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German Pages 176 Year 2000
Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.
Gemeinschaften in einer entgrenzten Welt
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Herausgegeben von Reinhart Kößler, Dieter Neubert und Achim v.Oppen
Studien 12
i Q l Verlag Das Arabische Buch
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Gemeinschaften in einer entgrenzten Welt / Zentrum Moderner Orient, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Hrsg. von Reinhart Kößler... Berlin : Das Arab. Buch, 1999 (Studien / Zentrum Moderner Orient, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.; 12) ISBN 3-86093-251-9
Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Kirchweg 33 14129 Berlin Tel. 030/80307 228 ISBN 3-86093-251-9 STUDIEN Bestellungen: Das Arabische Buch Horstweg 2 14059 Berlin Tel. 030 / 3228523 Fax 030/3225183 Redaktion und Satz: Margret Liepach Einbandgestaltung: Jörg Rückmann, Berlin Foto: privat Druck: Offset-Druckerei Gerhard Weinert GmbH, Berlin Printed in Germany 1999 Gedruckt mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin
Inhalt
Einleitung Dieter Goetze: Gemeinschaftsbegriffe in der Soziologie und Sozialanthropologie
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Achim v.Oppen: Die Territorialisierung des Dorfes (Nordwest-Zambia, seit ca. 1945)
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Reinhart Kößler. Territorialität und traditionelle Gemeinschaftsbildung im Süden Namibias
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Joanna Pfaff-Czarnecka: Vertrauen, Zuversicht, Verfuhrung, Distanz: Die Verteilungskoalitionen in Nepal an der Schnittstelle zwischen Staat und Bürger
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Dieter Neubert: Gemeinschaften, Gerechtigkeit und Demokratie in Afrika. Zur Bedeutung der Moralökonomie in der Kommunitarismusdebatte
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Heiko Schräder: Globalisierung, (De)Zivilisierung und Moral. Zur Struktur der „Weltgesellschaft" in der Postmodeme
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Nils Zurawski: Jenseits der Informationsweltgesellschaft: Wer sind die „Anderen" in einer globalisierten Welt?
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Einleitung Die gegenwärtige Globalisierungsdebatte hat wie lange kein Thema zuvor alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen. Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien ebenso wie die Wissenschaft befassen sich intensiv mit diesem Phänomen. Mit der Globalisierung wird ein globaler Handlungs- und Analyserahmen postuliert, der scheinbar alle lokalen Perspektiven verdrängt oder diese im ihrem Bezug zur Globalisierung erfaßt. Auch in der Soziologie werden diese Veränderungsschübe von einflußreichen Denkschulen als Belege und Indikatoren für die Herstellung eines umfassenden sozialen Systems der „Weltgesellschaft" gesehen (vgl. z.B. Beck 1998; zur kontroversen Globalisierungsdebatte siehe auch Friedrichs 1999, Klingebiel/Randeria 1998). In dieser Perspektive wird hervorgehoben, daß Kommunikationsprozesse zeitlich extrem kontrahiert und zumindest potentiell weltumspannend werden. Hinzu komme, so wird argumentiert, eine fortschreitende Angleichung nationaler Gesellschaften und die Abnahme der Bedeutung nationaler Grenzen bei einem gleichzeitigem Universalisierungsprozeß (Schräder, i.d.B.). Ihre Grenzen, so diese Argumentation, fände Gesellschaft dann allenfalls noch in einer nichtgesellschaftlichen Umwelt.Gesellschaft wäre so gesehen in radikaler Weise entgrenzt (vgl. Honegger/Hradil/Traxler 1999). Doch gerade in den Kultur- und Sozialwissenschaften wird Globalisierung mit der extrem ausgeweiteten Analyseperspektive als dominantes Erklärungsmuster für die gegenwärtigen Entwicklungen auch in Frage gestellt. Erstens sind die Prozesse, die heute als Globalisierung bezeichnet werden keineswegs neu. Wallerstein verlegt in seiner Analyse des Weltsystems den Beginn des Prozesses ins 16. Jahrhundert (vgl. Wallerstein 1974). Und die gegenwärtige Globalisierungsdebatte erinnert stark an die Konjunktur des „Welt"-Begriffs im 19. Jahrhundert (vgl. Robertson 1998, 209-211). Das Zusammenwachsen der Welt, die Zunahme der weltweiten Interdependenzen und Verflechtungen sowie Universalisierungsprozesse sind zweifellos schon länger zu beobachten. Wir erleben heute vielmehr einen Schub, in dem derartige Prozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen parallel erheblich beschleunigt werden. Da diese entsprechende schnelle Veränderungen auslösen, binden sie auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit unter dem neuen Begriff der Globalisierung. Zweitens stehen der gegenwärtigen Globalisierung, wie ähnlichen Prozessen zuvor, empirisch kontrastierende Gegenbewegungen gegenüber. Wir beobachten eine Renaissance von Gruppierungen, die sich bewußt von universalen Kategorien und den dominierenden globalen Strukturen abgrenzen. Sie bestehen auf Eigenständigkeit und suchen klare Abgrenzung und eigene Identitäten. Zur Beschreibung dieser Gruppierungen wird auf den Begriff Gemeinschaft zurückgegriffen. Wir beobachten also nicht nur einen Schub der Globalisierung, sondern auch eine Intensivierung von Prozessen der Gemeinschaftsbildung, verbunden mit entsprechender wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Das verstärkte Auftreten von gemeinschaftsartigen Zusammenschlüssen und der Globalisierungsschub sind eindeutig miteinander verschränkt.
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Einleitung
Im vorliegenden Band stehen solche Prozesse der Gemeinschaftsbildung im Mittelpunkt . Wir fragen, wie innerhalb einer zunehmend entgrenzten Welt sich Sozialverhältnisse neu formieren und in einer Weise bestimmen, die es Teilnehmenden ebenso wie Beobachtenden nahelegt, von „Gemeinschaft" zu sprechen. Auchim Zusammenhang mit dem Globalisierungsbegriff finden sich konkurrierende mehr oder weniger klar gefaßte Bestimmungen für die Kategorie der Gemeinschaft. Denn die auf „Gemeinschaft" bezogenen wissenschaftlichen Debatten reichen von politischer Philosophie (Kommunitarismus) über die politisch historische Analyse (Nationalstaat und imaginierte Gemeinschaft), Fragen der Ethnizität, bis hin zur religiösen Gruppenbildung oder der Renaissance lokaler Identitäten. Die Festlegung auf einen eng definierten Gemeinschaftsbegriff unterliegt der Gefahr, wichtige gesellschaftliche Phänomene auszugrenzen. Wir beschränken uns deshalb in dieser Einleitung auf eine kurze Skizze des relevanten gesellschaftlichen Feldes und widmen der Begriffsgeschichte und der Begriffsdiskussion einen gesonderten Beitrag (Goetze, i.d.B.). Trotz der erwähnten Heterogenität handelt es sich bei Studien zu „Gemeinschaft" um eng miteinander verbundene Phänomene. Die Gruppierungen selbst berufen sich auf Gemeinsamkeiten, beanspruchen die Möglichkeit klarer Grenzziehungen zwischen ihrem „Wir" und den „Anderen" mit daran geknüpften Prozessen der Inklusion und Exklusion (Schlee/Werner 1996). Mit Gemeinschaft wird Nähe, Sicherheit, Solidarität und Vertrauen verbunden. Zudem wird aus sehr unterschiedlichen Perspektiven „Gemeinschaft" nicht mehr als die einfache Fortdauer vormoderner Bindungen gesehen, sondern vielmehr als konstruktive Antwort auf neue, oft existentiell erlebte Krisensituationen der Moderne verstanden. So erscheint Gemeinschaft etwa als Antwort auf eine Suche nach Sicherheit, die gerade in der Auseinandersetzung mit universalisierten und für die Einzelnen kaum einschätzbaren, geschweige denn kontrollierbaren Risiken den Rückgriff auf Zusammenhänge herausfordert, die in der Lage zu sein scheinen, Solidarität zu garantieren. Solche gemeinschaftlichen Zusammenhänge können sehr unterschiedlich aussehen: Nachbarschaftsgruppen, Familienverbände, Patronageverhältnisse, ethnische oder tribale Zusammenhänge und Mobilisierungen, schließlich auch sich nach außen abschottende, nationalstaatlich verfaßte Prosperitätsinseln. In vielen dieser Fälle beruht die Solidaritätserwartung nicht auf unmittelbaren persönlichen Kontakten, sondern auf Imaginationen von Gemeinschaft. Solche Erwartungen sind deshalb um nichts weniger ernstzunehmen, und sie sind folgenreich. Das zeigen nicht zuletzt die vielen ethno-nationalistisch, tribal oder auch religiös artikulierten Konflikte der Gegenwart. Freilich ist es eine ganz andere Frage, ob die mit solchen Gemeinschaftsdiskursen verbundenen Erwartungen real wirklich eingelöst werden können. Auf wissenschaftlicher Ebene zeigt sich dieses Spannungsverhältnis in besonders plastischer Weise zwischen der Verwendung von „Gemeinschaft" als einer sozialanalytischen Kategorie und als eines normativen Projekts gemeinschaftlicher Solidarität. Beide Ansatzpunkte stehen aber in offenkundigem Zusammenhang: Gerade Ideologien, die gemeinschaftliche Topoi einsetzen, verlören viel von ihrer offenkundigen Überzeugungskraft, wenn sie sich damit nicht auf höchst handfeste, brennende Probleme sozialer Bindung beziehen könnten. Und nach wie vor bezieht die Analyse von Gemeinschaftsformationen spürbar Attraktivität aus oft eher diffusen
Einleitung
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Hoffnungen auf Solidarität und Geborgenheit in wirklich oder auch nur scheinbar homogenen Milieus. Die heterogenen Diskussionen über Gemeinschaft erfolgen in unterschiedlichen theoretischen Zusammenhängen, Zielrichtungen und Ansätzen. Goetze (i.d.B.) ordnet die theoretischen Konzepte nach drei Kriterien ein: Erstens werden entlang der , Achse der sozialen Verräumlichung" Gemeinschaftskonzepte danach unterschieden, inwieweit sie territoriale Fixierung unterstellen oder gerade die Loslösung von der Territorialität betonen. Daneben steht zweitens „die Achse der Qualität von sozialen Beziehungen". Diese reicht von „essentialistischen" Ansätzen, die von primordialen Bindungen als Grundlage von Gemeinschaft ausgehen, bis hin zu „konstruktivistischen" Konzepten, die Gemeinschaft als gesellschaftliche Konstruktion verstehen. Als drittes Kriterium kommt die Art und Weise hinzu, wie die Ambivalenz zwischen analytisch-explikativen Elementen und normativen Elementen des Gemeinschaftsbegriffs behandelt wird. Mit dieser breiten Fassung der Gemeinschaftsdiskussion wird deutlich, daß die im Rahmen der Globalisierung diskutierten Lokalisierungsprozesse oder das Zusammenspiel von Globalisierung und Lokalisierung im Rahmen einer Glokalisierung (Robertson 1998) noch etwas zu kurz greift. Denn die Gemeinschaftsbildungsprozesse, von denen in den folgenden Beiträgen die Rede ist, verlaufen nicht nur in ganz unterschiedlichen, keineswegs nur kleinräumigen Maßstäben - einige lassen sich überhaupt nicht mehr „lokal" fixieren. Dennoch kommt es zu unterschiedlichen Formen sozialer Abgrenzung, in denen scharfe Unterscheidungen zwischen „Wir" und „Anderen" greifen. Ältere Darstellungen von „Gemeinschaft" als Hort traditionaler, kleinräumiger Bindungen bezogen sich neben dem vormodemen Europa vorzugsweise auf außereuropäische Gesellschaften. Gerade dort nun sind in jüngerer Zeit das ethnologische Präsens und der lokalisierende Blick am entschiedensten in Frage gestellt worden. Um so mehr bestehthier die Herausforderung, neuen Prozessen der Gemeinschaftsbildung nachzugehen, zumal auch abgelegenere Regionen Afrikas, Asiens und auch Lateinamerikas schon seit längerem in einem oft übersehenen Maße in Globalisierungsprozesse einbezogen sind. In diesem Zusammenhang kommt zunächst die mittlerweile schon recht entwikkelte Diskussion über die Konstruktion von Ethnizität in den Blick. Diese ist inzwischen recht gut aufgearbeitet (vgl. Dittrich/Radtke 1990; Evers/Schrader 1993; Kößler/Schiel 1994; Waldmann/Elwert 1989; Lentz 1995; zu den damit verknüpften Konflikten auch: Elwert/Feuchtwang/Neubert 1999). Bisher weniger im Zusammenhang betrachtet wurden eine Reihe anderer Formen und Prozesse von Gemeinschaftsbildung, wie etwa lokale und nachbarschaftliche Zusammenhänge oder kommunikative und ökonomische Netzwerke, sowie der Zusammenhang zwischen Gemeinschaftsbildung und politischer Mobilisierung ohne gewalttätige Konflikte, wie beispielsweise bei Demokratisierungsbewegungen und -prozessen und in der lokalen Umsetzung von Entwicklungspolitik. Gerade diese Felder sollen neben der dominanten Ethnizitätsdebatte im vorliegenden Band hervorgehoben werden. Die folgenden Beiträge konzentrieren sich also auf Gemeinschaftsbildungsprozesse, die sich erstens direkt oder indirekt auf Globalisierungs- und Universalisierungsprozesse beziehen, und sei es, indem sie sich von diesen absetzen, und die
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Einleitung
zweitens nicht durch gewalttätige Konflikte bestimmt werden. Die Beispiele stammen vornehmlich aus ausgewählten Regionen der außereuropäischen Welt. Zwei Artikel (Schräder, Zurawski) beschreiben zudem Gemeinschaftsbildungsprozesse, die gerade durch ihre Loslösung von bestimmen nationalen oder regionalen Bezugspunkten hervorstechen. Bevor wir in die empirische Diskussion eintreten können, gilt es jedoch zunächst, sich des weiteren argumentativen Zusammenhangs zu vergewissern, in den sich die neu belebte sozialwissenschaftliche Rede von „Gemeinschaft" unweigerlich stellt. Dieter Goetze zeichnet mit seinem schon erwähnten Beitrag wesentliche Stationen der Begriffs- und Theoriegeschichte nach. Er macht deutlich, daß Konzepte von „Gemeinschaft", bei allen Unterschieden, immer wieder in Auseinandersetzung mit grundlegenden Provokationen der Moderne stehen. Gerade dadurch wird der Begriff auch konstitutiv für Soziologie. Doch Romantisierung und auch die Vorstellung der „Entbettung" als des Verlustes von Gemeinschaft greifen zu kurz. Bei genauerem Hinsehen hat die Kategorie der Gemeinschaft ihren Platz gerade auch diesseits des Bruchs der Moderne. Das belegt Goetze u.a. durch seine Verweise auf die immer noch virulente Problematik des Nationalstaates. Hier zeigt sich mit besonderer Klarheit die Tendenz von Gemeinschaft zur räumlichen Umgrenzung und Abschließung („Territorialisierung"). Doch die (de)konstruktivistische Kritik, die sich auf Fragen von Nation und Ethnizität gerichtet hatte, ermöglicht es zugleich, die Prozeßhaftigkeit von Vergemeinschaftung besser zu verstehen: Grenzen und Inklusionen sind nicht ein für allemal gegeben. Da sie mehr oder weniger bewußt symbolisch gesetzt wurden und werden, sind sie auch veränderbar und beweglich bis hin zur Auflösung ihrer territorialen Bezüge. Einer der wesentlichen Diskussionszusammenhänge zum Thema „Gemeinschaft" ist die vor allem in Nordamerika geführte Kommunitarismus-Debatte. Dieter Neubert versucht, eine Brücke zwischen dieser vornehmlich theoretisch geführten Debatte in der politischen Philosophie zur entwicklungssoziologisch orientierten Analyse von Demokratisierungsprozessen in Afrika zu schlagen und damit zwei bislang unverbundene Diskussionen über Gemeinschaften aufeinander zu beziehen. Die Konfrontation dieser unterschiedlichen Bezugssysteme zeigt zunächst, daß die im Streit zwischen liberalen und kommunitaristischen Positionen bestehende Frontlinie zwischen „Gerechtigkeit" auf der einen und „Gemeinschaft" auf der anderen Seite so nicht verallgemeinerbar ist. Zugleich ist zu berücksichtigen, daß es sich bei „gemeinschaftlichen", von Formen einer moralischen Ökonomie bestimmten Zusammenhängen keineswegs um vormodeme Überbleibsel handelt, sondern um Produkte der gesellschaftlichen Moderne selbst. Fem aller Romantisierung können neue Gemeinschaftsbildungen daher „Arenen moralischer Debatten" schaffen. Freilich besteht gerade bei ethnisch definierten Gruppen auch das Risiko des Tribalismus. Die fragliche Arena für die Debatte der Grundwerte oder auch von Entwicklungsperspektiven müßte daher der nicht-ethnisch verstandene Nationalstaat darstellen. Damit stellt sich die Frage einer „afrikanischen Aufklärung". Es zeigt sich aber auch, daß Gemeinschaftlichkeit in der Moderne nicht einfach verloren geht, sondern immer wieder neu konstruiert und rekonstruiert wird. Gerade entwicklungssoziologische Perspektiven sind auch geeignet, zu unterstreichen, daß Globalisierung ihre Vorläufer in der Konstitution eines hierarchisch
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strukturierten Weltzusammenhanges hatte, der durch die Expansion Europas begründet wurde. Mit der Schaffung des Weltmarktes und der europäischen Kolonialreiche wurde dieser Zusammenhang intensiviert. Er hatte tiefgreifende Auswirkungen auf bestehende und sich neu herausbildende gemeinschaftliche Zusammenhänge. An zentraler Stelle ist hier der Territorialstaat als Ordnungs- und Herrschaftssystem zu nennen, der nicht nur die „internationalen", sondern auch „subnationalen" Beziehungen durchgreifend zu prägen begann. Dies wird im vorliegenden Band an zwei Fallstudien aus dem südlichen Afrika exemplarisch aufgezeigt. In beiden Fällen steht die Eigendynamik lokal definierter Gemeinschaft in einem widerspruchsvollen Spannungsverhältnis zu Eingriffen des kolonialen, aber auch des postkolonialen Staates. Achim von Oppen zeigt, wie im Nordwesten Zambias versucht wurde, ältere, eher linienhafte räumliche Strukturen durch kolonialstaatliche Reglementierung von Siedlungsformen zu verändern. Ein wesentlicher Eingriff war dabei die territoriale Definition dörflicher Gemeinschaften durch Abgrenzung von Gebietsstreifen, die einzelnen Siedlungskemen zugeordnet wurden. Diese Gemarkungsgrenzen wurden zunächst eher nur symbolisch angeeignet. Ihre rechtliche und politische Brisanz für die zwischendörflichen Beziehungen zeigte sich erst zu einem späteren Zeitpunkt, als Zuzug und Bevölkerungswachstum die Möglichkeiten der individuellen Expansion der Anbauflächen empfindlich einzuschränken begannen. Zugleich artikulierten sich neben den staatlich oktroyierten Dorfstrukturen konkurrierende Gemeinschaftsbildungen, vor allem in Gestalt unterschiedlicher Sekten. Einen Kontrastfall stellt Reinhart Kößler mit der Herausbildung und Bedeutung lokaler Bezüge und territorialer Verstetigung für ursprünglich nomadisierende „traditionelle Gemeinschaften" im Süden Namibias vor. Die Kolonisierung bedeutete hier eine weit massivere und nachhaltigere Intervention als im zambischen Fall. Die durch scharfe Repression und den einschneidenden Eingriff der weißen Besiedlung der Region geprägte koloniale Erfahrung hat dazu beigetragen, daß sich die gemeinschaftliche Orientierung auf zentrale, einzelnen Gruppierungen zugeordnete Orte befestigt hat. Dies wurde nicht zuletzt deutlich in der Auseinandersetzung um die südafrikanische Homeland-Politik. Dieser Versuch zur sozialtechnologischen Reorganisation war mit umfassenden Umsiedlungsaktionen verbunden, deren Folgen auch noch ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit Anlässe für akute Konflikte sind. Im Vergleich zu diesen beiden Fallstudien treten bei den „Verteilungskoalitionen" im Fernen Westen Nepals, die Joanna Pfaff-Czarnecka untersucht, die Auseinandersetzungen um ältere gemeinschaftliche Zusammenhänge in ihrer Bedeutung zurück. Hier geht es vor allem um neue Strategien zur Kontrolle von und Beteiligung an externen Ressourcenströmen, die von der Hauptstadt ausgehen und Machtpositionen und Abhängigkeitsverhältnisse auf lokaler und regionaler Ebene begründen. Die hier etablierten Verteilungskoalitionen beruhen weniger auf der Zuschreibung von gemeinschaftlichen Eigenschaften und Grenzen als vielmehr auf Redistributionsprozessen, deren Träger durch personale Netzwerke miteinander verknüpft sind. Wie die Autorin zeigt, ist dieser Fall besonders geeignet, zumindest zwei Grundannahmen des Modernisierungsparadigmas zu erschüttern: die These, kleinere, gemeinschaftliche Zusammenhänge würden zunehmend durch großräumige, systemische Verflechtungen untergraben und abgelöst; aber auch die Hoffnung, Menschen würden zunehmend besser instand gesetzt, ihr Leben zu kontrollieren.
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Das Bild im Fernen Westen Nepals ebenso wie in vielen anderen Teilen der Welt ist dagegen in Wirklichkeit bestimmt durch die Entstehung neuer, ebenfalls kleinräumiger Abhängigkeiten, durch welche die Beziehungen zu den globalen Verflechtungen überhaupt erst vermittelt werden. Heiko Schräder und Nils Zurawski untersuchen direkt das Spannungsfeld zwischen aktuellen Globalisierungsprozessen und darauf reagierenden, von territorialen Bezügen abgelösten Gemeinschaftsbildungen. Heiko Schräders Ausgangspunkt ist die veränderte Rolle der durch die Globalisierung geschwächten Nationalstaaten. Insbesondere durch die Auflösung der engen Bindung von Gesellschaft und Nationalstaat, kann der Staat seine identitätsstiflende Funktion nicht mehr im gleichen Umfang wie zuvor übernehmen. Soziale Identitäten müssen verstärkt auf andere Grundlagen zurückgreifen. Neben lokalen Identitäten und Lokalisierung entwickeln sich vermehrt neue transnationale Netzwerke mit persönlichen Bindungen. Heiko Schräder zeigt, daß gerade internationale Wirtschaftsprozesse, die eine wichtige Triebfeder der Globalisierung darstellen, nicht einfach systemischen Zwängen folgen. Die Funktionstüchtigkeit solcher globaler Zusammenhänge, gerade auch in international operierenden Firmen, ist vielmehr abhängig von gegenseitigem Verständnis, der Beachtung moralischer Normen und persönlichem Vertrauen. Schräder argumentiert vor dem Hintergrund derartig widersprüchlicher Diagnosen zum aktuellen Zustand, zur Handlungsfähigkeit und zur zukünftigen Rolle von Nationalstaaten im globalen Kontext, daß sich gerade hier Interdependenzen, ja eine Intensivierung sozialer Beziehungen erkennen lassen. Angesichts solcher „Rückbettungen" erscheine es möglich, so Schräder, von einer Art Zivilisationsprozeß auf globaler Ebene zu sprechen, wie ihn Norbert Elias für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa analysiert hat. Dem könnten die von Nils Zurawski herausgearbeiteten neuen Grenzziehungen entgegenstehen, die sich auch in einem virtuellen Kommunikationszusammenhang wie dem Internet nachweisen lassen. Gerade in den räumlich weitgespannten neuen Gemeinschaftsbildungen, die aus den sogenannten Entwicklungsländern hervorgehen, spielt die Kommunikationsform Internet eine erhebliche Rolle. Dennoch lassen es die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, aber auch die exklusiven Formen der Kommunikation berechtigt erscheinen, gerade hier Gemeinschaftsbildungen weit eher unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses anderer als unter den gängigeren Perspektiven der Intimität und Solidarität zu denken. Die Dauerhaftigkeit von Gemeinschaft auch unter den Bedingungen virtueller Kommunikation hat daher nichts mit den Assoziationen der Gemütlichkeit zu tun, die solche Themen vielleicht aufzurufen vermögen. Die gängige Metapher des „globalen Dorfes" harmonisiert deshalb die neuen virtuellen Gemeinschaften in ungerechtfertigter Weise. Die Beiträge in diesem Band greifen somit bewußt unterschiedliche Verwendungen des Gemeinschaftsbegriffs heraus, die zusammengenommen die Bedeutung von Gemeinschaft in aktuellen gesellschaftlichen Prozessen umreißen sollen. Von der alltagssprachlichen Romantisierung dieses Begriffs, die teilweise auch in wissenschaftlichen Diskussionen durchscheint (Kommunitarismus, „globales Dorf'; Lokalität), bleibt wenig übrig. „Gemeinschaft" ist nicht einfach vorgegeben, sondern beruht im wesentlichen auf immer wieder neu vollzogenen sozialen Prozessen der Gesellung. Sie zeichnet sich keineswegs durch Harmonie aus, sondern ist potentiell
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konfliktträchtig. Die Konflikthaftigkeit nach außen wird durch die Bedeutung von Abgrenzung mittels Exklusion und Inklusion deutlich. Konflikthaftigkeit nach innen zeigt sich beispielsweise im Falle neuer imaginierter Gemeinschaften als Grundlage für Demokratie (Neubert), bei der Schaffung neuer Lokalität (Kößler, v. Oppen) oder bei den lokalen Verteilungskoalitionen (Pfaff-Czamecka). Es verwundert deshalb nicht, daß Gemeinschaftsbildung ein wesentliches Element der Analyse ethnischer Konflikte ist. Diese Einsicht mag erneut dazu verhelfen, falsche Romantisierungen zu vermeiden. Zugleich zeigen die Beiträge auch eine Stärke des Gemeinschaftsbegriffs. Er betont die hohe Emotionalität sozialer Gesellungsprozesse, die wesentlichen Einfluß auf deren Dynamik hat und ergänzt damit rein strukturoder interessenorientierte Analysen um eine wichtige Dimension. Die Anregung für diesen Band ergab sich aus der Arbeit der Sektion „Entwicklungs- und Sozialanthropologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, auf deren Tagungen die Frage der Gemeinschaftsbildung in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen mehrfach diskutiert wurde. Diesen wichtigen Diskussionsstrang wollen wir mit dieser Publikation hervorheben. Die meisten Beiträge wurden auf Sektionstagungen zwischen 1996 bis 1998 erstmals vorgestellt. Zur Abrundung hinzugenommen wurden die Artikel von Goetze und Kößler. Abschließend möchten wir uns beim Zentrum Moderner Orient bedanken, das die Veröffentlichung dieses Buches ermöglicht hat. Ein besonderer Dank gilt Kerstin Frei für die überaus sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Manuskripte, Vincent Orvaert für die graphische Bearbeitung der Karten und Margret Liepach für die Fertigstellung der Druckvorlage.
Reinhart Kößler, Dieter Neubert, Achim v.Oppen
Literatur Beck, Ulrich (Hg.) 1998: Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Dittrich, Eckard J./Frank-Olaf Radtke (Hg.) (1990): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Elwert, Georg/Stepahn Feuchtwang/Dieter Neubert (Hg.) 1999: The Dynamics of Violence - Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts. Sonderband des Sociologus. Berlin: Duncker & Humblot. Evers, Hans-Dieter/Heiko Schräder 1993: The moral economy of trade. Ethnicity and developing markets.London: Routledge. Friedrichs, Jürgen 1999: Globalisierung [Sammelbesprechung]. In: Soziologische Revue, 22, 2, S. 143-158.
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Honegger, Claudia/Stefan Hradil/Franz Traxler (Hg.) 1999: Grenzenlose Gesellschaft? (Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i. Br. 1998), 2 Bde. Opladen: Leske + Budrich. Klingebiel, Ruth/Shalini Randeria (Hg.) 1998: Globalisierung aus Frauensicht. Bilanzen und Visionen (Eine Welt - Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden) Bd. 6, Bonn: Dietz. Kößler, Reinhart/Tilmann Schiel (Hg.), 1994: Nationalstaat und Ethnizität. Frankfurt: IKOVerlag für interkulturelle Kommunikation. Lentz, Carola 1995: „Tribalismus" und Ethnizität in Afrika - ein Forschungsüberblick. In: Leviathan, 23, S. 115-145. Robertson, Roland 1998: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Ulrich Beck (Hg.), S 192-220. Schlee, Guenther/Karin Werner (Hg.), 1996: Inklusion und Exklusion, Köln: Ruediger Koeppe Verlag. Waldmann, Peter/Georg Elwert (Hg.) 1989: Ethnizität im Wandel, Saarbrücken: Breitenbach. Wallerstein, Immanuel 1974: The modern world-system. Capitalist agriculture and the origins of the European world-economy in the sixteenth century. New York u.a.: Academic Press. —1980b: The Modem World System, Bd. 2. New York: Academic Press. —1989: The Modem World System, Bd. 3. San Diego: Academic Press.
Gemeinschaftsbegriffe in der Soziologie und Sozialanthropologie Dieter Goetze
Die Kontextualisierung soziologischer Begriffe: „Gemeinschaft'' als Suchbegriff im modernen Alltag Einer der klassischen Begriffe sozialwissenschaftlicher Theoriebildung mit weit zurückreichender Verwendungsgeschichte ist „Gemeinschaft". Er gehört zu den am heftigsten umstrittenen Grundbegriffen der Soziologie, seitdem er von Tönnies 1887 in eine konzeptuelle Gegenposition zu „Gesellschaft" gebracht worden ist. Als sinnverwandt können aber auch die von H. S. Maine (,Status" vs. „contract" 1861) oder von E. Dürkheim („mechanische" vs. „organische" Solidarität, 1930) formulierten Gegensatzpaare angesehen werden, die freilich alle unter verschiedenen theoretischen Prämissen stehen und daher auch zu unterschiedlichen Bewertungen der so bezeichneten Polarisierungen gelangen. Zusätzlich trägt zur Kontroverse bei, daß „Gemeinschaft" einer der soziologischen Fachtermini ist, die - wie „Familie", „Gruppe" o.ä. - mit mehr oder weniger diffusen Konnotationen auch alltagssprachlich verwendet werden.1 Zusammen mit anderen, normativen Implikationen hat das maßgeblich dazu beigetragen, daß der Begriff besonders in den siebziger und achtziger Jahren stark kritisiert und von seiner Verwendung zunehmend abgesehen worden ist. Erst in den letzten zehn Jahren hat er wieder eine breitere Akzeptanz gefunden, die sowohl auf theoretische und konzeptuelle Modifikationen als auch auf Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen sind. Er gehört zu den Grundbegriffen, die deutlich den modernen Charakter von Gesellschaftsanalyse und ihre sich wandelnde soziale Einflechtung erkennen lassen. Denn er erscheint auf der Bildfläche von vornherein als ein Begriff, der in eigentümlicher Weise die beiden Aspekte des sehnsüchtigen Rückblicks einerseits und des moralisch aufgerüsteten Zukunftsentwurfs andererseits miteinander verbindet. Mit dem Konzept der „Tradition" teilt er das Schicksal, bei Untersuchungen zur Diagnose des sozialen Wandels einen Zustand zu kennzeichnen, in dem sich diejenigen, die ihn verwenden, gerade nicht zu befinden wähnen bzw. dessen allge-meine Anerkennung sie anstreben. Er ist somit ein zentraler Begriff reflexiver Sozialanalyse par excellence, und seine Verwendungsweise informiert gut über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen er zunehmende Akzeptanz findet: Von der „Gemeinschaft" wird dann häufiger gesprochen, wenn die damit bezeichneten gesellschaftlichen Sachverhalte als etwas zeitlich und/oder sozial zunehmend Fernes bzw. (in der Sozialanthropologie und Ethnologie) als etwas kulturell Fremdes erscheinen.2 In diesem Sinn ist der Begriff „Gemeinschaft" von Beginn an ambivalent, denn er ist einerseits wohl Mittel der Analyse, andererseits aber auch bloßes abstraktes
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Prinzip. In dieser letzten Verwendung blendet er jedoch genauere Erklärungen gesellschaftlicher Realitäten aus und wird damit ein effektives Mittel, um geradezu Analyse zu verhindern. Unterschiedliche gesellschaftliche Sachverhalte erscheinen dabei als vom Prinzip her „gleich gültig" und sind damit letztlich, auch was eventuelle Differenzen angeht, „gleichgültig", soweit es die Geltung des Prinzips „Gemeinschaft" betrifft. Diese Feststellung Bausingers (1979, S. 90f.) bezieht sich auf die Volkskunde, ist aber häufig auch für die Soziologie zutreffend gewesen. Dieser soziologisch eher amorphe Gehalt des Begriffs spiegelt als abstraktes Interesse eine Phase gesellschaftlicher Veränderungen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wider, in der in den europäischen Gesellschaften eine tiefgreifende Herauslösung politischer, kultureller und ökonomischer Abhängigkeiten und Zusammenhänge aus den unmittelbaren Lebensräumen vieler Menschen stattfindet. Das betrifft zum einen die Folgen der großflächigen Durchsetzung einer kapitalistisch ausgerichteten Warenproduktion auf manufakturell-industrieller Grundlage für expandierende Märkte und einer zunehmenden Proletarisierung. Zum anderen wird dieser Prozeß politisch durch einen stärker ausgreifenden staatlichen Herrschaftsapparat auf der Basis territorialer Exklusivität und zweckrationaler, bürokratisierter Monopolisierung der Gewaltmittel gefördert, in Verbindung mit einer Verallgemeinerung und Systematisierung der verfugbaren kulturellen Codierungen (von der Alphabetisierung bis hin zu nationalen Bildungssystemen). Die daraus folgenden Verluste an Überschaubarkeit und selbstgesteuerter Berechenbarkeit der sozialen Kontexte sowie die abnehmenden kollektiven Kontrollmöglichkeiten fuhren je nach sozialem Standort zu einer kritisch-distanzierten Interpretation des Veränderten - nicht zuletzt, um darüber eine Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen oder auch zukünftig Erwarteten zu fuhren.3 In ähnlicher Weise ist auch die neuere Wiederbelebung der Auseinandersetzungen um Gemeinschaftsbegriffe in einer Welt, die von Globalisierungsvorgängen unterschiedlichster Art erfaßt worden ist, durchaus auch Teil derzeit ablaufender und bisher nur in Ansätzen erkennbarer Verfahren der sozialen „Wiedereinbettung", die sich in entsprechenden Forschungsfragestellungen niederschlagen. Vor diesem Hintergrund sind soziologische und sozialanthropologische Gemeinschaftsbegriffe in erster Linie Suchbegriffe zur gesellschaftlichen Verortung von widerstreitenden Formen der Modernität an den Schnittstellen von Alltagswelt und wissenschaftlichem Analyseanspruch. Es ist folglich empfehlenswert, hier nicht mit einer Standarddefinition von „Gemeinschaft" aufzuwarten, sondern von zwei Merkmalsachsen auszugehen, entlang derselben sich nahezu alle Gemeinschaftsdebatten anordnen lassen. Zum einen die Achse der Verräumlichung gemeinschaftsbezogener Sozialformen: Gemeinschaftskonzepte differenzieren sich danach, ob sie von einer Lokalisierung dieser Formen ausgehen, etwa als eine Territorialisierung im physischen Raum, oder aber gerade die Freisetzung aus solchen Einbindungen betonen. Zum anderen die Achse der Qualität von sozialen Beziehungen: Gemeinschaftskonzepte unterscheiden sich auch danach, ob sie davon ausgehen, daß die primären Sozialkontakte in Gemeinschaften eine tatsächlich besondere, „essentielle" Qualität mit einer entsprechenden Homogenisierungswirkung aufweisen („essentialistische" Ansätze), oder ob sie diesen Sachverhalt als einen soziokulturell gestalteten und damit „gesellschaftlich konstruierten" ansehen („konstruktivisti-
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sehe" Ansätze). Da diese beiden Merkmalsachsen in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden können, erörtert dieser Beitrag zunächst die essentialistisch ausgerichteten Vorstellungen über lokalisierte Gemeinschaften und anschließend die Merkmale der darauf bezogenen konstruktivistischen Reinterpretation. Im Anschluß daran werden die infolge von Entbettungsprozessen entterritorialisierten Gemeinschaftsbildungen und ihre Implikationen diskutiert sowie Überlegungen zur Kulturalisierung von Vergemeinschaftungen im Zuge von Globalisierungsvorgängen erörtert. Aus der bereits angesprochenen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Verflechtung der Gemeinschaftsvorstellung als Suchbegriff der Modernität ergibt sich eine durchlaufende weitere Ambivalenz, denn alle Konzepte weisen in unterschiedlichem Ausmaß eine Vermischung von explikativen und normativen Orientierungen auf. Zum Abschluß wird daher noch einmal auf die besondere Rolle der Sozialwissenschaften bei der Konstruktion und Kritik von Gemeinschaftskonzepten und ihrer Begründung hingewiesen.
Die Lokalisierung von Gemeinschaft: Von der Idee der Dorfgemeinschaft zum Ideal der Ethnographie Die erste Achse fuhrt zur Vorstellung von lokalen bzw. territorialisierten Gemeinschaften als face-to-face-Assoziationen, d.h. grundlegend wird eine räumliche Nähe angenommen, die als Bedingung der sozialen Nähe gilt. Das Ideal wird verkörpert von einer Dorf-Gemeinschaft, die in Gegensatz gebracht wird zur (z.B. nationalen Staats-)Gesellschaft. Hier wird eine Polarität angenommen, die auf die kausale Wirkung der materiellen Irilziaktionsbedingungen abhebt. Diesen wird eine Integrationswirkung zugeschrieben, die sich nach innen vor allem in Interessenkongruenz und solidarischem Handeln, aber auch in effektiver sozialer Kontrolle niederschlägt. Nach außen wird ihr vor allem ein Abgrenzungseffekt unterstellt, der die (lokalisierte) Gemeinschaft als kollektiven Akteur zu bestimmen und zu analysieren erlaubt. Sie war die logische Grundlage der Gemeinschaftsstudien (Community studies) sowohl in der Soziologie als auch in der Sozialanthropologie und in der (nordamerikanischen) cultural anthropology seit den dreißiger bis in die siebziger Jahre. Inhaltlich bedeutet das die privilegierte Erforschung einer abgegrenzten, lokal gebundenen und gemeinsam residierenden Gruppe von Menschen, denen folglich kulturelle Homogenität und auch eine homogene Interessenlage zugeschrieben wird. Sie bildet damit eine Art soziales Laboratorium für die Untersuchung von Funktionen, Interessen, Institutionen, Untergruppen, Subkulturen usw. Typische Gemeinschaften in diesem Sinne sind daher einzelne Dörfer, Inseln oder „Stämme". Das sozialwissenschaftliche Erklärungsinteresse richtet sich dementsprechend auf die sozialorganisatorischen (z.B. Verwandtschaftsstrukturen, soziale Schichtung usw.) bzw. kulturellen Merkmale dieser als quasi-organisches Ganzes begriffenen lokalen Gemeinschaft, die aus der jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen Einbettung herausgelöst und typischerweise als kollektiver Akteur gefaßt wird. In dieser Hinsicht können beispielhaft einige Varianten einer solchen, in erster Linie territorialisierten Konzeption der Gemeinschaft auseinandergehalten werden.
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Eine eigenständige soziologische Linie des Gemeinschaftsbegriffs in den USA leitet sich aus dem Konzept der sozialen Verräumlichung der sog. Chicago-Schule her, die mit dem sozialökologischen Ansatz nicht nur eine theoretische Perspektive bietet (territorialisierte soziale Interaktionsdichte), sondern auch die little Community als eigenständigen sozialen Ort „entdeckt". Sie ist von besonderer Bedeutung im soziologischen Blick, da sie nicht nur einem fundamental „essentialistischen" Argumentationsgang folgt, sondern auch die Grundlage bietet fiir die sozialwissenschaftlich angeleitete sozialpolitische Intervention. R.E. Park, einer der wichtigsten Vertreter dieser Schule, formuliert die These von den natural areas (Park 1952), und damit haftet der (lokalen) „Gemeinschaft" auch etwas „Ursprünglicheres" im Verhältnis zu überlokalen (etwa: nationalen) sozialen Zusammenhängen an, sie wird „primordial" und quasi „naturalisiert". In der Forschungspraxis der US-Soziologie bedeutet das v.a. die Untersuchung von Gemeinschaften auf lokalem Niveau mit einem spezifischen Ziel: Verstehen von Kommunikationsprozessen, von sozialen Netzwerken, von lokalen ökonomischen Aktivitäten usw.4 Es geht vor allem um Entwicklungsforschung in der eigenen Lokalgemeinde und bei Sozialarbeit zum Zweck der gezielten Sozialintervention. Dieses Interesse entspricht einem Entstehungszusammenhang, der für die nordamerikanische Soziologie charakteristisch ist: Sie wird als Wissenschaft begründet mit dem Auftrag, Menschen zu helfen, ihr Leben zu gestalten bzw. zu verbessern (social engineering). In der Sichtweise von R.E. Park ist die Stadt ein Territorium, ein Habitat, in dem die Konkurrenz von Gemeinschaften stattfindet. Hier wird das Konzept der „Nachbarschaft" zusätzlich bedeutsam, denn (sozialer) „Ort" (place) ist zugleich Nachbarschaft und Territorium. Die Verräumlichung der Interaktion bewirkt eine Fortsetzung der territorialen Gemeinschaft: die Bildung der (räumlichen) Nachbarschaft (neighbourhood), die den „Gebrauchswert" des Ortes auch als Gemeinschaftsorganisation konstituiert. In der (britischen) social anthropology sind die Bedingungen der tatsächlichen oder angenommenen räumlichen Abkapselung verschlüsselt in einer modifizierten funktionalistischen Ausdeutung ihrer Durkheimschen Inspirationen. Sie hat mustergültige und klassische Gemeinschaftsstudien hervorgebracht, wie die von B. Malinowski, R. Firth, A.R. Radcliffe-Brown, E.E. Evans-Pritchard u.a., allerdings mit wechselnden Vorzeichen.5 Besonders in der deutschen Volkskunde etabliert sich schließlich eine Linie, die auch kulturwissenschaftliche Komponenten aufweist und auf einer begrifflichen Sequenz - Familie, Nachbarschaft, Dorf, Stamm - aufbaut. Sie gründet sich auf die fehlerhafte, aber emphatische Gleichsetzung von „Nachbarschaft" und „Dorfgemeinschaft" und formuliert dazu noch ein (territorialisiertes) Prinzip der Gemeinschaft, das das soziale Leben im Dorf bis in die Einheit des „Hauses" hinein zu prägen und zu homogenisieren scheint. Von da aus aggregieren sich dann als konzentrische Kreise „Stamm" und „Volk" (Bausinger 1979, S. 93)." In all diesen territorialisierten Gemeinschaftsbegriffen schwingt eine Reihe vorsoziologischer Vorstellungen mit. Insbesondere wird eine relativ enge Verknüpfung von „natürlicher" Umwelt und sozialer Gestalt behauptet, die auf dem Gedanken einer (relativ) gleichmäßigen sozialen Streuung von materiellen Kontrollmöglich-
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keiten des Lebensraumes basiert. Der Gedanke der Autarkie solcher (Dorf-, Insel-) Gemeinschaften in der Ressourcenversorgung spielt auch eine wichtige Rolle. Eine solche Anthropologisierung des Gemeinschaftsbegriffes ist kongenial mit einer Primordialitätsbehauptung und kann dazu beitragen, auch die Legitimitätsbestrebungen von politischen Institutionen zu stützen. Insbesondere Einrichtungen wie Dorfräte erfahren durch eine solche „Vernatürlichung" einen Plausibilitätsschub, der vor allem in der Außenwirkung nachhaltig wirksam sein kann. Soziologisch sind diese Vorstellungen aber insoweit bedeutsam, als sie - freilich von falschen Voraussetzungen ausgehend - das Problem der Inklusion bzw. Exklusion in der Gemeinschaft als von selbst gelöst zu unterstellen erlauben. Wo dieses Problem mit der Frage der Erforschung der Gemeinschaften kombiniert erscheint vor allem in der Sozialanthropologie - fuhrt das dazu, daß die Berichte diese Gemeinschaften in der Mehrzahl der Fälle als abgeschlossenes, „organisches" Ganzes präsentieren. Das Ideal der territorial abgeschlossenen Gemeinschaft wird so auch zum idealen Gegenstand der Feldforschung, der es erlaubt, einen sozialen Mikrokosmos zu untersuchen und zu beschreiben, der sich als solcher bereits auf der einfachen materiellen Grundlage des (soziologisch unreflektierten) „natürlichen" Raumes präsentiert. Jenseits der Grenzen dieses Gemeinschafts-Raumes verschwimmt die Außenwelt zu einem undifferenzierten Horizont. Die konstruktivistische und symbolistische Version der Analyse von Vergemeinschaftungen gründet denn auch auf einer effektiven Kritik des Gemeinschaftskonzepts, das sich an der Chicago-Schule orientiert hatte. Insbesondere drei Gesichtspunkte werden kritisiert. Zunächst die Annahme von der Einfachheit und Übersichtlichkeit der /ace-/o-/ace-Gemeinschaften, die als gleichzeitig besonders vielfältig gelten. Tatsächlich aber sind sie lediglich anders, insofern als Personen in diese sozialen Beziehungen auf der Basis von personaler Identität eingebunden werden. Ähnliches gilt auch für den zweiten Aspekt, den angenommenen Egalitarismus der Gemeinschaften: diese sind tatsächlich alles andere als strukturell egalitär. Der Anschein der „Gleichheit" ist vielmehr ein Resultat von Abgrenzungsprozessen und die Gleichheit der Gemeinschaftsgenossen eher eine spezifische Verhaltensaufforderung denn eine besondere soziale Realität (Elwert 1989, S. 35). Häufiger ist die interne Differenzierung Bedingung der Wirksamkeit von Vergemeinschaftung. Schließlich ist, drittens, auch die in der Literatur behauptete Annahme eines gemeinschaftskonformen Handelns dahingehend kritisiert worden, als die strukturellen Vorgaben von Gemeinschaften oft übernommen, modifiziert und an ihre Notwendigkeiten angepaßt uminterpretiert werden.7 In einem Zeitalter der zunehmenden sozialen Unübersichtlichkeit und der soziokulturellen Entbettungen sowohl politischer als auch ökonomischer Abläufe erscheinen solche Gemeinschaftsbegriffe gerade auch den Wissenschaften der Modernität schlechthin - den Sozialwissenschaften - als mit dem besonderen Reiz des verlorenen, utopischen Paradieses ausgestattet. Jenseits dessen ist aber auch das Streben von Sozialwissenschaftlern zu konstatieren, mit ihrer Forschung gerade lokale Gemeinschaften zu ermöglichen: Darüber schreiben ist Ausdruck der Hoffnung, diese Orte als Gemeinschaftsorte zu rekonstituieren, also vom physischen Ort (wieder) hin zur sozialen Gemeinschaft zu gelangen. Von daher ist auch die symbo-
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lische Dimension des nunmehr genuin soziologischen Unterfangens zu verstehen: den (sozialen) Raum als den Gemeinschafts-Ort schlechthin wiederzugeben.8 Gemeinschaft als Kritik der Moderne: Entbettungen und das Versprechen der Geborgenheit Der Ausgangspunkt von nicht-territorialisierten Gemeinschaftsbegriffen ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Qualitäten und Handlungslogiken von sozialen Beziehungen. Eine der bekanntesten Verwendungsweisen in der (deutschen) Soziologie ist z.B. Tönnies' Gegenüberstellung von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" (Tönnies 1887). Dadurch aber, daß diese Dichotomie normativ aufgeladen formuliert wird, kann sie zwar als Kritik der Moderne gelesen, aber soziologisch kaum analytisch nützlich eingesetzt werden. Wenn „Gemeinschaft" verallgemeinert „vielfach als Inbegriff natürlicher und gesunder sozialer Verhältnisse schlechthin" verwendet wird, dann „erscheint die Entwicklung der modernen Gesellschaft notwendigerweise als Degeneration, als Abstieg" (Bausinger 1979, S. 94ff.). Demgegenüber entspricht Webers Betonung der relationalen Komponente durch die Betonung der affektiven Handlungsorientierung in sozialen Beziehungen® viel eher aktuellen Erklärungsinteressen. Gemeinschaft kennzeichnet so Formen menschlicher Soziabilität, die von den Beteiligten (im Sinne einer emischen Perspektive) als besonders eng und vertraut definiert werden und damit Grundlage einer affektiven Bindung, eines „Wir-Gefuhls" sein können. Damit ist Bezug genommen auf die Frage der besonderen „sozialen Integration" in Gemeinschaften, die auch durch Dürkheims Vorstellung vom „Zwang", den „soziale Tatsachen" auf die beteiligten Personen ausüben, nachhaltig beeinflußt worden ist. Dementsprechend weisen fast alle in dieser Weise orientierten Gemeinschaftsvorstellungen (besonders in der Sozialanthropologie) die drei Minimalkomponenten der (dichten) sozialen Interaktion, des gemeinsamen geographischen Areals und der gemeinsamen (normativen) Bande auf. Allerdings: mit der Ablösung vom Gedanken einer schlichten Korrelation zwischen Gemeinschaft und Lokalität werden auch alle Vorstellungen verabschiedet, die Gemeinschaftsbildung unmittelbar mit evtl. demographischer Dichte verknüpfen. Es wird notwendig, bei der Analyse von „Gemeinschaft" diejenigen Merkmale sozialer Kohäsion zu präzisieren, von denen tatsächlich eine entsprechende Wirkung ausgehen soll. Nimmt man freilich „Gemeinschaft" als besondere Gegebenheit (also: „essentialistisch"), dann ist man kaum in der Lage, sich von der Wirkung der allzu vereinfachenden Verknüpfung von Soziabilität und Territorialität zu lösen. Ein Beispiel dafür ist R. Redfields lange Zeit sehr einflußreiche Aufzählung von vier Merkmalen von „Gemeinschaft": - Kleinheit des sozialen Maßstabs, - Homogenität der Aktivitäten und mentalen Zustände der Mitglieder, - Bewußtsein der Differenz (Distinktion gegenüber anderen), - Autosuffizienz in der angemessenen Bedarfsdeckung über einen längeren Zeitraum hinweg (vgl. Redfield 1960, S. 4). Auf dieser Grundlage hat Redfield folk Community und urban society einander gegenübergestellt und die Auflösung der vier Grundmerkmale mit dem Ende der Möglichkeit von „Gemeinschaft" gleichgesetzt.
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Die Kritik an solchen Konzepten hat demgegenüber ein wichtiges Merkmal betont: Gemeinschaft ist Ergebnis einer Serie von Deutungen und kollektiven Sinnstiftungen, die sich Personen als gemeinsame Qualitäten in bestimmten, vergleichbaren Situationen selbst zuschreiben und die das Handeln dieser Mitglieder einer Gemeinschaft in diesen Situationen erklären oder auch rechtfertigen. Mit anderen Worten: Gemeinschaft ist eine spezifische Weise der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit mit einer verbindlichen Verhaltensanforderungsnorm, die in bestimmten Zusammenhängen genau den Zwang auf Personen ausüben kann, wie es Dürkheim eben von „sozialen Tatsachen" behauptet hat. Oder in den Worten von C. Geertz: „One is bound to one's kinsman, one's neighbour, one' s fellow believer, ipso facto as the result not merely of personal affection, practical necessity, common interest or incurred Obligation, but at least in great part by virtue of some unaccountable absolute impact attributed to the very tie itself." (1963, S. 109) Eine konstruktivistische Perspektive folgt der Kritik an der Annahme von „objektiven Gegebenheiten", die Berger und Luckmann (1969) mit ihrer These von der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit formuliert haben, und begreift die soziale (Um-)Welt als eine Wirklichkeit, die durch die Bedeutungszuweisungen und das Handeln der Akteure gebildet wird. Im Anschluß an F. Barths Arbeiten zu Ethnizität (1969) kann daher das Moment der Grenzziehung als ein entscheidendes Kriterium von Vergemeinschaftung gesehen werden. Gemeinschaften können folglich gelten als eine spezifische Form der Herstellung von Soziabilität, deren wichtigste Leistung darin besteht, daß sie zum einen Zugehörigkeit und Ausschluß klären (Klassifikation durch Inklusion und Exklusion) und damit soziale Grenzen setzen, die als überschaubar und kontrollierbar gelten. Damit ist auch eine zweite Leistung von Prozessen der Vergemeinschaftung angesprochen: Sie stiften Geborgenheit in Phasen und Situationen der Ungeborgenheit und der Unübersichtlichkeit. Diese Geborgenheit mag durchaus illusionär sein, ihre Wirkung wird dadurch aber nur - in näher zu klärender Weise - modifiziert. Insofern haben Gemeinschaften durchaus eine Chance, auf neuen Grundlagen rekonstituiert zu werden, und zwar je eher, desto weniger differenziert die Exklusions- bzw. Inklusionskriterien sind, die dabei zur Anwendung kommen. Das bedeutet nicht, daß Territorialität oder Lokalität nunmehr gänzlich obsolet sein müssen, sie können durchaus in bestimmter Weise wieder eingeführt und zum bevorzugten Bezugspunkt und Referenzrahmen von Gemeinschaftsbildungen werden, sie sind aber nicht deren Bedingung. Es müssen also die Kriterien begutachtet werden, nach denen Gemeinschaftsbildungen stattfinden. Erst dann wird klar, inwieweit hier Gemeinschaften tatsächlich mit welchen Mitteln von wem gebildet und Zugehörigkeiten festgelegt bzw. verhandelt werden können. Im einzelnen ist das eine empirische Frage und bestimmt den Gang und die Reichweite des theoretischen Arguments, das hier zur Erklärung eingesetzt werden kann. Wenn Gemeinschaft Bindungen schafft, die nicht nur als vorübergehend in Tauschsituationen auf bloßem materiellem Tauschinteresse oder in Herrschaftssituationen auf bloßer Gewaltandrohung basierend angesehen werden, dann ist eines der entscheidenden Resultate von Gemeinschaftsbildung die Herstellung von diffu-
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ser, auf die „ganze" Person bezogener Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Handelns. Die (relative) Zuverlässigkeit schafft damit auch ein Einverständnis, das latent jederzeit über die richtigen Codes aktiviert werden könnte. Damit ist auch die alte sozialwissenschaftliche Diskussion um die Polarität von „Gemeinschaft" vs. „Gesellschaft" neu formuliert, denn eine relational bestimmte Gemeinschaft befindet sich logischerweise in einem dauernden Veränderungsprozeß und enthält somit auch Bezüge zu sozialen Ungleichheiten, Herrschaftsverhältnissen usw. Vergemeinschaftung ist gerade unter den Bedingungen einer marktvermittelten, kapitalistischen Ökonomie und staatlichen Herrschaftsorganisation sowie weitgehender Entbettung und Anonymisierung von Sozialbeziehungen, der Umstrukturierung von Lebenswelten und damit einhergehender Unsicherheiten des Handelns nicht nur möglich, sondern eine weit verbreitete Strategie, um Überschaubarkeit und Berechenbarkeit im personalen und kollektiven Handlungsumfeld (neu) herzustellen, also in bestimmter Hinsicht eine „Wiedereinbettung" zu leisten - nur die Mittel und Namen sind andere, die bei diesem Konstruktionsprozess verwendet werden. Insoweit ist daher nicht nur „Gesellschaft", sondern auch „Gemeinschaft" ein Phänomen, das - wie schon einleitend in diesem Beitrag bemerkt - mit gesellschaftlicher Modernität zusammengeht. Es ist der dabei geforderte reflexive Umgang mit variablen Formen und Möglichkeiten der Soziabilität, der hier zum Ausdruck kommt, und „vormoderne" Gemeinschaftsbildung ist im strikten Sinne daher auch nicht zu konstatieren. Zwei Sachverhalte sind in diesem Zusammenhang bedeutsam und müssen daher gesondert aufgeführt werden, weil sie durchaus eine in der aktuellen Diskussion relevante Bezugnahme auf eine sozial verfaßte Territorialität beinhalten. Das ist zum einen die Debatte um die Chancen einer normativen Neubegründung moralisch fundierter politischer Gemeinschaften, die vor allem verknüpft ist mit der sog. Kommunitarismus-Diskussion. In Einzelheiten kann sie hier nicht erörtert werden, zumal sie nur in Teilen mit den Mitteln soziologischer Analyse geführt wird", ein kurzer beispielhafter Verweis auf die Argumente von P. Selznick (1994) muß daher genügen. Sie sind von Interesse, weil sie die Schwächen von Versuchen zeigen, essentialistische und konstruktivistische Positionen zu verschmelzen. Selznick sieht im Zuge der Durchsetzung von Modernität Desintegration und Dissonanz als Folge des Wandels von gesellschaftlichen moralischen Ordnungen auftreten. Sein normativ-deskriptives Modell sieht eine Rekonstitution über institutionell abgesicherte „primäre" Beziehungen als möglich an. Diese einfachen Replikationen des Typus vergemeinschafteten Handelns erfassen die „ganze" Person, weisen intrinsische Werte auf, gründen auf offenem Vertrauen und haben eine diffuse allgemeine Verpflichtung in einem Kontext von Zusammengehörigkeit und gemeinsamer Identität zur Folge. Das Ziel eines solchen Modells, das Selznick ganz explizit auf territorialisierte Sozialzusammenhänge - wie z. B. ländliche Gemeinden oder auch Städte bezogen sehen möchte, vertraut auf gezielte Bewegung von den (lokalen) Organisationen zu den entsprechenden Institutionen und von da zu „Gemeinschaft". Ziel ist die Schaffung einer besonderen „Körperschafts"-Kultur, das soziale Resultat eine governing Community. Eine solche Argumentation setzt sich derselben Kritik aus, die bereits in anderen Zusammenhängen am „Gemeinschafts"-Prinzip geübt worden ist. Problematisch ist insbesondere die normative Aufladung des „ganzheitlichen"
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Charakters „primärer" Beziehungen, denen gerade der Aufbau von sozialen Ordnungen anvertraut wird, die andererseits jedoch als emergente, kontextuell zerbrechliche und konfliktgeladene Gebilde anerkannt werden. Von Interesse ist also eher, was eine solche Modellargumentation ausdrückt: die Suche nach Gemeinschaft in einer noch territorial gebundenen Form. Der zweite Fall der Territorialisierung ist der des modernen Nationalstaates. Zwar ist er einerseits durchaus „gemeinschaftsfeindlich", insofern er an den genannten sozialen Entbettungsvorgängen maßgeblich beteiligt ist. Aber er verweist auf eine (freilich fiktive) Form von Vergemeinschaftung, deren Merkmal ist, daß sie allen anderen konkurrierenden Formen von Vergemeinschaftungsanspruch überlegen sein will und sie Beeinträchtigungen der territorial exklusiven Kontrolle in der Regel mit Gewaltaktionen beantwortet. Der moderne Nationalstaat ist Territorialstaat, und jede nicht vertragsgeregelte Beeinträchtigung seiner territorialen Exklusivität ist gleichzeitig Grund für den Zweifel an seiner Funktionsfahigkeit. Gleichzeitig ziehen diese beiden Beispiele in bestimmter Weise die Konsequenzen aus der Kritik an den alten Standardannahmen der ökologischen Herangehensweise: Sie verweisen auf die Konstruktion von kollektiven (Gemeinschafts-) Identitäten als Bedingung von Vergemeinschaftungen, die sich dadurch als „WirGruppen" (wie sie G. Elwert genannt hat12) verstehen, daß sie sich von anderen äquivalenten Gruppen abgrenzen. Je nach Inhalt und Begründungsweise kann das dann freilich durchaus ein konkreter territorialer Ort sein. Seit den Arbeiten von F. Barth (1969) wird das Moment der Grenzziehung als ein entscheidendes Kriterium von Vergemeinschaftung gesehen. Je nachdem, welches Kriterium herangezogen wird (z.B. ethnische Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, Teilhabe an bestimmten Ereignissen, Ritualen, Festen, etc.), begründet es nicht nur Zugangsberechtigungen (z.B. zu Ressourcen), sondern ist auch Anlaß und logischer Rahmen für Exklusionsvorgänge. In jedem Fall aber verdeutlicht das eine Perspektive, die moderne Gemeinschaftsstudien maßgebend reorientiert hat: Gemeinschaften sind in erster Linie zu verstehen und zu erklären auf der Basis von symbolischen Grenzziehungsprozessen, die sie voneinander unterscheiden helfen. Solche symbolischen Grenzen können sowohl von den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft als auch von denen anderer Gemeinschaften jeweils anders wahrgenommen und interpretiert werden, sie sind u.U. auch für untersuchende Sozialforscher nur schwer erkennbar. Solche symbolischen Grenzen sind aber in erster Linie in der Interaktion relevant und sie können, je nach der Ebene, auf der sie wirksam eingesetzt werden, durchaus von unterschiedlicher Durchschlagskraft und Distinktionswirksamkeit sein (Cohen 1985, S. 12ff.). Der Inhalt ist in jedem Fall aber ein gesellschaftlicher, denn diesseits der symbolisch gezogenen Grenzen der Gemeinschaft gelten andere Regeln der Soziabilität als jenseits dieser Grenzen: „Community, therefore, is where one learns and continues to practice how to ,be social'." (Ebenda, S. 15) Damit ist Gemeinschaft in erster Linie als ein kulturelles Phänomen definiert, und zwar eines, das von den Menschen in entsprechenden sozialen und kulturellen Prozessen symbolisch und sinnhaft konstruiert wird. Auf zwei Verschiebungen in der Logik der Theoriebildung ist freilich hinzuweisen. Mit der Betonimg der symbolischen Mittel der Grenzziehung ist die inhaltliche Sinndeutung, die die Gemein-
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schaftsmitglieder damit verbinden und einander bzw. anderen vermitteln wollen, noch nicht hinreichend bestimmt. Und, zweitens, der Sinn der Symbole bei den vergemeinschaftenden Grenzziehungen ist über Zeit veränderbar und muß bei der Erklärung in die jeweiligen Kontexte eingebettet werden. Folglich informiert auch die Beweglichkeit solcher symbolischer Grenzziehungsprozesse selbst, die ja durchaus Verhandlungssache sein kann, über die Abläufe beim Aufbau von Vergemeinschaftungen. Für die soziologische Untersuchung hat das eine wichtige Konsequenz. Die Dynamik von Vergemeinschaftung - im Gegensatz gerade auch zur statischen traditionellen Sichtweise - wird betont. Gemeinschaft wird so nicht von vorneherein als eine solidarische oder „integrierte" soziale Ganzheit begriffen, sondern das bleibt als eine (aber nur eine von mehreren) Möglichkeit offen. Cohen formuliert das so: „We propose that rather than thinking of Community as an integrating mechanism, it should be regarded instead as an aggregating device" (ebenda, S. 20, Hervorhebung i. O.). Dieser klassifizierende und damit die Konstruktion von sozialer Ordnung betonende Gemeinschaftsbegriff befreit endgültig von Territorialisierungstendenzen, hilft unzulässigen normativen Ballast zu vermeiden, eröffnet die Chance, multiple Vergemeinschaftungsweisen von Personen zu analysieren und erlaubt auch, Loyalitätskonflikte systematisch in die Erklärung und Analyse einzubauen - diese sind dann nicht mehr Rätsel, sondern stets vorhandene Möglichkeit. Allerdings führt die Betonung des aggregativen Charakters von Gemeinschaft dazu, daß die „Zwangs"Aspekte der Einbettungseffekte unterschätzt werden, die u.U. der Anlaß für Gemeinschaftsbildungen sein können. Es sind demzufolge Abläufe der (sozialökonomischen und soziopolitischen) Entbettung, die erneut auch und gerade symbolisch unterfutterte Prozesse der vergemeinschaftenden Abgrenzung nach sich ziehen: Ausbreitung und Vertiefung einer kapitalistischen Warenproduktion, korrelierende Proletarisierungsprozesse, staatlich angeleitete soziale Mobilisierung etc. Dann müssen Grenzen neu gezogen bzw. mit neuen Mitteln symbolisch gezogen werden. Da solche symbolischen Grenzen stets als relational anzusehen sind (d.h. sie eine Gemeinschaft zwar von einer anderen abgrenzen, aber eben nicht absolut sind), müssen sie auch immer wieder neu interpretiert und zelebriert werden. U.U. dadurch, daß eine Umkehrung der vorgeschriebenen Verhaltensweisen, eine Art„Karnevalisierung" (Bachtin) stattfindet. Normativ formulierte Praktiken können so zu grenzmarkierenden gemeinschaftlichen Symbolen werden: „The norm is the boundary: its reversal, a symbolic means of recognizing and stating it" (Cohen 1985, S. 69). Solche symbolischen Grenzziehungsprozesse sind durchaus ambivalent äußerlich simple Sachverhalte subsumieren u. U. sehr komplexe interne Differenzierungen.
Die Konstruktion politischer Vergemeinschaftungen: Ethnische Grenzen und nationale Solidaritäten Der Wandel von Gemeinschaft ist folglich die Regel, nicht ihre Konstanz und Stabilität. Da sich die grenzenmarkierenden symbolischen Sinngebungen laufend ver-
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ändern, können mit diesen wandernden Bedeutungen auch die Auswirkungen der mehrfach angesprochenen Einbettungsprozesse symbolisch bearbeitet werden. Sie sind übersetzbar in bekannte und somit auch kommunizierbare Deutungen. Damit eröffnen die symbolischen Qualitäten von Gemeinschaft auch Möglichkeiten, die nicht (unmittelbar) mit territorialen Gegebenheiten verknüpft sind. Zu den in den letzten Jahren unter diesem Blickwinkel am intensivsten diskutierten Zusammenhängen gehört die Bildung von ethnisch definierten Gemeinschaften. Unter dem Blickwinkel der klassischen Modemisierungstheorien waren ethnische Gemeinschaften stets Merkmale vormoderner („traditionaler") Sozialzustände und daher nicht nur Indikatoren von strukturellen Defiziten, sondern auch (bes. unter den Bedingungen einer „nachholenden Entwicklung") zum Verschwinden verurteilt. Solche essentialistisch orientierten Blickwinkel sind wenig geeignet, eine „Wiederbelebung" von ethnischen Etiketten zu erklären. Wendet man sich dagegen einer konstruktivistischen Perspektive und durch sie angeleiteten symboltheoretischen Positionen zu, so ergibt sich ein anderes Bild.13 Die Bildung ethnischer Gemeinschaften kann als eine Form von „Wir-GruppenProzessen" angesehen werden, in der „familienübergreifende und familienerfassende Gruppen, ... sich selbst eine (u.U. auch exklusive) kollektive Identität zusprechen. Dabei sind die Zuschreibungskriterien, die die Außengrenze setzen, wandelbar" (Elwert 1989, S. 33). Im Hinweis auf die so gebildete kollektive Identität ist nicht nur die Anbindung an die seit Barth (1969) im Vordergrund stehende Bedeutung der Grenzziehung wichtig, sondern auch der auf die Leistung der Identitätsbildung. Diese erfolgt im Wechselverhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung von als relevant angesehenen Sachverhalten durch die Gruppe selbst und durch andere Gruppen, von denen man sich absetzen will. Insofern ethnische Zuordnung also Klassifikation ist, enthält sie auch die Antwort auf die Frage nach dem Grund der Zuordnung: „Wir sind ..., weil wir ..." Kollektive Identität als laufendes Resultat der dialogischen Spiegelung in der Akzeptanz bzw. Ablehnung durch andere Gruppen ist somit eine konsequente Umsetzung eines an der Definitions- und Handlungsfähigkeit der Akteure in der Situation orientierten Konzepts. Ethnische kollektive Identität wird also einerseits geschaffen, definiert, sozial konstruiert. Andererseits kann sie auch zu unterschiedlichen Zwecken in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt werden. Insofern sind die so erfolgenden Gemeinschaftsbildungen nicht schicksalhaft, sondern soziales Produkt, aber sehr wohl mit u. U. schicksalhaften Konsequenzen, denn sie „fordern vom Einzelnen ein Verhalten, das seiner .Zugehörigkeit' zur ... Ethnie würdig ist" (Elwert 1989, S. 35). Hierin liegt das „gemeinschaftsbildende" Potential solcher Selbst- und Fremd-Askriptionen: Die nach außen gezogene Grenze der Gemeinschaft ist zum einen Gegenstand laufender Neuund Redefmitionsbemühungen, andererseits aber auch versehen mit der ständigen Selektion und kritischen Sichtung der nach innen gerichteten Verhaltenskonsequenzen. Diese selbstreflexiven Wirkungen können dabei unter der Erfahrung der zeitlichen Rückbindung durchaus modifiziert oder in einem dialogischen Verfahren mit Fremdgruppen reinterpretiert werden. Stets aber bleiben sie Verhandlungsfelder der kollektiven Identität, u.U. auch in der Weise, daß das Symbol der Differenz gesellschaftlich wichtiger als der dahinter vermutete Inhalt ist. Die Distinktionsleistung hat also weitreichende gesellschaftliche Folgen, denn sie trägt maßgeblich dazu bei,
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daß die Gemeinschaft als soziomentale Konstruktion „becomes an eloquent and collective emblem of their social selves" (Cohen 1985, S. 114). Vergemeinschaftung kann so auch Verwendung als Mittel politisch-strategischen Handelns finden, denn das In-Gang-Setzen der ethnisch definierten kulturellen Besonderheit durch Abgrenzung nach außen ist auch Stiftung einer Gemeinschaft ethnisch Gleicher nach innen: „Das Gemeinsame wird betont, um Menschen in eine .Gemeinschaft' einzuschließen, die es vorher so nicht gegeben hat. Die Konstruktion von Gemeinsamkeit und damit die Möglichkeit, eine positiv besetzte ethnische Identität zu wählen, kann durchaus dazu dienen, objektiv gegebene Unterschiede, ja selbst vorher subjektiv empfundene Differenzen zu überwinden." (Kößler/Schiel, 1995, S. 5) Eine der wichtigsten kulturellen Strategien ist in diesem Kontext die Hervorhebung bestimmter Sachverhalte als „Tradition", die damit dem Veralltäglichungsprozeß entrissen und für die damit auch der Lauf der (historischen) Zeit tendenziell außer Kraft gesetzt wird: „Traditionen" werden „gepflegt" und stiften über diese Praxis eben Gemeinschaft.14 Von besonderer Bedeutung ist dabei die politische Umsetzung solcher Gemeinschaftsstiftungen in eine spezifisch brisante und moderne Variante: den ethnischen Nationalismus (als soziale Bewegung) und dieser damit auch als Grundlage einer wieder reterritorialisierten Form von Gemeinschaft: den ethnisch begründeten Nationalstaat. Kößler/Schiel (1995, S. 9 ff.) haben drei Dimensionen von Ethnizität hervorgehoben, die ebenso entsprechende Dimensionen der Vergemeinschaftung kennzeichnen: einen horizontalen, einen vertikalen und einen nach Tiefe bzw. Intensität differenzierten Einsatz von (ethnischer) Vergemeinschaftung. Horizontale (ethnisch definierte) Gemeinschaftsbildung kann strategisch eingesetzt werden, um Ansprüche auf Rechte an Ressourcen, Revenuen oder Entscheidungspositionen (ideologisch) zu begründen. Eine vertikale Dimension von (ethnischer) Vergemeinschaftung kann als Mittel für soziale Schließung im Sinne der monopolistischen Nutzung von sozialen Chancen, etwa im Rahmen intergesellschaftlicher sozialer Differenzierung, eingesetzt werden. Und schließlich die ethnisch-kulturell definierte Vergemeinschaftung als Grundlage besonderer kultureller Kreativität: etwa die „Erfindung" bzw. die Wiederbelebung bestimmter Praktiken als „Tradition". Sie liefern die entsprechenden Anbindungspunkte, die es erlauben, einen der Gründe aufzuzeigen für die fortlaufende Neuproduktion von Gemeinschaftsbildungsprozessen gerade unter den Bedingungen sich radikalisierender Modernität im Sinne einer zunehmenden Entbettung der Ökonomie und einer Infragestellung scheinbarer Berechenbarkeiten. Vergemeinschaftung ist daher (auch) ein Mittel, um soziale Interaktion und manche Formen der Vergesellschaftung berechenbar zu machen und auf Dauer zu stellen. So können sie zum Konterkarieren der Folgen von (vor allem materiellen) Unsicherheiten verwendet werden. Gemeinschaftsbildung ist somit für manche soziale Milieus ein wichtiges Mittel der Bewältigung von als krisenhaft empfundenen Situationen. Bei der vertikalen Dimension ethnischer Vergemeinschaftung werden Momente der (kulturellen) sozialen Schichtung eingesetzt, die entweder innerhalb der Ge-
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meinschaft („Bewahrer" vs. „Verräter") oder im Verhältnis zu anderen (als ethnische oder nationale) Gemeinschaften und schließlich als zentrale vs. periphere Positionen innerhalb der Gemeinschaft angesehen werden. Gerade der letztere Fall des Ausspielens von zentralen vs. peripheren Momenten zeigt, daß Vergemeinschaftung unter diesen kulturellen Etiketten in ganz unterschiedlicher Weise und Stoßrichtung verwendet werden kann. Schließlich kann die Tiefen- bzw. Intensitätsdimension zum Anlaß für die Abspaltung neuer Gemeinschaften werden, wenn die Umsetzung bestimmter Kriterien so verschärft wird, daß nur neue Ausgrenzungen zur Lösung fuhren können. Schließlich sind auch Formen vorstellbar, in denen sich herausbildende unterschiedliche kulturelle Gemeinschaften in ein gegenseitiges Komplementärverhältnis innerhalb eines übergreifenden Kontextes gebracht werden. „Ethnisch" definierte regionale kulturelle Besonderheiten können so als Beitrag zu einer nationalen Kultur positiv eingebracht und als „kultureller Reichtum" (Kößler/Schiel 1995, S. 16) angesehen werden. Als Konfliktlösungsstrategie ist dieses Verfahren eine Alternative zur Strategie der abspaltenden Vergemeinschaftung. Alle diese Möglichkeiten der ethnischen Gemeinschaftsbildung verweisen auf ein zweites Beispiel der möglichen Ausformungen von Vergemeinschaftung als sozialem Konstruktionsprozeß: der Nationalstaat als Gemeinschaft. Diese Form ist in der unterstellten essentialistischen Logik prinzipiell zunächst das genaue Gegenbild zur Dominanz einer ethnischen Logik und Gemeinschaftsbegründung. Die Nation als Staat ist demnach anti-partikularistisch und kennt nur Staatsbürger. In der Regel konstituiert sie sich sehr oft aber als ein Gebilde, das von T. Schiel (Kößler/ Schiel 1996) treffend als „Super-Gemeinschaft" bezeichnet worden ist. Das heißt, sie ist zum einen reterritorialisiert und damit in der Eigensicht in die Nähe essentialistischer Gemeinschaftsbegriffe gerückt, zum anderen aber in einer entscheidenden Weise verstärkt worden: sie verfügt über die staatlichen (Zwangs-)Mittel, auch der Abgrenzung und der Ausgliederung, um die Schutz- und Monopolgarantien, die sie in der Konkurrenz zu anderen nationalstaatlichen Gemeinschaften beansprucht, auch durchsetzen zu können - nach innen und außen. Ihr Gemeinschaftscharakter als Verhaltensanforderung an die Mitglieder - nach innen also - bleibt prekär, allein schon wegen ihrer zahlenmäßigen Größe, die verhindert, daß das Mittel der (informellen) face-to-face-Bezieh\mg in irgendeiner Weise anders denn als fiktive Größe eingesetzt werden kann. Dies ist der Grund, weshalb die nationalstaatliche „Gemeinschaft" immer eine „imaginierte Gemeinschaft" bleiben muß. Dieser Aspekt ist seit der Begriffsprägung durch Anderson (1983) zunehmend häufiger verwendet worden zur Kennzeichnung aller möglichen Formen von Vergemeinschaftung. Hier ist er wichtig, weil er auf einen konsequenten weiteren Schritt innerhalb der konstruktivistischen Tradition verweist: daß nämlich gerade nationale „Gemeinschaften" ihren Anspruch auf Grenzziehung auf der Grundlage von mental vorgestellten Kriterien formulieren können und dabei doch nichts von ihrer Effizienz einbüßen, u.U. sogar noch viel deutlicher auf ihre Exklusivität der Mittel pochen müssen. Insofern die Merkmale, auf die sie sich gründen, „erfunden" sind bzw. als solche gelten können, ist es wichtig, daraufhinzuweisen, daß das nicht bedeutet, sie seien bar jeden faktischen Fundaments - sie sind weder eingebildet, noch bloß erfunden. Im Gegenteil: der „Super-Gemeinschaft" des Nationalstaates steht nicht nur ein machtvollerer Apparat als jeder anderen Vergemeinschaftung zur
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Verfügung, er ist auch anerkanntermaßen ein zentraler Akteur in der Herstellung von Modernität und damit auch selbst ein Produzent von Gemeinschaften neuer Art in seinen eigenen Grenzen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich so recht schnell heraus, daß gerade in der modernen Welt die meisten Gemeinschaften, mit ganz wenigen Ausnahmen, imaginiert sind. Entscheidend sind die Art wie und die Kriterien, mit deren Hilfe sie imaginiert werden. Auf sie beziehen sich dann auch die Mittel, anhand derer sie durchgesetzt werden. Mit dem Merkmal der Imagination ist darüber hinaus aber noch eine weitere Dimension der Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen angedeutet, die mit neuesten Richtungen der Theoriebildung verknüpft ist: die der Entgrenzung und Verflüssigung von Sozialformen, damit eben auch von Vergemeinschaftungen.
Bewegliche Grenzen: Imagination und die Kulturalisierung der Gemeinschaften Das Theorem von den „imaginierten Gemeinschaften" lenkt den Blick erneut auf den sozialen Kontext und den Verwendungszusammenhang von soziologischen Begriffen. Im Fall der „Gemeinschaft" hat sich dieser erkennbar verändert. Dies hängt zusammen mit einem Phänomen, das prinzipiell als „gemeinschaftsfeindlich" angesehen werden könnte: der Globalisierung. Es muß darauf hingewiesen werden15, daß Globalisierung die Erklärungsrelevanz mancher soziologischer Schlüsseltermini in Frage stellt. Vor allem der Begriff „Gesellschaft" in seiner nationalstaatlich verfaßten logischen Modellierung ist davon betroffen, insofern Globalisierung (zumindest in einer möglichen Sichtweise) als konsequente Radikalisierung der Wirkungen einer Form der Modernisierung eine weltweite Intensivierung transnationaler sozialer Beziehungen beinhaltet und damit notwendig Zeit-RaumParameter nachhaltig verändert.16 Damit ist nicht nur die besondere Problematik der Untersuchung von einzelnen lokalen Gemeinschaften nochmals aufgeworfen, sondern auch die Frage nach der Wechselwirkung von Globalisierung und soziokultureller Konstruktion von Gemeinschaft in einen erweiterten Rahmen gestellt. Zunächst ist die Zugangsweise über Andersons Konzept der „imaginierten Gemeinschaft" deutlich verbreitert, denn Globalisierungsprozesse können zur Folge haben, daß Vergemeinschaftungen sich in Bezügen entfalten, deren virtuelle Raumparameter sich in einer bisher nicht stattgehabten Weise verändern. Auf drei Zusammenhänge soll hier knapp hingewiesen werden: die Konstitution neuer, nicht territorialisierter Vergemeinschaftungsweisen; die Herausbildung neuer Grenzziehungen im Wechselspiel von lokalen und globalen Zusammenhängen; die Kulturalisierung von Gemeinschaftskonzepten. Neue, nicht bzw. anders territorialisierte Vergemeinschaftungen haben sich im Zuge der Wirkungen von Entbettungsprozessen, die bereits seit den ersten Phasen der subordinierten Modernisierungsform17 in der Kolonialzeit eingesetzt hatten, herausgebildet. Am deutlichsten ist das erkennbar durch die Effekte von Migrationsbewegungen, die in unfreier Form auch an der Ethnogenese durch Sklavereienklaven beteiligt gewesen sind. Diese haben häufig zur Entstehung von systematisch nicht nationalgesellschaftlich gebundenen Vergemeinschaftungen geführt, die sich
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explizit als sich auf einer intermediären Ebene bewegend begreifen. Es ist entscheidend dabei, daß diese emische Sichtweise eben Fluktuation als Prinzip in den Vordergrund stellt, eine temporäre Lokalisierung dadurch aber nicht ausgeschlossen wird. Politische und sonstige Flüchtlinge, Migranten, Vertriebene, aber auch eine zunehmende Anzahl von nicht lokalisierten Professionellen und Spezialisten bilden einen intermediären (z.T. unterschichtenden, z.T. überwölbenden) Sozialhorizont. Hier finden wiederum Wir-Gruppen-Prozesse statt, die eine (relative) Übersichtlichkeit und partielle Wiedereinbettung von Handlungszusammenhängen gestatten, Sicherheit durch Erwartungskonsistenz vermitteln usw. In mancher Hinsicht handelt es sich dabei um Abläufe, die in der Sozialanthropologie schon seit langem bekannt sind: Prozesse der Ethnogenese haben sich schon unzählige Male vollzogen, in modifizierter Weise wird hier auf durch Globalisierung bewirkte analoge Prozesse hingewiesen. Gerade im Kontext von Migrationseffekten bilden sich Gemeinschaften heraus, deren auch territoriale Bezüge jedoch manchmal einen imaginierten Charakter haben - sie beziehen sich auf fiktive Räume und das vor allem deswegen, weil diese Gemeinschaften nur so lange für ihre Mitglieder handlungsrelevant sind, als diese in eine eben nicht-territorialisierte Existenz eingebunden sind. Aber es sind nicht nur „neue Ethnizitäten" (wie z.B. die Gemeinschaften von westindischen Migranten in Großbritannien, die häufiger untersucht worden sind), die hier von Belang sind. Von besonderem Interesse dürfte das Konzept der diasporischen Gemeinschaft sein, das von Clifford (1994), Brah (1996), Appadurai (1995), Hannerz (1992, S. 246ff.) und anderen in die Diskussion eingeführt worden ist. Solche Diaspora-Gemeinschaften sind gerade in der Sozialanthropologie schon häufiger bekannt gewesen, nur hat die Soziologie sie erst verspätet richtig zur Kenntnis genommen. Dabei sind es gerade die Langzeitwirkungen von historischen Ereignissen, die zu neuen Vergemeinschaftungsweisen führen: manche Gesellschaften sind z.B. tatsächlich „Gesellschaften" von Dauer-Migranten. So etwa sind Filipinos von den USA über den Nahen Osten, Südostasien und Westeuropa überall auf der Welt in ganz unterschiedlichen Bereichen und Tätigkeiten zu finden, ebenso wie sich die „alten" Diasporas z.B. der Übersee-Chinesen in ganz neuen Weisen rekonstituieren, in dem Maße, in dem sich nicht nur die Herkunftsgesellschaften ihrer Vorväter, sondern auch die transnationalen Beziehungen modifizieren. Im Wechselspiel von lokalen und globalen Zusammenhängen bilden sich dabei typischerweise neue Weisen der Abgrenzung der jeweiligen Vergemeinschaftung gegenüber anderen und auch neue Weisen und Inhalte der Regeldurchsetzimg nach innen aus. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Globalisierung nicht einen Verzicht auf jegliche Verräumlichung bedeutet. Vielmehr bilden sich neue Sozialräume heraus, u.U. eben hybride Räume, die auch neue Weisen der Vergemeinschaftung in einem imaginierten, aber sozial nicht weniger verbindlichen und lokal durchaus wirksamen Kontext beinhalten können. Eine gute Veranschaulichung bieten Abläufe, die mit der Herausbildung und lokal gebundenen Umsetzung von Menschenrechtsdiskursen zusammenhängen. Als abstrakte Normierung sind solche Diskurse zwar typischerweise globalisiert, in ihrer Umsetzung jedoch hochgradig territorialisiert, und soweit sie z.B. die Arbeit von einzelnen Menschenrechtsgruppen in einem konkreten Kontext begleiten, sind sie Voraussetzung für eine Relokalisierung auf der Basis transnationaler Verknüpfungen. Globalisierung
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wird hier zur Bedingung von neuen territorialisierten Vergemeinschaftungen, neuen Regeln nach innen und auch neuen Abgrenzungsweisen nach außen, die im jeweiligen lokalen Zusammenhang handlungswirksam werden können.18 Schließlich muß noch auf die Dimension der Kulturalisierung des Gemeinschaftsbegriffs hingewiesen werden. Nachdem kulturelle Momente (insbesondere als Annahme einer kulturellen Homogenität) schon in essentialistischen Gemeinschaftskonzepten eine wichtige Rolle gespielt hatten, sind sie auch in neueren Vorstellungen wichtig, allerdings nicht mehr in einer vorwiegend normativen Verwendung, sondern durchaus kongenial zur konstruktivistischen Wendung der Gemeinschaftsvorstellungen selbst. Kultur bestimmt sich dann als laufende Produktion von Sinngebungs- und Deutungsgeflechten, die symbolischer Ausdruck sozialer Prozesse der Konstitution und Rekonstitution von Bedeutungszuweisungen durch die jeweils beteiligten sozialen Akteure sind. Globalisierungsprozesse bewirken Neuverortungen und Verflüssigungen der Sozialbezüge, und damit modifiziert sich ständig auch das kulturelle Geflecht, in dem sich Lokalisierungen ausdrücken können.19 Da eine globalisierte Warenwelt soziale Differenzierung und Identitätskonstitution (also: Wir-Gruppen-Prozesse) auch kulturell an unterschiedlichen Zugangsweisen zur Warenproduktion festmacht, bilden sich Gemeinschaften auch an unterschiedlichen Formen der Demonstration solcher Zugänge aus.20 Eine sehr wichtige Rolle kommt hier der Verwendung von Informationstechnologien zu. Appadurai (1990) hat darauf aufmerksam gemacht, wie im Zusammenhang mit der Verwendung von neuen, globalen Kommunikationstechnologien „virtuelle" Gemeinschaften gebildet werden, die durchaus lokalisiert sind, aber eben nur im Verhältnis zu solchen auf eine neue Weise imaginierten soziokulturellen Kontexten.21 Sehr viel ausführlicher hat M. Castells (1997) untersucht, wie sich Globalisierung in der Herstellung neuer communal landscapes niederschlägt, die sich als alternative Weisen der Sinnstiftung innerhalb globaler Macht- und Reichtumsnetzwerke darstellen. Ihre (Abgrenzungs-)Funktion ist vornehmlich defensiv, da sie (wie alle Vergemeinschaftungen) als soziale Orte der Produktion von Sicherheit und des Solidaritätsversprechens auftreten. Ihre Selbstorganisation erfolgt um bestimmte Werte herum, die in kulturelle Codes der Selbstidentifikation gefaßt sind: die Gemeinschaft der Gläubigen, die Symbolkraft der nationalen Gemeinschaft und schließlich die soziokulturelle Geographie der (lebensweltlichen) Lokalität.22 Gerade die Möglichkeiten, die neue Informationstechnologien im globalisierten Zusammenhang von fluktuierenden Bedeutungen bieten, schaffen auch neue Chancen der Vergemeinschaftung. Da nun eine Vervielfältigung von Abgrenzungsmöglichkeiten in z.T. ganz unterschiedlichen imaginierten Sozialräumen besteht, findet auch eine Vervielfältigung von sich selbst definierenden Gemeinschaften statt. Da zur Selbstdefinition (nach innen) von Regeln konsistenten Handelns auch entsprechende Abgrenzungen notwendig sind, finden im Kontext der soziokulturellen Gestaltung auch Lokalisierungsvorgänge statt, die noch vor kurzer Zeit wenig Chancen gehabt hätten, Anerkennung zu finden. So kann es dazu kommen, daß ethnische Gemeinschaften gegenüber „ihren" nationalen Regierungen Forderungen formulieren können, weil sie von anderen ethnischen Gemeinschaften in einem globalen Forum aufgenommen und damit anerkannt worden sind.23
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Gemeinschaftsvorstellungen und die Rolle der Sozialwissenschaften Nicht zuletzt sollte zum Abschluß auch darauf verwiesen werden, daß eine Dimension bisher nicht explizit diskutiert worden ist, die jedoch latent alle diese Auseinandersetzungen begleitet: Maßgeblich involviert in Prozesse der Vergemeinschaftung sind die Sozialwissenschaftler, und zwar von der Prägung der Begrifflichkeit bis hin zur aktiven Teilhabe an der Produktion von Gemeinschaftsvorstellungen in der Praxis. Diese Teilhabe hat z.T. die Form der Parteinahme für die Aktivitäten von (kolonialen) Verwaltungen angenommen, z.T. ist sie Grundlage für den Einsatz von Sozialwissenschaftlern in Programmen des Community development gewesen. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, daß Sozialwissenschaftler durch eine bewußte Praxis auch in - meist politisch ausgerichtete - Schöpfungen von (ethnischen, lokalen, usw.) „Gemeinschaften" involviert waren, z.B. in Lateinamerika oder auch in Südostasien. Es gehört zu den Merkmalen sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion, daß das durch sie verbreitete Wissen und die verwendete Begrifflichkeit in besonderer Weise dazu geeignet sind, wieder für die gezielte Gestaltung von sozialen Verhältnissen, zur Interessendurchsetzung und generell zur Interpretation und Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit verwendet zu werden, und gerade Gemeinschaftsbegriffe haben dieses Schicksal erfahren. Das gilt auch für den wichtigen analytischen Fortschritt, den die konstruktivistische Fassung der Gemeinschaftskonzeptionen bedeutet hat. Sie sind einerseits eingesetzt worden in Umkehrungen der Perspektiven und für eine kritische Rückwendung zur Dekonstruktion von Objektivitätsansprüchen der Sozialwissenschaften, die sich niedergeschlagen hatten in einer verobjektivierten, exogenen Sicht auf die „Gemeinschaft". Andererseits sind sie im Kontext politischen Handelns reflexiv umgesetzt worden, und gerade die europäische Szenerie ist vielfältig besetzt von gelungenen und mißlungenen Versuchen, Forschungsresultate selektiv instrumenteil umzusetzen in durchsetzungsföhige Rahmungen, die es erlauben, Loyalitätseinforderungen zu legitimieren (vgl. Basken, „Kelten", usw.). Gerade der Untersuchungsbereich der Konstruktion von kollektiven Identitäten ist in vielfacher Hinsicht stark geprägt vom Kriterium der „imaginierten" Gemeinschaft. Zum Teil ist er in deutlicher Verkennung seiner theoretischen Verortung mißverstanden worden als Beleg für die Delegitimation von Vergemeinschaftungsprozessen als „bloße Imagination", als „Erfindung" ohne „wirkliche" Grundlagen. Teilweise hat aber auch die eng damit verknüpfte Dimension der „erfundenen Traditionen" Soziologen und Sozialanthropologen Gelegenheit gegeben, als „Dekonstrukteure" von gesellschaftlichen Wirklichkeiten aufzutreten. Das hat zum einen nachhaltig dazu beigetragen, diese sozialen Prozesse insgesamt als politische erkennbar werden zu lassen. Zum anderen hat das auch zu einer selbstkritischen Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen sozialwissenschaftlicher Wissensverwendung geführt.24
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Anmerkungen 1
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In der deutschen Begriffsgeschichte haftet dem Wort eine zusätzliche politische Belastung an („Volksgemeinschaft"), die eine weitere Verwendungserschwernis bedeutet (vgl. dazu Holz 1998). Käsler (1988, S. 412) spricht das im Zusammenhang mit dem verspäteten Rezeptionserfolg von Tönnies' Werk gerade über den Titel an: „ ... einzig dessen Titel lieferte die Parolen für jene Versuche, aus einer als .Identitätskrise' empfundenen mentalen und emotionalen Notlage, .Visionen' zu entwickeln, die jedoch nicht nach vorae blickten, sondern sich auf eine idealisierte und harmonisierte Vergangenheit bezogen. .Gemeinschaft' stand dabei für alles Gute, was man zu verlieren fürchtete, .Gesellschaft' war alles, was Angst machte und was man nicht haben wollte." Polanyi (1979, S.209-244 ff.) spricht hier von einer „Entbettung" und Giddens (1996), S. 33ff.) folgt ihm in einem erweiterten Sinn. Beispielhaft seien hier die Arbeiten von Martindale/Hanson 1969, Mclver 1924 oder auch Warren 1963 genannt. Dank der Lehrtätigkeit von A. R. Radcliffe-Brown in Chicago (1931-37) wirkt diese Tradition auch in der nordamerikanischen cultural anthropology, die bis dahin eher von einer kulturellen Homogenität von „Gemeinschaft" ausgegangen war, und hat dort eine Soziologisierung der Gemeinschaftsperspektive zur Folge. Vgl. dazu auch die kritischen Beiträge in Jeggle u.a. 1986, sowie zu Hintergrundaspekten Köstlin 1967. Vgl. dazu Cohen 1985, S. 28fT. Vgl. dazu Selznick 1994, aber beispielhaft auch Pestello u.a. 1996. .„Vergemeinschaftung' soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns ... auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht" (Weber 1964, S. 29, Hervorhebung i. O). Vgl. dazu Redfield 1960, S. 4. Vgl. Überblicksbeitrag Honneth 1993 und zu einer entwicklungssoziologischen Umsetzung Neubert in diesem Band. Elwert 1989 schließt hier an eine soziologische Theorietradition an, die zurückgeht bis auf die Begriffsprägung der primary group durch Charles Cooley (1909). Vgl. Waldmann/Elwert 1989 und Kößler/Schiel 1994. Vgl. dazu die inzwischen klassische Studie von Hobsbawm/Ranger (Hg.) 1983, insbesondere die Einleitung von E. Hobsbawm: Inventing Traditions, S. 1-14. Vgl. zusammenfassend zur sozialwissenschaftlichen Diskussion um den Globalisierungsbegriff Waters 1995. „Globalization is a historically contingent outcome of numerous interacting elements ... a comprehensive transformation which has only recently gathered full momentum. It occurs when the individual actor has the chance to act with reference to other people wherever they may be located on the globe and takes the globe as a meaningful frame of reference ... eco-
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nomic, technological, political and cultural interactive effects have to be fulfilled. Globalization is the inscription of these in social relations." (Albrow u.a. 1994, S. 372). Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Kößler 1998, S. 140ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Heiko Schräder in diesem Band. Vgl. dazu zahlreiche Beiträge in Assmann/ Friesel998. Vgl. Friedman 1994, S. 102ff. Die Bildung solcher „virtuellen" Vergemeinschaftungen ist im übrigen auch das Thema der Konstitution von sog. „Praxisgemeinschaften", etwa im Zusammenhang mit Sprache (vgl. Holmes u.a. 1999). Vgl. dazu Castells 1997, S. 6-109. Durch die Vorstellung von den landscapes sind diese Überlegungen unmittelbar verknüpft mit der kulturtheoretischen Argumentation von Appadurai (1990) bzw. den kulturgeographischen Vorstellungen von Soja (1989) zur Konstitution von Identitätsräumen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Nils Zurawski in diesem Band. Vgl. dazu v.a. Briggs 1996, S. 456ff. und Lewis 1999.
Die Territorialisierung des Dorfes (Nordwest-Zambia, seit ca. 1945) Achim v.Oppen
Afrikanische Geschichte wird vielfach noch immer als ein Prozeß schrittweise wachsender Reichweite und Komplexität der soziopolitischen Einheiten gesehen. „Das D o r f erscheint dabei verbreitet als Inbegriff kleinräumiger Geschlossenheit und traditionaler Gemeinschaft und somit als archetypischer Ausgangspunkt dieses enlargement of scale (Wilson/Wilson 1968). Erst durch „moderne", also (post-) koloniale Einflüsse von Migration, Marktintegration und Machtausübung, so dieses Bild, seien die lokalen Begrenzungen aufgebrochen und erweitert worden. Allerdings haben dörfliche oder lokale Einheiten inzwischen vielfach eine Aufwertung erfahren, die sie als Hort basisorientierten, gemeinschaftlichen (Aus-)Handlungsvermögens1 und geradezu als Ausweg aus den Krisen des afrikanischen Nationalstaats präsentiert (z.B. Ela 1982, Davidson 1992). In diesem Zusammenhang ist mehrfach darauf verwiesen worden, daß die afrikanische Geschichte nie linear verlaufen ist, sondern daß „Dörfer" und „Reiche" alternative, oftmals auch komplementäre Optionen gesellschaftlicher Entwicklung bildeten, die jeweils ihr spezifisches Potential hatten (z.B. Omer-Cooper 1972; vgl. auch Kopytoff 1987). Ich möchte diese Revision noch etwas weitertreiben und zeigen, daß die Deutung afrikanischer Siedlungsräume als abgeschlossene „lokale Gemeinschaften" kaum je historische Realität, sondern vielmehr ein soziales Projekt war, das im Laufe des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse erhielt, wobei freilich die Siedlungsgeschichte vielfach als Projektionsfläche benutzt wurde. Dieses Projekt entfaltete sich, bei genauerem Zusehen, als eine Kombination zweier sehr unterschiedlicher Konzeptionen von Lokalität: des oben bereits angedeuteten Modells der „lokalen Gemeinschaft" und der Idee des „lokalisierten Staates". Der gemeinsame Nenner dieser beiden Denkmodelle war und ist ihre territoriale Tendenz, d.h. ihre Neigung zur Vorstellung flächenhafter Räume, die durch symbolische Markierungen kontinuierlich voneinander abgegrenzt und einheitlicher Kontrolle unterworfen sind (vgl. Sack 1986: 21 ff.). Nachdem ich an anderer Stelle die Vorstellung der bodenständigen Dorfgemeinde als Mikrokosmos des kolonialen und dann nationalen Staates eingehender besprochen habe (v.Oppen 1996), möchte ich hier der Frage nachgehen, wie dieses Projekt, in Wechselwirkung mit älteren, indigenen Vorstellungen, in lokaler Praxis umgesetzt, verarbeitet oder auch konterkariert wurde. Diese Fragestellung erfordert Fallstudien im Mikrobereich. Das empirische Material, auf das sich meine Untersuchung stützt, konnte ich in den vergangenen Jahren im Kabompo-Distrikt in der Nordwestecke des heutigen Zambia sammeln (vgl. Karte l). 2
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Achim
Karte 1
v.Oppen
Nordwest-Zambia
ANGOLA
CONGO/ ZAIRE
¿.v\ V.
Ol
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Kabompo District
N
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Mundanya Resettlement Area
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• Lusaka
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NAMIBIA
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ZIMBABWE
Südafrika Hauptverb. Straße Fluß, Strom Distriktgrenze Staatsgrenze
M = Manyinga K = Kabompo Z = Zambezi/ Baiovale
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200 Km Graphik: ZMCV V. Ovaeft
Die Territorialisierung des Dorfes
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Der Vorteil war hier, daß Versuche der Territorialisierung des Dorfes erst relativ spät einsetzten und daher archivarische Dokumentation und persönliche Erinnerung der Beteiligten gut sind. Außerdem ist in dieser abgelegenen Region die Wechselbeziehung zwischen territorialen und nicht-territorialen Konzeptualisierungen des sozialen Raums deutlicher sichtbar als anderswo. Der Kabompo-Distrikt selbst wurde erst spät (1948) etabliert, und zwar von vornherein als Development Area. Dennoch dauerte es acht Jahre, bis 1956 im äußersten Osten des Distrikts, jenseits des oberen Kabompo, das erste größere Entwicklungsvorhaben in Gang kam, nämlich die Umsiedlung älterer Dörfer aus der Gegend an die damals neue Hauptstraße zum Provinzhauptort und zu den Bergbaustädten des Kupfergürtels. Dieses sogenannte Mundanya Resettlement Scheme - benannt nach dem Dorf, an dem die Straße den Kabompo überquerte - versuchte erstmals, dörfliche Siedlungen als territoriale Einheiten mit präzisen Grenzen zu definieren. Das Vorhaben scheiterte damals weitgehend. Schon wenig später waren die mühevoll markierten Dorfgrenzen bereits vom Busch überwuchert und fast vergessen. Um so überraschender war es für mich bei Besuchen 1996 und 1998, 40 Jahre später, daß Lage und Bedeutung dieser spätkolonialen Grenzen heute Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Dörfern sind. Daraus ergab sich die Frage, was um und vor allem nach 1956 im Mundanya-Gebiet geschehen ist. Dafür ist jedoch zunächst eine Rückblende auf die Zeit vor dem Umsiedlungsprojekt notwendig.
Mundanya vor 1956 Vorstudien zum Straßenbau und Siedlungsprojekt ergaben Mitte der fünfziger Jahre, daß in dem ins Auge gefaßten Gebiet am Ostufer des oberen Kabompo von etwa 27 Straßenkilometem Länge ganze sieben administrativ registrierte „Dörfer" mit insgesamt etwa 500 Einwohnern lagen. Sie umfaßten jeweils mehrere verstreute Weiler, die unter der oft eher nominellen Autorität eines anerkannten village headman standen. 3 Im indigenen Verständnis sind allerdings diese Weiler die eigentlichen Siedlungseinheiten (membo, wörtlich „Heimstätten"). 4 Um die Mitte des 20. Jahrhunderts bestanden diese jeweils aus einer kleinen Zahl kreisförmig angeordneter Häuser, die von einer Gruppe matrilinearer Verwandter, deren Ehefrauen, Abhängigen und wenigen anderen bewohnt waren. 5 Erst seit den dreißiger Jahren hatten sich in diesem Gebiet, das eine „Grenzwildnis" zwischen mehreren Distrikten und chiefdoms bildete, dauerhafte Siedlungen entwickelt. Aus der Vogelflugperspektive erscheinen abgelegene dörfliche Siedlungen traditioneller Art als kleine, inselartige Lichtungen, die sich optisch relativ scharf vom umgebenden Trockenwald abheben. Dies verweist auf ein Element territorialer Abschließung von „Dorf' (limbo) und „Busch" {musenge), das in emischen Diskursen tatsächlich eine große Rolle spielt. Bei näherem Zusehen zeigt es sich freilich, daß diese „Dörfer" im indigenen Verständnis eher konzentrisch, von der Mitte her gedacht waren als von ihren Rändern. Auf dem offenen Platz im Zentrum des Dorfes standen regelmäßig das Schutzdach (zango), unter dem die Männer sich versammelten, die Küchenhütten als Orte der Frauen, und der muyomboSchrein, ein lebender Baum, an dem die Geister der Ahnen angerufen und an wel-
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Achim v.Oppen
chem ihnen Opfer dargebracht wurden. All diese öffentlichen Orte und Praktiken verbanden die Bewohner eines solchen „Dorfes" nicht nur untereinander, sondern verknüpften sie zugleich mit der Außenwelt. 6 Bezeichnenderweise zählten im emischen Verständnis der Zeit zu den „Eignern" (venyembo), d.h. vollberechtigten Mitgliedern eines limbo, nur matrilineare Verwandte des Ältesten - im Kern seine Mutter, Geschwister (von derselben Mutter) und Neffen/Nichten. Darunter wurden aber auch solche gerechnet, die das Dorf längst verlassen hatten. Umgekehrt gehörte ein Teil der physisch anwesenden Dorfbewohner, insbesondere die Verschwägerten (Ehefrauen und deren Verwandte) im Prinzip zur Kategorie der vangeji („Fremde", zugleich „Gäste") (White 1960: lf.). Räumliche und soziale Lokalität waren also nicht kongruent, aber beide bildeten jeweils einen Fokus für netzwerkartige Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen, die erhebliche Entfernungen überspannen konnten. Diese Vorstellung des Dorfes als Knotenpunkt im wesentlichen linienhafter Beziehungen anstatt als geschlossenes Territorium spiegelte auch das physischgeographische Landschaftsbild wider: Die Siedlungen waren typischerweise perlenschnurartig entlang der zahlreichen Wasserläufe aufgereiht, während die trockenen waldigen Rücken dazwischen meist unbesiedelt blieben. Entlang dieser Siedlungsbänder verliefen die wichtigsten Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen. Eher radialer Art waren die Beziehungslinien, die die Siedlungen mit ihrer physischen Umwelt verknüpften. Der umgebende musenge (auch „Wildnis") gehörte zwar grundsätzlich nicht zum „öffentlichen" Raum des Dorfes, war aber Ziel zahlreicher individueller Bestrebungen. Hierhin legten z.B. die einzelnen Bauern, jeweils in einer bestimmten „Richtung" (mutamba), ihre Felder. Diese Vorstellung schrittweise vorrückender effektiver Nutzung, durch die allein Besitzansprüche geltend gemacht werden konnten, wird übrigens in dem emischen Wort für „Grenze" (ngiza) reflektiert, das sinngemäß bezeichnet „bis wohin man kommt" - etwa im Sinne der englisch-amerikanischen frontier. Die dahinterliegende Welt der (noch) unkultivierten Wildnis wurde nicht so sehr als feindliche „Un-Ordnung", sondern vielmehr als komplementäre Gegen-Ordnung gesehen. Sie war höchst ambivalent, voller Gefahren, aber auch Verheißungen und erlaubte vielfaltige ökonomische und rituelle Betätigungen. Die Autorität des Dorfaltesten begründet sich, zumindest im 20. Jahrhundert, in erster Linie durch Verweis auf eine Abstammung vom Dorfgründer, dem Erstsiedler, der den Ort erstmals „in Kultur genommen" hatte und dadurch zum „Eigner des Landes" geworden war. Von ihm erbt der Dorfälteste auch die Bezeichnung mwenyalimbo („Dorfeigner" in einem zweiten, mehr autoritativen Sinne) und einen Personennamen, den er als Amtstitel trägt und der zugleich der Name des Dorfes ist. Das Erbe des Dorfgründers bringt vor allem eine Mittlerfiinktion gegenüber der Umwelt und unter den („nachgefolgten") Siedlern mit sich. Zumindest in der Vergangenheit war entscheidend für das persönliche Ansehen eines Dorfältesten, wie erfolgreich er beim Management dieser symbolisch um die Dorfmitte (s.o.) geknüpften Beziehungen war, sowohl im Hinblick auf deren Aufbau und Pflege als auch durch Abwehr von Gefahren (vgl. Gluckman/Mitchell/Bames 1949). Seit vorkolonialer Zeit gab es allerdings in dieser Region Versuche seitens lokaler Führer, aus ihren eher vermittelnden Positionen heraus weitergehende Machtan-
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Sprüche abzuleiten. Typischerweise versuchten sie dabei, netzwerkartige, linienhafte Beziehungen hierarchisch umzudeuten. So wurden nachfolgende Siedler als „Gefolgsleute" definiert und die räumliche Nähe oder Distanz ihrer Ansiedlung vom Dorfältesten als Gradmesser ihrer Loyalität verstanden. Dieser Loyalitätsanspruch wurde auch auf separate Siedlungen ausgedehnt, die sich in der Nachbarschaft der ersten Siedlung niederließen. Dabei spielten auch die physischgeographischen Strukturlinien eine Rolle. Standorte an den Unterläufen der Flüsse und Bäche, im offeneren Gelände, galten als mächtiger, d.h. verteidigungsstärker, wohlhabender und bevölkerungsreicher, während die waldreichen, mühsamer zu kultivierenden Oberläufe den Schwächeren und Flüchtlingen zugeordnet wurden.7 Das alte Bestreben, solche Macht- und Prestigegefalle in dauerhafte Abhängigkeitsverhältnisse umzusetzen, war allerdings immer schwer zu realisieren; das offene, sehr dünn besiedelte Land bot zu viele Rückzugsmöglichkeiten. Chiefs und lokale big-men stützten sich daher auf individuelles Unternehmertum sowie auf patronageartige Hilfsangebote und Gewaltdrohungen, die sie immer wieder neu aushandeln mußten (v.Oppen 1993: 369f.). Erst die Kolonialverwaltung versuchte dann, lokale Machthierarchien auch unterhalb der Ebene der chiefs fester zu institutionalisieren, indem sie u.a. kooperationswilligen Ältesten und big-men den Status von village headmen zuwies und ihren Repressionsapparat dazu einsetzte, die Dörfler zu Gehorsam und zur Ansiedlung in „Rufweite" des headman zu zwingen.8 Da sie gleichzeitig aber auch alte Schutzfunktionen der Ältesten entwertete und die Spielräume der Abhängigen erhöhte (etwa durch Abschaffung der Sklaverei und durch Geldeinkommen), kam es in dieser Zeit zu einer Siedlungszerstreuung, die die Bemühungen der Kolonialverwaltung erheblich erschwerte (vgl. Hudson 1935: 246). Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurden energischere Schritte unternommen, auch die entlegeneren Gebiete effektiv zu kontrollieren und zugleich zu „entwikkeln". In der Praxis stützte sich der flächenbetonte Machtanspruch des kolonialen Staates, unter Einbeziehung des Indirect-Rule-Systems, jedoch zunächst auf den Ausbau des indigenen Modells linienhafter Hierarchien. Ausgehend vom alten Regierungsposten Balovale (heute Zambezi), über das neue Distriktzentrum Kabompo und den neuen Sitz der „Manyinga Native Authority" bildete sich entlang der neuen Hauptstraße parallel zum Kabompo bis Mitte der fünfziger Jahre eine eindeutig „flußaufwärts" verlaufende räumlich-lineare Sequenz heraus, die das Gebiet des Mundanya Resettlement Scheme auch symbolisch klar an das untere Ende der politischen Hierarchie rückte (siehe Karte 1).
Korridore und Kontrolle Das 1956 zwischen Mundanya und Kasamba angelegte Umsiedlungsprojekt war typisch für eine über das ganze südliche Afrika verbreitete spätkoloniale Dorfentwicklungsstrategie (vgl. de Wet 1995: 26ff.). Zunächst sollte es einen möglichst großen Teil der dörflichen Bevölkerung aus dem schwer zugänglichen Hinterland entlang der neugebauten Hauptstraße konzentrieren. Darüber hinaus wurde ein neuartiges räumliches Layout dieser Dörfer angestrebt, das linienhafte und territoriale Muster miteinander verband. Einerseits mußten die Mundanya-Siedler ihre Häuser
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und Weiler, die zuvor locker entlang von Wasserläufen verteilt gewesen waren, jeweils an einen bestimmten, ihrem headman zugeordneten Abschnitt der Hauptstraße verlegen, wodurch sich der reihenförmige Charakter der Siedlungen verstärkte (vgl. Karte 2).9 Andererseits sollten die landwirtschaftlich genutzten Flächen hinter den aufgereihten Häusern in die Tiefe des Gebietes wachsen. Jedem Dorf wurde dafür im rechten Winkel zur Straße ein Landkorridor von einer Meile Breite und meist mehr als 10 km Länge zugewiesen (Karte 2). Dessen Grenzen wurden, ein völliges Novum, durch lange schnurgerade Schneisen markiert. Sie wurden bezeichnenderweise von der Dorfbevölkerung mit dem Fremdwort pondala (abgeleitet von boundary) belegt. Auf diese Weise wurden erstmals fest umrissene „Dorfgemarkungen" projektiert und die Siedlung innerhalb der Gemarkungsgrenzen zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit zu den neuen Dörfern erhoben. Damit war das Mundanya Scheme eine späte Variante des sogenannten Parish System, demzufolge in Nordrhodesien (dem heutigen Zambia) seit den vierziger Jahren versucht worden war, dörfliche Einheiten erstmals auf die Grundlage von Fläche anstelle von Gefolgschaft umzustellen.10 In der Erinnerung der älteren Dorfbewohner steht allerdings das Kontrollbedürfnis der Kolonialverwaltung im Vordergrund: „The D.C. [District Commissionerl very much wanted to talk to us, but our former place was too remote in the bush."1 Um die eher prekären lokalen Machtverhältnisse nicht zu stören, wurden nur etablierte headmen mit ihren Gefolgsleuten zur Umsiedlung aufgefordert, und zwar auf freiwilliger Basis. Die Bereitschaft, diesem Aufruf Folge zu leisten, hielt sich dennoch sehr in Grenzen. Trotz intensiver Werbung gesellten sich schließlich zu den sieben bereits im Gebiet wohnenden, bis dahin am Flußufer siedelnden headmen nur zwei weitere aus etwas größerer Entfernung (Kaweza und Mutanginyi).12 Entsprechend stagnierte die Bevölkerungszahl des Gebiets in den ersten Jahren; die Korridore wurden teilweise auf zwei Meilen verbreitert. Dabei stieß die neue Straße durchaus auf Interesse bei den Bewohnern des Gebiets. Sie versprachen sich Erleichterung beim Zugang zu Transportmitteln, sei es für die Wanderarbeit in den Kupfergürtel oder für die Vermarktung der in dieser Zeit stark expandierenden dörflichen Warenproduktion. Bezeichnenderweise setzten sie der staatlichen Propaganda für die Umsiedlung mehrmals der Vorschlag entgegen, in Eigenarbeit Zubringerstraßen zu bauen.13 Am ausgeprägtesten war das Kontrollinteresse der Kolonialverwaltung im Hinblick auf die Landnutzung, also die .Ausfüllung" der neugeschaffenen dörflichen Territorien durch konkrete Landnutzung. Entsprechend dem damals führenden Paradigma ländlicher Entwicklung stand der Schutz der natürlichen Ressourcen Wald und Boden dabei im Vordergrund. So wurden bestimmte Nutzungsformen für bestimmte Teilzonen und vor allem für jeden Dorf-Korridor eine bestimmte „tragfahige" Maximalbevölkerung vorgeschrieben, deren Einhaltung durch strikte Zuzugskontrollen seitens der headmen und chiefs gewährleistet werden sollte. Vor allem letzteres erwies sich jedoch bald als nicht durchsetzbar. Entsprechend dem älteren, personenbezogenen Modell lokaler Macht, auf dem auch die koloniale Konstruktion des Dorfes noch beruhte, waren headmen nach wie vor bestrebt, möglichst viele Gefolgsleute um sich zu sammeln. Völlig abstrakt blieb auch für die Bevölkerung
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die in dem neuen, rein an Flächen orientierten Siedlungsmodell enthaltene Idee der Austauschbarkeit der einzelnen Dörfer und ihrer Machtträger. In den Augen der Umsiedler variierte die Autorität bzw. Attraktivität der einzelnen headmen nämlich erheblich. Durch „unautorisierte" Zuwanderung waren einzelne Gemarkungen in den Augen der Kolonialbeamten schon 1956/57 „überfüllt", andere dagegen „unterbesiedelt". 14 Versuche, eine entsprechende Umverteilung der Bevölkerung zu erreichen, scheiterten an deren Widerstand bzw. am Kontext des beginnenden Unabhängigkeitskampfes, da die Kolonialmacht gerade in den abgelegenen Regionen davor zurückschreckte, die Unruhe noch durch Zwangsmaßnahmen anzufachen. Dennoch erinnern sich die damaligen Umsiedler sehr lebhaft an die Vermessung und Markierung der Korridorgrenzen (pondala). Sie zeigen sich noch heute tief beeindruckt davon, wie schnurgerade die Grenzschneisen kilometerweit in den Busch geschlagen wurden. Hier äußerte sich gewissermaßen eine radikalisierte Ästhetik der Linie, die mit Macht identifiziert wurde. Voller Stolz berichten die damaligen headmen, wie „ihr" pondala angelegt wurde - und bezeichnen mit diesem Wort nicht allein die Grenze, sondern den ganzen, solchermaßen markierten Korridor. 15 Diese BedeutungsVerschiebung verweist auf einen primär symbolischen Wert der damaligen Grenzziehung. Sie schrieb gewissermaßen die Position des headman gegenüber der Verwaltung, aber auch gegenüber seinen Gefolgsleuten in einer bisher nicht gekannten Eindrücklichkeit und Dauerhaftigkeit in die Landschaft ein. Nicht zufällig war es ein Bezug auf das Land, aus dem diese Aufwertung gezogen werden konnte; denn immerhin ist die Landvergabe an nachfolgende Siedler der wesentliche Akt, durch den die Erstsiedlerschaft und damit die Autorität des headman bestätigt wird. Die Tatsache, daß die Grenze durch Schneisen im Busch markiert wurde, mag zu dieser Wahrnehmung beigetragen haben; denn durch das Fällen von Bäumen werden nach indigenem Verständnis primäre Landrechte begründet. Materielle Verfügungsgewalt bedeuteten diese Akte damals allerdings kaum. Angesichts der insgesamt sehr geringen Bevölkerungsdichte war eine faktische Kontrolle über das Land als solches kaum durchsetzbar und wohl auch kaum von Interesse. Wie früher wiesen die headmen jedem Siedler für seine Felder nur eine Anbau-,Richtung" (mutamba) zu, und diese orientierte sich in den seltensten Fällen, wie bei der Projektplanung erhofft, am Verlauf der pondala, sondern an individuellen praktischen Erwägungen. Schon sehr bald näherte sich das Bild der Agrarlandschaft demjenigen konventioneller Dörfer mit ihren hierhin und dorthin in den Busch getriebenen Feldern, die nachfolgend in Brache übergehen. Die Grenzschneisen wurden dabei vielfach überschritten und ansonsten von Buschwerk überwuchert. Schon Mitte der siebziger Jahre waren sie im Luft- und Kartenbild nur auf wenigen Strecken erkennbar, wo sie nämlich inzwischen zu Wegen umfunktioniert worden waren. 16 Der halbherzige Versuch der Kolonialverwaltung, politische Autorität gegenüber einer bestimmten Gefolgschaft durch Souveränität über ein bestimmtes Territorium zu begründen, erwies sich als undurchführbar.
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Karte 2
Mundanya Resettlement Scheme 1956/57
Neue Hauptstraße Neue Dorfgrenzen ("pondala") •
Alte/geplante dörfliche Siedlungen (mit Umsiedlungsrichtung) Alte Anbaugebiete
*
> Geplante neue Anbaukorridore
N
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o> 11 ¿5' o.
Gemeinschaft und Gemeinde Nach der politischen Unabhängigkeit (1964) gab es in Kabompo einen erneuten Anlauf zur Dorfentwicklung, der wiederum auf Umsiedlung und Territorialisierung basierte und wiederum, wie seinerzeit das Parish System, landesweit angelegt war. Unter dem Slogan Village Regrouping wurden an zentralen Orten entlang den weiter ausgebauten Straßen staatliche Dienstleistungseinrichtungen wie Schulen, Krankenstationen und Agrardepots erstellt. Sie sollten zugleich die öffentliche Versorgung verbessern und als Magneten für eine freiwillige räumliche Konzentration der Bevölkerung dienen (vgl. Kay 1967). Die bisherigen „traditionellen" village headmen mit ihren jeweiligen areas blieben, anders als etwa bei der villagization im benachbarten Tanzania, im Amt, wurden aber im Rahmen der Dezentralisierungspolitik seit 1968 in eine Hierarchie neuer politischer Institutionen (committees, chairmen etc.) eingebaut, denen jeweils bestimmte Territorien zugeordnet waren und die gleichzeitig Partei- und Verwaltungsfunktionen hatten.17 Sie reichten von der sec-
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tion (Nachbarschaft) über den brauch (Dorf, Stadtteil) bis zum zehn bis zwanzig headmen umfassenden ward (Bezirk eines Distriktratsabgeordneten, vgl. Karte 3). Auf all diesen Ebenen stand die Mobilisierung der Bevölkerung für politische Loyalität gegenüber dem neuen Nationalstaat und für entwicklungsbezogene „Selbsthilfe"-Aktivitäten im Vordergrund. Die zentralen Orte dieser Einheiten, besonders die Schulen (ca. zwei bis drei pro ward), dienten deshalb immer auch als wichtige Versammlungsplätze der Bevölkerung im Umkreis, unabhängig davon, ob es tatsächlich zu der erwünschten Zusammensiedlung kam.18 Entsprechend der postkolonialen Staatsideologie des zambischen „Humanismus" sollten die neugeschaffenen lokalen Einheiten jeweils mit einem neuen, gemeinschaftlichen Geist gegenseitiger Solidarität „gefüllt" werden. Dabei wurde an räumlich definierte Gruppierungen von „ villagers" gedacht, die sich auf ein Idealbild „traditioneller Gemeinschaft" von Nachbarn berufen sollten (Kaunda 1967: 5f.).19 Hinzu kam von der internationalen Ebene der Einfluß der Community-Development-Strategie, die in den fünfziger und sechziger Jahren blühte. Diese ging allerdings, entsprechend dem westlichen Modell, weniger von traditionellen Kollektivitäten als von Individuen („ villagers") bzw. „Haushalten" aus, also gewissermaßen „lokalen Bürgern", die sich dann, aus wohlverstandenem Eigeninteresse, in vielfältigen „Selbsthilfegruppen", Kooperativen, Komitees etc. ihres Gebiets zusammenschließen sollten. Typische Community-Development-Ansätze, die auch im Mundanya-Gebiet angewendet wurden (übrigens schon seit den späten fünfziger Jahren), waren die Förderung „verbesserten" Hausbaus aus dauerhafteren Materialien und mit größerem Grundriß, einschließlich eines „Wohnzimmers", in dem Besucher empfangen werden konnten.20 Verstärkt wurde auch auf die häusliche Hygiene geachtet. Voller Abscheu erinnern sich ältere Dorfbewohner daran, wie die Inspektoren der Verwaltung in die Häuser eindrangen und sogar in den Betten der Alten herumstocherten. Quasi nebenbei wurde durch diese Maßnahmen zugleich der vormals streng private Raum des Hauses partiell veröffentlicht, zugleich die lokalen Versammlungsräume (zartgos) entwertet und die prinzipielle Gleichheit aller Dorfbewohner vor dem Gesetz bzw. dem Staat demonstriert. In der Alltagspraxis setzte sich freilich eine ganze andere soziale und räumliche Organisation der lokalen Einheiten durch. Die nach der Unabhängigkeit verstärkte Vergabe staatlicher Entwicklungsressourcen wurde vor allem zur Streuung patronageartiger Beziehungen verwendet. Die Bereitstellung von Mitteln für Schulen, Krankenstationen etc. erschien in den Augen der Bevölkerung als Lohn für ihre Loyalität, die sich z.B. durch Parteimitgliedschaft, Teilnahme an politischen Versammlungen, „Selbsthilfe"-Einsätzen usw. beweisen konnte. Räumlich drückte sich dieses Aushandlungsverhältnis in einem eher konventionellen, konzentrischen als territorialen Muster lokaler Macht aus. Entscheidender Parameter für Loyalität war nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gebiet, sondern die Nähe zu einem seiner Zentren. So wurden die Bewohner der Hinterländer wiederum gedrängt, in der Nähe der neuen Service-Orte an der noch verbreiterten und ausgebauten Hauptstraße zu siedeln. Letztere folgte an einigen Stellen sogar einer neuen Trasse. Sie wurde rhetorisch gern als „Zambia-Road" bezeichnet, und der alten kolonialen Straße als sogenannter Welensky-Road entgegengesetzt, so daß die Umsiedlung als eine Art staatsbürgerlicher Verpflichtung erschien.22
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Angeheizt durch die Vervielfachung politischer Ämter, kam es dabei allerdings auch zu Rivalitäten unter bzw. zwischen alten und neuen lokalen Führern, also Parteifunktionären, Staatsbeamten und Dorfältesten. So wurde heftig darum gerungen, wo (d.h. in wessen Nähe) z.B. eine Schule gebaut und welchen (d.h.: wessen) Namen sie erhalten sollte (Chisango 1977) - beides wichtige Machtkriterien im herkömmlichen politisch-räumlichen Verständnis. Um solche Streitereien zu vermeiden, benannte die Partei überall in Zambia die neuen räumlichen Einheiten und zentralen Orte nicht mehr, wie vorher üblich, nach traditionellen „Erstsiedlern", sondern nach natürlichen Landmarken (meist Wasserläufen). Sie griff damit zwar auf ältere lokale Landschaftswahmehmungen zurück, betonte aber zugleich erneut den physischen Raum anstatt der persönlichen Gefolgschaft als Kriterium politischer Zuordnung. De facto sahen sich alte wie neue Eliten allerdings weiterhin als „Eigner" ihrer Jurisdiktionen und mühten sich, Gefolgschaft um sich bzw. ihre Zentren zu maximieren, während die formellen Außengrenzen ihrer Gebiete ziemlich unbestimmt und irrelevant blieben. Die alten und neuen big-men der Dörfer und wards am oberen Kabompo scheinen bei diesem Bemühen erstaunlich erfolgreich gewesen zu sein. Zwischen 1956 und 1969 verfünffachte sich die Bevölkerung im Mundanya-Gebiet von 500 auf etwa 2500, erreichte um 1980 7300 und 1990 mit 15 000 Einwohnern gar das Dreißigfache der Ausgangszahl.23 Doch dahinter standen weniger politisch als ökonomisch motivierte Entscheidungen. Die einseitig entlang der Hauptstraße verbesserten staatlichen Services und Absatzchancen für Agrarprodukte wirkten als Magneten, besonders auch für zurückkehrende Migranten aus der Stadt, die nicht ins abgelegene Hinterland zurückkehren wollten. Ein Teil von ihnen brachte es zu relativem Wohlstand, bezeugt durch größere und dauerhaftere stabilere Häuser, teilweise sogar villenartige Gebäude nach städtisch-europäischem Geschmack. Ihre Abgrenzung von der weiteren Verwandschaft und Konzentration auf die Kernfamilie („Haushalt") kam auch darin zum Ausdruck, daß die Häuser sich nun zunehmend einzeln entlang der Straße aufreihten und die älteren Rundweiler sich aufzulösen begannen. Statt Community Development liefen also in der postkolonialen Realität Mundanyas sichtbare Prozesse sozialer Differenzierung und Fragmentierung ab. In den Dörfern machte sich Unzufriedenheit über den power hunger rivalisierender Führer und über den Zerfall der älteren sozialen und moralischen Netzwerke breit (Katema 1996a). Vor diesem Hintergrund ist es wohl zu verstehen, daß auch „von unten", also innerhalb der Dorfbevölkerung, eine verstärkte Suche nach neuen Formen von Sozialität einsetzte, die eher Wir-Gruppen-Charakter hatte. Dies waren aber vor allem religiöse Formen. Der Beginn autonomer christlich inspirierter Bewegungen im Kabompo-Gebiet reicht bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Typisch und zugleich pionierartig war die Entwicklung der Zeugen Jehovahs („Watchtower"). Gestützt auf eine radikale Endzeiterwartung lehnen sie die von Staat und Missionen gestützten lokalen Machtträger und ihre politischen Rituale als „Götzendienst" ab. Sie verfolgen Ideale innergemeindlicher Reziprozität und Egalität, die sich zumindest anfangs speziell gegen die Autorität der Alten und headmen wendeten und eng mit der Abwehr von Hexerei verknüpft waren (Cross 1973; Fields 1985). Zunächst bildeten sie eigene,
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abgeschlossene Gemeindesiedlungen, die Nichtmitglieder und bösartige Einflüsse als feindliche Umwelt ausgrenzten, aber netzwerkartig, oft über große Entfernungen, mit anderen Watchtower-Siedlungen verknüpft waren.24 Sie könnten als religiös begründete Radikalisierung des älteren indigenen Dorfmodells gesehen werden, das eingangs dargestellt wurde. In den fünfziger und sechziger Jahren entstanden durch intensive Bekehrungsarbeit gerade auch im Mundanya-Gebiet zahlreiche neue Kongregationen. Über die dabei aktivierten Netzwerke gelangten viele Zuzügler aus den abseitigen „alten" Watchtower-Zentren an die Hauptstraße. Mundanya selbst wurde aufgrund seiner zentralen Lage zum Standort der großen überlokalen Zusammenkünfte dieser Sekte.25 Der noch unsichere postkoloniale Staat mit seinem hohen Bedarf an ritualisierten Loyalitätsbekundungen reagierte zunehmend nervös auf die Verweigerungshaltung der „Zeugen Jehovahs". Im Jahr 1967 kam es in Mundanya zu einem schweren Zusammenstoß mit Polizeieinsatz, der in die landesweite Märtyrergeschichte der Zeugen einging.26 Er trug längerfristig allerdings zu einem Ausgleich der Zeugen Jehovahs mit dem zambischen Staat bei. In den Jahren darauf entwickelte sich, wiederum im Dorfgebiet von Mundanya, eine neue Sektensiedlung, die sich politisch und territorial noch schärfer abgrenzte als die Watchtower. Sie hatte allerdings einen eher prophetischen Charakter, der sich in hierarchischer Führung durch den sogenannten Postolo (Apostel) James ausdrückte. Er trat schon bald in direkte Konkurrenz mit den lokalen weltlichen Autoritäten - headman, chief, Parteifunktionäre, Verwaltungsbeamte - so daß er 1972 ins Exil getrieben wurde.27 Erst nach diesen Ereignissen begannen sich im Mundanya-Gebiet „moderne", d.h. entpolitisierte Kirchengemeinden zu entwickeln, die ihre Vorstellungen einer solidarischen Vergemeinschaftung von ,3rüdern" und „Schwestern" weniger exklusiv verstanden. Sie entwickelten dabei aber Strukturen, die durchaus Parallelen zu den staatlichen Modellen lokaler Gemeinschaft aufweisen. So haben die Gemeinden jeweils eigene, oft komplexe Hierarchien geistlicher Ämter, wobei diese weniger personalisiert sind, als die staatliche Bürokratie es de facto ist; sie verfolgen eigene „Selbsthilfeprojekte", die auch Wohlfahrtszwecken dienen; und sie lokalisieren sich nicht mehr als Knoten eines Netzes, sondern als ein flächendeckendes Muster angrenzender gemeindlicher Territorien, jeweils mit einem Gotteshaus im Zentrum. Das heißt, die Zugehörigkeit eines Mitglieds zu einer bestimmten Gemeinde hängt primär von dem räumlichen Kriterium ab, in welchem Gebiet es wohnt. Diese kirchlichen lokalen Territorien tragen ähnlich wie die staatlichen meist unpersönliche Landschaftsnamen, sind aber nicht kongruent mit jenen; oft umfassen sie Teile von Dörfern oder wards, oder sie überschneiden deren Grenzen (Katema 1998b) und kommen dabei dem alltäglichen Raumverhalten der Dörfler wahrscheinlich näher. In den heutigen Zeiten des „Rückzugs des Staates" könnten diese Strukturen möglicherweise ein Stück weit zu Alternativen für jenen werden. Andererseits haben die kirchlichen Gemeinden zwangsläufig offenere Vorstellungen von der Abgrenzung lokaler Gemeinschaft als die staatlich fixierten Dörfer und wards: Entlang der ersten zehn Straßenkilometer ab Mundanya finden sich heute 16 verschiedene religiöse Denominationen, alle mit ihren eigenen Institutionen und sich überlappenden Gebieten. Ihre Grenzen verlaufen oft quer durch einzelne Familien, wobei die Mitgliedschaft stark fluktuiert (ebenda).
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Karte 3 \ \
\ A
Wards and Village Regrouping ~1970 Copperbelt
WlllbVh WARD
Fluß Hauptstraße Distriktgrerize
KAWANDA WARD
Wardgrenze Neue dörfliche Siedlungen
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5
Km oupNfczmyv-Qvwrt
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Mundanya heute In der Praxis freilich erhielten territoriale Grenzen auch bei den politischen Gemeinden erst im Laufe der achtziger und neunziger Jahre materielle Bedeutung. Damit komme ich zurück zu dem zwischendörflichen Landkonflikt, der am Beginn dieser Untersuchimg gestanden hatte. Bei meinen jüngsten Besuchen hatte mich, wie bereits beschrieben, das neuerwachte Interesse am genauen Verlauf der über 40 Jahre alten Dorfgrenzen (pondala) überrascht. Ich fragte mich, inwieweit dies ein Anzeichen dafür ist, daß Territorialität in der Zwischenzeit tatsächlich zur Grundlage dörflich-lokaler Identität geworden ist - so wie von dem einstigen Projekt erstmals angestrebt. Eine ungeplante Veränderung mag entscheidend dazu beigetragen haben, daß Grenzziehungen zwischen den Dörfern heute in der Tat mehr als nur einen symbolischen Wert besitzen. Im Laufe der achtziger Jahre wurde, befördert durch die hohe Zuwanderung und durch ein mit deutscher Hilfe eingerichtetes Kleinbauemprogramm, das fruchtbare Land entlang der Hauptstraße zunehmend knapp. Landkonflikte erwuchsen nicht nur zwischen einzelnen Bauern, sondern auch auf Dorfebene, aus zunehmender Sorge um die jeweiligen kommunalen Landreserven. So gab es schon 1986 einen Streit über den genauen Verlauf der inzwischen nicht mehr erkennbaren Demarkationslinie zwischen Mundanya und Njamba. Schon damals, wie dann 1996, wurde der in Manyinga residierende chief als oberste „traditionelle Autorität" in Landfragen herbeigerufen, um die alten kolonialen pondala zu bestätigen und zu präzisieren.28 Im Bewußtsein der Bewohner wurde durch die wiederholten Lokaltermine die territoriale Begrenztheit ihrer Dörfer auch symbolisch deutlich, obwohl die Grenzmarkierungen kaum noch erkennbar sind. Die Umsetzung dieses Bewußtseins ist allerdings recht unterschiedlich. Bei näherem Hinsehen scheint es zunächst so, als ob der Streit um die Dorfgrenzen im Mundanya-Gebiet primär eine Sache der headmen und ihrer Berater geblieben ist, denen es nach wie vor darum geht, die Bevölkerungszahl im eigenen Korridor zu erhöhen. Um ausreichend Reserveflächen für neue Zuzügler zu haben, verfolgen einzelne, landarme headmen sogar eine Art aktiver Geopolitik. So forderte z.B. Headman Njamba neue Zuzügler in sein Dorf auf, ihre Wohnstätten genau auf der von Mundanya postulierten Grenze zu bauen. Im Mai 1996 kam es darüber während eines Lokaltermins in meinem Beisein fast zu Handgreiflichkeiten zwischen einigen Ältesten. 29 Wie ich 1998, zwei Jahre später, dann feststellen konnte, hatte diese Strategie Njambas dennoch Erfolg - die Häuser blieben stehen, und Mundanya hat dieses Grenzgebiet de facto abgeschrieben. Reale Besiedlung bleibt, nach indigenen Regeln, der wichtigste Hebel der Geltendmachung von Landansprüchen und zugleich deren Ziel. Lokale politische Autorität leitet sich nach wie vor von menschlicher Gefolgschaft ab, nicht von abstrakter Souveränität über Territorien. Trotz gewachsenen Landdrucks bilden territoriale Strategien und Redeweisen hier, so scheint es, nur Instrumente für politische Interessen, die weiterhin primär an personaler Loyalität und nicht am Land als solchem orientiert sind. Immerhin hat dieses neue Argumentationsmuster zu dem Versuch geführt, nicht nur die Lage der Wohnstätten, sondern auch die der Felder zum Kriterium für Gefolgschaft zu machen.
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Die bäuerliche Bevölkerung fühlt sich dagegen zumindest hinsichtlich der Lage der Felder bis heute nicht an die Grenzen ihres Dorfes gebunden. Die Suche nach knapper werdendem Land hat offensichtlich die Vielfalt privater, grenzüberschreitender Arrangements vermehrt. So haben z.B. im Laufe der Zeit Dutzende von Einwohnern Mundanyas Landrechte im benachbarten Korridor Njambas erworben. Schriftliche Aufforderungen, die Headman Njamba an ca. 30 Einwohner benachbarter Dörfer richtete, ihre Felder in seinem Gebiet zu räumen oder aber fest in sein Dorf zu ziehen, blieben ohne Erfolg (Katema 1996a, 1998a). Wiederum, wie schon in den fünfziger Jahren, war dieses Niveau territorialer Kontrolle nicht durchsetzbar - auch nicht durch die headmen selbst. Sogar der Chief und seine Berater mußten schließlich anerkennen, daß nur der Wohnort entscheidend für die Dorfzugehörigkeit sei, während die Felder auch woanders liegen könnten. 30 Allerdings führten die vielfältigen Landnahmestrategien auch zu einer Häufung individueller Landstreitigkeiten, die neue Anforderungen an die dörflichen Schlichtungsinstitutionen mit sich bringen. Immer häufiger werden öffentliche Schiedsverhandlungen unter Vorsitz des headman und seiner Ältesten notwendig. In den meisten Mundanya-Dörfern wurden inzwischen auffallend große Schutzdächer beim Haus des headman errichtet, die für Dorfversammlungen benutzt werden. Demgegenüber verfallen deren kleinere Vorbilder (zango), die früher für Versammlungen in den einzelnen Weilern dienten. Diese Verlagerung markiert ein offenbar gewachsenes dorföffentliches Bewußtsein dafür, daß die gerechte Verteilung des Dorflandes eine kommunale Angelegenheit ist, die nicht nur einzelne Familien betrifft. Das äußert sich auch gegenüber Außenseitern. Einhellig wird inzwischen der Zuzug neuer Familien abgelehnt, auch wenn sich das gegen das Interesse des headman wendet. Es gehe darum, Landreserven „für unsere Kinder" zu behalten.31 Darin spiegelt sich auch die gewachsene Dauerhaftigkeit der Wohnstätten, die über die eigene Generation hinausreicht und mit der eine Verlagerung von den älteren matrilinearen hin zu patrilinearen Abstammungs- und Vererbungsnormen verbunden ist (vom Vater auf die eigenen Kinder, vor allem die Söhne). Die Abwehr neuer Zuzügler richtet sich aber bezeichnenderweise nicht gegen Verwandte von Einwohnern oder gegen Umsiedler aus Nachbardörfern, sondern vor allem gegen „Fremde", die größeren, dauerhaften Landbesitz zu kommerziellen Zwecken, vielleicht sogar mit schriftlichem Landtitel, anstreben. Es gab in den vergangenen Jahren bereits Fälle, in denen sich mehrere benachbarte Dörfer gemeinsam erfolgreich gegen Pläne der Distriktverwaltung wandten, im hinteren Teil ihrer Korridore neue Farmen anzusiedeln.32 Hier zeichnen sich praktische Identifikationen mit lokalen Gebieten ab, die zwischen den vom Staat sanktionierten Größenordnungen liegen, d.h. größer als die headman area und kleiner als der ward sind. In dieser Größenordnung liegen bezeichnenderweise oft auch die Kirchengemeinden. Diese Bezugsräume scheinen den alltäglichen Interaktionen der Bevölkerung näher zu kommen und können sich dabei - in weltlichen wie in religiösen Angelegenheiten, von Situation zu Situation, von Person zu Person und von Zeit zu Zeit ändern. Zugleich scheinen diese Bezugsräume aber heute stärker territorial (im oben genannten, engeren Sinne) verstanden und in Bezug zu gemeinschaftlichen Identitäten gesetzt zu werden.
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Eine weniger offene und flexible Kehrseite solcher kommunaler Bezugsräume zeigt sich allerdings in Ansätzen einer Ausgrenzung von Bevölkerungsteilen, die auf „territoriale Säuberung" hinauslaufen. Zu diesen aktuellen Tendenzen, auf die ich hier nicht mehr näher eingehen kann, zählen erstens Versuche, das MundanyaGebiet als Ganzes oder Teile davon zu ethnifizieren. In den letzten Monaten wurde im benachbarten Kapembe gegen den Willen der Regierung ein neues Häuptlingstum der Luchazi installiert, mit dessen Hilfe das ganze Mundanya-Gebiet der Autorität des in Manyinga residierenden Mbunda-CAie/s entzogen werden soll. Dieser Anspruch stößt aber auch intern auf Widerstand: Auch wenn die meisten Erstsiedler des Gebiets Luchazi waren, herrscht unter den später Zugezogenen eine derartige Vielfalt an Sprachgruppen, daß ein ethnisch ,/eines" Gebiet nicht mehr durchzusetzen sein dürfte. Zweitens hatten hier wie anderswo in Zambia in den letzten Jahren AntiHexerei-Bewegungen einen markanten Aufschwung oder finden zumindest eine steigende öffentliche Aufmerksamkeit. Sie streben danach, jeweils die eigene Siedlung von vermeintlich schadenstiftenden Mitbewohnern zu ,/einigen", denen der Einsatz magischer Kräfte zugeschrieben wird. Damit folgen sie in gewisser Hinsicht durchaus noch älteren, indigenen Territorialvorstellungen, die unheimliche, anti-soziale Kräfte in die Außenwelt verbannen wollten. Eine neuere Tendenz scheint es aber zu sein, daß heutige Hexenaustreiber sich nicht mehr nur auf die „Hexen" selbst, sondern vor allem auf deren angebliche .Apparate" konzentrieren, auf welche hin das ganze Siedlungsgebiet, innerhalb und außerhalb der Häuser, abgesucht wird.33 Ähnlich wie bei staatlichen Entwicklungs-, Umwelt- und Hygienemaßnahmen treten hier also Artefakte (Werkzeuge), der Boden und die „Reinigung" von (lokalen) Flächen, in den Vordergrund. Als Bezugsgröße dienen jedoch nicht die administrativ verordneten Einheiten („Dörfer" = headman areas etc.), sondern real funktionierende Nachbarschaftsbereiche. Inhaltlich erstrecken sich die Hexereiverfolgungen nicht mehr so sehr wir früher auf Schäden an der menschlichen Reproduktion, sondern offenbar zunehmend auf individuellen wirtschaftlichen Erfolg - vielleicht ein Reflex auf wachsende wirtschaftliche Ungleichheit im neoliberalistischen Kontext. Abgesehen von den zerstörerischen Folgen für die Betroffenen gefährden solche Versuche lokal-territorialer „Reinigung" immer wieder das Vertrauen und die Solidarität, die eigentlich erforderlich sind für das Projekt, in dessen Namen diese Versuche unternommen werden: die Stärkung lokaler Gemeinschaft.
Fazit In dieser Fallstudie habe ich versucht, Territorialität als eine bestimmte Form der „alltäglichen Regionalisierung" (Werlen 1996) zu untersuchen, also als eine bestimmte Konzeptualisierung des sozialen Raums, die keineswegs universal ist und erst über bestimmte historische Interaktionsprozesse entsteht. Dabei ergab sich, daß offensichtlich auch in dieser abgelegenen Region Zentralafrikas und auch auf der untersuchten, sehr lokalen Ebene eine langsame Verbreitung solcher flächenhafter Wahrnehmungen im Gange ist, die den Raum in nach innen homogene Interaktions-
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felder mit scharfen, kontinuierlichen Außengrenzen strukturieren. Auch wenn es bereits im indigenen („prämodernen") Kontext Raumdeutungen dieser Art gab, hat die Territorialisierung im Laufe des 20. Jahrhunderts auch in Zentralafrika enorm an Dynamik gewonnen. Die genauere Untersuchung zeigt, daß in der neuzeitlichen Territorialisierung, historisch verallgemeinert, zwei heterogene, durchaus „moderne" Prozesse konvergierten, die durch territoriale Deutungen zugleich eine zusätzliche Durchschlagskraft erhielten. Zum einen war es das bürokratisch-rationale Bestreben des Staates, seinen Raum bzw. „Körper" (Lüdemann 1999) flächendeckend in homologe, kontrollierbare Untereinheiten zu gliedern. Zum anderen war es aber auch die Suche nach neuen, kollektiven Identitäten vom Typ „Gemeinschaft", die soziale Homogenität nach innen und grundsätzliche Differenz nach außen zunehmend territorial zu markieren trachtete. Und zum dritten waren beide „Regionalisierungen" nicht umstandslos im „Alltag" verankert, sondern standen in einem Spannungsverhältnis von Deutung und Praxis. Die Quellen moderner Territorialisierung sind also, wie das Beispiel zeigt, durchaus heterogen. Aus dieser Heterogenität, so möchte ich behaupten, und nicht etwa als Übergangserscheinungen oder „Rückschläge", erklären sich die Widersprüche und Ambivalenzen der Territorialisierung in Mundanya, und wohl weit darüber hinaus: Einerseits eigneten sich lokale Machtträger den vom kolonialen und nachkolonialen Staat verordneten Diskurs flächenhafter Kontrolle und Abgrenzung bereitwillig an, um ihn für ganz anders konzipierte, hier nämlich konzentrisch-radiale Hierarchiemuster zu instrumentalisieren. Letztere haben zwar auch mit älteren, indigenen Mustern zu tun, korrespondieren aber vor allem mit der alltäglichen Aushandlung von Patronage gegen Gefolgschaft, auf die der lokalisierte Staat sich bis heute stützt. Dies verdeutlichen der Umgang der village headmett im MundanyaGebiet mit ihren kolonialen Gemarkungsgrenzen (pondala) oder auch die Deutung der ward areas durch postkoloniale Politiker. Auch manche religiösen Territorialisierungen, wie die des „Apostels" James, können eher konzentrisch-hierarchisch interpretiert werden, und zwar als Konkurrenz zu entsprechenden Bestrebungen lokaler Vertreter des Staates. Andererseits „brauchen" moderne staatliche Territorialisierungen offenbar regelmäßig eine Unterfütterung durch eher egalitär definierte kollektive Identitäten, um genügend Legitimität zu gewinnen. Anders als in der europäischen Geschichte, wo sich das Ideal homogener, abgegrenzter Gemeinschaft aus vielfaltigen Wurzeln eher „von unten" entwickelte, wurde im kolonialen und postkolonialen Afrika immer wieder versucht, Varianten dieses Ideals zusammen mit dem Modell des lokalisierten Staats gleichsam im Paket „von oben" zu oktroyieren. Wie das Beispiel Mundanya illustriert, blieben diese Versuche jedoch eher erfolglos bzw. trafen auf eine Dynamik populärer Gemeinschaftsbildung, besonders in religiösen Formen, die die staatlich-bürokratischen Gliederungen immer wieder in Frage stellte. Die weitvernetzten Kristallisationskeme der Missionsschulen und Erweckungsbewegungen verdichteten sich zwar ebenfalls zunehmend zu territorial abgegrenzten Kirchengemeinden, obwohl oder gerade weil der Alltag ihrer Mitglieder von erhöhter räumlicher Mobilität geprägt war. Aufgrund der ihnen eigenen Dynamik und eines engeren Bezugs zu alltäglichen Interaktionen lagen ihre kollektiven Abgrenzungsversuche jedoch oft quer zu den staatlichen und blieben im übrigen sehr variabel. Zu-
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gleich neigen populäre Gemeinschaftsbildungen paradoxerweise dazu, ihre territorialen Grenzen - und damit sich selbst - zu verabsolutieren - nicht in ihrer räumlichen Position, sondern in ihrer moralischen Bedeutung. Immer wieder kommt es in Mundanya zu Versuchen, eine „reine" Binnenwelt zu konstruieren und das „Andere", „Unerlöste" oder , 3 ö s e " in eine feindliche, auch räumlich-territorial abgegrenzte Außenwelt zu verbannen - unter christlichem Vorzeichen, im Rahmen von Hexenverfolgung und oft genug einer Kombination von beidem. Solche Tendenzen fordern offensichtlich Gewaltbereitschaft und erschweren notwendige Aushandlungsprozesse innerhalb wie zwischen den Dörfern und Gemeinden. Dennoch mag diese Territorialisierung gemeinschaftlicher Identitäten langfristig eine noch nicht absehbare Bedeutung für die Konstitution neuer sozialer Subjektivitäten bis hin zur „Nation" haben.
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Diese Neubewertung erhielt auch wesentliche Impulse aus der sozialwissenschaftlichen loca%-Debatte in der industrialisierten Welt (z.B. Cooke 1989, Massey 1991, Appadurai 1996). Dieser Beitrag ist eine erste, knappe Zusammenfassung einer lokalen Fallstudie, die derzeit im Detail ausgearbeitet wird. Sie entsteht im Rahmen meines derzeitigen, von der DFG geforderten, Projekts über „Die Eingrenzung lokaler Gemeinschaften. Fallstudien zur Territorialisierung im Hinterland von NW-Zambia und NO-Tanzania", das sich wiederum in ein Gruppenprojekt über „Lokalität und Staat" einfügt. Die nachfolgenden Quellenhinweise stellen nur eine Auswahl dar; insbesondere mündliche Quellen und eigene Beobachtungen werden nicht in jedem Falle zitiert. NAZ (National Archives of Zambia) SEC 2/926, Tour Report Kabompo 5/1955. Alle emischen Ausdrücke werden im folgenden in Luvale angegeben, einer Art lingua franca unter den insgesamt ca. sechs verschiedenen Sprachen der Gegend. White 1960: 1-5; im Vergleich mit älteren Quellen scheint es, daß diese Deutung der lokalen Gruppe als Segment einer Matrilineage bereits das Produkt von Veränderungen der Kolonialzeit (seit ca. 1910) war, während früher auch andere Beziehungen („Sklaverei", „Freundschaft") eine Zugehörigkeit zum „Dorf' begründen konnten (vgl. v.Oppen 1993: 246ff.). Entsprechend scheint sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts, zumindest in den abgelegenen Teilen der Region, die durchschnittliche Größe der Siedlungseinheiten verringert zu haben, während sich deren Gestalt erst seit den fünfziger Jahren zu wandeln begann. Vgl. Wastiau (1997: 97f.), der den muyombo-Baum im älteren Kontext als axis mundi bezeichnet. So gaben Besucher üblicherweise am muyombo-Baum ihre Clan- und Lineagezugehörigkeit bekannt, und klärten dadurch eventuelle Verwandschaftsbeziehungen mit den Dorfbewohnern (White 1960: 12f., 28). Interview L.L. Chisango 3.5.1996. Administration of Natives Proclamation von 1916; die letztgenannte Vorschrift war bis Mitte der vierziger Jahre uneingeschränkt in Kraft. NAZ SEC 2/926 , Tour Report Kabompo 5/1955. NAZ SEC 2/3321; NAZ SEC 2/925, Tour Report Kabompo 4/1954. Interview Headman Kaweza und seine Ältesten, 1.5.1996. NAZ SEC 2/927, Tour Report Kabompo 4/1956. KDC-DF (Kabompo District Council Domestic File) 101/15/1, Tour Report by Senior Councillor Ikanjiwa, Januar 1957. KDC-DF 101/15/1, Tour Report Mundanya Settlement 22.10.1956 und nachfolgende Korrespondenz mit der Manyinga Native Authority. Interview Headman Kaweza und seine Ältesten, 1.5.1996; Headman Mundanya 15.5.1996; Katema 1998a. Vgl. Karte ZS51 (1:50.000), Blatt 1324/4, das auf Luftaufnahmen von 1974 beruht. Cabinet Office Circulars 19/1969, 24/1970; Republic of Zambia 1971; Local Administration Act (1980). KDC-DF 101/15/2, passim; Interviews L.L.Chisango 16.5.96, Mr. Katiki 17.5.96.
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Diese neue Betonung lokaler Gemeinschaft war in gewisser Weise schon in liberalen Entwürfen des sogenannten Parish System angeklungen, die gegenüber der bisherigen vertikalen (autoritären) Integration die horizontalen Bindungen zwischen den Dorfbewohnern hervorgehoben hatten (vgl. Gluckman u.a., 1949). MCD 1/9/20 „Village Development Teams"; KDC-DF 101/15/5 „Development of Villages Policy". Interview L.L.Chisango 16.5.1996. Gespräch Mr. Ching'embu, 4.5.1983. NAZ SEC 2/926Tour Report Kabompo 5/1955; Census of Population and Housing 1969, 1980 und 1990 (Disaggregierte Daten der Polling Districts bzw. Census Enumeration Areas). NAZ 1/9/62/6/1, fol. 43, Rex v. Petulu; NAZ SEC 2/439, Strafverfolgung des WatchtowerPredigers Mulemwa. Interview Mr. Muke, Church Elder in Mundanya, 27.3.1998. KDC-DF 4/15/4, fols. 44-48, Unterdrückung des Watchtower-Treffens Mundanya 16.6.1967; Interview Jehovahs Witnesses Kabompo 3.5.1996. Katema 1996b; Interview Mr. Chaula, 23.5.1996. Diese Gruppierung hing vermutlich mit der Apostelbewegung des John Maranke zusammen (vgl. Jules-Rosette 1979). Interviews Headman Mundanya und Älteste, 15.5.1996; John und David Sakalunda, 24.3.1998. Interview Mr. Kaponde, Mundanya Village, 15.5.1996. Interview John und David Sakalunda, 24.3.1998. Interviews Headman Kaweza und seine Ältesten, 1.5.1996; Headman Mundanya und Älteste, 15.5.1996,24.3.1998. Katema 1996a; Interviews Headman Mundanya und Älteste, 15.5.1996; Mr. Lungu, Land Use Planner Kabompo, 15.4.1998. Puhl 1998; Interviews Kasesema Church Congregations in Kayambila und Chilambalamba, 14.5.1996 u. 30.3.1998.
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Territorialität und traditionelle Gemeinschaftsbildung im Süden Namibias Reinhart Kößler
Gemeinschaften und ihre Grenzen: Zu den Mühen des Begriffs In den Sozialwissenschaften sind die vertracktesten Fachtermini Allerweltswörter. Das zeigt sich erst recht, wenn es ans Übersetzen geht. Im folgenden will ich mich mit traditional communities auseinandersetzen. Der Versuch einer adäquaten Wiedergabe von „Community" stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Sie scheinen mir zugleich auf Probleme zu verweisen, die sich hinter „Gemeinschaft" verbergen, sobald etwa nach ihrer Abgrenzung gegenüber „Gemeinde" oder „Gemeinwesen" gefragt wird. Das zeigen schon Konstrukte wie Black oder Hispanic, Lesbian oder Gay Community, die in den USA den Übergang vom gesellschaftlichen Leitbild des melting pot zu dem der salad bowl symbolisieren. Hier fällt zugleich die Tendenz auf, daß Nachbarschaftlichkeit und Unmittelbarkeit stark zurücktreten, die für ältere Begriffe von Gemeinschaft (vgl. Tönnies 1979: 14ff., 26-33) oder auch von Gemeinde (vgl. Marx 1953: 384) einmal typisch gewesen sind. Zugleich werden communities hier als diskrete und eindeutige Zuordnungs- und Abgrenzungskategorien aufgefaßt. Das steht in deutlichem Gegensatz zur Wirklichkeit pluraler Identitäten. Damit wird aber zugleich auch eine eindeutige, „enumerative" im Gegensatz zu eher unscharfer (fuzzy) Umschreibung von Gemeinschaften bestätigt (Randeria 1994: 77, 85). Es handelt sich dabei um Formen modernisierender und ordnendrationalisierender Eingriffe: Der moderne „Gartenstaat" verfolgt Ordnung mittels eindeutiger Abgrenzungen als wesentliches Ziel (Schiel 1999). Dazu gehört die klare Identifikation und Zuordnung von Kollektiven aller Art - mit der aktuellen und akuten Folge, daß Konflikte um solche auf Abgrenzung sich berufenden Identitätsbildungen sich in höchst riskanter Weise zuspitzen (vgl. auch Bayart 1996). Die begrifflichen ebenso wie die objektiven Schwierigkeiten der Abgrenzung gelten auch für traditional communities, die gerade in aktuellen postkolonialen Situationen eine große Rolle spielen. Ihre heutigen institutionellen Ausformungen sind traditionalistisch begründet: Sie werden legitimiert durch die Berufung auf altes, aus vorkolonialer Zeit stammendes Recht und häufig unter Verweis auf erlittenes Unrecht während der Kolonialzeit.1 Traditional communities im südlichen Afrika sind meist sehr viel kleiner als die meist durch externe Intervention konstruierten Groß-Ethnien, die eigentlichen Referenzgrößen für „Tribalismus" (Vail 1989; vgl. Kößler 1997b: 4; 1998b: 20). Die kollektiven Identitäten, die sich auf traditional communities beziehen, überspannen im Gegensatz zu den Groß-Ethnien in aller Regel die Kolonialperiode. Dagegen haben sich übergeifende Kollektividentitäten wie „Herero" (vgl. Gewald 1999) oder auch „Nama" erst unter dem Eindruck der Kolonialherrschaft herausgebildet. Diese hat dennoch einschneidende und irrever-
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sible Veränderungen mit sich gebracht, deren Tragweite den Subjekten noch gar nicht vollständig bewußt geworden sein dürfte. Traditional communities nehmen weiterhin stark Bezug auf traditionalistisch begründete, nicht immer klar umgrenzte territoriale Ansprüche. Diese Bezugnahme ist, wie weiter unten ausgeführt, durch die versuchten und erst recht durch die verwirklichten Bevölkerungsverschiebungen unter der Apartheidsherrschaft eher noch verstärkt und zugleich noch problematischer geworden. Ungeachtet gravierender Unterschiede im einzelnen kommen Gemeinschaften nicht ohne Grenzziehungen aus. Diese reichen von strikt lokalen Zusammenhängen bis zur Ebene einer umfassenden „vorgestellten Gemeinschaft" und endlich zur Super-Gemeinschaft des Nationalstaates selbst (Anderson 1991; vgl. Kößler/Schiel 1996: 60ff.). Gemeinschaften können mehr oder weniger klar definierte Mitgliedschaftskriterien haben oder aber sich eher um Nonnen und Werte kristallisieren (vgl. Berger 1997). Jedenfalls werden Kriterien der Zugehörigkeit und damit auch des Ausschlusses ausdrücklich benannt oder unterstellt. Sie müssen nicht notwendig in Raum und Fläche erfolgen. Doch sie alle müssen in irgendeiner Weise „einsichtig" gemacht, sie müssen legitimiert werden. Die Verallgemeinerung des Nationalstaates als Ordnungsprinzip und seines Souveränitätsanspruchs hat die Modalitäten solcher Grenzziehung verändert. An die Stelle diffuser Grenzsäume („frontiers") sind klar definierte Linien („borders") getreten (Giddens 1987: 49f.). Weiter gibt es seit der Universalisierung des Nationalstaatsprinzips vor etwa 100 Jahren keine Gebiete mehr, die nicht staatlich eingegrenzt wären und damit auch staatlichen Souveränitätsansprüchen unterlägen (vgl. Kößler 1994: 17f.). Damit hat sich der Anspruch auf staatliche Kontrolle auch auf solche Gruppierungen ausgedehnt, die oft als subnationale Gemeinschaften angesprochen werden und gerade in postkolonialen Situationen als Gefahr für den nationalen Zusammenhalt gesehen worden sind (vgl. Davidson 1992). Die Folgen dieses Souveränitäts- und Kontrollanspruchs betreffen auch und in besonderem Maß jene traditional communities, die heute in praktisch allen Rechtsordnungen der Staaten des Südlichen Afrika in der einen oder anderen Form anerkannt und verankert sind (vgl. Keulder 1998). Diese Anerkennung bezieht sich in der namibischen Traditional Authorities Act (17/1995) auf communities als Referenzgruppen für die Bestimmung von traditional leaders und traditional authorities. Abschnitt 1 dieses Gesetzes definiert traditional Community als „eingeborene homogene, endogene soziale Gruppierung von Personen, die aus Familien bestehen, die aus exogamen Clans stammen, welche gemeinsame Vorfahren, Sprache, kulturelles Erbe, Sitten und Traditionen haben, eine gemeinsame traditional authority anerkennen und eine gemeinsame communal area bewohnen" (s. Kößler 1997a: 450f.). Damit ist neben einem verwandtschaftlichen ein territorialer Referenzrahmen betont, der in den folgenden Überlegungen eine wesentliche Rolle spielt. Die formelle Anerkennung einzelner traditional authorities erfolgte in Namibia im Frühjahr 1998.2
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