im Pet-
16 Vgl. speziell zu Horaz: Warmuth, Autobiographische Tierbilder bei Horaz, 8993. 17 Orig.: »Es la abeja simbolo del curioso, y diligente, que cogiendo de uno, y otro Autor las sentencias notables, como el abeja coge las flores de diferentes plantas [imitatio], haze, y forma una obra suave, y dulce [aemulatio] como el panal de la miel.« 18 Gleichzeitig hat diese Einschreibung des Autors auf der histoire-Ebene seines Textes metaleptisches Potential: Das Spiel mit den ontologischen Grenzen zwischen Text- und Autorwelt kann mithin als ein Verfahren der Ausstellung der Texthaftigkeit des Sonetts angesehen werden. 19 Die dichterische Potenz über die fiktive Welt wird außerdem durch einen Verstoß gegen die Wahrscheinlichkeit ausgestellt: Die Biene verhält sich nicht wie zu erwarten, da sie die Blütenblätter der Lippen nicht bestäubt, sondern sticht.
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rarkismus nur adelnde lauro/»laurel«1 wird hier als heilig ausgezeichnet (»sagrado«1): Die dichterische Macht wird zur Allmacht über die Textwelt, in der der Dichter für die eigenen Zwecke selbst Lippen zu Nelkenblüten werden lassen kann (man denke an die vielen Zeus-Metamorphosen, die dem Gott verschiedenste – erzwungene – sexuelle Kontakte ermöglichen).20 In der Logik der analogia entis sind die Lippen, zumal sie hier Nelkenblättern zum Verwechseln ähnlich sind, durchaus mit den Schamlippen zu überblenden: Der Stich der Dichterbiene wird so zur Penetration. Dies ist natürlich eine klare Überschreitung der Grenzen des petrarkistischen Systems, wie es Ignacio Navarrete für große Teile des gongorinischpetrarkistischen Diskurses annimmt: »Góngora bricht mit der Metonymie zwischen poetischer und erotischer Frustration, indem er die alte Pose des männlichen Leidens und der weiblichen Indifferenz diesem gegenüber in eine freie Zone des poetischen Spiels umformt.« (Navarrete, Huérfanos de Petrarca, 261)21 Im Abgleich mit den zwei Texten von Garcilaso und Góngora soll nun gezeigt werden, wie sich »A Gregorio« in die Tradition der petrarkistischen imitatio/ aemulatio22 einschreibt. Zunächst macht es ebenfalls, wie bei Góngora, die inscriptio der Dichter-Position zentral: Der dem Pan verwandte mancebo-Petrarkist wird zum hedonistischen Ausführen der Liebe aufgerufen, und soll den petrarkistischen sublimierenden Dichtungsdiskurs, wie er an Garcilasos Text gezeigt wurde, fahren lassen. »A Gregorio« behandelt also im Modus der Kunst eine Aufforderung, sich gegen die sublimierende
20 Eine metapoetische Lesart mag sich zudem anbieten. Die Lippen der bedichteten Phyllis werden vom Stachel der Dichterbiene verletzt: Die Artikulation (in der Handlungswelt des Gedichts der Schrei um Hilfe) kann so verunmöglicht werden, das weibliche Objekt des männlichen Schreibens wird zur Stille gezwungen; ein erstaunliches Bild für die männliche Überhebung im Schreiben. 21 Orig.: »Góngora rompe la metonimía entre frustración poética y erótica, transformando la vieja pose del sufrimiento masculino y la indiferencia femenina en una zona libre para el juego poético.« 22 Freilich ist in der Zeit des Entstehens des Textes das regelpoetische Paradigma von imitatio und aemulatio bereits obsolet: Spätestens in Romantik hatte die Genieästhetik es abgelöst. Es handelt sich also um eine bewusste Einschreibung in das vormoderne literarische System.
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Kunst und für die erotische Liebe zu entscheiden.23 Dieser Text steht mithin im Zeichen eines performativen Selbstwiderspruchs. Oder, nimmt man die Sprechsituation des Textes genauer in Augenschein, so handelt es sich um eine double bind-Situation: Der griechische Bursch wird im Modus der Kunst zum Entsagen der Kunst aufgefordert. In Hinsicht auf Sexualität camouflierende Verfahren handelt es sich hier um eine Übererfüllung der Verdeckung und somit um eine tatsächlich aufdeckenden Technik. In formalistischer Diktion kann hier von einer Bloßlegung des Verfahrens gesprochen werden, die den Mechanismus des Camouflierens als solchen ausstellt. 5.1.2 Geerdete Sublimierung: vexierhafte De- und Konnotate Das zunächst potentielle, dann aktualisierte Liebesgeschehen wird deiktisch zweifach verortet: zum einen, dem Titel nach, in Delphi, dem zentralen Kultort Hellas’, als Nabel der Welt, zum anderen spielt sich die Situation an einem locus amoenus ab: »entre las flores«2, »verdor del prado«8, »racimos«9, »capullos«10, »cascadas«12 und »palomas«13. Diese doppelte Lokalisierung verlegt die Sprechsituation an einen vor-ficinesken häretischen Ort, an dem körperliche, geistige und metaphysische Liebe noch nicht durch christliche Liebeshierarchien klar getrennt sind.24 Zum anderen an einen wunderbaren Ort der Natur- und Schäferdichtung, den Ort, an dem in der Literaturgeschichte Liebeskonstellationen verhandelt werden, und den Ort, der immer schon für metapoetische Reflexionen genutzt wurde: »[Die bukolische Dichtung] beruft sich auf volkstümliche Wurzeln, ist aber schon
23 Ein geglückter Liebesakt ist im Petrarkismus eine ausgesprochene Seltenheit – lässt die Erfüllung der Sehnsucht doch das gesamte System, das gerade auf Unerreichbarkeit basiert, in sich zusammenbrechen; eine Ausnahme ist der sog. ›Ehepetrarkismus‹, eine meist weibliche Form des petrarkistischen Zyklus, der in der Hochzeit mit dem/r Geliebten endet – wobei der christliche Rahmen sicherstellt, dass die sexuelle Erfüllung ihre Prekarität verliert. 24 Vgl. z.B. die Rede der Diotima in Platons Symposion. In dieser »gilt die Geschlechtsliebe, sofern sie dem Ziel der Schönheitsschau gehorcht, daher als durchaus zulässige, wenn nicht sogar notwendige Vorstufe späterer Verfeinerung.« (Leopold, Erotik, 107).
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seit Theokrit eine besonders kunstvolle Gattung, die als Gefäß für Reflexionen über Poesie dienen kann.« (von Albrecht, »Kommentar«, 270)25 Delphi, als möglicher Handlungsort, ist zudem durch seine Lage am Hang des poetologisch aufgeladenen Parnass (Apoll geweiht und Heimat der Musen) deutlich als Ort der Poesie markiert. Poesie und Natur sind so miteinander verschränkt. Dieser Verschränkung soll weiter nachgegangen werden: Mit »desflorado«1 wird das carpe diem-Motiv aufgerufen. Der spätantike26 gallo-römische Ausonius (ca. 300-393) hatte zum ersten Mal das carpe-Motiv explizit mit der Rose (und deren Brechen) kurzgeschlossen: »Collige, virgo, rosas, dum flos novus et nova pubes« [Sammle, Mädchen, Rosen, solange die Blume frisch und frisch die Jugend ist] (Ausonius, Opera, 264). Diese metaphorische Verbindung ging als fester Topos in die Literatur ein: Solange Jugend und Schönheit vorhanden sind, solle die junge Frau ihre Reize auch nutzen, sich der Schönheit erfreuen. Damit einhergehend handelt es sich aber auch um ein Deflorationskonnotat: carpere und colligere florem stehen in direkter metaphorischer, in den romanischen Sprachen – und mithin in »A Gregorio« – noch augenscheinlicherer, Verbindung mit der Entjungferung. Ein sexuelles Element ist dem carpe diem also bereits in den Gründungstexten27 eingeschrieben. Der Begriff ›desflorado‹ nun spielt ein Spiel mit sexuellem Konnotat und sublimiertem Denotat. Die Code-Grenze zwischen unverdächtigem Oberflächentext (gealtert, unansehnlich, ungeschmückt) und sexuellem Subtext (defloriert) wird hier destabilisiert.28 Tat-
25 Vgl. dazu genauer: Schmidt, Poetische Reflexion, bes. 107-119. 26 Freilich zunächst schon bei Horaz, Carmen 1,11: »carpe diem, quam minimum credula postero« (Oden und Epoden, 25), hier aber eben ohne die explizite Verbindung zur Blumenmetaphorik. 27 Dazu zählen zentral natürlich die Übersetzungen und Weiterschreibungen des spätantiken Umgangs mit dem Motiv bei Fernando de Herrera und später bei den Góngora zugeschriebenen Sonetten »A una rosa« und »A la rosa y su brevedad«, siehe unten. 28 Wenn Camouflage eine metaphorische Bewegung ist, die das Eigentliche mit dem Uneigentlichen ausdrücken will, dann wird hier diese Metaphernstruktur zum Changieren, ja zum Kollabieren gebracht. Sie wirkt hier also nicht als Mit-
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sächlich kann man hier von einer Verkehrung der Ebenen sprechen: Nur konnotativ handelt es sich hier noch um die Beschreibung eines ›Verblühten‹, also nicht mehr in vollem Saft Stehenden. Denn die pleonastische, und am Gedichtanfang stark markierte, Wendung »[j]oven mancebo«1 widerspricht dieser Deutung. Vielmehr wird aus diesem Jungen ein bereits hedonistisch vorgeprägter Bursch – speziell: ein männlich-homoerotisch vorgeprägter Bursch, da in einem gender-twist die traditionell weibliche Eigenschaft (entjungfert) im mann-männlichen Kontext anal umgedeutet wird.29 Das aufgerufene carpe-Motiv wird tatsächlich von seinem devianten Mitsinn überlagert. So handelt es sich beim vorliegenden Text um ein aemulatives Weiterschreiben einer Erotik dissimulierenden Schreibweise des Siglo de Oro, nämlich um ein offenes Spiel mit der Doppelkodierung aus denotativer keuscher und konnotativer männlich-homoerotischer Bedeutung.30 Die verdeckend-entdeckende Texttaktik kann auf lexikalischer Ebene weiter verfolgt werden: Der Leser erhält bereits im ersten Vers des Gedichts einen konkreten Hinweis auf ein Erotik dissimulierendes und männliche Homoerotik camouflierendes Schreiben und damit eine Leseanleitung für einen interpretatorischen Ansatz: Metaphorische Wendungen sind im Folgenden, so sagt es nämlich das offene/offengelegte Geheimnis (wie in
tel der Erkenntnis (rhetorischer Gebrauch der Metapher), sondern als Marker für die Textualität (literarischer Gebrauch der Metapher). 29 Nur mit arger Mühe mag man hier keine anal-deflorative Metaphorik ausmachen: So müsste man eine ironisch-oxymorale Bedeutungsverschränkung von »mancebo« (+ jung) und »desflorado« (- jung) als Synonym von ajar für ›abnutzen‹, ›altern‹ annehmen. Dann handelte es sich womöglich um einen nicht mehr in der Jugendblüte stehenden Burschen. Dies mag als ein nur biografistisch, also rein extratextuell, zu erklärender Spaß der Autoren gegenüber dem zum möglichen Entstehungszeitraum ca. 33-39 Jahre alten, also dem Burschen-Alter längst entwachsenen, Gregorio Prieto zu verstehen sein. Eine innertextuelle Bestätigung für diese Lesart findet sich jedoch nicht. 30 Hier sei noch einmal auf den speziellen Kontext hingewiesen, in welchem dieser Text entstand: nämlich in einer freien Spiel-Situation, fern von aller möglichen Zensur, von fremden Blicken, in einer Schreibsituation der freundschaftlichen Intimität.
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4.1 dargelegt) des »desflorado«, auf ihre konnotative hedonistische/sexuelle Dimension zu befragen. So kann man weiterhin die sich entdeckenden Verbergungsstrategeme ausbuchstabieren: Zum Ejakulat werden die »blancos, purísimos licores«7, die sich wie schiefrunde Perlen(-tropfen), »aljófar«8, denotativ gelesen in der grünen Wiese des Schauplatzes ergießen, oder konnotativ im jugendlich grünen31 Schamhaar, »prado«8, – eine über Preziosen- und Naturmetaphern konnotierte sexuelle Aktion. Dabei ist der Begriff »aljófar« interessant. Denn er ist, wie Covarrubias weiß, ein topisches Bild im Siglo de Oro: »Die Dichter sind es gewöhnt, die Tränen, welche die Damen aus ihren Augen verströmen, Perlen zu nennen, und der Wiese, die von Tautropfen funkelt, geben sie das Beiwort ›voller schiefrunder Perlen‹ [aljofarado].« (Covarrubias, Tesoro, fol. 35r)32 So findet sich der Begriff wiederholt bei Góngora, z.B. an zwei Stellen der Soledades, an denen aljófar jeweils metaphorisch doppelt kodiert mit Wasserund Gifttropfen erscheint.33 Dabei hat der Begriff bei Góngora über seine metaphorische Bedeutung von Träne oder Tropfen hinaus eine poetologische Sinndimension: so z.B. in Vers 5 im Sonett »¿Cuál del Ganges marfil«, in dem dieses gesuchte (arabische) Wort nicht nur die Preziosität der petrarkistischen Dame unterstreicht, sondern auch die schwülstige – manieristisch-barocke – Beschreibungsweise selber benennt. Werden in »A Gregorio« die topischen Tränen zu Ejakulatstropfen, ergibt sich darüber hinaus auch ein metapoetischer Schluss: die Verbindung von manieristischem Schreiben als Tarnverfahren von Sexuellem. Auch die Trauben9, die sich prall und schwer (höchste Erntezeit!) vom Saft beugen, und die noch vor der vollen Blüte bereits im Verblassen be-
31 Man mag auch die Konnotation von verde, ›lüstern, wollüstig‹, mitlesen. 32 Orig.: »Los poetas suelen llamar a las lagrimas que despiden por sus ojos las damas perlas, y al prado que con las goticas del rocío resplandece, le dàn por epiteto aljofarado.« 33 Folgende Stellen sind gemeint: »da la fuente / sierpes de aljófar«I, 599-600 – »die Quelle entlässt Schlangen aus schiefrunden Perlen« und »Ella pues sierpe [...] / aljófar vomitando fugitivo / en lugar de veneno«II, 320-322 – »Es [das Rinnsal, das aus einer Quelle entspringt] ist eine Schlange, [...] anstelle von Gift eine flüchtige schiefrunde Perle erbrechend« (meine Übersetzungen).
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griffenen Rosenknospen10 (im Sinne einer Ähnlichkeit der Form)34 verweisen sowohl auf ein männliches Körpergeschehen als auch auf die Vergänglichkeit der Potenz des Lebendigen. Alle bukolischen Naturbeschreibungen lassen sich somit in das Spiel der Doppelcodierung integrieren.35 Auf diese Weise spielt der Text ein Spiel mit der Überlappung des Naturbereiches mit dem Bereich der Sexualität. Und mit noch einem weiteren Bereich mag man eine Überlappung sehen: Der Bursch spielt zwischen Blumen; »flores«2 jedoch sind ein rhetorischer Fachterminus für den ornatus der hohen Rede und damit auch ein metadiskursiver Verweis auf die Kunstfertigkeit des vorliegenden Textes. Der deflorierte Bursch hat damit auch einen vom sublimierenden genus sublime freien Körper, den es zwischen den Blumenranken der Rhetorik »entre las flores«2 zu erkennen gilt. Hier ist die Argumentationsführung des Textes wichtig, die sich über die Temporaldeiktika manifestiert: Im Präsens des ersten Quartetts wird die körperlich beziehungslose Situation des angesprochenen Burschen zu dem schlafenden Flötenspieler festgemacht. Im folgenden Aufforderungsquartett wird ersterer zu einer zukünftig möglichen körperlichen Vereinigung aufgefordert.36 Das an die Jetztzeit des ersten Quartetts anschließende erste Terzett kündigt zunächst mit den vorher (»antes«11) noch kräftig-feuerroten
34 Der Vers, »los antes ígneos, lánguidos capullos«10 spannt oxymoral die Ontogenese der Blume von der Knospe zum Verwelken; eine Figur, die sich bereits im Góngora zugeschriebenen Sonett »A una rosa« findet: »Ayer naciste, y morirás mañana. / Para tan breve ser, ¿quién te dio vida? / ¿Para vivir tan poco estás lucida, / y para no ser nada estás lozana?« [Gestern wurdest du geboren, morgen wirst du sterben. / Für ein so kurzes Sein, Wer gab dir Leben? / Für so wenig Leben bist du erleuchtet, / und dafür, nichts zu sein, bist du üppig?] Im Gegensatz zu diesem Prätext jedoch, in dem die Prächtigkeit und Üppigkeit, »lucida«3 und »lozana«4 in den Kontext der vanitas gestellt wird, wird in »A Gregorio« zur Nutzung der Potenz aufgerufen, bevor diese durch die Zeit nachlässt. 35 Zur sexuellen Doppelkodierung der Blumen in der homoerotischen Lyrik der Generación del 27, vgl. Weich, »Petrarkistischer Bund« und »Obskure Begierden« und die dort aufgeführte Forschungsliteratur. 36 Die Doppelkodierung aus Kunst und Sexualität macht aus dem einsamen Syrinx-Spiel2 des Burschen eine voyeuristische Masturbationsszene; in Verbindung mit dem Flötenspieler4 wird eine Fellatio in Aussicht gestellt.
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Knospen und den n o c h prallen Trauben eine mögliche Vergeudung des saftigen und kräftigen Zustands der Pflanzenumgebung und, über das Konnotat, körperlicher Zustände an; man denke an das carpe diem, »pflücke den Tag«, bevor die Frucht verdirbt, bevor die Blume welkt. Weich macht auf die Argot-Nebenbedeutung von capullo als ›Vorhaut‹ aufmerksam (Weich, »Petrarkistischer Bund«, 184).37 Diese Verbindung von Naturdenotat und Körperkonnotat ist auch in »A Gregorio« durchaus denkbar. Mit dem letzten Vers des ersten Terzetts wird metonymisch die das ungehörige Geschehen verdeckende Nacht als lüstern11 charakterisiert und damit das Geschehen selber benannt. Im letzten Terzett vollendet sich die im Aufforderungsquartett schon präskribierte Körperaktion, die ausgespart bleibende Dynamis der stattfindenden Körperaktion wird einer Stasis der Umwelt (und der beschämt oder voyeuristisch-gespannten, den Atem anhaltenden bukolischen Umgebung) entgegengesetzt, der Fluss von Wasserfällen stockt12, Tauben beenden ihr Gurren13 und drei Punkte13 markieren – nicht nur ikonisch die den Rasen sprengenden (Ejakulats-)Tropfen, sondern auch – eine nicht mehr obskure Leerstelle der eigentlichen Aktion. Mit der Erotisierung des Inhalts geht auch eine Verkomplizierung der Darstellung einher: Macht es der Text im ersten Quartett durch mimetisches Beschreiben noch leicht zu referentialisieren, so steigert er seine Poetizität durch die Verweigerung eines einfachen Referenten und die Verdichtung des Wortmaterials so weit, dass aus einem ›lesbaren Text‹ ein ›schreibbarer Text‹ wird, der die (erotische) Schreibarbeit des willigen Rezipienten einfordert.38 Mit der Zunahme der inhaltlichen Erotik geht die Steigerung der Erotisierung des Lesevorgangs einher. Mithin wird nicht nur der Bursch zur erotischen Aktivität aufgerufen, sondern auch der Leser. Außerdem wird, was zunächst noch als Camouflage von deviantem Subtext und blumenreichem
37 Diese ergibt sich metaphorisch über die Bedeutung von capullo als ›Eichelnäpfchen‹. 38 Vgl. dazu Barthes S/Z, 7f.: Komplexen Sinn- und Verweisstrukturen produzieren ›schreibbare Texte‹, die vom Leser eine aktive Interpretation verlangen – im Gegensatz zu ›lesbaren Texten‹ (die Barthes auch als ›klassische Texte‹ bezeichnet), der vom Leser nur ein Herausholen der präfabrizierten abgeschlossenen Bedeutung verlangt. Reine Camouflage-Lektüren operieren in diesem Sinne als rein ›passive‹ Interpretationen.
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Oberflächentext erschien, in seiner starken Poetizität zum performativen Ausstellen einer künstlerischen Leistung. Neben der schon angesprochenen Verortung der Sprechsituation in der metapoetisch aufgeladenen Bukolik verortet die Sprechsituation den Text in einer dezidiert literarisch-textuellen Schreibsituation: mit den noms de plume »Homero y Safo« und dem Titel nach in Delphi, das durch seine Lage am Hang des poetologisch aufgeladenen Parnass deutlich als Ort der Poesie ausgezeichnet ist. Im changierenden Gleichlauf der Isotopien Natur, Sexualität und Kunst/ Poesie/Textualität verunklart »A Gregorio« die Ebenen von Oberfläche und Subtext und hebt diese Verunklarung in metapoetische Höhen. 5.1.3 Selene bleibt stumm Die drei Auslassungspunkte wurden als Kulmination dieses Ebenenspiels beschrieben. Das Sonett könnte hier nun enden, hätte es nicht 14 Verse zu füllen: Im abschließenden Vers wird jedoch eine weitere Spielebene mit vorfindlichen Liebesdiskursen aufgemacht, dort wird nämlich die beschriebene Situation des schlafenden pífano und der Lust des mancebo mit dem Mythos von Selene und Endymion verbunden: Die Mondgöttin besuchte im Mythos jede Nacht den ewig schlafenden Endymion und gebar ihm als Folge dieser Besuche fünfzig Töchter und drei Söhne – die wiederholte Vergewaltigung eines schlafenden Mannes. In Lukians satirisch-erotischen Göttergesprächen hört sich das (in Wielands Übersetzung) folgendermaßen an. Auch hier benennt eine gar nicht obskure Leerstelle die sexuelle Handlung: »LUNA. Mir, liebe Venus, scheint er [Endymion] sehr schön zu seyn: zumahl wenn er auf seinem über den Felsen hingespreiteten Jagdpelze schlummert, und in der Linken etliche Wurfpfeile hält, die ihm schon aus der Hand entschlüpfen, den rechten Arm aber mit einer unbeschreiblichen Grazie um seinen Kopf herumgebogen hat, so daß die Hand einen Theil seines schönen Gesichtes verdeckt. So liegt er in den reizendsten Schlummer aufgelößt, und sein sanfter Athem ist so rein und lieblich, als wär’ er mit Ambrosia genährt. Ich gestehe dir, daß ich mich dann nicht enthalten kann, so sachte als möglich herabzusteigen, auf den äußersten Fußspitzen, aus Furcht ihn aufzuwecken, zu ihm hinzuschleichen, und dann – doch wozu brauche ich dir zu sagen, was weiter erfolgt? Genug, ich läugne nicht daß ich vor Liebe schier von Sinnen komme.« (Lukian, Sämtliche Werke, 60f.)
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Lukian betont hier gerade durch die Auslassung »und dann – « das eigentliche Geschehen. Gerade diese Aussparung der Sexualität wurde in Literatur und bildender Kunst am Endymion-Stoff immer wieder produktiv gemacht. Dabei funktionierte die Leerstelle jedoch nicht parodistisch-entlarvend, wie bei Lukian, sondern wurde eher sublimierend angedeutet, wie hier auf einem Bild des französischen Klassizismus: Anne-Louis Girodet de RoussyTrioson: »Endymion. Effet de lune« (Abbildung 5). Die sexuelle Interaktion wird hier durch die Lichtmetaphorik und durch das Amor-Motiv neuplatonistisch sublimiert. Der Untertitel des Bildes, »Effet de lune«, macht zudem als meta-artifizieller Kommentar auf die hell-dunkel-Gestaltung des Gemäldes aufmerksam, nicht jedoch auf das ›eigentlich‹ Dargestellte.
Abb. 5: Anne-Louis Girodet de Roussy-Trioson: »Endymion. Effet de lune« (dt. meist: »Der schlafende Endymion«), 1791.
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Dass der Endymion-Mythos aber mitnichten rein sexuell-hedonistisch verstanden wurde (dass es sich also in »A Gregorio« nicht um eine Weiterschreibung, sondern um eine dissidente ré-écriture handelt), zeigt die Beliebtheit des Endymion-Motivs auf spätantiken und frühchristlichen Sarkophagen: So begründet Hellmut Sichtermann die Beliebtheit des Endymion-Motivs auf Sarkophagreliefs des dritten Jh. n. Chr. damit, dass die Endymion-Darstellung einen Teil der »losen Verbindung zu einer allgemein elysisch-bacchisch-bukolischen Jenseitsvorstellung […], in welche der einzelne, individuelle Tote eingehen soll« (Sichtermann, Späte EndymionSarkophage, 82), versinnbildlicht, dass also nicht die sexuelle, sondern die freiheitlich-natürliche Komponente des Hedonismus im Zentrum der Mythos-Rezeption stand. Außerdem dient »der ruhig liegende heroisierte Tote« (ebd.) als Nobilitierungsinstanz und Sublimierung des Zustands des Verstorbenen. In frühchristlicher Zeit ist es die Verbindung Endymions mit seiner Profession als Hirte, die ihn weiterhin für Sarkophag-Reliefs beliebt macht. Die tendenziöse Einschreibung in den Mythos durch die Hervorhebung der sexuellen Komponente in »A Gregorio« ist als dissidente Texttaktik gegen die nach-hellenistische Vereinnahmung und Zähmung des Mythos zu verstehen.39 In »A Gregorio« erscheint die Referenz auf den mythologischen Stoff als ein dissidentes Legitimationsverfahren: Das hedonistische Liebeskonzept wird mit dem griechischen Mythos fundiert, gleichzeitig wird die in der mythischen Episode latente Sexualität profiliert. Im letzten Vers tritt eine dritte Person auf. In doppelter Weise ist hier »se alza«14 zu lesen: Der Grundbedeutung nach erhebt sich hier die Mondgöttin; in der Bedeutung von alzar als ›Einspruch einlegen‹ erhebt sie hier aber auch ihre Stimme gegen ein vermeintliches Unrecht. Der Bezugsrahmen des Endymion-Mythos und die dadurch evozierte Erwartungshaltung des Lesers wird jedoch komisch gebrochen. Es hat ja bereits eine sexuelle Aktion stattgefunden: Selene kommt zu spät, ihre Attribute der Kälte und des Schweigens stehen ganz im Gegensatz zur »noche lasciva« in Vers 11,
39 Dies ist ein augenscheinliches Beispiel dafür, dass der Mythos von seinen aktualisierenden und ihn tatsächlich produzierenden Interpretationen abhängt. Mythos wird hier fassbar nicht als Grund, sondern als kontingente Gründung.
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statt der durch den Mythos vorgegebenen heterosexuellen Vereinigung bleibt Selene außen vor – ihr Einspruch wird nicht gehört.40 Eine zweite Deutung des »muda« kann noch angeschlossen werden: So ist es nämlich auch der petrarkistische Text selber, der letztlich stumm bleibt. Setzte er noch ganz im Modus der Sublimation durch die petrarkistische (Kunst-)Sprache ein, so stehen nicht nur die drei Auslassungspunkte im vorletzten Vers, sondern auch das Stummbleiben im letzten Vers in ihrer Positionsäquivalenz für eine abschließende Ablehnung des conversar und die stumm bleibende Einlösung des Körperlichen. Das abschließende »muda«14 kann hier außerdem in seinem homosexualitätsdiskursiven Kontext als Synonym für das peccatum mutum gelesen werden: So sehr sich der Text in andere Diskurse durch Diskursverhandlung gleichzeitig ein- und ausschreibt, so setzt er diesen nun abschließend den topischen Diskurs der ›stummen Sünde‹ entgegen. Das Sonett ist zu seinem Ende gekommen: Nach der (den Sexualakt aufschiebenden) Textproduktion steht eine, die Reproduktion zuhandener Liebesdiskurse verweigernde, mann-männliche sexuelle Zusammenkunft. Setzt man nun »A Gregorio« noch einmal in argumentativen Bezug zum besprochenen Garcilaso-Text »Con ansia extrema«, so ergibt sich folgendes Bild: Bei Garcilaso ist die neoplatonische wie auch die körperliche Penetration der Geliebten nicht möglich; »esperanza muerta«12, das direkte Zitat Petrarcas im letzten Vers, etabliert somit den dritten Weg des remedium amoris – die (petrarkistische) Textproduktion. Wie im petrarkischen Prätext wird auch der Liebende bei Garcilaso zum liebenden Poeten – im Original, der 23. Kanzone, findet sich der Liebende metonymischmetamorph in einen Dichterkranz verwandelt »in quel ch’i’ sono, / facendomi d’uom vivo un lauro verde« – petrarkistisches Schreiben erscheint somit als Schwundstufe wahrer Erfüllung der Liebe und gleichzeitiger Textgenerator des petrarkistischen Schreibens.
40 Mit gender-geschultem Blick sind in diesem homoerotischen Gedicht Ausschließungsmechanismen des Weiblichen aus der kulturellen Produktion nur zu deutlich zu erkennen, wie sie aus männlich-heteronormativen Texten ebenfalls bekannt sind. Die weibliche Figur wird nur zur Beglaubigung und Kommentierung des rein männlichen Geschehens eingeführt.
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Mit dem letzten Vers im Prieto-Text hingegen endet das petrarkistische Schreiben und durch die Aufgabe der textuellen Sublimierung wird ein in Relation zum petrarkistischen System zwar stumm bleibender, aber in der Markierung des Verstummens dissidenter Raum der (literarischen) Homoerotik eröffnet: Es ist dies die Einlösung des Aufrufs zur hedonistischen Ausführung der Liebe.41 5.1.4 Dissidente Taktik So wird in »A Gregorio« mit der Freud’schen Umwidmung von sexueller in ›textuelle‹ Energie gespielt: Die hedonistische Erfüllung des Begehrens wird gefordert, jedoch im Modus der lyrikhaften Sublimierung durch camouflierende Sprache! Es handelt sich also um eine sich im Verdecken entdeckende Taktik der Ermöglichung literarischer homoerotischer Subjektivität. Im Abgleich mit Góngoras »Al tronco, Filis« lässt sich hier jedoch keine so starke Subjektposition finden, die sich der Dichter-Autor euphorisch als schaffende Kraft erschriebe. Vielmehr wird die Subjektposition aus dem Diskurs hinausgeschrieben, erhält ihren Ausdrucksraum im negativen Raum des Schweigens – der sich wiederum aus den verschiedensten Sprechdiskursen heraus etabliert hat. Eine subjektive Zwischenposition des oszillierenden Ein- und Ausschlusses also, wie sie Jörg Dünne – dort freilich im Modus asketischen, nicht ›promisken‹ Schreibens – als »schwache Subjektivität« (Dünne, Asketisches Schreiben) konzeptualisiert hat. Nur auf den ersten Blick redet »A Gregorio« dem faire-parler das Wort, indem es Homoerotisches sublimiert. Das Gedicht nutzt vielmehr taktische ludische Verteilungen und entzieht sich so dem diskursiven
41 Die rahmenden Paratexte mit ihren Signaturen verdoppeln das Vexierspiel aus Textualität und Sexualität: Der Appell Homers und Sapphos an Gregorio (in Delphi), sich der hedonistischen Liebe hinzugeben, wiederholt sich nämlich auf metadiegetischer Ebene mit den unterzeichnenden Dichtern Rafael Alberti, Rosa Chacel, Emilio Prados und María Teresa León, die den Dichter Gregorio Prieto auffordern, sublimierende literarische Sprechweisen zugunsten eines homoerotischen Hedonismus aufzugeben.
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Zwang zur Selbstaussprache. Tatsächlich geht es um die Lust an der ausgestellt lyrikhaften Äußerung (devianter) Sexualität. Das Sonett stellt sich in die Tradition des petrarkistischen Ver- und Aushandelns von Liebesdiskursen. Die drei Stufen der Liebe, der amor contemplativo, der amor activo oder petrarquista und der amor lascivo werden kombiniert, gegeneinander gestellt und verhandelt; dazu gehört auch die Bezugnahme auf den hellenistisch-römischen Mythenzusammenhang unter Berücksichtigung der erotisch ambiguen hellenistischen Tradition.42 Die gesamte Diskursverhandlung ist mit Flötenspieler und Bursch in einen männlich-homoerotischen Kontext transponiert. Wenn auch durch grundsätzlich petrarkistischen Stil und Form betont textuell, so entsteht dennoch ein neuerlicher Sprechort der Homoerotik. Dieses Sprechen wird, dem alten Verdikt des pecado nefando folgend, nicht direkt benannt. Jedoch bleibt die Stimme auch nicht stumm und ausgespart (auch nicht und vor allem nicht an der markierten Leerstelle13!). Auch wird sie nicht in eine rein camouflierend-ersetzende Textstrategie von unverdächtiger Oberfläche und deviantem Subtext eingespeist; »desflorado« signalisiert ja gerade die Maske. Homoerotik drückt sich hier also in einem überaus komplexen Sprechen aus: zwischen Affirmation und Sublimation, zwischen Sexualität und Textualität, zwischen Camouflage, Schweigen und Klartext. Wie in 2.2.2 gezeigt entstehen feste geschlechtliche Matrizen, die als Norm und natürlich erscheinen, durch wiederholte regelkonforme Praktiken. Wie es von der Geschlechterdekonstruktion Judith Butlers im Anschluss an die Derrida’sche Dekonstruktion herausgearbeitet wurde,43 liegt nun genau hier, in der Notwendigkeit zur Wiederholung, eine Möglichkeit des Widerstandes durch eine repetition with a difference:
42 Die absolute Grenzziehung zwischen den Stufen der Liebe besorgte erst der christlich geprägte körperfeindliche Neoplatonismus. So gehört zur protoplatonischen Liebe, wie in Platons Phaidros, eine Kombination aus sexuell-hedonistischen und spirituell-sublimierenden Anteilen. 43 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 6.1.4.
5. D ISSIDENTE LYRIKHAFTE D ISKURSE | 143
»Dass die diskursiven Regelmäßigkeiten ständig aufs Neue gefährdet sind, liegt daran, dass sie nur in der Wiederholung von Praktiken existieren und immer wieder neu (und damit potentiell abweichend) aufgeführt werden müssen und können. Diese Möglichkeit der Freiheit ist für Foucault wie für Butler ohne die Gefährdung und ohne die ständige Wiederholung nicht zu haben. (Hobuß, »Sprachliche Resignifikation«, 44)
Eine solche taktische Wiederholungsstruktur, so meine abschließende Einordnung des Gedichts »A Gregorio« in Hinblick auf seine Diskursreaktivität, vollzieht es im lyrikhaften Sprechen petrarkistischen Diskurstypenspiels. Das Gedicht nutzt also die ohnehin auf Wiederholung angelegte Struktur. In diese schreibt sich es sich imitativ und aemulativ ein. Petrarkistisches Schreiben wird zur »Ermöglichungsstruktur[] des Neuen im Rahmen des Gehabten« (Leopold, Erotik, 36). Dabei ist diese taktische Struktur ungleich komplexer als eine (strategisch-sklavensprachige) CamouflageStruktur mit ihrer letztlich affirmativen Geste der Selbstaussprache der Homosexualität. »A Gregorio« steht im Zeichen einer – wenn auch nur in der Geste der Verhandlung aktualisierbaren – Subjekttaktik. In einer spielerischen Kombinatorik der hegemonialen Diskurstraditionen emergiert eine gewisse Subjektposition; es wird ein Ort der homoerotischen Liebe erschaffen. Es handelt sich um eine, mit Certeau, »production de lieu«,44 wie sie schon dem frühneuzeitlichen petrarkistischen System eigen war: »Frühneuzeitliches Schreiben versteht sich demnach als Produktion von Diskursen, die dieses Schreiben zugleich performativ legitimiert. Dieses scheinbar selbstenteignete Schreiben unablässiger Wiederholung, das wohl nirgends so flagrant zu Buche schlägt wie in der »repetierenden Routine« petrarkistischer Liebesdichtung, ist damit immer auch das (Er-)Schreiben einer ›schwachen‹ Form von Subjektivität, die gerade in der Distanznahme zu dem Angeeigneten und Wiederholten besteht.« (Leopold, Erotik, 35)
Im Hinblick auf die grundlegenden Analysekategorien dieser Arbeit etabliert sich dieses dissidente lyrikhafte Sprechen als ein contre-discours: Ers-
44 Vgl. dazu: Certeau, Die Kunst des Handelns.
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tens ergibt sich dies im Hinblick auf den dissident-vermischenden Umgang mit hegemonialen Liebeskonzeptionen. Zweitens erscheint das Gedicht als gegendiskursiv, weil es durch den changierenden Gleichlauf von konkreter Präsentation und textueller Re-Präsentation seine performative Kommunikationsfunktion stets im changierenden Gleichlauf mit seiner mimetischen hält.45
5.2 L YRIK
DER
D ISSIDENZ
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Analyse und Interpretation dieses einen Gedichts erfolgten aus dem Interesse heraus, die Produktivität der methodisch-theoretischen Überlegungen der vorliegenden Arbeit anhand eines besonders aussagekräftigen – und in dieser Hinsicht auch singulären – Beispiels zu erweisen. Hinsichtlich seines dissidenten Potenzials kann dem Text jedoch auch eine gewisse Repräsentativität für die zeitgenössische spanische Lyrik zugesprochen werden. So lässt sich – wie der folgende kursorische Überblick zeigen soll – der an »A Gregorio« gemachte Befund eines forciert oszillierenden Spiels von mimetischer und performativer Kommunikationsfunktion durchaus an größere literaturgeschichtliche Entwicklungen anbinden. Grundlage hierfür ist wiederum die imitativ-aemulative Einschreibung in die Lyrik des Siglo de Oro. Diese produktive Rückbesinnung in der Edad de Plata – am prominentesten und einflussreichsten wohl bei Federico García Lorca – auf den vom
45 ›Aufgabe‹ des Gedichts ist letztlich nicht, das Unaussprechliche (z.B. camouflierend) auszusprechen – würde sich das Gedicht so doch zum Komplizen des strategischen Sprechens über (deviante) Sexualität machen. Mit Certeau erhält »A Gregorio« eine andere ›Aufgabe‹: »Das Schreiben hat seinen Ursprung im eingestandenen Zweifel, der expliziten Teilung, kurz: der Unmöglichkeit eines eigenen Ortes und macht sie zum Thema.« (Certeau, Schreiben der Geschichte, 256) Das Aufgeben des eigenen Ortes ist tatsächlich eines der zentralsten Momente: Es ist das Aufgeben der eigenen Lebenswelt zugunsten einer dezidiert erdichteten Welt, die Aufgabe der eigenen Kontextualität – der 30er-Jahre des 20. Jh – zugunsten des klassischen Griechenlands und des Siglo de Oro, und es ist das Aufgeben einer festen Co-Textualität: ein loser Zettel statt eines gebundenen Gedichtbandes.
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zeitgenössischen Establishment aus dem Literaturkanon ausgeschlossenen Góngora verfolgte unter anderem das Ziel, zwei wirkmächtige, aber diametral entgegengesetzte Grundtendenzen der damaligen Lyrikproduktion miteinander in Verbindung zu bringen: zum einen das französische Dichtungsprogramm einer poésie pure, welche ihre eigene Artifizialität, Literarizität und sogar Texthaftigkeit ausstellt und zum anderen die mimetische Gedanken- und Gefühlslyrik, wie sie in Spanien immer noch dominant praktiziert wurde:46 »In Góngora sah man jene intellektuelle Prägnanz der bildschöpferischen Kraft, welche der Modernismo gegen die bloß triviale Lebensweisheiten verdoppelnde spanische Lyrik des XIX. Jahrhunderts gestellt hatte, mit jener Nähe zu den Mythen der Volkskultur vereint, aus deren Aneignung die ›Generation von 98‹ die Konstitution eines neuen Bildes von der spanischen Geschichte und eine nationale Regeneration hatte einleiten wollen.« (Gumbrecht, »Warum gerade Góngora?«, 172)
Horst Weich hat gezeigt, wie dieses gongorinische ›Doppelparadigma‹ in der Edad de Plata weitergeschrieben wird: Die »Gegenstrebigkeit von Verstehensabwehr und Verstehensangebot« (Weich, »Obskure Begierden«, 188), die Lorca bei Góngora literarisch in eins gesetzt findet, wird so für die eigene literarische Produktion fruchtbar gemacht – und zwar unter homoerotischen Vorzeichen. Wie es Lorca für die Lektüre von Góngoras Lyrik gefordert hat (»Imagninación, inspiración, evasión«), bedarf es auch für seine eigenen Gedichte eines iniciado. Dieser, in die antiken, frühneuzeitlichen und modernen Topoi und Schreibweisen eingeweihte, Lesers muss den vielfältigen mit- und gegeneinander ins Spiel gebrachten intertextuellen Verweisen ebenso folgen können, wie er fähig sein muss, komplexe semantische Fügungen auf ihren Sinn hin durchsichtig zu machen (in dieser Hinsicht sind Lorcas Texte durchaus als obskure Rätsel und Labyrinthe angelegt). Neben dieser stark hermeneutisch ausgerichteten Lektüre forderte Lorca jedoch auch eine
46 Die Diskussion ist treffend mit den Labeln »deshumanización« und »ReRomantisierung« gefasst, vgl. Neuschäfer »Das 20. Jahrhundert«, bes. 348ff.) Auf die Unterscheidung zwischen poesía pura und poesía social in Spanien wird noch einmal in Kapitel 6.2 eingegangen.
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zweite, antihermeneutische, sich dem selbstbezüglichen Spiel der Signifikanten hingebende Lesart seiner Texte ein, »denn die Poesie gehorche keiner rationalen Logik, sondern folge einzig einer ›lógica poetica‹, die sich der Kontrolle des menschlichen Verstandes entziehe.« (Weich, »Obskure Begierden«, 187) Eben diesem doppelten Parcours folgend unterzieht Weich Lorcas »Soneto de la guirnalda de rosas« aus den Sonetos del amor oscuro einer Camouflage-Lektüre, »und zwar als ein schwules carpe diem-Gedicht, das unter einem feingesponnen Gewebe von Natur- und Pflanzenmetaphorik das Skandalon körperlicher Vereinigung verbirgt und auf versteckte Weise eine homoerotische Gewaltphantasie ausschreibt.« (Ebd., 190) In dieser Formulierung ist jedoch bereits angelegt, dass das Gedicht durchaus komplexer ist, als dass seine Finessen mit einer einfachen Camouflage-Lektüre ausreichend beschreibbar wären. Zwar handelt es sich auch um die Verschlüsselung eigentlich auszudrückender Homosexualität, doch eben unter einem sich dezidiert als »Gewebe«, nämlich als textus zu erkennen gebenden Oberflächentext. Das Sonett fordert neben einer auf Camouflage abzielenden Lektüre auch »eine metapoetische Lesart« (ebd., 198): »Die insistente Rede vom Weben [...], von Gesang und Stöhnen [...] legt zudem nahe, das Kopflexem der ›guirnalda‹ im Sinne einer Textmetapher für das Gedicht zu lesen.« (Ebd., 199) Unter Berücksichtigung der Textmetaphorik ist nämlich die vorfindliche Camouflage-Struktur nicht nur eine sexuell-mimetische (via Blumenmetaphorik), sondern eine textuell-performative (via Textmetaphorik): »Damit transponiert sich zugleich die vorgeschlagene schwule Lesart des Lorcaschen Sonetts von der Ebene des Inhalts auf die seiner Vermittlung: aus einem [camouflierten] schwulen Liebesakt wird ein schwuler Schreibakt, aus einem Akt obskurer Begierde ein währendes textuelles obskures Begehren.« (Ebd.) In Mahlers Begrifflichkeit handelt es sich also auch hier um ein Gedicht, das eine doppelte Lesart, sowohl ein »mimetic reading« als auch ein »performative reading« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 236, Fußnote 66) nicht nur zulässt, sondern fordert. Weich zeigt damit, dass Lorcas Gedicht keine affichiert literarische, schwülstig-barocke Blumencamouflage der Ho-
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mosexualität ist47 und so dem heteronormativen faire-parler als Beicht-Text gehorcht, sondern ein lyrikhafter contre-discours. In Anbetracht der ausgestellten Textualität, die durch die exuberante Überfunktion des Stils noch verstärkt wird, wäre es eine illegitime Reessentialisierung, dieser lógica poetica schlicht eine gefühlsmäßige Präsenzeffekte auslösende Funktion zuzusprechen. 48 Im Gegenteil hat sie die Funktion, den Leser nicht vergessen zu machen, dass es sich stets um Literatur, um Lyrik handelt – und nicht um die authentische Selbstaussprache eines homosexuellen Subjekts via nobilitierender, emotiver und/oder tarnender Lyrikhaftigkeit. Die doppelte Kommunikationsfunktion belässt es nicht bei der camouflierenden mimetischen Aussprache der homoerotischen Sexualität, sondern stellt die lyrikhafte textuell-performative Seite mit aus. Die Vermittlungsebene wird so sichtbar gehalten und nicht auf den Sinn hin unsichtbar gemacht; Vermittlung- und Inhaltsebene werden nicht aus ihrem vexierenden Spiel entlassen – das Tarnnetz der Camouflage verdeckt nicht nur, es wird auch als textiles Gewirk sichtbar. Damit kann für Lorcas »Soneto de la guirnalda de rosas« ebenso wie für »A Gregorio« gelten, dass es sich um eine lyrikhafte, sich im Verdecken entdeckende Ermöglichungstaktik von literarischer homoerotischer Subjektivität handelt. Literatur und speziell Lyrik werden damit zum Ort einer gewissen, wenn auch schwachen und nur literarisch-spielerisch zu habenden Subjektposition. Damit kann schließlich die These gewagt werden, dass es sich bei dem Paradigma der vexierenden mimetischen und performativen Kommunikationsfunktion nicht um eine singuläre (wie an »A Gregorio« gezeigt), sondern um eine typische Struktur, nicht nur von Lorcas Texten, sondern generell um
47 Es sei an solche Beispiele aus der deutschen Tradition noch einmal erinnert, vgl. Kapitel 3. 48 Dies hat Gumbrecht hingegen an anderer Stelle (Gumbrecht, »Präsenz«) versucht, der Lyrik Lorcas eine sensorische Präsenzeffekte auslösende Funktion zuzusprechen. Letztlich ist seine Lesart durchaus biografistisch zu nennen, da sie homosexuelles Leiden an der Gesellschaft des Autors schlicht im Gedicht wiederholt findet.
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eine produktive Beschreibungsmatrix eines großen Teils der Textproduktion der Generación del 27 handelt. Freilich gilt es, diese These durch weitere Textanalysen zu validieren. Zu gewinnen wäre dabei ein neuer Blick auf Autoren wie Lorca, Gregorio Prieto oder Luis Cernuda. Ihre Lyrik könnte als gegendiskursive Taktik gegen geschlechtliche Machtdiskurse in Anschlag gebracht werden und gleichzeitig von überkommenen biografistischen Lesarten befreit werden.
6. Contre-discours II: Subversive lyrikhafte Diskurse
6.1 T RAVESTIERTE S ELBSTAUSSPRACHE A NTÓNIO B OTTOS C ANÇÕES 1
IN
Reale Feinde der Canções António Bottos (1897-1995) waren sicherlich konkrete Zensurinstanzen. Der als Literatura de Sodoma denunzierte Gedichtband von 1922 löste eine zumindest in der portugiesischen Literaturgeschichte einmalige Kontroverse aus, die schließlich zur Indizierung des Bandes führte. Es soll gezeigt werden, dass Bottos Gedichte aber auch daraufhin gelesen werden können, dass sie noch einen anderen ›Gegner‹ ins Visier nehmen: das positivistische Labeling von Sexualitäten (und speziell Homosexualität) mit dem Ziel, Kontrolle über die so verorteten sexualisierten Subjekte zu gewinnen.2 Josiah Blackmore führt in diesem Zusammen-
1
In kürzerer Form bereits erschienen: Schukowski, »Disguised Homoerotics?«
2
Dass Botto ein Bewusstsein dieses Labelings durchaus unterstellt werden kann, zeigt Blackmore: »In Portugal several sexological works were published in the early twentieth century, chief among them Alrindo Camillo Moneiro’s Amor sáfico e socrático (Sapphic and Socratic love). This book, which evidently took the inspiration for its title from Magnus Hirschfeld’s first publication on homosexuality, Sappho and Socrates, appeared in 1922, precisely the year of the publication of Botto’s second, scandal-inducing edition of the Canções.« (Blackmore, »A.B’s bruises of light«, xxxii).
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hang in seinem Vorwort zu den englischen Übersetzungen der Canções von Fernando Pessoa einen erstaunlich eindeutigen Gedicht-Ausschnitt an: 26
Vive só à mercê da sensação!
Live only at the mercy of sensation.
27
Difinirmos,
To define ourselves
28
É reduzirmos
Is simply to curtail
29
A alma
The soul
30
E é fechar o entendimento.
And to close our understanding.3
Homoerotik camouflierende Textverfahren sind zwar in Bottos Texten tatsächlich nachweisbar, ja drängen sich geradezu auf, doch erfüllen sie nicht die Funktion einer sich lyrikhaft tarnenden Selbstaussprache des Eigenen, sondern sie nutzen ihr dezidiert lyrisches Sprechen zur Subversion heteronormativer Diskurse. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum Bottos Gedichte zu Recht als »die Grenzen des damals Sagbaren sprengenden Anfänge« (Weich, »Epigonaler Schmutz?«, 107) homoerotischer Literatur in Portugal bezeichnet werden können – ohne sie, wie meist geschehen, als wahrhafte lyrische Selbstaussprache des Dichters zu banalisieren.
3
Übers. v. Fernando Pessoa, Auszug aus der Canção »O que é que a fonte murmura?« (»What is it that the spring murmurs?«), die wahrscheinlich erst in der Ausgabe von 1930 als Teil der Canções aufgenommen wurde. Die Zählung und Zusammenstellung der Lieder hat sich im Verlauf der Publikationsgeschichte immer wieder geändert: »Many of these poems were republished in a further edition of Canções (1930), which from then on in successive editions became effectively his collected verse, although the poems included and their texts were frequently altered« (Howes, »Botto«, 77). Eine kritische Ausgabe der Werke Bottos gibt es bedauerlicherweise bislang nicht. Um einen recht festen cotextuellen Zusammenhang als Grundlage nehmen zu können, sind die weiteren zu besprechenden Gedichte der Ausgabe von 1922 entnommen.
6. S UBVERSIVE LYRIKHAFTE D ISKURSE | 151
6.1.1 Lektüremodus 1: Camouflierte Homoerotik Am Beginn steht eine Lektüre des »Canção XIX« innerhalb des Paradigmas einer camouflierenden Masken-Signal-Matrix mit dem Ziel, tatsächlich auffindbare tarnende Textstrukturen zu benennen – um diese im Weiteren kritisch zu hinterfragen.
4
1
Por ti, eu passo as noites meditando
2
Lá onde o mar
3
Cantarolando e crescendo
4
Vem tombar sobre o meu corpo
5
E m’o afaga lambendo…
6
Por ti, vivo na chamma dos amôres
7
Mais perversos.
8
E acho alegria nas dôres,
9
E morro de saudade nos meus versos.
10
Por ti, me arrasto
11
De vicio em vicio – que vibrante romaria! –
12
Até que a morte se lembre
13
De me levar, – um dia.4
1
Für Dich verbrachte ich die Nächte meditierend
2
Dort, wo das Meer
3
Trällernd und wachsend
4
Einstürzt über meinen Körper
5
Und ihn leckend liebkost …
6
Für Dich lebe ich in der Flamme der Lieben,
7
der am pervertiertesten.
8
Und finde Glück in Schmerzen,
9
Und sterbe vor saudade in meinen Versen.
10
Für Dich schleppe ich mich
11
Von Sünde zu Sünde – welch vibrierende Pilgerfahrt! –
12
Bis sich der Tod erinnert
13
Mich mitzunehmen – eines Tages.5
Original aus: Botto, Canções, 1922. Übers. v. mir.
152 | G ENDER IM G EDICHT
Folgende Elemente können als camouflierende, die Aufmerksamkeit des ›informierten Lesers‹ weckende Strategeme gelten: das Fehlen von Geschlechtskennzeichnungen, der ›unpoetische‹, dem Register juridischpathologisierender Diskurse über Homosexualität entstammende Ausdruck »amôres / Mais perversos«6,7, sowie die christlich konnotierte Sünden- und Bußmetaphorik, »De vicio em vicio – que vibrante romaria!«11. Ein lyrisches Ich spricht ein geschlechtlich nicht markiertes Du an. Mithin handelt es sich um keine explizit gleichgeschlechtliche Kommunikation, so dass Zensurinstanzen annehmen können, dass der Text innerhalb des ›normalen‹ heterosexuellen Rahmens verbleibt. Gleichzeitig lässt die Sprechsituation aber auch vielfältige Interpretationsmöglichkeiten in Richtung einer homoerotischen Situation offen. In stark ›doppelbödiger‹ Metaphorik kommt das Gedicht sofort zum ›eigentlichen Thema‹. Im Bild der schwellenden (»crescendo«3) und leckenden (»labendo«5) Meereswelle wird die Erinnerung oder Imagination einer Fellatio aufgerufen. Der ›kleine Tod‹ des Orgasmus wird hier camouflierend zum ›großen Tod‹ des Ertrinkens: »Vem tombar sobre o meu corpo«4. Die deutliche Referenz auf den petrarkistischen dolendi voluptas-Topos mit seiner paradoxal-antinomischen Affektstruktur, »E acho alegria nas dôres, / E morro de saudade nos meus versos.«8,9 ist ›oberflächlich‹ betrachtet hetero-erotisch codiert: In Petrarcas Canzoniere wird mit Madonna Lau-
5
Meine Übersetzung; Limbeck übersetzt an mehreren Stellen sehr frei, unterstreicht damit die affektiv/affektierte Romantik des Textes ganz ähnlich wie Pessoa in seinen Übersetzungen ins Englische. An einer Stelle jedoch kappt Limbeck gerade wegen des Versuchs der Pathetisierung das im Original vorhandene dissidente Potential: »amôres / Mais perversos« übersetzt er mit »verderbter Liebe«. Damit fällt jedoch die für die vorliegende Interpretation so zentrale diskursive Rede über die Homosexualität und der metatextuelle Verweis auf die per-vertierte Intertextualität weg. Warum »vibrante« von Limbeck nicht übersetzt wurde, bleibt offen. Des Weiteren habe ich mich in der Übersetzung dazu entschieden, »saudade« als spezifischen unübersetzbaren Terminus des Portugiesischen beizubehalten, vgl. die nachstehende Argumentation.
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ra das weibliche Gegenüber des männlichen Ich angesprochen.6 Der ›informierte Leser‹ kann jedoch in dieser Maske einen gegenstrebigen Signalausdruck finden: Die Liebesqualen des lyrischen Ich werden als Leben in einem Zustand der »amôres / Mais perversos« benannt. Der Begriff ›perverso‹, der die semantische Symmetrieachse des Textes bildet, ist seit dem späten 19. Jh. ein gängiger Terminus zur Bezeichnung paraphiler Erotik und mithin der Homosexualität. Außerdem bleibt das bedichtete Liebesobjekt nicht, wie es die petrarkistische Tradition vorgibt, alleine, sondern wird durch viele andere – dies zeigt der Plural an – substituiert. Darin liegt eine geradezu parodistische Über- (oder Unter-)Erfüllung des dolendi voluptasMotivs. Darüber hinaus wird der ›Nütze den Tag‹-Topos mit promiskuitiver Sexualität kurzgeschlossen. Die christlich maskierte Pilgerfahrt kann durchaus in ihrer Serialität der Laster »me arrasto / De vicio en vicio«10f. als Signal auf sexuelles ›Cruisen‹ gedeutet werden; was (als Maske) als dysphorisch erlebte Selbstkasteiung erscheint, wird (als Signal) zur seriell euphorisch erlebten – »que vibrante romaria!11 – Erfüllung des Begehrens. Dies ist Camouflage in Reinkultur: Der ›andere‹ (promiske) Subtext steht in Opposition zu der ›normalen‹ Textoberfläche (dem heteronormativen Liebesgedicht) – je nach Informiertheit und Blickwinkel des Lesers. 6.1.2 Ästhetik oder Sexualität? Polemik um die »Literatura de Sodoma« An diesem Punkt der Analyse mit dem Werkzeug des CamouflageKonzepts lohnt ein kurzer Blick auf die Rezeption von Bottos Canções. Denn just eine Polemik über die Möglichkeit, seine Texte als ›ungehörig‹ zu verstehen, verhalf ihnen zu einem ambivalenten Erfolg. António Botto war, auch nach Erscheinen zweier lyrischer Werke und der ersten Publika-
6
Dies gilt freilich nur als Normal-Folie: Wie die neuere Petrarkismus-Forschung zeigt, sind auch durchaus andere Geschlechterstrukturen auffindbar, sozusagen auch jenseits der ›allbekannten‹ geschlechtlichen Diskurstypenspiele Shakespeares: vgl. z.B. die neueren Studien zum ›Weiblichen Petrarkismus‹ und die relativ neue Aufmerksamkeit für homoerotische Potentiale (z.B. Schabert, »Weiblicher Petrarkismus«, Greber, »Unweiblicher Petrarkismus« oder Leopold, Erotik der Petrarkisten).
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tion der Lieder im Jahr 1920, ein noch immer recht unbekannter Dichter. Mithilfe eines berühmten Freundes stand er nun jedoch plötzlich im Kreuzfeuer der literarischen und politischen Kritik: Im Jahr 1922 legte Fernando Pessoa Bottos wenig erfolgreiche Canções erneut auf. Pessoa war nicht nur ein einflussreicher Dichter, sondern schrieb auch für die kultur- und literaturkritische Zeitung Contemporânea und gab in seinem eigenen Verlagshaus Olisipo Belletristik heraus. In dem gleichzeitig mit dem Erscheinen des Bandes veröffentlichten Artikel »António Botto e o Ideal Estético em Portugal« versucht Pessoa zu zeigen, dass sein Freund nicht über Homosexualität, sondern über Schönheit an sich sprach: »Ungeachtet der sexuellen Manifestationen der Homoerotik in Bottos Gedichten, wird hier der Versuch unternommen, den Dichter und sein Werk von der ›pathologischen Abweichung‹ der pederastia, wie man für Homosexualität zu sagen pflegte, freizusprechen, indem ein rein ästhetisch motiviertes Interesse an leiblicher Schönheit insinuiert wird.« (Limbeck, »Nachwort«, 114).
Pessoa gibt also vor, in Bottos Texten keine Homoerotik um ihrer selbst willen finden zu können; selbst wenn sie nachweisbar wäre, diene sie lediglich als Ausdrucksform idealer Schönheit. Mit diesem Argument dreht Pessoa die Camouflage-Struktur um: Homoerotik wird zur Möglichkeit, ideale Schönheit darzustellen; und nicht umgekehrt. Weiterhin führt Pessoa aus, dass eine Lektüre von Bottos Canções innerhalb eines Rasters von Moral oder Unmoral grundsätzlich verfehlt sei, da sie aus einer rein ästhetischen l’art pour l’art-Perspektive zu lesen seien. Pessoas eigenes Heteronym – i.e. eine der fiktiven dissoziierten Persönlichkeiten, die er sich als Autor-Masken zulegte –7 Álvaro de Campos hingegen vertritt in einem Brief, der in der übernächsten Ausgabe der Contemporânea abgedruckt wurde, die entgegengesetzte Meinung: »Bottos Kunst ist ganz amoralisch. In ihr gibt es keine Zelle, die anständig wäre.« (de Campos, »Escreve á Contemporânea«, 4)8
7
Vgl. zu Pessoa und seinen Heteronymen: Dix, Heteronymie und Neopaganismus
8
Orig.: »A arte de Botto é integralmente imoral. Não há célula nela que esteja de-
bei Fernando Pessoa, 173ff.). cente.« José Luis García Martín argumentiert, Pessoa habe Botto als »Semihe-
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Die Frage, ob es moralische oder rein ästhetische Zugänge zu Bottos Gedichten gibt, wurde von Pessoa und seinen Heteronymen also höchst unterschiedlich beantwortet. Doch gerade diese polyperspektivische Lesehaltung wird Bottos Texten ja auch besonders gerecht, sind diese doch selber von solcher Ambivalenz geprägt. Diese ganze Auseinandersetzung Pessoas mit seinem Heteronym setzt diese Multiperspektivität tatsächlich selber um. Er rezipiert eben die Texte so multiperspektivisch, wie sie es sind. Den Anstrich des reinen Ästhetizismus hat Botto seinen Texten selber gegeben; so widmete er für Pessoas Ausgabe die Stoßrichtung seiner Lieder folgendermaßen paratextuell um.9 DIE SINNLICHE SCHÖNHEIT, DIE
SCHÖNHEIT
DER
FOR-
MEN, DIE SCHÖNHEIT, DIE DAS GEMEINE
VOLK
ÄUSSER-
LICH NENNT, IST DIE GÖTTLICHE ERZIEHERIN UNSERES GEISTES
UND
UNSERER
SEELE.
Abb. 6: António Botto, Epigramm, Canções, 1922. Abb. 7: Übers. v. Sven Limbeck.
In (neo-)platonischer Diktion wird hier Ästhetik als der Wille des Künstlers zur Schönheit konzipiert. Dabei ist die irdisch-äußerliche (oder »exte- / rior«4f.) Schönheit nur das Abbild der Schönheit des Transzendenten. War dieses im Platonismus noch als ›Ideen‹ benannt, nimmt in der europäischen
terónimo« funktionalisiert und dessen Gedichte instrumentalisiert, um die gegenstrebigen Kunstauffassungen seiner Heteronyme an ihnen zu erproben; vgl. García Martín, »El semiheterónimo A.B.« 9
Der Originaltext wird hier als Scan wiedergegeben, um die auffällige Typografie eines gemeißelten Epigramms zeigen zu können; der Abdruck in Limbeck, Canções, 8 ist unzuverlässig. Das Schriftbild der Übersetzung von Limbeck wurde hier dem Original angepasst und gibt nun dessen signifikante Umbrüche wieder.
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Adaption des Platonismus seit der Renaissance der christliche Gott diese Funktionsstelle ein. Der kontemplative Blick auf männliche Schönheit ist nun einer der Wege, einen Eindruck von eben jener überweltlichen Schönheit zu erhalten. Die Betrachtung weiblicher Schönheit hingegen konnte aufgrund der defizitären, weil unharmonischen, Körperlichkeit der Frau diese Ideenwahrnehmung nicht anstoßen. Eine klassisch-griechische Tradition, die im Christentum adaptiert und weiter ›kultiviert‹ wurde. In der ganzen abendländischen Kunstproduktion und -rezeption – im Übrigen besonders wirkmächtig im portugiesischen Kontext – hält sich so folgende gender-ästhetische Grundopposition: Die Unterscheidung zwischen dem weiblichen Körper als Symbol und Inbegriff für asianische Kunst, für barockes, nicht ausbalanciertes, manieristische Kunstproduktion, und dem männlichen Körper als Symbol für eine ausgewogene, attizistische, ›klassi(zisti)sche‹, dem aptum gehorchende Form-Inhalt-Konvergenz,10 wobei der letzte Typus regelmäßig als wertvoller angesehen wurde.11 Die europaweit einschlägige neuplatonische Liebeskasuistik Ficinos, die bereits in »A Gregorio« besprochen wurde, muss hier ebenfalls angeführt werden; in ihr wird die Freundschaft zu Männern höher gestellt als die rein der Prokreation dienende Liebe zu Frauen: klassisch-antikes gendering findet hier mit christlicher Misogynie zusammen. Bottos Epigramm schreibt die Canções nun in eben diesen androphilen Schönheits- und Wahrheitsdiskurs ein. Eine solche ästhetisch-platonistische Camouflage mann-männlichen Begehrens macht nach Keilson-Lauritz bereits ein camouflierendes Strate-
10 Vgl. zur Unterscheidung Asianismus/Attizimus in der Literatur: Curtius, Europäische Literatur, 76; zur Ablehnung der asianischen Kunst- und Schreibweise vgl. Buck, Forschung zur romanischen Barockliteratur. 11 Im Barão de Lavos von 1891, wohl dem ersten Beispiel explizit verhandelter Homoerotik in Portugal, lässt Abel Botelho den Baron bei der Beschreibung eines Bildes sagen: »o macho é o aticismo, a beleza em atavio, confiante na própria essência; a fêmea é o gongorismo, a turgidez, o tédio ...« [das Männliche ist der Attizismus, die Schönheit im Schmuck, voller Vertrauen in die eigene Essenz; das Weibliche ist der Gongorismus, die Schwellung, die Langeweile …] (Botelho, Barão de Lavos, 159, meine Übersetzung). Dass Botto diesen Text kannte, ist anzunehmen.
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gem aus. Und sowohl Botto als auch sein Verleger Pessoa argumentieren just auf dieser Basis. Auch die berühmte misogyne Bemerkung Winckelmanns über die Superiorität männlicher Schönheit wurde der Auflage von 1940/44 samt Pessoas Übersetzung als »Inscription« – geradezu wieder wie in Stein gemeißelt – vorangestellt (Abbildung 8 u. 9).12
Abb. 8: António Botto, Canções, 1922. Abb. 9: ders., Songs, 1948.
Die Polemik über die sogenannte ›Literatura de Sodoma‹ – benannt übrigens nach dem Titel eines ebenfalls im Contemporânea abgedruckten Artikels des Literaturkritikers Álvaro Maia (»Literatura de Sodoma. O Sr. Fernando Pessoa e o ideal estético em Portugal«) – fand bald nicht mehr nur in den Feuilletons der Zeitungen statt, sondern gelangte bis hinaus auf die Straßen, als reaktionäre Studentenkreise Unruhen auslösten und gegen die ›sodomistischen Zeiten moralischer Dekadenz‹ protestierten.
12 Zur Superiorität des männlichen Körpers in der Kunstrezeption z.B. Winckelmanns oder Goethes, vgl. Möhring, Marmorleiber, besonders: »Apoll und Venus. Zur Vergeschlechtlichung des Idealkörpers«, 194-219.
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Maia antwortete auf den bereits erwähnten Artikel Pessoas »António Botto e o Ideal Estético em Portugal«: »Ein Athletenkörper, in dem sich die Perfektionen einer griechischen Statue zeigen, ist eine schöne Sache, unbestreitbar schön, wie ein Werk der göttlichen Weisheit. Doch, […] ist dies ästhetisch oder ein Kult der Bestialität? Ist dies vielleicht der Ausdruck des Enthusiasmus für die männliche und virile Schönheit, oder dafür, den Mann mit femininen Attributen zu belegen, solche Attribute, die – wie im fraglichen Fall – widernatürlich und deplatziert sind und die charakteristisch sind für das Lächerliche und die Unwissenheit?« (Maia, »Literatura de Sodoma«, 89)13
Diese rhetorische Frage nach der Göttlichkeit oder Bestialität der Darstellung in Bottos Canções wurde erwartungsgemäß beantwortet. Wie bereits erwähnt, hatte die ganze Auseinandersetzung zur Folge, dass Bottos Gedichte (und mit ihm Texte anderer Autoren), selbst in jener Zeit der liberalen Öffnung Portugals, durch Staatszensur vom Markt genommen wurden.14 Sven Limbeck unterstellt Pessoa ein rein geschäftliches Kalkül: Mit seinen ›klärenden‹ Kommentaren habe er das öffentliche Interesse an Bottos Texten wecken und damit die Verkaufszahlen des Buches nach oben treiben wollen. Dass er damit Bottos öffentlichem Ansehen schaden, ihm also einen Bärendienst erweisen würde, habe Pessoa billigend in Kauf genommen. Allerdings konnte Pessoa wohl kaum ahnen, welch enorme Reaktion er mit der Wiederveröffentlichung und seinem Kommentar auslösen würde. Ob bei Pessoa reines Geschäftsinteresse am Werk war oder nicht, sei dahin gestellt; hier interessiert primär die Struktur seiner Argumentation. Gerade indem er die nicht-homosexuellen, ästhetischen Anteile der Texte Bottos betonte und den nicht-konformen Anteilen eine rein tropische Verweisfunktion zuwies, richtete er die Aufmerksamkeit zugleich auf die
13 Orig.: »Um corpo de atleta, aonde se verifiquem perfeições d’estátua grega, é uma coisa bela, incontestavelmente bela, como obra de sabedoria divina. Mas, […] será porventura estético o culto pela bestialidade? Será por acaso manifestação de entusiasmo pela beleza masculina e viril, o procurar no homem atributos femininos, atributos esses que, no caso em questão, por serem antinaturais e estarem deslocados, se caracterisam de ridículo e de ignomínia?«. 14 Vgl. Limbeck, »Nachwort«, 112-123.
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Doppelbödigkeit der Texte.15 So heißt es auch in einem weiteren Paratext Pessoas zu den Canções aus dem Jahr 1944: »Die Vorstellung der männlichen Schönheit, und aller Elemente des ästhetischen Ideals, sind jene, die als Waffe dienen können gegen die Unterdrückung unseres Milieus«16 (in: Botto, Canções, 10). Erneut werden hier potentielle Homoerotik via männlichem Körper und Ästhetik miteinander verknüpft. Aber: Von welcher Unterdrückung ist hier die Rede? Meint hier Pessoa ›nur‹ den ästhetischen Konservatismus der portugiesischen Literatur, oder vielleicht doch (auch) den repressiven Umgang mit Homoerotik? Wenn Pessoa Botto als einen ›im Exil geborenen Griechen‹ bezeichnet, der in seiner Kunst das Getrenntsein von der verlorenen Heimat vertextet (und damit das vergebliche Streben nach dem Liebesobjekt sublimiert), dann ist auch das Bild einer »Sotadic zone« der freien hedonistischen Liebe des alten Mediterraneums der Prüderie des zeitgenössischen Portugal entgegengesetzt.17 Zur Stützung der Argumentation, dass Bottos Canções nicht auf einen der beiden Aspekte, den homo-hedonistischen oder den ästhetisch-klassizistischen, reduziert werden können, sondern vielmehr genau diese Spannung provozieren, soll ein Medienwechsel vorgenommen werden. Der Vergleich des Covers der Ausgabe von 1940 mit der Abbildung Bottos in der Ausgabe von 1922 wird zeigen, dass mittels unterschiedlicher Inszenierung diese Gegenüberstellung auch visualisiert wurde. Das Cover der von Pessoa besorgten Ausgabe von 1922 ist rein typografisch gestaltet, kündigt jedoch
15 Josiah Blackmore verkürzt mit seiner Reaktion mein Argument (»Disguised homoerotics?«), wenn er nur diesen Teilbefund wiedergibt: »Pessoa may have concentrated on Botto’s aestheticism in his 1922 essay in a move to save Botto from this pathologizing perception by claiming that Botto was talking about male beauty in his poetry and not homosexuality.« (Blackmore, »A.B’s bruises of light«, xxxiii). Der Punkt meiner Argumentation ist vielmehr, dass Pessoa diese eine unifizierende Lesart selber unterminiert, indem er, erstens, die Reaktionen durchaus vorhersehen konnte (und diese ja auch in der eigenen Zeitschrift publizierte) und, zweitens, Álvaro de Campos das genaue Gegenargument schreiben lässt. 16 Orig.: »A noção da beleza masculina, é de todos os elementos do ideal estético, aquêle quem ais pode servir de arma contra a opressão do nosso ambiente«. 17 Vgl. zur »Sotadic zone«: Aldrich, The seduction of the Mediterranean.
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schon das auf der übernächsten Seite abgedruckte Portrait des Künstlers an: »COM•VM•RETRATO•DO•AVCTOR«. Dieses Portrait (Abbildung 10) ist natürlich nichts anderes als eine Provokation, inszeniert sie den Dichter doch in einer durchaus unmännlichen Haltung: Das starke Spiel mit Licht und Schatten, der geradezu herablassende Blick auf den Betrachter und die weibliche Büstenhaftigkeit sprechen unisono die Sprache non-konformer, wenn nicht devianter Männlichkeit. In den späteren Ausgaben wird eine Rubrik eingeführt werden, deren Titel geradezu als Bildbeschreibung dienen könnte: »Dandyismo«. Diese Fotografie bewegt sich innerhalb der Tradition des dekadenten fin de siècle-Dandys à la Oscar Wilde oder Joris-Karl Huysmans. Die spätere Ausgabe von 1940 hingegen ist mit dem statuenhaften Kopf eines griechischen Jünglings (Abb. 11) ganz der ästhetischsublimierenden (Camouflage-)Lesart der Canções verpflichtet.
Abb. 10: António Botto, Canções, 1922. Abb. 11: ders., Canções, 1940.
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Ein kurzer Blick auf die weitere literaturwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte der Canções zeigt, dass bis in die Gegenwart die homoerotische Begierde – trotz aller Ästhetisierungsversuche – für zentral gehalten wird. Im Jahr 1937 untersuchte der portugiesische Autor und Kritiker José Régio bereits den komplexen Umgang der Texte mit Homoerotik und stellte fest, dass Botto einen »besonderen Fall von Liebe« mit »Aufrichtigkeit und Kühnheit«18 (Régio, »António Botto e o amor«, 94) in die portugiesische Literatur einführte. Der Who’s Who in Gay and Lesbian History von 2001 schreibt dieses Verständnis weiter und identifiziert den ›Inhalt‹ der Canções als Liebe, speziell als homoerotische Liebe: »love, and particularly gay love, forms the subject of much of his work from the 1920s and early 1930s« (Howes, »Botto«, 65); zudem wird den Versen Bottos eine autobiografischbekenntnishafte Dimension zugeschrieben: »Botto’s poetic voice, based it seems on his own personality, is narcissistic« (ebd., meine Hervorhebung). Sven Limbeck schreibt 1997 Folgendes über Bottos Texte: »In einsamen Monologen und Dialogfragmenten wird von den Schwierigkeiten der Liebenden gesprochen, einander nahezukommen, die eigenen Gefühle zu formulieren, von der Angst, zu viel von sich preiszugeben, von der Unerreichbarkeit eines Begehrten, vom Trennungsschmerz, von der Begeisterung für jugendlich-männliche Schönheit und auch von der rauschhaften Lust sexueller Erfüllung.« (Limbeck, »Homosexualität«, 27).
Und im Nachwort zur portugiesisch-deutschen Auflage der Canções schreibt Limbeck, dass Homoerotik sogar »nicht idealisiert, sublimiert, camoufliert, in Allusionen verschlüsselt oder aus der Gegenwart verwiesen wird, sondern eindeutig, autobiografisch, bekenntnishaft und ostentativ inszeniert ist, ohne Ausflüchte oder Interpretationsspielräume zu lassen.« (Limbeck, »Nachwort«, 115). Er nimmt hier eine recht extreme Position zu Bottos Selbstaussprache ein, liest er die Gedichte doch als Bekenntnisse des homosexuellen Autors. Wenn er feststellt, dass Homoerotik nicht »camoufliert«, sondern explizit ausgesprochen werde, ignoriert er vollends die Literarizität dieser hochpoetischen Texte.
18 Original: »o caso amoroso particular«; »sinceridade e audácia«.
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Zu Bottos hundertstem Geburtstag im Jahr 1997 – übrigens wurde im selben Jahr auch der hundertste Geburtstag Gregorio Prietos begangen – widmete ihm das Jornal de letras, artes e ideias den »Cem anos de maldição« [Hundert Jahre der Verwünschung] mehrere informative Artikel. Die Beiträge dokumentieren den extrem polemischen Umgang zwischen euphorischer Mystifizierung von Autor und Werk auf der einen und dysphorischer Verteufelung auf der anderen Seite, meist abhängig vom Erwartungshorizont der Kritiker, in den Texten entweder Sexualität oder Ästhetik vorfinden zu wollen. Der – zeitgenössische wie damalige – Leser sieht sich also mit widersprüchlichen Interpretationsmöglichkeiten konfrontiert: Sind die Canções mit oder ohne camouflierenden Doppelkodierung zu lesen? Ist die Homoerotik in Bottos Versen ein Mittel, um Ästhetik neu auszudrücken? Oder ist die Ästhetik das Mittel zur Legitimierung von Homoerotik? Oder fungiert die Ästhetik als rein dekadente Rahmung und die Homoerotik spricht hier ihre Anliegen offen und mit politischem Anspruch aus? Einfache Antworten auf diese Fragen, wie sie das Camouflage-Konzept von Keilson-Lauritz und Detering suggerieren, führen nicht weiter. Der gangbarste Lektüreweg ist, wie so oft, ein mittlerer. Es wird also zu zeigen sein, dass die Canções sowohl mit dem direkten Ausdruck als auch mit dem gleichzeitigen Rückzug und einer Transformation ins Uneigentliche spielen. Eine Interpretation der Texte darf daher nicht einseitig entweder auf die Intention des Ausdrucks von Homoerotik oder von Ästhetik zielen, sondern muss dieses double-bind als Schreibweise Bottos ernst nehmen. 6.1.3 Lektüremodus 2: Spiel mit Camouflage Die Rekapitulation der Polemik um die ›wahre Bedeutung‹ der Canções zwischen Botto selbst (im Paratext), seinen politischen Gegnern und Pessoas Doppelpositionierung konnte deutlich machen, dass die Texte auf einem komplexeren Level agieren und die Interpretationsarbeit nicht ausschließlich innerhalb der Homo/Nicht-Homo-Matrix geführt werden kann. Es gilt vielmehr, spezifisch textuelle Faktoren zu fokussieren, die in den Tarnungs-Konzepten bei Keilson-Lauritz und Detering zu kurz kommen. Die folgende Analyse wird daher die selbst-konstituierte Logik der Texte und ihre ausgestellte Textualität in den Blick nehmen. Diese Lesart beobachtet weniger die mimetisch operierende emotive Funktion des Sich-
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Aussprechens via Gedicht, sondern nimmt eine dominant performative Textfunktion an. Die Canções ›spielen‹ – avant la lettre – mit der Camouflage-Struktur. Zum Einstieg sei noch einmal auf das bereits erwähnte Epigramm Bottos verwiesen, diesmal allerdings, um es einer dekonstruktivistischen Lektüre zu unterziehen. Denn die Trennungen in »for-mas«, »exte-rior« und »espi-rito« sind auch im Original nicht ausschließlich mit dem Quadratsatz zu erklären. Vielmehr ergeben sich auf diese Weise Positionsäquivalenzen zwischen den hier herbeizitierten zentralen Begrifflichkeiten der platonischen Lehre. Könnte es sein, dass der Text hier präsentiert, was er repräsentiert? Dann wären die Trennungen in den ersten beiden Begriffen, die Materialität ausstellend, performativ zu lesen: die materielle Form der »for-mas« wird sichtbar gemacht in der ebenso materiellen »äußer-lich[en]« Welt. Bis hierher gehen also Schriftbild und Textaussage kongruent. Dass dann jedoch auch der »espi-rito«, also nach Platon diejenige Kraft, die jenseits auch der untrennbaren Teilchen (atomos, ›Atom‹, von α-τεμνω, ›das Unzerschneidbare‹) der Elemente wirkt, dennoch getrennt wird, kann als intendierte dekonstruktive Bewegung verstanden werden. Hier widerspricht die sich aufdrängende Materialität der Schrift der Textaussage: Auch der Geist ist nur materiell, in Textform zu haben und wird von seiner Präsenzhaftigkeit in die Sekundarität der Schrift versetzt. In ebendieser Bewegung besteht auch das Grundanliegen der hier angesetzten Lektüre Bottos, der es ja gerade nicht um die camouflierte mimetische Selbstaussprache, sondern um die Betonung der performativen Kommunikationssituation qua ausgestellter Textualität geht. Im folgenden Analyseschritt soll gezeigt werden, dass Camouflage in Bottos Fall nicht als intratextuelle Taktik gegen sexuelle Unterdrückung zu lesen ist. Stattdessen soll das subversive Potential von gleichzeitig ver- und ent-bergenden Strukturen Beachtung finden. Auf den ersten Blick handelt es sich bei Bottos Gedicht »Por ti« um ein leidenschaftliches Gedicht über unerreichbare Liebe, überbordend vor ›schwülstiger‹ Romantik.19 Doch ebendiese Ansammlung von stereotyper
19 Dieser Eindruck wird durch eine Camouflage-Lektüre noch verstärkt, schreibt sie doch dem Text einen ›Underdog-Charakter‹ zu (sagen wollen, aber nicht
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Lyrikhaftigkeit kann in ihrem kruden Schematismus keinesfalls ernst genommen werden. Bereits das poesiealbumähnliche Reimpaar »amôres«/ »dôres«6,8 muss als Ironiesignal gewertet werden.20 Solche ironischen Taktiken qua Übererfüllung von Stereotypen durchziehen den gesamten Text, so dass jegliche Glaubwürdigkeit der Sprechinstanz unterlaufen wird. Die banal-romantisierende Korrespondenzlandschaft der Meeres-Metaphorik, das hypertrophe Recycling von Klischees der Literatur- (insbesondere der Lyrik-)geschichte, wie die petrarki(sti)sche dolendi voluptas, die barocken memento mori- und carpe diem-Motive, aber auch die religiöse Aufladung der Liebe als Pilgerreise haben mithin einen verfremdenden statt einen durch die Tradition verbürgten, versichernden Effekt. Ebenso ist auch das mächtige fatum des brennenden und zerstörerischen Sehnens des Ich zu verstehen, das die Verbindung zum elegischen Fado herstellt, der als musikalisch-lyrischer Ausdruck der archetypisch normierten portugiesischen Melancholie, der saudade, gilt.21 Die Klischees der Liebesliteratur erhalten so zusätzlich eine enge Verbindung mit populärer zeitgenössischer U-Musikproduktion. Doch in einem Text der frühen 1920er-Jahre, inmitten des portugiesischen Modernismus, der europäische fin de siècle décadence, l’art pour l’art und Avantgarden bereits hinter sich gelassen hat, steht all das im Zeichen eines ›Zuviel‹, eines hypertrophen Überschusses. Die bisherige Forschung hat ebendieses ironisch-dekonstruktive Spiel mit literarischen Versatzstücken entweder übersehen oder missgedeutet. Zwar erkennt auch Sven Limbeck diese spielerische Art der Umschreibung, doch bindet er sie zurück an ein individuelles Erschreiben von Autorsubjektivität: »António Botto schafft sich so aus der Tradition, die bis dato ausschließlich der literarischen Gestaltung heterosexueller Liebesbeziehungen vorbehalten blieb, einen Vertrautheit herstellenden Bezugsrahmen, den er mit neuen Inhalten füllt.« (Limbeck, »Nachwort« 124). Das (Autor-)Subjekt erschafft sich also einen festen Ort, gerahmt und vertraut. Was Limbeck hier feiert, wurde jedoch nicht selten harsch kritisiert. Besonders bei
können), der empathische Sympathie hervorruft und alle Schwulstelemente als (›typisch‹ homosexuelle) emotive und bekenntnishafte Formen versteht. 20 Der Vergleich mit dem deutschen Protoreim Herz/Schmerz macht dies deutlich. 21 Vgl. dazu: Lourenço, Die Mythologie der Saudade.
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Autoren, die sich mit dem Werk Pessoas beschäftigen, schneidet Botto schlecht ab: Georg Rudolf Lind nennt ihn einen: »arme[n] Verseschmied, prototypisch für einen exilierten Neopaganen«, bei dem sich mangelnde literarische Qualität mit Obszönität verbinde. (Lind, Estudos sobre Fernando Pessoa, 158).22 Der hier gewählte Zugang zu Bottos Gedichten grenzt sich konsequent von solchen Zugängen ab. Die Vermischung verschiedener Genres, Konzepten und Schreibweisen soll weder als banale Perpetuierung der Prätexte abgetan, noch als subjektfestigende, biografistisch aufzulösende Schreibstrategie behandelt werden. Im textuellen Synkretismus von »Por ti«, in den polyvalenten, subvertierend-parodistischen Umschreibungen literarischer Schablonen, ist vielmehr eine ›unordentliche‹, bricolage-artige ré-écriture zu sehen und eine ausgestellte Inszenierung von Authentizität.23 Ein erster Marker für eine performative Kommunikationsfunktion des Textes, die eben darin besteht, nicht nur etwas zu kommunizieren, sondern (auch) das eigene Kommunizieren zum Gegenstand zu machen, findet sich in der Beschreibung des Meeres. Denn »crescendo« kann, »cantarolando« muss metatextuell verstanden werden. Die Inkongruenz der Beschreibung einer bedrohlichen und gleichzeitig ›trällernden‹ Meereswelle wird dann auflösbar, wenn das Attribut nicht das Signifikat ›Meer‹, sondern den in der Canção hergestellten Signifikanten bezeichnet. Dann bedeutet das Attribut »crescendo« – gemäß seiner Herkunft als terminus technicus aus der musikalischen Dynamik – die Verstärkung der Lautstärke.24 Beide Begriffe verweisen so auf die Lied- und Lyrikhaftigkeit der Canções. Haben diese Termini den Blick auf die metatextuelle Ebene geöffnet, kann – ja muss – auch »perversos«7 (›pervers‹, ›bösartig‹, ›abartig‹) als poetologischer Verweis verstanden werden. ›Pervertiert‹ (von lat. perver-
22 Orig.: »este pobre forjador de versos prototipo do neopagão exilado«. 23 Vielleicht: ›unreine‹, also ›schmutzige‹ Vermischung, um an die Gedanken Weichs (»Epigonaler Schmutz?«) zur Lyrik Al Bertos anzuschließen. Wobei der große Unterschied natürlich darin besteht, dass Al Berto diesen textuellen Schmutz auch dezidiert ausspricht, wohingegen Bottos Gedichte vom direkten Schock (wie ihn ja auch schon Pessoa kultivierte) absehen. 24 In »crescendo« fallen also auch sexueller Sinn (erigieren) und textueller Sinn (lauter werden) in eins.
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sus, ›verdreht‹; ›verkehrt‹, ›schlecht‹, ›falsch‹) sind dann nicht nur die auf der Inhaltsebene des Textes verhandelten sexuellen Kontakte, sondern auch die intertextuellen Bezüge, die verdrehten, verkehrten, schlechten und falschen Reinskriptionen in literarische Motive und Verfahren.25 Auch ›thematisch‹ geht Botto mit seinen Prätexten pervertierend um. Dies gilt insbesondere für das dolendi voluptas-Motiv; ursprünglich ein Topos zur Bezeichnung unerreichbarer mentaler Liebe, schreibt es Bottos Canção ein in die »christliche Tradition, die die Lust dem Bereich des Todes und des Übels zuordnete« (Foucault, Gebrauch der Lüste, 22). Was im Petrarkismus die auratisierte, mentale Liebe ist – nicht selten zur topischen Liebeskrankheit führend –, wird in der Canção durch dezidiert physische Liebe (sogar im Plural: physische Lieben, »amôres / Mais perversos«6,7) ersetzt. Gleichzeitig gerät das Gedicht selber zur geradezu masochistischen textuellen Wiederholung der Nichterfüllung des tatsächlich Erstrebten. Der Text muss – ebenso wie das Verlangen des Ich – früher oder später enden. Der ›kleine‹ und ›große‹ Tod der Meeresmetaphorik deutete bereits darauf voraus. Doch das Ende von »Por ti« und das Ende des Ich sind wiederum in einer Traditionen pervertierenden Umschreibung aufgehoben. Denn der Tod erscheint hier nicht als die unmittelbare Konsequenz aus den begangenen Sünden – die vermutlich zahlreichen ›kleinen Tode‹, die das Ich ›erleidet‹. Vielmehr wird der Tod, nachdrücklich gegen providentielle Vorstellungen, entmotiviert und als coup de grâce imaginiert: »Até que a morte se lembre / De me levar, – um dia«12,13. Dies ist gleichzeitig eine Entmotivierung des memento mori-Motivs: Der Tod handelt nicht auf Geheiß eines strafenden christlichen Gottes, sondern erscheint schlicht als unausweichliche, sinnlose, geradezu banale Biologie. Ganz unabhängig von
25 Die Verbindung von textueller Weltverarbeitung und Perversität findet sich so auch bei Álvaro de Campos, explizit in seiner »Oda triunfal« (1914). In einer Parenthese heißt es dort über den Versuch, gleichzeitig nachfühlend und schreibend die ganze moderne, medialisierte und technifizierte Welt in eine Ode zu bannen: »Ah, olhar é em mim uma perversão sexual!«, »Ah, Schauen ist bei mir sexuelle Perversion!« (übers. v. Inés Koebel, in: de Campos, Poesia – Poesie, 52f.) Seh-Lust und Schreib-Lust werden hier nicht (nur) verunglimpft, sondern stehen im Zeichen durchaus produktiver, aber eben devianter, modernistischer Textarbeit an der Welt.
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den irdischen Aktionen des Ich wird der Tod ›sich erinnern‹: »se lembre […] um dia.«11,12 Dies ist freilich im katholischen Portugal der Zeit eine absolut revolutionäre Vorstellung und – darauf kommt es mir zuvorderst an – eine intertextuelle Subversion des zitierten petrarkistischen Diskurses. Der im Gedicht bedeutsame Tod findet tatsächlich bereits vorher statt: Das Ich stirbt in seinen Versen: »morro de saudade nos meus versos«9; auf diese Weise wird das textuelle Sterben höher bewertet als das lebensweltliche. Diese Gedichtstelle steht in direkter Beziehung zum dolendi voluptasMotiv des Verses zuvor: «acho alegria nas dôres«8. Diese Verbindung von Schmerz und Überhöhung des Schmerzes in textuelle Freude ist ebenfalls seit Petrarca und dem Petrarkismus bekannt. Gerade die Unerreichbarkeit des Liebesobjekts wirkt als Textgenerator für den Dichter: »Die Frau der Petrarkisten ist Wunschbild, Projektionsfläche und Medium sowohl der narzisstischen Selbstbespiegelung als auch ›self-fashioning‹« des Dichters. (Tetzeli von Rosador, »Sonette«, 584). Der Autor der Sonette – z.B. der self-fashioned Petrarca selber – verfolgt »den ganzen Zyklus hindurch […] gleichzeitig zwei Ziele, deren Gleichheit er immer wieder wortspielerisch evoziert (etwa Canzionere VII): Laura, die Frau und ›Lauro‹, den (Dichter-)Lorbeer. Der petrarkistisch Liebende ist hinfort stets auch Dichter, der Lieben und Dichten gleichermaßen beschreibt und seziert. Sexuelles und textuelles Begehren bedingen sich wechselseitig, sind einander homolog oder auch substituierbar. Das Ver- und Entsagen des Liebenden ist nicht nur Thema des Dichtens, es ist auch seine Voraussetzung und sein Motiv: ohne Ver- und Entsagen kein Sagen, ohne erotischen Verzicht kein dichterisches Produkt. Und dieses Produkt ist nicht nur meditative Selbstanalyse oder preisende, verführen wollende Apostrophe der Geliebten, sondern auch – wie Petrarca es mit dem ersten Wort seines Canzionere klarstellt – an ein Publikum der Gleichen gerichtet. Jedes Sonett hat folglich zwei Adressaten, die Geliebte und die Dichter-Liebenden.« (Ebd., 585)
Das immense Passionsgefühl, das in Bottos Gedicht durch das Aufrufen des petrarkistischen Systems erzeugt wird, wird in dieser Sicht gleichzeitig ironisiert, distanziert, rationalisiert, eben: textualisiert. Was Petrarca noch im Rahmen eines heteronormativen Diskurses tat, nämlich »in literarischer Männersprache […] über die Frau als Objekt sowohl sich selbst als auch eine homosoziale Gemeinschaft der männlichen Begehrlichkeiten« zu konstruieren (ebd.), wiederholt Botto homoerotisch-subversiv. Auf diese Weise
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werden nicht nur die petrarkistischen Prätexte in ihrer Texthaftigkeit, sondern auch die ihnen zugrunde liegende Heteronormativität ausgestellt. Auf Botto zurückbezogen: In seiner Canção werden Gefühle nicht lyrisch repräsentiert, sondern dezidiert produziert. Die emotive Sprachfunktion im Gedicht hat keine mimetische, sondern eine performative Kommunikationsfunktion. Die Lyrikhaftigkeit, die sich das Gedicht gerade über die Nutzung prototypischer Versatzstücke der Lyriktradition erschreibt, hat keine nobilitierende oder forciert emotivierende Funktion. Ganz im Gegenteil: Lyrikhaftigkeit wird parodiert und die Verfahren der Nobilitierung und Produktion von emotiven Gehalten werden ausgestellt. Gleiches gilt für die Strategeme der Camouflage, die so sichtbar gemacht werden. Mehr, als dass homosexuelle Gefühle durch den Rekurs auf altbekannte und akzeptierte Liebesdiskurse camoufliert werden, ist diese Mischungsstruktur heteronormativer Systematik ein Spiel mit und ein ›Fake‹ von Camouflage. In der Art und Weise, wie die verschleiernden Faktoren bei Botto eingesetzt werden, codieren sie nicht nur – in Roland Barthes’ Diktion – die Lust im Text, sondern produzieren auch und vor allem Lust am Text.26 Sie bringen eine palimpsestartige Doppelwort-Struktur hervor, öffnen den Text auf den intertextuellen Raum und stellen, wie im Fall der Canções, die textuelle Basis heteronormativer Diskurse aus und subvertieren sie. Die »Canção IX« ist ein weiteres Beispiel für Bottos deviantes, pervertierendes Spiel mit Versatzstücken der (heteronormativen) Lyrikgeschichte. Zudem steht dieses Gedicht noch deutlicher im Zeichen subvertierter Camouflage: 1
Ouve, meu anjo:
Höre, du mein Engel:
2
Se eu beijasse a tua pel?
Wenn ich jetzt küßte deine Haut?
3
Se eu beijasse a tua bocca
Wenn ich jetzt küßte deinen Mund?
4
Onde a saliva é um mel?…
wo der Speichel wird zu Honig? …
5
Quis afastar-se mostrando
Er wollte sich entwinden und zeigte
6
Um sorriso desdenhoso;
ein Lächeln der Verachtung.
7
Mas ai!,
Aber ach!,
26 Vgl. Barthes Die Lust am Text.
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8
— A carne do assessino
– Das Fleisch des Mörders
9
É como a do virtuoso.
ist dem des Tugendhaften gleich.
10
Numa attitude elegante,
In einer schlanken Haltung,
11
Mysteriosa, gentil,
voller Anmut und Geheimnis
12
Deu-me o seu corpo doirado,
gab er mir seinen goldnen Körper,
13
Que eu beijei quase febril.
den ich fast fiebernd küßte.
14
Na vidraça da janella
An das Glas des Fensters
15
A chuva, léve, tinia …
leicht klingelte der Regen …
16
Ele apertou-me, cerrando
Indem er mich umschlang, schloß
17
Os olhos para sonhar…
er die Augen um zu träumen …
18
E eu, lentamente, morria
Ich aber starb ganz langsam,
19
Como um perfume no ar…
wie ein Duft vergeht im Wind …27
Lyrikhaftigkeit erschreibt sich das Gedicht bereits formal. Es verwendet, wie viele andere der Canções, die prototypische portugiesische Volksliedstrophe der quadra, einen Siebensilber, hier kreuzgereimt xaxa. Diese Strophenform ist, auch im Anschluss an die traditionelle portugiesische Lyrik, als verso menor der nicht-hohen Dichtung vorbehalten und steht im Gegensatz zu den (meist aus dem Italienischen importierten) ›großen Versen‹ wie dem Elfsilber. Das Reibungspotential zwischen der volksliedhaften Metrik und dem dekadenten Ambiente soll zunächst nur festgestellt werden.28 Botto geht allerdings recht frei mit dieser Vorgabe um: Vers 1, der die Sprechsituation durch die Apostrophe bestimmt, zählt nur vier Silben; bis Vers 6 wird das Metrum strikt durchgehalten, um dann in Vers 7 durch den hoch emotionalen Ausruf »Mas ai!«7 gebrochen zu werden; der weitere Verlauf ist hingegen wieder regelkonform.
27 Original aus Botto, Canções, 1922. Übers. v. Limbeck, Canções – Lieder, 33. 28 Der Titel Canções ist ebenfalls eine solche Einschreibung in die Tradition und deren gleichzeitige Brechung. Er ruft nämlich die petrarkistische Tradition des Canzoniere auf, wobei die Gedichte der Sammlung allesamt eher der portugiesischen Tradition der Cantiga, dem Volkslied, folgen.
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Dieser prototypisierenden Einschreibung samt ihrer Brechung spricht García Martín eine referentielle, ›mimetisierende‹ Kommunikationsfunktion der Selbstaussprache zu: »Der freie Vers des Dichters (er wechselt Verse mit verschiedenem Maß mit einer Vorherrschaft des Siebensilbers ab) wird in den Dienst der Alltagssprache gestellt. Die expressiven Enjambements, das – stilistisch signifikative – Brechen mit der traditionellen metrischen Einheit ›kleiner Verse‹, dient (schon seit den Liedern von 1921) dazu, das Gedicht dem Ton der vertraulichen Mitteilung anzunähern.« (García Martín, »El semiheterónimo A.B.«, 382)29
Dem Sprechgegenstand nach steht dieses Gedicht abermals in der prototypischen – wiederum dezidiert petrarkistischen – Tradition des Topos vom begehrten, jedoch unerreichbaren Liebesobjekt. Die Fragen im Irrealis, mit denen das Gedicht einsetzt, folgen der traditionellen Sprechsituation: Das aus der Unmöglichkeit der Realisierung resultierende verzweifelte Verlangen nach der Vereinigung mit dem begehrten Du. Das hochmütige sich Abwenden, »afastar-se mostrando / Um sorriso desdenhoso«5,6 des Liebesobjekts ist dabei eine Variation des Topos der sich hochmütig entziehenden Geliebten im Petrarkismus.30 Die petrarkistisch-regelkonforme Unmöglichkeit der Vereinigung wird in Bottos Text jedoch zugleich unterlaufen. Die einleitende Strophe bereitet im Irrealis das Geschehen vor – gleichzeitig die Vorgaben des petrarkistischen Systems erfüllend (es bleibt irreal) und unterlaufend (es wird ja doch erzählt). Die als Halbstrophe das Viererschema der quadra unterbrechenden Verse 14 und 15 schaffen ebenfalls eine Atmosphäre der Traumhaftigkeit, des Nicht-Realen, bzw. Nicht-Realisier-
29 Orig.: »El verso libre del poeta (alterna versos de diversa medida con predominio del heptasílabo) está puesto al servicio del coloquialismo. Los encabalgamientos expresivos, la ruptura – estilísticamente significativa – de la unidad métrica tradicional en versos menores, sirven (ya desde las canciones de 1921) para acercar el poema al tono de la confidencia.« 30 So z.B. in Petrarcas Sonett 112: »Qui tutta humile e qui la vidi altera, / or aspra, or piana, or dispietata, or pia; / or vestirsi onestate, or leggiadria, / or mansueta, or disdegnosa e fera.«5-8 oder in der zweiten Ekloge von Garcilaso: »Y sin mirarme, desdeñosa y fiera«.
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baren: Einem Kameraschwenk ähnlich, wird hier die Beschreibung vom eigentlichen Geschehen weggelenkt und auf die Grenze des intimen Innenraums der Körperaktion fokussiert: Das Glas des Fensters, auf das der Regen klingelt, wird hier metaphorisch zum akustischen semipermeablen Grenzbereich zwischen Realität und Wunschwelt. Unter diesen irrealisierenden Bedingungen kommt es aber – und insofern das petrarkistische System sprengend – doch zur Vereinigung. Der Ausruf »Mas ai!«7 leitet die ›wundersame‹ Entwicklung ein. Die Erfüllung des Wunsches nach Vereinigung wird in den Versen 8 und 9 durch eine Pervertierung der Werte eingeleitet: Die Schwäche aller Menschen, die Ursünde der Fleischlichkeit, wird im Modus der allgemeinen Reflexion konstatiert.31 Das Verlangen siegt über den moralisch besten, wie schlechtesten Menschen »A carne do assessino / É como a do virtuoso«8f., (ausgelebte) Sexualität nivelliert moralische Grenzen. Der Wunsch nach Liebeserfüllung, oder besser: Trieberfüllung, steht also im Zeichen einer alle Werte umwertenden Devianz des Fleischlichen. Eine extrem verdrehte Version der petrarkistischen antithetischen Beschreibung des Liebesobjekts: Aus dem Versuch des Entwindens in Vers 5 wird nun eine feste Umschlingung »Ele apertou-me«16. Bekannt ist dies bereits aus »Por ti«, in welchem die eine auratische Liebe zu vielen »amôres / Mais perversos«6f. geerdet wird. Die Auslassungspunkte in den Versen 4, 15, 17 und 19 sind als zu füllende Leerstellen signifikant. Dieses Gedicht ist ein Beispiel für die »Mikrodramen von einer manchmal bewundernswerten psychologischen oder emotionalen Subtilität, kürzeste dramatische Monologe, dicht mit bitterer Theatralität der erotischen Zusammentreffen und Scheidungen, in denen die nicht artikulierten Verse oder die Pausen und die strophischen Intervalle eine mächtige expressive Leistungsfähigkeit erlangen« (Jorge de Sena, zit. in: García Martín, »Semiheterónimo A.B.«, 388).32
31 Wobei hier die Differenz zwischen dem nachfolgenden traumhaften Erleben und der rationalen Abstraktion auffällt. 32 Orig.: »microdramas de una subtileza psicológica o emotional por vezes admirável, brevíssimos monólogos dramáticos, densos da amarga teatralidade dos encontros e das separações eróticas, em que os versos desarticulados ou as
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Die Auslassung zweier Verse in der vierten, nur zweiversigen, Strophe ist genau solch ein Bruch voller ›Subtilität‹ – oder besser: ausgesparter Sexualität. So liest auch Jorge de Sena Bottos Gedichte als mimetische, biografische, emotive Selbstaussprache des Subjekts.33 Die abschließenden Verse »E eu, lentamente, morria / como um perfume no ar …«18f. erklärt Sven Limbeck zum paradigmatischen Ausdruck der Todesaffinität von Bottos Lyrik: »So ist für António Botto die Liebe eine Einübung ins Sterben« (Limbeck »Homosexualität«, 19). Limbecks Interpretation, es würde hier darum gehen, »eine höhere Stufe der Existenz zu erklimmen« (ebd.), überzeugt jedoch nicht, berücksichtigt man die überaus profane Einbettung in eine Situation postkoitaler Traurigkeit. Es ist vielmehr genau dieses Spiel zwischen auratisierender ›Entselbstung‹ durch Liebeserfüllung und profanster Depression, was dieses Gedicht ausmacht. Eine Geschlechtsmarkierung des Ich findet sich in »Ouve, meu anjo«, wie in den meisten der Canções, nicht. Es gibt allerdings auch kein einziges Gedicht, das einen Hinweis darauf enthielte, dass das Ich weiblich wäre.34 Indizien für die Männlichkeit des Ich gibt es hingegen einige: Zum einen die Überlagerung von Autor und lyrischem Ich durch das am Anfang des Bandes abgedruckte Konterfei des Autors (Abbildung 10). Auch konnte in »Por ti« gezeigt werden, dass mit den »amôres / Mais perversos« durchaus (promiskuitive) Homosexualität insinuiert wird. Außerdem wird in der
pausas e os intervalos estróficos adquirem uma poderosa capacidade expressional«. 33 Der außerordentlich präzise gewählte Begriff des ›Mikrodramas‹ hält ein weiteres Argument für die Inszenierung einer subjektiven Stimme bereit: »Several of the poems of ›Boy‹ [eines der Unterkapitel der späteren Sammlung] begin as if in answer to a question or statement from the poet’s lover-interlocutor. These responses establish implicit dialogues with their fictional addressees and consolidate a speaking subject, a unified and proclaimed sense of self.« (Blackmore, »Note to the text«, xxxv). 34 Es gibt in der portugiesischen Literaturgeschichte das Vorbild der Cantigas do Amigo, die ebenfalls ein männliches Du bedichten. Dabei jedoch wird dort die Heteronormativität klar gewahrt: Das sprechende Ich ist dabei stets explizit weiblich, wohl auch um homoerotische Lesarten zu vermeiden.
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Canção XXIV das lyrische Ich (wiederum in einer Überlagerung mit dem Autor) als »António, meu António«1 angesprochen. Keilson-Lauritz stellte die Frage, wie männlich Engel seien (»Maske und Signal«, 70); co-textuell ist das bei Botto einfach zu klären: Der Engel wird schon in der Canção VII explizit als »mancebo aládo«14, geflügelter Junge, angesprochen. In der Canção III wird das Personalpronomen »Ele«21 mit Majuskel gesetzt, was in portugiesischen Texten nur zweien, Christus oder Gott, zukommt. Umso mehr muss für »Ouve, meu anjo« gelten, dass es sich um hypertrophe Camouflage handelt. Die Canção beginnt mit der Apostrophe des grammatikalisch männlichen Engels im ersten Vers, geht weiter mit diversen reflexiven Wortformen (mit dem Possessivpronomen in der zweiten Person »tua«2f., Verben in der dritten Person Singular »Quis afastar-se«5 und »Deu-me«12, einem Possessivpronomen in der dritten Person »seu«12). Keines dieser Reflexiva lässt Rückschluss auf das ›biologische Geschlecht‹ des grammatikalisch männlichen Engels zu.35 Doch im letzten Vers wird mit »ele«16 das maskuline Personalpronomen der dritten Person gegeben und so das Du eindeutig gegendert. Die extreme Spannweite zwischen dem zunächst ungegenderten Bezugswort »anjo«1 und dem maskulinen Pronomen in Vers 16 maskiert nicht, sondern markiert die camouflierende Struktur. Dies geschieht durch Überstrapazierung und Untererfüllung zugleich. Letzteres durch Aussprache des eigentlich zu Verbergenden, durch die intentionale Markierung des männlichen Geschlechts. Schon in Canção III ist das Objekt des Begehrens mit »ele«9 eindeutig männlich. Umso weniger kann doch die Camouflage-Struktur in »Ouve, meu anjo« ernst genommen werden. Zunächst liegt das Skandalon von »Ouve, meu anjo« darin, dass eine als Engel auratisierte Angesprocheneninstanz durch explizite Sexualität profaniert wird: »deu-me o seu corpo doirado«12, der heilige goldene Körper gibt sich der Sexualität hin. Die Werte umstürzende Mischung von Heiligem und Profanem findet sich immer wieder in Bottos Canções.36 Das Du wird
35 Leider kann die im Original auffällige Struktur in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben werden, da in Vers 5 das männliche Personalpronomen verwendet werden muss. 36 Bottos Gedichte sind in dieser Hinsicht jedoch keine Neuerung: Schon Petrarca hat Laura in den Sonetten 3 und 4 »in eine Parallele mit Christus gerückt«. So
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gesegnet37 oder zum Engel erhoben. Viele der Lieder verlegen die sexuellen Begegnungen zwischen Ich und Du nicht nur in ›typisch dekadente‹ (ausgesuchte Blumen, Preziosen, Gitarrenmusik im Hintergrund, Kerzenschein etc.), sondern auch in explizit sakrale Räume. So in der ersten Canção der Ausgabe von 1922, die bereits diese zentralen Topoi des Bandes vorgibt. Sie sei hier in Gänze wiedergegeben, jedoch nur kurz besprochen; so möge sie einen Eindruck von der ›Stimmung‹ aller Gedichte geben: 1
A noite,
Als die Nacht
2
– Como ella vinha!
kam mild
3
Morna, suave,
und lau,
4
Muito branca, aos tropeções,
ganz blaß und wankend
5
Já sobre as coisas descia;
sich über alle Dinge senkte,
6
E eu nos teus braços deitado
lag in deinen Armen ich
7
Até sonhei que morria.
und träumte, daß ich sterbe.
8
E via
Ich sah
9
Goivos e cravos aus mólhos;
Sträuße von Nelken und Levkojen,
10
Um Christo crucificado;
einen Christus am Kreuz,
11
Nos teus olhos
in deinen Augen
12
Suavidade e frieza;
Zärtlichkeit und Kälte,
13
Damasco rôxo puído,
fadenscheinig purpurnen Damast,
14
Mãos esquálidas rasgando
blasse Hände reißen
15
Os bordões de uma guitarra,
einer Gitarre Saiten;
16
Penumbra, vellas ardendo,
Dämmrung, Kerzen brennen,
17
Incenso, oiro, – tristeza…
Gold, Weihrauch – Trauer …
18
E eu… devagar morrendo…
und ich … langsam sterbend …
»vollzieht sich das innamoramento im Horizont von Jesu Tod« (Kablitz, »Laura und die alten Mythen«, 75), am Karfreitag. Der Unterschied liegt jedoch in der Explizitheit der Profanierung des Heiligen bei Botto. 37 »Bemdito sejas, / Meu verdadeiro conforto / E meu verdadeiro amigo«1-3 – »Gesegnet seist du / mein wahrer Trost du / und mein wahrer Freund!« (Canção IV, übers. v. Limbeck).
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19
O teu rosto moreninho
Dein braunes Antlitz
20
– Tão formoso! –
– wunderschön –
21
Mostrava-se mais sereno
es schaute ernster nun,
22
E sem lágrimas, enxuto;
doch ohne Tränen.
23
Só o teu corpo delgado,
Allein dein schlanker Leib,
24
O teu corpo gracioso,
dein Leib voll Anmut
25
Se envolvia todo em lucto.
hüllte ganz in Trauer sich.
26
Depois, anciosamente,
Dann suchte ich ängstlich,
27
Procurei a tua bocca,
gierig deinen Mund,
28
A tua bocca sadía;
der mir so wohltat.
29
Beijámos-nos doidamente…
Wie wahnsinnig küßten wir …
30
– Era dia!
– es wurde Tag!
31
E os nossos corpos unidos,
Und unsere Leiber vereint,
32
Como corpos sem sentidos,
wie Leiber ohne Sinne,
33
No chão rolaram…
rollten am Boden …
e assim ficaram!…
und so verharrten sie! …
38
Sexueller Kontakt und christlich-kirchlich-heiliges Ambiente sind durch Wachen und Träumen nur wenig voneinander getrennt. Auch hier geht es wieder um die Imagination des großen Todes in Verbindung mit dem kleinen Tod, wiederum ist die Nacht als verdunkelnder Handlungsort gewählt, wobei die topische Trennung am Morgen, wie sie die Tradition der albaDichtung vorgibt, hier nicht eingelöst wird, sondern zu einer anhaltenden Erfüllung der Vereinigung von Ich und Du umgeschrieben wird. So spielt das Gedicht mit allen Registern: Aus der postkoitalen Traurigkeit nach dem kleinen Tod wird ein sakralisierter großer Tod, nur, um zum Schluss wieder ganz geerdet zu werden, wenn die beiden Körper letztlich ineinander verschlungen auf dem Boden rollen.39
38 Original aus Botto, Canções, 1922. Übers. v. Limbeck, Canções – Lieder, 11. 39 »Botto’s poetic cadences are wave-like, like the unceasing ocean beat of breakers on the shore, pulling the reader into a rhythm of approach and withdrawal, of epiphanic moments of bodily and emotional encounters that presage dissipation«. (Blackmore, »A.B’s bruises of light«, xxiv) Diese hauptsächlich auf das
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Doch abschließend noch einmal zurück zu »Ouve, meu anjo«. Vielmehr als der im traumhaften Irrealis gehaltene Umsturz der Werte ist es doch die dadurch aufgemachte Möglichkeit eines mann-männlichen Begehrens, die hier umstürzlerisch erscheint: Die wirkliche Devianz liegt mithin darin, dass in Vers 16 das Du potentiell männlich gegendert wird. Die Technik kann aber nicht ernst genommen werden, wird sie doch zum einen durch die Spannweite der Referenz so sehr betont und zum anderen durch die grammatikalische Bestimmung unterlaufen. Die zwar genutzte, aber nicht durchgehaltene Technik der Camouflage dient nicht der verbotenen Selbstaussprache, sondern befragt die Konditionen der Möglichkeiten der Selbstaussprache. In dieser Hinsicht wird auch dieses »Mikrodrama« mit seiner »Expressivität«, wie sie Jorge de Sena sah, eben nicht in seiner dramatischmimetischen, sondern theatralisch-performativen Seite ausgestellt. Dieses Gedicht ist zwar durch die prototypische Ich-Du-Situation in einen mimetischen Lyrikdiskurs integriert, doch zugleich unterläuft es die Mimesis der emotiven Sprachfunktion. Die Aufdeckung der Camouflage-Technik40 lässt die performative Kommunikationsfunktion des Gedichts hervortreten. Es handelt sich mithin nicht um mimetische Selbstaussprache, sondern um ein Spiel mit der Selbstaussprache und um eine Ausstellung nicht des psychologischen Dramas, sondern der textuellen Dramahaftigkeit. Wiederum wird im Folgenden kurz ein medialer Wechsel zu den visuellen Medien die bisherige Argumentation stützen. Die Ausgabe der engli-
inhaltliche Hin und Her der Liebenden abzielende Beschreibung ist auch auf die gestalterischen Wechsel zwischen hohen und niederen Tönen und Gegenständen auszuweiten. 40 ›Technik‹ durchaus im Sinne Viktor Šklovskijs, der deviationsästhetisch argumentiert, dass die Automatisierung/Habitualisierung der Wahrnehmung durch das Ausstellen der Technik möglich ist: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« (»Kunst als Verfahren«, 15).
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schen Übersetzungen von Pessoa hält noch ein grafisches Argument gegen eine rein mimetische und für eine performative Kommunikationsfunktion der Canções parat, das abschließend kurz angesprochen werden soll.41 Den Gedichten vorangestellt ist die Kopf-Schulter-Zeichnung eines Mannes (Abbildung 12). Jungenhafte Frisur und Kopfform sowie die moderne Kleidung (ein weit offen gelassenes Hemd) lassen auf einen Jungen schließen. Dieser Junge wird auch auf der nächsten Seite genannt: »Boy« ist die Überschrift der ersten Gedichtgruppe. Diese Zeichnung nun ist anstelle der 1922 ursprünglich abgedruckten Fotografie von António Botto (Abbildung 10) platziert. Im Abgleich der beiden wird offensichtlich, dass diese Zeichnung nicht dieselbe mimetische Beglaubigungsfunktion der nachfolgenden Gedichte ausfüllen kann, wie es noch das pathetische Bild des Autors tat. Schon die minimalistische Linienführung, vor allem aber das leere Gesichtsoval haben eher einen entindividualisierenden, abstrahierenden – in jedem Fall aber generischen – Charakter.
41 Die Zeichnungen wurden leider nicht in die Neuausgabe von Josiah Blackmore aufgenommen. Die Ausgabe ist noch in einer anderen Hinsicht durchaus problematisch, nämlich emendiert sie, wie zumindest im Vorwort explizit gesagt, stillschweigend vermeintliche Fehler. Dem ist z.B. in der Übersetzung von »Ouve, meu anjo« eine evtl. intendierte Abweichung von der Regel zum Opfer gefallen, übersetzt Pessoa doch die Verse 10/11 mit »which was mystriously feigned« – die phonetische Nähe zur ›mistress‹, z.B. bei Shakespeare, mag zwar tatsächlich ein Zufall sein, dadurch aber, dass Blackmore zu »mysteriously« (evtl. hyper-)korrigiert, werden im Text angelegte Sinnpotentiale weg-emendiert. Tatsächlich könnte im hier verfolgten Zusammenhang der ›schiefen‹ Intertextualität bei Botto eine Übertragung genau dieser Struktur von Pessoa an dieser Stelle auch intendiert gewesen sein: Erstaunlicherweise wird »Mysteriosa«11 im Original mit y geschrieben, der üblichen Schreibweise mit i nicht folgend. Ein sich zufällig in der Übersetzung erhaltener Fehler? Wohl eher nicht!
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Abb. 12 und 13: anon. (António Botto?), in Botto, Songs, 1948.
Die den Gedichtband abschließende Federzeichnung (Abbildung 13) steht in rahmender Verbindung zu diesem Boy: Ein hellenischer Sänger ist hier mit locker fallender Toga und jugendlichem Lockenkopf dargestellt. Er trägt die Leier, das Emblem Apolls, dem Gott des hohen, regelhaft-›apollinischen‹ Gesangs. Dass gerade dieser Gott zur Illustration gewählt wurde, verweist auf den oben ausgeführten ästhetischen Attizismus der Canções.42 Auch diese Figur hat ein leeres Gesicht. Wiederum handelt es sich nicht um eine realistische Darstellung eines griechischen Jünglings, sondern um die auf das Notwendigste abstrahierte und entindividualisierte Figur. Ist es möglich, in der Zusammenschau das jugendliche Objekt des Liebesbegehrens in den Texten und das apollinisch dichtende Subjekt der Rede
42 Apoll – und metonymisch sein Instrument, die Lyra – stehen in Gegenstellung zu den Trompeten und Flöten des sexuell-rauschhaften Dionysos-Kults.
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über dieses Begehren auszumachen?43 Diese Interpretation liegt nahe – doch die fehlenden Gesichter der beiden Figuren sprechen dagegen. Sie lassen es nicht zu, sie in einer solch ›einfachen‹ mimetischen Weise zu verstehen. Vielmehr erscheinen sie als Funktionsstellen, als Platzhalter. Doch welche Gesichter könnten sie füllen? Es bieten sich die in den Canções Angesprochenen an, doch bliebe dieses Gesicht zum einen durchaus vage, zum anderen wären die – bisher hier verschwiegenen – weiblichen Angesprochenen in den Canções II und XXV nicht integrierbar.44 Also muss gerade die Leere des Gesichts ernst genommen werden: Wenn das Gesichtsoval gefüllt werden könnte, wäre es doch eher Träger von Masken als von realistisch individuellen Zügen. Wie hinreichend gezeigt werden konnte, betreiben die Canções keine mimetische Wiedergabe von Individualität, sondern stellen vielmehr textuell personae (›Masken‹) her. Diese rahmenden Zeichnungen visualisieren so das irisierende Spiel mit der mal mimetischen, mal performativen Kommunikationsfunktion von Bottos Gedichten.
43 Ob die Zeichnungen tatsächlich von Botto selbst stammen, was durch seine Unterschrift über dem zweiten Bild nahe liegt, konnte nicht eruiert werden. Strukturell ist auch interessanter, dass die Signatur des Dichters bei der Sängerfigur angebracht ist. Die Verbindung ist so zusätzlich gestärkt. 44 Dass zwei der Gedichte der Ausgabe von 1922 dezidiert weibliche Angesprochene aufweisen, liefert noch ein weiteres Argument gegen die Selbstaussprache in Bottos Canções, lässt sich der Band so doch nicht zu einem Zyklus zusammenbinden, wie es sowohl die petrarkistische, wie auch die romantische Tradition vorgeben. Dass es sich um verschiedenste, eben auch weibliche, Angesprochene handelt, ist in solcher Explizitheit äußerst selten der Fall. Außerdem fällt in einem der beiden eine wiederum extreme Inszenierung des Weiblichen auf: Die Tänzerin bringt alle männlichen Zuschauer (aber nicht dezidiert die Sprecherstimme!) gerade deshalb um den Verstand, weil sie alle Klischees der Orientalin bedient: »A sua bocca / […] Como a flôr da romanzeira.«4,7 [»Ihr Mund {...} wie des Granatapfels Blüte.«] »Um grande rubi, soberbo, / Resplandece entre os seus seios«8f. [»Ein großer Rubin strahlt / stolz zwischen ihren Brüsten«], »Sobre o seu sexo / Brilham duas esmeraldas«48f. [»Auf ihrem Geschlecht / funkeln zwei Smaragde«] (übers. v. Sven Limbeck). Hier wird also wiederum, wie schon bekannt, in der Exuberanz der Schablonen die Schablonenhaftigkeit ausgestellt.
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6.1.4 Textuelle Travestie und prekäre Potentialität von Subversion Wenn bislang von ›performativ‹ gesprochen wurde, dann im Hinblick auf eine der beiden Kommunikationsebenen des lyrikhaften Textes, auf diejenige nämlich, die die eigene Verfasst- und Gemachtheit ausstellt. Hier nun bietet sich die Möglichkeit, auch an das performance-Konzept Judith Butlers anzuschließen. ›Performativität‹ bezeichnet bei ihr die fundamentale Abhängigkeit der sexuellen Identität von diskursiven Praktiken. Geschlechtlichkeit entsteht so als Effekt stetig wiederholter kultureller Konstruktionen und entbehrt mithin einer vorgängigen natürlichen Basis. Wird nun im lyrikhaften Text Geschlechtlichkeit verhandelt, ist es gerade die performative Kommunikationsfunktion, welche auf ihre Konstruiertheit, ihre textuell-sprachliche statt natürliche Qualität aufmerksam macht. Bekanntlich stützt sich Butler auf Derridas Konzept der Iteration. In »Signatur Ereignis Kontext« zeigt Derrida, dass die Möglichkeit der Wiederholung qua Zitation die Basis jedes Signifikationsprozesses ist. Dort argumentiert er gegen Austin, der das reine Zitieren als ein parasitäres Phänomen der Signifikation begreift – so vor allem in fiktionalen Umgebungen. Derrida dreht Austins Argument ›von den Füßen auf den Kopf‹ und setzt Zitieren als Grundvoraussetzung der Sinnproduktion als die »Möglichkeit, daß jede performative Äußerung (und a priori jede andere) ›zitiert‹ werden kann.« (Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, 344) Diese basale Notwendigkeit, diesen ›Zwang‹ zum Zitat bezeichnet er im Folgenden als iterabilité. Damit wird das von Austin Ausgeschlossene nicht nur in die Struktur der Sinnproduktion hereingeholt, sondern erhält sozusagen den ›zentralen‹ Ort darin. Diese Struktur der iterabilité überträgt Butler nun auf die Herstellung geschlechtlichen Sinns, welcher ebenso gerade erst als Effekt der Zitation/Iteration emergiert: »The replication of heterosexual constructs in non-heterosexual frames brings into relief the utterly constructed status of the so-called heterosexual original. Thus, gay is to straight not as copy is to original, but, rather, as copy is to copy. The parodic repetition of ›the original‹ […] reveals the original to be nothing other than a parody of the idea of the natural and the original.« (Gender Trouble, 41)
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Gerade im performativen, wiederholungsbedürftigen Charakter von Geschlechtsidentität vermutet nun Butler die Grundlage dafür, dass ihr Konstruiertheits- und Aufführungscharakter selber ausgestellt werden kann. Da intelligible Geschlechtsidentität immer nur in der wiederholten Aufführung den Anschein von Originalität und Natürlichkeit aufrechterhält, eine Wiederholung aber schon aus differenz-logischen Gründen niemals als identische zu haben ist, ist es möglich, durch verfremdende Veränderungen in der Aufführung die Performativität der diskursiven Geschlechtssinnproduktion zu entlarven. Andreas Kraß spricht von einer »parodistischen Verfremdung«, um »die Performativität, Fiktivität und Kontingenz der binären Ordnungen des Geschlechts und der Sexualität auszustellen« (Kraß, Queer denken, 20). Butler fragt weiter: »Are there forms of repetition that do not constitute a simple imitation, reproduction, and, hence, consolidation of the law?« (Butler, Gender Trouble, 41) Sie stellt somit die Frage nach den Bedingungen für eine nicht koalitionäre Gegenrede. »What kind of subversive repetition might call into question the regulatory practice of identity itself?« (Ebd.) Die Möglichkeit zur subvertierenden Wiederholung sieht Butler in der Performierung von heterosexuellen Praktiken in anderen, z.B. homosexuellen Konfigurationen. So macht sie die Bühne des theatralisch aufgeführten drag – der Travestie – als denjenigen Ort aus, der diese Wiederholungsbedürftigkeit nicht nur nutzt, sondern sichtbar werden lässt: »Drag constitutes the mundane way in which genders are appropriated, theatricalized, worn, and done; it implies that all gendering is a kind of impersonation and approximation.« (Butler, »Imitation«, 21) Diese soziologisch perspektivierte Darstellung kann auch für eine Beschreibung der Verfahren in Bottos Gedichten produktiv gemacht werden. Seine Texte sind dann nicht als literarische Camouflage, sondern als lyrikhafte Travestie45 zu lesen, als polyvalent parodistische Imitation von normierten Diskursen mit dem Ziel der Subversion heteronormativer Diskurse über Homosexualität; eine lyrikhafte Travestie.
45 Der Begriff der ›literarischen Travestie‹ als meist parodistische Untererfüllung der hohen Form ist hier freilich nicht gemeint.
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Butler fragt nun konkret danach, welche Taktiken überhaupt denkbar sind, wenn heteronormative Diskurse doch die unhintergehbare Basis von geschlechtlicher Sinnkonstruktion bilden: »Even if heterosexist constructs46 circulate as the available sites of power/discourse from which to do gender at all, the question remains: What possibilities of recirculation exist? Which possibilities of doing gender repeat and displace through [1] hyperbole, [2] dissonance, [3] internal confusion, and [4] proliferation the very constructs by which they are mobilized?« (Butler, Gender Trouble, 41f.)
All diese Möglichkeiten sind in Bottos Gedichten realisiert. [1] Durch die übertriebene Rekurrenz auf romantizistische Geständnislyrik, [2] durch die ›schiefe‹ Zitation heteronormativer literarischer Diskurse, [3] durch ihre verwirrende Vermischung innerhalb der Gedichte und [4] durch die Überschüssigkeit der Masken-Signal-Struktur stellen sie gerade ihren textuellen, performativen Charakter aus. Insofern sind sie zur Schau gestellte Camouflage, mithin Travestie. Bottos Gedichte nutzen ihre exuberante Metaphorik und ihre intertextuellen (intra- wie extraliterarischen) Verweise weder, um sich koalitionär zu ihnen zu verhalten, noch sich dissident gegen sie eine (relativ feste) Subjektposition zu erschreiben. Ihre forcierte Intertextualität – es drängt sich auf, mit Derrida von ›Iterativität‹ zu sprechen – bricht vielmehr mit der mimetischen Wiederholung, indem sie diese nicht nur with a difference wiederholt, sondern gleichzeitig die Wiederholung selbst – in den vier angeführten Weisen – ausstellt. Auf diese Weise unterlaufen die Canções das faire-parler des heteronormativen Sexualitätsdispositivs als lyrikhafte contre-discours. Die Lektüre von Bottos Canções zielte – vor diesem Theoriehintergrund – statt auf die verbotenen Lüste im Text auf die subversiven Lüste ab, die der Text durch pervertierte Intertextualität und promiske Textualität selber produziert. Es ist gerade dieser Schritt mehr, der über eine spielerische Subjekttaktik (Wie anhand von »A Gregorio« gezeigt) hinaus auch noch die Naturhaftigkeit des vermeintlichen Originals als Konstruktion entlarvt, die eine sub-
46 In der aktuelleren Diktion präziser: ›Heteronormativität‹.
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versive von einer dissidenten Taktik unterscheidet, es ist dieser eine Schritt mehr, der eine meta-reflexive Bewegung auf Sinnstrukturen zulässt – die performative Kommunikationsfunktion seiner Gedichte schießt über die mimetische hinaus, das vexierende Spiel der beiden Textebenen wird zugunsten der performativen angehalten. Ob die Zurücknahme des Mimetischen und damit die Ausstellung des Performativen allerdings als Subversion tatsächlich wahrgenommen wird, ist dabei die entscheidende Frage. Erst der Blick auf somit immer nur potentiell subversive Konstellationen entscheidet darüber, ob die Subversion als solche wahrgenommen wird. Die überwiegenden Lesarten von Bottos Gedichten als emotiv-mimetische Aussprachen des Eigenen, wie sie oben vorgestellt wurden, belegen dies. Auf dieses Problem der Potentialität macht auch Butler aufmerksam. Dass auch in einer parodistischen performance naturalisierte Geschlechtszuschreibungen gefestigt werden, ist ebenso möglich, wie deren Subversion. Die Subversion bleibt also immer denkbar, aber nicht zwingend. Schon in Gender Trouble ist sich Butler dieses Problems bewusst.47 Dennoch beharrt sie auch später darauf, dass drag als Performierung von Geschlechtsstereotypen aufdeckt, dass auch die ›normalen‹ Geschlechts-Artikulationen nur Aufführungen von nicht essentiell vorgegebenen Geschlechtsmustern sind: »In this sense, then, drag is subversive to the extent that it reflects on the imitative structure by which hegemonic gender is itself produced and disputes heterosexuality’s claim on naturalness and originality.« (Butler, Bodies that Matter, 125, meine Herv.) Der wesentliche Punkt und gleichzeitig die größte Schwierigkeit ihrer Argumentation liegt im Ausdruck »to the extent«, also »in dem Maße«: Es scheint die Quantität und/oder Qualität der Subversionstaktiken darüber zu
47 Es ist also davor zu warnen, eine allzu ›optimistische‹ Haltung gegenüber der Subversionskraft von lyrikhaften Texten einzunehmen. Judith Butler dazu: »Parody by itself is not subversive, and there must be a way to understand what makes certain kinds of parodic repetitions effectively disruptive, truly troubling, and which repetitions become domesticated and recirculated as instruments of cultural hegemony. A typology of actions would clearly not suffice, for parodic displacement, indeed, parodic laughter, depends on a context and reception in which subversive confusions can be fostered.« (Butler, Gender Trouble, 176f.).
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entscheiden, ob sie als subversiv wahrgenommen werden oder ganz im Gegenteil als koalitionär!48 Dieser – ja absolute – Unterschied in der Wahrnehmung bezeichnet genau jenen Unterschied zwischen einer Camouflage-Lektüre und dem zweiten Lektüremodus, der hier angelegt wurde, welcher die Lyrikhaftigkeit der Gedichte anvisiert hat. Während Camouflage die Versklavung gegenüber dem Diskurs unterstellt, nämlich dadurch die Erwartungen der Diskurse über die Homosexualität zu erfüllen, dass sich das (Autor-)Subjekt ausspricht, sollte in Bottos Gedichten gerade die enorme Fülle an destabilisierenden Taktiken gegen die geschlechtliche Machtdiskursivität herausgearbeitet werden. So stellen sie ihre eigene Performativität aus. Statt als ›prokreative‹ Äußerungen, welche den Diskursen über die Homosexualität ein weiteres fruchtbares und perpetuierendes énoncé hinzufügen, erweisen sich Bottos Canções als promiske Ereignisse, die sich der Mitproduktion verweigern.
48 Daher ist eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber einer »romantisiert[en]« Vorstellung des subversiven Potentials von spielerischer Transsexualität und Travestie durchaus angebracht, wie sie Hilge Landweer einfordert (»Jenseits des Geschlechts?«, hier 139f.).
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6.2 L YRIKHAFTE S UB -V ERSIONEN
BEI
L UIS M UÑOZ
homosexualidad. 1. f. Inclinación hacia la relación erótica con individuos del mismo sexo. 2. f. Práctica de dicha relación.49 DICCIONARIO DE LA REAL ACADEMIA ESPAÑOLA
6.2.1 Prototypische Modi: voz órfica und voz lógica In der Einleitung, »Inflexiones a la voz órfica«, zu seiner 2003 erschienenen Anthologie aktueller spanischer Lyrik, La lógica de Orfeo, stellt Luis Antonio de Villena zwei ›Grundmodi‹ des lyrischen Sprechens vor, die er als voz órfica (orphische Stimme) und voz lógica (logische Stimme) bezeichnet. Er rekurriert damit auf (und perpetuiert gleichzeitig) einen seit Jahrhunderten stabilen Gemeinplatz der spanischen Literaturgeschichtsschreibung, nämlich die Lyrikproduktion in einer (vereinfachenden) Dichotomisierung der Modi literarischen Schreibens zu kategorisieren.50 Erwähnt sei z.B. einer der produktivsten Höhepunkte dieser Antagonisierung während des Siglo de Oro. Das besonders mit Luis de Góngora verbundene ›dunkle‹ oder ›kulteranistische‹ Schreiben steht hier im Kampf mit dem hellen, klaren Dichten, besonders vehement vertreten von Francisco de Quevedo. In der Literatur des 20. Jh. wird diese Antagonisierung in den Begriffen poesía social (Gesellschaftslyrik) und poesía pura (reine Lyrik) wieder aufgenommen: ihre differentia specifica bildet sich über ihre gegen-
49 »Homosexualität. die; 1. Neigung zu einer erotischen Beziehung mit Individuen desselben Geschlechts. 2. die; Ausübung der besagten Beziehung.« 50 Tatsächlich findet de Villena diese beiden Modi schon zu allen Zeiten, also als ›Grundmodi‹ in der Lyrikgeschichte: »Fast immer schon haben sich, knapp gesagt, zwei Stimmen, oder verschiedene Macharten, durch die Poesie gezogen; und beide sind sehr alt.« (Villena, »Inflexiones«, 9) Orig.: »Casi siempre […] en la Poesía se han movido, sucintamente hablando, dos voces o maneras distintas y las dos muy antiguas.«
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sätzliche Verbindung zu außerliterarischen Diskursen, ihrem Bezug zur Welt: Zurecht sieht Hans Ulrich Gumbrecht den entscheidenden Unterschied zwischen diesen beiden prototypischen Extremformen der spanischen Lyrik, zwischen ihrer »›Unabhängigkeit‹« bzw. ihrer »›Legitimationsverpflichtung‹« gegenüber der Lebenswelt (Eine Geschichte I, 418).51 In der hier verwendeten Begrifflichkeit konstituieren sich diese beiden Pole also über ihre unterschiedliche Dominantsetzung von performativer Funktion (oscuros) und mimetischer Funktion (claros). Obwohl diese Dichotomie tatsächlich niemals ganz klar zu ziehen ist,52 darauf verweist auch Villena selbst,53 war und ist sie in ihrer Wirkmächtigkeit für die spanische Lyriktradition bestimmend – die beiden Dichtungstypen können als prototypisch gelten. Besonders in der nachfrankistischen Lyrikproduktion sieht er ein vehementes Auseinanderklaffen der beiden Pole.54 Villena füllt die dichotome Matrix folgendermaßen (Villena, »Inflexiones«):
51 Vgl. die Argumentation in Kapitel 5.2 – dort jedoch im Hinblick auf die Generación del 27. 52 Die neuere spanische Literaturgeschichtsschreibung macht weniger auf die reine Gegnerschaft aufmerksam, sondern konzentriert sich mehr auf die (produktiven) Überlappungsbereiche zwischen ihnen: »Bei aller Heftigkeit der Polemik ließen viele der Góngora-Enthusiasten die von ihm aufgegebenen Schwierigkeiten des Verstehens und viele Góngora-Feinde die Eleganz seines Stils nicht unerwähnt und hielten sich so die Möglichkeit eines Konsenses offen.« (Gumbrecht, Eine Geschichte I, 672). 53 Nicht ganz uneitel schreibt Villena: »Ich glaube, ich bin unter den Dichtern derjenige (entschuldigen Sie, dass ich mich als Vergleich anführe), der in einem gewissen Maß und vielleicht auch etwas früher als andere Dichter meiner Generation die Möglichkeit gehabt hat, beide Stimmen ineinander zu übertragen.« (Villena, »Inflexiones«, 14) Orig.: »Pero yo soy de los poetas, creo (y perdónenseme el propio ejemplo) que he tenido, en alguna medida, la posibilidad de transitar ambas voces, quizá algo antes que otros poetas de mi generación.« 54 »Zweifelsohne hat die spanische Poesie nach der Guerra Civil (d.h. nach der ersten großen Blütezeit der Generación del 27) diese zwei Stimmen mehr denn je voneinander getrennt«. (Ebd., 10) Orig.: »Sin duda, después de la Guerra Civil (es decir, después del primer gran auge de la Generación del 27) la poesía espa-
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lógico
órfico
»poesía de la experiencia«
»poesía metafísica«
»poesía de realismo meditativo«
»poesía del irracionalismo cognoscitivo«
»realismo«
»irracionalismo«
»poesía útil para gente normal«
Es wird auf den ersten Blick sichtbar, dass diese Entgegensetzung einer strikten wissenschaftlichen Fundierung entbehrt, wie es bei Villenas literaturhistorischen Betrachtungen oft der Fall ist. Es handelt sich um »wie meist etwas verstreut und wenig systematisch in Anschlag gebrachte Kennzeichen« (Weich, »›Correspondencias‹«, 327). So werden grundsätzlich disparate (und zudem noch literaturtheoretisch wie -historisch enorm aufgeladene) Kategorien wie »realismo« und »poesía de la experiencia« unter dem Label ›lógico‹ zusammengebracht und dabei nur zu offensichtliche Unterschiede nivelliert. Für das von Villena verfolgte Beweisziel ist dieser historisch unhaltbare Eklektizismus jedoch einleuchtend und produktiv, da er die prototypische Fremd-Dichotomisierung durch die Rezeption und die Selbst-Dichotomisierung der Autoren betonend nachvollzieht. Auch die einschlägige hispanistische Forschung legt eine solche Zweiteilung zugrunde. Für das 20. Jh. zeichnet Juan Cano Ballesta (La poesía española entre pureza y revolución) folgende Linie nach: Nach einer Phase der »herencia artística de los años veinte« mit ihren Avantgarden, die das »ideal poético« in einer maximalen Distanz zwischen Poesie und Leben sahen (ebd., 1-27), lässt sich für die Jahre 1930-1933 eine Gegenorientierung der Poesie in Richtung ›Gesellschaft‹ nachvollziehen, die in den Vorbürgerkriegsjahren zu einem ›Kampf um die poesía pura‹ (ebd., 169-191) führte und schließlich in einer Rehumanisierung, ja Neoromantisierung der Lyrik als Gefühlsmedium um 1936 mündete (ebd., 192-217). Mit dem Bürgerkrieg wurde die Humanisierung der Lyrik weiter verfolgt und zu einer regelrechten »Abkehr von der Moderne« (Siebenmann, Moderne Lyrik in Spanien, 232-53) und zur litérature engagée. Mit Pablo Nerudas Manifest Sobre una poesía sin pureza von 1935 etablierte sich die poesía impura,
ñola – a la que voy esencialmente a ceñirme – separó más que nunca esas dos voces«.
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poesía épica und schließlich – verlängert und verändert während des Franquismo – die poesía social.55 Diese dichotomische Folie macht Villena stark, um die spezifische Eigenart der von ihm ausgewählten zeitgenössischen Lyriker_innen gegenüber den vorherigen Lyrikströmungen zu fundieren: Denn es gibt, so seine Grundannahme, eine neue Generation von Poeten, die diese Dichotomie auf verschiedene Weise auflöst und in spannungsvollem Wechselspiel einer »ars combinatoria zwischen dem Logischen und dem Orphischen«56 (Villena, »Inflexiones«, 38) zusammenbringt: »Die ausgewählten Dichter […] sind allesamt auf diesem Weg, […] der beansprucht, die Dialektik zwischen Realismus und Irrationalismus, die sich so kühn ausnahm, heute zu überwinden. Und sie suchen dazu einen Mittelweg (wenn auch nicht vermittelnd) mit jeweils sehr unterschiedlichen Graden, aber unter der Annahme, dass sich diese Mischung – in welchem Verhältnis auch immer – belebend auf die aktuelle Poesie auswirkt.«57 (Ebd., 35)
55 Vgl. dazu auch den Überblick über das Wechselverhältnis von Literatur und Gesellschaft bei Neuschäfer, »Das 20. Jahrhundert«, 361-389. 56 Orig.: »ars combinatoria entre lo lógico y lo órfico«. Villena selbst rühmt sich, diese Verbindung schon länger zu praktizieren (ebd., 14). Diese Selbsteinschätzung ist durchaus berechtigt: Viele seiner Gedichte zeichnen sich tatsächlich durch ihre gleichzeitige cotidianistische und betont textuelle Schreibweise aus und spielen so mit mimetischer und performativer Kommunikationsfunktion. Dies ist, wiederum expliziert dies Villena selbst, eine Schreibweise, die er schon bei Konstantinos Kavafis ausmachen konnte, in dessen Tradition er sich selber stellt (vgl. de Villena, Carne y tiempo). Eine Untersuchung dieser beiden Autoren eben nach ihren mimetisch-performativen Textspielen wäre eine lohnenswerte Aufgabe. 57 Orig.: »Los poetas seleccionados […] están todos ellos en este camino, […] que pretende superar – hoy – la dialéctica, que parecía arriscada, entre realismo e irracionalismo, buscando una vía intermedia (que no medial) con muy distintos grados de uno u otro, pero con la aceptación de que esa mezcla – en la proporción que fuere – es vitalizadora para la actual poesía.«
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Im Folgenden wird gezeigt, wie Luis Muñoz in den beiden Gedichten »Homosexualidad. Primera versión« und »Homosexualidad. Segunda versión« aus seinem Gedichtband Correspondencias (2001) eben diese beiden Modi ins Spiel bringt und einander gegenüberstellt, nämlich den ›orphischpoetischen‹ Lyrikmodus in der ersten und den sich in die Tradition der Erlebnislyrik einschreibenden ›logisch-rationalistischen‹ Lyrikmodus in der zweiten Version.58 Als Doppelgedicht betrachtet ist es geradezu ein Paradebeispiel für die beschriebene logisch-orphische Dialogizität der von Villena versammelten jungen Dichterriege, nutzen seine zwei Teile doch jeweils eine der prototypischen Lyrikformen. Dem Erkenntnisinteresse der Arbeit folgend, gilt es bei einer solchen Konstellation die Frage zu stellen, welche Diskursreaktivität in Hinblick auf die diskursive Rede über die Homosexualität dadurch produziert wird.
58 Mit dem Gedichtband Correspondencias von 2001, aus dem die beiden »Homosexualidad«-Fassungen stammen, hat Muñoz nach eigener Aussage eine Wende im Hinblick auf die beiden lyrikhaften Sprechmodi vollzogen. Im Vorwort zu seinen gesammelten Gedichten, Limpiar Pescado, schreibt er: »In der spanischen Poesie zirkulierten in den 80er und 90er Jahren schulische Weisungen, gruppiert um eine Poesie von realistischem Zuschnitt und einer anderen mit metaphysischem Zuschnitt, von denen ich glaube, dass sie ihre Aufgabe erfüllt haben, weil sie dazu beigetragen haben, die Persönlichkeit einiger Dichter zu befestigen, um deren Ort in der Poesie zu definieren. Diese Weisungen stellen sich jedoch als unbrauchbar heraus, wenn sie von jenen Dichtern abgekoppelt werden. Diesen Eindruck hatte ich, als ich die Gedichte von Septiembre schrieb und plante.« (Muñoz, Limpiar pescado, 11)58 Orig.: »En la poesía española circularon durante los años ochenta y noventa consignas de escuela, agrupadas en torno a una poesía de corte realista y otra de corte metafísico, que creo que hicieron su función, porque contribuyeron a afirmar la personalidad de algunos poetas, a definir su espacio poético, pero que resultan inservibles más allá de ellos. Esa es la sensación que yo tenía mientras escribía e ideaba los poemas de Septiembre.«
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Dieter Ingenschay hat Villenas Anthologisierungsprojekte in eine klare, historisch-politische Linie gestellt, »nämlich [als] Reflexion auf die Möglichkeit von Dichtung unter Bedingungen der Erfahrung von Freiheit« (Ingenschay, »Villena, Anthologe«, 119) nach der Diktatur. Laut Ingenschay hat »das starke Setzen auf neue lyrische Ausdrucksformen im Postfrankismus« (ebd.) die Aufgabe, die neue Freiheit in einer neuen politischen Ordnung auszuloten. Ingenschays Beobachtung lässt sich mit dem Analyseraster und in den Kategorien vorliegender Arbeit konkretisieren: Als contrediscours etablieren die beiden Fassungen der »Homosexualidad« dissensuale lyrikhafte Sprach- und Machträume und nutzen Möglichkeiten des Sprechens über Homosexualität, ohne dem faire-parler der positivistischen Geschlechtsnormativität zu gehorchen. Die Gedichte nehmen in den beiden Modi den lebensweltlichen Diskurs auf und subvertieren ihn, unterminieren die Macht der Benennung und verweisen auf das Benennen an sich. 6.2.2 Rien, cette écume, vierge vers: »Homosexualidad. Primera versión« Homosexualidad Primera versión Solitude, récif, étoile STÉPHANE MALLARMÉ 1
Primero es sólo eso:
2
igual que el habitante de una isla
3
que descubre una orilla alrededor,
4
una orilla tramada como en dientes de arena,
5
una nada concreta,
6
como es siempre la nada,
7
un sueño recortado, la vuelta de las olas
8
en el mismo lugar y al tiempo cada día,
9
así, igual que eso,
10
una ternura de agua alrededor
11
y una franja de hielo alrededor,
12
la hiena de los sexos y ese tacto que templa
13
la zozobra nocturna, ese sueño en relieve
14
que arrastra hasta la cama, que te lanza la luz
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15
de donde no la esperas,
16
así, igual que eso,
17
como puntos unidos, todo es isla.
18
Soledad, arrecife, estrella.
Homosexualität Erste Fassung Solitude, récif, étoile STÉPHANE MALLARMÉ 1
Zunächst ist es nur dies:
2
wie der Bewohner einer Insel,
3
der eine Küste entdeckt ringsherum,
4
eine Küste wie von Sandzähnen gewirkt,
5
ein konkretes Nichts,
6
wie jedes Nichts eben ist,
7
ein ausgeschnittener Traum, die Wiederkehr der Wellen
8
am selben Ort zur selben Zeit jeden Tag,
9
so, genau so,
10
Wasserzärtlichkeit ringsherum,
11
und ein Saum aus Eis ringsherum,
12
die Hyäne der Geschlechter und diese Berührung, die
13
den Nachtsturm zähmt, dieser Traum en relief,
14
der zum Bett zerrt, der dir das Licht zuwirft,
15
von wo du es nicht erwartest,
16
so, genau so,
17
wie verbundene Punkte, ist alles Insel.
18
Einsamkeit, Riff, Stern.59
59 Original aus: Muñoz, Correspondencias, 2001. Übers. v. Kurt Hahn, André Otto u. Horst Weich (Ferretti/Gómez-Montero, Dieser klingende Schatten, 45).
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Mit dem ersten Vers wird ein deskriptiver Texttyp vorbereitet: »Primero es sólo eso«1. Eine seinsbestimmende Definition des Objekts der Beschreibung wird in Aussicht gestellt. Die Sprechsituation ist die eines Lehrgedichts: Keine explizite Kommunikationssituation scheint auf, es spricht kein lyrisches Ich, weder Ort noch Zeit des Sprechens werden genannt; lediglich ein unbestimmt bleibendes Du wird gegen Ende des Textes sichtbar (»te«, »esperas«14,15). Gnomisches Präsens, an kein Sprechersubjekt gekoppelte Rede und die definitorische Geste sind die bestimmenden deiktischen Merkmale des Gedichts. Das zu Definierende ergibt sich aus der Überschrift: Das Gedicht gibt eine Antwort auf die Frage: Was ist Homosexualität? und schreibt sich damit in die Tradition des lyrischen Liebestraktats ein. Die Antwort wird in Form einer dreigliedrigen Argumentation gegeben, die eine individuelle Entwicklungsgeschichte präsentiert. Mit den Versen »igual que el habitante de una isla / que descubre una orilla alrededor«2-3 wird eine Grenz-Erfahrung als Ausgangspunkt einer Selbsterkenntnis gesetzt: Ein Inselbewohner wird sich seiner insularen Existenz durch die Entdeckung der umschließenden Küste bewusst. Diese Küste verweist jedoch schon dadurch, dass sie keine klare Grenzlinie bildet, sondern in das umgebende Meer ausfranst (»una orilla tramada como en dientes de arena«4), auf das Meer nicht als absolutes Nichts und definitive Grenze der Welt des Ich, sondern als »una nada contreta«5 auf eine – wenn auch noch unbekannte – Welt außerhalb des Habitats des Insulaners. Tatsächlich erhält seine Inselwelt gerade erst durch das Meer seine Grenzen, wenn die Wellen dessen Umrisse ausschneiden: »un sueño recortado, la vuelta de las olas«6. Dabei erscheint die Welt des habitante nicht real, sondern wird als Traum, als irreal und phantasmagorisch ausgezeichnet und durch die monoton immer wieder gegen diese labile Welt anlandenden Wellen durchaus als gefährdet. Doch nagen nicht nur die Wellen an den Grenzen der Insel, auch die Küstenlinie ist als »dientes de arena«4 ausgezeichnet worden: Keine monotone Statik, sondern vielmehr eine auf potentielle Interaktion hinweisende Schwellensituation der Welt des habitante und seiner Außenwelt wird in diesem ersten Teil etabliert. Was mit dem Meer – als topisches Sehnsuchtsmotiv – schon vorbereitet wurde, wird nun in einem zweiten Teil tatsächlich realisiert: Erschien das Jenseitige als Ahnung einer noch vollständig unbekannten Umwelt, wird diese nun emotional aufgeladen: »una ternura de agua alrededor«10. Schon
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der darauf folgende Vers, »y una franja de hielo alrededor«11, führt über den Gegensatz von Wasser und Eis eine antithetische Gefühlsstruktur ein: Das sich emotional konkretisierende Jenseits löst nicht nur zärtliche Liebeswünsche aus, die sich an das romantische Sehnsuchtsmotiv des Meeres anbinden. Im Gegenteil erhält dieser Wunsch mit nur einem Vers deutlich weniger Text als das ebenfalls geweckte fleischliche Verlangen, das in den folgenden Versen behandelt wird. Mit einem krassen metaphorischen Bruch im Vers »la hiena de los sexos y ese tacto que templa«12 wird der Kontrast aus romantischer und hedonistischer Sehnsucht verdeutlicht. Die traumhafte Bewusstseinswelt des Inselbewohners wird nun durch eine konkrete Körperwelt, durch Sexualität und Berührung, abgelöst. Die »Hyäne« ruft im Verein mit Geschlechtlichkeit eine geradezu abjekte Bildlichkeit auf.60 Nur die tatsächliche Berührung verspricht Linderung solch animalischleiblicher nächtlicher Geilheit: »ese tacto que templa / la zozobra nocturna«12f.. Aus dem noch in der Vorstellungswelt im Zeichen der Defizienz stehenden »sueño recortado« (auch ein ›gekürzter‹, ›beschnittener‹ Traum) wird nun ein »sueño en relieve«13, ein plastischer Traum.61 Dieser um eine Dimension erweiterte Traum nun zieht in Richtung Bett, »arrastra hasta la cama«14 – nach den Sexualität aufrufenden Versen ist dieses als Ort der sexuellen Erfüllung ausgezeichnet. Hier nun, im Bett, vollzieht sich eine plötzliche ›Erleuchtungsszene‹: »te lanza la luz / de donde no la esperas«14f.. Die Metaphorik des Lichts als topische Metapher der Erkenntnis wird an eine sexuelle Initiation gekoppelt. Die Erleuchtung trifft hier ein erstmalig genanntes Du. Von einem überaus abstrakten »habitante de una isla«2 ist das Gedicht qua sexueller Erfahrung bei einem konkreten Du angelangt. Damit ist bis hierhin die
60 »Es sind nachtaktive und hauptsächlich Aas fressende Tiere von abstoßendem Äußeren und mit unangenehmem Geruch, hervorgerufen durch die stark entwickelten Analdrüsen« Orig.: »Son animales nocturnos y principalmente carroñeros, de aspecto repulsivo y olor desagradable por lo desarrolladas que tienen sus glándulas anales.« (DRAE). 61 Hahn et al. übersetzen »en relieve« mit dem künstlerischen Fachterminus en relief. Diese Übersetzung könnte gestärkt werden, übersetzte man »recortado« ebenfalls als Fachterminus mit »die Umrisse einer Figur zeichnen«. Orig.: »Pint. señalar los perfiles de una figura« (DRAE).
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Entwicklung von der Ahnung der eigenen ›Insel-Identität‹ hin zur tatsächlich erst in der körperlichen Praxis konkret werdenden Einlösung der (sexuellen) Identität nachgezeichnet. Mit der identischen Wiederholung des bereits den zweiten Teil einleitenden Verses »así, igual que eso«9, 16 wird nun in einem dritten Teil zunächst die Euphorie einer erfüllten Sexualität im ersten Halbvers, »como puntos unidos«17 aufgerufen. Jedoch folgt dieser eine auf den Anfang des Gedichts verweisende Ernüchterung auf dem Fuße: »todo es isla«17. Die anfängliche Erfahrung der insularen Identität wird am Schluss wiederholt und damit die scheinbare Entwicklung zur Wiederholung des Immergleichen. In dieser zyklischen Struktur wird die mit »primero«1 eingeleitete Entwicklung nicht realisiert. Was bleibt, ist lediglich ein unendlicher Wechsel aus Sehnsucht und Enttäuschung. Am Schluss steht keine Identität, die sich über Sexualität gefestigt hätte.62 Als Traum ausgezeichnet, bleibt sogar diese Erfahrung explizit phantasmagorisch. Mit einem solchen »mimetic reading« (Mahler, »Pragmasemiotics«, 236, Fußnote 66) erschöpft sich dieses Gedicht jedoch nicht – im Gegenteil steht der nachgezeichneten Struktur (Lehrgedicht, Definitionen, Vergleiche) zum einen eine stark poetische Sprechweise in ihrer komplexen, fast ›dunklen‹, hermetischen Metaphorik entgegen, zum anderen die sich der Definition entziehenden Vergleichsstruktur: So wird die durch den deskriptiven Texttyp in Aussicht gestellte Definition tatsächlich nicht gegeben. In einer unendlichen Verweiskette63 verlieren die insistenten Vergleiche (wo-
62 Bis hierher wurde die Definition der Homosexualität im Diccionario de la Academia Española sozusagen als individuelle Entwicklung verzeitlicht: vom Erkennen einer »1. Neigung zu einer erotischen Beziehung mit Individuen desselben Geschlechts« hin zur »2. Ausübung der besagten Beziehung«. Luis Muñoz gibt selber einmal an, Worte, die später in Gedichten vorkommen, im DRAE nachzuschlagen: »Ich suchte das Wort ›Appetit‹ vorsichtshalber im DRAE« (Muñoz, »Transición«, 15). Orig.: »Busqué la palabra apetito con prevención en el diccionario de la Real Academia Española«. 63 Der einleitende Vergleich, »igual que el habitante de una isla«2, fächert sich dreifach auf in »[que] una orilla tramada«4, »[que] una nada contreta«5 und »[que] un sueño recortado«7. Die erste Beschreibungsreihe endet mit einem versichernden »así«9. Sie endet jedoch nur, um mit einer neuen Reihung zu begin-
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möglich müsste man besser von ›Vergleichsversuchen‹ sprechen) ihre eigentlich auf Anschaulichkeit und Wirksamkeit zielende Funktion. Statt einer poetischen Illustration der Homosexualität via Insel-, Meer-, Tier- und Licht-Metaphorik64 erscheint diese Bildlichkeit nun in ihrer definitorischen Inadäquanz – und damit in ihrer dysfunktionalen Poetizität. Der ›orphische‹ Modus des Sprechens steht hier im krassen Gegensatz zum strukturell angelegten Beschreiben, ja definieren. Diese Betonung der performativen Kommunikationsfunktion wird durch den abgesetzten letzten Vers, »Soledad, arrecife, estrella«19 nicht nur unterstützt, sondern auch metapoetisch produktiv gemacht. Es handelt sich um die spanische Übersetzung eines bereits im Motto zu »Homosexualidad« zitierten Verses aus Mallarmés Gedicht »Salut«; »Solitude, récif, étoile«12. Dieser einzelne Vers fungiert bei Muñoz als – freilich kurzer – Besprechungsteil des Gedichts und bietet eine Reflexion über den Beschreibungsteil.65 Auf Inhaltsebene nimmt er die Inselsemantik wieder auf;66 ne-
nen, die wiederum aufzählt (»igual que eso«9): »[es] una ternura de agua«10, »y [es] una franja de hielo«11, »[es] la hiena de los sexos [usw.]«12, bis mit einem wiederum versichernden »así«15 ein weiterer Vergleich eingeleitet wird: »como puntos unidos«18; nun aber mit einem abschließenden »todo es isla«17, das mit einer Verbalsatzkonstruktion die bisher elliptisch gebliebenen Verse 2-17 beschließt – wie jedoch bereits gezeigt, verweist dieses Ende nur wieder auf den Anfang. Die Kette von Vergleichen beginnt ad infinitum von vorne. 64 Beispiele für poetische Homosexualitätserklärungen, die ihre Bildlichkeit in rein mimetischen Dienst stellen, wurden in Kapitel 3 untersucht. 65 Diese seit Baudelaire und dann prominent in der symbolistischen Lyrik vorkommende Struktur eines längeren Beschreibungsteils und eines kürzeren Besprechungsteils (vgl. Klaus Dirscherl, Typologie der poetischen Sprechweisen) nutzt Muñoz in vielen seiner Gedichte. Dies zeigt Weich an »Correspondencias« (Weich, »›Correspondencias‹«, 325); sie ist aber auch in »Fotografías«, »El precio de los días«, »Códigos territoriales«, »De Ítaca«, u.v.m. ein zentrales Strukturmerkmal. 66 Als dreigliedriger Besprechungsteil ist sogar eine Zusammenfassung des dreiteiligen Beschreibungsteils denkbar: »Soledad«18 nimmt so die Inselerfahrung des habitante wieder auf, »arrecife«18 die (sexuelle) Grenzerfahrung und »estrella«18 die lichtartige sexuelle Erfüllung.
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ben dieser inhaltlichen Funktion leistet der Vers jedoch durch seinen intertextuellen Bezug zu dem womöglich wichtigsten Gedicht Mallarmés eine poetologische Selbstreflexion von »Homosexualidad« und führt weg von einer mimetischen Lektüre (der Repräsentation von Sexualität) zu einer performativen Lektüre (der Präsentation der Textualität). Mallarmé schrieb »Salut« anlässlich eines literarischen Banketts der Zeitschrift La Plume und trug es selber am 15. Februar 1893 mit großem Erfolg vor. Als poetologisches Gedicht stellte er es seiner Gedichtsammlung voran. So erhielt es, in »der Ausgabe letzter Hand der Poésies (1899) kursiv gesetzt«, geradezu »den Charakter eines Mottos« (Goebel, »Kommentar«, 293) für Mallarmés gesamtes Schreiben. Salut 1
Rien, cette écume, vierge vers
2
A ne désigner que la coupe;
3
Telle loin se noie une troupe
4
De sirènes mainte à l'envers.
5
Nous naviguons, ô mes divers
6
Amis, moi déjà sur la poupe
7
Vous l'avant fastueux qui coupe
8
Le flot de foudres et d'hivers;
9
Une ivresse belle m'engage
10
Sans craindre même son tangage
11
De porter debout ce salut
12
Solitude, récif, étoile
13
A n'importe ce qui valut
14
Le blanc souci de notre toile.
Gruß 1
Nichts, dieser Schaum, der reine Vers,
2
Nur Bezeichnung der reinen Form des Kelches:
3
So ertränkt sich fern eine Herde
4
Von Sirenen, rückwärts zumeist.
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5
Wir halten den Kurs, ihr mancherlei
6
Freunde, ich am Heck schon weit hinten,
7
Ihr prächtiger Bug, der schneidet
8
Von Wettern und Wintern die Flut;
9
Eine schöne Trunkenheit treibt mich,
10
Daß ohne Furcht vor ihrem Schlingern
11
Ich im Stehn bring aus diesen Gruß
12
(Einsamkeit, Felsenklippen, Leitstern)
13
An gleichviel was jemals gelohnt
14
Die weiße Mühe unseres Zeuges.67
Dieses an die Vortragssituation rückzubindende (und damit manifestorische) Sonett beginnt zunächst mit einem sprachphilosophischen und poetologischen Statement und hat die Verbindung von Dichtung und bedichtetem Gegenstand zum Inhalt: Das Dichten Mallarmés und seiner »Gefolgsleute« drückt sich eben nicht im mimetischen Ausdrücken einer Wirklichkeit, sondern im vershaften, schaumhaften Schaffen von Worten aus: »Rien, cette écume, vierge vers / A ne désigner que la coupe«1f.. Was als Geste der modestia einsetzt, nämlich das eigene Dichten als ›Nichts‹, als ›Schaum‹, zu bezeichnen, ist tatsächlich eine revolutionäre Umwertung der Werte: Der Vers ist ›rein‹, ›jungfräulich‹, ›unberührt‹, weil er ›frei ist vom‹ (all dies sind Bedeutungen von vierge) Zwang, etwas zu bedeuten. Der Vers in seiner klanglichen Materialität erhält den Vorzug gegenüber dem zu transportierenden Inhalt. Diese, die Ideologie des Zwangs zum Sinn angreifende Geste wird damit auf ein poetologisches Fundament gestellt und durch die Anrufung einer Gruppe der Wir ›institutionalisiert‹: Das lyrische Ich (auch: der vortragende Dichter) spricht eine Gruppe an, die sich aus ihm und den Angesprochenen (auch: den zuhörenden Dichter-Kollegen) zu einem Wir schließt. Dabei erscheint das Ich als Erster unter Gleichen, imaginiert es sich doch ans Heck eines Schiffes, also dorthin, wo sich das Ruder befindet (»moi déjà sur la poupe«6). Die angesprochenen Freunde werden als Bug (»Vous l'avant«7) eines gemeinsam genutzten (»nous naviguons«5) Schiffes
67 Original aus: Mallarmé, Gedichte, 12. Übers. v. Gerhard Goebel (ebd., 13).
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imaginiert. Dabei ist die Sprachfunktion appellativ: Ein Trinkspruch wird vom Ersten der Mannschaft zur Gruppenstärkung ausgebracht, wobei sich der Rudergänger oder Kapitän als standfest gegenüber den Widrigkeiten der umgebenden See (»flot de foudres et d'hivers«8) darstellt. Dabei ist die semantische Motivierung der Schiffsmetapher über das Bild der Sirenen, die sich (von der neuen Poesie besiegt) verkehrtherum ins Wasser stürzen, gegeben. Es handelt sich um ein Navigations-Gedicht in Anlehnung an die Odyssee und nimmt den Topos des Dichtens als Seefahrt auf.68 Und wie Odysseus seinen Männern, will dieser Text Mut machen: Mut machen zum Halten des gemeinsamen Kurses des Dichtens. Das Thema des Dichtens wiederum wird mit dem berauschenden Getränk und seinem Schaum sowie mit dem ins unruhige Meer schneidenden Schiffsbug assoziiert. Der konkrete Anlass, der Toast, und der konkrete Gegenstand, der Kelch, werden also zunächst in einen poetologischen Kontext überführt und dann als gruppenstiftendes Element eingesetzt. Dabei verliert das Konkretum des Kelchs gerade durch das Gedicht und seine ›schaumhaften‹ Verse seine Signifikanz. Seine reine Form wird mit dem schaumhaften Nichts des Verses korreliert. Dies bezeichnet die dominant performative Kommunikationsfunktion Mallermé’schen Dichtens mit seiner Betonung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, der Form gegenüber dem Inhalt und der Überführung des Konkreten, des Bezeichneten, hin zum Klang.69 Der tatsächliche »Toast«, der Appell des prosit, ist der Vers »Solitude, récif, étoile«12. Die asyndetische Dreierreihe ist ein Wahlspruch, den sich die Gruppe selber gibt:70 Die topische Einsamkeit des Dichtens, seine ebenso topische prekäre Stellung zur Umwelt und seine – in der Übersetzung
68 Vgl. Curtius, Europäische Literatur: »Der Dichter wird zum Schiffer, sein Geist oder sein Werk zum Kahn. Seefahrt ist gefährlich«, 138-141, hier: 139. 69 Es muss hier darauf verzichtet werden, dem Gedicht auch auf phonetischer Ebene nachzugehen. Wie bei Mallarmé üblich, ist dies ein überaus durchgeformter Klang-Text, wie schon die metatextuell zu verstehende Stelle »vierge vers« deutlich macht. 70 In dieser Form stellt er sich auch in die politische Tradition der »Liberté, égalité, fraternité«.
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von Manfred Goebel präzise mit »Leitstern« wiedergegebene – Orientierung an einem (evtl. fernen, unerreichbaren) Ideal. Diese knappe Interpretation soll nun ein weiteres Argument für den dominant ›orphischen‹ Charakter des Gedichts von Muñoz liefern. Hugo Friedrich schreibt über Mallarmé: »Eben indem Mallarmé nicht begrifflich verfährt, sondern das absolute Sein, das Nichts, tief den einfachsten Dingen einprägt, sie vor unseren Augen rätselhaft macht, realisiert er am Vertrauten die wesensmäßige Geheimnishaftigkeit. Darum ist das Lyrik: Gesang des Geheimnisses mit Worten und Bildern, bei deren Wahrnehmung die Seele vibriert, auch wenn sie ins Fremde geführt wird.« (Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, 73)
Dass Friedrich hier in der Logik des Verses 5 von »Homosexualidad« spricht, »una nada concreta, / como es siempre la nada«5f., liefert das gewünschte Argument: »Homosexualidad. Primera versión« ist als heterologischer Text zu verstehen, der eben jene moderne lyrikhafte Sprache dezidiert prozessualisiert, die Friedrich als die Struktur der modernen Lyrik beschrieben hat. Dieser spricht er eine (in der Diktion vorliegender Arbeit) dissensuale Reaktivität gegenüber positivistischen Kategorien zu: »Dann aber geriet die Poesie in Opposition zu einer mit ökonomischer Lebenssicherung beschäftigten Gesellschaft, wurde zur Klage über die wissenschaftliche Weltenträtselung« (ebd., 14). Den ›positiven‹ regulativen Kategorien, die bisher an Lyrik angelegt werden konnten,71 setzte die moderne Lyrik seit Baudelaire eine kognitive Widerstrebigkeit entgegen, die nicht mehr positiv – im Kontext dieser Arbeit also ›machtdiskursiv‹ oder ›positivistisch‹ – eine Sache, einen Gemütszustand, eine Realität wiedergibt, sondern in ›negativen‹ Kategorien gerade auf die Unmöglichkeit bzw. Inadäquatheit wahrer Beschreibung abzielt: Diese Diskursreaktivität bildet moderne Lyrik u.a. dadurch aus, dass sie, wie an »Salut« gezeigt werden konnte, die Ebene der Signifikanten gegenüber ihren Signifikaten aufwertet. Muñoz’ Gedicht schreibt sich in diese modernistische Tradition ein – und setzt damit dem
71 Hier sind die letzten Residuen einer Regelpoetik sowie die Konzentration auf ein festes lyrisches Subjekt gemeint, die noch in der Lyrik der Romantik ihren Platz hatten.
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mimetischen Beschreiben eine dominant performative Kommunikationsfunktion entgegen. Nicht nur mit dem expliziten (sowohl einzeltext- wie auch systemreferentiellen) Verweis auf Mallarmé, sondern auch auf Verfahrensebene schreibt es sich deutlich in die Tradition modernistischer Lyrik ein und nutzt damit prototypische lyrikhafte Merkmale modernistischer poésie pure: Es ist im Alexandriner verfasst, der das Standardmaß im französischen Modernismus war und auch in Spanien als wichtigster modernistischer Vers gelten kann.72 Die Verse 4-7 und 12-14 sind solche streng gebauten Alexandriner; die obligatorische Mittelzäsur ist in allen durch Satz- und Sinngrenzen deutlich markiert. Die Verse 1, 8, 15 und 16 sind jeweils 7-Silber, man könnte auch sagen: halbe Alexandrinerverse. Die restlichen 5 Verse sind als Elfsilber ebenfalls streng gebaut. Die Metrik verweist damit nicht nur auf die modernistische Lyrik (Alexandriner), sondern auch auf den ›dunklen‹ Text des Siglo de Oro: Luis de Góngoras wortspielerische, signifikantenorientiere, ja hermetische Soledades sind in der Silva (der Kombination von 7- und 11-Silbern) gebunden. Die vielen Anaphern und identischen Reime (dreimal »eso«1,9,16, zweimal »isla«2,17 und dreimal »alrededor«3,10,11) sowie die häufig parallele Syntax und die ähnlichen oder identischen Wiederholungen von ganzen Versen betonen weiterhin die materielle Seite des Gedichts. Die Hemistichen von Vers 14 fallen zudem durch intensive phonetische Wiederholungen auf, (1) durch den ausschließlichen Gebrauch des a (das e von »que« wird in einer Synalöphe verschliffen) und (2) durch die dreifache Alliteration: »lanza la
72 Zur Erläuterung: Der im Französischen 14-silbige Alexandriner ist in Spanien als 12-Silber übernommen worden. Er kann zwischen tatsächlich realisierten 12 bis16 Silben schwanken, da die Hemistichen sowohl an der relativ obligatorischen Mittelzäsur, wie auch am Versende agudo (›oxiton‹, eine Silbe muss dazu gezählt werden), llano (›paroxiton‹, der Normalfall, die Silbenzahl entspricht dem Grundversmaß) oder esdrújulo (proparoxiton, eine Silbe muss abgezogen werden) enden können. Vgl. Suchier, Französische Verslehre, 63-70 und Baehr, Spanische Verslehre, 2f. und 110-119.
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luz«15. Die zweimalig aufgerufene textile Isotopie, »tramada«4, ›gewirkt‹, und »franja«11 ›Saum‹, ruft außerdem eine poetologische Metaphorik auf.73 Diese vielgestaltige Profilierung der performativen Kommunikationsfunktion des Gedichts ist eben eines der ›modernistischen‹ Mittel, welches Mallarmé sozusagen als Substitut eines sprechenden Subjekts und einermimetisch-referentiellen Bedeutungskonstitution einsetzt. »Auf jene Frage Nietzsches: Wer spricht? antwortet Mallarmé und nimmt seine Antwort immer wieder auf, indem er sagt, daß das, was spricht, in seiner Einsamkeit, seiner zerbrechlichen Vibration, in seinem Nichts das Wort selbst ist – nicht die Bedeutung des Wortes, sondern sein rätselhaftes und prekäres Sein.« (Foucault, Ordnung der Dinge, 370)
Zusammen mit der forciert performativen Kommunikationsfunktion, die die »Primera Versión« aufruft, verweist das »Salut«-Zitat auf diese Ersetzung eines repräsentierend-mimetischen und emotiven Sprechens des Subjekts durch präsentierend-performative Textualität. Was das Gedicht in seinem deskriptiven Gestus der Definition von Homosexualität in Form einer Entwicklungsgeschichte eines Homosexuellen als énoncé anbietet, wird durch die Überbetonung der énonciation in den Hintergrund gerückt. Auf vielfache Weise unterläuft also die performative Kommunikationsfunktion die scheinbare mimetische Darstellung der Homosexualität. Mit dem diskursgebundenen Begriff »Homosexualidad« wer-
73 Vgl. Greber, Textile Texte. Und noch ein erstaunlicher Fund unterstreicht die Betonung des Wortmaterials: Der das Gedicht beschließende Stern19 ist nämlich in den bereits erwähnten, stark signifikantenorientierten Versen 14 und 15 ›versteckt‹. So ist nämlich ›astra‹ in »arrastra«14 enthalten. Eine zunächst etwas wackelige These. Doch im folgenden Vers wird das Versteckspiel weitergeführt. Aus »la esperas«15 wird nach der obligatorischen Synalöphierung: [’lasperas]. Damit ist ›aspera‹ enthalten. In Kombination erscheint nun möglicherweise »Per aspera ad astra« als spielerisch verschlüsselter Subtext. Es war bereits die Rede davon, dass es sich bei diesem Gedicht um die Beschreibung einer Entwicklung handelt, diese wäre hier aufgenommen, jedoch dezidiert auf der Ebene der énonciation. Das Gedicht lässt performativ erklingen, wovon es spricht.
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den zwar zunächst die positiv(istisch)en Kategorien eines logisch-wissenschaftlichen Weltenträtselungsdiskurses aufgerufen. Anstatt nun aber eine logische (im Sinne von lógico) Definition folgen zu lassen, wie es die deskriptive Argumentationsstruktur des Gedichts ja tatsächlich in Aussicht stellt, wird der Sprechgegenstand, die Homosexualität, argumentativ und poetisch verunklart und der diskursive Referent zugunsten poetischer Selbstbezüglichkeit ersetzt. Das Gedicht »Homosexualidad. Primera versión« etabliert eine subversive Diskursreaktivität, indem es eine logische Ordnung – des positivistisch-essentialistischen Sprechens über (Homo-)Sexualität – zwar aufruft, diese Ordnung jedoch zugleich forciert poetisch unterläuft und damit in ihrer Konstruiertheit – und ihrer Nichtdefinierbarkeit – ausstellt. Das faire-parler der Homosexualitätsdiskurse wird so durch den lyrikhaften Diskurs einer voz órfica unterminiert. 6.2.3 Hombres normales: »Homosexualidad. Segunda versión« Homosexualidad Segunda versión 1
Hablamos esta tarde en la terraza.
2
Los grillos repetían
3
el pulso de la noche como si nos dijeran:
4
esto es tiempo.
5
Habíamos bebido y el alcohol
6
no se había estancado, giraba dulcemente
7
como una llave sola que abre varias puertas.
8
Bordeamos el tema del amor,
9
a conciencia, sin mencionarlo nunca,
10
como a un león dormido,
11
pero atrapó los cuerpos a su modo.
12
Al amanecer, cerramos las persianas,
13
para que así la noche durara todavía.
14
Preparaba un café y pensé en lo imposible
15
como si todo entonces se hubiera detenido
16
– un pasillo vacío, una luz indagante
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17
y relieve en lo plano –
18
y en amar sólo aquello que va con lo posible.
Homosexualität Zweite Fassung 1
Am Abend redeten wir auf der Terrasse.
2
Die Grillen gaben
3
den Puls der Nacht wieder, als sagten sie uns:
4
Das ist Zeit.
5
Wir hatten getrunken und der Alkohol
6
hatte sich gesetzt, sanft drehte er sich
7
wie ein einsamer Schlüssel, der viele Türen öffnet.
8
Wir umkreisten das Thema der Liebe,
9
gewissenhaft, ohne es zu benennen,
10
wie einen schlafenden Löwen,
11
doch es packte die Körper auf seine Weise.
12
Im Morgengrauen ließen wir die Rollläden herunter,
13
damit die Nacht noch länger dauert.
14
Ich kochte Kaffee und dachte an das Unmögliche
15
als ob alles da zum Stehen gekommen wäre
16
– ein leerer Flur, ein forschendes Licht
17
und Relief im Ebenen –
18
und daran, nur das zu lieben, was im Bereich des Möglichen liegt.74
Der Modus der voz órfica in der ersten Version wird besonders im Abgleich mit »Homosexualidad. Segunda versión« offensichtlich. Schon der Sprechsituation nach ist dieses Gedicht der poesía de la experiencia nahe: Eine konkrete, alltägliche (cotidiano), fast banale Situation wird im Beschreibungsteil geschildert: Ein zu zweit im Gespräch und später betrunken ver-
74 Original aus: Muñoz, Correspondencias, 2001. Übers. v. Kurt Hahn, André Otto u. Horst Weich (Ferretti/Gómez-Montero, Dieser klingende Schatten, 47).
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brachter Abend auf einer Terrasse wird in der ersten Versgruppe rückblickend beschrieben. Eine grafisch abgeteilte zweite Versgruppe macht einen zeitlichen und örtlichen Sprung von der Terrasse in einen Innenraum und vom beschriebenen Abend zum nächsten gemeinsam verbrachten Morgen. In der dritten Versgruppe, dem wiederum grafisch abgeteilten Besprechungsteil, sinniert (»pensé«14) das lyrische Ich über die vergangene Erfahrung, muss sich die Unmöglichkeit dieser Liebe eingestehen, »lo imposible«14 und appelliert an sich selbst, zukünftig ein geeigneteres Liebesobjekt zu wählen: »amar sólo aquello que va con lo posible«18. Ein solches Gedicht nutzt das Kommunikationsmodell der nueva poesía de la experiencia »mit dem spezifischen Rollenverständnis des Dichters und des Lesers als hombres normales [normale Menschen/Männer]« (Ingenschay, »Villena, Anthologe«, 116). Oder in der hier verwendeten Begrifflichkeit: Es handelt sich um die in den Vordergrund gestellte mimetische Kommunikationsfunktion eines Erlebnis-Gedichts. Sprache und Grammatik sind wenig komplex, Alltagsgegenstände und -beschäftigungen werden referentiell aufgeführt: auf der Terrasse Sitzen, Alkohol Trinken, betrunken Werden, Rollläden Schließen und Kaffee Kochen in postkoitaler Depression. Es finden sich eine geradezu automatisierte, recht abgegriffene Metaphorik, wie der süße Rausch des Alkohols. Die Metaphern sind, wenn auch nicht ganz unkomplex, durchaus nicht abstrakt, ›dunkel‹ oder gar hermetisch wie in der ersten Fassung, sondern konkret: Eine synästhetische Korrespondenzlandschaft wird über das Grillenzirpen als Puls der Nacht etabliert, der Alkohol wird mit einem Generalschlüssel verglichen, der verschlossene Türen zu unbekannten, evtl. verbotenen Räumen öffnet, und das Umkreisen eines womöglich gefährlichen Themas wird verglichen mit der vorsichtigen Annäherung an einen schlafenden Löwen. Der Sprechgegenstand der »Zweiten Fassung« steht durchaus in einer literaturgeschichtlichen Tradition: In der zweiten Strophe wird die albaDichtung aufgerufen – in der ein Paar soeben eine (die erste, meist illegitime, aber umso mehr herbeigesehnte) Nacht miteinander verbrachte, die Morgendämmerung jedoch von der nun folgenden erzwungenen Trennung der Liebenden kündet. Der Sprechgegenstand insgesamt ist – in deutlicher
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Anlehnung an Luis Cernudas Poemas para un cuerpo75 – geradezu klassisch für homoerotische Lyrik: die erfüllte körperliche Liebe und die anschließende Klage über die Vergänglichkeit.76 Außerdem ist das Gedicht einem (wenn auch letztlich vom wirklichen Schmutz frei bleibenden) »›realismo sucio‹« zuzuordnen, mit seiner »Vorliebe für bohèmehafte nächtliche Szenen, die um Alkohol und Sex kreisen« (Weich, »›Correspondencias‹«, 327).77 Horst Weich hat sich mit »Correspondencias« aus dem 1995 erschienenen Band Manzanas amarillas einem Gedicht von Muñoz gewidmet, das ebenfalls geradezu prototypisch alle Attribute dieser Erlebnisdichtung aufweist. Weichs Befunde zu »Correspondencias« gelten so auch für die »Segunda Versión«: »Das Gedicht weist deutlich die Merkmale der poesía de la experiencia auf: ein narrativ-anekdotischer Kern wird liebesphilosophisch ausgedeutet und in Bezug zum Sprecher-Ich gesetzt. Die Sprache ist, trotz oder gerade wegen der Klischees […], grundsätzlich kolloquial, wenn auch metrisch erstaunlich sorgfältig gebunden […]. Der verslibretistischen Exuberanz der venecianos [die dekadent-klassizistische Dichter-›Generation‹ der ›Novísimos‹] und alejandrinos [der von Villena als ›neopagan‹ klassifizierten Lyrik der 80er Jahre] steht so eine ›klassische Nüchternheit‹ gegenüber.« (Weich, »›Correspondencias‹«, 329)
75 Einen kurzen Einblick in Leben und Werk im Spannungsfeld von Realität und Verlangen (so der Gesamttitel von Cernudas dichterischem Werk, Realidad y deseo), gibt Weich, Namenlose Liebe, 146-150. Muñoz selber reflektiert über diese typische Struktur bei Cernuda (Muñoz, »Transición«, 15f.). 76 Ganz im Gegensatz zum gros der literarischen heteroerotischen Liebe in Anlehnung an den Petrarkismus, wo bereits die körperliche Erfüllung versagt bleibt. 77 Die metrische Gestaltung der »Zweiten Fassung« ist dabei recht komplex; wiederum orientiert sich das Gedicht am 7-, 11- und 14-Silber, wie schon die »Erste Fassung«. Dabei klingt jedoch im Sekundärcode der Metrik weniger die performative Kommunikationsfunktion der »Ersten Fassung« nach, sondern wirkt hier (ohne die vielen weiteren Performanz-marker) eher als lyrische Untermalung der subjektiven Aussage.
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›Übersetzt‹ in die essayistische Diktion Villenas handelt es sich bei beiden, »Correspondencias« und »Homosexualidad. Segunda versión« um ein Gedicht im Modus der voz lógica.78 Der krasse Kontrast, in dem das hoch lyrische Gedicht »Homosxualidad. Primera versión« zu seiner diskursiven Überschrift steht, wiederholt sich in der »Segunda versión« nicht. Die Konventionalität der Darstellung und des Dargestellten bieten keine Ansatzpunkte für eine Lesart gegen den Strich, die Diskursreaktivität ist koalitionär. Dieses Gedicht gehorcht dem faire-parler. Hier spricht ein normalisierter Mensch – ein hombre normalisado. Es handelt von einer individuellen Erinnerung, ist subjektiv, hat nichts mit der großen Welt zu tun, sondern mit einem kleinen ›Date‹ zwischen zwei Menschen, fügt sich aber ebenso gut in den Masterdiskurs der Homosexualität ein, spricht logisch-subjektiv und führt einen populärkulturell weitverbreiteten Diskurs über die Homosexualität (Date, Sex, Einsamkeit) im Modus der lyrikhaften Selbstaussprache. Alleine betrachtet könnte man der »Segunda versión« ein konsensuales Mitwirken an den Homosexualitätsdiskursen unterstellen, betreibt sie doch ein deutliches in-den-Vordergrund-Stellen der mimetischen Kommunikationsfunktion. Erst in der Zusammenschau beider Fassungen – eben als zusammengehöriges Diptychon – werden, wie nun zu zeigen sein wird, die dissensualen diskursreaktiven Potentiale eben auch der »Segunda versión« sichtbar.
78 Tatsächlich hat Weich jedoch zeigen können, dass »Correspondencias« mehr ist als ›nur‹ Erlebnislyrik: Er macht darauf aufmerksam, wie das Gedicht promiske Textualität etabliert, die durch ihre eklektizistische Zitation hetero- und homoerotischer Diskurse das Zitieren selber ausstellt – also, in der hier gebrauchten Diktion, subversive Diskursreaktivität gegen heteronormative Diskurse etabliert – man könnte sagen, durch textuelles Cruising. Dies fasst auch Weich als Texttaktik jenseits einer banalen Maske-und-Signal-Camouflage auf. Eine solche performative Struktur findet sich in der »Segunda versión« (allein betrachtet) jedoch nicht.
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6.2.4 Die Poesie trickst Obwohl die abstrakt-philosophische (›orphische‹) Insel-Ufer-Meer-Symbolik der »Ersten Fassung« zugunsten einer konkreten (›logischen‹) Handlungssituation auf Terrasse, Schlafzimmer, Küche und Flur in der »Zweiten Fassung« eingetauscht wird, stehen beide Fassungen in engstem dialogischen Kontakt miteinander. Angefangen bei der Verszahl über die Metrik bis hin zur Gliederung in einen Beschreibungs- und einen Besprechungsteil sind die beiden Fassungen formal sehr ähnlich. Durch die explizit gemachten Vergleiche mit viermaligem »como«3,7,10,15 wird eine weitere strukturelle Ähnlichkeit zur »Primera versión« etabliert. Auch die Bildlichkeit ist eng miteinander verbunden. Die Lichtmetaphorik, die schon in der »Ersten Fassung« mit der Erfüllung körperlicher Liebe gekoppelt war, wird auch hier wieder eingeführt: Stand das Licht dort euphorisch im Zeichen der (sexuellen) Aufklärung, geht es hier dysphorisch eine Verbindung mit dem die Liebenden trennenden Tagesanbruch ein. Im Besprechungsteil markiert das durch die Rollläden in einen leeren (er ist nicht mehr da) Flur einbrechende Tageslicht die Ernüchterung;79 So wie der Traum in der »Primera versión« nur eine kurze ungeahnte Dreidimensionalität erfuhr, um schließlich doch in der Desillusionierung zu enden, sind die Licht-SchattenFlächen in der »Segunda versión« nur noch Markierungen eines – wenn auch kurzzeitig realisierten – ausgeträumten Traums.
79 Muñoz macht auf die bei ihm durch die Lektüre von Luis Cernuda angeregte Verbindung von Homoerotik und Licht aufmerksam: »die intimen Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts gleichzeitig als eine Möglichkeit und als ›das einzige Licht der Welt‹«. Orig.: »las relaciones íntimas entre personas del mismo sexo […] a la vez como una imposibilidad y como ›la única luz del mundo‹« (Muñoz, »Transición«, 14f.). Die Lichtmetaphorik Cernudas ist also ebenfalls stets antithetisch: Als höchstes Gut wird die Liebe wiederholt als geradezu metaphysisches Licht beschrieben. Dieses Gut ist jedoch tatsächlich nicht ›von dieser Welt‹. Cernuda ist ein meist abgeklärter Platoniker, der weiß, dass das Licht nie ganz zu haben ist – ebenso wenig wie die Liebe. In Cernudas Texten gibt es selten mal ein Licht ohne die bei ihm topischen nubes, ›Wolken‹, oder andere Einschränkungen und Verdunklungen.
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Was ist also das Besondere an dieser Zusammenstellung zweier Gedichte zu einem Doppelgedicht? Wie ist der Effekt zu beschreiben, der sich dadurch einstellt, dass diese beiden Modi des Sprechens gerade mal durch ein Umblättern der Buchseite voneinander getrennt sind?80 »Ich glaube, dass die Poesie an dieser Grenze, die das Logische und das Realistische von dem Irrationalen und Metaphysischen trennt – oder trennen kann –, trickst. Und ich kann daher diese zwei Grundstrukturen [voz órfica und voz lógica] nicht anders auffassen als Teile eines Dialogs, einer Spannung, die sich innerhalb des Umfangs des Gedichts, das ich gerade schreibe, ergeben. Das potentielle Gedicht muss für mich die Möglichkeit haben, von einer zur anderen Grundstruktur zu wechseln, wenn es danach strebt, uns etwas darüber zu sagen, woraus wir gemacht sind, aus welchen Mischungen von Gefühlsregungen, Konzepten und Gemütsabläufen.« (Muñoz in: Villena, Lógica de Orfeo, 93)81
So Luis Muñoz selber in Villenas Anthologie La lógica de Orfeo. Dies ist seine Antwort auf die allen dort versammelten Lyriker_innen gestellte – wenn man so sagen darf – Suggestivfrage nach ihrem Umgang mit den beiden Kategorien.82 Muñoz beantwortet sie damit, dass das Gedicht gerade an
80 Die zwei Fassungen sind nicht auf einer Doppelseite, sondern auf der Vorderund der Rückseite einer Seite abgedruckt. Sie kommen so nie gleichzeitig in Sicht. 81 Orig.: »Yo creo que la poesía trapichea en esa frontera que separa, o puede separar, lo lógico y lo realista de lo irracionalista y de lo metafísico. Y no puedo, entonces, concebir esas dos bases sino como partes de un diálogo, de una tensión, que se produce dentro del perímetro del poema que estoy escribiendo. El poema posible, cuando pretende decirnos de qué estamos hechos, de qué mezclas de sugestiones sensuales, de conceptos, de desarrollos afectivos, tiene que tener para mí la posibilidad de ir de una a otra base.« 82 »Wie könntest Du Dir in Deinem persönlichen Umgang den Zusammenschluss – die Mischung – einer Poesie mit realistischer oder logischer Grundstruktur mit einer anderen, im Zeichen des Irrationalen oder Metaphysischen stehenden Poesie als möglich und schöpferisch vorstellen?« (Villena, Lógica de Orfeo, 41) Orig.: »¿En tu uso personal, cómo ves posible y creadora la unión – la mezcla –
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der Grenze zwischen beiden entstehe, und dort diese beiden Dichtungs-, ja fast ›Denkungs‹-arten, in einen Dialog miteinander treten – und zwar im Modus des trapichear, das wohl am besten mit ›tricksen‹ wiedergegeben ist. Dieser Kolloquialismus bedeutet eigentlich (etwas despektierlich) ›Kleinhandel treiben‹, im übertragenen Sinne ›sich Pläne ausdenken, Wege zur Erreichung eines Ziel suchen, ›die nicht immer zulässig sind‹,83 noch tendenziöser evtl. auch ›ein krummes Ding drehen‹ oder eben: ›tricksen‹. Dieser listige Handel funktioniert also durch die gleichzeitige Integrierung logischer und orphischer Elemente in ein Gedicht. Etwas anders liegt die Sache nun bei den beiden »Homosexualidad«Fassungen: Die dialogische Verhandlung der beiden Modi findet zwischen zwei Texten, also in zwei dezidiert von einander geschiedenen Modi statt. Es stellt sich die Frage: Warum gibt es zwei Versionen? Die Antwort könnte darin bestehen, dass so die beiden lyrischen Sprechmodi deutlicher voneinander getrennt werden; unter Nutzung einer weiteren Theorieperspektive lässt sich der Effekt, der dadurch gezeitigt wird, folgendermaßen genauer beschreiben: Die feste Subjektposition der »Zweiten Fassung« kann nämlich im Rahmen eines »strategic essentialism« (Spivak, »More on Power«, 159) aufgefasst werden. Dabei handelt es sich um die politisch motivierte Setzung einer Identität – im Bewusstsein der eigentlichen Konstruiertheit dieser Setzung. Im Rahmen einer »Politik der Anerkennung« (Bedorf, »Orte der Anerkennung«, 79) verschafft sich eine Sprecherposition so eine verortbare Stimme, einen Raum des Eigenen, aus dem heraus gesprochen werden kann. »Gayatri Spivak erfindet diesen Begriff [des strategischen Essentialismus], um angesichts des imaginären Wesens der Nation, den verworfenen substantialistischen Definitionen von Kulturen, Minderheiten und Geschlechtern, die allesamt ›dekonstruiert‹ worden sind, noch davon Rechenschaft ablegen zu können, was es heißen soll, der kolonial unterdrückte ›Andere‹ ›spreche‹.« (Ebd., 78)
de una poesía de base realista o lógica, con otra de signo irracionalista o metafísico?«. 83 Orig.: »Comerciar al menudeo«, trapichear von trapiche, ›Zuckermühle‹. »Ingeniarse, buscar trazas, no siempre lícitas, para el logro de algún objeto.« (DRAE).
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Was Spivak zentral für den multidiskursiven postkolonialen Bereich ausgearbeitet hat, lässt sich nun folgendermaßen auf Genderdiskurse übertragen: Den diskursanalytisch und dekonstruktiv geprägten Gender Studies wurde nicht selten abstrakter Akademismus vorgeworfen, denn, so die Kritiker, es müsse doch (zumindest auch) um die konkrete Anwendung der wissenschaftlichen Befunde gehen. Wie sollte verhandelt werden, ohne Position zu beziehen? Dabei hat die Selbstpositionierung natürlich die vorübergehende Akzeptanz der Herrschaftsdiskurse zur Folge und eine Selbsteinschreibung in eine Gruppe – also sozusagen eine Selbstkolonialisierung. Eine solche Struktur nutzt die »Zweite Fassung«: Hier spricht das vom Sexualdispositiv kolonialisierte Subjekt, spricht sich selber aus, steuert dem Sexualdispositiv einen weiteren Homosexualitätsdiskurs bei, einen Diskurs der lyrikhaften Selbstaussprache zwischen hombres normales.84 Dass es sich hier jedoch tatsächlich um eine Setzung von Authentizität handelt, wird erst über die Verbindung zur »Ersten Fassung« deutlich. Denn wenn nun ›Homosexualität‹ jeweiliger Titel der Gedichte und ihr gemeinsamer Sprechgegenstand ist, dann ist die doppelte Sprechposition über diesen Gegenstand eine relative und auch aus dem Ich der »Zweiten Fassung« wird in der Zusammenschau mit der »Ersten Fassung« ein inszeniertes. Homosexuelle Selbstaussprache funktioniert hier als kalkulierendes Kalkül. Beide Gedichte bilden zusammen also nicht zwei positiv(istisch)e Füllungen der Oberkategorie, sondern sind vielmehr Sub-Versionen. Die Oberkategorie ›Homosexualität‹ mit ihrem wissenschaftlich-logischen Sprechmodus wird in diesem Trialog ihrerseits nur zu einer weiteren Version85 des Sprechens über Homoerotik. Im Diptychon miteinander ver-
84 Dies ist mit einem Outing verbunden. Zu dieser, eine homosexuelle Identität erst begründenden, Selbstaussprache und ihrer prekären Struktur für das Subjekt vgl. Sedgwick: Epistemology of the Closet. Es darf nicht vergessen werden, dass die Aufnahme zweier solcher Gedichte in einen Gedichtband für den Autor selbst eine solche Selbstsetzung bedeutet. Zur biografischen Anbindung vgl. Weich, »›Correspondencias‹«, 340, Endnote 62. 85 Von lat. vertere, ›oft drehen, hin und her wenden, herumwälzen, umkehren‹ und auch ›auslegen, deuten [verba]‹. Die Untertitel bekommen in der zweiten Bedeutung des Auslegens und Deutens von Worten durchaus auch eine metapoetische Konnotation: versión/verso – ›Version/Vers‹.
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schränkt, verliert ebenso das vermeintlich ›feste‹ Subjekt der »Zweiten Fassung« seine essentielle Positionalität, wie auch das transzendentale Subjekt der essentialistischen Kategorie ›Homosexualität‹. In den Kategorien vorliegender Arbeit ausgedrückt nutzen die beiden Gedichte eine überaus komplexe Struktur zwischen selbstreferentiell-performativer und fremdreferentiell-mimetischer Kommunikationsfunktion. Sie betten sich in (geschlechts-)diskursive Sinnstrukturen (i.e. die thematische Homosexualität) ein und scheinen dem faire-parler zu gehorchen, lagern sich aber ebenso auch wieder aus – und vollziehen damit genau jene Bewegung, die einen contre-discours ausmachen. So reden sie dem Sexualitätsdispositiv nicht das Wort, sondern nutzen verschiedene lyrikhafte Modi zum subvertierenden Sprechen. Wie ließe sich diese Verhandlung der Stimmen genauerhin beschreiben? Sicherlich sind die Grundlagen einer Dialogizität im Bachtin’schen Sinne gegeben, welche den Text demokratisch öffnen und verschiedenste Stimmen in einer Polyphonie zu Gehör bringen (Bachtin, Ästhetik des Wortes), wobei gezeigt werden konnte, dass es letztlich nicht um eine dissidente Positionierung eines schwachen Subjekts handelt, wie in Kapitel 5 gezeigt. Vielmehr scheint das Vexieren von mimetischer und performativer Kommunikationsfunktion in der Zusammenschau beider Gedichte letztlich zugunsten der performativen, auf ihre eigene Gemachtheit hinweisende, Seite auszufallen. Alle drei Subjektpositionen, die ›orphische‹ in der ersten, die ›logische‹ in der zweiten sowie die Subjektposition des Homosexualitätsdiskurses erscheinen somit in ihrer Konstruiertheit, die Repräsentation von (sexueller) Wahrheit wird subvertiert. Wie eingangs erklärt, steht das Anthologie-Projekt Villenas im Zeichen der Freiheitsauslotung durch Lyrik. Daher mag auch seine Einteilung nach voces, ›Stimmen‹, im Gedicht herrühren – und hinter einer Stimme, so scheint es auch bei Villena angelegt zu sein, mag immer auch ein sprechendes Subjekt stehen. Durch die Zusammensetzung verschiedenster Stimmen im Diptychon leistet Muñoz einen Beitrag zu dieser bereits zitierten »Reflexion auf die Möglichkeit von Dichtung unter Bedingungen der Erfahrung von Freiheit« (Ingenschay, »Villena, Anthologe«, 119). Eine Reflexion über die Freiheit des Dichtens, aber auch des Denkens nach dem Ende der Zensur, in der Machtstrukturen noch offen(er) zu Tage lagen.
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Die Freiheit zu haben, über etwas sprechen zu dürfen, kann nämlich auch – und dies zeigt die gesamte Geschichte des Sprechens über Homosexualität – eine Scheinfreiheit sein, die Machtdiskurse gerade erst bestärkt. Die Selbstaussprache des Homosexuellen ist eine solche Scheinfreiheit, die tatsächlich eine subjektivierende/unterwerfende Beichtpraxis unter dem Regime des faire-parler ist. Die hohe Komplexität der zweifachen lyrikhaften Gegenrede, die Muñoz in diesem Doppelgedicht nutzt, um die Herrschaftsdiskurse über die Homosexualität nicht einfach zu perpetuieren (ihnen also nicht koalitionär das Wort zu reden), ist ein Indiz für die Schwierigkeit eines Sprechens als dissensualer contre-discours. Wenn Muñoz’ Lyrik hier so überaus verwoben trickst, dann deshalb, weil die Ideologien gleichzeitig unsichtbarer und subtiler geworden sind und es einiges an (z.B. lyrikhafter) Arbeit bedarf, um ihnen dissidente oder subversive diskursreaktive Kraft entgegen zu setzen.
7. Ausblick: Diskursreaktivität in der Fotografie
Eine Kategorisierung, wie sie in dieser Arbeit versucht wurde, kann sich besonders dann als produktiv erweisen, wenn sie von dem Bereich, in dem sie entwickelt wurde, auf andere Objektbereiche übertragen werden kann und auch dort zu produktiven Lesarten führt. Durch die Wahl eines äußerst heterogenen Korpus konnte gezeigt werden, dass das Leseraster der Diskursreaktivität in homoerotischer Lyrik zumindest in Zeiten relativ fest etablierter Diskurse über die Homosexualität auch in unterschiedlichen historischen und kulturellen Bedingungen fruchtbar gemacht werden konnte. Abschließend soll beobachtet werden, was passiert, wenn die Versuchsanordnung an einer zentralen Funktionsstelle modifiziert wird: Dazu wird im Folgenden ein medialer Wechsel vorgenommen. Statt ›Lyrik‹ und ›Lyrikhaftigkeit‹ werden nun Fotografien und ›Fotografizität‹ betrachtet. Wie verhalten sich die (Akt-)Fotografien Wilhelm von Gloedens, die in den Jahrzehnten um 1900 in Taormina auf Sizilien entstanden sind, gegenüber den Diskursen über die Homosexualität und zu welchen diskursreaktiven Zwecken nutzen sie die seinerzeit aktuelle Prototypik der Fotografie?
7.1 S IZILIANISCHE
RAGAZZI IN ANTIKEN
S ANDALEN
Es muss hier genügen, einen nur kurzen Blick auf einige paradigmatische Fotografien zu werfen, die Jünglinge mit arkadischem Dekor in Szene setzen. Die erste Fotografie (Abbildung 14) hat durch ihre Inszenierung eine durchaus komplexe Geschichte zu erzählen.
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Abb. 14: Wilhelm von Gloeden, »Sizilianischer Jüngling«, ca. 1900. Abb. 15: ders., »Faun«, ca. 1900. Abb. 16: ders., ohne Titel, ca. 1890-1900. Abb. 17: ders., ohne Titel, ohne Jahr.
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Der Jüngling hält die Amphore aber nicht nur, um darin (die auch ansonsten bei Gloeden typischen) Blumen- und Blumenbouquets zu präsentieren1 und eine diffuse Antikizität aufzurufen. Die Halsamphore zeigt bezeichnenderweise eine dionysische Fest- oder Umzugsszene: Um den Gott herum tanzen auf diesen gewöhnlich Satyren und Mänaden. Auf dieser Amphore ist Dionysos in der Mitte zu erkennen, umgeben von zwei Figuren. Es dürfte sich um eine der am häufigsten dargestellten Dreiergruppen handeln: Dionysos mit Hephaistos und Silen. Letzterer ist mit Tier-Schweif, erigiertem Phallus und der dionysischen Doppelflöte Aulos dargestellt. Hephaistos ist auf den Vasenmalereien durch einen veränderbaren Fundus an typischen Kennzeichen dargestellt: »durch den halblangen Reitermantel, das kurze Haar, die Attribute, Doppelhammer und Zange, seltener auch einmal durch seine Kopfbedeckung, den Pilos, oder durch seine Jugendlichkeit.« (Schöne, Thiasos, 32). Auf der Amphore ist es der halblange Mantel und der Pilos, die ihn bestimmen.2 Die Geschichte von Hephaistos und seiner Beziehung zu Dionysos ist bekannt: Er ist der einzige der Götter, der, nachdem er vom Olymp verbannt wurde, wieder ins Pantheon aufgenommen werden sollte. Er weigerte sich jedoch – nur mit einer List des Dionysos war es möglich, ihn zurückzubefördern: Er machte den Jungen betrunken und brachte ihn auf einem Maultier zurück. In der »Massenproduktion« der Vasenmalerei, gegen Ende des 6. Jh. v. Chr., gelangten unzählige Vasen, be-
1
An dieser Stelle sei angemerkt, dass Gloeden häufig nicht nur auf arkadische Motive zurückgreift, sondern, wie auch im folgenden Abschnitt besprochen, berühmte Gemälde nachstellt, so z.B. mit dem »Sizilianischen Jüngling«, den berühmten »Knaben mit Fruchtkorb« von Caravaggio. Dabei wird gerade bei dieser Fotografie deutlich, dass sich Gloeden durchaus der Möglichkeiten der künstlerischen Überarbeitung mit dem Medium Fotografie bewusst war, diese aber dezidiert nicht immer einsetzte.
2
Wenn auch auf allen mir zugänglichen Abdrucken dieser Fotografie keine dabei ist, die in ihrer Auflösung gut genug wäre, die Figur genau zu erkennen, so ist dennoch sicher, dass diese jüngere männliche Figur keinen Schweif trägt und damit keine andere Figur der dionysischen Truppe sein kann. Es bleibt die Möglichkeit, dass es um eine ikonografisch schlecht gemachte Nachbildung handelt, die sich nicht an die Vorlagen hielt. Dies ist bei einem in der Kunstgeschichte gebildeten Fotografen, wie es von Gloeden war, jedoch unwahrscheinlich.
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malt mit dieser Dreiergruppe in verschiedensten Anordnungen, als Exportgut in das ganze Mediterraneum. (Ebd., 30f.) In der großen Mehrzahl zeigen die dionysischen Vasenmalereien nur zwischengeschlechtliche Konstellationen: Die Satyrn stellen den meist nicht weniger willigen Mänaden nach und erlangen das begehrte Objekt, wobei die explizite Darstellung von Sexualität zur Ikonografie gehört. Gloedens Wahl einer Amphore mit gerade dieser Dreiergruppe ist daher signifikant. Damit wird nämlich nicht nur über den Satyr Sexualität, Körperlichkeit und Rausch aufgerufen, sondern auch – und das ist eben nur in der Kombination mit Hephaistos topisch – eine potentielle mann-männliche Erotik, zudem noch zwischen älterem und jüngeren Gott. Auch auf vielen weiteren Fotografien hat Gloeden seine Modelle mit den Kennzeichen des Dionysoskults (Thyrsos-Stab, Wein, Flöte, Tamburine, Satyrn, Raubtierfelle) inszeniert. Eines seiner häufig verwendeten und gleichzeitig berühmtesten Motive ist der »Faun«, wie z.B. in Abbildung 15. Die Haare des Modells wurden so frisiert, dass sie als die Hörner des Hirtengottes figurieren. Die Augenbrauen sind zudem manipuliert und erwecken so den unmenschlichen Eindruck eines Waldgeistes. Mit dem Fell um die Schultern wird sogar auf seine Mischkonstitution aus halb Ziege, halb Mensch angespielt – auf einer anderen Fotografie ist derselbe Junge sogar mit Ziegenfell um die Beine dargestellt als Andeutung des tierischen Unterkörpers des Faun. Wie die Dionysoskult-Darstellungen ist auch der Faun mit Sexualität, aber auch mit Fruchtbarkeit und Natürlichkeit verbunden. Er hat jedoch zudem, wie man es auch im Gesichtsausdruck auf dieser Fotografie sieht, eine seiner tierischen Triebhaftigkeit geschuldete bedrohliche Seite. Gloeden reiht sich mit seiner Darstellung in eine lange Tradition der mehr faszinierten als negativen Darstellung des Fauns ein. Mann-männliche Konstellationen, hier besonders häufig auch mit einer Betonung lasziver Haltungen, oder durch begehrende Blicke, werden auch in Gruppenbildern eingefangen. Die entstehende Erotik wird häufig, wie in Abbildung 18, in den Rahmen von Symposien, also Trink- und Diskussionsgelagen gerückt. Accessoires wie Felle, Teppiche, Diwane, Trinkschalen und Amphoren schmücken diese Fotografien und rücken sie so auch in die Nähe (spät-)römischer Dekadenz. Die Jungen werden oft in verschiedenen Posen dargestellt. Stehend, sitzend und liegend werden sie von allen Seiten abgelichtet – vielleicht in Anlehnung an die charakterlich wie rheto-
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Abb. 18: Wilhelm von Gloeden, ohne Titel, ca 1900.
risch und lebensanschaulich unterschiedenen und gegeneinander antretenden Symposien-Teilnehmer in der antiken Literatur. Abbildung 16 zeigt einen weiteren Topos, den Gloeden, neben demjenigen des stark körperlich-rauschhaften, einsetzt, um die Bilder von Knaben und Jungen antik zu auratisieren: Die Knabenliebe des amor didacticus zwischen weisem Alten und jungem Schüler. In ihren wallenden weißen Togen, mit wolligem Haar und langen Bärten sind die Männer den antiken Darstellungen von Philosophen ähnlich. Die Blicke zwischen majestätischem und fürsorgendem Alten und schutzbedürftigem und bewunderndem Knaben betonen jeweils die Hierarchie. Die stets körperliche Nähe zwischen beiden stellt ein Begehren dar, das von der bürgerlichen Vater-SohnBeziehung deutlich unterschieden ist. Viele Fotografien deuten die antike Inszenierung aber auch nur an, wie in Abbildung 17. Hier ist es gerade einmal das (bei Gloeden für antike Darstellungen typische) metallene Haarband, (evtl. der Teppich als hochkulturelles Accessoire) und die antikisierenden Ledersandalen, die den ansonsten in durchaus ärmlicher Umgebung sitzenden Jüngling mit einer arkadischen Aura umgeben. Gloedens antikisierende Inszenierungen scheinen nicht zu reichen, um die nackten Jungenkörper zu ›künstlerisch wertvollen‹ Akten zu machen.
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Schon zur Zeit der Aufnahmen war die künstlerische Qualität von Gloedens Akt-Fotografien höchst umstritten und sein Werk wird auch heute noch häufig nicht als Kunst, sondern als homosexuelle und/oder päderastische Pornografie betrachtet. Die kritisch-distanzierte Haltung gegenüber seinen Werken damals wie heute hängt sicherlich mit dem weiterhin bestehenden Tabu der Pädophilie zusammen.3 Auch alle mir zugänglichen Bildbände zu Gloedens Aktfotografien4 beginnen mit einigen ›unverdächtigen‹ Landschafts- und Alltagsfotos. Alle Bände erzählen die Geschichte von einem im (auch erotisch) kalten bürgerlichen Deutschland krank gewordenen jungen Mann mit großer künstlerischer Begabung, der Sizilien als letzten Hort der klassischen griechischen Mensch- und Männlichkeit fand – einen Ort, an dem Sexualität noch ganz an Natürlichkeit gebunden ist. Diese Erzählung kennen wir spätestens seit Goethes Italienischer Reise und dann aufgeladen mit Homoerotik von August Graf von Platen.5 Die scheinbar bis heute nicht allein für sich publizierbaren Akte werden also nach wie vor historisch, künstlerisch und psychologisch begründet und entschuldigt, indem sie in das bekannte Narrativ eingelegt werden. Den ›tatsächlichen‹ Hinter- und Beweggründen für die Eigenarten der Fotografien Gloedens soll hier allerdings nicht nachgegangen werden. Ob sie einer ›Produktivität des Geheimnisses und des Verbotenen‹6 geschuldet sind, ob Gloeden (als ausgebildeter Maler) seine Fähigkeiten als Inszenator von Fotografien überschätzte, ob er naiv aus einer innerlichen Wahrheit ge-
3
Genau diese ›Lesart‹ scheint der Stadtrat der Gemeinde Memmingen gewählt zu haben: Sie sahen in den beiden nackten Jungen auf dem hausgroßen Plakat zur Ausstellung »›Auch ich in Arkadien‹« von 2007 doch nichts weiter als einen (schlechten, pornografischen) Versuch der Camouflage devianter Sexualität und weißelten die beiden abgebildeten Jungen: Die entstehenden Leerstellen jedoch dürften als wunderbare Werbekampagne für die Ausstellung gewirkt haben.
4
Eine kommentierte Bibliografie unter: http://www.giovannidallorto.com/ gloeden
5
Robert Aldrich ist diesem Narrativ als Topos nachgegangen in The Seduction of
/gloeden1.html. the Mediterranean. Writing, art and homosexual fantasy. 6
Im Sinne Deterings, Offenes Geheimnis, vgl. Kapitel 4.
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schöpft hat,7 oder vielleicht sogar die Reibungsstruktur zwischen Fotografie und Auratisierung bewusst eingesetzt hat, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Die Bedingungen und Ursachen für die spezifische Beschaffenheit der Fotografien sollen also nicht weiter ergründet werden, sondern die Gründe für ihre ganz spezielle Wirkung auf den/die Betrachter. Nackte Jünglinge sind in der Kunstgeschichte keine Seltenheit: Mit wenigen Ausnahmen (wie z.B. bei Caravaggio) waren sie jedoch kaum Anlass für derart heftige Auseinandersetzungen, wie sie um Gloedens Fotografien entstanden. Die unterschiedlichen Bewertungen seines Werkes, einmal als Kunstwerk der frühen Aktfotografie, und einmal als Handwerk und individueller Selbstausdruck eines im Sexualitätsdispositiv fotografische Aussagen fabrizierenden Subjekts führt zu der Frage, in welchem diskursreaktiven Verhältnis Gloedens Werk zu den Diskursen der Homosexualität steht. Die Antwort wird zentral auch mit dem Medium Gloedens, der Fotografie, zusammenhängen.
7.2 »E IN A BENTEUER DES S INNS «: W ILHELM VON G LOEDENS F OTOGRAFIEN Zunächst muss dazu wiederum schlaglichtartig eine Prototypik der Fotografie zur Grundlage genommen werden.8 Dasjenige prototypische Merkmal, dessen sich die nachfolgenden Fotografien bedienen, ist die Vorstellung von Fotografie als Medium realistischer und objektiver Wirklichkeitsdarstellung bzw. -reproduktion. »Verglichen mit der Kunst erscheint uns die Fotografie, z.B. ungenügend, ja mangelhaft, da sie nur das rohe Abbild der Realität und nicht das Bild des Wahren geben kann.« So der Maler und bedeutende Kunstkritiker Henri Delaborde 1856 (»Fotografie und Kupferstich«, 129). Für die geradezu ontologische Differenz der Produktionsbedingungen von Kunst und Fo-
7
Dies behauptet erstaunlicherweise Roland Barthes, siehe die weiteren Ausführungen.
8
Auch hier gilt wieder, wie schon im 2. Kapitel zur Prototypik der Lyrik, dass es auch andere mögliche, auch diesen hier widersprechende Vorstellungen von Fotografie gibt, vgl. den Plural im Titel des Sammelbandes Theorien der Fotografie.
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tografie bemüht er die altbewährte Unterscheidung zwischen Gefühl und Geist sowie Oberfläche und Tiefe auf der einen und Körper und Technik auf der anderen Seite, freilich mit der althergebrachten Hierarchisierung: »Wie auch immer das Verfahren ausfällt, das der Fotograf anwendet, ob er Spiegelglas, Papier oder Metallplatten benutzt, alle diese materiell verschiedenen Verfahren arbeiten von selbst und unabhängig vom Willen des Operateurs. Es ist in diesem Verfahren Platz für seine wissenschaftlichen Fähigkeiten, für die Umsicht, mit der er die Chemikalien wählt. Es ist kein Platz da für sein künstlerisches Gefühl, denn es ist ihm nicht gegeben, das Erscheinungsbild seiner Modelle zu interpretieren und zu modifizieren. Alles geschieht neben ihm und außerhalb von ihm in einer rein mechanischen Sphäre, mit einer gewissen Genauigkeit, die ganz geistlos ist.« (Ebd., 130)9
In einem Überblick über die ersten ca. 100 Jahre der Theoriebildungen über die Fotografie meint auch Wolfang Kemp: »Der Legitimationsdruck auf die Fotografie, der gerade über den Vorwurf der zu hohen Detailgenauigkeit ausgeübt wurde, war ungeheuer groß, fast vernichtend.« (Kemp, »Fotografie als Kunst«, 17) Dies hängt damit zusammen – ein weiterer prototypischer Faktor –, dass die Fotografie zu Zeiten Gloedens immer noch eine hierarchisch untergeordnete Stellung besonders zur Malerei einnahm. Mit der Verbreitung der stereoskopischen Fotografie wird der Vormarsch der, bald auch in jeder beliebigen Menge zu kleinem Preis zu habenden, (Akt-)Fotografie nicht mehr zu stoppen sein. Die »Reproduzierbarkeit des Kunstwerks« macht die Fotografie gegenüber der Malerei zur nicht-elitären
9
Doch gerade für Gloedens Schaffenszeit kann gelten, dass die Diskussionen um das immer noch relativ neue Medium von starker Polemik geprägt war; so zeigt z.B. die Anthologie Theorie der Fotografie ganz besonders nur eines: Nämlich, dass es die eine Theorie nicht gab, sondern sich die unterschiedlichsten Standpunkte noch aneinander abarbeiteten. Für eine Prototypik der Fotografie ist eine solche Phase ein überaus schwierig zu bewertendes Feld (wie es ja übrigens die extreme Diversität der Formen innerhalb der ›modernen Lyrik‹ im 2. Kapitel ebenfalls war). So wird es auch hier zentral sein, nach denjenigen Merkmalen der Prototypik von Fotografie zu fahnden, die in die jeweiligen Werke Eingang gefunden haben. Bei Gloeden ist es eben die ›Realismus‹- oder ›Mimetismus‹Theorie der Fotografie.
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Postkarten-Kunst, ein Massenprodukt mit schneller Verbreitungsfähigkeit, eben kein singuläres, ›auratisiertes‹ Kunst-Produkt, wie es Zeichnung, Gemälde und Skulptur sind (Benjamin, Kunstwerk, 13). Diese ungeschönt-objektive Darstellung der Realität in der Fotografie wird dann zum Geschmacks- und Moralproblem, wenn Fotografie und Aktdarstellung zusammentreffen: Waren ausgehend von den griechischen Darstellungen nackter Körper die Aktmalerei und -bildhauerei mit ihrer sublimierenden Kunsthaftigkeit in fast der gesamten westlichen Kunstgeschichte gedeckt,10 so gilt dies nicht für die Akt-Fotografie. Der fotografische Akt ist wegen seiner Realitätsnähe immer schon pornografisch, obszön. Der fotografierte nackte Körper ist so kein ›Akt‹, sondern nur dies: Ein Körper und nackt. Vor allem die Diskussion über die Darstellung des menschlichen (nicht nur des männlichen) Körpers wurde intensiv geführt. Aus der reinen Handwerkertätigkeit des Fotografen »rührt der negative Ausdruck, die träge Erscheinung ihrer Bilder nach dem Leben, von daher kommen diese Porträts ohne Charakter und diese traurigen Bilder des menschlichen Körpers, […] ähnliche Bilder, wenn man will, aber von einer erstarrten Ähnlichkeit, vulgäre und tote Bilder, tauglich höchstens für Auskünfte über den Buchstaben der Natur.« (Delaborde, »Fotografie und Kupferstich«, 130)
Was für die Medizin und Ethnografie jener Zeit zu zentraler Bedeutung gelangte, den Körper exakt auch mithilfe des Mediums Fotografie zu sezieren, zu beschreiben und zu kategorisieren, muss auf Kosten der Seele, der Lebendigkeit der Objekte geschehen. In dieser Polemik sind noch Ausläufer der christlichen Tradition des heiligen menschlichen Körpers zu beobachten, die, gemünzt auf eine auf Transzendenz ausgerichtete Vorstellung von Kunst, nun erneut virulent wird. Aktdarstellungen bedurften also in der Fotografie umso mehr »der Legitimation durch einen Kunstzusammenhang […]. Im Falle des männlichen Aktes, der in der Kunst der vorhergehenden Jahrhunderte do-minierte, wurde dies in
10 Man denke an die Ignudi Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle – auch am Ort der Religion waren so über die klassische männliche Schönheit zumindest in der rational-humanistischen Renaissance Nacktdarstellungen möglich.
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weit stärkerem Maße wichtig, da er innerhalb der traditionellen künstlerischen Medien Zeichnung, Malerei und Skulptur immer symbolischer Träger und Personifikation idealer Tugenden war. Diese Absicherung durch einen Kunstkontext, der Rückbezug auf eine klassische Ikonographie, die den Körper sozusagen entsexualiserte, wurde für die männliche Aktdarstellung in der Fotografie bis tief in das zwanzigste Jahrhundert hinein notwendig.« (Weiermair, Verborgenes Bild, 11)
Verliert der nackte Körper seine künstlerische Aura des Akts, wird er ethnografisch – oder eben pornografisch.11 Roland Barthes – auf dessen kurzen Überlegungen zu den Fotografien Gloedens die folgende Argumentation basiert – betont eben diese ›Definition‹ der Fotografie. »[G]ilt doch die Fotografie letztlich als exakte, empirische Kunst, die gänzlich im Dienst der Authentizität, der Realität und der Objektivität, jener positiven, rationalen Werte steht: Ist die Fotografie in unserem Polizeistaat nicht ein unwiderlegbares Beweismittel für Identitäten, Fakten, Verbrechen?« (Barthes, »Wilhelm von Gloeden«, 204f.) Die Fotografie als Mittel des Polizeistaates zu bestimmen, ist zwar ein durchaus polemisches und radikales Beispiel für den mimetischen Gebrauch des Mediums. Es verdeutlicht jedoch eben diese Tradition der Auffassung von Fotografie. Barthes gibt ja auch ›nur‹ eine Vorstellung von Fotografie wieder, als was sie »gilt«. In dem Ausdruck »exakte, empirische Kunst« ist außerdem die contradictio in adiecto aufschlussreich. Als Kunstgriff hat sie zwei Aufgaben: Zum einen distanziert sich Barthes damit implizit von dieser klaren Definition und bringt ihre nur relative Wahrheit zum Ausdruck. Dabei geht Barthes hinter die Basis der Kunsthaftigkeit seiner Objekte nicht zurück,12 sondern führt die Unterscheidung zwischen ›exakt‹ und
11 Tatsächlich geht das Medium des fotografischen Bildes eine enge Verbindung mit den ›harten‹ Wissenschaften vom Menschen, besonders mit der Ethnografie ein: Die »Partialisierung« (Sigusch, Neosexualitäten, 96) auch noch des kleinsten Details zur vollständigeren Beschreibung des (menschlichen) Objekts, welche die positivistischen Wissenschaften mit ihrem Spezifizierungs- und Kategorisierungswahn auszeichnet, findet mit dem Foto ihr adäquates Werkzeug. 12 Also entlarvt Barthes hier implizit auch die vermeintlich empirische Foto-Arbeit des Polizeistaates als tatsächlich künstlerisch, subjektiv eingestellte. Damit par-
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›abstrakt‹, ›empirisch‹ und ›künstlerisch‹ wieder in das bereits Unterschiedene ein. Barthes betrachtet Objekte aus dem Bereich der Kunst – aus pragmatischer Sicht, d.h. aus dem co- und kontextuellen Zusammenhang, in dem die Fotografien stehen – in Museen, zusammen mit anderen Fotografien, in Bildbänden (über einen Künstler) etc.; Qualifikationen wie ›exakt‹ und ›empirisch‹ bezeichnen daher nur pragmasemiotisch die Kommunikationsfunktion eines bereits als nicht-exakt und nicht-empirisch eingeordneten Kunstwerks. Auch dann, wenn ein Text (hier, freilich, eine Fotografie) als Kunstwerk klassifiziert wird, kann er (sie) auch als Kunst ›mimetisch‹ und/oder ›performativ‹ kommunizieren – Fotografie kommuniziert mithin, so Barthes, mimetisch. Barthes betrachtet nun auf inhaltlicher Ebene die Inkongruenzen der Fotografie von Gloedens, welche genau auf dieser Akt/nackter Körper-Dichotomie beruht, und bezeichnet diese als ›Kitsch‹: »Der Kitsch setzt die Anerkennung eines hohen ästhetischen Werts voraus, fügt aber hinzu, daß der Geschmack schlecht sein kann und aus dem Widerspruch zwischen beiden ein faszinierendes Monster hervorschlüpft. Das ist bei Gloeden durchaus der Fall: Es interessiert, es fesselt, es zerstreut, es verblüfft, und man spürt, daß das ganze Vergnügen wie bei jedem Feste, das dem Karneval ähnelt, einer Anhäufung von Gegensätzen entspringt.« (Ebd., 204)
Der »hohe ästhetische Wert« seiner Bilder ist den verwendeten Topoi der Inszenierung geschuldet: Vor allem das griechische Altertum dient zur Auratisierung des Dargestellten. Doch Barthes macht auf eine gegenstrebige Ebene aufmerksam – die »Verzerrung« dieser Topoi:
tizipiert er an einem postmodernen Grundgedanken über die Fotografie und den (Dokumentar-)Film, wie ihn auch Derrida verfolgt: »Es ist bekannt, dass die Techniken der unmittelbaren Wiedergabe von Worten und Bildern im selben Maß, in dem sie sich entwickeln, zugleich auch interpretieren, selektieren, filtern und infolgedessen das Ereignis machen, anstatt es bloß abzubilden.« (Derrida, Unmögliche Möglichkeit, 22) Die hier verfolgte Argumentation ist jedoch darauf angelegt, die Prototypik der Fotografie zu Gloedens Zeit herauszustellen, in der dieser performative Ansatz nicht von Relevanz ist.
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»Von Gloeden nimmt den Code der Antike, überlädt ihn, stellt ihn plump zur Schau (Epheben, Hirten, Efeu, Palmen, Olivenbäume, Weinranken, Tuniken, Säulen, Stelen), aber (erste Verzerrung) er vermengt die Zeichen der Antike, kombiniert die Pflanzenwelt Griechenlands, die römische Bildhauerkunst und den ›antiken Akt‹ aus den Kunstakademien: Er nimmt, scheinbar ohne jegliche Ironie, die abgedroschenste Legende für bare Münze. Das ist noch nicht alles:13 Die in dieser Weise dargestellte Antike (und die daraus postulierte Knabenliebe) bevölkert er mit afrikanischen Körpern.« (Ebd.)
Statt nämlich künstlerisch zu überformen – denn auch dazu wäre das Medium Fotografie geeignet gewesen – präsentiert Gloeden diese Körper »anatomisch«, nicht »sublim« (ebd., 205). Er bedient sich einer zu seiner Zeit schon recht überholten Technik, spielt kaum mit Belichtung oder Schattenwurf, nie mit Unschärfen, nutzt kaum Vorder- und Hintergrundwirkungen aus. In der Nachproduktion hält er sich fast immer zurück, koloriert nicht, wendet auch kaum verschiedene Entwicklungsmethoden an. Er bedient sich des Mediums also dezidiert ›nicht-künstlerisch‹, waren doch auch schon Fotografien möglich, »die sich durch künstlerische Unschärfe, also durch summarische, weiche Behandlung der Details auszeichneten« (Kemp, »Fotografie als Kunst«, 17).14 Durch die ›ungeschönte‹ Darstellung der realen – und eher selten griechischen Jünglingsstatuen ähnlichen – Jungen entstehen geradezu ethnogra-
13 Nun folgt die ›zweite Verzerrung‹. 14 Es finden sich durchaus Werke Gloedens, die sich durch einen ›künstlerischen‹ Umgang mit dem Medium auszeichnen, durch Nachbearbeitung oder auffälliges Spiel mit Licht und Schatten. Im Umkehrschluss lässt sich argumentieren, hat er bei vielen seiner Bilder eben dezidiert diese künstlerische Überformung nicht gewählt. So scheint Gloeden folgende Vorstellung von der ›Aufgabe‹ auch des künstlerischen Fotos gehabt zu haben: »Es ist nicht Aufgabe der Fotografen, unscharfe Flecken zu produzieren. […] Wenn man nur Helldunkelstudien wünscht, dann möge man sie mit Farbe oder Kohle und mit einem Scheuerlappen, wenn nötig – ausführen, aber die Fotografie ist vor allem die Kunst der Scharfzeichnung […], und wenn eine Kunst von ihrer Funktion abweicht, dann ist sie verloren.« (H.P. Robinson, Pictorial Effect in Photography, London 1869, 144f., zitiert nach Kemp, »Fotografie als Kunst«, 17).
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fisch-realistische Körper, »ein ›Hominarium‹, müßte man sagen, da es Bestiarien gibt« (ebd). »Gloeden kam von der Malerei und sein Inszenierungsstil folgte den Gestaltungsvorstellungen der Malerei. Er arbeitete mit einer veralteten fotografischen Methode, die lange Belichtungszeiten notwendig machte. Diese Zeiten erlaubten keine Bewegung des Modells. Sie erstarrten daher in einer eingenommenen Pose. Darüber hinaus kann die Kamera die Unvollkommenheit der jungen Körper, die von den täglichen Arbeiten geprägt sind, nicht überspielen. Die eingesetzten Accessoires und Posen verweisen auf ›Kunst‹, der Realismus der Bilder, die getreue Abbildung der physischen Realität auf die jeweilige zeitgenössische Wirklichkeit.« (Weiermair, Verborgenes Bild, 16)
Diese beiden Ebenen aber – auratische Topoi und ent-auratisierte Darstellung – stehen in absolutem Widerstreit und schaffen eine eigentümliche sich reibende Sinnstruktur: »Ein Abenteuer des Sinns ist die Kunst von Gloedens deshalb, weil sie eine Welt hervorbringt, […] die zugleich wahr und unwahrscheinlich, realistisch und (schreiend) falsch ist, eine Gegentraumwelt, verrückter als der verrückteste Traum.« (Barthes, »Wilhelm von Gloeden«, 205) Der Grundgedanke von Barthes’ kurzer Einlassung ist folgender: »Diese Reibungen sind ›Heterologien‹, Reibungen verschiedener, entgegengesetzter Sprachen.« (Ebd., 204) Eben diese inhaltliche Verzerrungs-Ästhetik ergibt sich also aus der Medialität der Fotografien (im Verhältnis zur Objektinszenierung). Die »bare Münze«, für welche die Topoi genommen werden, ist der Fotografiehaftigkeit seiner Werke geschuldet – schon qua ent-auratisierendem Medium verliert die Antikisierung ihre auratisierende Wirkung. Oder: Verliert sie nicht im starken Sinne, sondern: auratisierende und ent-auratisierende Momente geraten miteinander in Reibung. »Die sublime Unschärfe der Legende tritt hier in Kollision (dieses Wort ist notwendig, um unsere Verblüffung und vielleicht unsere Hochstimmung wiederzugeben) mit dem Realismus der Fotografie.« (Ebd., 205) Gegen den durch prototypische Sehgewohnheit ausgelösten mimetischen Sinn, kommunizieren die Fotos auch noch einen gewissen performativen Sinn, weil die Sprachen der Bildaussage nicht in Einklang zu bringen sind und sich damit ein Rückkopplungseffekt vom énoncé (der Aussage) hin zur énonciation (dem Aussagen) einstellt, von der Kommunikation von etwas
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wird der Blick des Betrachters auf die Art der Kommunikation selbst gelenkt. Keine Abstraktion ins Idealschöne, wie es von der griechischen Statue verlangt wird, keine attizistische Klarheit und Harmonie der Formen.15 Aber eben auch keine wissenschaftlich-realistische, evtl. ethnografische Darstellung der Wirklichkeit, sondern inszenierte, überformte Körper. Beide »Bildsprachen« gehen hier nicht zusammen, weil sie sich ihrem jeweiligen Darstellungsmodus nach widersprechen. Die schmutzigen Füße, die ›nicht-perfekten‹ Körper, das ärmliche Ambiente, die nicht-perfekte Inszenierung durch eher deplatzierte vereinzelte Accessoires, durch aufgestellte Haare statt Hörnern – all das arbeitet gegen die antikisierende auratische Inszenierung und vice versa. Barthes meint, hier entstehe »ein Karneval der Widersprüche bis zum Wahn« und ist absolut euphorisch, was die diskursreaktive Kraft angeht: »Jene dürftige und zähe Kraft, dank der er allen Konformismen Widerstand leistet, denen der Kunst, der Moral und der Politik (vergessen wir die faschistischen Beschlagnahmungen nicht), und die man als seine Naivität bezeichnen kann. Heutzutage ist es kühner als je zuvor, ganz einfach die ›kulturellste‹ Kultur und den strahlendsten Erotismus zu vermischen, wie er es tat.« (Ebd., 205)
Diese Euphorie muss in ihrer Vehemenz nicht ganz ernst genommen werden. Zudem legt er unter seine werkimmanente Interpretation eine biografische Motivation: »Von Gloeden hat unermüdlich an diesem Gemisch gearbeitet, ohne daran zu denken. Daher die Kraft seiner Vision, die uns immer noch erstaunt: Seine Naivitäten sind grandios wie Heldentaten.« (Ebd., 205f.) Dieser Biografismus zusammen mit der exuberanten Euphorie dürfte z.T. auch der Funktion des kurzen Textes geschuldet sein, den Barthes als Vorwort zu einem Bildband verfasst hat, der nun mal als Werbung zum Kauf anregen sollte. Die Reibung zwischen den verschiedenen Modi des Darstellens (sublimiert-künstlerisch vs. ent-auratisiert-empirisch) ist nicht zu leugnen. Doch ist das ›umstürzlerische‹ Potential, das sowohl das Sublime (griechische Homoerotik) erdet und das Profane (Homosexualität, Pädophilie) weiht,
15 Vgl. zum männlichen Körper als Schönheitsideal: Kapitel 6.1.2.
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letztlich selten (und erstmalig von Barthes) wahrgenommen worden. Diese Umkehrung der Werte dürfte es gewesen sein, was Barthes mit »Karneval« gemeint haben könnte.16 Barthes’ Schluss ist, dass die sublime, durch die auratische Antike gedeckte Knabenliebe in dieser allzu realistischen Inszenierung als Inszenierung nicht mehr ›funktioniert‹, wenn sie in der Fotografie mit Körperlichkeit und Sexualität in eins gesetzt wird. Immerhin, darauf macht Peter Weiermair zurecht aufmerksam, »tritt bei Gloeden der erotische Aspekt des Bildes ganz offen zutage. Die einzelnen Figuren stehen zueinander im Blickkontakt wie auch zu dem Betrachter der Bilder selbst.« (Weiermair, Verborgenes Bild, 17)17 Gloedens Inszenierungen könnten nun als recht plumpe Versuche gelten, paraphile Gelüste antik zu verkleiden – und zu tarnen. Dies wäre eine Camouflage-Lesart, wie sie in den letzten Kapiteln besprochen wurde. Hinter dieser, so wurde in der Genese des Konzepts klar, steht das homosexuelle, paraphile (Autor-)Subjekt, das sein Medium wählt, um sich selber trotz der Repressionen auszusprechen – es ist daher kein Wunder, dass auch Barthes gerade mit der »Naivität« (frz. naïf, ›kindlich, ursprünglich‹), also dem innersten Eigenen des Künstlers argumentiert. Aber gerade dieses Aussprechen des Eigenen bildet den zentralen Punkt aller Diskurse über die Homosexualität, die allesamt auf dem Zwang zum Geständnis ruhen: dem faire-parler, das Michel Foucault als Diskursstrategie ausgemacht hat. Bedauerlicherweise verfolgt Barthes seine Heterologie-These an Gloedens Werk nicht weiter. Unter dem ›Leseaxiom‹ der Diskursreaktivität soll daher argumentiert werden: Die Imperfektion der Inszenierung muss ernst genommen werden. Statt nur etwas zu kommunizieren, kommunizieren die Fotografien auch etwas über ihre eigene Kommunikation: Sie stellen ihre Inszenierungen als Inszenierungen aus. Anstelle homosexueller Geständniskultur als discours ›en-retour‹ das Wort zu reden, nutzen sie taktische
16 ›Karneval‹ hat in Hinblick auf die Fotografien nicht nur etwas mit Verkleiden zu tun, sondern ist strukturell dem von Michail Bachtin kulturhistorisch beschriebenen Karneval vergleichbar, mit seiner Umwertung der Werte, seinen Mesalliancen etc. Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval. 17 Man darf auch nicht vergessen, dass co-textuell viele seiner Bilder in keiner Weise antik inszeniert sind, sondern der Jüngling in der Natur ohne jede kulturelles Accessoirium fotografiert wird.
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Möglichkeiten, nutzen sie objets und corps trouvés und kombinieren mit deren Hilfe Aussageformationen, die nicht homolog der Strategie entsprechen, sondern dieser heterolog dissidente Widerstände entgegenhalten. Das Ein- und Ausbetten aus den vermeintlich mimetischen Diskursen über die antike Homoerotik und die zeitgenössische Homosexualität im Zeichen des Changierens zwischen mimetischer Inszenierung und performativer Inszeniertheit wirkt so als contre-discours. Dieses fotografische Aufbegehren gegen die Herrschaftsdiskurse ist als Taktik des Schwachen gegenüber dem übermächtigen hegemonialen Wissenssystem zu verstehen: »[Der Schwache] macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […]; allerdings hat deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses, sondern sie liegt in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ›ergriffen wird‹.« (Certeau, Kunst des Handelns, 23)
Die antikisierende Fotografie Wilhelm von Gloedens schreibt also nicht als ein weiteres énoncé an einem Diskurs über die Homosexualität weiter, sondern widersetzt sich einer vereindeutigenden mimetischen Lektüre.
7.3 D IE F LANDRIN -P OSITUR : F OTOGRAFIE G EMÄLDE
VS .
In der Geschichte der Kunst haben sich einige Motive und Stoffe als besonders häufig in Verbindung mit (potentiell) homoerotischer Ikonografie etabliert. Die Stoffe sind vor allem der Bibel (zuvorderst der Heilige Sebastian) oder aber dem deutlich größeren Fundus der Mythologie (Jupiter und Ganymed, Hyazinth und Apoll, Achill und Patroklos etc. etc.) entnommen.18 Doch ein Gemälde, das keinen konkreten Stoff zitiert, hat sich ebenfalls in der homoerotischen künstlerischen Ikonografie als äußerst produk-
18 Eine Liste der Stoffe könnte sich an Stockingers homotextuellen Elementen oder Keilson-Lauritz’ Liste der Masken und Signale in homoerotischer Literatur orientieren.
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tiv erwiesen: Jean Hippolyte Flandrins »Jeune homme assis au bord de la mer« von 1836. Einen ersten (und kurz kommentierten) Überblick über Nachfolgewerke findet sich auf der sehr schön zusammengestellten Internetseite {feuilleton}. Über die enorm produktive »Evolution of an Icon« schreibt dort John Coulthart: »The simplicity and directness of the rendering is probably intended to be reminiscent of Classical sculpture and the figures seen on Greek pottery and bas-reliefs. There’s nothing in Flandrin’s history to suggest a homoerotic intent but the picture has that effect nonetheless, and it’s to gay artists (and viewers) that the work has mostly appealed since, as can be seen below.« (Coulthart, »Evolution of an Icon«)
Flandrins Werke sind allesamt dem offiziellen französischen Neo-Klassizismus, dem Akademiestil seiner Zeit, zuzuordnen. Er wurde vor allem mit seinen Historienmalereien, christlichen Gemälden und Kirchenwandbildern berühmt und außerdem hoch dekoriert. Sein »Jeune homme assis au bord de la mer«, von 1836, sein berühmtestes Werk, ist heute im Louvre ausgestellt und erfüllt alle Regeln dieser Kunst. Ein Jüngling sitzt, die Arme um die angezogenen Beine verschränkt, den Oberkörper nach vorne gebeugt, um den Kopf auf den Knien abzulegen, auf einem Fels über dem Meer. Von antiker Schönheit ist dieser Körper, wobei er ohne ein tatsächliches klassisches Vorbild ist. Der Körper steht durch die helle warme Farbigkeit im starken Kontrast zum kühlen Hintergrund. Bildkonzeption, Licht, Schatten, Farbigkeit und das Kontrastespiel machen aus dem nackten Köper einen idealisierten Akt. Die Elemente des Hintergrunds sind im Vergleich zum Körper geradezu gestochen scharf, die Haut des Jungen hingegen ist äußerst weichgezeichnet. Besonders der Bogen des Rückens lässt eine äußerst harte Grenzlinie zum Hintergrund entstehen, der Körper wirkt wie hineingesetzt in das Gemälde.
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Abb. 19: Jean Hippolyte Flandrin, »Jeune homme assis au bord de la mer«, 1836. Abb. 20: Wilhelm von Gloeden, »Kain«, ca. 1900.
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Flandrins Gemälde ist freilich eine Inszenierung, doch sie ist ›perfekt‹: Bildaussage und Bildsprache gehen miteinander absolut kongruent. Das Gemälde reiht sich in die lange Tradition der Darstellungen von Melancholie ein, mit dem Platz des Melancholikers am Meer, wie er sich spätestens seit der Romantik etablierte,19 wobei der jeune homme seinen Blick nicht auf die Unendlichkeit des Meeres richtet, sondern geschlossenen Auges in sein Inneres blickt. Der einzige wirkliche Schatten auf dem Körper verdunkelt signifikanterweise gerade das Gesicht des Jünglings. Die Bildaussage schießt so symbolisch über die Abbildung eines individuellen Schicksals hinaus, wie es die Darstellung des menschlichen (und zumal männlichen) Körpers verlangte. Gleichzeitig lässt das Gemälde einigen Raum für Interpretationen: Das »beharrliche Problem der Lektüre und Interpretation« des Gemäldes bestehe darin, dies konstatiert ein Katalogtext, dass »die Augen geschlossen sind und es so verhindert wird, den Ausdruck der Gefühle zu lesen« (Sciama, Hippolyte et Paul Flandrin, 66). Gerade diese Verschlossenheit des jungen Mannes führt aber dazu, »dass die Einsamkeit des Modells noch verstärkt wird.« (Ebd.) Die nicht ganz feste Interpretationslenkung wirkt so auf d(ies)en Betrachter, als würde dadurch der ›innere Kampf‹ (wird er sitzenbleiben, springt er gleich?) des Jünglings noch intensivieren: »[D]ie perfekte Pose und die Intensität des inneren Dramas« (ebd.)20 bedingen sich so gegenseitig und machen aus dem Gemälde ein zu lesendes, ein zu verstehendes Kunstwerk, das seine mimetische Kommunikationsfunktion äußerst stark macht. Dabei lässt dieser Akt für profane, womöglich sexuelle Interpretationen so wenig Platz wie nur eben möglich bei der Darstellung eines nackten Jünglingskörpers. Erst in den späteren Adaptionen erhält der nackte Körper – vielleicht als Gegenbewegung zur auffallend unsexualisierten Darstellung
19 Das Felsenkliff als Standort des Betrachters und die Felseninsel im Hintergrund sind außerdem häufig gewählte Motive im Verbund mit der melancholischen Meeresbeschau, so bei Caspar David Friedrich. Zur Geschichte der Melancholie und ihrer künstlerischen Darstellung vgl. z.B. den Ausstellungskatalog zur Berliner Ausstellung »Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst« von 2005. 20 Orig.: »constant problème de lecture et d’interprétation«, »les yeux fermés empêchent de lire l’expression de ses sentiments, renforçant la solitude du modèle«, »la perfection de la pose et l’intense drama intérieur«.
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des »Jeune homme«, vielleicht wegen der für Aktdarstellungen äußerst reizvollen anatomischen Besonderheit der Haltung – verschiedene sexuelle Konnotationen. Gloedens Fotografie »Kain« von ca. 1900 ist eine pasticheartige Nachbildung des Originals: Es ist ihm in vielerlei Hinsicht um die genaue Wiederholung der Bildkonzeption zu tun. Vor allem in der Körperhaltung (man betrachte genauer die Hand- und Armhaltung) ist diese Art der Kopie gelungen. Zugleich gibt es einige signifikante Unterschiede, die in aller Kürze genannt werden müssen: Statt Querformat nutzt Gloeden Hochformat, der Eindruck des zusammengekauerten, geradezu vom Bildrahmen niedergedrückten Jünglings wird zugunsten einer deutlich offener wirkenden Haltung ausgetauscht. Gloedens Jüngling sitzt, ein weiterer Unterschied, direkt auf dem Felsen, er ist nicht mit Tunika bekleidet dort angekommen, Nacktheit scheint damit dezidiert der Normalzustand des Jünglings zu sein. Außerdem ist das immerhin im Titel des Originals aufgenommene Meer durch die Gebirgslandschaft ersetzt.21 Paratextuell ist eine sozusagen ›synkretistische‹ Stoffkombination festzustellen: Durch den Titel »Kain« wird das klassi(zisti)sche Motiv in den alttestamentarischen Kontext übertragen. Was im Original ganz nah an griechischer idealer Schönheitsdarstellung ist, wird hier der Ästhetik des Körpers nach zwar genau übernommen, aber in einen anderen Kontext gerückt. Von symbolischer Melancholie bei Meerbetrachtung bzw. Innenschau wird die Pose in einen konkreten Plot überführt: Kain ist hier alleine, also ohne Bruder, wohl nach der Tat. Über den Titel erklärt sich so auch die Nacktheit Kains als Sohn der ersten Menschen auf Erden. Stärker ›geerdet‹ als das Original ist »Kain« auch deshalb, weil er nicht, wie der »Jeune homme« auf seinem Felsen über allem und nachgerade im Himmel thront, sondern inmitten der bergigen Landschaft im Hin-
21 Dabei gibt es im Umkreis von »Kain« weitere Bilder, z.B. »Elegie«, welches das Meer im Hintergrund nutzt, das in »Kain« also dezidiert nicht vorkommt. »Elegie« ist ein schönes Beispiel für eine Arbeit Gloedens, die sich einer ähnlich symbolischen, perfekten Inszenierung bedient, wie Flandrins »Jeune homme«: In der Manier Caspar David Friedrichs betrachtet, vom Betrachter abgekehrt, ein nackter Jüngling, das dunkle Meer. Das Foto scheint nachträglich bearbeitet zu sein, so zeichnet sich das bergige Ufer im Hintergrund sehr deutlich und drohend vom Himmel ab.
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tergrund sitzt, die ihm gerade bis zum Kopf reicht. Die ideale (äußere wie innere) Schönheit, die das Original ausdrückt, wird umgedeutet zum Kainsmal tragenden sündigen Menschen. Doch man sieht es ihm hier nicht an, er verbirgt die Sünde vor dem Blick des Betrachters. Welchen ›Inhalt‹, welche ›Idee‹ kommuniziert die Fotografie? »Kain« als Chiffre für den im christlichen Sinn sündig gewordenen Menschen? Auf dieser mimetischen Kommunikationsebene des Bildes haben wir es mit einem durchaus gelungenen, vielschichtigen Pastiche zu tun, das dem Original einige Ehren zollt, jedoch auf dessen Basis grundsätzlich andere Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. An dieser Stelle muss nun vom inhaltlichen auf einen medialen Vergleich umgeschaltet werden. Was geschieht nämlich (auch im Rückblick mit dem Original), wenn das einmalig von einem Künstler gemalte Bild, in dem einen goldenen Rahmen im zentralen Museum Frankreichs hängend, nun als Pastiche auf einer Glasplatte zur potentiell unendlichen Reproduktion bereitsteht? Von der auratisierten Darstellung im akademischen Gemälde wird der Akt in eine foto-realistische Abbildung eines nackten Körpers überführt. »Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard erreicht, auf dem sie […] die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann.« (Benjamin, Kunstwerk, 11) Diese »tiefste Veränderung«, deren sich »Jeune homme« durch »Kain« unterworfen sieht, liegt, so mein Argument, in der nachträglichen Ausstellung der Gemachtheit des Originals. Abstraktes, Symbolisches (ideale Schönheit, Melancholie) werden auch medial übersetzt – und geerdet. Zunächst einmal geht die Übertragung in das ›realistische‹ Medium der Fotografie kongruent mit der konkretisierenden Darstellung vom idealisierten Menschen bei Flandrin zum sündigen Menschen bei Gloeden. Gleichzeitig jedoch wird ein medialer Abgleich zwischen Malerei und Fotografie möglich, der einen Blick auf die nun offenliegende (Inter-)Medialität erlaubt. Und so soll argumentiert werden, dass der Medienwechsel vom Gemälde zur Fotografie einen Moduswechsel der Bildkommunikation mit sich bringt, von der dominant mimetischen Kommunikation eines Inhalts hin zur Kommunikation über die Kommunikation selbst. Dies ist, als würde das neue Medium Fotografie, das doch so nah an der Realität liegt, ja geradezu als Medium der Unmittelbarkeit gedacht wird, die Medialität, die Mittel-
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barkeit, die Zurichtung des Originals in seiner Akademiehaftigkeit ausstellen: Die melancholische Haltung des »Jünglings am Meer« wird so als Positur sichtbar – im Sinne von ›in Pose gesetzt‹. Die perfekte Inszenierung des Originals, das seine Gemachtheit ja zugunsten der idealisierten, symbolischen Präsentation in den Hintergrund stellt, wird als Inszenierung ausgestellt. Im Abgleich mit der Fotografie wird die performative Seite auch des Originals gegenüber seiner intendierten mimetischen Kommunikationsfunktion profiliert. »Jeune homme« verliert dadurch »das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.« (Ebd.), Benjamin spricht von einer »Entwertung des Hier und Jetzt« des Originals, wenn es (technisch) reproduziert wird (ebd., 13).22 Die Aura des Originals geht in der Fotografie verloren. Dennoch erfüllt die Reproduktion »das Bedürfnis [...], des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.« (Ebd., 15f.)
Der »Jeune homme« wird also aus seiner Hülle geschält – tatsächlich ist »Kain« hüllenlos, nicht einmal die Spur der Hülle ist geblieben, er sitzt Haut an Stein auf dem Felsen, ohne antikisierende Toga. Die Aura des »Jeune homme«, seine in den Himmel gesetzte warme Leuchtkraft wird zerstört. Was als singuläres Original daherkam, wird zum Gleichartigen, zum Wiederholbaren – von der Aktmalerei zur Nacktfotografie. Damit einher geht die Austreibung des im Originalbild unterdrückten Subtextes der Sexualität. Die Potentiale der Ephebophilie, die qua nacktem jungen Körper schon bei Flandrin angelegt sind, vereinnahmt die Fotografie für sich und markiert sie noch.
22 Dabei muss freilich nicht das Original abfotografiert werden, um diesen Effekt zu zeitigen. Es genügt der klare Bezug (durch Nachstellen) auf das Original.
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»Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.« (Ebd., 13; im Original kursiv)
Der Aufnehmende ist im Falle des »Kain« der Baron Wilhelm von Gloeden, die Fotografie reiht sich co-textuell in eine Gruppe mit anderen Fotografien dezidierter Nacktheit ein. Das Andere, das Ausgeschlossene des Originals wird nun qua real-mimetischer Fotografie herausgetrieben, die Ein- und Ausschließungsmechanismen dieses spezifischen künstlerischen Diskurses (Wer darf was worüber in welcher Weise malen) werden sichtbar. Im Kapitel 6.1 zu António Bottos Canções ging es bereits um die prekäre Nähe zwischen antikisierender Idealisierung der männlichen, jugendlichen Schönheit als Widerschein der platonischen Ideen und ihrer – spätestens mit Winckelmann – prominenten Nebenstellung zur Homoerotik und später zu den Diskursen über die Homosexualität. Über die Verbindung zur christlichen Sünde, die der Titel »Kain« aufruft, erhalten wir ein weiteres Indiz für diese ›Lesart‹. Und in der co-textuellen Stellung der Fotografie zu den anderen Werken Gloedens, welche Homoerotik deutlich(er) profilieren, ein weiteres. Und qua Medium ist »Kain« mit dem wissenschaftlichrealistischen, nicht-künstlerischen, sondern mehr ethnografischen Festhalten des Menschen verbunden und erlangt daher eine Nähe auch zu positivistischen Diskursen über die Homosexualität. Als weiterer historischer Hinweis mag die enorm häufige Verwendung der Flandrin-Haltung in anderen homoerotischen Kunstkontexten dienen. Überaus vielfältige Beispiele gibt dafür { feuilleton }. Zwei davon seien hier, die Betrachtungen der Fotografien abschließend, aufgeführt. Lindsay Lozons fotografisches Schaffen konstituiert sich vor allem aus Society-Bildern, für Hochglanzmagazine und (best selling) Bildbände; perfekte junge, sportliche, saubere männliche Models werden in ihrer Schönheit dargestellt. Bildsprache, Farben, Setting etc. sind darauf abgestellt, die Schönheit der Objekte zu betonen. Die Pose – und es ist nur eine weitere
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unter etlichen – soll nicht als Positur, sondern als innere Haltung wahrgenommen werden: Die Stimulanz des Betrachters ist gewollt.23 Der Titel des Bildbandes All my boys, dem diese Fotografie entnommen ist, betont dabei die Verfügbarkeit des Objekts der Begierde. Die deutliche Veränderung gegenüber der Flandrin-Haltung, nämlich der direkte Blick aus der schönen Welt des Fotos hinein ins begehrende Auge des Betrachters verstärkt diese mimetische Kommunikationsfunktion noch. Als Kontrast dazu steht Philip Gladstones »Awful shy«. Es ist, wie viele seiner Bilder, ein selbstreflexives Meta-Gemälde. Häufig werden bei Gladstone Museums-Situationen durch z.T. metaleptische Sprünge gebrochen. Dabei sind es, wie in diesem Bild, meist mann-männliche Blicke, die seine Bilder in homoerotische Nähe rücken. An dieser Stelle ist eine ausführliche Bildbeschreibung und -interpretation nicht sinnvoll, soll es doch in meinem Zusammenhang nur als ein aussagekräftiges Beispiel dienen, nämlich als ein Gemälde, welches die Flandrin-Haltung aufnimmt und in eine performative Kommunikationssituation einbettet. Dieses Gemälde reflektiert über die eigene, wie die Gemäldehaftigkeit des Originals. Letztlich kann eine ähnliche – wenn auch nicht so offen liegende – Reflexionsbewegung auch für die zu besprechende Fotografie »Kain« in ihrer heterologischen Doppelstruktur festgestellt werden. Der antikisierend-auratische Anteil des Originals gerät hier in Gegenstellung zum mimetisierend anti-auratischen Anteil der Fotografie. Die Diskursreaktivität auf die heteronormativierte antikisierende Darstellung des Jünglings ist subversiv, stellt sie doch ihre vermeintlich rein mimetisch präsentierende Funktion als tatsächlich performativ re-präsentierende Funktion aus.
23 So wird der Bildband auch vom Verlag (auf www.brunogmuender.com) beworben: »Lindsay Lozon ist ein Ausnahmekünstler, er reduziert seine Settings aufs Notwendigste und überlässt seinen jungen Modellen das Feld. Das Ergebnis sind erfrischende, lustige und überraschend vielseitige Fotografien. Der Fotograf lässt keinerlei Starallüren erkennen, er ist für seine Modelle da und nicht umgekehrt. Lozons Boys sind durchweg schlank, unbehaart und sportlich, und dennoch zeigt jeder einzelne Charakter.«
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Abb. 21: Lindsay Lozon, ohne Titel, aus: All my boys, 2007. Abb. 22: Philip Gladstone, »Awful Shy«, 2010.
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An dieser Stelle erreicht die Argumentation in Hinblick auf die Objekte und das Erkenntnisinteresse der Arbeit ihre Grenzen. Von der grundlegenden Lyrikhaftigkeit und ihrem Potential, sich gegen die lebensweltlichen Diskurse über die Homosexualität zu stellen, stehen wir vor Fotografien und nun sogar vor Gemälden. Es wäre produktiv, weitere künstlerische Objekte unter dem Blickwinkel der homoerotischen Wi(e)der- oder Gegenrede zu betrachten, so mögen z.B. Caravaggios Gemälde in ihrer Gegenstellung zu (christlicher, oder aufkommend bürgerlicher) Moral und Prüderie gerade in ihrer christlichen und bürgerlichen Bildersprache lohnenswerte Objekte sein. Freilich sind die Diskurse, gegen die sich der Widerstand bei Caravaggio richtet, nicht mit Homosexualität in Verbindung zu bringen, wohl aber mit der Krise des Pastorats, die Foucault zwischen 1580 und 1650 ansetzt. Wie stark, so würde die Frage an Caravaggios Werke lauten, profilieren sie ihre performative Kommunikationsfunktion gegenüber ihrer mimetischen Darstellungsfunktion qua ›gebrochener‹ Gemäldehaftigkeit, z.B. durch Überfrachtung, ›quere‹ (oder: queere) Zitation, verwirrender Vermischung oder Proliferation der prototypischen Topoi und Motive und Techniken der zeitgenössischen Darstellung? Der Rahmen dieser Arbeit wurde schon längst gesprengt, ›Lyrikhaftigkeit‹ wurde durch ›Fotografizität‹ und nun, zumindest ansatzweise, durch ›Gemäldehaftigkeit‹ ersetzt und die wissenschaftlichen Diskurse über die Homosexualität durch Pastoralmacht-Diskurse über die Sodomie. Die Struktur der Versuchsanordnung scheint sich auch für andere Bereiche als produktives Leseaxiom zu erweisen. Es war die Aufgabenstellung der Arbeit, dem genderwissenschaftlichen Umgang mit Lyrik einen neuen Impuls zu geben, mit dem Anliegen, den notwendigen Unterschied der Herangehensweise an lyrische Texte im Vergleich zu dramatischen und besonders narrativen Texten zu betonen. Die spezifische Medialität von Lyrik sollte dazu als irreduzible Basis aufgewertet werden, um die mit ihr zusammenhängenden Modi des Sprechens als zentrale Analysemerkmale profilieren zu können. Wie abschließend kurz gezeigt wurde, kann dieses Interesse an den Ausdrucksmedien geschlechtlichen Sinns auch in anderen Medien zu produktiven Lesarten führen.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 und 2: Karl Heinrich Ulrichs, aus: Inclusa, 1864, 30f., Quelle: http://books.google.de/books (08.04.2011). Abbildung 3: Adolf Brand, »Begegnung«, aus: Der Eigene, Januar 1905, Scan aus: Hohmann, Der heimliche Sexus, S. 3. Abbildung 4: Rafael Alberti, Rosa Chacel, Emilio Prados u. María Teresa León: »A Gregorio, en Delfos«, ca. 1930-1936, Scan aus: Gregorio Prieto y sus amigos poetas, S. 54. Abbildung 5: Anne-Louis Girodet de Roussy-Trioson: »Endymion. Effet de lune« (dt. meist: »Der schlafende Endymion«), 1791, Louvre, Quelle: http://www.louvre.fr. (08.04.2011). Abbildung 6: António Botto, Canções, 1922, o.Pag., Scan aus Original. Abbildung 7: ders., Canções – Lieder, 1997, S. 9, Scan aus Original. Abbildung 8: ders., Canções, 1922, o. Pag., Scan aus Original. Abbildung 9: ders., Songs, 1948, S. 11, Scan aus Original. Abbildung 10: ders., Canções, 1922, o. Pag, Scan aus Original. Abbildung 11: ders., Canções, 1940, Umschlag, Scan aus Original. Abbildung 12: anon., in: António Botto, Songs, 1948, S. 15, Scan aus Original. Abbildung 13: ebd., 165. Scan aus Original.
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Abbildung 14: Wilhelm von Gloeden, »Sizilianischer Jüngling«, ca. 1900, Scan aus: Gloeden, Fotografie, 2008, S. 76. Abbildung 15: Wilhelm von Gloeden, »Faun«, ca. 1900, Scan aus: ebd., S. 127. Abbildung 16: Wilhelm von Gloeden, ohne Titel, ca. 1890-1900, Scan aus: Gloeden, Amore e arte, S. 155. Abbildung 17: Wilhelm von Gloeden, ohne Titel, ohne Jahr, Scan aus: ebd., S. 80. Abbildung 18: Wilhelm von Gloeden, ohne Titel, ca. 1900, Scan aus: Weiermair, Das verborgene Bild, S. 57. Abbildung 19: Jean Hippolyte Flandrin, »Jeune homme assis au bord de la mer«, 1836, Gemälde mit Rahmen, Louvre, Quelle: http://www.louvre.fr. (08.04.2011). Abbildung 20: Wilhelm von Gloeden, »Kain«, ca. 1900, Scan aus: Gloeden. Fotografie, 2008, S. 81. Abbildung 21: Lindsay Lozon, ohne Titel, aus: All my boys, 2007 o.Pag., Scan aus Original. Abbildung 22: Philip Gladstone, »Awful Shy«, 2010, Quelle: http://philipgladstoneauctions.blogspot.de/2010/02/awfulshy.html (23.09.2012).
Literaturverzeichnis
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Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1
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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
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Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3
Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« Juni 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3
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Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2012, 318 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur Juni 2013, ca. 332 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2246-1
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2
2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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