Rurbane Landschaften: Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt 9783839444283

How urban is the country? How rural is the city? Where do city and country enter into fruitful connections? This book sh

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German Pages 466 Year 2018

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
RURBANE LANDSCHAFTEN
AUFTAUCHEN des Ruralen in einer urbanisierten Welt
Rurbane Landschaften
»die Hoffnung, dass ›nichts dazwischen kommt‹«
»Verloren geglaubte solidarische Räume«
Rurbane Landschaften RE-KONFIGURIEREN
Versteckte Geographien des Ländlichen
Maßstäbe des Rurbanen
Rurban, eine architektonische Annäherung an Phänomene der Gleichzeitigkeit
Stadt/Land Perspektiven
Rurbane Landschaften LEBEN
Raumgeschehen
»Es ist nicht voll krass, aber anders«
Rurbanität als Sozialraum
Dorf ist nicht gleich Dorf
Hic sunt dracones
Rurbane Landschaften BEWIRTSCHAFTEN
Die Moderne auf dem Acker
Politik zwischen Stadt und Land: Die Bedeutung des Ruralen im Streit um Agro-Gentechnik
Raum und Figur
Rurbane Landschaften VERHANDELN
Landschaftsvertrag
Rurbane Identität
Landluft macht frei?
Zwischen Entfremdung und Resonanz
Rurbane Landschaften ERFINDEN
Urban-rurale Verknüpfungen entwerfen
Rurbane Perspektiven erzählbar machen
Gelandet im ländlichen Raum
›Country lofts‹
Gartenheim
Autorinnen und Autoren
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Rurbane Landschaften: Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt
 9783839444283

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Sigrun Langner, Maria Frölich-Kulik (Hg.) Rurbane Landschaften

Rurale Topografien  | Band 7

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.), Dietlind Hüchtker (Leipzig), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg), Bernhard Spies (Mainz) und Marcus Twellmann (Konstanz)

Sigrun Langner, Maria Frölich-Kulik (Hg.)

Rurbane Landschaften Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt

Die Publikation wurde gefördert durch: VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Maria Frölich-Kulik, Weimar, 2018, auf Grundlage von Daten © GDI-Th Korrektorat/Satz: Julia Heiser, Laura Ziegler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4428-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4428-3 https://doi.org/10.14361/9783839444283 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

RURBANE L ANDSCHAF TEN Perspektiven des Ruralen in einer urbanisier ten Welt Sigrun Langner, Maria Frölich-Kulik | 9

AUFTAUCHEN des R uralen in einer urbanisierten W elt Rurbane Landschaften Vom Aufheben des Ländlichen in der Stadt auf dem Wege in das Anthropozän Thomas Sieverts | 31 »die Hoffnung, dass ›nichts dazwischen kommt‹« Persistenz und Konjunkturen bäuerlicher Er fahrungen in der (Post-)Moderne Werner Nell | 39 »Verloren geglaubte solidarische Räume« Spuren des Neoliberalismus-Diskurses in der Stadtflucht-Literatur der Gegenwar t Henri Seel | 65

R urbane L andschaften RE-KONFIGURIEREN Versteckte Geographien des Ländlichen Was passier t mit dem Land, wenn die Städte ländlicher werden? Marc Redepenning | 85

Maßstäbe des Rurbanen Überlegungen zum Rescaling von Stadt und Land Michael Mießner, Matthias Naumann | 101 Rurban, eine architektonische Annäherung an Phänomene der Gleichzeitigkeit Jessica Christoph | 119 Stadt/Land Perspektiven Wechselbeziehungen und Überlagerungen zwischen urbanen und ruralen Räumen Martina Baum, Sebastian Klawiter, Hanna Noller | 135

R urbane L andschaften LEBEN Raumgeschehen Eine entwer ferische Perspektive Hille von Seggern | 151 »Es ist nicht voll krass, aber anders« Jugendliche Lebenswelten in der Stadt und auf dem Land Sabine Rabe | 165 Rurbanität als Sozialraum Jugendliche in der Thüringer Peripherie und die Verhandlung eines urbanen Lebensstils Frank Eckardt | 189 Dorf ist nicht gleich Dorf Betrachtungen eines Lebensstils Katherin Wagenknecht | 203 Hic sunt Dracones Hier sind Drachen. Ein Por trait des Aniene Unterlaufs Jorg Sieweke | 225

R urbane L andschaften BEWIRTSCHAFTEN Die Moderne auf dem Acker Philipp Oswalt | 243 Politik zwischen Stadt und Land Die Bedeutung des Ruralen im Streit um Agro-Gentechnik Beate Friedrich | 263 Raum und Figur Beobachtungen zur aktuellen Energieliteratur Ingo Uhlig | 275

R urbane L andschaften VERHANDELN Landschaftsvertrag Sören Schöbel | 289 Rurbane Identität Herausforderungen, Konflikte und Gestaltungsoptionen Reinhold Sackmann, Christoph Schubert | 303 Landluft macht frei? Informell verhandeln mit Raumbildern Henrik Schultz | 321 Zwischen Entfremdung und Resonanz Anmerkungen zur Grundlage kooperativer Formen rurbaner Landschaftsentwicklung am Beispiel der alpinen Region Vallagarina Hannes Langguth | 341

R urbane L andschaften ERFINDEN Urban-rurale Verknüpfungen entwerfen Kathrin Wieck, Undine Giseke | 363

Rurbane Perspektiven erzählbar machen Erzählungen als dialogisches Entwur fswerkzeug Anke Schmidt | 385 Gelandet im ländlichen Raum Neue Entwicklungsimpulse für Gemeinden im urbanisier ten Hinterland Andy Westner | 407 ›Country lofts‹ Zur Wiederaneignung historischer ländlicher Bausubstanz Ines Lüder | 425 Gartenheim Potential innerstädtischer Nachverdichtung Imke Woelk | 441 Autorinnen und Autoren | 457

RURBANE LANDSCHAF TEN Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt Sigrun Langner, Maria Frölich-Kulik

E ine urbanisierte W elt Wir leben in einer urbanisierten Welt und die Prozesse der Urbanisierung schreiten weltweit voran (Soja/Kanai 2014). Bereits über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in urbanen Gebieten und bis 2050 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten leben (United Nations 2014). Diese Zahlen des UN-Berichts World Urbanization Prospects werden in verschiedenen Kontexten immer wieder aufgerufen, um darzulegen, dass die Welt zur Stadt wird. Globale Urbanisierungsprozesse lassen sich dabei nicht räumlich begrenzen und wirken weit über die städtischen Zentren und Metropolräume hinaus. Das Land wird durchzogen und transformiert durch globale Güter-, Energie- und Informationsströme. Wanderungsbewegungen vom Land zur Stadt lassen Städte weiter wachsen und zwingen dazu, den urbanen Raum auf einer großräumigen, regionalen Ebene zu betrachten. Die Stadtforschung beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit den Auswirkungen von Urbanisierung auf regionaler Ebene und ex-urbanen Regionen. Die Auflösung des traditionellen Stadtbegriffes und die Ausweitung der Betrachtung der Stadt auf einer regionalen Maßstabsebene verbinden sich mit der Auflösung einer dualistischen Stadt-Land-Vorstellung. Es entstand eine Reihe an Raumbegriffen, die räumliche Transformationsprozesse jenseits eines traditionellen Stadt-Land-Gegensatzes zu fassen

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suchten: Zwischenstadt (Sieverts 1997)1, Netzstadt/urbanes System (Baccini/Oswald 1998)2, Territorium (Corboz 2001)3, urbane Landschaften (Seggern 2010)4. Die aktuelle Diskussion um eine planetare Urbanisierung erweitert die Betrachtungsräume der Stadtforschung noch einmal, nimmt die Auswirkungen und Effekte weltweiter Urbanisierung in peripheren Gebieten in den Blick und hinterfragt urban-rurale Beziehungen in weltweiten Abhängigkeiten (Brenner 2014). Der Begriff der Stadt erfährt in diesen raumwissenschaftlichen Diskussionen eine Entgrenzung. Nicht nur die Stadt als eine physische und siedlungsstrukturelle Einheit erweitert sich, sondern im »Raum der Ströme« (Castells 2001) entsteht durch Kapitalund Informationsströme, Wissensprodukte und Bilderwelten ein weltweites flächendeckendes »urbanes Gewebe« (Lefèbvre 1970). Die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft werden v.a. in urbanen Zusammenhängen verhandelt – seien es die Herausforderungen in der Anpassung urbaner Räume an den Klimawandel, die Bewältigung des demographischen Wandels, Herausforderungen durch Migration, Fragen sozialer Ungleichheit, um nur einige zu nennen. Unsere Perspektive auf gegenwärtige räumliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse und Geschehnisse ist daher primär durch einen urbanen Blickwinkel ge1 | Mit seinem Buch »Zwischenstadt« hat Thomas Sieverts einen Perspektivwechsel herbeigeführt und rückte die in der Stadtplanung bis dahin eher unterbelichteten Räume zwischen Stadt und Land in die Wahrnehmung eines stadt- und landschaftsplanerischen Fachdiskurses. 2 | Die Stadt als »urbanes System« kann als flächendeckendes, dreidimensionales Netzwerk von vielfältigen sozialen und physischen Verknüpfungen verstanden werden, in dem die klare Trennung zwischen Stadt und Land verschwindet (Baccini/Oswald 1998:19) 3 | Als Konsequenz aus der Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes führt Corboz (2001) den Begriff des »Territoriums« ein. Mit diesem Begriff beschreibt er nicht allein die Verstädterung des Landes bzw. die Auswirkungen von Urbanisierungsprozessen, sondern er beschreibt ein komplexes Wechselspiel aus natürlichen Bedingungen und menschlicher Inbesitznahme (ebd.: 148). 4 | Hille von Seggern (2010) beschreibt »urbane Landschaften« als eine Sichtweise, die verdeutlichen soll, dass alle naturräumlichen Bedingungen in unserer heutigen Welt mehr oder weniger durch urbane Lebensweisen beeinflusst und geprägt sind (ebd.: 220).

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prägt – eine Perspektive, die allerdings auch so manche blinde Flecken aufweist. Denn das Land findet sich dabei vielmals als Peripherie problematisiert – oder als im Verschwinden begriffener Sehnsuchtsort idealisiert. Nehmen wir jedoch die vielfältigen Imaginationen, Projektionen, Praktiken und Raumprozesse, die mit dem Ruralen verbunden sind, einmal genauer in den Blick, dann verraten diese auch viel über die aktuell voranschreitenden Urbanisierungsprozesse und die damit verbundenen Selbstbeschreibungen und -verortungen gegenwärtiger Gesellschaften (Nell/Weiland 2014).

P erspektiven des R uralen In diesem Sammelband werden Perspektiven des Ruralen aus verschiedenen disziplinären Rahmungen heraus eingenommen und diskutiert. Dabei scheint es zunächst etwas anachronistisch, sich in einer zunehmend urbanisierten Welt mit Perspektiven des Ruralen auseinander zu setzen. Doch auch in einer sich immer schneller urbanisierenden Welt tauchen permanent vielfältige und widersprüchliche Aspekte des Ländlichen auf. So kann das Ländliche sehr gegensätzlich interpretiert und wahrgenommen werden. Es wird als Idylle in medialen Repräsentationen und einschlägigen Magazinen und gleichzeitig als Anti-Idylle in literarischen und filmischen Narrativen dargestellt. Es ist arkadisches Sehnsuchtsbild verschwindender traditionell bewirtschafteter Kulturlandschaften und spiegelt ebenso die Fortschrittsidee einer industrialisierten und digitalisierten Land- und Energiewirtschaft wider. Es taucht auf in städtebaulichen und lebensweltlichen Utopien naturnaher und gemeinschaftlicher Wohn- und Lebensformen und gelebter Solidarität als Projektionsraum eines guten Lebens, aber auch als dystopischer Ort der Ausgrenzung und Kontrolle, sowie als raumplanerischer Problemfall in Diskussionen um die Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen. Mit dem Land verbundene Imaginationen und Projektionen in unserer gegenwärtigen urbanisierten Gesellschaft werden auf unterschiedliche Weisen in medialen Repräsentationen deutlich: Die Sehnsucht nach ländlicher Idylle wird durch eine zunehmende Zahl an Landmagazinen

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bedient.5 Das Land als Projektionsort verschiedener, auch widerstreitender und ambivalenter Interessen findet Eingang in zeitgenössische literarische Auseinandersetzungen. (Vgl. hierzu Seel in diesem Band.) Exemplarisch sei hier der Gesellschaftsroman Unterleuten von Juli Zeh (Zeh 2016) herausgehoben, in dem die Romanfiguren vor verschiedenen Hintergründen ein und dieselbe Gegend nach ihren jeweiligen Interessen verteidigen, verwalten und gestalten wollen. Das brandenburgische Dorf Unterleuten, das aus städtischer Perspektive als landschaftlich schöne Gegend und Sehnsuchtsort gelten kann, wird zu einem Herd scheinbar unlösbarer Konflikte. Unterschiedliche Imaginationen und Projektionen, die mit dem Land verbunden sind, werden nicht nur medial und literarisch verhandelt, sondern führen auch zu verschiedenen Raumpraktiken und -produktion in der Stadt und auf dem Land. So zeigt sich in der Stadt vielerorts der urbane Gartenbau (urban gardening) als gemeinschaftliche Praktik in Anlehnung an als ›ursprünglich‹ geltende ländliche Lebensweisen, mit denen Subsistenzwirtschaft und Nachbarschaftshilfe verbunden werden (Müller 2011; Baier et al. 2013). Das Land wiederum erfährt als Wohnort für Städter auf der Suche nach dem ›guten Leben‹ eine immer größere Bedeutung (Rössel 2014). Hier entstehen vielmals Konflikte zwischen den Projektionen von Land als Ort naturverbundener Wohn- und Lebensweisen und dem Land als industrialisierter Bewirtschaftungs- und Produktionszone (vgl. hierzu auch Oswalt und Friedrich in diesem Band). Das Ländliche wird als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum in verschiedenen Kontexten immer wieder neu hergestellt. Es gibt nicht ›das‹ Rurale als fixe Kategorie, genauso wenig wie es das klar umrissene Urbane geben kann. Und trotzdem übernehmen diese Begriffe mit ihren Zuschreibungen und in ihrer Vielschichtigkeit auch Orientierungsfunktion in sich verflüssigenden Raumzuständen zwischen Stadt und Land (Redepenning 2011). Auf der Ebene sozialer Imagination stellen Stadt und Land ein historisch immer wieder aufgenommenes und (re-)produziertes Gegensatzpaar dar, das als Deutungsmuster soziokultureller und räumlich-materieller Wirklichkeit verwendet wird. In alltagsweltlichen Kommunikationszu5 | Vor dem Hintergrund dieses Phänomens setzt sich der Kulturgeograph Christoph Baumann mit den Ideen und Praktiken, die sich hinter dieser Konjunktur einer »idyllischen Ländlichkeit« verbergen auseinander (Baumann 2018).

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sammenhängen wird sich auf verschiedene Aspekte und Bilder des Ruralen bezogen. Mit städtischen und ländlichen Räumen verbinden sich in gesellschaftlichen Verständigungsprozessen unterschiedliche sozialräumliche, funktionale und ästhetische Attribute. Diese stehen sich vielmals als Bild und Gegenbild komplementär gegenüber (Hassenpflug 2006: 75). Die Klärung und Schärfung dieser Bedeutungszuschreibungen, die mit dem Urbanen und dem Ruralen in den jeweiligen Verwendungs- und Bezugskontexten verbunden sind, dienen dabei als Orientierungshilfen innerhalb gegenwärtig stattfindender räumlicher und gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Die Perspektiven des Ruralen eröffnen hierbei die Möglichkeit, das Land in Bezug zu seinem vermeintlichen Gegenstück – dem Urbanen – neu zu lesen, zu verstehen und zu gestalten. Das Rurale ist dabei nicht allein als ein räumliches Territorium außerhalb der Agglomerationen und Metropolräume zu verstehen, vielmehr ist es als Handlungs- und Imaginationsraum immer auch Bestandteil einer urbanen Realität. Es ist daher zu fragen, welche Funktionen und Wirkkräfte Imaginationen und Projektionen des Ländlichen in unterschiedlichen Handlungskontexten besitzen und entfalten und wie hierdurch letztlich auch spezifische rurbane Raumkonstellationen produziert werden. Wofür steht ›das‹ Ländliche als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum innerhalb einer urbanisierten Welt?

R urbane L andschaften Das Verhältnis von Stadt und Land ist gegenwärtig sowohl aus raumwissenschaftlicher als auch gesellschaftlicher Sicht erneut in den Vordergrund geraten und findet weit über Fachwelten, Politik und Verwaltung hinaus Aufmerksamkeit. Das Beziehungsgeflecht zwischen Stadt und Land ist dabei seit vielen Jahrzehnten Gegenstand raumwissenschaftlicher sowie kultur- und sozialwissenschaftlicher Betrachtungen. Um die Verschränkung urbaner und ruraler Lebensweisen und Raumstrukturen zu beschreiben, wurde und wird heute vielfach wieder auf den Begriff ›rurban‹ zurückgegriffen. Mit diesem Begriff werden, je nach Perspektive und fachlichem Hintergrund, Urbanisierungsprozesse, Siedlungsstrukturen, Kooperationsstrukturen und/oder Raumqualitäten beschrieben.

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Bereits in den 1940er Jahren verwendete die amerikanische Geographin Helen Balk für die Beschreibung von Austausch- und Aushandlungsprozessen zwischen Stadt und Land den Begriff »Rurbanization«. (Balk 1945).6 Für die französischen Geographen Bauer und Roux diente der Begriff »Rurbanisation« in den 1970er Jahren zur Beschreibung von Raumstrukturen, die aus den Verknüpfungen städtischer und ländlicher Raumnutzungen hervorgehen, und beschreibt verschiedene charakteristische rurbane Raummerkmale.7 Austauschvorgänge, bei denen weder die Stadt noch das Land die Entwicklungsrichtung bestimmen, bezeichnet der Humangeograph Gerhard Henkel mit »Rurbanisierung«. Verortet wird dieser Prozess vor allem in den Randzonen der Stadtregionen (Henkel 1995: 34). Aus geographischer Perspektive wird ›rurban‹ also vielmals mit Ausbildung rural-urbaner Strukturen innerhalb stadtregionaler Raumzusammenhänge verbunden. Aktuell taucht der Begriff ›rurban‹ innerhalb raumpolitischer Zusammenhänge zur Beschreibung partnerschaftlicher Beziehungen und neuer Allianzen zwischen Stadt und Land auf.8 Der Begriff ›rurban‹ wird aktuell auch verwendet, um räumliche Qualitäten, »die sich den gewohnten städtischen Deutungsmustern entzieh[en]« (Pretterhofer et al. 2010) phänomenologisch zu beschreiben und durch neue Raumbilder künst6 | Beispielhaft zeigt sie die Beziehungen zwischen Stadt und Land an der amerikanischen Stadt Worcester und ihres Umlandes auf. Die Verbesserung von Transportsystemen führte hier zu einer Vermischung zwischen Land und Stadt — auf der ökonomischen Ebene z.B. im Bereich der Nahrungsmittelproduktion, aber auch auf der Ebene von Wohn- und Arbeitsbeziehungen. (Balk 1945: 108ff.) 7 | Bauer/Roux (1976) beschreiben fünf rurbane Eigenschaften: Als rurban bezeichnen sie die Restflächen zwischen neuen Siedlungen in der Nähe sog. ›alter Städte‹, die Parallelität und Gleichzeitigkeit von ruralen Lebenspraktiken in direkter Nachbarschaft zu modernen Wohnumfeldern, Einfamilienhaussiedlungen nahe ›alter Städte‹, schwindende Zahlen der Bauern und Handwerker in der Wirtschaftsstruktur sowie die durch die Ausdifferenzierung der Landnutzung verbundene Steigerung von Grundstückspreisen durch den Wohnungsbau in ländlichen Regionen (nach Madaleno/Gurovich Weisman 2004: 514). 8 | RURBAN (Partnership for sustainable urban-rural development) is a preparatory action agreed by the European Parliament in 2010 and managed by the European Commission. (Siehe http://ec.europa.eu/regional_policy/en/policy/what/ territorial-cohesion/urban-rural-linkages/)

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lerisch zu interpretieren. Auf räumlich-gestalterischer sowie planerischer Ebene werden produktive Raumbeziehungen zwischen Stadt und Land und deren Gestaltungspotenzial in den Blick genommen (Langner 2014). So betrachtet beispielsweise die Internationale Bauausstellung Thüringen (IBA) das Bundesland Thüringen als StadtLand, indem sich Urbanismus und Ruralismus zu einem ›neuen Rurbanismus‹ überlagern (Arch+ 228/2017: 17). Der Begriff beschreibt in diesem Zusammenhang Abhängigkeiten, Angleichungen oder Unterschiede zwischen Stadt und Land als »neuen gesellschaftlichen Stoffwechsel« (ebd.: 16). »Rurbane Landschaften«, so der Titel dieses Bandes, steht dafür, dass wir die uns umgebenden Landschaften als veränderliche (Re-)Kombinationen urbaner und ruraler Praktiken, Sinnkontexte und Raumstrukturen verstehen können. Der Begriff soll dabei helfen, die produktiven aber auch spannungs- und konfliktreichen Beziehungen zwischen dem Urbanen und dem Ruralen in den Blick zu nehmen und aufzudecken. Es geht bei der Verwendung dieses Begriffes weniger um die Suche nach einer zuschreibenden und sortierenden Kategorie für aktuelle räumlich-morphologische Siedlungsstrukturen, die sich nicht länger über Kategorien wie ›ländliche‹ und ›städtische‹ Räume beschreiben lassen. Es geht vielmehr darum, die Aufmerksamkeit auf die Ausdifferenzierung eines komplexen und vielschichtigen sowohl räumlich-strukturellen als auch soziokulturellen Beziehungsgefüges zwischen dem Ruralen und Urbanen zu lenken. Der Begriff ›rurbane Landschaften‹ fasst die aktuellen dynamischen Raumbeziehungen losgelöst von einer dualistischen Betrachtungsweise in den Kategorien Stadt und Land – und zwar ohne die Zuschreibungen und Eigenheiten, die mit ›dem‹ Urbanen und ›dem‹ Ruralen in verschiedenen Sinnkontexten verbunden werden, zu negieren. Die Perspektive des ›Rurbanen‹ zielt dabei auf zweierlei ab: Zum einen verlangt sie die gleichzeitige und gleichwertige Betrachtung von urbanen und ruralen Praktiken, Raumstrukturen und Vorstellungswelten; zum anderen verdeutlicht sie die Uneindeutigkeit der Kategorien ›Stadt‹ und ›Land‹ und erfordert so eine kritische Betrachtung damit verbundener Zuschreibungen. Die Beschreibung rurbaner Zusammenhänge ist daher verbunden mit einer permamenten (Re-)Positionierung innerhalb komplexer, dynamischer Beziehungsgeflechte zwischen Stadt und Land. Die Verknüpfung mit dem Landschaftsbegriff fokussiert dabei auf ein räumliches Beziehungsgeschehen. Ein Landschaftsbegriff, der im Sinne

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eines relationalen Raumverständnisses (Löw 2001) verwendet wird, hilft unterschiedliche Raumelemente in ein Bezugssystem zu bringen und in ihren Wechselbeziehungen zu betrachten. Dieses erweiterte Landschaftsverständnis wird gegenwärtig in einem landschaftsplanerischen Fachdiskurs entwickelt und diskutiert (u.a. Prominski 2004; Seggern 2005, 2009). Landschaft wird hier als topologisches Geschehen begriffen und beschrieben, in das der Mensch mit seinem Handeln und seinen Projektionen einbezogen ist. Die verschiedenen Dimensionen von Raum werden in einem Zusammenhang betrachtet und als Landschaft bezeichnet (Seggern 2009: 274). Zu diesen Dimensionen gehören neben der Wahrnehmungsebene auch die materielle Ebene in ihrer physischen Ausprägung und Gestaltung des Raumes sowie die sozialräumliche und -politische Ebene. Die verschiedenen Dimensionen der Landschaft sind immer in ihrem Entwicklungsprozess zu betrachten. Das bedeutet, dass Landschaft immer als Prozess aufzufassen ist. Landschaft wird als ein dynamisches Raumgeschehen verstanden (vgl. Seggern in diesem Band). Die Fähigkeit, durch eine integrierende Betrachtungsweise Beziehungen zu beschreiben, ermöglicht auch das Aufdecken produktiver Verbindungen vormals isoliert betrachteter Elemente und Bedeutungsebenen des Raumes. Der Begriff ›rurbane Landschaften‹ steht für das Erkunden und Verstehen der vielfältigen Verschränkungen von urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen, Projektionen und Raumstrukturen. Begriffe wie ›Rurbanität‹ oder ›rurbane Landschaften‹ können dabei immer nur Hilfskonstruktionen sein, die eine Orientierung und ständige (Re-)Positionierung in urban-ruralen Beziehungsgefügen herausfordern. Diese abstrakten Begriffe müssen, wie es Thomas Sieverts in seinem einführenden Beitrag in diesem Band formuliert, mit lebendigen und konkreten Bildern gefüllt werden. Durch die Beiträge der Autorinnen und Autoren in diesem Band treten Bilder und Narrative, die mit dem Sinngehalt von ›rurbanen Landschaften‹ verbunden sind, deutlicher hervor.

Ü berblick über die B eitr äge Anlass für diesen Sammelband war ein Symposium an der Bauhaus-Universität Weimar im Sommer 2017 im Rahmen des Forschungsprojektes »Rurbane Landschaften als Projektions- und Handlungsraum einer nach-

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haltigen Raumentwicklung«9 gefördert durch die VolkswagenStiftung. Während des Symposiums entstand ein interdisziplinärer Austausch zwischen planungspraktischen und entwerfenden Disziplinen mit der Reflexivität gegenwarts- und anwendungsbezogener Raum- und Sozialwissenschaften, sowie mit kritisch-theoretischen und vergleichenden geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven. Das Rurale als wirkmächtiger Imaginationsraum in einer urbanisierten Welt, urban-rurale Beziehungsgefüge in Alltagswelten, Raumpolitik und Architektur, das Land als Projektionsraum und Austragungsort von Konflikten sowie produktive Verbindungen zwischen Stadt und Land und deren zukunftsfähigen Gestaltmöglichkeiten in Stadt- und Landschaftsplanung sind Themen der einzelnen Beiträge. Die Struktur des Bandes führt in den folgenden sechs Themenbereichen verschiedene disziplinäre Perspektiven auf das Rurale in einer urbanisierten Welt zusammen:

AUF TAUCHEN des R uralen in einer urbanisierten W elt Die aktuell zu beobachtende literarisch-künstlerische Wiederkehr des Ländlichen in den öffentlichen und medialen Diskussionen sowie die diesbezüglichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Analysen deuten daraufhin, dass ›das‹ Ländliche ein wichtiges Kommunikationsfeld für soziale Interaktion, Selbstbeschreibung und Selbstverortung gegenwärtiger Gesellschaften geworden ist (Nell/Weiland 2014). Dabei stehen die raumentwerfenden Professionen nicht außerhalb gesellschaftlicher Verständigungsprozesse, durch die Bedeutungszuschreibungen des Ländlichen (re-)produziert werden. 9 | Das Forschungsprojekt an der Professur Landschaftsarchitektur/-planung der Bauhaus-Universität Weimar ist Teil des interdisziplinären Verbundprojektes »Experimentierfeld Dorf. Die Wiederkehr des Dörflichen als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum«, gefördert von der VolkswagenStiftung; in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Werner Nell, Komparatistik, Sprecher der Forschergruppe), der Universität Potsdam (Prof. Dr. Magdalena Marszałek, Slavistik) und der Universität Konstanz (PD Dr. Markus Twellmann, Germanistik). Laufzeit: 2015-2018 (Siehe www.dorfatlas.uni-halle.de)

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In welchen Zusammenhängen tauchen Narrative des Ländlichen in literarischen und medialen Repräsentationen und (stadt)gesellschaftlichen Diskursen auf? Was wird damit anvisiert und gleichzeitig eingeschlossen, was wird unter diesen Vorgaben möglicherweise be-, wenn nicht gar ausgegrenzt? Welche Bedeutungszuschreibungen, Erfahrungsgrundlagen, Sinnkonstruktionen, Traditionslinien, Resonanzräume und Wirkabsichten sind mit einer Bezugnahme auf ›das‹ Ländliche verbunden? Verschiedene ›kulturelle Erscheinungen‹ des Ländlichen und wie diese in den heutigen Großstädten ›aufgehoben‹ sind, zeigt der Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts in seinem einleitenden Beitrag auf. Dabei öffnet er den Blick dafür, wie vor dem Hintergrund der Herausforderungen globaler Urbanisierungsprozesse im Sinngehalt des Begriffes »Rurbanität« nicht nur eine notwendige Grundlage künftiger Stadtentwicklung zu suchen wäre, sondern sich hier auch faszinierende Perspektiven für die Gestaltung neuer Stadtlandschaften verbergen. Inwiefern die Reflexion einer aktuellen Konjunktur des Ländlichen in literarisch-künstlerischen Imaginationen der Selbstverortung gegenwärtiger Gesellschaften dient, wird in den beiden folgenden literaturwissenschaftlichen Beiträgen aufgezeigt. Werner Nell betrachtet das Phänomen des (Wieder-)Auftauchens des Ruralen in gegenwärtigen urban orientierten und modernen Zusammenhängen einerseits als eine nostalgische Rückwendung, Regression oder ggf. reaktionäre Suche nach Auswegen aus den Zumutungen der Moderne. Andererseits stellt er das wiederkehrende Ländliche als Spiegelungsfläche und Experimentierfeld dar, um Sinnorientierungen der Gegenwart zu thematisieren und gesellschaftlich weiter zu ›verhandeln‹. Das Ländliche erscheint vor dem Hintergrund gegenwärtiger moderner Lebenswelten, mit denen auch Beschleunigung, Überforderung bzw. Individualisierung der Städte verbunden wird, häufig als Sehnsuchtsort. Henri Seel hinterfragt, wie in der Literarisierung der rurale Raum als möglicher Gegen-Ort zur Beschleunigung eines neoliberalen Projekts konzeptualisiert wird und wie dabei auf Schreibweisen des Reaktionären oder Utopischen zurückgegriffen wird.

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R urbane L andschaften RE-KONFIGURIEREN Stadt und Land werden häufig in einfachen Dualismen und Dichotomien gedacht – auf der einen Seite die fortschrittliche und fortschreitende Stadt, auf der anderen Seite das vormoderne, zurückgebliebene und auch weiterhin zurückbleibende Land. In verschiedenen planungswissenschaftlichen Kontexten werden jenseits dieser dualistischen Sichtweise die Beziehungen zwischen Stadt und Land betrachtet und reflektiert, wie deren Verhältnis gesellschaftlich verhandelt wird. Diese Beziehungen sind vielmals konfliktbeladen, oft verbunden mit einer Marginalisierung des Ländlichen. Um bisher ungesehene, aber produktive Verbindungen zwischen ›dem‹ Urbanen und ›dem‹ Ruralen aufzudecken, ist es nötig, die uns umgebenden Landschaften als (Re-)Kombination von urbanen und ruralen Praktiken, Strukturen und Sinnkontexten neu zu lesen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn die Beziehungsgefüge zwischen Stadt und Land aufgedeckt und kritisch reflektiert werden. Wie ist das Ländliche beispielsweise bestimmbar als das ›Andere‹ der Stadt, in Abgrenzung zum Städtischen – aber eben auch in seinen Verbindungen zur Stadt, als Teil des Städtischen, ja als Stadt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Kulturgeograph Marc Redepenning. Er geht u.a. der Problematik nach, welche versteckten geographischen Annahmen und Grenzziehungen im Denken über Stadt und Land feststellbar sind und ob das Verhältnis zwischen beiden als trennend oder als verbindend zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang diskutiert er die Frage, welche Funktionen die eine oder andere Sichtweise auf das Verhältnis von Stadt und Land mit Blick auf die Zukunft der Gesellschaft in räumlicher Hinsicht haben kann. Die raumpolitische Dimension der Konfiguration von Maßstabsebenen aus der Perspektive der kritischen Humangeographie beleuchten Michael Mießner und Matthias Naumann. Anhand von Beispielen aus der deutschen Raumordnungs- und Energiepolitik diskutieren sie, wie durch Reskalierungsprozesse Stadt-Land-Beziehungen verändert werden und fragen nach räumlichen Gewinnern und den Verlierern solcher Prozesse. Eine architektonische Perspektive auf die Geschichte von rurbanen Phänomenen in Architekturen und Stadtstrukturen liefert Jessica Christoph. Durch phänomenologische Beschreibungen räumlich-baulicher Strukturen beleuchtet sie die Verschmelzung von Stadt und Land als

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Ausdruck gesellschaftlicher und individueller Idealvorstellungen des Wohnens und Lebens seit der Industrialisierung. Martina Baum, Sebastian Klawiter und Hanna Noller haben mit dem Trendbook ›Stadt/Land-Perspektiven‹ ein Werkzeug entwickelt, mit dessen Hilfe während des Symposiums – ohne Gewichtung und Zwang zum Abgeschlossenen – Gedanken und Ideen gesammelt werden konnten. Durch die Ergänzungen der Teilnehmenden des Symposiums wurde die Stadt/Land Auslegeordnung des Trendbooks rekonfiguriert und es entstanden neue Fragestellungen in Bezug auf das Gehörte, Gesehene und Diskutierte.

R urbane L andschaften LEBEN Der dritte Teil des Sammelbandes richtet den Blick auf gegenwärtige lebenspraktische Handlungsmuster zwischen Stadt und Land. In alltagspraktischen Zusammenhängen zeigen sich hybride Formen urban-ruraler Verflechtungen: urbanes Leben auf dem Land und neue Ländlichkeit, aber auch Formen einer wiederkehrenden Dörflichkeit in der Stadt. Wie verbinden sich aus einer alltagspraktischen Perspektive heraus urbane und rurale Lebenswelten, aber auch damit verbundene Bilder und Raumstrukturen zu Elementen eines Raumgeschehens (Seggern 2010)? In welchen Kontexten wird sich dabei aber auch auf das Rurale als eigenständige soziale Formation mit spezifischen Denkmustern und Lebensweisen bezogen? Was bedeutet es für die Konstruktionen lebensweltlicher Wirklichkeit, in eher ländlich-peripheren oder eher städtisch-verdichteten Regionen zu leben? Die Stadt- und Landschaftsplanerin Hille von Seggern entfaltet in ihrem Beitrag einen relationalen und dynamischen Raumbegriff, mit dessen Hilfe ein ›Geschehensblick‹ auf die jeweilige gesamte alltägliche Welt in ihren globalen und in ihren lokalen Manifestationen möglich wird. Sie skizziert, wie in Entwurfs-Forschungsprozessen durch diesen ›Geschehensblick‹ ein entwerferischer und erkenntnisleitender Zugang zur Alltagswelt gelingen kann. In ihrem Beitrag zu Bildungslandschaften auf dem Land und in der Stadt knüpft die Landschaftsarchitektin Sabine Rabe an diesen Raumbegriff an und verbindet räumliche Dimensionen mit der Betrachtung von Bildungschancen vergleichend in einer Metropolregion und in einer

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ländlichen Region. In dem Forschungsprojekt »Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften« werden durch die Perspektive der Jugendlichen auf ihre eigene Alltagswelt die jeweiligen Eigenheiten der beiden untersuchten Bildungslandschaften aufgedeckt. Mit der Bleibeperspektive von Jugendlichen in der Thüringer Peripherie beschäftigt sich der Politikwissenschaftler und Stadtsoziologe Frank Eckardt in seinem Beitrag und diskutiert vor diesem Hintergrund die räumliche Dimension der ruralen Gesellschaft. Dabei weitet er einen vielmals räumlich begrenzt angewandten Sozialraumbegriff auf und bezieht sich auf ein vernetztes Sozialraumverständnis, welches die Ausweitung individueller Handlungs- und Lebensräume über den Aufenthalts- und Wohnort zwingend mitdenkt. Mit diesem erweiterten Sozialraumbegriff diskutiert er die Bedeutung der Bezugnahme auf zentrale Räume und urbane Lebensentwürfe für Jugendliche in peripheren Regionen. Die Kulturwissenschaftlerin Katherin Wagenknecht untersucht die Relevanz räumlicher Ordnungskategorien auf der Ebene alltäglicher Routinen und wertet hierfür die Charakterisierung des eigenen Wohnstandortes von Einfamilienhausbewohnerinnen und -bewohnern empirisch aus. Dabei stellt sie fest, dass kulturelle Imaginationen räumlicher Kategorien nicht notwendig deckungsgleich mit den Siedlungsstrukturen sind. Das Ländliche als Lebensstil ist Ergebnis soziokultureller Praktiken und die Vorstellungen über dörfliche Lebensweisen sind nicht homogen. In den Beschreibungen des Ruralen wird sich allerdings immer wieder auf Narrative zur Stadt bezogen. Beide sozialräumliche Formen dienen den befragten Bewohnerinnen und Bewohnern als Kontrastfolie des jeweilig anderen. Im letzten Beitrag dieses Themenfelds porträtiert der Landschaftsarchitekt Jorg Sieweke eine marginalisierte und stigmatisierte Landschaft in der Millionenstadt Rom. In seinem photographischen Essay nähert er sich einer durch die Stadtgesellschaft scheinbar unerschlossenen und gemiedenen Flusslandschaft am Unterlauf des Aniene und findet hier Refugien für informelle Aktivitäten und Aneignungspraktiken marginalisierter Gruppen. Dabei entwickelt er eine Gegenerzählung zu diesem stigmatisierten Raum und zeigt gleichzeitig eine migrationsgesellschaftliche Perspektive auf die Herausbildung gegenwärtiger rurbaner Landschaften als Ankunftslandschaften auf.

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R urbane L andschaften BEWIRTSCHAF TEN Digitalisierung und Energiewende, globalisierte Produktions- und urbane Lebensweisen, aber auch die Suche nach dem ›guten Leben‹ bilden treibende Kräfte der Transformation des Landes. Damit einhergehende räumliche Veränderungen der Landschaften lassen sich nur in Relation zu globalen Netzwerken denken. Dynamische Veränderungen zeigen sich vor allem in der Bewirtschaftung und Nutzung der Landschaft. Das Land ist vielerorts zu einer hocheffizienten Bewirtschaftungszone der Agrar- und Bioenergieindustrie geworden, eingebunden in globalisierte Produktionsprozesse. Die damit verbundenen räumlichen Veränderungsprozesse stehen jedoch in Kontrast zu den vielfach geteilten Idealbildern einer traditionellen Ländlichkeit. Was bedeuten unterschiedliche Nutzungsinteressen des Landes und Vorstellungswelten des Ländlichen für den Umgang mit der begrenzten Ressource Land? Welche Konflikte entstehen daraus und wie werden diese verhandelt? Inwiefern durch fortschreitende Modernisierung und Industrialisierung der Land- und Forstwirtschaft dem Land städtische Charakteristika zugeschrieben werden können, da es zunehmend in umfassende überregionale und globale Netzwerke und Wertschöpfungsketten einbezogen ist, beschreibt der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt. Die Modernität des Landes, repräsentiert durch hochtechnisierte Betriebe und eine digitale Landwirtschaft, kontrastiert er mit den v.a. aus urbaner Perspektive gepflegten Idealbildern eines traditionellen Landlebens und skizziert daraus entstehende Konflikte zwischen Zugezogenen und Alteingesessenen. Die politischen Verquickungen zwischen Stadt und Land erläutert die Umwelt- und Nachhaltigkeitsforscherin Beate Friedrich anhand des Konfliktfeldes um die Agro-Gentechnik. Am Beispiel des Streites um den Anbau der gentechnisch veränderten Maissorte MON810 zeigt sie auf, wie ländliche Räume als politische Räume wahrgenommen werden und zu Konflikträumen mit überregionaler Bedeutung werden, in denen sich das Rurale und Urbane miteinander verschränken. Der Literaturwissenschaftler Ingo Uhlig geht schließlich der Frage nach, wie die Energiewende in der Gegenwartsliteratur dargestellt wird und wie sie sich als Sensorium für die Komplexität historischer Umbrüche qualifiziert. Er öffnet den Blick dafür, wie erst durch die Beschreibung rurbaner Raumerfahrungen und Affekte die Umrisse einer Figur in den Texten zusammentreten.

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R urbane L andschaften VERHANDELN Globale Urbanisierungsprozesse verändern sowohl den ehemals städtischen als auch den ehemals ländlichen Raum und führen zu Rekonfigurationen von Handlungs- und Denkräumen auf regionaler Ebene. Sich ändernde Abläufe, Prozesse, aber auch Sichtweisen führen zu Identitätssuche und Neuorientierung. Wie (re-)positionieren sich Kommunen und Akteure ländlicher Regionen innerhalb dieses dynamischen gesellschaftlichen und räumlichen Veränderungsprozesses? Welche Bedeutung besitzt dabei Landschaft als verbindendes Element und Bezugsgröße lokaler Selbstverortung sowie bei der Konstruktion regionaler und kollektiver Identitätsräume? Wie können diese Landschaften und ihre Entwicklungsoptionen über Raumbilder und andere informelle Verständigungsinstrumente verhandelt werden? Der Landschaftsplaner Sören Schöbel stellt in das Zentrum seines Beitrages die Frage, wie sich dialogische Diskurse, Leitbilder und Verfahren über räumliche Strukturqualitäten aus den urbanen und dörflichen Kernen auch auf die Planung ländlicher und suburbaner Räume übertragen lassen. Er formuliert die Forderung nach einer kritischen Rekonstruktion und behutsamen Erneuerung der europäischen Kulturlandschaft auf der Basis eines neuen Gesellschaftsvertrags zur Landschaft. Die Bedeutung von Landschaft als ein verbindendes Element bei der Bewältigung von Identitätskonflikten innerhalb von Eingemeindungsprozessen betonen die Soziologen Reinhold Sackmann und Christoph Schubert. Anhand von zwei Projekten zeigen sie einerseits in welcher Form zivilgesellschaftliches Engagement kompensatorisches Potential für drohende Infrastrukturverluste in schrumpfenden Kommunen bereitstellt und andererseits welche Identitätskonzepte bei der Bewältigung von Eingemeindungen angewandt werden können. Raumreisen und Raumbilder können als Bestandteile informeller Verfahren eine wichtige Rolle als Verständigungs- und Verhandlungsinstrument zur Gestaltung von Transformationsprozessen in ländlichen Regionen spielen. Der Landschaftsarchitekt Henrik Schultz verdeutlicht anhand von Praxisbeispielen, wie es gelingen kann, mit sprechenden räumlichen Bildern Verständigungsprozesse zwischen verschiedenen Interessensgruppen über die räumliche Entwicklung einer Region anzustoßen. Informelle Verhandlungsprozesse schließen auch kooperative Formen ›rurbaner‹ Landschaftsentwicklung ein. Vor dem Hintergrund gegenwär-

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tiger politischer und kultureller Diskurse des kollaborativen Denkens und Handelns diskutiert Hannes Langguth Möglichkeiten gemeinschaftsorientierter Lebens- und Wirtschaftsweisen in post-ruralen Räumen und beleuchtet deren trans-regionale Netzwerkstrukturen. Dabei verdeutlicht er die Wechselbeziehungen zwischen Globalisierungsprozessen, technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen auf der einen und ihren ganz spezifischen, lokalräumlichen Transformationen auf der anderen Seite.

R urbane L andschaften ERFINDEN Das letzte Themenfeld sucht aus entwerferischer Perspektive nach neuen produktiven Verbindungen zwischen dem Urbanen und dem Ruralen. Durch das sich ändernde Verständnis von Stadt und Land und deren Zusammenspiel entstehen auch neue räumliche Vorstellungen, die weder eindeutig städtisch noch eindeutig ländlich sind, sondern beides miteinander verschränken. Entwerferische Herangehensweisen tragen dazu bei, neue Sichtweisen auf urban-rurale Zusammenhänge zu erzeugen, jenseits bekannter Raumtypologien rurbane Landschaften zu erfinden, Möglichkeitsräume rurbaner Landschaften aufzuzeigen und zu kommunizieren. Wie können die Möglichkeitsräume rurbaner Landschaften lesbar, beschreibbar, erzählbar und somit auch wahrnehmbar und produktiv nutzbar und gestaltbar werden? Das Entwerfen urban-ruraler Verknüpfungen auf einer großräumigen, regionalen Ebene zeigen die Landschaftsarchitektinnen Kathrin Wieck und Undine Giseke anhand langjähriger transdisziplinärer Forschungen zur wachsenden Stadtregion Casablanca und mit Hilfe von Beispielentwürfen aus einem studentischen Entwurfsstudio zum ›Thüringer Mittelland‹ auf. Dabei verfolgen sie die zentrale Frage, wie Interaktionen zwischen ruralen und urbanen Systemen neu gedacht werden können, wenn die bisherigen Kategorien von Kultur und Natur sowie Stadt und Land in Frage gestellt werden. Die Suche nach Bildern für Zukunftsperspektiven, die aus ruralurbanen Verflechtungen denkbar sind, beschreibt die Architektin Anke Schmidt am Beispiel der Kulturlandschaft ›Altes Land‹. Dabei beleuchtet sie, wie in solchen Such- und Entwurfsprozessen narrative Strategien ein-

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gesetzt werden können, um in kollaborativen Planungsprozessen Wandel und Veränderung zu antizipieren. Wiederaneignung bedeutet auch das Neuerfinden gegebener Strukturen. Ebenfalls aus architektonischer Perspektive rückt Andy Westner die Umgestaltung und auch Neuerfindung von Ortskernen ländlicher Regionen in den Fokus, um eine zukünftige Belebung und Bewohnbarkeit zu sichern. In seinem Beitrag identifiziert er die damit verbundenen Herausforderungen und Potentiale der Siedlungsentwicklung in ländlichen Räumen. Neben diesen landschaftsplanerischen und städtebaulichen Herangehensweisen auf einer großräumigen Ebene suchen die letzten beiden Beiträge des Bandes in architektonischen Objekten nach einer neuartigen Verknüpfung zwischen dem Urbanen und dem Ruralen. Die Architektin Ines Lüder konzeptualisiert in ihrem Beitrag gegenwärtige Erscheinungsformen umgenutzter und weiterentwickelter historischer Bausubstanz in ländlichen Regionen als ›country lofts‹. Sie diskutiert in diesem Zusammenhang eine Umbaukultur, die sich mit den regionalspezifischen räumlichen und baulichen Eigenheiten auseinandersetzt, diese aufgreift und kontextorientiert weiterentwickelt. Imke Woelk zeigt in ihrem Beitrag eine mögliche Neuinterpretation von Berliner Kleingartenanlagen zu neuartigen innerstädtisch-dörflichen Quartieren. Vor dem Hintergrund eines steigenden Drucks auf den Wohnungsmarkt diskutiert sie mit dem architektonischen Konzept »Gartenheim« das Potential von Kleingartenanlagen für eine gemeinschaftliche Form des innerstädtischen Wohnens bei gleichzeitiger Sicherung der ›grünen Identität‹ der Gebiete und ihrer ökologischen Funktionen für den städtischen Raum.

A usblick Perspektiven des Ruralen können zu einem differenzierteren Verstehen des Städtischen beitragen. Stadt und Land und die damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen und Sinnkonstruktionen sind Orientierungspunkte innerhalb eines dynamischen Raumgeschehens (Seggern 2010), in dem rurale und urbane Praktiken und Strukturen mannigfaltig verflochten sind.

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Es gilt dabei nicht nur zu fragen, wie durch globale Urbanisierungsprozesse das Land transformiert wird, sondern auch zu erkunden, wie das Land die Stadt verändert und welche zukunftsfähigen Beziehungen zwischen Stadt und Land vorstellbar und letztlich auch wünschenswert wären. ›Rurbane Landschaften‹, verstanden als spezifische Konfigurationen eines dynamischen Raumgeschehens, benötigen als Resultate sozialmentaler Konstruktionen und materiell-dinglicher Gestaltungen eine interdisziplinäre Betrachtung. Die Beiträge in diesem Band haben aus verschiedenen disziplinären Zugängen heraus (Re-)Positionierungen des Ruralen in einer urbanisierten Welt vorgenommen und damit verbundene (Re-)Präsentationen des Ruralen beleuchtet und kritisch hinterfragt. Mit den Begriffen urban und rural sind wirkmächtige Bilder verbunden, die als Bild und Gegenbild in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen immer wieder aufgerufen werden. Welche Bilder und Narrative mit ›rurbanen Landschaften‹ verbunden werden und wie diese in literarischen und raumentwerfenden Praktiken sowie in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen aufgegriffen werden, sucht der vorliegende Band zu erkunden. Kultur- und geisteswissenschaftliche Zugänge bieten hier eine wertvolle kritische Reflexionsebene und ›Lesehilfen‹ in Bezug auf Bedeutungszuschreibungen und Sinnkontexte für die raumentwerfenden und -planenden Disziplinen. Die anwendungsbezogenen planerischen Beiträge wiederum verdeutlichen die Verflechtung kultureller Imaginations- und Sozialräume mit physisch-räumlichen Erscheinungsformen rurbaner Landschaften. Vor allem die letzten beiden Themenkomplexe (Verhandeln und Erfinden rurbaner Landschaften) zeigen noch einmal deutlich, dass durch Raumbilder und -entwürfe ›rurbane Landschaften‹ als Möglichkeitsräume überhaupt erst sichtbar und verhandelbar werden. Aus diesem In-Beziehung-Setzen von urbanen und ruralen Imaginationen, Projektionen und räumlichen Strukturen können bisher ungesehene aber produktive Verbindungen zwischen dem Urbanen und dem Ruralen aufgedeckt werden. Für die raumentwerfenden Disziplinen liegt hier die Suche nach neuen Raumbildern zwischen Stadt und Land verborgen, aus denen heraus zukunftsfähige und lebenswerte Landschaften zu denken und zu gestalten wären.

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AUF TAUCHEN des Ruralen in einer urbanisierten Welt

Rurbane Landschaften Vom Aufheben des Ländlichen in der Stadt auf dem Wege in das Anthropozän Thomas Sieverts

Transformationen des L ändlichen im V erl aufe eines L ebens In meiner Kindheit Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Schleswig–Holstein habe ich die alte ländliche Welt noch erlebt, die alten fast autarken Bauernhöfe und die von der bäuerlichen Kreislaufwirtschaft über Jahrhunderte stabil gehaltene bäuerliche Kulturlandschaft, in der auch die Energie als Hafer für die Pferde als Zugtiere aus dem Acker kam (und nicht aus der Tankstelle). ›Echte‹ Rurbanität habe ich als 10-12-Jähriger in den Jahren um das Ende des Zweiten Weltkriegs herum in Hamburg erfahren, als jeder Park und jeder Sportplatz ein Kartoffelacker, die menschlichen Exkremente zum Düngen, jeder Garten und jeder Balkon der Intensiv-Gartenwirtschaft diente und viele Lastwagen mit Holzgas betrieben wurden, als wir hinter den Pferden, die es damals in der Stadt durchaus noch gab, hinterher rannten, um die Pferdeäpfel einzusammeln. Sowohl die 10.000 Jahre alte Bauernwelt, als auch die aus der Not geborene Rurbanität dieser Jahre sind verschwunden. Der ländlichen Kultur ist das Personal ausgegangen: Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist von ca. 80 Prozent um 1800 über ca. 38 Prozent um 1900 und ca. 24 Prozent um 1950 auf unter 2 Prozent um das Jahr 2000 zurückgegangen. Immerhin waren 1940, als ich die alte Welt noch erlebt habe, noch mehr als ein Viertel der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. Die existentielle Not war wenige Jahre nach dem Krieg behoben,

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auch dank der zunehmenden Industrialisierung und Modernisierung in der Landwirtschaft. Eine Kultur der Mechanisierung und der Maschinen, der Großställe und Glashäuser, der Kunststofffolien und der großen Schläge – alles mit einer ganz eigenen Ästhetik – bestimmt die Landschaft der Nahrungsmittelproduktion, die heute fast ohne Menschen auskommt. Die Transformation der Landwirtschaft durch Intensivierung und Industrialisierung wird weitergehen müssen, weil die Menschheit noch einmal um die Hälfte wachsen wird (Haber 2016). Der Konflikt zwischen Menschenernährung und Naturerhaltung wird immer neu austariert werden müssen, wobei Kultur-, Landschafts- und Denkmalschutz einen schweren Stand haben und haben werden. Die flächenmäßig beschränkten guten Ackerböden werden für die Ernährung immer intensiver genutzt werden müssen. Das bedeutet, dass sich der Naturschutz auf die übrigen Flächen konzentrieren muss und zu diesen übrigen Flächen rechne ich auch die Städte und die Stadtlandschaft. Die Schutzbestrebungen des Naturschutzes, die als Gegenbewegungen zur Industrialisierung entstanden waren, müssen – um vital zu bleiben – in einer ›Stadtlandkultur‹ zweiter Art neu verankert werden.

W ichtige kulturelle A bleitungen aus der G eschichte des L ändlichen Ländlichkeit heute und Rurbanität sind zu kulturellen Ableitungen geworden. Sie haben Vorgänger und entfernte Verwandte zum Beispiel in der Holländischen Landschaftsmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts, in den ›Schäfereien‹ des Adels im 18. Jahrhundert, in der ›Decorated Farm‹ und im Gartenreich des Fürsten Franz zu Dessau im 19. Jahrhundert. Aber auch in den Reformsiedlungen und Gartenstädten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ebenso wie in den Gartenkolonien der Schrebergärten ging es um Ländliches in der Stadt. Heute steht dem Verlust an ›echter‹ ländlicher Kultur eine erstaunliche Präsenz von wirkmächtigen Erscheinungen gegenüber, die sich auf die ländliche Kultur beziehen: die kulturellen Formen der Erinnerung an das Land durchdringen die Städte, die städtische Atmosphäre ist gefärbt durch Ländliches: ländliche Bilder, ländliche Musik, ländliches Verhalten. Ich nenne sie Ableitungen unterschiedlicher Art, je nachdem, wie

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weit sie sich vom ländlichen Ursprung entfernt haben. Über sie ist das Ländliche in der Stadt in neuen Formen an vielen Stellen gegenwärtig. Ich will diese Erscheinungen in drei Gruppen einteilen: 1. Erscheinungen, die um ein gesundes, naturverbundenes Leben kreisen, wie es den traditionellen Bäuerinnen und Bauern zugeschrieben wird. Dazu gehören zum Beispiel ›unverfälschte‹ Lebensmittel vom Hofladen, die Eigenproduktion von Nahrungsmitteln im eigenen oder gemieteten Garten, aber auch bestimmte traditionelle Sportarten wie das Reiten über Land und das Bergwandern (obwohl dies nie von Bäuerinnen und Bauern betrieben wurde), das Eisstockschießen und die volkstümliche Jagd. Neue Formen wie das ›Urban Gardening‹ bereichern das Bild. Die neue ›urban agriculture‹ transportiert zusammen mit ihrer Nahrungsmittelproduktion wichtige soziokulturelle Botschaften (Lorberg et al. 2016). 2. Erscheinungen, die vom sich Kümmern um das nichtmenschliche Leben der Pflanzen und Tiere, und damit auch von Artenschutz und Erhalt der Artenvielfalt zeugen, wie sie in den alten bäuerlichen Kulturlandschaften zu Hause waren. (Das alte Naturschutzgesetz ging ja noch davon aus, dass eine ordnungsgemäß betriebene Landwirtschaft per se dem Naturschutz diene). Zu diesen Erscheinungen zählen zum Beispiel die Vogelschützerinnen und Vogelschützer, die ›Baumpatinnen und -paten‹, die Nist- und Vogelhilfen in Form von Vogelhäusern, Vogeltränken und Futterplätzen, auch die Schutzzeiten für bestimmte Tiere. 3. Erscheinungen, die ich unter dem Begriff der ›Symbolischen Formen‹ zusammenfassen möchte, die auf das Land verweisen, ohne funktional oder inhaltlich noch etwas damit zu tun zu haben. Hierzu gehören bestimmte Bauformen oder auch nur einzelne Bauelemente, wie zum Beispiel Fachwerk, geneigte Dächer, Giebel, Natursteine usw., die wegen ihrer traditionellen ländlichen Anmutung allgemein beliebt sind. Aber auch Kleidungsformen gehören dazu, mit denen man sich einen ländlich-konservativen und volksverbundenen Ausdruck geben will, wie zum Beispiel Trachten aller Art, wie sie auf dem Lande üblich waren und heute wieder als Volkstum gepflegt werden, aber auch längst vielfältig abgewandelt die allgemeine Mode beeinflussen. Zu den symbolischen Formen gehören aber auch die Volksmusik und die Folklorefeste, die Erinnerungen an das Landleben, an den land-

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wirtschaftlichen Jahresrhythmus und an religiöse Riten wach halten. Auch die neue ›Zurück-aufs-Land-Literatur‹ würde ich dazu rechnen. Eine besondere Übersetzungsform von traditionellen ländlichen Kulturen kann man wegen ihrer Komplexität nicht einfach als Ableitung fassen: den Großstadt-Kiez. Die Kieze bilden neue ›Dörfer‹ in der Großstadt, mit eigenen Vereinen, Märkten, Chören, Künstlergilden und Literaturen, bis hin zu neuen Formen freiwilliger solidarischer ›Großfamilien‹. Während manche der abgeleiteten Erscheinungen des Ländlichen in der Stadt zu den modischen Tagesphänomenen zu zählen sind, die nichtsdestotrotz als wichtige Indikatoren gesellschaftlicher Stimmungen gelesen werden können, verweisen die vitalen Kieze und bestimmte Formen der urban agriculture auf etwas Neues.

V erschmel zungen des L ändlichen und des S tädtischen in neuen F ormen von S tadtl andschaft Wie sind diese kulturellen Erscheinungen des Ländlichen, die neuen Kieze in der Stadt und die verschiedenen Formen von urban agriculture zu lesen und zu deuten? Vielleicht ist in den skizzierten Erscheinungen des Ländlichen in den heutigen Großstädten etwas ›aufgehoben‹ worden, im dreifachen Sinne des Wortes: Im Verschwinden der traditionellen Landwirtschaft, in dem ›Aufnehmen‹ des Ländlichen in die städtische Kultur und im Sinne des Bewahrens des Ländlichen für die Zukunft. Die Erscheinungen des Ländlichen in der Stadt wären dann ein weiteres Beispiel für die vielschichtigen und tiefgreifenden Transformationen und Metamorphosen, denen vitale Städte schon immer unterworfen waren: Fast immer waren erfolgreiche Stadtentwicklungen verbunden mit Umbrüchen, in denen frühere Zustände nicht spurlos verschwanden, sondern in verwandelter Form in das neue Stadtgefüge eingingen. Mit den Erscheinungen des Ländlichen in der Stadt, mit den verschiedenen Formen von urban agriculture und mit den Kiezen, den neuen ›Dörfern‹ in der Großstadt habe ich einen Übergangsprozess beschrieben, der letztlich zu einem anderen Stadtcharakter führen wird. Der Grund hierfür ist die ungeheuer beschleunigte urbane Transformation

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der noch um die Hälfte wachsenden Menschheit, von der drei Viertel in Stadtgebilden leben werden. Die urbane Transformation ist zu einem Treiber des neuen Zeitalters des Anthropozäns geworden. Städte werden zu den wichtigsten Agenten des Überlebens auf der Erde, aber zugleich zu den Hauptleidtragenden der Verluste gehören, je nachdem, wie diese globale Urbanisierung gestaltet wird. Die beschleunigte Urbanisierung wird zwar hauptsächlich in Afrika, Asien und Südamerika stattfinden, aber auch Europa wird einen Teil dieser Urbanisierung übernehmen müssen und wird sich einer Mitverantwortung nicht entziehen können. Die Diskurse um die Stadtentwicklung in Europa müssen anschlussfähig bleiben an die Diskurse um die globale Stadtentwicklung, um nicht international bedeutungslos zu werden. Einige Zahlen beleuchten den Vorgang, indem wir schon mitten drin stecken: Noch in diesem Jahrhundert wird die Menschheit ihr Maximum erreichen und dann langsam schrumpfen. Sie wird noch einmal von heute ca. 7 Milliarden auf 10-11 Milliarden Menschen anwachsen. Hiervon werden mindestens ca. drei Viertel in Stadtgebilden wohnen; das wird zu einer Verdoppelung der Zahl der Stadtbewohnenden noch in diesem Jahrhundert führen. Die Landwirtschaft wird die Nahrungsmittelproduktion noch einmal entsprechend steigern müssen. Der Klimawandel mit Meeresspiegelerhöhungen und Unwettern einerseits und Wüstenbildungen andererseits wird diesen Vorgang noch einmal zusätzlich belasten, besonders in den tief liegenden Deltas der großen Ströme, die wegen ihrer Fruchtbarkeit die frühen Stadtbildungen erst ermöglichten und heute noch die großen Metropolen beheimaten. Der Klimawandel wird voraussichtlich zu globalen Strömen von flüchtenden Menschen führen, gegen die die heutigen Flüchtlingsprobleme klein erscheinen werden. Unser Umgang mit dieser größten Urbanisierung der Menschheitsgeschichte wird die Städte noch weit bis ins nächste Jahrhundert prägen. Folgende Gründe sprechen für eine Verschmelzung von städtischen und ländlichen, von kulturellen und natürlichen Eigenschaften in diesem Urbanisierungsprozess: Die erforderliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion um mehr als 50 Prozent wird von den Städten selbst einen erheblichen Beitrag aus der urban agriculture verlangen: Der größte Teil der Urbanisierung wird nicht in Form gut verwalteter, kontrollierter und geplanter neuer Städte stattfinden, sondern in Selbstorganisation aus den wilden Stadterweite-

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rungen und sich verstädternden Dörfern und Slums entstehen, in denen urbane Landwirtschaft von jeher zum Überleben gehört. Diese werden sich fortentwickeln zu verschiedenen Formen von Rurbanität. Die weitere, unvermeidliche Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, besonders im fruchtbaren Umland der großen Metropolen, wird dort trotz aller Naturschutzbemühungen zu einem weiteren Rückgang der Artenvielfalt führen. Die ›Natur‹ reagiert darauf schon heute mit einem Rückzug in die Stadt. Es gehört heute schon fast zum Allgemeinwissen, dass die Städte – je größer desto ausgeprägter – wegen ihres Strukturreichtums und der guten Lebensbedingungen viel artenreicher sind als die umgebende Landschaft der intensivierten Landwirtschaft (Reichholf 2007). Die entstehenden Stadtgebilde werden in der Regel so groß und weitläufig werden müssen, dass sie nur als multizentrale, randreiche, von offenen Landschaftsräumen durchzogene ›Horizontale Metropolen‹ (Vigano/Cavalieri 2018) entstehen können, mit einzelnen, räumlich hoch verdichteten Zentren für besondere Aufgaben. Diese Stadtgebilde werden als fraktale Stadtlandschaften ihre Wildnisse, ihre Abenteuer – und Erholungsgebiete in sich selbst entwickeln müssen, weil es ein schnell erreichbares ›Außen‹ in der Regel nicht mehr geben wird. Wir können demnach eine gewisse Umkehrung beobachten: Ausgerechnet die als naturfeindlich geltenden Städte werden tendenziell zu Oasen, zu einer Art Arche Noah. Wenn wir diesen Gedanken unter den Bedingungen des Anthropozän noch ein Stück weiter denken, dann wird der kategoriale Unterschied zwischen Kultur und Natur, zwischen Gebautem und Natürlichem, zwischen homo sapiens und Mensch als Kreatur fließend und durchlässig. Dann müssten wir die ganze Stadt als ein Biotopgefüge, als einen gemeinsamen Lebensraum von Pflanzen, Tieren und Menschen lesen und das Gebaute zum Beispiel als ›poröse Felsenriffe‹ ausbilden, die auch von Pflanzen und Tieren besiedelt werden können. Es könnte etwas Neues entstehen, dessen wesentliche Eigenschaft Rurbanität sein wird. Dieser Begriff muss aber mit konkreten Bildern und Vorgängen ausgefüllt werden, um produktiv zu werden, denn noch ist er zu abstrakt und unanschaulich. Sein Sinngehalt muss jedoch zu einem Schlüsselbegriff der künftigen Stadtentwicklung werden, der faszinierende Gestaltungsaufgaben beinhaltet. Er könnte uns durch die Turbulenzen

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der nächsten Jahrzehnte zu einer neuen Stabilität im nächsten Jahrhundert führen. Bei allen Schwierigkeiten mit Begriffen und Anschaulichkeiten sowie mit der Trauerarbeit, die dem Verlust des Stadt-Land-Kontrastes gilt: Warum sollte die skizzierte größte urbane Transformation der Menschheitsgeschichte unter dem Zwang der Einfügung in die Naturkreisläufe nicht zu faszinierenden Formen eines Stadt-Land Kontinuums führen, zu faszinierenden neuen Stadtlandschaften?

L iteratur Haber, Wolfgang (2016): »Anthropozän, Folgen für das Verhältnis von Humanität und Ökologie«, in: Wolfgang Haber/Martin Held/Markus Vogt (Hg.), Die Welt im Anthropozän, München: oekom-Verlag. Lorberg, Frank/Licka, Lilia/Scazzosi, Lionella/Timpe, Axel (Hg.) (2016): Urban Agriculture Europe, Berlin: Jovis. Reichholf, Josef H. (2007): Stadtnatur. Eine neue Heimat für Pflanzen und Tiere, München: oekom-Verlag. Vigano, Paola/Cavalieri, Chiara (Hg.) (2018): The horizontal Metropolis. A radical project, Zürich: Park Books.

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»die Hoffnung, dass ›nichts dazwischen kommt‹« 1 Persistenz und Konjunkturen bäuerlicher Erfahrungen in der (Post-)Moderne Werner Nell Obwohl ich kein Anhänger der Psychoanalyse bin, möchte ich dennoch mit dem vielfach auf Sigmund Freud zurückbezogenen Bild vom Eisberg (vgl. Ruch/Zimbardo 1974: 366, Grafik nach Ruch/Zimbardo von Bodo Wiska 2006) beginnen, dessen bedeutendster Teil sich unterhalb der Wasseroberfläche befindet. Es soll helfen, in einer Sektion, die dem ›Auftauchen‹ des ›Ruralen in einer urbanisierten Welt‹ gewidmet ist, eine Vorstellung davon zu geben, um welches Ausmaß und um welche Verhältnisse (Anteile) von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit es sich handelt, wenn im Blick auf eine sich selbst als (Post-)Moderne beschreibende Zeit von der Persistenz und den Konjunkturen bäuerlicher Erfahrungen die Rede ist. Wie sehr da etwas Heimelig-Unheimliches am Werk ist, mögen die Konjunkturen der Landlust ebenso belegen wie das immer wieder einmal zu beobachtende Setting ländlich-bäuerlicher Lebenszusammenhänge im Krimi, in Fantasy- und Horror-Stories, die – von der Art des 2014 erschienenen Psychothrillers Das Dorf von Arno Strobel – dann durchaus auch das Publikum und einen Markt ansprechen und finden können. Offensichtlich lassen sich die Unwägbarkeiten des Realen und das Gespensterhafte des Lebens in einer – mit Zygmunt Bauman gespro-

1 | Das in der Titelzeile genannte Zitat findet sich bei Popitz (1992: 249); zu den Rahmenbegriffen vgl. die ältere, allerdings immer noch ebenso instruktive wie empirisch reichhaltige Studie von Giordano/Hettlage (1979: 5-11 und 242-246) mit deutlicher Kritik an einem unilinearen Modernisierungsmodell.

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chen – ›flüchtigen Moderne‹ (Bauman 2005, 2008)2 gerade auch in den Bildern traditioneller Dörflichkeit ansprechen,3 deren Anachronismen, Beschränkungen, Verwerfungen und Besessenheiten aber auch in künstlerisch anspruchsvollen Entwürfen immer wieder gestaltet werden. Abbildung 1: Eisbergmodell

Ruch/Zimbardo 1974: 366 2 | Vgl. dazu »Ein Gespenst schwebt über den Bewohnern der flüchtigen modernen Welt und all ihren Fähigkeiten und Hervorbringungen: das Gespenst des Überflüssigen. Die flüchtige Moderne ist eine Zivilisation des Exzesses, des Überflüssigen, des Abfalls und der Entsorgung von Abfall« (Bauman 2005: 136; ebenso Bauman 2008: 12-44). 3 | Vgl. dazu exemplarisch für die USA Seiler (2014).

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Dazu gehören aktuell etwa die Erzählungen und Romane Saša Stanišićs, Annika Scheffels oder Svenja Leibers (vgl. Weiland 2018). Der Komik des Dörflichen haftet im freundlichen Sinn etwas Absurdes, mitunter Albernes an (Die Kirche bleibt im Dorf als Buch, TV-Serie und Kinofilm),4 während ernsthaftere literarische und filmische Gestaltungen das im Freud’schen Sinn5 Unheimliche, den Schrecken und das Absurde ländlich-bäuerlicher Lebenswelten in einem sozialgeschichtlichen Realismus oder traumatisierten Surrealismus zeigen, oft auch wie in Gisela Corleis bereits 1993 erschienenem Roman Brand in einer beides verbindenden und entsprechend verstörenden Gemengelage (vgl. Corleis 1993). Deren Wirkung wiederum beruht darauf, dass in vertrauten Bildern Beunruhigendes, das zunächst nur in Andeutungen aufscheint, sich manifestieren kann und so dann auch unser Unterbewusstsein anspricht. Beispielhaft lässt sich dies etwa in den Silhouetten und Schattierungen der Dorfkirche in Michael Hanekes Film Das weisse Band (2009) erkennen, in deren Abschattungen nicht nur innerfamiliale Gewaltbelastungen und die von ihnen ausgehenden Verstörungen ins Bild gesetzt werden, sondern in einer durchaus sozialgeschichtlich ausgerichteten Darstellung und Deutung von einer diese ländlichen Gesellschaften in ihren Prägungen durchziehenden Prädisposition für autoritäre Charaktere und faschistoide Einstellungen und Handlungen berichtet wird (vgl. Mohnkern 2014). Zugleich rekurriert die damit verbundene Wirkung ebenso wie das darauf bezogene Verstehen auf (langlebige) kollektive Ängste und Erfahrungen aus eben diesen ländlichen Gesellschaften, die zugleich in diesen Bildern und Anspielungen sowie in den Möglichkeiten ihrer Rezeption offensichtlich weiterleben. Impulsen einer Aufstörung an der Oberfläche, an der Grenze von Bewusstem und Unbewusstem aus jenem Geist der Moderne, der sich in den Worten Max Webers auf eine durch Wissenschaft und Technik er-

4 | Dies gilt ebenso für die erfolgreiche, freilich auch dörfliches Laientheater und seine Stereotypen durchaus affirmativ aufnehmende TV Serie M ord mit A us sicht (seit 2008). 5 | Sigmund Freud leitet in seiner zu Recht berühmten Studie Das U nheimliche (1919) dieses zunächst vom Heimeligen (248) ab und bestimmt es dann als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.« (Freud 1970: 244).

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möglichte »Entzauberung der Welt« (Weber 1992: 317) gründet,6 kommt dabei eine in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu. Und dies nicht nur, weil das Hinzukommen eines der technisch-industrialisierten Welt zugehörigen Beobachtenden von heute (vgl. Hettlage 1982: 9f.) die Grenze zwischen dem sichtbaren und dem zwar nicht weniger vorhandenen, aber weitgehend unsichtbaren ›Kontinent‹ (um Freuds Wort zu gebrauchen) einer bäuerlich geprägten Vormoderne hervorhebt und zugleich an ihrer Stelle dann auch zur Disposition stellt. Wichtiger noch ist, dass sich diese Beobachtungen an der Grenze zwischen unserer sich modern bzw. auch ggf. postmodern verstehenden Welt (bei dem Eisbergmodell über dem Wasser) einstellen und damit auf einen darunter bzw. dahinter liegenden Kontinent verweisen. Der Blick fällt so auf eine grundlegend der Moderne vorausgehende, sie grundierende gesellschaftliche Erfahrung bäuerlich geprägter Lebensweisen, auf eine diese begründende wirtschaftliche Struktur und auch auf eine die Einstellung der Menschen noch unter den Zumutungen der Moderne bestimmende kulturelle Codierung, die in Rückbezügen auf vorgängige Formen und Erfahrungen bäuerlicher Lebensgestaltung 7 noch immer auch für die Lebenseinstellungen und Verhaltensmuster von Menschen bezeichnend ist. Eine solche Blickrichtung, so Robert Hettlage, »hätte davon auszugehen, dass Industriegesellschaften aus ruralen Lebensformen herausgewachsen sind und daher wesentliche Elemente dessen, was wir bisher als ›peasant culture‹ zu benennen gewohnt waren, auch in den Industriegesellschaften, ihren Institutionen und den sie mit Leben füllenden Einstellungen

6 | Vgl. »[…] durch Berechnen beherrschen […] Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt. Nicht mehr wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten dies.« (Weber 1992: 317). 7 | Hinzuweisen wäre hier etwa auf die im Rahmen der Schule der ›Annales‹ ebenso wie in der Mikrohistorie Carlo Ginzburgs entstandenen Studien zur ›bäuerlichen Welt‹ und einzelner ihrer Vertreter, beispielsweise den Müller Menocchio (15321599), der sowohl für Ginzburg als auch für Claudio Magris nicht nur eine ferne Spiegelfigur darstellt, sondern auch noch als Orientierung in den verwickelten Zwischenzonen zwischen ruralen und modernen (urbanen) Erfahrungswelten dient (vgl. Ginzburg 1979, Magris 1999).

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und Verhaltensformen wenigstens wurzelhaft noch aufzufinden sind.« (Hettlage 1982: 14)

Hinzu kommt, dass diese Welt der Moderne sich gerade durch das immer noch und immer wieder zu beobachtende Auftauchen eines unerwarteten, aber bestimmten (kleinen) Teils des bislang (in seinen umfassenderen Dimensionen) entweder ungesehenen oder in die Vorzeit abgedrängten Landes der Erinnerung, der Erfahrung, der Orientierung und auch der Verstörung, wie es die Rückwendung auf die Jahrtausende alten, Jahrtausende andauernden Erfahrungsräume des Ländlich-Bäuerlichen vor Augen stellt, ebenso angeregt wie irritiert wird, ja sich von ihr fasziniert und zugleich wohl auch provoziert sieht. Was damals (unter den Bedingungen der Vormoderne) notwendig und unabweisbar schien, zeigt sich unter den Bedingungen der Moderne bestenfalls als noch möglich, ebenso oft aber auch als unnötig und ggf. sogar überflüssig. Freilich bleibt für die Beobachtenden auf dem ›Dampfer der Moderne‹ mit dem Auftauchen der für überkommen gehaltenen, der Vergangenheit zugerechneten Formation der Bauerngesellschaften (aus der Vormoderne) auch eine Irritation. In einem rationalen, einlinig modernisierungsorientierten Sinne (vgl. Lerner 1964) scheint hier etwas nicht zu stimmen. Bestenfalls bilden an dieser Stelle zunächst Hinweise auf Folklore, Kompensation oder Reaktion noch einmal weitere Möglichkeiten der Entsorgung der irritierenden Rückbezüge auf eine Vergangenheit, in der Armut, Hunger und Sorge den Alltag bestimmten, während der faszinierte, gebannte Blick auf den Eisberg über diese Grenze hinaus in eine Welt nicht der Sichtbarkeit, sondern vielmehr der darunter liegenden oder vermuteten Vorstellungen, Imaginationen und Projektionen ländlicher Erfahrungen führt. Diese sind freilich – soweit lässt sich an Freuds Konstruktion und Beschreibung des Unbewussten anknüpfen – ebenso von Ambivalenz und Widersprüchen bestimmt, wie sie gerade in ihrer Gefühlsbesetztheit und Tiefenwirkung offensichtlich eine Unabweisbarkeit, auch Unabgegoltenheit besitzen, die sich unter den rationalisierten Selbstverortungen der Moderne, wenn nicht direkt, so dann auf die Weise von Wiedergängertum und Gespensterhaftigkeit, zwischen Landlebensbegeisterung und romantisierender Illusion einerseits, Abwehr und Perhorreszierung der Armen, Fremden, Bedürftigen oder sonst wie Unzeitgemäßen andererseits bemerkbar macht. Nicht zum wenigsten wird gerade ihnen der Wille oder zumindest die Fähigkeit zur Zerstörung des

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inzwischen erlangten Wohlstands und entsprechend moderner Lebensverhältnisse zugesprochen.8 Zuschreibungen des Ungeschiedenen, der Ambivalenz und des Changierens zwischen den divergierenden Strömungen der Angst und der Lust, der Sehnsucht und der Befremdung, der Abwehr und des Verlangens,9 wie sie im Anschluss an Freuds Individualpsychologie dem Kontinent des Unbewussten und ggf. Verdrängten oder Historisierten, dann aber auch sozialpsychologisch oder mentalitätengeschichtlich einer jeweiligen Kultur/Gesellschaft zugeschrieben werden können (vgl. Erdheim 1985: 180-199), finden sich so in den Vorstellungen, Erinnerungen, Projektionen und Inszenierungen des Ländlich-Bäuerlichen ebenso wieder wie historische, familiäre oder individuelle Belastungen und/oder Verheißungen. Zugleich zeigen die Bilder das Ländliche auch als Wunschobjekt und Orientierungsgröße in unterschiedlichen Konstellationen zur Moderne; im Sinne Cornelia Klingers fungieren sie damit auch als Bezugspunkte der Flucht, des Trostes oder der Revolte (Klinger 1995: 165-171) und können in ästhetischer und politisch-gesellschaftlicher Hinsicht entsprechend genutzt oder ausgestaltet werden. Als Ausgangspunkt bietet hier die Perspektive der Post-Moderne zunächst die Möglichkeit einer Reflexion, die nicht nur den Fortgang der Moderne begleitet, sondern gleichsam von außen (und von innen) noch einmal (wieder einmal?) auf das Projekt der Moderne (zurück) zu schauen versucht. Deren Selbstverständnis als einer Welt und Gesellschaft ›in Bewegung‹ lässt sich im Blick auf die Gestaltung von Räumen (Siedlungs-, 8 | Joseph Roth hat in seinem Reportagen zu J uden auf Wanderschaf t (1927) hierin nicht nur eines der starken Motive für die Abwehr und den Hass auf die ›Ostjuden‹ gesehen, sondern sowohl die historische Begründetheit als auch den Illusionscharakter der darauf bezogenen wechselseitigen Spiegelungen zwischen West und Ost, Moderne und Vormoderne herausgestellt: »Der Begriff von Ländern im Osten, in denen alle Juden Wunderrabbis sind oder Handel treiben, die ganze christliche Bevölkerung aus Bauern besteht, die mit den Schweinen zusammenwohnen, und aus Herren, die unaufhörlich auf die Jagd gehen und trinken, diese kindischen Vorstellungen sind ebenso lächerlich wie der Traum der Ostjuden von einer westeuropäischen Humanität.« (Roth 2000: 16). 9 | Karl-Heinz Kohl hat am Beispiel frühneuzeitlicher Bilder der gerade ›entdeckten‹ indianischen Gesellschaften die Ambivalenz der dort als anachronistisch bestimmten Figurenentwürfe, Szenen und historischen Sujets herausgearbeitet (vgl. Kohl 1987: 63-87).

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Handlungs- und Erfahrungsräumen) zunächst mit Stichwörtern wie Erschließung, Fortschritt, Rationalisierung, Technifizierung und auch Kommodifizierung im Sinne einer linear angelegten Steigerung von Effizienz, Produktivität, Mobilität und Interaktivität beschreiben. Vor dem Hintergrund einer dem Selbstverständnis der Moderne nach dem Untergang verfallenen ›traditionellen Gesellschaft‹10 hat der Soziologe Heinrich Popitz (1925-2002) mit dem im Titel meines Beitrags angeführten Zitat von der »Hoffnung, dass ›nichts dazwischen kommt‹« (1992: 249) allerdings nicht nur den Kontinuitäts- und Gelingensbedarf bäuerlich-ländlicher Gesellschaften angesprochen, sondern auch die Abhängigkeit eben dieser Kontinuitätserwartungen von Unwägbarkeiten benannt, deren Beeinflussung, obwohl sie für das Gelingen von Arbeit und Leben unabdingbar sind, im bäuerlichen Leben nur ansatzweise möglich ist: »Die Lebenstätigkeit dieser Bauernkulturen ist durchdrungen von einem Interesse an Kontinuität. Die Mühe der Arbeit und der Ertrag sind zeitlich weit getrennt. Damit weitet sich der Zeithorizont. Der Bauer muß warten können.« (Popitz 1992: 249)

Dadurch geraten freilich nicht nur Impulse zur Stabilisierung und ggf. Institutionalisierung von Kontinuität in den Blick, auch entsprechende mentalitätengeschichtliche Lagerungen, »[…] die wir bis heute als typisch bäuerlich empfinden: die Bindung an das Beständige, die Abwehr des Unbekannten, das Interesse am Konservierenden.« (Ebd.) Vielmehr lässt sich von hier aus auch die Persistenz der Erfahrung einer offensichtlich ebenso real wie imaginativ und psychisch bestehenden Abhängigkeit individuellen und sozialen Lebens von Faktoren wie Wetter, Ort, Zeit und Zufall beschreiben, deren Gestaltung offensichtlich nicht nur unter den Rahmensetzungen agrarischer Gesellschaften, sondern auch und erst Recht unter den sichtbaren und vermeintlich fortgeschrittenen Bedingungen der Moderne noch immer weder durchgängig plan- noch im Ganzen handhabbar erscheint. Denn gerade unter den Bedingungen

10 | Vgl. dazu das für den industriegesellschaftlichen Diskussionsstand der 1950er und frühen 1960er Jahre charakteristische Standardwerk von Daniel Lerner (1964).

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einer reflexiven Moderne11 bringen weitergehende Planungs- und Sicherheitsvorkehrungen vielmehr offensichtlich erneut Ungeplantes und Unplanbares hervor, schaffen nicht nur neue Unsicherheiten (Risiken), sondern bringen auch aufs Neue Erfahrungen des Unheimlichen, im oben angesprochenen Sinn ›Gespensterhaften‹,12 zurück. In dieser Situation lässt sich das (Wieder-)Auftauchen des Ländlichen (Ruralen) in urban orientierten, modernen Zusammenhängen sicherlich zum einen auch als nostalgische Rückwendung, Regression oder (ggf. reaktionäre) Suche nach Sicherheiten vor und ›Auswegen‹ (vgl. Lipp 1986; Reimann 1986) aus den Zumutungen der Moderne verstehen. Zum anderen bietet sich die mediale, diskursive und auch künstlerische Aufnahme ruraler Lebensformen bis hin zu ihrer massenkompatiblen Ausgestaltung in Populärkultur und Unterhaltungsmedien aber auch als Spiegelungsfläche und Experimentierfeld (vgl. dazu Schäfers 1980; Lipp 1997) an, um Sinnorientierungen und Sinnbedürfnisse der Gegenwart zu thematisieren und ggf. gesellschaftlich weiter zu ›verhandeln‹. Die Auseinandersetzung mit dem, was an der Oberfläche zu sehen, unter ihr zu vermuten ist, lässt sich in solchen Bildern des Ländlichen ebenso vorantreiben wie das, was in der Tiefe historischer und mentalitätengeschichtlicher Entwicklungen zwar kaum zu sehen, wohl aber in Rechnung zu stellen ist, die Unsicherheitserfahrungen der Moderne speist und damit zugleich das Unbehagen an einer weitergehenden Rationalitäts- und Marktansprüchen unterworfenen Lebensführung (inklusive Naturverhältnis und Landschaftsgestaltung) zu thematisieren vermag.13 Hierzu gehören dann auch die bereits bei Popitz für die bäuerliche Welt in Anspruch genommenen Bedürfnisse nach Kontinuität, ebenso die Fragen eines Umgangs mit den Unwägbarkeiten des Lebens und der Erfahrung unter den Bedingungen fortschreitender Veränderung, Modernisierung und Mobilisierung, in deren Rückspiegel dann die scheinbar geordnete 11 | Vgl. dazu die grundlegenden Beiträge von Beck (1986) und Beck, Giddens, Lash (1996); für eine in sich reflexive Theorie der Moderne vgl. Wagner (1995: 253-278). 12 | Vgl. dazu den auch heute noch recht aktuellen Überblick bei Dimbath/Kinzler (2013). 13 | Bröckling (2004) und Taylor (1995: 122ff.) sprechen von einer durch Markt, Technik und Selbstoptimierungszwänge zunehmenden Fragmentarisierung des Alltags und der Lebenswelt im Ganzen; vgl. auch Soeffner (2000: 254-279).

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Welt bäuerlich-ländlicher Räume ihren ideologisch und lebenspraktisch attraktiven Schein entfalten kann. Zwischen ideologischer Motivation, kulturkritischer Regression und kritischer Reflexion lassen sich Erinnerungen, Erscheinungsweisen, Erfahrungen und Vorstellungen des Bäuerlichen, seine Konjunkturen und seine Persistenz, so nun der hier vorzustellende Ansatz, in vier Figuren bzw. Konstellationen des Bäuerlich-Ländlichen fassen, die weiter unten im Zusammenhang einer Raum und Zeit verschränkenden chronotopischen Dimension14 des bäuerlich-ländlichen Erfahrungs- und Imaginationsraums angesprochen werden. Zugleich können diese auch dazu dienen, sich den Erscheinungsformen, Traditionsbeständen, vor allem aber auch den realen Verhältnissen ländlicher Gesellschaften und Gestaltungsformen unter den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart (sterbende Dörfer und Landschaften, Abwanderung, Partizipationsdefizite, abnehmende Lebensqualität, Sehnsucht nach dem Ländlichen und entsprechende politisch-gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben) erneut zuzuwenden. Gerade in seinen Bemühungen, dem Verdrängten und Unbewussten im Handeln, in den Motiven und im Vorstellungsvermögen von Individuen eine Sprache zu geben, war Freud nicht nur ein bedeutender Schriftsteller. Vielmehr lässt er sich auch als Analytiker jener Bilder und Vorstellungswelten nutzen, mit deren Hilfe große Gruppen, Gesellschaften und einzelne Beteiligte aus den Wissenschaften, der Gesellschaft und den Medien darauf ausgehen, sich ihre und uns unsere Welt zu erklären bzw. vor Augen zu stellen.15 Deshalb lassen sich die beiden Bilder vom Eisberg auch dazu nutzen, den riesigen, in der Moderne weitgehend unter Wasser, also aus dem Sichtfeld gedrängten Kontinent bäuerlicher Erfahrungen erst einmal anzusprechen, dann aber auch einer Untersuchung zugänglich zu machen, die davon ausgeht, so meine These, dass die Jahrtausende umfassenden Erfahrungen ländlich-bäuerlicher Verhältnisse, nicht so sehr von Ordnung und Ruhe zeugen, sondern eben gerade von der Unsicherheit, Naturabhängigkeit und Not berichten, die auch aktuell noch im Mentalitätenhaushalt der Menschen und Gesellschaften fort14 | Für diesen Kulturgeschichte und literarische, aber auch soziale Analyse verbindenden und ermöglichenden Begriff des Chronotopos vgl. Bachtin (2008). 15 | Entsprechend instruktiv, erfolgreich und weiterführend Henkel (2015, Henkel 2016).

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geschrittener Moderne eine maßgebliche, nach Sicherheiten suchende und Unsicherheiten bebildernde Rolle spielen, seien sie in der Form von Ängsten und Bannungen oder auch als Wunschobjekte und Projektionen. Dabei ist es möglich sich diesem ›unteren‹ Teil des Eisbergs in drei verschiedenen Betrachtungsdimensionen zu nähern: In einer ersten zeitlichen Dimension geht es zunächst um die historische Tiefe dessen, was den Eisberg unter der Wasseroberfläche ausmacht und was im Fortgang der Geschichte dann auch Transformationen unterliegt bzw. unterlag. Falls der Mensch, wie gerade neu und erneut berechnet, seit ca. 300 Millionen Jahren existiert, so zeigen ihn die Zeugnisse der vergangenen 100.000 Jahre in einer ungeheuer mächtigen, ihm auch selbst ebenso ungeheuerlich vorkommenden maximalen Abhängigkeit von den Widrigkeiten und der Widerständigkeit der Natur, seien dies nun das Klima, der Pflanzenbewuchs, die tierische Population oder nicht zuletzt jene Naturerscheinung, die ihm dann gegenübertritt, wenn er seinesgleichen begegnet. Zwar kamen solche Begegnungen zunächst wohl nicht allzu häufig vor, müssen aber freilich in der Regel eher konflikthaft und Schrecken verbreitend vorgestellt werden, ein Faktor, der sicherlich auch aktuell noch immer in der Modellierung von Unruhe, Angst und Sicherheitsbedürfnissen wieder zu erkennen ist.16 Mit der Jungsteinzeit seit etwa 20.000 Jahren lassen sich dann soziale Strukturen, zunächst noch und vor allem in Bewegung, mit der ersten landwirtschaftlichen Revolution zwischen 10.000 und 7.000 v.d.Z., die in europäischer Perspektive im sogenannten fruchtbaren Halbmond, also in Palästina, dem Zweistromland und der arabischen Halbinsel inklusive des Nildeltas einsetzte, auch jene Verhältnisse und Organisationsformen beobachten, die wir bis heute als bäuerlich-ländliche Räume, Gesellschaftsformen und Arbeitsverhältnisse, vor allem aber auch als bäuerlich-ländliche Erfahrungswelten ansprechen (und uns vorstellen) können/wollen. Diesem langen Zeitraum gegenüber nimmt sich dann die mit dem 18. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung, also eine Zeitspanne von aktuell 250 Jahren – nimmt man den Ansatz der ›industrious revolution‹ (de Vries 1994) bzw. die Debatte um die Protoindustrie (vgl. dazu Troßbach/Zimmermann 2006: 72-74) noch hinzu, sind es 400 Jahre – dann doch recht kurz aus.

16 | Vgl. dazu etwas reißerisch, aber entsprechend aktuell Schüle (2017: 82-85).

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Trotz aller Unterschiede, auf die in den verschiedenen Heimaten, Provinzen und darauf bezogenen ideologischen Narrativen immer wieder Wert gelegt wird, war die Lage der ländlichen Bevölkerungen im vormodernen Europa doch in vielen Regionen ziemlich ähnlich: Hunger, Armut und Angst (vgl. Abel 1972: bes. 54-5817; Geremek 1988: 119-152; Delumeau 1985: bes. 48-63; Kaschuba 1990: 74-82), die Sorge um ein Leben von der Hand in den Mund und der Versuch, einem oftmals kargen Boden und widrigen Witterungsverhältnissen, das Nötigste abzugewinnen, bestimmten für 90 Prozent der Menschen im Europa vor 1850 nicht nur den Alltag, die Lebenserfahrungen, sondern setzten ihrem beschwerlichen Leben auch häufig ein allzu frühes Ende. Im Zuge der im 18. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung wirkten sich die damit verbundenen Verwerfungen und Veränderungen vielfach sogar noch verschärfend auf die Lage der Landbevölkerungen18 aus. Trachten, die heute gerne gezeigt werden, sind ebenso wie viele idyllische Vorstellungen vom einfachen Leben auf dem Lande und viele andere Spielarten der Folklore, beispielsweise Tänze und Feierlichkeiten, charakteristische Speisen und spezifische Rituale wie ›Bauernhochzeiten‹, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts (vgl. Hobsbawm/Ranger 1983). Unter diesen, in der Regel nationalstaatlich ausgerichteten Vorgaben wandten sich vielfach die inzwischen arrivierten Stadtmenschen und unterschiedliche Bildungsvertreterinnen und -vertreter (Volksschullehrende und Pfarrpersonen, Hobby-Historikerinnen und -Historiker und Gelehrte), nicht zuletzt auch im Blick auf die Erziehung bzw. auch ›Kolonisierung‹ der Landbevölkerung, nach rückwärts19 und damit auch den mehr postulierten als historisch belegbaren, also imaginären Gemeinschaften zu, um dort in zumal ländlichen Settings und Zusammenhängen Wurzeln, Gegenwelten und manchmal auch Orientierungen für eine Gegenwart zu finden, die von industriellem Fortschritt, schnellerem sozialem Wandel und einer Reichtums- und Wohlstandsproduktion bestimmt waren, die die Abstände zwischen reich

17 | Zu entsprechenden Ereignissen und Erfahrungen auch noch im Europa des 20. Jahrhunderts. 18 | Vgl. dazu die noch immer beeindruckende Quellensammlung bei Jantke/Hilger (1965). 19 | Für das Beispiel Schottlands vgl. Trevor-Roper (1983), für vergleichbare andere europäische Regionen und Entwicklungen Hobsbawm (1983).

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und arm nur noch umso deutlicher ins Auge stechen ließen bzw. das Gefühl und die Erfahrung des Abgehängtseins noch verstärkten. Erst die Möglichkeit, dass genug Lebensmittel und sonstige Wohlfahrt für alle geschaffen werden konnten, machte das mach- und kritisier-, auch wünschbar, was vorher als Gottesgeschenk oder auch Verhängnis über den Menschen gehangen hatte und bestenfalls durch Gebet, Glück oder Magie, vielleicht auch eigenes Zutun und Kooperation zum Besseren gewendet werden konnte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, so hat es der österreichische Historiker Rüdiger Wischenbart für die Karpaten beschrieben, war die Kleiderfarbe der einfachen Landbevölkerung keineswegs von bunten Bändern, Spitzen oder weißgestärkten Trachtenblusen bestimmt, sondern schwankte europaweit zwischen schmutzig grau und schmutzig braun (Wischenbart 1993). Dass auch Kleingewerbetreibende alles andere als eine sichere Existenz hatten, mag das Beispiel des 1829 in Marth in der Westpfalz geborenen Theobald König belegen: »Auch er war zunächst in jungen Jahren Musikant, betätigte sich aber später (1858) als Butterhändler. Die Butter, die er von der Milch seiner einzigen Kuh herstellte, fuhr er wöchentlich mit dem Hundegespann nach Neunkirchen, wo er sie auf dem Markt verkaufte. Schließlich wurde er Gemeindediener von Marth, 1898 auch Feld- und Waldhüter.« (Kirsch 1998: 14)

Möglicherweise, so ließe sich im Sinne einer Hypothese abschließend zu diesem Punkt sagen, sind es diese aus der Unsicherheit ländlich-bäuerlicher Gesellschaften gewonnenen Erfahrungen und Fähigkeiten, die unter den aktuellen Bedingungen einer ›flüchtigen Moderne‹ erneut gebraucht werden, ggf. zum Über-, ebenso und vermutlich noch häufiger allerdings zu dem vormals von Erving Goffman bereits beschriebenen »Unterleben« (Goffman 1973: 44ff.), das nunmehr zwar außerhalb geschlossener Institutionen, aber dafür innerhalb der geschlossenen Welten der aktuell ›Überflüssigen‹ zu beobachten ist. Aber auch in der zweiten, räumlichen Dimension, also im Blick auf die Breite des als unterer Teil des Eisbergs anzusprechenden Massivs der bäuerlichen Erfahrungen und Lebensumstände erscheint der damit angesprochene Lebens- und Erfahrungsraum auch aktuell noch immer durchaus beachtlich. Erst seit 2013 lässt sich hinsichtlich der Weltbevölkerung davon ausgehen, dass inzwischen etwas mehr als die Hälfte der Menschen auf der Welt in Städten lebt. Freilich bedeutet dies immer auch,

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dass zunächst einmal ›nur‹ etwas weniger als die Hälfte von ca. 8 Milliarden Menschen noch immer in ländlichen Räumen, ggf. in agrarisch bestimmten Verhältnissen zu finden ist, wobei durchaus in Rechnung gestellt werden muss, dass Klimawandel, durch agrarische und/oder agrarindustrielle Produktion zerstörte Landschaften, Bürgerkriege, Kriege und Welthandel vor allem im Blick auf die Zukunft dazu beitragen werden, dass ein beträchtlicher Teil dieser noch den ländlichen Räumen zuzurechnenden Menschen nicht mehr dort leben kann, sondern wie beispielsweise Nomaden in Ostafrika mit der einzigen Ziege auf der Suche nach Wasser (bis zum Verdursten) unterwegs sind, während jüngere Menschen, nach aller Erfahrung vor allem Männer, ihr Glück und ihre Zukunft auf den Wegen der Migration suchen (vgl. Betts/Collier 2017: 31-54). In einem solchen gegenwartsbezogenen, synchronen Blick ist freilich auch festzuhalten, dass noch immer 90 Prozent der bäuerlichen Wirtschaftseinheiten sogenannte Familienbetriebe sind,20 auch wenn diese lediglich in etwa die Hälfte der weltweiten Nahrungsproduktion herstellen. Immerhin aber ist dieser Anteil offensichtlich noch so ertragreich, dass er bei gerechteren Handelsbedingungen für die Ernährung der Arbeitenden und Abhängigen ausreichen könnte/müsste. Dem gegenüber bleiben knapp 50 Prozent der Nahrungsmittelproduktion, die von der Lebensmittel- und Agrarindustrie hergestellt werden, fast ausschließlich den ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung vorbehalten, die das Glück haben (oder die Anstrengung aushalten), in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften Europas, Nordamerikas und in den Megapoleis auch außerhalb der europäisch-nordamerikanischen Staatenwelt leben zu können.21 Schließlich zeigt sich damit auch noch eine dritte, Sozialität und Imaginationsräume miteinander verbindende chronotopische Dimension, in deren Verfolgung mögliche Perspektiven eines weitergehend auf Erkun20 | Vgl. dazu die von der FAO betriebene Family Farming Knowledge Platform (Food and Agriculture Organization of the United Nations 2017) für weitere Informationen und deren aktuelle Gewichtung. 21 | Deren Charakter und Zukunft liegt offensichtlich in Formen von Festungen (Europa, Mauerbau zwischen den USA und Mexiko) oder ›gated communities‹, deren Korrelat sich in den Erscheinungsformen jener ›Zitadellenkultur‹ wiederfinden lässt, wie sie Otto K. Werckmeister bereits 1989 beschrieben hat (vgl. Werckmeister 1989: 152-154).

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dung zielenden Umgangs mit den anachronistisch in sich verschachtelten Sinndimensionen bäuerlich-ländlicher Gesellschaften unter den Bedingungen reflexiver Moderne (Modernisierung) erkennbar werden bzw. auch im Blick auf aktuelle Zusammenhänge zur weiteren Diskussion gestellt werden können.22 Wenn wir uns aktuell mit bäuerlichen Erfahrungswelten beschäftigen, dann treten diese uns, wie oben bereits angesprochen, zumindest – immer noch und vermutlich auch weiterhin – in vierfacher Gestalt entgegen: 1. A ls Bäuerin oder Bauern bzw. Bewohnende ländlicher Räume, die es weltweit noch weit verbreitet, in (West-)Europa freilich aktuell weitgehend nur noch residual gibt (vgl. Schäfers 1989). 2. A ls historischer Fluchtpunkt und imaginative, ggf. auch kritisch reflektierte Bezugsgröße, wenn es um eine kontrastive Selbstbeschreibung und Selbstverortung, auch Selbstprogrammierung des Lebens in der Moderne geht (vgl. Schäfers 1989; Greverus 1989), das dann im Rückgriff auf vermeintlich rekonstruierte Bäuerlichkeit – so in der deutschen Volkskunde und diversen Bauernideologien Mittel- und Osteuropas – ihr Widerlager sucht. 3. Als Bäuerin bzw. Bauern ›in uns‹, die wir uns selbst noch in unseren Familiengeschichten auf Dörflichkeiten, bäuerliche Traditionen zurück beziehen können (wenn wir nicht noch ganz aktuell ›vom Dorf‹ sind), oder durch Folklore, nostalgische Inszenierungen, auch durch die Konjunkturen ländlicher Bilder aktuell angesprochen, erinnert, auf heimelige und unheimliche Faszinosa gestoßen werden bzw. uns von ihnen (kompensatorisch) ansprechen lassen.23 4. Spricht der erste Punkt Grenzverläufe und Verschiebungen im Zusammenhang einer in Transition befindlichen Gegenwart an, wäh22 | In ähnlicher Weise hatten bereits Hettlage und Giordano 1989 auf das Fortbestehen bäuerlicher Lagen und Erfahrungsräume auch unter industriegesellschaftlichen Bedingungen hingewiesen, so auch deren Persistenz im Blick auf fortschreitende gesellschaftliche Modernisierungsprozesse hervorgehoben (vgl. Giordano/Hettlage 1989: 9-27; Hettlage 1989). 23 | Eine Fülle von mehr oder weniger autobiographisch entwickelten, dann aber auch fiktionalisierten literarischen Texten nur der letzten Jahrzehnte mag dies belegen; die Reihe reicht hier von Anna Wimschneiders Bestseller H erbstmilch (1984) bis zu Robert Seethalers E in ganzes L eben (2014).

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rend der zweite eine Differenzmarkierung und Perspektivierung zur Selbstverortung gegenüber einer wie auch immer imaginierten Vergangenheit bietet, die sich in Überlagerungen/Überblendungen dann auch zur Selbstverortung in einer zeitlich gesehen dreidimensionalen Gegenwart 24 wiederfinden bzw. sich wie unter dem dritten Punkt angesprochen auch analytisch nutzen lässt, so stellt der vierte Punkt einen Ausblick auf die Zukunft des 21. Jahrhunderts bereit. Der Blick fällt so auf Bäuerinnen und Bauern, bäuerlich eingestellte, teilweise noch als Bäuerin oder Bauern bzw. in ländlichen Räumen sozialisierte Migrierte und Geflüchtete (Shanin 1978), die gegenwärtig und auch in Zukunft wohl noch stärker weltweit unterwegs sein werden und zumindest in kleinen Gruppen dann auch die ›arrival cities‹ (Saunders 2010) der Industriestaaten erreichen und ggf. beeinflussen werden.25 Sicherlich sind hier zum einen, worauf die beiden britischen Migrationsforscher Paul Collier und Alexander Betts (Betts/Collier 2017: 16-20) nachdrücklich bestehen, Migrierte von Geflüchteten zu unterscheiden. Erstere machen sich auf den Weg, um im Land ihrer Ankunft ein neues (besseres) Leben zu beginnen; vielfach handelt es sich hier um Menschen mit bäuerlich-ländlichem Herkommen und Erfahrungsschatz und es wäre weiter zu erkunden, in welchem Ausmaße und in welcher Qualität die daraus gewonnenen Erfahrungen und Fähigkeiten für ein Leben unter den Bedingungen einer flüchtigen Moderne (Bauman 2008) nützlich, ja statt dieses zu behindern (Bauman 2005), sogar ausschlaggebend sein könn(t)en. So haben die großen Industrien Westeuropas seit den 1950er Jahren zahleiche ›Gastarbeitende‹ aus den ländlichen Gesellschaften Südeuropas oder Nordafrikas angeworben, die vielfach in ihren bäuerlichen Erfahrungen und Lebenstechniken, so wie sie von Popitz angesprochen werden, gar nicht beachtet, geschweige denn geschätzt wurden. Entsprechend werden deren Fähigkeiten zur Bewältigung von Unsicherheit im Rahmen flüchtiger Moderne auch aktuell wenig beachtet, obwohl dies sicherlich einer der Faktoren ist, der im Blick auf das ›Auftauchen‹ ländlicher Räume unter aktuellen Perspektiven größere Aufmerksamkeit (und

24 | Aus einer Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft zum Zeitpunkt des Betrachters (vgl. Koselleck 1979). 25 | Für die ältere Forschung vgl. Schiffauer (1991); Elwert (1980, 1984).

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Forschung) erfordert.26 Dass es sich demgegenüber bei Geflüchteten um Menschen handelt, die nicht nur vor einer Katastrophe Schutz suchen, sondern es vielfach auch diejenigen sind, die es sich ›leisten‹ können bzw. entsprechende Kenntnisse und Kontakte aufzubauen vermögen, um sich zu retten, kann unter der hier angesprochenen Thematik allerdings zunächst nicht weiter verfolgt werden. Es liegt aber nahe, die vorgestellte Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Erfahrungsschätze von bäuerlich-ländlichen und städtisch-mittelschichtlich geprägten Migrierten auch für Geflüchtete und deren Perspektiven und Orientierungen heranzuziehen.27 Erfahrungen der Unsicherheit und Mobilität, der Abhängigkeit von kaum handhabbaren Umständen, wie sie für Bauerngesellschaften charakteristisch sind, auch wenn diese im Rückblick aus der Unruhe der Moderne zumeist unter den Vorgaben von Stabilität und Immobilität 28 modelliert und wahrgenommen werden, mögen aber zugleich eine Verbindungslinie zu den Unsicherheitserfahrungen der Spätmoder26 | Ein von mir zu dieser Fragestellung entworfenes Forschungsprojekt ›Urban Villagers in the Arrival City? The Persistence, Transformation and Revitalization of Rural Experiences in Late Modernity‹ wurde im Mai 2017 durch das Canada Council of the Arts mit dem ›John-G.-Diefenbaker Award‹ ausgezeichnet und wird 2018 seine Arbeit aufnehmen. Ebenso wurde ein weiteres in Zusammenarbeit mit der Bauhaus-Universität Weimar ausgearbeitetes (kleineres) Projekt ›Rurbane Landschaften in migrationsgesellschaftlicher Perspektive: Deutschland und Kanada‹ im Oktober 2017 durch das BMBF prämiert und steht ebenfalls 2018 zur Umsetzung an. 27 | Aktuelle Geflüchtete aus der arabischen Welt (Syrien) gehören zur Mittelschicht, viele sind Stadtmenschen und verfügen über eine gewisse finanzielle Ausstattung, die ihnen eine Flucht ermöglichte; demgegenüber werden Geflüchtete aus ländlichen Gebieten Ostafrikas eben dort, beispielsweise in Uganda, in den Bereichen landwirtschaftlicher Nahrungsmittelproduktion und im damit verbundenen Handel beschäftigt. Nur ein Bruchteil, das sind eher Mittelschichtsangehörige und Stadtmenschen, kommt dabei tatsächlich in den Industriegesellschaften an, die meisten bleiben für die Zeit ihrer Flucht und ihres Exils außerhalb von Europa (vgl. Collier/Betts 2017: 55-91; zu Deutschland vgl. Bude 2014: 134-143). 28 |  Zur Kritik einer idealtypischen dichotomischen Strukturierung des StadtLand-Verhältnisses, die sich immer auch noch im Schatten der von Ferdinand Tönnies aufgestellten Opposition von G esellschaf t und G emeinschaf t (1867) bewegt, vgl. Bausinger (1983: 213); Schäfers (1980: 16).

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ne und den damit verbundenen Management- und Selbstgestaltungsaufgaben bieten. Auf Wohlfahrt und ausgleichende, stabilisierende Planung durch Politik und Zivilgesellschaft kann allerdings auch in einer unterschiedliche Länder und Lagen übergreifenden Sichtweise nicht verzichtet werden. Denn gerade in Hinsicht auf die zuletzt angesprochenen ländlich-bäuerlichen Unterschichten (›les misères du monde‹ Bourdieu 2002) unterscheiden sich die Berichte über die Armut und das Elend von Menschen in der Westpfalz im 19. Jahrhundert (Nell 2014) kaum von Berichten über die Lebensverhältnisse der Bäuerinnen und Bauern, Wanderarbeitenden und Landlosen anderer Landschaften Europas in der Vormoderne und heute auch anderswo. Freilich lassen sich die entsprechenden Ungleichheiten und der Abstand zu den jeweiligen Fortschritten der Moderne und ihren Verbesserungen des Lebens der ländlichen Bevölkerungen auch im heutigen Europa noch deutlich erkennen (vgl. Raabe/Snaijderman 2006). Sei dies nun das habsburgische Galizien, das heute teils in Ostpolen und teils in der Westukraine liegt, sei dies Schlesien oder das Land der Samen, der heutige Mezzogiorno in Italien, das spanische Galizien oder das bis 1945 ostpreußische Masuren, dessen Zentrum um die Stadt Pisz schon in preußischer Zeit als Landkreis Johannisburg und Johannisburger Heide der ärmste Landkreis Preußens war und auch heute zu den besonders zu fördernden strukturschwachen Gebieten innerhalb der europäischen Regionalförderung zählt (Nell/Yeshurun 2008). Insoweit stellen also Randlage oder Zentrum nur einen Faktor im Wechselspiel von politischen Faktoren, sozialen Entwicklungen und wirtschaftlichen Verhältnissen dar,29 wobei einer der großen Auswege aus dem Dilemma der deutschen Gesellschaft heute nahezu fremd und unverständlich erscheint, obwohl er auch für sie noch bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus vertraut war: Auswanderung und/oder Wanderarbeit, wobei im Blick auf die historischen und aktuellen Entwicklungen in Deutschland, namentlich auch in der Pfalz oder in anderen Teilen Süd- und Südwestdeutschlands, heute dagegen vielfach eher an die immer wieder mit Vorbehalten angesehenen Straßenmusizierenden, Bettelnden und Tierhalterinnen 29 | Zur Pfadabhängigkeit von Prozessen des Niedergangs bzw. der Ausdünnung ländlicher Lebenszusammenhänge und der damit verbundenen (unterschiedlichen) Folgen vgl. Schwedt (1980: 44f).

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und Tierhalter in den weihnachtlich geschmückten Fußgängerzonen zu denken ist als an die geschätzte und gerne Willkommen geheißene Fachkräftemobilität. Festzuhalten aus den Erfahrungen ländlicher Gesellschaften für ihr erneutes Auftauchen in Konjunkturen und unter den Rahmenbedingungen fortgeschrittener Moderne bleiben freilich v.a. die Persistenz der Sorge und des Wissens bzw. auch der Erfahrung um und von der Ambivalenz der Lebensumstände, Formen und Rahmenbedingungen eines Lebens am Rande der Not sowie die daraus hervorgehende Durchgängigkeit einer Suche nach Zugehörigkeit in lebenswerten Verhältnissen. Diese Faktoren und die damit verbundenen Fähigkeiten zum Über- bzw. auch Unterleben in schwierigen Verhältnissen und unübersichtlichen Situationen haben auch schon die Wanderarbeitenden30 in den vormodernen Gesellschaften Europas und anderswo bestimmt (und bestimmen sie noch). Literatur, aber auch andere mediale und z.T. künstlerisch ausgearbeitete Medien und Repräsentationen können unter diesen Voraussetzungen von diesen Verhältnissen und Erfahrungen berichten und Subjekte in ihren historischen und sozialen Umständen darstellen bzw. zu Wort kommen lassen.31 Als Vorratsspeicher und Simulationsmodell, aber auch als Anstöße zur Vergegenwärtigung ländlicher Räume und der in ihnen lebenden Menschen und als Aushandlungsorte von Erfahrungen, auch des Unheimlichen und Nicht-Vorstellbaren in seinen anachronistischen Schachtelungen, können künstlerische, literarische Entwürfe ebenso gestaltet und aufgenommen werden, wie sie in den Konjunkturen des BäuerlichLändlichen auch zur Bebilderung bzw. zum Nutzen anderer Vorstellungen, Programme und Ideen genutzt (und auch ideologisch missbraucht) werden können. Das Auftauchen des Ruralen in fortgeschritten modernen Gesellschaften mag in dieser Hinsicht zunächst und immer wieder als überraschender Impuls erscheinen; zugleich kann es, zumal in seinen medialen Erscheinungen, von einem Schrecken und einer Möglichkeit zur Erkenntnis zeugen, wie sie Franz Kafka am 27. Januar 1904 seinem Schulkameraden Oskar Pollak in einem Brief beschrieben hat:

30 | Exemplarisch für die Regionen Frankreichs Weber (1977: 195-220). 31 | Nicht zuletzt geht es ja auch bei der die postkolonialen Studien antreibenden Frage ›Can the Subaltern Speak?‹ um das Sprechen und die Stimme von Landarbeiterinnen auf dem indischen Subkontinent (vgl. Spivak 2006, 2013).

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»Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« (Kafka 1994: 27f.)

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»Verloren geglaubte solidarische Räume« Spuren des Neoliberalismus-Diskurses in der Stadtflucht -Literatur der Gegenwart Henri Seel »Glücklich ist der, der fern von Geschäften Wie das Menschengeschlecht der Vorzeit Das väterliche Feld mit seinen Stieren pflügt Und frei von allem Wucher ist« H oraz 2014: 273/E poden II, 1-4

M arkt und Tradition Der Dichter Horaz stellt noch vor dem Jahr Null in den oben zitierten Epoden einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen ländlichem Leben und dem, was man heute ›den Markt‹ nennt, her. Er beschreibt darin das Nachsinnen des Wucherers Alfius über einen Umzug von der Stadt in eine ländliche Gegend. Etwas mehr als 2000 Jahre später schreibt die Publizistin Hilal Sezgin in ihrem Bericht über den Umzug auf das Land: »Statt auf neue Klamotten und verarmte Menschen, […] schaue ich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen auf Wiesen, Bäume, Blumen, Himmel, Tiere, Wolken; es kommt mir alles so viel schöner, realer, befriedigender vor. Und ich bin überzeugt: In einer Landschaft, in der es weniger Menschen gibt, ist für den Einzelnen auch mehr Platz.« (Sezgin 2011: 74)

Horaz und Sezgin raten beide klar zum Leben auf dem Land. Während jedoch vor etwas über 2000 Jahren wirtschaftliche Selbstbestimmung als Grund genannt wird, scheint heute das Fliehen vor Konsum und Armut

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wichtig. Die Gegenüberstellung der Texte macht mit den veränderten Bildern von Marktwirtschaft auch veränderte Bilder des Ländlichen lesbar. Dieser Zusammenhang von Wirtschaftsformen und Literatur lässt sich für die Gegenwart unter anderem anhand einer Reihe von Büchern nachweisen, die als Stadtflucht- oder Landlust-Literatur beschrieben werden können. Gemeinsam ist allen, dass sie von einem Umzug von urbanen in rurale Gebiete erzählen. Hierdurch findet eine stetige Gegenüberstellung beider Orte statt. Das Land wird beispielsweise als Bild urtümlicher Arbeit und Gegenmaßnahme zur Vereinzelung des Subjekts erzählt, die Stadt als Ort der Überforderung. Damit werden beide Orte mit unterschiedlichen Semantiken beschrieben. Indem hierbei sowohl auf vorhandene Beschreibungen zurückgegriffen wird, als auch neue Inhalte hinzugefügt werden, tritt ein Prozess des wechselseitigen Auffüllens gesellschaftlicher und literarischer Bilder statt. Hier wird neben dem literarischen auch gesellschaftlicher Raum produziert.1 Im folgenden Text wird nun untersucht, wie Neoliberalismus solche Semantiken beeinflusst und wie sie in der Literatur hergestellt werden. In den Büchern werden sowohl die Beweggründe für den Umzug, der Umzug selbst, wie auch die Überraschungen des Landlebens ausführlich erzählt. Formal sind sie zumeist zwischen Ratgeberliteratur, Reisebericht und Roman zu verorten und ihre Rückbindung an gesellschaftliche wie mediale Landlust-Diskurse ist relativ offensichtlich. Mehr als eine klar definierte Handlung werden persönliche Entwicklungen und Bilder des Ländlichen fokussiert. Beispiele hierfür sind: Brigitte Janson – Winterapfelgarten (2014), Irmgard Hochreither – Schöner Mist. Mein Leben als Landei (2011), Dieter Moor – Was wir nicht haben, brauchen sie nicht (2009), Martin Reichert – Landlust: Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz (2011), aber auch in Juli Zehs – Unterleuten (2016) sowie Dörte Hansens – Altes Land (2015) finden sich die entsprechenden Motive. Ein Vergleich dieser Bücher mit Magazinen wie Landlust liegt nahe, denn auch hier wird dem vermeintlich städtischen Zielpublikum ein Bild 1 | Mit dem Begriff des produzierten Raums beziehe ich mich hier und im Folgenden auf Henri Lefèbvres Studie L a production de l’espace (1974): Nach dieser sind Räume nicht, wie in der Tradition von Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781), Wahrnehmungsbedingungen a priori, sondern selbst kulturell hergestellt bzw. eben produziert.

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von Land präsentiert, das nicht immer den Realitäten des ruralen Raums entspricht. Und gerade dadurch, dass Probleme des ländlichen Raums eher ausgespart werden, ist der Vergleich zu Landlust und romantischen wie idyllischen Traditionen naheliegend. In den vorfindlichen Deutungen werden Bilder des Ländlichen (re-) produziert, die von einer erstaunlichen historischen wie medialen Persistenz sind. Diese Bilder werden üblicherweise in eine lange Tradition von Romantik, Eskapismus und grüner Bewegung gestellt, die genaue Einordnung dieses heutigen Phänomens in den historischen und besonders gegenwärtigen Diskurs ist noch zu leisten. Jedoch sind die Bezugnahmen auf solche Traditionen teils recht offensichtlich. So wird in dem bereits zitierten Buch von Hilal Sezgin die Idylle historischer Ländlichkeit explizit zur Folie, vor der heutige Ländlichkeit betrachtet wird: Im Fokus stehen Tauschhandel, Gemeinschaft und direkte Produktion von Lebensmitteln (vgl. u.a. Sezgin 2011: 99-107). Anhand solcher Beispiele wird im Folgenden gezeigt, durch welche Faktoren der rurale Raum in den hier untersuchten literarischen Formen bestimmt ist, und wie dies insbesondere literarisch geschieht. Wie bereits angesprochen wurde, geht es in diesem Text um eine Semantik des Ländlichen, in der der rurale Raum als Gegen-Ort zu Beschleunigung, Individualisierung und Präsentationsanforderungen des Neoliberalismus und eben auch des urbanen Raums produziert wird. Hierin ist eine funktionalisierende Konstruktion als Raum der Entlastung erkennbar. Dass diese in Ratgeber-Literatur und Romanen ebenso auftaucht wie im gesellschaftlichen Diskurs, verstärkt die Notwendigkeit einer Untersuchung.

N eoliberalismus und ruraler R aum Zunächst soll daher versucht werden, das merkwürdige Verhältnis von Neoliberalismus, ländlichem Raum und Literatur zu entwirren. Klar ist, dass der beschriebenen Literatur kein politisches Programm unterstellt werden kann. Wenn jedoch schon in der von Horaz ausgehenden Traditionslinie das Land zu einem Ort im politischen Diskurs wird, ist das auch für die Jetzt-Zeit zu prüfen. So ist zu zeigen, wie Land und Neoliberalismus im gesellschaftlichen Diskurs verknüpft sind. Damit ist dann die Voraussetzung gegeben, diesen Konnex auch in der untersuchten Literatur nachzuweisen.

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Die Verbindung von Überforderungen im Neoliberalismus und der eskapistischen ›Lust aufs Land‹ hat besonders Didier Eribon pointiert ausgedrückt. Er beschreibt beispielsweise in einem Interview in der ZEIT, eben jenen Wunsch der Linken, »verloren geglaubte solidarische Räume […]: das Dorf, die Gemeinde, das Café« (Stephan 2016) wiederherzustellen. Genau dieser Wunsch lässt sich auch in den hier behandelten Büchern nachweisen, wobei diese eben als Literatur und nicht als Soziologie oder Politik formuliert sind. Eribon beobachtet zudem, dass die Rückwendung auf solche Solidaritäten schnell zu einem intellektuellen oder politischen Programm würde, und sieht dieses als eine »reaktionäre Reaktion auf den Neoliberalismus« (ebd.), die zwangsläufig scheitern müsse. Damit schließt er u.a. an Richards Sennetts Beschreibung des flexiblen Menschen im modernen Kapitalismus an. Dieser würde durch »die allgegenwärtige Drohung, […] nichts ›aus sich machen zu können‹« getrieben, »woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen« (Sennett 1998: 189f.). Daraus folge »[e]ine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus«, nämlich »die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde.« (Ebd.) Auch im deutschsprachigen Feuilleton wurden die Stadtflucht-/Landlust-Bewegungen häufig als eine Reaktion auf Überforderungen durch neoliberale Strukturen erklärt. Bereits 2011 stellt Kathrin Hartmann in der Frankfurter Rundschau fest, dass die jüngere Generation in einer überbeschleunigten und mit Marktwert belegten Welt »antimaterialistische Ideen von Tradition und vergangenen Werten« (Hartmann 2011) sucht, hier eben in Ländlichkeit. Und das Magazin Cicero sieht im Ländlichen eine »romantische Vorstellung von einer Welt, wie sie ohne übermäßigen Konsum und Entfremdung sein könnte.« (Cicero Magazin für politische Kultur o.J.) Interessant ist nun, wie dieser Übergang von Soziologie (Eribon, Sennett) zunächst in Feuilletons und schließlich in Ratgeberbüchern und Literatur formal umgesetzt wird. Wesentlich ist dabei die Frage, wie gerade die Konstruktion von Land als Entlastungsraum eine Literatur hervorbringt, die inhaltlich und formal sehr klare Dualismen zeichnet. Mit Blick auf die vorgeführten Analysen ist offensichtlich, dass dem Land Qualitäten wie Gemeinschaftlichkeit (»In kleinen Orten ist gegenseitige Hilfe, wenn es denn nottut, selbstverständlich.« (Moor 2009: 189)), und Privatheit bzw. Freiheit (»ein freieres Land […], in welchem der gesunde Men-

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schenverstand, das Gespür für Maß und Unmäßigkeit höher geschätzt werden als Reglementierungen« (ebd.: 39)) zugeschrieben werden. Wie diese Analysen zur gesellschaftlichen Relevanz des Zusammenhangs von Land und Markt zeigen, sind weniger die wirtschaftlichen Aspekte des Neoliberalismus relevant, etwa definiert als ein »Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen« (Butterwegge/Lösch/Ptak 2017: 11), sondern vielmehr die sozialen. Diese müssen hier erläutert werden, um die Semantiken des Ländlichen in Bezug auf Land und Neoliberalismus besser kategorisieren zu können. In den letzten Jahren ist Neoliberalismus zunehmend zu einem übergreifenden Schlagwort geworden, das die Auswirkungen des internationalen und digitalen Kapitalismus umfasst. Neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme forderten vom Individuum ständige Präsentation, Optimierung und Wachstum. Diese Effekte sind u.a. mit Hartmut Rosas Begriffen Beschleunigung und Resonanz (vgl. hierzu u.a. Rosa 2013, 2016) oder mit Byung Chul Hans Begriff der Psychopolitik zu erklären: Die wirtschaftliche wie soziale Stellung des Individuums hänge verstärkt von seinem Handeln im Markt ab. Die Marktregeln gelten demnach in (fast) allen Bereichen des menschlichen Lebens: Wer beruflich und sozial erfolgreich sein will, sollte seine Kompetenzen, die Zahl seiner Kontakte, sein Einkommen etc. steigern. Diese Forderung münde dann in Effekte wie Ausweitung der Arbeitswelt ins Private, Beschleunigung durch Wachstumsideale und Überforderung durch Eigenverantwortung. Dabei werden diese Anforderung nicht mehr als äußerer Zwang, sondern vielmehr als innere Lust beschrieben (vgl. u.a. Han 2014: 10). Nun ist auch zu zeigen, ob in den Büchern eine neue Deutung zu dem hier angedeuteten semantischen Spektrum hinzugefügt wird, oder ob Traditionen fortgeschrieben werden. In der Geschichte des Stadt-Land-Diskurses gibt es eine lange Tradition vom Gegenbild des ruralen Raums als Flucht- oder Entlastungs-Ort zur Individualisierung der Städte im Kapitalismus (vgl. u.a. Rehm 2015: 10-12). Diese Tradition reicht von dem Ökonomie-Kapitel in Thoreaus Walden, Friedrich Engels Betrachtungen zu Stadt und Land, den eskapistischen Strömungen im beginnenden 20. Jahrhundert hin zur Stadtflucht der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. u.a. Baumann 2014: 101; Kiesel 2004: 55). Nach Engels beispielsweise tritt die »Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht […] doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewußt auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt.« (Engels 1956: 36f., nach

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Guelf 2010: 44) Diese wird in der Tradition zum Ort des ungehemmten Kapitalismus stilisiert und das Land zum nicht immer mitgenannten Gegensatz. Heute scheint eine solche Figuration des Ländlichen als arkadischer Fluchtpunkt fragwürdig. So wird in den letzten Jahren oder Jahrzehnten die Unterscheidung zwischen Stadt und Land auch durch das Übergreifen von kapitalistischen Denk- und Handelsweisen auf alle Lebens- und Wohnbereiche weniger deutlich (vgl. u.a. Baumann 2016: 250). Demnach wäre eigentlich zu erwarten, dass die Schilderungen des Einflusses von Beschleunigung und Marktlogiken keine Unterschiede zwischen Stadt und Land machen; der ländliche Raum würde damit nicht als Ort für Flucht und Entlastung taugen. Interessant werden Bilder des Ländlichen aber genau dann, wenn unabhängig von diesen Schlussfolgerungen solche idyllischen Bilder und Deutungen wirksam werden. Damit ist die oben beschriebene Semantik des Neoliberalismus ein Punkt, an dem der imaginative vom realen ländlichen Raum getrennt wird. So wächst die Bedeutung sowohl dieser Unterscheidung beider Räume als auch und besonders die der differenzstiftenden Semantik. Gerade durch diese Trennung wird eine Einordnung der besprochenen Bücher in die Tradition der Idyllik plausibel – für diese ist der »konstitutive, geschützte und harmonische Binnenraum« (Birkner/Mix 2015: 5) als conditio sine qua non entscheidend. Diese Überlegungen zur Bedeutung der allgemeinen und insbesondere idyllischen Tradition für die Verhältnisbestimmung von Landlust-Literatur und Neoliberalismus zeigen, in welchem schwierigen Verhältnis realistische, literarische und idyllische Bestimmungen des Ländlichen heute stehen. Daher soll dieses Verhältnis im Folgenden noch genauer bestimmt werden.

F estschreibungen Ohne in die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Politik oder Zeitgeschehen2 tiefer einzudringen, lassen sich einige Zusammenhänge der beschriebenen Literatur mit den gezeigten Neoliberalismus-Effekten 2 | Das Verhältnis von Literatur zu Politik und Zeitgeschehen ist seit ihrer nominellen Unabhängigkeit ständig hinterfragt worden und ist auch heute noch Gegenstand vieler Diskussionen. Die Ausdifferenzierung von Literatur als eigenständiges System mit nur stärker ästhetischen denn funktionellen Anforderungen wird

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aufweisen. Zumeist wird der ländliche Raum als eine relativ einfache Welt erzählt, in der das Land aus kleineren Bauernhöfen, Gärten, Freizeit und einigen Streitereien mit Nachbarn und Windrädern besteht. Formal wird diese Einfachheit ebenso durch simple, häufig monoperspektivische Erzählformen verstärkt, wie durch die Einhaltung einer Chronologie des Erzählens. Damit scheint das geschilderte Leben auf dem Land als einfach abzubilden und realistisch dargestellt. Die Stadt wird zumeist als Gegenbild entworfen: aus ihr kommen die Erzählerinnen und Erzähler und sie dienen als Horizont entfremdeter Arbeit und unverbindlicher Sozialbeziehungen. Die Stadtflucht-/Landlust-Literatur bietet dann den Gegensatz: simple Erzählformen wirken angesichts der Komplexität heutiger globaler Wirtschaft, Krisen lokaler Landwirtschaft sowie Überforderungen des Berufs- wie Privatlebens zur Darstellung von Welt unterkomplex und eskapistisch. Neoliberalismus in literarischen Formen erfahrbar zu machen könnte demgegenüber heißen, Beschleunigung, Wertlogik, Wettbewerb oder Marktmächte zum Inhalt zu machen oder aber in der ästhetischen Form Entsprechungen dafür zu finden.3 Damit wird an eine Tradition angeschlossen, in der Dörfer als Idyll erzählt werden. Und die Idylle schließt eben »qua Gattung die Darstellung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse aus und erscheint somit als das Medium der bürgerlichen Sehnsucht nach einem freien und glücklichen Leben jenseits der beschränkenden feudalen Wirklichkeit« (Gronke 1987: 29).

heute üblicherweise [u.a. in systemtheoretischer Perspektive von Gerhard Plumpe in E pochen moderner L iteratur (1995)], auf den Ausgang des 18. Jahrhunderts und damit auf die Zeit von Aufklärung, Romantik und Klassizismus datiert. 3 | In Romanen, die Neoliberalismus offensichtlicher thematisieren, sind dies beispielsweise Erzählformen, die mit einer Vielzahl von Stimmen spielen oder ältere Gattungen wie Fabeln und Utopien aufgreifen. Thematisch werden Krisen-, Überlastungs- und Burnout-Erzählungen gewählt. Zu nennen sind dabei beispielsweise Dietmar Dath – D ie A bschaffung der A rten oder D eutschland macht dicht, Friedrich von Borries – RLF, Rainald Goetz – J ohann H oltrop oder der kürzlich erschienene Roman K raf t von Jonas Lüscher, der die Bestrebungen des wirtschaftsoptimistischen Silicon Valley thematisiert, die alte Theodizeefrage zu lösen.

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Wie bisher gezeigt wurde, wird genau diese bürgerliche Sehnsucht auch hier beschrieben. Mit Sennett und Eribon wurde gezeigt, wie das neoliberale Moment dann deutlich heraustritt, wenn die Stadtflucht mit Überforderung begründet wird und die Schilderung des Landes in Motiven der Entschleunigung ebenso wie in Gemeinschafts- anstelle von Wertlogiken mündet. Diese Differenz von Überforderung und Entschleunigungsbzw. Gemeinschaftserzählungen ist also entscheidend.

G renzen Da die besprochenen Bücher als gemeinsames Merkmal die Beschreibung eines Umzugs auf das Land haben, werden solche oben beschriebenen Unterscheidungen für alle Beispiele virulent. In ihnen findet eine Grenzziehung zwischen urbanem und ruralem Raum statt. Um genau zu unterscheiden, anhand welcher Semantiken diese Grenzziehung vorgenommen wird, wird die Theorie der Raumsemantik nach Juri Lotman verwendet. Nach dieser sind Handlung und Ereignis im literarischen Sinne Ergebnis der »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« (Lotman 1972: 332, Hervorhebung im Original). Obwohl die Grenze zunächst unüberschreitbar ist, wird sie von dem handlungstragenden Helden doch überschritten. In den beschriebenen Beispielen ist das Land vor dem Umzug aus städtischer Perspektive beschrieben: ein unbekannter Ort voller Ungewissheiten und einsam. Mit dem Umzug werden dann Erfahrungen möglich, die Grenzen überschreitbar und vor allem werden dem neuen Ort – hier dem Land – weitere Zuschreibungen zuteil, wie beispielsweise als Ort sinnvoller Arbeit und von Gemeinschaftsbeziehungen. Mit dem Hinzufügen von Deutungen macht die Grenzüberschreitung eine Handlung aus. Im historischen Roman wäre das beispielsweise die semantische wie topologische Grenze zwischen Bauern und Adel. Der Grenzübertritt ist das entscheidende Ereignis, »ein Faktum, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen« (ebd.: 336). Für Lotman selbst kann die »Struktur eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt« (ebd.: 312) werden. Kunstwerke sind nach ihm sekundäre modellbildende Systeme, das heißt, dass sie sowohl auf Annahmen über die Welt beruhen, als auch selbst neue schaffen. Zwar sind Grenzen und Räume textrelativ, das grundsätzliche Setzen

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von Grenzen versteht die Theorie jedoch als übergreifendes Merkmal aller Kultur.4 Im Fall der hier untersuchten Romane werden also die kulturell bestehenden Bilder sowohl des Urbanen wie des Ruralen mitverhandelt. Mit Hilfe der Untersuchung dieser von Lotman beschriebenen Grenzen und Ereignisse kann herausgearbeitet werden, welche Eigenschaften die Räume Stadt und Land trennen und welche Auswirkungen der Übertritt zwischen den Räumen für die Figuren oder den Raum hat. Einige der Motive, die nun die räumliche Struktur der Texte bestimmen, finden sich in der folgenden Analyse. Dabei wird untersucht, wie diese Motive die Semantiken der Räume bestimmen und ob sie, in Lotmans Sprache, zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt werden.

A nalysen Als erste, weil bekannteste, Differenzierung ist die von Vertragswirtschaft und Gemeinschaftssinn zu untersuchen. Dabei wird üblicherweise Georg Simmels Verständnis der Großstadt als Ort der Geld- bzw. Verstandesherrschaft angeführt, die das Miteinander auf Tausch- und Wertverhältnisse reduziert, während das Land als Ort der »Gemütsbeziehungen zwischen Personen« (Simmel 1984: 194, nach Löw/Steets/Stötzer 2008: 29) verstanden wird. In dieser Tradition steht in dem eingangs zitierten Buch von Hilal Sezgin eine Szene des Übertritts in den ländlichen Raum, der durch die Unterzeichnung des Mietvertrags verbildlicht wird. Die Schilderung erfolgt denkbar knapp und dabei klar fokussiert auf das Erlernen einer einfachen Vertragstechnik: »›hier bei uns machen wir das mit einem Handschlag‹, also gaben wir uns einfach die Hand.« (Sezgin 2011: 31) Indem das Mieten als zwischenmenschliches Ereignis und unabhängig von Verträgen hervorgehoben wird, wird implizit auch ein Bild komplizierter Vertragsverhältnisse und Absicherungen in der Stadt evoziert. Von diesem scheint angenommen zu werden, dass es den Lesern bekannt ist. Auch in Irmgard Hochreithers Bericht »sehen die meisten Mietver4 | »Am Beginn jeder Kultur steht die Einteilung der Welt in einen inneren (›eigenen‹) und einen äußeren Raum (den der ›anderen‹). Wie diese binäre Einteilung interpretiert wird, hängt vom jeweiligen Typus von Kultur ab, die Einteilung an sich aber ist universal.« (Lotman 2010: 174).

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träge aus wie die Schlussakte von Helsinki. […] Auf dem Land genügen ein Blatt Papier und das Versprechen, sich um Kaminholz-Nachschub zu kümmern.« (Hochreither 2011: 33) Hierdurch entsteht eine deutliche Gegenüberstellung von städtischen Vertrags- oder Geschäftsbeziehungen gegenüber denen des ländlichen Miteinanders, oder eben Simmels Gemütsbeziehungen zwischen den Menschen. Mit dem Eintritt in den ländlichen Raum geht der in die ländliche Gemeinschaft einher. Zwar werden häufig die Schwierigkeiten des Eintritts besonders hervorgehoben, aber Gemeinschaft wird dennoch zu einem der relevantesten Kriterien von Landleben. Hierbei werden insbesondere Vorstellungen eines Subjektivismus aufgerufen, der nicht durch den Zwang bedingt ist, in einer Markt- oder Wettbewerbssituation zu bestehen. Dieter Moor beschreibt dies in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht als die relevanteste Eigenschaft uckermärkischen Landlebens: »Es ist das Ganze. […] Das Dazugehören. Das Nichts-darstellen-Müssen.« (Moor 2009: 290) Das beschreibt ex negativo ein Miteinander, in dem Gemeinschaft durch Entfremdung und Darstellung erkauft wird. Auch wenn hier keine finanziellen Aspekte angesprochen sind, ist die Assoziation von dieser Präsentations- zu einer Marktlogik nicht fern. Zu einer ähnlichen Beschreibung wie Moor kommt auch Hochreither in Schöner Mist, jedoch wird bei ihr das Motiv des Verzichts aufgerufen. Sie kommt »zu der Einsicht, dass Verzicht auch etwas Befreiendes haben kann. Kein Zwang zur Selbstinszenierung« (Hochreither 2011: 133). Immer mitgedacht wird hier die Erfahrung der Stadt als Ort der stetigen Selbst-Präsentation, die Grenze Stadt-Land wird anhand dieser Semantiken stetig definiert. Beide Motive münden in eine Beschreibung des Ländlichen als Ort der Ich-Werdung, gegen Entfremdung und Präsentationsmechanismen. Auch Sezgin beschreibt das »Gefühl, noch nie vollständiger, noch nie mehr der Mensch gewesen zu sein, der ich sein sollte.« (Sezgin 2011: 90) Hier lässt sich wiederum eine längere Tradition erkennen, ablesbar u.a. in Thoreaus Walden. Dieser setzt ebenso Arbeit, Sinnsuche und Verzicht in ein Verhältnis. In dem Ökonomie-Kapitel heißt es: »Tatsächlich hat der arbeitende Mensch heute nicht mehr die Muße, sein Leben Tag für Tag wirklich sinnvoll zu gestalten. Wahrhaft menschliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen kann er sich nicht leisten; es würde den Marktwert seiner Arbeit herabsetzen. Es fehlt ihm an Zeit, etwas anderes zu sein als eine Maschine.« (Thoreau 2017: 10)

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Anhand dieser Unterscheidungen zeigt sich bereits, welche Parallelen in den untersuchten Darstellungen des Ländlichen bestehen und wie insbesondere die lange Tradition des Ländlichen als Ort unverstellten Miteinanders fortgeschrieben wird zu einem Ort der Authentizität. Im Rückgriff auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen fallen hier insbesondere steigende Verkaufszahlen von Ratgebern zu den Themen Authentizität und Achtsamkeit ins Auge, die auf wachsende Anforderungen des Berufslebens reagieren.5 Eine weitere Differenzierung von Stadt und Land in Motiven des Neoliberalen findet sich in dem Roman Winterapfelgarten. Dieser erzählt prononcierter die Stadt mit, zum Beispiel als Ort des sozialen Ausschlusses von Menschen, welche in einer Welt, in der Wertbemessung an Arbeitskraft vollzogen wird, nicht mehr funktionieren. Die Erzählerin verliert ihre Anstellung aufgrund ihres Alters, dabei liest sich die Begründung wie ein neoliberales Wirtschaftsprogramm: »Verjüngung, Konkurrenz und neue Perspektiven« (Hansen 2015: 8). Weiterhin sei die städtische Welt exkludierend gegenüber Depressiven und sonstigen nicht Zugehörigen: »Ein Ballett der Betriebsamkeit und Effizienz beherrschte den Rathausmarkt. Nur diese Bank hier war eine ruhige Insel, ein Ort für Leute, die nicht dazugehörten.« (ebd.: 15) In diesem Fall wird das Land insbesondere als Ort des Heils beschrieben. Gegenüber Beschleunigung und Überforderung wird es bei Hochreither »ein wunderbares Gegengewicht zur Stadt, endlich ein Ort, um den Kopf freizukriegen« (Hochreither 2011: 27). Wiederum Sezgin beschreibt in ihrem Bericht das Land als Ort des Verzichts auf Konsum und Wettbewerbslogik: »Wenigen ist es gegeben, sich völlig aus dem System der Anreize und Gratifikationen, des Besitzens und Kaufens und Erfolgreich-Dastehens auszuklinken und damit glücklich zu sein.« (Sezgin 2011: 81) Diese Konstellation des ländlichen Raumes als Rückzugsort ist neben der zur Literatur diachron verlaufenden Traditionslinie Engels – Simmel – Rosa im synchronen gesellschaftlichen Landlust-Diskurs ein kons5 | Hier sind u.a. Jonathan Sierck – S elbstbewusstsein & A uthentizität : Ü ber die K unst du S elbst zu S ein (2016) oder der Erfolg einer Neuauflage von Erich Fromms A uthentisch leben (2006) anzuführen. Dem Phänomen geht auch der Soziologe Wolfgang Engler in seinem Buch A uthentizität! Von E xzentrikern , D ealern und S pielverderbern (2017) nach und versucht, den Wunsch nach Authentizität u.a. am Arbeitsplatz als ein weiteres Fortschreiten des Neoliberalismus nachzuweisen.

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titutives Element. Das hat auch Julia Rössel in ihrer Studie zur Raumproduktion durch Zugezogene in der Uckermark herausgearbeitet und Kapitalismuskritik als einen Aspekt des wahrgenommenen guten ländlichen Lebens unter anderen identifiziert (vgl. Rössel 2014: 222). Auch Mareike Egnolff arbeitet in ihrer Dissertation über Landlust und ›Urban Gardening‹ die Sehnsucht nach »Entschleunigung, […] nach heiler Welt« (Egnolff 2015: 186) als mögliche Triebfeder der Akteurinnen und Akteure dieser Entwicklung heraus. Dies spricht wiederum dafür, dass in den genannten Büchern eher gesellschaftliche und historische Vorstellungen vom Raum reproduziert, als dass innovative Umdeutungen vollzogen werden. Was größtenteils fehlt sind die oben dargestellten realpolitischen Aspekte des Einflusses von Kapitalismus auf ländliches Leben: Massentierhaltung, Spekulation auf Land und Nahrungsmittel, Abbau sozialstaatlicher Strukturen in ländlichen Gebieten oder die Angst vor sozialem und wirtschaftlichem Ausschluss. Dieses Fehlen stärkt die Verbindung zu idyllischen oder eskapistischen literarischen Traditionen, da die Idylle, wie oben gezeigt wurde, solche Soziologien ausschließt. In der kurzen Entwicklung des hier beschriebenen Genres ist jedoch ein Umschwung zu beobachten. Es gibt eine weitere Ausdifferenzierung von Büchern, die den Umzug von der Stadt aufs Land beschreiben und damit auch differenziertere Semantiken des Ländlichen als Ort im Neoliberalismus. Während frühe Bücher wie die von Moor, Hochreither oder Sezgin (2009-2011) das Dorf noch als relativ ungebrochene Idylle zeichnen, wird diese in den darauffolgenden Büchern fragwürdig. Der Dramatiker Daniel Mezger beispielsweise beschreibt 2012 in seinem Buch Land Spielen den Umzug einer Familie und deren Versuche, sich in die dörfliche Gemeinschaft zu integrieren. Beispielweise versucht der Vater der Familie, in der Dorfkneipe Anschluss zu finden und thematisiert beim Kartenspielen genau solche Themen, scheitert aber damit: »›Milchkontingent‹, sagt der Städter. ›Bauernsterben‹, sagt er. Er sagt ›Flurpflege.‹ Fügt an: ›Aufwertung der Landschaft.‹ Er will ansetzen zu: ›Selbstbestimmte Arbeit‹, wird unterbrochen, erntet ein: ›Jaja.‹ Ein: ›Nur reden kann jeder.‹ Ein Schweigen von der ganzen Runde.« (Mezger 2012: 49)

In dieser Konfrontation von städtischen Vorstellungen des Ländlichen mit dem dörflichen Leben wird die Grenze sowohl für die problemorientier-

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ten (Milchkontingent, Bauernsterben) wie die idyllischen (selbstbestimmte Arbeit) Deutungen klar gezogen. Beides wird als städtische Deutung dargestellt und zugleich findet eine Auffächerung von Perspektiven des Ländlichen statt. Hier wird die Grenze zwischen städtischer und ländlicher Deutung durch den Ausschluss des Städters sowie der theoretisierenden Perspektive auf Probleme des Ländlichen manifestiert. Auch Martin Reichert versucht in seinem Bericht Landlust einen Abgleich von Vorstellungen des Ländlichen und der vorgefundenen Realität. So stellt er nach einem Einkauf auf einem polnischen Markt fest, »dass die Schweine für diese himmlische Wurst gar nicht von einem kleinen polnischen Bauernhof stammten, sondern von der aus Not illegal produzierenden Familie billig von einem polnischen Großbetrieb gekauft worden waren, weil sich das Geschäft sonst gar nicht lohnen würde.« (Reichert 2011: 57)

Darin scheint das eigentliche Programm des Buches zu kulminieren: Zwar weiß man, dass die gefundenen Dörfer potemkinsche sind und im Kapitalismus nicht bestehen, sie als real anzunehmen schafft aber dennoch die gesuchte Entlastung. In den später erschienenen Büchern, beispielsweise Dörte Hansens Altes Land (2016) oder Juli Zehs Unterleuten (2016), werden die Landlustigen selbst zu Figuren und Persiflagen. Zumindest das letztgenannte Buch scheint an der Grenze zu einem Realismus kapitalistischen Landlebens zu stehen: Geschildert wird die Landnahme in Form von Windrädern auf dem Dorf. Als Landlust-Figur tritt Gerhard Fließ auf, ein aus der Stadt zugezogener Soziologe mit dem »euphorische[n] Wunsch, jeder staatlich-kapitalistischen Gewalt den Rücken zu kehren« (Zeh 2016: 361f.), was stark an die Schilderungen aus den oben untersuchten Büchern erinnert und diese vermeintlich zuspitzt. Er wird aber Zeuge des Zerbrechens der dörflichen Gemeinschaft an Fragen der Wertschöpfung in ländlichen Gegenden. Hier wird das Scheitern eines Übertritts gezeigt, da, das wird dann zur Aussage der Episode, der ländliche Raum eben nicht als entschleunigter Fluchtort zum Neoliberalismus funktioniert. Die zuvor vermutete Grenze wird fragwürdig, in diesem Fall ist der erwartete arkadische Raum des Ländlichen nicht vorhanden. Nach Lotman findet in solchen Fällen entweder kein Übertritt, also keine Handlung statt, oder der idyllische Raum ist inexistent. Im nichtliterarischen Diskurs wiederum formuliert David Harvey in seinem Buch Räume der

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Neoliberalisierung (2007) eine Absage an solche Räume. Er halte es »für falsch und widersinnig, die Existenz irgendeines heterotopischen oder abgesonderten ›lebensweltlichen‹ Raums anzunehmen, der von kapitalistischen sozialen Beziehungen und Konzepten isoliert ist« (Harvey 2007b: 86). Diese Erkenntnis wird von Juli Zeh hier in Absage an den Landlust-Diskurs in Literatur geschrieben. In Dörte Hansens Altes Land dürfen der Leser und die Leserin dem Journalisten Burkhard Weißwerth beim Scheitern seiner Landzeitschrift zusehen. Dieser plant ein »Magazin für Menschen, die genug hatten, downshifters wie ihn, die kapiert hatten, dass weniger mehr war, die den ganzen Ballast loswerden wollten.« (Hansen 2015: 68) Dieser Plan, Kapital aus dem Inneren der dörflichen Gemeinschaft zu schlagen, endet mit einem Hörsturz durch Stress und damit auch mit dem Scheitern des Übergangs in den ländlich-idyllischen Raum. Das Scheitern hängt in beiden Fällen auch an den Vorstellungen vom Land als Gegenort zur neoliberalen Logik. Dieses idyllische Bild vom Land wird also fragwürdig. Bei Hansen scheitert mit der Zuspitzung auf das Ende einer Landlust-Publikation auch der Plan, Ländlichkeit und Landbilder zu einem Produkt zu machen, an der ländlichen Realität. In diesen Darstellungen wird Lust auf Land also selbst reflexiv zum Thema, die Annahmen des außerliterarischen Trends scheinen hinterfragt zu werden. Die Problematik des Geldverdienens in strukturschwachen Regionen wird zwar auch in anderen Büchern miterzählt, jedoch wird sie dabei nicht zu dem Punkt, an dem der Übertritt in den idyllischen Raum scheitert, sodass die Idylle bleibt. Das zeigt erneut den Zusammenhang von Grenzen, den Möglichkeiten, sie zu überschreiten, und den daraus entstehenden Räumen. Diese letzten eher literatursoziologischen Beobachtungen zeigen einen Genre eigenen Kampf um die Deutungen des ländlichen Raumes. Dass er unter anderem über die Motivik des Neoliberalismus geführt wird, unterstreicht die Bedeutung der Thematik.

S chlussbetrachtungen Trotz aller Differenzierungen von Dörfern und Ländlichkeit, die heute eigentlich vorzunehmen wären, ist das Bild des Ländlichen in den beschriebenen Büchern recht simpel. Die klaren Unterscheidungen von städtischem und ländlichem Leben sind Ergebnisse mehrerer Faktoren

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und noch genauer zu differenzieren. Die Beispiele zeigen aber, wie sowohl die formalen als auch inhaltlichen Darstellungen des Ländlichen auch heute noch als Reaktionen auf Wirtschaftsformen deutbar sind. Durch die Einordnung in gegenwärtige wie historische Diskurse wird deutlich, dass durch diese Darstellungsweisen gesellschaftliche Annahmen über das Ländliche wie Städtische mitverhandelt werden. Henri Lefèbvre beschreibt kapitalistischen Raum als einen »Raum der Quantifizierung […], ein Raum, der gehandelt wird und in dem alle Elemente zu tauschen und deshalb austauschbar sind.« (Lefèbvre 1979: 293, nach Belina 2008c: 529). Der ländliche Raum der untersuchten Literatur ist, wie nachgewiesen, kein Objekt des Handels, sondern einer der gefühlsmäßigen Vermessung. Zugleich behaupten jedoch die vorgestellten späteren Texte ein Verwischen der Grenzen dieser gefühls- und wertmäßigen Vermessungen. Und obwohl diese Bilder noch in Verhandlung begriffen sind, lässt sich wiederum in Rückgriff auf die lange Tradition der Verbindung von Landbildern und Wirtschaftsform eine Perspektive zeichnen. So ist in dem anfänglichen Rückgriff auf Horaz’ Geldverleiher Alfius noch eine Perspektive enthalten. Am Ende der Epode wird deutlich, dass Alfius seinen Umzug aufs Land nur theoretisch beschrieben hat und in der Stadt bleibt: »Als so der Wucherer Alfius gesprochen hatte,/Schon drauf und dran, ein Bauersmann zu werden,/Kündigte er an den Iden all sein Geld:/ Er will’s an den Kalenden – wieder anlegen!« (Horaz 2014: 277)

L iteratur Baumann, Christoph (2014): »Facetten des Ländlichen aus einer kulturgeographischen Perspektive. Die Beispiele Raumplanung und Landmagazine«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: transcript (Rurale Topografien, Band 1), S. 89-109. — (2016): »Die Lust am Ländlichen – Zur Persistenz und Variation idyllischer Ländlichkeit«, in: Informationen zur Raumentwicklung 2, S. 249-259. Belina, Bernd (2008): »Geographische Ideologieproduktion – Kritik der Geographie als Geographie«, in: ACME: an international e-journal for

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Henri Seel

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Rurbane Landschaften RE-KONFIGURIEREN

Versteckte Geographien des Ländlichen Was passiert mit dem Land,​ wenn Städte ländlicher werden? Marc Redepenning

S tadt und L and als variable gesellschaftliche R aumverhältnisse Mit Stadt und Land werden zwei gesellschaftliche Raumverhältnisse bezeichnet, deren Verhältnis zueinander durchaus variabel ist. Der Ausdruck ›gesellschaftliche Raumverhältnisse‹ bezeichnet die Ergebnisse der Versuche, räumliche Konstellationen zur Ordnung gesellschaftlicher Prozesse zu nutzen (vgl. Werlen 2010). Der Ausdruck verweist auf die Relevanz einer gesellschaftlich produzierten Räumlichkeit für die »Etablierung und Ermöglichung von Gesellschaftlichkeit« (ebd.: 326). Stadt und Land sind zwei derartige gesellschaftliche Raumverhältnisse. In der Entwicklung der räumlichen Organisation und insbesondere der räumlichen Arbeitsteilung hatten sie je unterschiedliche Aufgaben inne und erbrachten je spezifische Leistungen. Sie selbst kennen wiederum unterschiedliche Figuren und Ausprägungen. Vor diesem Hintergrund versucht der Artikel, das Verhältnis von Stadt und Land in eher konzeptioneller Hinsicht genauer zu beschreiben. Dabei wird erstens argumentiert, dass konkrete Raumsemantiken die Ansichten und Einstellungen, was Stadt und Land sein können und sein sollen, prägen und wesentlich die Variabilität des Verhältnisses, auch in normativer Hinsicht, bestimmen. Zweitens will der Artikel auf eine mögliche negative Konsequenz für ländliche Raumverhältnisse aufmerksam machen, die dann entstehen kann, wenn Städte Elemente spezifischer Raumsemantiken des Ländlichen in sich hineinkopieren und umsetzen,

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um ihre Diversität zu erhöhen. Dazu wird bewusst ein stärker essayistischer Stil gewählt. Die gerade angesprochene Variabilität des Verhältnisses zwischen Stadt und Land kann sich in raumstruktureller Hinsicht auf sozioökonomische oder demographische Indikatoren beziehen, etwa als Anteile bezüglich der Bevölkerung, der Wirtschaftsleistung, des Einkommens oder des Steueraufkommens. Vor dem Hintergrund dieser Indikatoren (die wesentlich das gesellschaftliche Benchmarking über Erfolg oder Misserfolg bestimmen) stellt die Stadt heute das dominierende gesellschaftliche Raumverhältnis dar. Global gesehen lebt seit dem Jahr 2007 die Mehrheit der Menschen in Städten. In Nordamerika, Lateinamerika und Europa sind die Werte noch einmal höher und erreichen 80 Prozent – und dieser Prozess der Verstädterung wird auch in den nächsten Jahrzehnten anhalten (UN 2014). In den größeren Städten und Metropolen sind die Arbeitsplätze des tertiären und quartären Sektors konzentriert; beiden Sektoren wird aufgrund der Breite an dienstleistungs- und kreativitätsbezogenen Arbeitsplätzen eine besondere Rolle für die Entwicklung der Wissensgesellschaft attestiert. In der Stadt bzw. in den städtischen Gebieten werden mehr Produkte erwirtschaftet (gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) als in ländlichen Gebieten, entsprechend weisen urbane Gebiete auch höhere Steuereinnahmen pro Kopf als ländliche Gebiete auf. Der ab und an vernehmbare Kommentar, dass es den ländlichen Regionen im ›Globalen Norden‹ doch besser als den Städten gehe, mag im Einzelfall stimmen (möglicherweise beruhend auf einer eigenen Erfahrung), jedoch nicht über die Raumkategorien insgesamt – auch wenn in bundesdeutschen Statistiken eine leichte Angleichung in den genannten Parametern über die letzten 15 Jahre erkennbar ist (vgl. hierzu die INKARDaten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung). Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht dies, indem sie auf räumlich aggregierte Daten, die sogenannten siedlungsstrukturellen Kreistypen, zurückgreift. Die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) errechneten siedlungsstrukturellen Kreistypen ordnen alle Kreise und kreisfreien Städte der Bundesrepublik nach ihrem räumlichen siedlungsstrukturellen Zusammenhang und nach der Einwohnerdichte. Vier Kreistypen können so unterschieden werden: kreisfreie Großstädte; städtische Kreise; ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen; dünn besiedelte ländliche Kreise. Der Abbildung liegt eine Transformation des

Versteckte Geographien des Ländlichen

Durchschnittswertes der vier ausgewählten Indikatoren über alle Raumeinheiten auf 100 Prozent zu Grunde. Tabelle 1: Ausgewählte sozioökonomische Indikatoren nach siedlungsstrukturellen Kreistypen Kreistyp

Haushaltseinkommen pro Einwohner

Brutto-​ inlandsprodukt pro Einwohner

Bruttoverdienst pro Einwohner

Steuereinnahmen pro Einwohner

Kreisfreie​ Großstädte

97,3 %

145,8 %

114,1 %

112,9 %

städtische Kreise

105,5 %

95,7 %

103,2 %

107,5 %

ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen

99,0 %

91,8 %

95,3 %

96,4 %

dünn besiedelte ländliche Kreise

95,0 %

83,4 %

90,8 %

84,3 %

Eigene Berechnungen nach dem INKAR-Datensatz des BBSR für die Jahre 2014 bzw. 2015 (BBSR 2017)

Variabel sind aber auch die normative Wertigkeit und die Moralisierung des einen oder des anderen Raumverhältnisses, die von sozialen Systemen (vor allem Organisationen, aber auch sozialen Bewegungen) vorgenommen werden. Es geht dabei um die zugesprochene Fähigkeit eines Raumverhältnisses, als idealisiertes Leitmodell für die räumliche Entwicklung und Differenzierung einer Gesellschaft zu fungieren. Vielleicht kann man heute davon sprechen, dass für die westlichen Staaten eine räumliche Gewissheit (zu solchen spatial truisms vgl. Callon/Law 2004) entstanden ist, in der die Stadt als höherwertigeres Raumverhältnis betrachtet wird und zwar aufgrund der beiden Eigenschaften der Dichte und Diversität. Deutlich wird dies beispielsweise vor dem Hintergrund der jüngeren Nachhaltigkeitsdiskussion. So ist die neue Baugebietskategorie des ›urbanen Gebietes‹ explizit als ein Instrument identifiziert worden, mit dem Vorstellungen der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt umgesetzt und das Zusammenleben im Stadtteil gefördert werden soll. Nicht wenige wissenschaftliche Publikationen argumentieren ähnlich: Vor einigen Jahren hat der Geograph Jacques Lévy (2011) die

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Stadt zur Lebensform der Zukunft geadelt. Sie sei die einzige Siedlungsform, die die Idee der Nachhaltigkeit räumlich umsetzen könne. Es ist gerade die Dichte, die nach Lévy im ökonomischen (hohe Auslastung von Infrastrukturen, die nicht die Fläche erschließen müssen) und ökologischen Bereich (Vorteil von Massentransportmitteln sowie Fortbewegung zu Fuß oder per Fahrrad in Mittel- und kleineren Großstädten) kostenminimierend wirkt. Und der Ökonom Edward Glaeser (2011) spricht gar vom »Triumph of the City«, weil die Stadt jedem anderen Raumverhältnis in den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie und Soziales) überlegen sei: »Urban living is sustainable sustainability« (Glaeser 2011: 217). Die Stadt mache als größte Erfindung der Menschheit diese, wie der Untertitel seines Buches festhält, richer, smarter, greener,​ healthier, and happier. So betrachtet erscheint das Ländliche im Gegenzug marginalisiert und peripherisiert, weil es nicht der ›richtige‹ Ort für ein nachhaltiges Leben zu sein scheint. Es ist aber auch marginalisiert und peripherisiert, weil es in hohem Maße die Konsequenzen von Entscheidungen zu tragen hat, die in den urbanen Agglomerationen eines Landes oder einer Region getroffen werden (vgl. Barraclough 2013: 1048). Vielleicht ist vor dem geschilderten Hintergrund sogar ein im Entstehen begriffener Denkstil erkennbar, der, unter dem Eindruck ökonomischer Erwägungen, die komparativen Kostennachteile insbesondere dünn besiedelter ländlicher Gebiete und ihre damit verbundene eingeschränkte Zukunftsfähigkeit zum Anlass nimmt, einen schleichenden Abschied vom Ziel einer vergleichbaren Lebensqualität (politisches Stichwort: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse) zwischen Stadt und vor allem den weitgehend peripher gelegenen und schrumpfenden ländlichen Orten einzuläuten (vgl. Berlin-Institut 2009). Akzeptiert man diesen Denkstil, dann perpetuiert man einen blinden Fleck und erkennt möglicherweise nicht, in welchen Formen das Ländliche gerade zentral (und unverzichtbar) für urbanes Leben ist, ja eine conditio sine qua non des Urbanen darstellt. Viele dieser Formen haben den Status einer sich räumlich manifestierenden absenten Präsenz (Callon/ Law 2004). Damit ist gemeint, dass das Land und ländliche Orte gerade auf Grund ihres Woanders-Seins und der gänzlich anderen Art von Räumlichkeit (in Form einer als nicht nachhaltig angesehenen Weite und Weitläufigkeit) erheblich an der Herstellung städtischen Lebens beteiligt sind. So basiert die soziale Qualität des Urbanen auch darauf, dass ein Großteil

Versteckte Geographien des Ländlichen

der dazu nötigen Infrastrukturen und Voraussetzungen (Mülldeponien, Kraftwerke und weitere großflächigen Infrastrukturen der Ver- und Entsorgung) eben nicht in der Stadt verortet sind. Die gesamtgesellschaftlich wichtige Ressourcenbereitstellungsfunktion (vgl. BBR 2005: 204) – als nicht-erneuerbare (Sand, Steine oder Erden), aber auch erneuerbare Ressourcen (Wasser, Biomasse oder Windenergie) – übernehmen wesentlich die ländlichen Regionen. Nicht zu vergessen ist auch die Versorgung mit frischen Lebensmitteln, deren Produktion – trotz Phänomenen wie ›urban gardening‹ oder ›rooftop farming‹ – überwiegend in periurbanen oder ländlichen Regionen stattfindet (vgl. Opitz et al. 2016). Mit diesen Eigenschaften ist die Räumlichkeit des Ländlichen eine wichtige und komplementäre Variable zur Ausbildung erleb- und erfahrbarer Urbanität und urbaner Annehmlichkeiten. Das Ländliche wirkt somit am urbanen Leben mit. Es wirkt jedoch in einer indirekten und zu oft übersehenen Art und Weise mit, eben als absente Präsenz. Der umgekehrte Fall gilt natürlich ebenso, so dass die Stadt aufgrund ihrer räumlichen Absenz Ruralität oder Ländlichkeit miterzeugt und damit das, was wir in und von ländlichen Regionen erwarten.

R aumbe zogene S emantiken Um gesellschaftliche Raumverhältnisse wie Stadt und Land genauer bestimmbar zu machen, greift es zu kurz, allein auf die o.g. raumstrukturellen Daten zu rekurrieren, über die Ländlichkeit durch eine geringe Siedlungsdichte, lockere Wohnbebauung, die landschaftliche Prägung durch land- und forstwirtschaftliche Flächen sowie eine periphere Lage zu großen Zentren näher indexiert wird (vgl. Küpper 2016). Mindestens ebenso bedeutsam, vielleicht sogar wichtiger für unsere alltäglichen Handlungen, ist eine andere Perspektive auf Stadt und Land, in der beide als in der Gesellschaft aktivierbares kulturelles Artefakt betrachtet werden. Konkret sind damit Raumsemantiken von Orten, hier eben die Raumsemantiken von Stadt und Land, angesprochen. Sie figurieren eine lokale oder regionale Geographie, die als ›versteckte Geographie‹ wirkt (vgl. Agnew 1996). Versteckt ist diese Geographie der Raumsemantiken in einem doppelten Sinne: Man findet und entdeckt sie nämlich nicht mit dem klassischen raumwissenschaftlichen Instrumentarium des Beob-

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achtens, Messens, Kartierens und Klassifizierens, das auf die Erfassung manifester Geographien abgestellt ist. Versteckt sind solche Geographien aber auch, weil sie latent wirksame Annahmen (die nicht selten normativ sind) enthalten, die unser Wissen und unsere Einstellung gegenüber geographischen Objekten steuern und figurieren, ohne dass man Anlässe findet, ›hinter‹ diese Annahmen zu schauen. Sie haben sich als das ›So-Sein‹ von Orten in subjektives wie kollektives Wissen eingebrannt. Es sind derartige Raumsemantiken, die den jeweiligen Raumeinheiten eine oft auch in zeitlicher Sicht konsolidierte Identität eingeschrieben haben; eben das macht sie zu kulturellen Artefakten. Man kann raumbezogene Semantiken so definieren, dass sie auf einer kulturellen Ebene und oft in textlicher bzw. bildlicher Form (politische Dokumente, literarische Bücher, Zeitschriften, Filme und Bildbände) beschreiben, wie es an einem Ort zugehen kann und soll, so dass »man relativ situationsunabhängig eine Ahnung und Vorstellung von den Inhalten« (Redepenning/Wilhelm 2014: 319f.) der Orte oder Raumkategorien hat. Raumsemantiken sind spezifische Sinngebungen, die die oftmals komplexe und widersprüchliche Eigenlogik von Orten auf wenige inhaltliche Punkte hin kondensieren. Weil sie im kollektiven Gedächtnis verankert sind, haben sie das Potenzial, konkrete Erwartungen an Orte zu figurieren und sich auf raumbezogene Handlungen auszuwirken (sichtbar etwa in Entscheidungen, wo man wohnen oder Urlaub machen will). Mit diesem Verständnis haben raumbezogene Semantiken nicht in erster Linie die Aufgabe, ein räumlich manifestes Geschehen abzubilden, sondern dieses Geschehen gerade anzuleiten oder in einer steuernden Absicht ›zu führen‹. Daher sind Raumsemantiken zentral für die Ordnung des Verhältnisses von sozialen Operationen (also Handeln und Kommunizieren) und Raum. Ihnen kommt also eine nicht unerhebliche organisierend-orientierende Leistung zu. Organisationen, wie beispielsweise das bayerische Heimatministerium, nutzen die Raumsemantik der Heimat, um politischen Aktionismus für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den ländlichen Gebieten des Freistaats zu demonstrieren, aber auch zur Ausübung einer raumbasierten Identitätspolitik. In Anbetracht einer Vielfalt an Beteiligten und Organisationen, die solche Semantiken produzieren und/oder sie nutzen, ist es kaum verwunderlich, dass eine Raumsemantik in ihren spezifischen Bedeutungskonstellationen und Ausdeutungen letztlich im Fluss ist, so dass unterschiedliche, oft nur lo-

Versteckte Geographien des Ländlichen

kal wirksame ›Figuren‹ oder Interpretationen der Semantiken existieren und miteinander konkurrieren.

R aumsemantiken des L ändlichen und die neue L ändlichkeit Wenn also über das Ländliche und über ländliche Orte geschrieben wird, dann werden immer auch Raumsemantiken in unterschiedlichsten Figuren oder Interpretationen aktiviert (vgl. Redepenning 2010). Und was man in den letzten Jahren feststellen kann, ist das Auftauchen einer ›Neuen Ländlichkeit‹, die zugleich eine alte und wohlbekannte Raumsemantik reaktiviert: Gemeint ist die Figur des Ländlichen als Ort der Ruhe, Naturnähe und handwerklicher Produktion (vgl. Bunce 1994; Bachtin 2008). Sie steht neben zahlreichen anderen Figuren der Raumsemantik des Ländlichen, wie etwa dem Ländlichen als Raum der Innovationslosigkeit und Rückständigkeit, dem Ländlichen als Ort einer einseitigen und monotonen Landschaft des Superproduktivismus oder dem Ländlichen, dessen ursprüngliches Profil durch Verstädterungsprozesse verloren gegangen ist (vgl. Urbain 2002; Halfacree 2007). Besonders deutlich zeigt sich das aktuelle Wiederauftauchen dieser Raumsemantik des ruhigen, naturnahen und handwerklichen Ländlichen bei massenmedialen special-interest-Magazinen, die seit ca. zehn Jahren auf dem Zeitungsmarkt reüssieren und deren Auflagen konstant gewachsen sind. So steigerte etwa der bundesdeutsche Marktführer dieser Zeitschriften, die Landlust, den Zeitschriftenabsatz von einer Startauflage mit ca. 80.000 Exemplaren auf aktuell etwa 1.000.000 Exemplare – allerdings stagniert diese Zahl seit Ende 2012 (vgl. die Auflagenzahlen beim VDZ-Auflagendienst). Gemäß der oben vorgestellten Leistung von Raumsemantiken ist aber auch klar, dass diese Zeitschriften nicht das Ziel haben, das ›echte Leben auf dem Land‹ abzubilden, sondern eine Vorstellung darüber zu kommunizieren, wie rurales Lebens organisiert sein sollte und aussehen kann. Mit den im Rahmen der Neuen Ländlichkeit vorgenommenen Semantisierungen ist auch eine Werteasymmetrisierung verbunden. Dabei wird, entgegen dem oben skizzierten ›Zeitgeist‹ der Betonung des Städtischen, nun dem Land als Sehnsuchtsort die auch moralische Höherwertigkeit zugesprochen.

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So betrachtet ist es müßig, über die vermeintliche empirische Unangemessenheit dieser Semantisierung vor dem Hintergrund neuer Hybriditäten von Stadt und Land und der aufkommenden räumlichen Gewissheit von Räumverhältnissen, die immer mehr zwischen Stadt und Land liegen und Eigenschaften beider inkorporieren (vgl. Sieverts 2008), zu diskutieren. Man kann stattdessen derartige Raumsemantiken (und ihren Erfolg) auch als eine Aufforderung thematisieren; eine Aufforderung, die einen Bedarf artikuliert, der offensichtlich in der derzeitigen Organisation der gesellschaftlichen Räumlichkeit nicht gedeckt oder nur defizitär bedient wird (ich lasse hier bewusst außer Betracht, wie stark interessensbezogen und wie verkitscht diese Raumsemantik des Ländlichen immer auch ist). Vielleicht kann man sogar ein positives Steigerungsverhältnis zwischen ›Reinheit‹ und ›überzogener Radikalität‹ der Raumsemantik und der mit ihr artikulierten Kritik ausmachen: Je strikter, bruchartiger und überzeichnet solche Raumsemantiken erscheinen, desto vehementer und dringender erscheint die Kritik (und damit der Ruf nach einer Korrektur). Es wird das markiert, angesprochen und betont, was in den empirisch aktuell beobachtbaren gesellschaftlichen Raumverhältnissen absent erscheint. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass die Analyse von Raumsemantiken ein Beobachtungsinstrument darstellt, mit dem die heutige Gesellschaft einiges über sich und ihre interne Verfasstheit – ihre Unfertigkeiten, ihre Sehnsüchte – lernen kann. Dabei ist es nicht so, dass man diese Kritik automatisch auf das andere gesellschaftliche Raumverhältnis, also im hier diskutierten Fall: die Stadt, zu beziehen hat – auch wenn es durchaus naheliegt, die Stadt als andere Seite des Ländlichen zunächst als Adressaten auszumachen. Vielmehr können auch andere Figuren und Ausprägungen gesellschaftlicher Raumverhältnisse als Ziel der Kritik ausgemacht werden, sofern sie als einander widersprechend angesehen werden. So fällt es nicht schwer, die gerade diskutierte Raumsemantik des handwerklich-ruhigen Ländlichen auch als Kritik an anderen Figuren der Raumsemantik des Ländlichen zu verstehen, etwa des Ländlichen als Raumverhältnis, in dem der Superproduktivismus eine agrarindustriell geprägte räumliche Organisation vorantreibt, die zu einseitigen landschaftlichen Formationen und zum Verlust von Bäuerlichkeit geführt hat.

Versteckte Geographien des Ländlichen

W as passiert mit dem L and , wenn S tädte l ändlicher werden ? In diesem letzten Teil soll ein oben knapp geäußerter Gedanke nochmals aufgenommen werden: Dass Raumsemantiken, wie auch andere Semantiken, nicht nur textliche Relikte sind, sondern dass sie soziales und politisches Tätigwerden stimulieren und damit letztlich die manifesten Geographien vor Ort verändern können (vgl. Stichweh 2006). Damit wird automatisch die Frage der Organisation zukünftiger gesellschaftlicher Raumverhältnisse adressiert. Eine politisch nicht gänzlich unerhebliche Frage ist dann, welche Auswirkungen es auf das gesellschaftliche Verhältnis von Stadt und Land (und damit auch auf die Wertigkeit von Stadt und Land) haben könnte, wenn Städte beginnen, einige der Elemente der oben skizzierten Raumsemantik des ruhigen, naturnahen und handwerklichen Ländlichen aufzunehmen, für sich zu übersetzen und in sich einbauen, um damit die Vielfalt und den Abwechslungsreichtum dessen, was urbane Orte an manifesten Geographien vorhalten, zu erhöhen. Es ist eine gewisse Ironie aktueller räumlicher Entwicklungen, dass die Inhalte dieser spezifischen Raumsemantik des Ländlichen heute wohl eher in den Städten als auf ›dem Land‹ zu finden sind und dort umgesetzt werden. Man sieht es etwa daran, wie die Attraktivität der Städte durch eine Aufnahme und ein Hineinkopieren dieser spezifischen Semantik des Ländlichen gesteigert werden soll. Dazu gehört etwa die politisch gewollte Implementierung von grünen Infrastrukturen oder von kleinteiligen und nicht-anonymen Nachbarschaften, um erkennbare und benennbare Defizite städtischer Strukturen zu beheben. Es sind (sozial oder ökologisch motivierte) politische Vorschläge, wie etwa im Grün- und Weißbuch zum Thema Stadtgrün (BMUB 2015, 2017) vereint, in denen diese Raumsemantik des Ländlichen praktisch und vor Ort als neue Designidee urbaner Lebenswelten genutzt wird. Auch der jüngere Bedeutungszuwachs von Phänomenen wie die Bienenzucht in der Stadt, die Anlage von Hochbeeten an gut zugänglichen (aber auch vernachlässigten) Stellen, die aufkommende Idee der essbaren Stadt (Andernach, Bamberg), die Implementierung von local food strategies (in der Region um Bath und Bristol) sind Beispiele, wie die Raumsemantik des Ländlichen als Ort der Ruhe, Naturnähe und handwerklicher Produktion gerade in Städten zunehmendes Gehör und verstärkte Umsetzung erfährt.

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Die Forcierung des urbanen Gartenbaus ist ein weiteres und recht bekanntes Beispiel. Sein (und in vielen Städten muss es ja heißen: erneuter) Auf bau verdeutlicht fast schon idealtypisch, wie diese Raumsemantik des naturnahen und handwerklichen Ländlichen in die Struktur und Organisation der Stadtgesellschaft eingebracht wird, um diese nachhaltiger und lebenswerter zu machen. Die hohe Passfähigkeit des urbanen Gartenbaus zur Idee der Nachhaltigkeit kann an mindestens zwei Dimensionen verdeutlicht werden (vgl. Opitz et al. 2016): Mit Blick auf ihre a) Standorte und räumlichen Strukturen kann die einfache (und damit auch fußläufige) Erreichbarkeit der Flächen für die städtische Bevölkerung als Nachfrager, aber auch als Produzenten von Nahrungsmitteln hervorgehoben werden. Die vornehmlich kleinen Nutzflächen (oft unter einem Hektar) sorgen für abwechslungsreiche urbane Landschaften und produzieren kleinräumige Brüche im urbanen Gefüge. Sie tragen dadurch zur Erhöhung räumlicher Diversität bei. Gerade dann, wenn der urbane Gartenbau nicht erwerbsorientiert betrieben wird, hält er sich (oft als gebilligte Zwischennutzungen) auch die Möglichkeit offen, Möglichkeitsraum für andere Nutzungen zu sein (zum Beispiel Freilichtkino und Freilichttheater, Festivals, temporäres Stadtgrün) und so einen Beitrag zu einer innovativen Frei- und Grünraumentwicklung zu leisten. Im Bereich der b) sozioökonomischen Leistungen des urbanen Gartenbaus wird auf die Vor- und Nachteile der oft nichtprofessionellen Organisation verwiesen: lokale Bewohnerinnen und Bewohner, Kinder, Migrantinnen und Migranten oder alternative Gruppen (beispielsweise die Transition-Bewegung) werden als Trägerinnen und Träger identifiziert, deren Motivation entweder in der Sicherstellung einer eigenen Lebensmittelversorgung (Vorteil: Transparenz der Lebensmittelproduktion), des Lebens neuer Ideen von urbaner Gemeinschaft, der Naturerfahrung oder gesundheitlicher Aspekte liegt. Einem oftmals nur geringen oder fehlenden landwirtschaftlichen Wissen und/oder handwerklicher Fähigkeiten steht ein hohes soziales Kapital in Form funktionierender heterarchischer Netzwerke und Kooperationen, um sich dieses Wissen anzueignen, gegenüber. Von hier aus kann man nun den Blick auf die Zukunftsfähigkeit ländlicher Raumverhältnisse und ländlicher Entwicklung richten. Spricht man etwa über sie, dann ist selbstverständlich davon auszugehen, dass sowohl die Entwicklung wie die Zukunftsfähigkeit von ländlichen Orten, obgleich immer durch spezifische lokale Pfade geführt, kontingent und wesentlich vom eigenlogischen Handeln der jeweiligen sozialen Systeme

Versteckte Geographien des Ländlichen

(sowohl auf lokaler, wie nationaler und internationaler Ebene) geprägt ist. Ferner stellen sich die allgemeinen Parameter für diese Zukunftsfähigkeit noch einmal anders dar, je nachdem welche Typen ländlicher Orte man in raumbezogener Hinsicht konkret ins Auge fasst: So wird sich die Entwicklung zentrumsnaher ländlicher Orte im Globalen Norden grundsätzlich von jener der zentrumsfernen Orte unterscheiden. In diesem Sinne sind auch unterschiedliche Figuren oder Ausprägungen zukünftiger ländlicher Entwicklung vorstellbar. Dennoch, so der Vorschlag hier, wird sich diese Entwicklung innerhalb eines Dreiecks vollziehen, dessen Eckpunkte (im Sinne von Idealtypen) nachfolgend kurz beschrieben werden (vgl. Urbain 2002; Redepenning 2010, 2013). Abbildung 1: Eckpunkte ländlicher Zukünfte

Eigener Entwurf

Da ist zunächst die oben in leicht anderer Form schon angesprochene Figur des handwerklich-ruhigen und ermöglichenden Ländlichen. Hier wird die Abgeschiedenheit des Ländlichen in einer von voluntary simplicity geprägten Haltung zur positiv konnotierten Entschleunigung umdefiniert und daraus, vor allem mit Vorhandensein von Breitbandinfrastrukturen, eine neue Attraktivität und auch neuer Gemeinschaftssinn bezogen. Zweitens kann eine Zukunft des Ländlichen als ein mehr und mehr profil- und identitätsloser Raum ausgemacht werden, in dem die typischen Inhalte, die Ländlichkeit kennzeichnen und konstituieren, ausradiert und überprägt werden. Es wäre dies die Figur, die zwar die weitere Verstädterung des Ländlichen als Erfolg für die wirtschaftliche Prosperität der Orte anerkennt, dies jedoch mit dem Verschwinden von als typisch er-

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achteten ländlichen Elementen (meist baulicher Art, aber auch Lebensweisen) bezahlen muss. Schließlich kann die Figur des abgekoppelten und zu vermeidenden Ländlichen angenommen werden, in denen das Ländliche zu einem unbedeutenden Nichts herabgesunken ist. Diese Figur umfasst ein Ländliches, das von schrumpfenden oder gar sterbenden Dörfern gekennzeichnet ist, in denen die negativen Konsequenzen des Verlusts von Infrastrukturen, von Menschen und damit in letzter Konsequenz auch von Gemeinschaft sichtbar werden. Die Kluft zwischen Stadt und Land würde sich in diesem Szenario erhöhen, aber auch hier könnte wirtschaftliche Prosperität aus einer technisierten Landwirtschaft, in der der Mensch nur eine marginale Rolle spielt, bezogen werden. Aber welche ländliche Zukunft wird wahrscheinlich (ohne dabei andere Szenarien in einzelnen ländlichen Regionen grundsätzlich auszuschließen), wenn Städte beginnen, die Raumsemantik des handwerklichruhigen und ermöglichenden Ländlichen zu übernehmen und sich mit dieser Figur des Ländlichen, die mit der aktuellen Konjunktur der Neuen Ländlichkeit ja auch massentauglich geworden sind, zu schmücken? Welche Konsequenzen könnte es für die gesellschaftliche und insb. politische Relevanz des Ländlichen haben, wenn wir als Elemente einer ja bereits hochgradig urbanisierten Gesellschaft das, was sich geheimhin als ›das Gute vom Land‹ in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat, in die Städte und Metropolen kopieren und übernehmen? Es ist nicht abwegig, dass die ländliche Zukunft sich umso eher als abgekoppelter Raum darstellt, je vermehrter Städte die attraktiven Seiten des Ländlichen in sich aufnehmen und sie konkret vor Ort als Leitmotiv einer materiellen Umgestaltung der Städte nutzen (Stichworte: Entschleunigung, Neue Handwerklichkeit, Grün in der Stadt). Denn das würde dann bedeuten, dass sich die heute im Großen und Ganzen erkennbare Zentripetalwirkung und die Attraktivität der Stadt noch einmal erhöhen würden – dies auch wegen der ausgeweiteten Multifunktionalität und den sichtbaren rurbanen Strukturen, die gleichwohl das urbane Erscheinungsbild insgesamt nicht wesentlich beeinträchtigen. Die Städte und Metropolen könnten möglicherweise umfassender und wohl auch resilienter werden, wenn es ihnen gelingt, sich in sichtbaren räumlichen Strukturen (so mosaikartig und dispers verteilt sie sein mögen) um eine genuin rurale Komponente zu erweitern und ihre Varietät und Diversität weiter zu erhöhen.

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Im Gegenzug könnte das Land (um genauer zu sein: einzelne Teile des Landes, die wir heute gerne als ländlich-periphere, als die langsamen und zurückfallenden Regionen bezeichnen) zu einer stärkeren Zentrifuge als bisher werden (hierzu bereits Grabski-Kieron et al. 2016). Der oben angedeutete Status des Peripheren und Abgehängten würde sich in diesem Szenario verstärken, so dass sich die heute bereits beklagten Disparitäten zwischen Stadt und Land mit Blick auf ihre Eigenschaft, lebenswerte Orte zu sein, erhöhen. Es wäre an dieser Stelle genauer zu schauen, ob die sich dann ggf. einstellenden selbstverstärkenden Effekte ein wohl nicht vollkommen unwillkommenes Möglichkeitsfenster bieten, politische Aufmerksamkeit stärker auf die Stadt zu legen und das Land zu einem einseitigen Lieferanten all jener Dinge zu degradieren, die in den Städten mit ihren neuen schönen ländlichen Seiten nicht bedient werden können. Es ist ja schließlich nicht zu erwarten, dass jene Städte, die sich mit der Etablierung einer urbanen Landwirtschaft schmücken, sich mittelfristig dadurch komplett selbst versorgen können. In der Konsequenz des Hineinkopierens und der anschließenden Umsetzung der Inhalte der Raumsemantik des Ländlichen als Ort der Ruhe, Naturnähe und handwerklicher Produktion entstünde dann eine neue Raumordnung, in der sich in der Stadt die Annehmlichkeiten und die vielfältigen Optionen des Lebens konzentrieren, während das Land ›nur noch‹ ein einseitiger Zulieferer zur Ermöglichung dieser Qualitäten wäre. Dies liefe in raumsemantischer Betrachtung auf die fordistisch anmutende Urbanisierung des Ländlichen hinaus, die weniger als Implementierung von als urban angesehenen Lebensweisen (vgl. bereits Wirth 1938), sondern als Einzugsgebiet einer auf Skaleneffekten ausgerichteten Wirtschaft erscheint – der erkennbare Einzug der technisierten und industrialisierten Landwirtschaft in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands mag hier als Beispiel dienen. Klar zu stellen ist jedoch auch: Dieses bewusst pessimistisch formulierte Szenario muss nicht unbedingt mit der Verschlechterung ökonomischer Indikatoren einhergehen. Es kann sogar zur Prosperität vieler Regionen beitragen (man denke nur an die breite Diskussion über die notwendige Implementierung einer Politik der Lebensmittel- oder Ressourcensouveränität). Aber was dann verloren ginge, sind die kleinteiligen ländlichen Strukturen, die bislang immerhin für ein Mindestmaß an Variabilität hinsichtlich der Lebensverhältnisse in ländlichen Orten gesorgt haben und Lebensqualität als ein umfassendes Produkt angespro-

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chen haben. Die Ausdünnung, die man beim kleinteilig produzierenden Handwerk beobachten kann, das jüngst zu beobachtende Sterben der Wirtshäuser, der Bäckereien und Metzgereien bedeutet faktisch die Entdiversifizierung des ruralen Lebens und verkündet den Abschied von der Raumsemantik des Ländlichen als Ort der Ruhe, Naturnähe und handwerklicher Produktion. In diesem bewusst grob und zugespitzt skizzierten sowie dystopisch anmutenden Szenario offenbart sich die Problematik, die dem urbanen Erfolg dieser besonderen Raumsemantik des Ländlichen gerade für die Lebensverhältnisse der Menschen in vielen ländlichen und insbesondere ländlich-peripheren Orten eingeschrieben ist und die es im Auge zu behalten gilt. So könnte gerade der Erfolg der oben skizzierten Raumsemantik des Ländlichen dazu führen, dass das manifeste und empirisch beobachtbare Leben in den ländlichen Orten und Regionen zumindest in Teilen unter einen weiteren und erhöhten Ausdünnungsdruck geriete. All das kann nicht bedeuten, deshalb auf die Implementierung der Raumsemantiken des naturnahen und handwerklichen Ländlichen in Städten zu verzichten. Aber es sollte bedeuten, die dadurch entstehenden Herausforderungen und Problematiken für ein Leben auf dem Land umso aufmerksamer zu betrachten und politisch ›sinnvoll‹ zu begleiten – sofern die Vielfalt ländlicher Raumverhältnisse überhaupt gewünscht ist.

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Versteckte Geographien des Ländlichen

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Maßstäbe des Rurbanen Überlegungen zum Rescaling von Stadt und Land Michael Mießner, Matthias Naumann Die Bestimmung von Stadt und ländlichem Raum ist ganz wesentlich eine Frage des Maßstabs. Je nach Skalierung der Betrachtungsweise erscheinen Orte und Regionen urbaner oder ruraler. Rurbane Landschaften sind damit ein Produkt unterschiedlicher, sich verändernder und auch umstrittener räumlicher Maßstäbe. Die Kritische Humangeographie plädiert unter dem Stichwort ›Politics of Scale‹ dafür, räumliche Maßstabsebenen nicht als gegeben, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen. Die räumlichen Maßstäbe sozialen Handelns werden demnach kontinuierlich geschaffen, reproduziert und verändert. Der folgende Beitrag wendet die ›Scale‹-Perspektive auf die Entstehung rurbaner Landschaften an. Hierfür geben wir zunächst einen Überblick über die humangeographische Debatte zu Scale, bevor wir auf Grundlage eigener Arbeiten die Maßstäbe rurbaner Landschaften anhand der Beispiele Metropol- und Energieregionen illustrieren. Wir schließen den Beitrag mit einigen Thesen zu aktuellen Dynamiken der Maßstäblichkeiten rurbaner Landschaften ab.

D ie H umangeographische S cale -D ebatte Ausgangspunkt unserer konzeptionellen Überlegungen sind Debatten der angloamerikanischen Kritischen Geographie. Für diese Theorietradition der Humangeographie sind drei Paradigmen grundlegend: Erstens gehen kritische Geographinnen und Geographen davon aus, dass Raum konstruiert, d.h. Resultat gesellschaftlicher Prozesse ist. Daran schließt zweitens an, dass räumliche Strukturen nicht von gesellschaftlichen Entwicklungen und Machtverhältnissen zu trennen sind. Damit

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ist Raum kontinuierlich im Wandel begriffen, durch vielfältige Ungleichheiten geprägt, umkämpft und veränderbar. Eine kritische geographische Forschung möchte diese Widersprüche jedoch nicht nur thematisieren, sondern auch zu deren Überwindung beitragen. Die Veränderung räumlicher Verhältnisse hin zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie bildet das dritte fundamentale Anliegen einer Kritischen Geographie (für einen Überblick vgl. Belina/Michel 2007). Während mit dem Erscheinen von David Harveys Buch Social Justice and the City (1973) die angloamerikanische Kritische Geographie bereits in den frühen 1970er Jahren ihren Ursprung hat, erfuhr die Rezeption kritischer Ansätze in der deutschsprachigen Geographie erst seit Mitte der 2000er Jahre eine weitere Verbreitung. Erst im Zuge der Internationalisierung des wissenschaftlichen Betriebs wuchs die Akzeptanz der Kritischen Geographie auch innerhalb der deutschsprachigen Humangeographie (vgl. Belina/Best/Naumann 2009). Ähnlich verhält es sich mit der Debatte um räumliche Maßstabsebenen bzw. die Politics of Scale. Neil Smith entwickelte schon 1984 erste Grundzüge einer Betrachtung von Scale als einer wichtigen Voraussetzung für das konzeptionelle Verständnis ungleicher Entwicklung. So schreibt er in einem späteren Aufsatz: »The production of geographical scale provides the organizing framework for the production of geographically differentiated spaces and the conceptual means by which sense can be made of spatial differentiation« (Smith 2004: 197). In Abgrenzung zu eher politikwissenschaftlichen Arbeiten über ›Multi-Level-Governance‹ geht die Scale-Debatte davon aus, dass räumliche Maßstabsebenen nicht ›einfach da‹ sind, sondern auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zurückgehen, sie sind damit umkämpft und in einem permanenten Wandel begriffen. Auf dieser Annahme, dass Scales Ergebnis sozialer Prozesse sind, baute eine umfangreiche, sich immer stärker ausdifferenzierende Debatte um die Produktion und Veränderung räumlicher Maßstäblichkeit auf. Die deutschsprachige Humangeographie griff diese erst mit deutlicher Verspätung auf (vgl. Wissen/Röttger/Heeg 2008). Mittlerweile liegen Arbeiten vor, die die Produktion räumlicher Maßstäbe bei der Regulation natürlicher Ressourcen untersuchen (Wissen 2011; Brad 2016; Hein 2016). Mit der zunehmenden Verbreitung der Debatte und der Anwendung von ›Scale‹ auf unterschiedliche empirische Felder entwickelte sich auch eine maßgeblich poststrukturalistisch geprägte Kritik am Scale-Ansatz.

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Marston, Jones und Woodward (2005) kritisieren an den bisherigen, stark historisch-materialistisch inspirierten Arbeiten ein essentialistisches Verständnis von Scale. Aktuelle Beiträge zur Scale-Debatte verweisen darauf, dass Scale nur eine räumliche Dimension sozialen Handelns darstellt. So benennen Jessop, Brenner und Jones (2008) ›Territories‹, ›Place‹ und ›Networks‹ als weitere Dimensionen, die betrachtet werden müssen. Für die Operationalisierung der Scale-Debatte auf konkrete empirische Gegenstände dienen die folgenden Begriffe, die in zahlreichen Arbeiten verwendet werden und für die Dynamik räumlicher Maßstäbe stehen: • Unter ›Rescaling‹ bzw. ›Reskalierung‹ wird die Neuordnung skalarer Verhältnisse verstanden. Neue Maßstabsebenen, beispielsweise von staatlicher Politik durch die Schaffung supranationaler Organisationen, können entstehen, bestehende Ebenen an Bedeutung verlieren oder gewinnen (Brenner 2004). • Das immer nur vorübergehende Ergebnis des Rescalings wird als ›Scalar Fix‹ bezeichnet. Ein Beispiel ist hierfür die räumliche Organisation der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, die auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen kann (Cohen/Bakker 2014). • ›Scale Jumping‹ bezeichnet die Strategie von Akteurinnen und Akteuren, gezielt unterschiedliche Maßstabsebenen zu nutzen, um ihren politischen Einfluss zu vergrößern. Neil Smith (1993) führte diesen Begriff in seiner Untersuchung zu New Yorker Obdachlosen ein, die mit einem unmotorisierten Fahrzeug den räumlichen Radius ihrer Aktivitäten erweitern konnten. • Die gegenseitige Verschränkung und enge Wechselwirkung verschiedener räumlicher Maßstabsebenen beschreibt der Begriff der ›skalaren Dialektik‹. Erik Swyngedouw (1997) bezeichnet mit ›Glokalisierung‹ den Bedeutungsgewinn des Globalen, wobei die lokale Ebene dennoch wichtig bleibt. Aufgrund des mittlerweile sehr breiten und durchaus heterogenen Charakters der Scale-Debatte werden diese Begriffe teilweise synonym und nicht klar voneinander abgegrenzt verwendet. Dennoch können die Begriffe dazu beitragen, die skalare Dimension unserer Beispiele Metropol- und Energieregionen zu verdeutlichen. Der Beitrag setzt dabei an einer Lücke an, denn es gibt bislang nur wenige Arbeiten, die ländliche

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Entwicklung oder die Transformation der Energieversorgung aus einer Scale-Perspektive betrachten (siehe als Ausnahme für ländliche Räume: Edwards et al. 2001; für Energie: Becker/Naumann 2017). Daher kann der vorliegende Beitrag nicht nur die konzeptionellen Anregungen der ScaleDebatte für die Analyse rurbaner Landschaften fruchtbar machen, sondern auch rurbane Landschaften als empirische Erweiterung in die Debatte um die Produktion räumlicher Maßstäbe einführen. Im folgenden Kapitel zeigen wir anhand von Metropolregionen und Energieregionen, wie sowohl urbane als auch rurale Landschaften durch unterschiedliche räumliche Maßstabsebenen und deren Veränderungen geprägt sind. Die Betrachtung von Metropol- und Energieregionen zeigt aber auch, wie die Entstehung räumlicher Maßstäbe auf soziales Handeln zurückgeht.

P olitics of S cale R urbaner E ntwicklung Für die Darstellung der sich verändernden Maßstäbe rurbaner Landschaften ziehen wir zwei Beispiele heran, die aktuell wissenschaftliche wie auch anwendungsorientierte Debatten um eine nachhaltige Raumentwicklung in der Bundesrepublik stark bestimmen. Erstens beziehen wir uns auf Metropolregionen als ein wichtiges Element der bundesdeutschen Raumordnungspolitik, das die Planung sowohl von Städten als auch von ländlichen Regionen umfasst. Zweitens stehen Energieregionen für die vielfältigen räumlichen Dynamiken der Energiewende und deren lokaler wie regionaler Umsetzung. Für die beiden Beispiele werden wir die zentralen Begriffe der Scale-Debatte – Rescaling, Scalar Fix, Scale Jumping und skalare Dialektik – jeweils kurz erläutern. Dabei stützen wir uns auf eigene Vorarbeiten zum Wandel der Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik (Mießner 2017) und der räumlichen Dimension der deutschen Energiewende (Becker/Naumann 2017).

Metropolregionen: Das ›Rescaling‹ der bundesdeutschen Raumordnungspolitik Die Entwicklung des wirkmächtigen Konzeptes der Metropolregionen ist eine Reaktion auf die Krise des Fordismus und die zunehmende internationale Konkurrenz um Kapitalinvestitionen (Brenner 2004). Die damit einhergehende »neue Geographie Europas« (Blotevogel 2010: 6) führte in

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der deutschen Raumordnung Anfang der 1990er Jahre zu der Erkenntnis, dass eine gesellschaftliche »Maßstabs- und Reichweitenvergrößerung« stattfindet, »der auch das raumordnerische Zentrensystem Rechnung tragen muss« (Sinz 2005: I). Aus diesem Grund wurde bereits im ›Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen‹ von 1993 betont, dass ein System von Agglomerationen internationaler und großräumiger Ausstrahlungen gefördert werden müsse, welches oberhalb der Oberzentren raumbedeutsame Funktionen erfüllt (BMRBS 1993). Im Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen wurden diese als europäische Metropolregionen bezeichnet und gelten seither als »Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung« (MKRO 1996: 87). Die urbanen Metropolen vereinen Entscheidungs- und Kontrollfunktionen, Innovations- und Wettbewerbsfunktionen sowie GatewayFunktionen (Adam/Gödecke/Heidbrink 2005). Darüber hinaus schreibt die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO 1996: 89) den europäischen Metropolregionen eine räumlich integrierende Wirkung zu, weil kleine und mittlere Zentren an die Metropolregionen angebunden und sogar ländliche Räume in die internationalen Wertschöpfungsketten eingebunden werden können. Entsprechend großräumig und flächendeckend sind die in den ›Leitbildern und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland‹ (MKRO 2006) ausgewiesenen mittlerweile elf Metropolregionen angelegt (vgl. Abb. 1): Die Metropolregionen mit ihrem (weiteren) Verflechtungsraum bedecken nahezu die gesamte Bundesrepublik Deutschland. Einzelne Räume, die besonders weit von den Metropolräumen entfernt liegen, haben besondere Handlungsbedarfe und werden als ›Stabilisierungsräume‹ bezeichnet. Darüber hinaus sollen die Metropolregionen, zum Beispiel mittels physischer Infrastrukturen, wie Flughäfen, Autobahnen oder Hochgeschwindigkeitsbahntrassen, miteinander vernetzt werden. Ein weiterer wichtiger Stützpfeiler ist die Kooperation zwischen den Metropolregionen, die mittlerweile im ›Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland‹ institutionalisiert ist.

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Abbildung 1: Europäische Metropolregionen in der Bundesrepublik

MKRO [Ministerkonferenz für Raumordnung] 2006: 13

Dabei gelten Metropolregionen häufig als ›polyzentrische Kooperationsräume‹ (BMVBS 2007: 32), in denen Stadt und Land zusammenarbeiten. Rurbane Landschaften werden demnach durch das raumordnungspolitische Konzept der Metropolregionen produziert und überformt. Ländlich geprägte Räume sollen von der Kooperation und Vernetzung mit den Metropolenkernen profitieren. Gleichzeitig stellen sie wichtige ergänzende Funktionen, wie den Freizeit- und Freiraumwert oder die Produktion von Nahrungsmitteln für urbane Räume bereit. Die Stadt-Land-Beziehungen sind in diesem Sinne in eine globalisierte Welt eingebunden und dennoch regional verortet. Hinzu kommt, dass sich die Metropolregionen vielfach als international wettbewerbsfähige und vielfältige Regionen vermarkten, in denen urbane und rurale Entwicklungen gleichzeitig stattfinden. Die mit der Einführung von Metropolregionen verbundenen skalaren Ver-

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schiebungen können anhand der vier Dimensionen der Scale-Debatte verdeutlicht werden: • Die Herausbildung von Metropolregionen ist als ›Rescaling‹ zu bezeichnen, weil eine neue Dimension in der Hierarchie des deutschen Städtesystems eingerichtet wird (Heeg 2001). Diese neue Hierarchiestufe, über den Oberzentren, soll das Zentrale-Orte-System ›ergänzen‹ (MKRO 1996: 87). Auf diese Weise werden gleichzeitig die bisherigen Hierarchiestufen des Zentrale-Orte-Systems abgewertet. Einige Oberzentren sind nun zu Metropolenkernen aufgewertet worden. Andere Oberzentren hingegen konnten zwar den Status Oberzentrum erhalten, sind den Metropolen nun jedoch nachgelagert. Diese Diagnose des Bedeutungsverlustes trifft auch auf die zentralen Orte der übrigen Hierarchiestufen im Zentrale-Orte-System zu. • Mit diesen Reskalierungen war weiterhin ein neuer Scalar Fix verbunden. Bis Mitte der 1970er Jahre war es die nationale Maßstabsebene, auf der die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland gesichert wurde. Mit der Einführung der Metropolregionen ist es nun diese Maßstabsebene, auf der die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands vorangetrieben werden soll (Brenner 2004). Während vorher ein großräumiger Ausgleich zwischen ruralen und urbanen Räumen zumindest proklamiert wurde (Mießner 2017), sollte mit der Herausbildung der metropolitanen Reforminitiativen der Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit urbaner Räume verlagert werden (Brenner 2004). • Das mit diesen Reskalierungen einhergehende Scale Jumping ist insbesondere für die Metropolenkerne attraktiv. Waren sie als Oberzentren bisher hauptsächlich im nationalen Maßstab sichtbar, so steigen ihre Möglichkeiten, sich im internationalen Wettbewerb zu profilieren, enorm. Mit ihrer Ausweisung geraten sie wesentlich stärker in den Fokus von Politik und Raumplanung und können so leichter ihr Interesse an einer besseren überregionalen infrastrukturellen Einbindung artikulieren und durchsetzen. Auch deshalb betont der ›Raumordnungspolitische Handlungsrahmen‹ die Vorteile, die durch die Bündelung beim Infrastrukturausbau entstünden (MKRO 1996: 88). Zusätzlich dürfte es dieser Bedeutungsgewinn den Metropolen erleichtern, Großprojekte zu finanzieren und politisch durchzusetzen,

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die notwendig sind, um im (inter-)nationalen Wettbewerb mit anderen Metropolregionen zu bestehen (vgl. Dudek/Kallert 2017). • Die Reskalierungen gehen außerdem mit einer skalaren Dialektik einher. Gerade aus Sicht der ländlichen Regionen innerhalb der Metropolregionen stellen sich die beschriebenen Reskalierungsprozesse äußerst widersprüchlich dar. Einerseits werden sie Teil international wettbewerbsfähiger Regionen. Dies eröffnet beispielsweise den in ihnen ansässigen Firmen Möglichkeiten, die eigenen Absatzmärkte auszuweiten, oder die Bewohnerinnen und Bewohner der ländlichen Räume können von den hochwertigen Versorgungs- und Kultureinrichtungen der Metropolenkerne profitieren. Andererseits findet ein intraregionaler Konzentrationsprozess (vgl. Mießner 2015) statt, der hauptsächlich für die Metropolenkerne und eventuell auch für die Zentren ländlicher Räume von Vorteil ist. Die übrigen ländlichen Regionen kämpfen hingegen häufig mit Bevölkerungs- und Wirtschaftskraftverlusten (vgl. Mießner 2017). Mit der Einführung von Metropolregionen in Deutschland ist das Verhältnis von Urbanem und Ruralem auf vielfältige Weise reskaliert und verändert worden. Diese Rekonfiguration der Beziehungen zwischen Stadt und Land in Metropolregionen trägt also zur Produktion von rurbanen Landschaften bei. Es besteht jedoch die Gefahr, dass ländliche Räume den Metropolräumen subsummiert werden. Darüber hinaus deutet sich an, dass die Spezifika ländlicher Entwicklungen vermehrt zugunsten metropolitaner Dynamiken aus dem Blick geraten. Im Zuge der Wirtschaftskrise nach 2007 werden raumordnungspolitisch weitere Reskalierungsprozesse innerhalb der Metropolregionen vorangetrieben (ebd. 2017). Zwar sind die Metropolregionen noch immer großflächig angelegt, dennoch wird die regionale Wettbewerbsfähigkeit auf immer kleinräumigerer Maßstabsebene innerhalb der Metropolregionen vorangetrieben. Hier findet also ein downscaling der staatlichen Verantwortung für die regionale urbane und rurale Entwicklung statt. Mit der im Jahr 2007 gegründeten ›Initiative zur Nationalen Stadtentwicklungspolitik‹ (Bundesregierung 2008) wird der Fokus nochmals stärker auf die (Groß-)Städte gelegt. Hier dürften die Zentren der Metropolregionen am meisten profitieren. Solche Reskalierungen des Rurbanen finden aber nicht nur mittels Metropolregionen statt, sondern auch mittels Energieregionen, wie der folgende Abschnitt zeigt.

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Energieregionen: Die Neuskalierung der Energieversorgung Die Beschlüsse zur Energiewende in der Bundesrepublik sind mit einer umfassenden Transformation der Energieversorgung verbunden, die weit über technologische Fragen hinausgeht. Die zunehmende Bedeutung erneuerbarer Energieträger mit stärker dezentralen Versorgungsstrukturen führt auch zur Entstehung neuer Handlungsräume und Maßstabsebenen im Energiesektor (vgl. Gailing/Röhring 2015). Ein Beispiel für diese neu entstandenen Maßstabsebenen sind Energieregionen. Darunter werden räumliche Einheiten mit unterschiedlichem räumlichen Zuschnitt verstanden. Sie können einen oder mehrere Landkreise umfassen oder auch nur Teile von Kreisen. Die Ziele und konkreten Maßnahmen, die organisatorische Struktur bzw. Trägerschaft variieren ebenfalls stark zwischen verschiedenen Energieregionen. Philipp Späth und Harald Rohracher (2010) weisen daher auf die Bedeutung diskursiver Prozesse bei der Schaffung von Energieregionen hin. Dennoch lassen sich einige gemeinsame Merkmale von Energieregionen bestimmen: Grundsätzlich ist die interkommunale Zusammenarbeit und Abstimmung von Maßnahmen im Rahmen der Energiewende ein zentraler Ausgangspunkt von Energieregionen (Kölsche 2015: 140). Gailing und Röhring (2016) sehen in den kollaborativen Formen von Governance einen zentralen Erfolgsfaktor für Energieregionen. Des Weiteren zählen die Regionalisierung von Versorgungsstrukturen und Wertschöpfungsketten, die Stärkung der Region als Handlungsraum für Koordination und Kooperation im Energiesektor sowie die Schaffung bzw. Veränderung regionaler Identitäten zu den allgemeinen Eigenschaften (Becker/Naumann 2017: 335). Für rurbane Landschaften sind Energieregionen bedeutsam, da sie eine nachhaltige Transformation der Energieversorgung sowohl in urbanen als auch in ruralen Räumen anstreben. Darüber hinaus verfolgen Projekte von Energieregionen häufig das Ziel, die Stadt-UmlandBeziehungen nachhaltiger zu gestalten. Städte als Orte des Verbrauchs von Strom und Wärme sowie ländliche Räume als Orte der Strom- und Wärmeerzeugung sollen miteinander stärker vernetzt werden. Darüber hinaus sind Energieregionen eingebunden in das Zusammenspiel räumlicher Maßstabsebenen. Diese skalare Dimension von Energieregionen kann anhand der vier Begriffe aus der Scale-Debatte illustriert werden:

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• Energieregionen stehen beispielhaft für ein Rescaling der deutschen Energieversorgung. So gewinnt auch aufgrund der stärker dezentralen Versorgungsstruktur, die mit der Nutzung erneuerbarer Energieträger verbunden ist, ein regionaler Zugang an Bedeutung (George et al. 2009: 13). Während die überregionalen Energieversorgungsunternehmen der Bundesrepublik, die sogenannten Big-41, eine Krise erleben, kommt es zur Neugründung kommunaler Unternehmen mit einer regionalen Ausrichtung in Erzeugung und Versorgung. Darüber hinaus gibt es erste Versuche für ›Regionalwerke‹, die sich explizit an Städte und deren ländliches Umland richten. • Das Ergebnis dieses Rescalings ist ein neuer Scalar Fix im Energiesektor: Regionale Strukturen der Versorgung und der politischen Steuerung der Energieversorgung werden wichtiger, gleichwohl bleiben auch überregionale Instanzen, wie etwa die Förderinstrumente für die Nutzung erneuerbarer Energieträger oder wettbewerbliche Vorgaben der Europäischen Union, weiter bedeutsam. Darüber hinaus werden auch die Kommune, der Stadtteil oder der eigene Haushalt zu wichtigen Einheiten der Energieversorgung (Becker/Naumann 2017). • Trotz ihrer regionalen Ausrichtung agieren Energieregionen im Sinne des ›Scale Jumpings‹ auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen. So schließen sich Energieregionen in Netzwerken wie den ›100 Prozent Erneuerbare-Energie-Regionen‹ oder ›Bioenergie-Regionen‹ zusammen, die vom Bund gefördert wurden und die überregional für eine nachhaltige regionale Energieversorgung werben (Gailing/Röhring 2016). Darüber hinaus umfassen Projekte von Energieregionen zahlreiche kleinteilige Maßnahmen, die auf einer lokalen bzw. sublokalen Ebene angesiedelt sind. So verweisen Webseiten von Energieregionen auf lokale Unternehmen, die bei entsprechenden Vorhaben beauftragt werden können (Kölsche 2015: 140). • Schließlich stehen Energieregionen auch für eine skalare Dialektik, in dem Sinne, dass unterschiedliche Maßstabsebenen miteinander verschränkt sind. Energieregionen sind geprägt von globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel, aber auch von Fördermaßnahmen des Bundes abhängig. Gleichzeitig entwickeln die zahlreichen regionalen Initiativen für eine nachhaltige Energieversorgung auch eine 1 | Darunter werden die großen deutschen Energieversorgungsunternehmen EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall verstanden.

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nationale bzw. internationale Strahlkraft. In Energieregionen stehen ebenso regionale und lokale Ebene in einem dialektischen Verhältnis: lokale Initiativen werden regional gebündelt und dadurch sowohl verbreitert als auch unterstützt. Das Beispiel Energieregionen zeigt, wie bei der nachhaltigen Transformation der Energieversorgung Städte und ländliche Räume zusammengedacht werden müssen. Die Neuausrichtung des Energieverbrauchs in den Städten ist nicht zu trennen von der Nutzung von Flächen in ländlichen Räumen für die regenerative Strom- und Wärmeerzeugung. Gleichwohl veranschaulichen aktuelle Entwicklungen im deutschen Energiesektor aber auch, dass die vermeintlich klaren Abgrenzungen zwischen Stadt und Land zunehmend verschwimmen. Einzelne Haushalte, Wohngebäude oder Quartiere in Städten können als ›Prosumenten‹ (Matthes 2011) zu Orten der Produktion von Strom und Wärme werden. Ländliche Regionen können wiederum zu Standorten von Kraftwerken werden, die für die städtische Versorgung verantwortlich sind. Jedoch ist auch kritisch zu fragen, was die Grenzen einer regionalen Energieversorgung sind. So sind für Fragen der Mobilität überregionale Maßstabsebenen von entscheidender Bedeutung. Auch bleibt abzuwarten, ob Energieregionen tatsächlich zu einer »Demokratisierung der Energieversorgung«, wie es von vielen Initiativen postuliert wird (George et al. 2009: 14), beitragen können. Zahlreiche lokale Konflikte um die Nutzung erneuerbarer Energieträger zeigen auch, dass Energieregionen heftig umstritten sein können. Eine stärkere Vernetzung nicht nur zwischen verschiedenen Infrastruktursektoren, sondern auch zwischen deren Elementen auf unterschiedlichen Ebenen – etwa die regionale oder bundesweite Koordination dezentraler Versorgungsstrukturen – dürfte jedoch ganz wesentlich über den Erfolg nachhaltiger Transformationen bestimmen. Dies schließt eine rurbane Perspektive auf die Energieversorgung ein, die institutionelle wie auch technische Grenzen zwischen Stadt und Land überwindet.

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A usblick : R urbanes R escaling Die Betrachtung der Konstruktion und des Wandels skalarer Ordnungen ist ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis rurbaner Landschaften. Die beiden Beispiele der Ausweisung von Metropolregionen und der Herausbildung von Energieregionen machen deutlich, dass die Beziehungen zwischen urbanen und ruralen Räumen durch Reskalierungen verändert werden. Es wurde deutlich, dass sich Metropol- und Energieregionen nur aus einer rurbanen Perspektive erklären lassen, in der sowohl das Urbane als auch das Rurale eine wesentliche Rolle spielen. Dabei sind die Auslöser der beiden dargestellten Reskalierungsprozesse durchaus unterschiedlicher Art. Die Metropolregionen wurden hauptsächlich aufgrund von (raumordnungs-)politischen Beweggründen ins Leben gerufen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mittels räumlicher Politiken zu unterstützen. Hierbei handelt es sich also explizit um eine räumliche Strategie, die zur Etablierung eines ›New Scalar Fix‹ und den damit verbundenen Verschiebungen in der deutschen Raumpolitik und der Stadt-Land-Beziehungen geführt hat. Die Energieregionen gehen zwar auch auf politische Beschlüsse – die der bundesdeutschen Energiewende – zurück, diese hatten aber keine explizit räumliche Intention. Dennoch hatten die auf die Beschlüsse folgenden grundlegenden Transformationen der deutschen Energieversorgung indirekt räumliche Konsequenzen. So entstand mit den Energieregionen ebenfalls ein New Scalar Fix, der die bestehenden Stadt-Land-Beziehungen prägte. Eine rurbane Perspektive ist also sowohl in der Raumordnungspolitik als auch bei Transformation der Energieversorgung implizit vorhanden, dennoch wird ›rurban‹ als Bezeichnung explizit nicht verwendet. Gerade der Begriff des Rurbanen schärft unserer Meinung nach aber den Blick für die Verknüpfungen von Stadt und Land. Zum einen ist es gerade diese Perspektive, die beispielsweise die Frage aufwirft, ob und wenn ja, welche Rolle Ländlichkeit und ländliche Entwicklung im Rahmen der Institutionalisierung von Metropolregionen spielen. Zum anderen ist zurzeit noch nicht abschließend geklärt, ob die urbanen Räume im Zuge der Herausbildung von Energieregionen in eine strukturelle Abhängigkeit von einer ländlichen Strom- und Wärmeproduktion geraten. Die Entstehung rurbaner Maßstabsebenen ist damit durch politische Ambivalenz statt durch skalaren Determinismus gekennzeichnet.

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Daran anschließend wollen wir für das Forschungsfeld des rurbanen Rescaling Fragen aufwerfen, die aus unserer Sicht zum Verständnis rurbaner Entwicklung beitragen können: • Wer profitiert von Reskalierungen rurbaner Entwicklung, wer ist davon benachteiligt? Unsere Beispiele zeigen, dass weder ländliche noch städtische Räume per se als Gewinner oder Verlierer zu bezeichnen sind. Hier kann die Auseinandersetzung mit den Ursachen des Rescalings helfen, Aussagen über deren Gewinner und Verlierer treffen zu können. • Eng mit diesen Überlegungen verbunden ist die Frage: Wer entscheidet auf welcher Maßstabsebene über die Entwicklung rurbaner Räume? Das Beispiel Energie zeigt eindrücklich, wie wichtig lokale Akzeptanz und Beteiligung sind, die auch in einer globalisierten Gesellschaft gewährleistet werden müssen. • Daran schließt die Frage nach der Konflikthaftigkeit rurbaner Landschaften und deren Maßstäbe an. Der Zuschnitt von Metropol- oder Energieregionen kann ebenso umstritten sein wie andere Formen der Kooperation zwischen Stadt und Land. Letztlich werden an diesen Konflikten auch die Machtbeziehungen innerhalb rurbaner Räume deutlich. Zu fragen bleibt weiterhin, ob es Räume und Orte gibt, die durch Reskalierungsprozesse aus dem Fokus von Politik und Wissenschaft verdrängt werden. Das Beispiel der Metropolregionen weist darauf hin, dass durch das Rescaling die Aufmerksamkeit von der Entwicklung ländlicher Räume auf Metropolenkerne verschoben wird. • Schließlich ist in konzeptioneller Hinsicht zu fragen, in welchem Verhältnis die Frage des Maßstabs rurbaner Landschaften zu den anderen Dimensionen des ›Territories, Place, Scale, Networks‹ -Ansatzes (Jessop/Brenner/Jones 2008) steht. ›Rurbanes Rescaling‹ kann damit eine analytische Perspektive bieten, die Komplexität von Stadt-Land-Beziehungen zu erfassen und gleichzeitig die Konstruktion räumlicher Maßstäbe an konkreten Beispielen nachzuvollziehen.

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Rurban, eine architektonische Annäherung an Phänomene der Gleichzeitigkeit Jessica Christoph Als einer von vielen Dualismen ordnen das Rurale und das Urbane die Welt. Das Gegensatzpaar beschrieb lange Zeit die Habitate menschlicher Gesellschaft. Bei genauerer Betrachtung fallen jedoch bauliche Beispiele auf, die die Eigenschaften dieser beiden Pole in hybriden Entwürfen und Wirklichkeiten vermischen. Diesen ›rurbanen‹ Phänomenen widmen sich die nachfolgenden, schlaglichtartigen Betrachtungen auf Architekturen und Entwürfe. Die alltagsweltlichen Kategorien ›Stadt‹ und ›Land‹ und der innewohnende Dualismus sind nach Walter Siebel dadurch geprägt, dass sich das eine – die europäische Stadt – durch Differenz zur Nicht-Stadt – dem Land – auszeichnet (vgl. Siebel 2004: 12). Er beschreibt die Besonderheit der Stadt europäischer Geschichte als eine der Emanzipation, die sowohl die wirtschaftlichen Kreisläufe hin zur Marktwirtschaft betrifft als auch die daran beteiligten Stadtbewohnenden, die das Bürgertum hervorbrachten. Die physische Gestalt der Stadt als Abbild eines wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentrums wird durch ihre Konzentration und klare Abgrenzung markiert. Dadurch entsteht ein äußerer ländlicher Raum und ein innerer städtischer, der seinerseits durch ein Außen – den öffentlichen Raum – und ein Innen – den privaten Raum – geprägt ist. Dieser komplexe Sachverhalt bedingt auch Planung ihrer Gestalt (vgl. Siebel 2004: 12ff.). Ist das Land also nach Siebels äußerer Definition vor allem NichtStadt, so kann es durch Grenzenlosigkeit sowie durch ein Landschaftsbild beschrieben werden, in dem kulturlandschaftliche Elemente, wie Wiese, Wald und Acker, vorherrschen und die Grundlage für die Bewirtschaftung darstellen. Forst- und Landwirtschaft prägen dementsprechend sowohl Ortsbilder als auch Sozialstrukturen, sodass die Siedlungsdichte ge-

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ringer und die Bebauung kleinmaßstäblicher ausfällt. Obwohl das Land sich selbst versorgt, ist es abhängig von administrativen und kulturellen Angeboten sowie vom Handel, der von der Stadt ausgeht. Im Folgenden soll es um Architekturen und Entwürfe gehen, die von der Verbindung dieser beiden alltagsweltlichen Kategorien ›Stadt‹ (im Folgenden verwendete Ableitungen ›städtisch‹, ›urban‹) und ›Land‹ (›ländlich‹, ›rural‹) erzählen. Die Herangehensweise ist eine phänomenologische: Durch die Betrachtung von Phänomenen, ihre Beschreibung und Ableitung lassen sich Ein- und Zuordnungen von Architekturen zu Ideen- und Vorstellungswelten vornehmen. Architekturen, Siedlungen und Städte sind Ausdruck des seine Umwelt prägenden, gestaltenden Menschen. Mit der Perspektive auf die gebaute Umwelt werden im Folgenden sowohl räumliche Strukturen als auch kulturelle Praktiken betrachtet und die Tendenzen der baulich-kulturellen Verschmelzung von Stadt und Land nachvollzogen. Die zeitliche Eingrenzung stellt die von starken Umbrüchen für Stadt und Land geprägte Zeit der Industrialisierung bis heute dar. Unter dem Eindruck der Landflucht findet sich spiegelbildlich das Phänomen der Stadtflucht. Die Fluchtbewegungen scheinen zwischen Henry David Thoreaus Aufenthalt am Walden Pond (1845-47) und John Bergers Hinwendung zum bäuerlichen Leben in den Savoyer Alpen (1960er/70er Jahre bis zu seinem Tod 2017) zu changieren; sie stehen hier exemplarisch für verschiedene Motivationen, die reflektiert werden. Ausdruck dieser verschiedenen Stadtfluchtmotive sind Architekturen und architektonische Entwürfe, beispielsweise für Villen-Kolonien, Gartenstädte oder temporär besuchte Orte für die Sommerfrische, die als Reaktion auf die wachsenden und sich industrialisierenden Stadtgesellschaften entstanden. Aspekte, die mit einer ruralen Lebenswelt in Verbindung gebracht werden, wie einfache Bauweisen, die Subsistenzwirtschaft und gemeinschaftliche Lebensformen, aber auch der Rückzug in ein eigenes Refugium, spielen hier eine bedeutende Rolle. Dennoch sind und waren diese ruralen Fluchtpunkte ohne die Anbindung an die Stadt mittels moderner Verkehrsmittel und Orientierung an urbanen Komfort und Standards undenkbar.

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G artenhaus im Park an der I lm Eines der bekanntesten Refugien Mitteleuropas befindet sich in Weimar: das sogenannte Gartenhaus im Park an der Ilm. Es handelt sich um ein einfaches verputztes, zweigeschossiges Haus mit symmetrischer Ansicht und drei Fensterachsen zwischen regelmäßigem Holzgitterwerk. Unter einem hohen schindelgedeckten Walmdach, umgeben von einem Küchen- und Blumengarten liegt es inmitten des Ilmparks, der nach dem Vorbild englischer Landschaftsparks ausgebaut wurde. Wie beiläufig wirkt es in den Park gesetzt, ganz im Gegensatz zu den steinernen Architekturen des Parks. Ungewöhnlich ist die geringe Distanz zur Stadt und Residenz, die oberhalb der Flussebene liegen. Der Grundriss des unscheinbaren Gebäudes zeigt ebenfalls eine einfache Struktur aus vier Räumen, die im Obergeschoss leicht variiert. Die Ausstattung zeugt von einfacher, gleichwohl repräsentativer Nutzung: Während die Wände glatt verputzt und gestrichen sind, die Öffnungen eher klein und innen mit hölzernen Läden ergänzt und das Schlafzimmer von einem einfach auseinandernehmbaren Bett geprägt ist, zeugen Volants, Kamine und die Ausstattungsgegenstände der anderen Räume gleichermaßen von Arbeit, Freizeit, Muße und dem Gastgeben, wie Sessel, Pulte und Vitrinen sowie zahlreiche Büsten und Stiche der Stadt Rom zeigen. Die heutige museale Nutzung verrät indes viel über seine Geschichte: Im Frühling 1776 bezog Johann Wolfgang Goethe das bereits vorhandene, einfache Haus mithilfe großzügiger Unterstützung des jungen Großherzogs Carl August. Mit großem Eifer ging Goethe an die Umgestaltung insbesondere des Gartens, und verbrachte viel Zeit in seiner ›Sommerresidenz‹. Solche Anwesen waren ein Privileg der im wahrsten Sinne ›Begüterten‹. Durch die Möglichkeit einer Flucht aus der Enge der Stadt in die Weite des bereits in den Anfängen angelegten Landschaftsparks entlang der Ilm, versuchte der Großherzog, den aufstrebenden Goethe im Provinzstädtchen zu halten. Es ist überliefert, dass Goethes Lebenswandel die Versorgung durch Diener, Boten und Sekretären dennoch an beiden Standorten erforderte, diente ihm das Gartenhaus auch für seine Studien, die er ungestört und abseits der sozialen Kontrolle der Stadt durchführen konnte. Hier erschließt sich die Rolle des Refugiums als Zufluchtsort für einen Menschen, der seine gesellschaftliche Rolle stark reflektiert. Archi-

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tektonisch geht das Gartenhaus über die reine Zweckmäßigkeit hinaus. Die die Erscheinung bestimmenden Teile Dach, Wand und Öffnung machen seine Einfachheit aus. Das bereits vor Goethes Einzug vorhandene Haus wirkt, als wäre es als ›archetypische‹ Erscheinung eines Hauses entworfen worden. Das artifizielle Moment seiner Erscheinung zeigt sich in den Verfeinerungen ruraler Bautraditionen und bildet die Grundlage für die umfangreiche Rezeptionsgeschichte des Hauses.1 Die Architektur, insbesondere Goethes Umbauten und die Nutzung als Gartenhaus, vereinen zugleich städtische und ländliche Charakteristika. Haus und Garten zeugen von einem produktiven Arbeitsort, der gleichzeitig Refugium war, und machen es zu einem rurbanen Typus.

E remitage in den W äldern C oncords Gegenstand des folgenden Abschnitts ist ein architektonisches Objekt, das lediglich durch eine Publikation überliefert ist, die Beschreibungen darüber enthält. Es handelt sich um den Bericht Henry David Thoreaus über ein Experiment mit dem Ziel, die geringstmöglichen Aufwendungen für ein Leben in Autonomie zu bemessen.2 Die Veröffentlichung diente, neben der Verbreitung des Experiments, der damit verbundenen Kritik am opulenten Lebensstil der Industriegesellschaft sowie an der Ausbeutung von Arbeitskraft und Landschaft für ihre ökonomischen Ziele (vgl. insb. Kapitel »Schlussbetrachtung« in Thoreau 1992: 448ff.). Als

1 | Zu nennen sind hier beispielsweise die Publikationen H ausbau und derglei chen (1916) von Heinrich Tessenow oder D as deutsche W ohnhaus (1932) von Paul Schmitthenner. 2 | »Unter dem ›Lebensbedarf‹ verstehe ich, was immer von den Dingen, die der Mensch sich selber beschaffen muss, von Anbeginn an oder aus alter Gewohnheit als so wichtig gilt, dass nur die wenigsten, falls überhaupt welche, je versuchen, ohne diese Dinge auszukommen, sei es aus Kulturlosigkeit, Armut oder Überzeugung. […] Den Lebensbedarf in unseren Breitengraden kann man einteilen in: Nahrung, Obdach, Bekleidung und Brennstoff; erst, wenn wir uns das gesichert haben, sind wir in der Lage, ungehindert […] an die eigentlichen Lebensfragen heranzutreten.« (Thoreau 1992: 19).

Rurban, eine architektonische Annäherung

Mittel wählt Thoreau die Einsiedelei, die ihm durch das Experiment Zeit bescherte, sich der Natur mit allen Sinnen zu nähern.3 Für zwei Jahre kehrte der Fabrikantensohn Thoreau dem sich industrialisierenden und urbanisierenden Neuengland den Rücken und wendete sich damit von den Zwängen bürgerlicher Gesetze und Bedingungen der industriellen, arbeitsteiligen Lebensweise und dem Streben nach Reichtum ab. Seine Motivation war Freiheit, die er sowohl als Form der Selbstbestimmung als auch als Fehlen unnötigen Besitzes oder Strebens beschreibt.4 Der später veröffentlichte Bericht unter dem Titel Walden, or Life in the Woods5 ging aus den detaillierten Tagebuchaufzeichnungen Thoreaus aus der Zeit des Experiments in den Wäldern von Concord, Massachusetts, hervor.6 Es beschreibt auch den Bau eines einfachen Einraumhauses von etwa dreieinhalb mal fünf Metern Größe mit geneigtem Dach. Die einfache, zweckmäßige Materialisierung besteht aus selbstgeschlagenem Bauholz, recycelten Fenstern und Türen sowie Steinen zum Mauern des Kamins.7 Lediglich Bett, Schreibpult, Tisch und drei Stühle bildeten im Wesentlichen die spartanische Ausstattung. 3 | Vgl. Nachwort Fritz Grüttingers in: Thoreau 1992: 472. 4 | »Die meisten der sogenannten Annehmlichkeiten des Daseins sind nicht nur entbehrlich, sie sind geradezu ein Hemmnis für die Höherentwicklung der Menschheit. Was diese Annehmlichkeiten betrifft, haben die Weisen stets einfacher und anspruchsloser gelebt als die Armen. […] Nur vom Standpunkt der freiwilligen Armut aus kommt einer heutzutage zu uneigennütziger Menschenkenntnis.« (Thoreau 1992: 22). 5 | Erstausgabe bei Ticknor & Fields, Boston, im Jahr 1854. Diesen Betrachtungen liegt die deutsche Übersetzung von Fritz Güttinger von 1992 zugrunde (vgl. Thoreau 1992). 6 | Nahe des von Thoreau aufskizzierten Ortes in unmittelbarer Nähe zum Walden Pond wurde eine Hütte rekonstruiert, die vom Massachusetts‹ State Park Service betrieben wird. Einen zeichnerischen Rekonstruktionsversuch unternahm der Hochschullehrer Urs P. Flückiger (vgl. Flückiger 2016: 20ff.). 7 | »So habe ich nun ein dichtes, mit Schindeln gedecktes und verputztes Haus, dreieinhalb Meter breit, fünf Meter lang und knapp drei Meter hoch, mit einer Bodenkammer und einem eingebauten Schrank, einem großen Fenster auf jeder Seite, zwei Falltüren, einer Haustür und am anderen Ende einem Schornstein. Aus der nachfolgenden Aufstellung ist genau zu ersehen, wieviel mich mein Haus gekostet

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Das Gehäuse, seine Errichtung und Einrichtung ist also expliziter Teil des Experiments und gleichermaßen Voraussetzung und Produkt der Absichten Thoreaus. Damit kann man den experimentellen Versuchsaufbau, der gleichzeitig Teil der Durchführung und Auswertung ist, auch mit dem Entwurf in der Architektur vergleichen, der ebenso eine Perspektive der Zukunft einnimmt und später zum Gegenstand der Gegenwart wird. Thoreau orientiert sich beim Bau seines einfachen Hauses an Vorbildern, die, basierend auf den gleichen Konstruktionen und hierfür verwendeten Materialien, typisch sind für die Besiedlung Nordamerikas. Jedoch reproduziert er diesen Typ nicht, sondern passt ihn nach seinen Bedürfnissen und den verfügbaren Materialien an und bemisst ihn nach seinen Vorstellungen. Das Resultat ist eine Miniatur, die die Lebensweise ihres Bewohners spiegelt.8 Thoreau entwirft das Haus aber auch nicht wie ein Architekt, sondern baut es nach Vorbildern in einem auf eine Person zugeschnittenen Maßstab nach. Gleichzeitig entwirft Thoreau sich damit eine Umwelt, die er über seine Einsiedelei in der ländlichen Umgebung, die praktizierte Subsistenzwirtschaft und seine gebildete und durchaus urbane Persönlichkeit9 hinaus reflektiert. Auch räumt Thoreau seinem individuellen Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck, d.h. seiner literarischen Tätigkeit, und dem Austausch mit anderen Personen und dem Weltgeschehen einen Platz

hat, wobei ich für die verwendeten Baustoffe den üblichen Preis bezahlte, jedoch keine Arbeitszeit zu rechnen braucht, da ich ja alle Arbeiten selber ausführte. […] Das ist alles, was ich an Material benötigte, abgesehen vom Bauholz, den Steinen und dem Sand, die ich mir nach altem Siedlerrecht aneignete.« (Thoreau 1992: 73ff.). 8 | »Was gegenwärtig an architektonischer Schönheit zu sehen ist, entstand allmählich von innen heraus, aus dem Bedürfnis und der Wesensart des Bewohners als des eigentlichen Baumeisters, aus einer unbewussten Wahrhaftigkeit und Vornehmheit, ohne jeden Gedanken an das Aussehen. Was immer künftig noch an Schönheit noch dazukommt, wird ebenfalls aus einer unbewussten Schönheit der Lebensweise heraus entstehen.« (Thoreau 1992: 72). 9 | »Zum unentbehrlichen Lebensbedarf kommen bei uns heutzutage erfahrungsgemäss ein paar Werkzeuge hinzu – Messer, Axt, Spaten, Schubkarren und so weiter –, und für den Geistesarbeiter noch Lampenlicht, Schreibzeug sowie der Zugang zu ein paar Büchern.« (Thoreau 1992: 21f.).

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in seiner Welt ein, wie die Kapitel »Besuch«10 und »Das Dorf«11 eingängig beschreiben. Die Person Thoreaus, ihr Gestaltungsanspruch und ihre Handlungen sprechen von der gleichzeitigen Anwesenheit ›städtischer‹ und ›ländlicher‹ Charakteristika; vielleicht könnte man seine Lebenspraxis daher als ›rurban‹ bezeichnen.

V om L andhaus zur S ommerfrische Die zuvor untersuchten Refugien stützten sich in ihrer Form auf ländliche Vorbilder. Im Folgenden sollen sie um gebaute Beispiele ergänzt werden, deren Vorbilder aus Städten oder Residenzen stammen, die sich auf dem Land verorten und die für diese Orte und ihren Zweck explizit entworfen wurden. Es handelt sich damit um Architekturen, die gleichermaßen städtische und ländliche Eigenschaften und damit einen rurbanen Charakter besitzen. Das herrschaftliche Haus auf dem Land hatte in unterschiedlichen Zeiten und Ländern unterschiedliche Funktionen oder Motivationen: von der Überwachung der Nahrungsmittelproduktion und damit der Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage über die Repräsentation politischer Macht bis zum Rückzug aus den gesellschaftlich-normativen Zwängen von Stadt oder Herrschaftssitz und der Hinwendung zu Muße und Freizeitbetätigung. Für Kleinadelige, besonders aber für das aufstrebende Bürgertum, avancierten diese herrschaftlichen Güter im ländlichen Raum zu Vorbildern. Die Typologie des Landhauses geht dabei nicht von einer einheitlichen formalen oder strukturellen Kategorisierung aus, sondern vereint vielmehr ihrem Wesen nach zusammengehörige Bauaufgaben in Mittel- und Westeuropa (vgl. Frank 1989: 16). In Frankreich waren

10 | Vgl. Thoreau 1992: 203ff. »Gesellschaft ist mir ebensolieb [sic!] wie andern […]. Drei Stühle standen in meinem Haus; einer für die Einsamkeit, zwei für Freundschaft, drei für Gesellschaft.« (Thoreau 1992: 203). 11 | Vgl. Thoreau 1992: 240ff. »Ungefähr jeden zweiten Tag schlenderte ich ins Dorf, um zu vernehmen, was dort von Mund zu Mund ging, oder von Zeitung zu Zeitung, was, in vorsichtigen Dosen eingenommen, auf seine Art eigentlich ebenso erfrischend war wie das Rascheln im Laub oder das Quaken im Röhricht.« (Thoreau 1992: 240).

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es die ›Maisons de Plaisance‹, im deutschen Raum die ›Landhäuser‹ und in England die ›Country Houses‹. Die ›Maisons de Plaisance‹ entstanden als Lusthäuser von Adligen und zunehmend auch von Beamten der französischen Finanzverwaltung unter Louis XIV., den sog. ›nouveau riches‹. Aus diesem Grund sind sie längstens eine Tagesreise von Paris bzw. Versailles entfernt und in der Struktur dem Schlossbau und der Hofetikette nachempfunden. Miteinander verbundene Raumabfolgen aus Vestibül, Salon, Ess- und Gesellschaftszimmern bis zum Schlafzimmer bilden das Vorbild des Schlossbaus ab. In der zunehmenden Privatisierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstehen weniger repräsentative, kleinmaßstäblichere Räume für die ›commodité‹.12 Dietrich von Frank weist außerdem auf ein »transitorisches Moment« (ebd.: 87) hin, das er aus den notwendigen Reisen zu und in Rundreisen zwischen den ›Maisons de Plaisance‹ herausliest. Im Umgang mit diesen Orten wird ein Austausch zwischen dem herrschaftlichen Haupt(wohn)sitz und Landexistenz manifest, der sich auch als eine rurbane Lebenspraxis beschreiben lässt. Zu den auffälligen baulichen Eigenschaften gehört ein ausgeprägter Landschaftsbezug. Die Räume orientieren sich allseitig zu einem sie umgebenden Garten. Beispielhaft ist hierfür das bürgerliche Jenisch-Haus des Architekten Franz Gustav Forsmann aus den 1830er Jahren (vgl. Küster 1982: 2). Man findet es freistehend am Rande des heutigen JenischParks, einer großen Grünanlage am Rande Hamburg-Othmarschens, die sich bis zur Elbe erstreckt und vom vorstädtischen Charakter der Bauzeit zeugt. Heute ist es von Stadtgebiet umgeben. Das Gebäude ist von bodentiefen Fensteröffnungen geprägt. Die Eingangs- und Gartenseite weisen die gleichen vorgesetzten Portale auf, auf denen im Obergeschoss Balkone entstehen. Das architektonisch allseitige Objekt besitzt kein ›vorn‹ oder ›hinten‹ und damit auch keine spezifische öffentliche Schauseite. Straßen- und Gartenansicht sind architektonisch gleichwertig behandelt und weisen damit Verbindungen zu den Landvillen der oberitalienischen Renaissance, beispielsweise von Andrea Palladio, auf. Während diese jedoch ausschließlich über ein meist überhohes Hauptgeschoss verfügen, drängt sich in Bezug auf das Jenisch-Haus ein zweiter Vergleich auf zu den städtischen Bürgerpalästen in den wichtigen oberitalienischen Städten der Renaissance. Diese sind ebenso wie das vorangegangene Beispiel 12 | Dt. Bequemlichkeit (vgl. Frank 1989: 67).

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freistehend, haben jedoch einen dichten städtischen Kontext. Architektonisch sind sie allseitig gleichmäßig detailliert und setzen sich aus dezidierten Sockel-, Normal- und Dachgeschossen zusammen. Die Struktur ist also von der Schichtung von Nutzungen dominiert, aber auch von vertikalen Elementen, die die Schichtung der Geschosse durchbrechen, wie Höfe, offene Treppenräume mit Galerien, mehrgeschossige Räume usw. Die Eingeschossigkeit, wie sie bei Palladios Villen vorzufinden ist, wird zugunsten von Nutzungsschichtung aufgegeben. Das bietet die Möglichkeit, durch repräsentative vertikale Innenräume die Geschosse zu verbinden und von einem höheren Stockwerk aus zu belichten. Der englische Architekt Sir John Soane entwarf solche Räume beispielhaft für Neu- und Umbauten von ›Country Estates‹ oder ›Country Houses‹ für die englische Upper Class zwischen 1780 und 1822.13 Beweggrund insbesondere für Umbauten war oftmals die Rückkehr von einer ›Grand Tour‹, einer Bildungsreise nach Italien, mit größeren Sammlungen an Kunstwerken, für deren Ausstellung Räume neu gebaut oder angepasst werden mussten (vgl. Dean 1999: 21). Im Unterschied zu den Landresidenzen des Adels, der in Städten und Pfalzen Repräsentationspflichten nachkam, etablierte sich auch das bürgerliche Landhaus als eine architektonisch ebenbürtige Ergänzung zum Bürgerhaus in der Stadt. Wichtiger Bestandteil des Programms ist die Repräsentation. Insofern gehörten Gäste und notwendigerweise auch Angestellte gleichermaßen zu den Landhäusern wie zu den städtischen Äquivalenten, den Bürger-, Kaufmannshäusern oder Stadtpalais, weil auf die Annehmlichkeiten des städtischen Lebensstils nicht verzichtet werden wollte. Wegen der Verschränkung von Stadt und Land im Handeln ihrer Nutzenden kann hier von einem ›rurbanen‹ individuellen Bauprogramm bzw. generellen Bauaufgabe gesprochen werden. Breiteren städtischen Schichten wurde der ländliche Raum erst durch einen sich entwickelnden Tourismus als Raum für die Freizeitgestaltung zuteil. Begründet durch die insbesondere in herrschaftlichen Kreisen entstandene ›Grand Tour‹, entwickelte sich der Tourismus über das Reisen

13 | »Sir John Soane and the Country Estate« dokumentiert eine Reihe auch unbekannter Werke Soanes in Großbritannien im Rahmen eines Fellowships des John Soane Trust (Dean 1999).

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aus den sich industrialisierenden Städten zur Genesung in peripheren14 Lagen an Meeren, Seen und (Hoch-)Gebirgsregionen zu einer Form der Feriengestaltung. Die Räume, die vormals der Natur bzw. der Land- und Forstwirtschaft vorbehalten und von bäuerlicher Lebensweise geprägt waren, wurden nun als Orte des Fremdenverkehrs mit Eisenbahnanschluss und Elektrizitätsversorgung vermarktet. Es entstanden neue Typologien, wie das Hotel und das Kurhaus, die ihr Angebot von temporärem Aufenthalt, Erholung und Genesung an eine größer werdende Zahl ortsfremder Nutzer richteten. Als Reisearchitekturen boten sie urbane Services an (Telegrafie, Musik, Konversation sowie Gourmetküche). Steigender Nachfrage durch breitere Bevölkerungsschichten, insbesondere infolge sich allgemein etablierender Ferienregelungen, zufolge entwickelte sich auch das Angebot in verschiedenen Regionen und begründete damit den Massentourismus. Es waren gleichermaßen Infrastrukturen und städtische Konventionen, die die Landschaftsräume nachhaltig veränderten, sodass ihre vormals natürlichen und ruralen Eigenschaften von denen urbaner überformt wurden.

R urale S tadtentwürfe Behandelten die vorangegangenen Abschnitte Phänomene der ›Stadtflucht‹ durch v.a. begüterte Schichten, sollen nachfolgend Utopien und Konzepte beleuchtet werden, die die jeweils positiven Zuschreibungen von Stadt und Land für breitere Bevölkerungsschichten verbinden. Die Industrialisierung zog in den Städten soziale, strukturelle und gesundheitliche Krisen nach sich. Eine Vielzahl sozialreformerischer Ansätze versuchte, die prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen insbesondere der Arbeitenden zu verbessern; sie entstanden auf sozialpolitischer Ebene15 und ebenso auf stadtplanerischer Ebene. Einige fortschrittliche Industrielle entwickelten genossenschaftliche Modelle für Wohn- und Arbeitszusammenhänge jenseits der Mietskasernenquartiere der industrialisierten Stadt. Von architektur- und sozialgeschichtlicher Bedeutung 14 | Die Bezeichnung meint hier nicht die geographische Situation, sondern die Lage aus Sicht der Reisenden; die Reiseorte beschreiben oft tatsächlich den Rand der bekannten bzw. durchreisten Welt. 15 |  Zum Beispiel die Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches nach 1871.

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sind Robert Owens Idee einer Produktions- und Lebensgenossenschaft in Form der Kolonie ›New Harmony‹, 1825-27, Charles Fouriers schlossähnlicher Entwurf  ›Phalanstère‹, 1832, auf dessen Grundlage Jean-Baptiste André Godin ab 1849 die ›Familistère‹ nahe seiner Fabrikanlagen im französischen Guise realisierte. Es handelt sich um ehemals genossenschaftlich organisierte großmaßstäbliche Wohngebäude, deren Wohnungen über Laubengänge erschlossen werden. Bemerkenswert sind neben der Nähe zum Arbeitsplatz die gemeinschaftlichen Einrichtungen und die überdachten Innenhöfe. Die Kritik an den Lebensbedingungen v.a. der Industriearbeiterinnen und -arbeiter in der Stadt übersetzte sich beispielsweise in Entwürfe für Stadtlandschaften unter Einbringung ländlicher Motive, wie es bei Howards Garden Cities of To-morrow der Fall ist.

G artenstadt als I dealstadtentwurf Der englische Sozialreformer Ebenezer Howard veröffentlichte 1898 Garden Cities of To-Morrow. Hierin entwickelte er ein Modell für eine Großstadt, dass die industrialisierte Großstadt neu strukturieren sollte, und zwar mithilfe ländlicher Räume und ländlicher Motive (vgl. Posener 1968). Das schematische Stadtmodell enthält eine Zentralstadt, die von einem Ring von Gartenstädten umgeben ist. Die Städte inkorporieren Orte der Produktion, des Wohnens und der Kultur, gleichzeitig aber auch landschaftliche und gärtnerische Elemente, zum Beispiel einen ›Central Park‹ in der jeweiligen Mitte. Das Umland ist freigehalten von Besiedelung und dient der Versorgung sowie als Raum zur Naherholung. Wichtig erscheinen die verbindenden Infrastrukturelemente, wie Kanäle und Eisenbahnschienen. Zu den sozialreformerischen Ideen zählen die Vergemeinschaftung von Grund und Boden sowie die umfassende Infrastruktur inklusive Ver- und Entsorgung. Howards Ziel war es, die Lebensbedingungen für die Bewohnenden zu verbessern und allen Zugang zu städtischen Einrichtungen sowie zum Land und damit zur Erholung zu ermöglichen. Das Modell verdeutlicht Howards Bemühen um Ausgleich der positiven städtischen und ländlichen Eigenschaften. Verdichtung, Vernetzung, Versorgung sowie Erwerbsarbeit und Wohnen prägen die Städte; landwirtschaftliche Produktion und Rekreation prägen die Räume dazwischen.

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Gleichzeitig werden Räume zueinander abgegrenzt. Zwei Gartenstädte sind unmittelbar nach Howards Vorschlägen in Großbritannien entstanden: Letchworth (ab 1903) und Welwyn (ab 1920). Dennoch nennen sich viele Siedlungen ›Gartenstadt‹, bei denen nur einzelne Aspekte des Modells realisiert wurden, beispielsweise die durch moderne Verkehrsmittel erschlossenen Gartenvorstädte. Interessant ist dennoch, dass die auch nach Howards Maßgaben realisierten Städte eher klein- oder vorstädtisch gebaut wurden. Eine niedrige, offene Bebauung fand als typisch ›gartenstädtisch‹ großen Anklang (vgl. Will 2012). Julius Posener paraphrasiert in seinem Vorwort einen engen Mitarbeiter Howards, den Planer Frederic J. Osborn, mit den Worten: »[…] er habe mehr die Stadt im Garten gemeint, […] als eine Stadt der Gärten.« (Posener 1968: 48, Hervorhebungen im Original).

D ie G artenstadt H ellerau Die zuvor beschriebene niedrige und durchgrünte Bebauung kennzeichnet auch die deutschen Gartenstädte, die vor allem in bzw. nahe deutscher Großstädte entstanden und oftmals das Wort ›Gartenstadt‹ im Namen tragen. Die Deutsche Gartenstadtgesellschaft warb ab 1902 für die Ideen der Gartenstadtbewegung, wobei ›Gartenstadt‹ durchaus als werbewirksames Etikett zu verstehen ist, wie Thomas Will herausstellt (Will 2012: 25). Eine der bekanntesten ist die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, die maßgeblich vom Industriellen Karl Schmidt, Leiter der Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst, initiiert wurde. Die Planungen, die in Zusammenarbeit mit dem Architekten Richard Riemerschmid ab 1910 entstanden, sahen neben den neuen Werkstätten Kleinstwohnhäuser für die Arbeitenden, Landhäuser für Begüterte, einen Markt und verschiedene Geschäfte vor. Wasch- und Badehaus, unterschiedliche Praxen, ein Ledigenwohnheim, die ›Schule für Bewegung‹ unter der Leitung von Émile Jaques-Dalcroze (Architekt: Heinrich Tessenow) und ein Schülerwohnheim ergänzten das Programm der Gartenstadt. Zu den funktionalen Anforderungen gehörte die von Ebenezer Howard geforderte Verbesserung der hygienischen Verhältnisse. Die infrastrukturellen Annehmlichkeiten einer modernen Großstadt, wie fließendes Wasser, Abwasserentsorgung, Strom- und Gasversorgung, sollten auch für die Bewohnenden der Gartenstadt zum Standard werden, während sie jenem Zeitpunkt selbst in

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der Stadt nur bestimmten Schichten vorbehalten waren (Schinker 1989: 123f.). Architektonisch auffallend war der Umgang mit der Topografie und dem davon abgeleiteten Konzept zur Erschließung und Wegeführung: Wie selbstverständlich gliederten sich die ländlich anmutenden Stilelemente und Bauformen, wie ein- und zweigeschossige Häuser mit hohen Dächern, Gärten zum Schmuck und zur Selbstversorgung usw., in den Landschaftsraum ein und konnten bis heute ergänzt und nachverdichtet werden. Der Übersetzungsversuch des Gartenstadt-Modells Ebenezer Howards in gebaute Realität, hier am Beispiel Helleraus, sah also Entwurf und Planung neuen Wohnraums innerhalb einer städtischen Nutzungsmischung von Produktion, Versorgung, besonderen Bildungs- und Kultureinrichtungen vor; die geringe Dichte, insbesondere durch die überwiegend offene und kleinmaßstäbliche Bebauung, und das vorherrschende bodengebundene Wohnen mit Gartenbezug verliehen der Gartenstadt Hellerau einen ländlichen bis vorstädtischen Charakter. Insofern kann hier von einem rurbanen Gefüge gesprochen werden, auf das die Kategorien von Stadt und Land nicht zutreffen. Die Gartenstadt ging, auch als Resultat eines Gemeinwohlgedankens, über die vorherrschende Differenzierung der Bevölkerungsschichten hinaus. Das Modell der Gartenstadt sollte deshalb von konventionellen Werks- oder Arbeiterwohnsiedlungen unterschieden werden, die allein die Wohnbedürfnisse für Arbeitende nah am Standort des Arbeitgebenden erfüllen sollten.

D ie V illenkolonie Wie zuvor erwähnt, entstanden zahlreiche Variationen vorwiegend von Gartenvorstädten, die sich an einem durchgrünten, aufgelockerten Stadtbild orientierten. Die Villenkolonie stellt eine, am bürgerlichen Lebensstil orientierte Form dar. Die Industrialisierung ließ in den Städten nicht nur die Arbeiterklasse entstehen, es entwickelten sich zunehmend auch klein- bis großbürgerliche Schichten. Manufakturbesitzende, Fabrikbesitzende, Beamte und Angestellte konnten aufgrund ihrer finanziellen Lage ihrem Bedürfnis nach ›standesgemäßer‹ Repräsentation nachgehen; ein Bedürfnis, das sich in der Enge der Stadt nur teilweise zu entfalten vermochte und in

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den baukünstlerisch reich geschmückten, bürgerlichen Quartieren zu entdecken ist. Für die angemessene Ausstattung von Wohnungen sorgte die zunehmende Massenproduktion der Möbelindustrie, die herrschaftlich anmutendes Mobiliar in Serie herstellte. Die Landhäuser als Inbegriff bürgerlichen Lebens auf dem Lande standen im Zentrum der Vermarktungsstrategie dieser Vororte. Kern war das Angebot für das Wohnen außerhalb der Stadt, in guter Anbindung zu ihr und mit allem modernen Komfort. Ein Reklametext von 1906 preist die Vorzüge der Villenkolonie Zehlendorf zu dieser Zeit an: »30 Minuten vom Potsdamer Platz per Wannseebahn und Automobil-Omnibus. Baureife Waldparzellen, Gas, Wasser, Elektrizität, keine Gemeindesteuern« (vgl. Bröcker/Kress 2014: 80). Diese Form der Baulandentwicklung gab es in nahezu allen größeren Städten Deutschlands, wovon sich viele Beispiele in Berlin finden lassen. In Zehlendorf stand eine zahlungskräftige Klientel im Fokus der Entwicklung, weshalb dem Titel das Wort ›Villen‹ vorangestellt wurde. Im Text wird gleichzeitig auf den ›Wald‹ wie auf das Vorhandensein der Medien ›Gas, Wasser, Elektrizität‹ verwiesen, was städtischen Standard mit einem absolut ländlichen, gar unbewohnten Raum konfrontiert. Durch das Wort ›Kolonie‹ wird dieser Raum zivilisiert. Exklusivität erhält die Villenkolonie durch die Ansprache zahlungskräftiger Kundschaft, repräsentative und baukünstlerisch reich gestaltete Wohnhäuser und die Hervorhebung der infrastrukturellen Anbindung an die Großstadt. Ein städtisches Nutzungsangebot, dass die zuvor beschriebene Gartenstadt Hellerau aufweist, scheint hier von geringer Relevanz und rechtfertigt die Bezeichnung als ›Vorstadt‹ mit ihrem gleichzeitig städtischen und ländlichen Charakter. Die überwiegende Nutzung als Wohnstadt deutet eine Tendenz randstädtischer Entwicklungen an, die von den bürgerlichen Villenkolonien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hin zu den überwiegend durch die Mittelschichten getragenen und durch Eigenheimbau gekennzeichneten Suburbanisierungsprozessen ab Mitte des 20. Jahrhunderts reichen. Ermöglicht wurden sie durch steigenden Wohlstand der Mittelschichten, einer verstärkt motorisierten und individualisierten Mobilität und günstige Grundstückspreise sowie Subventionen. Folglich löste sich die zuvor notwendige räumliche Einheit von Arbeits- und Wohnort vollkommen auf. Das Siedeln in Einfamilienhäusern in den Randgebieten von Städten und stadtnahen Gemeinden beschreibt eine partielle, räumlich-struktu-

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rell ablesbare Urbanisierung des ländlichen Raums und des Übergangs von Stadt zu Land. Diese Entwicklung war vor allem vom Ausbau der sichtbaren Infrastruktur für die Massenmotorisierung geprägt. Die Siedelnden, die einerseits dem Siedlungs- und Kostendruck der Städte entgehen wollten, suchten andererseits nach dem Ideal von der Erwerbstätigkeit in der Stadt und einem Leben im Grünen nebst Status und Eigentumsbildung (vgl. Häußermann/Siebel 1996: 299ff.).

F a zit Rurbane Landschaften, Architekturen und Lebensweisen sind nicht neu, sondern seit der Neuzeit präsent. Wie die zuvor beschriebenen Beispiele architektonischer und stadträumlicher Phänomene zeigen, ist die gleichzeitige Anwesenheit ruraler und urbaner Eigenschaften im gebauten Raum gegenwärtig, aber als solche kaum thematisiert. Es handelt sich hier also keineswegs um neue Phänomene, sondern um die Beschreibung und Einordnung als ›rurbane‹ Phänomene. Die Eigenschaft ›rurban‹ kennzeichnet nach den vorangegangenen Betrachtungen zum einen die bauliche Verschränkung der scheinbar getrennten Kategorien ›urban‹ und ›rural‹ in Entwurf und Produktion von Architektur. Zum anderen kennzeichnet sie die Verschränkung in der Nutzung von Architektur und der durch sie geprägten Räume durch das Handeln des Nutzenden. Unter Planenden werden ›Stadt‹ und ›Land‹ immer wieder als Pole zitiert. Dabei spielt das gleichzeitige Vorhandensein städtischer und ländlicher Charakteristika in der Praxis eine große Rolle; der vom Menschen gestaltete Raum geht weit über das Erklärmuster dieses Dipols hinaus. Wenn Walter Siebel ›Stadt‹ bzw. ›Nicht-Stadt‹ aus dem Vorhandensein bzw. Fehlen städtischer Eigenschaften erklärt, wären ›rurbane‹ Phänomene ein ausschließendes ›Weder-Noch‹. Wenn man anerkennt, dass es eine weitere Kategorie der Gleichzeitigkeit gibt – die hier ›rurban‹ genannt wird – dann lässt sich damit auch für den Diskurs über städtische und ländliche Räume eine qualitätvolle Dimension hinzugewinnen.

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L iteratur Bröcker, Nicola/Kress, Celina (2004): Südwestlich siedeln, Berlin: Lukas Verlag. Dean, Ptolemy (1999): Sir John Soane and the country estate, Aldershot: Ashgate. Flückiger, Urs Peter (2016): Wie viel Haus? Thoreau, Le Corbusier und die Sustainable Cabin, Basel: Birkhäuser. Frank, Dietrich von (1989): Die ›maison de plaisance‹, ihre Entwicklung in Frankreich und Rezeption in Deutschland, dargestellt an ausgewählten Beispielen (= Beiträg zur Kunstwissenschaft; Band 27), München: Scaneg. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (1996): Soziologie des Wohnens, eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim u.a.: Juventa-Verlag. Hücking, Renate (2013): Mit Goethe im Garten, München: Callway. Krause, Katharina (1996): Die Maison de plaisance: Landhäuser in der Ilede-France (1660-1730), München: Deutscher Kunstverlag. Küster, Christian L. (1982): Jenisch-Haus, Altonaer Museum in Hamburg – Norddeutsches Landesmuseum – Museum großbürgerlicher Wohnkultur, München u.a.: Schnell & Steiner. Posener, Julius (Hg.) (1968): Gartenstädte von morgen, Das Buch und seine Geschichte, Berlin u.a.: Ullstein Bauwelt Fundamente. Schinker, Niels (2013): Die Gartenstadt Hellerau 1909-1945, Dresden: Sandstein. Siebel, Walter (Hg.) (2004): Die europäische Stadt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Thoreau, Henry David (1992): Walden oder Hüttenleben im Walde, Übersetzung aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger, Zürich: Manesse. Will, Thomas (2012): » ›Gartenstädte von morgen‹ – Was bleibt von der Idee? Ein kritisches Resümee zu Beginn«, in: Thomas Will/Ralph Lindner (Hg.), Gartenstadt. Geschichte und Zukunftsfähigkeit einer Idee, Dresden: w. e. b. Universitätsverlag & Buchhandel, S. 24-49. Will, Thomas/Lindner, Ralph (Hg.) (2012): Gartenstadt. Geschichte und Zukunftsfähigkeit einer Idee, Dresden: w.e.b. Universitätsverlag & Buchhandel.

Stadt/Land Perspektiven Wechselbeziehungen und Überlagerungen zwischen urbanen und ruralen Räumen Martina Baum, Sebastian Klawiter, Hanna Noller »Was ist Stadt? Was ist Land? Wer fragt?« M artina B aum 2016

Z ur S ituation von L and und S tadt Soziokulturelle Veränderungen, demographischer Wandel und technische Innovationen verändern nicht nur die Bedürfnisse der Gesellschaft, sondern auch als Resultat die gebaute Umwelt. Die daraus entstehenden Herausforderungen und Aufgaben stellen sich unumgänglich nicht nur für den urbanen, sondern auch für den ländlichen Raum grundsätzlich zur Diskussion. Auf Stadt wie Land lastet der Druck, (auch) künftig erfolgreich als Lebens- und Arbeitsorte zu bestehen, um resilient und zukunftsfähig aufgestellt zu sein. Der klassische Stadt-Land-Gegensatz ist in Westeuropa aufgelöst, neue Kommunikationstechnologien und reale wie virtuelle Vernetzung führen zu einer kompletten Urbanisierung (vgl. Schmid 2005: 121). Dennoch sind die Bedingungen und Begabungen von Orten nicht überall gleich. Trotz der neuen Technologien und Vernetzung unabhängig von realen Orten leben die Menschen im realen Raum. Zwar ist das Ziel der überall gleichen Lebensverhältnisse die Prämisse, aber dieses Leitbild wird oftmals zum verklärten Wunschbild (vgl. u.a. Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg 2015).

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Die Unterschiede zwischen den Regionen und Orten sind groß. Einige florieren, andere stagnieren oder schrumpfen in ihrer Entwicklung und Bedeutung gleichermaßen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 2015). Trotz aller Renaissance der Städte (vgl. Glaeser 2012) ist der ländliche Raum in den letzten Jahren wieder verstärkt ein Sehnsuchtsort geworden. Ursprünglichkeit, Ruhe, Abgeschiedenheit, einfache Lebensweise und Ortsverbundenheit werden projeziert. Der Zeitschriftenmarkt liefert die passenden Bilder und Geschichten in immenser Auflage mit Leserschaft aus dem urbanen wie auch ruralen Kontext. Auch das regionale Marketing vermittelt idyllische Ort- und Landschaften mit unverwechselbarer Identität und günstigen Baulandflächen. Die idyllischen Werbebilder zeigen allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der gebauten Realität. Vor Ort findet sich immer die gleiche Logik: verfallende Ortskerne umrahmt von immer weiter wachsenden Einfamilienhaussiedlungen und Gewerbegebieten am Rand. Weite Teile der Ortschaften verfügen nicht mehr über unverwechselbare Ortsidentität sondern reproduzieren internationalisierte und kommerzialisierte Codes zu generischen Siedlungen: Schwedenhäuser aus rot lackiertem Holz, Villen im Toskana-Stil, Bauträgerhäuser mit Wärmedämmverbundsystem, kanadische Blockhausarchitektur und kubistische Gebäude in Anlehnung an die Moderne versammeln sich zu einer austauschbaren und eigenschaftslosen Kakophonie. Das Gleiche gilt für die Gewerbegebiete. Auch hier die immer gleichen Architekturen der Handelsketten und Gewerbebauten umrahmt von großen Parkplätzen und aufmerksamkeitsheischenden Werbeschildern. Ist man auf dem Land oder in der Stadt, in Kupferzell oder Stuttgart – nicht nachvollziehbar. Regionale Bautraditionen und Bauweisen lassen sich nur noch in den Kernen finden, weiterentwickelt und in die Zukunft gebracht wurden sie nicht. Eine urbanisierte Gesellschaft produziert hier hingegen ein ortsunabhängiges, generisches Lebensumfeld. Highspeed-Internet, die Medien und Konsumkonzerne bringen die Welt auch in den ländlichen Raum. Stadt oder Land, der Kontext wird zur Kulisse. Orte der Gemeinschaft sind nicht mehr der Dorfplatz und die Dorf bäckerei, sondern die Raststätte an der Autobahn und die Großbäckerei im Supermarkt mit Bestuhlung auf dem Parkplatz. Handlungsbedarf zeigt sich im Umgang mit den Ortszentren (vgl. hierzu auch Westner in diesem Band). Sie sind die Verlierer dieser Entwicklung. Gering genutzte oder leerstehende Wohngebäude, aufgelas-

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sene Hofstellen und geschlossene Ladengeschäfte prägen das Bild. Die Entwicklung findet außen, in immer neuen Wohn- und Gewerbegebieten um die Kerne statt. Es stellt sich die Frage nach der Rolle dieser Kerne in der Zukunft: Werden sie zu Kulissen und musealisiert oder können sie weiterhin aktiver Teil des Alltags sein? Auch die idealisierte Natur mit Bildern regionaler Landschaftstypen und Pflanzensorten lässt sich in den industriell agrarisch genutzten Flächen nicht mehr finden (vgl. Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010). Scheinbar endlose Felder mit überall gleichen Monokulturen haben vielerorts ihren Platz eingenommen. Zwar bewerben die großen Supermarktketten aktuell wieder die regionalen Produkte, welche in den Regalen zu finden sind, dennoch kommt die Mehrzahl aus der ganzen Welt und nicht vom Bauernhof um die Ecke. Abbildung 1: Ortsmitte

Hanna Noller (2016) »Der ländliche Raum läuft Gefahr, seine typischen Merkmale zu verlieren.

Die einst klare Abgrenzung von urbanen und ländlichen Räumen weicht zunehmend auf.« konstatiert Regina Thétaz (2013: 54). Gleiches gilt für die Merkmale von Stadt. Es stellt sich nicht nur die Frage, ob die urbane Lebensweise ubiquitär geworden ist sondern auch die rurale (vgl. Häußermann 2008: 75). Ein urban-ländlicher Lebensstil erfreut sich gerade in

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urbanen Kontexten großer Anhängerschaft. Im Raum sichtbar wird dies u.a. durch das Gärtnern unter dem Label des ›Urban Gardening‹ (vgl. u.a. Rasper 2012) oder die Nachfrage nach gemeinschaftlichen Wohnformen in Anlehnung an dörfliche Strukturen (vgl. u.a. Genossenschaft Kalkbreite Zürich 2017). Im Diskurs über Ortsbezug und Identität zeigt sich ebenfalls diese Ambivalenz. Scheint durch zunehmende Digitalisierung und weltweite Vernetzung der konkrete Orte an Relevanz zu verlieren, wird als Gegenpol propagiert: place matters! Durch ihre Dichte, Mischung und kritische Masse verfügen Städte über besondere Eigenschaften, die sich von jenen des ländlichen Raums unterscheiden. Ist diese Dichte der Nährboden für kulturelle und ökonomische Innovationsdynamik, wie es Hartmut Häußermann beschreibt? (vgl. Häußermann 2007) Oder birgt auch der ländliche Raum Innovationspotential und wo wird dieses sichtbar? Es gilt die Beziehung und Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land auszuloten und Rollenmuster, Begabungen und Grenzen herauszuarbeiten. Hierzu ist es notwendig zu hinterfragen, was hinter den Begriffen Stadt und Land steht und deutlich zu machen, dass die Definitionen je nach Perspektive des Fragenden andere sein werden. Im Forschungsprojekt ›Ressource Ländlicher Raum‹1 widmen wir uns den Wechselbeziehungen und Überlagerungen zwischen urbanen und ruralen Räumen aus den raum entwerfenden Disziplinen Architektur und Städtebau heraus. Die gestellten Fragen bilden den Rahmen für eine Analyse in die Breite. Um verschiedene Perspektiven beleuchten zu können und unterschiedliche Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen nutzen wir das von uns entwickelte Werkzeug des ›Trendbooks‹. Wir liefern hiermit keine vorgefertigten Antworten und verlassen die Zugänge klassischer wissenschaftlicher Forschung, zu Gunsten eines ergebnisoffenen Experiments und Austauschs. Antworten auf isolierte Fragestellungen – Kernmethode wissenschaftlicher Forschung – bringt in der Komplexität des Forschungsgegenstands nur eingeschränkten Erkenntnisgewinn. Wir wollen den Diskurs in der Komplexität führen. Und somit zu integrierten Ansätzen gelangen. (Vgl. Schneidewind/SingerBrodowski 2014; Weidinger 2013)

1 | Forschungsprojekt ›Ressource Ländlicher Raum‹, Universität Stuttgart, SI Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen, seit 2016.

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D as Trendbook als W erk zeug Lesarten für unsere bebaute Umwelt zu erlernen und Fähigkeiten, die komplexen Zusammenhänge urbaner Systeme zu entschlüsseln bilden die Grundlage für eine entwerferische Weiterentwicklung urbaner Kontexte. Das Trendbook 2 ist ein vom Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen der Universität Stuttgart entwickeltes Werkzeug für einen neuen methodischen Zugang, sich diesen Leseweisen und Logiken in urbanen Räumen anzunähern. Es bietet die notwendige breite Perspektive, die Komplexität urbaner Aufgabenstellungen zunächst anzunehmen, abzubilden, aufzubereiten, um sie für einen folgenden entwerferischen Zugang konstruktiv bearbeiten zu können. Ein sich aus einer spezifischen Aufgabenstellung herauskristallisiertes Rahmenthema bildet die Grundlage jedes Trendbooks. Dieses wird im Sinne einer Auslegeordnung in seiner Bandbreite relevanter Aspekte aufgefächert und eröffnet somit einen diskursiven Rahmen. Eben nicht die bewusste Reduktion der Komplexität eines Themas und damit die Fokussierung auf eine isolierte und damit zugespitzte Fragestellung, um in einem klaren Regelsystem zu Erkenntnissen zu gelangen, sondern das Arbeiten mit und in der Komplexität bildet die Basis für eine breite, aufgefächerte Diskussion und eröffnet neue Perspektiven und Zusammenhänge. Als Sammlung stellt das Trendbook mögliche relevante Aspekte und Zugänge zusammen, diskutiert Bezüge und Verknüpfungen und sucht Inspiration für den Diskurs der Stadtentwicklung aus verwandten Fachbereichen, anderen Disziplinen und dem Alltagsleben. Die daraus entstehende, bewusst kuratierte Auslegeordnung eröffnet die, aus unserer Sicht notwendigen und somit geforderten, offenen Perspektiven. Gleichzeitig schafft sie aber auch die Grundlage um zu präzisen Fragestellungen für die weitere Auseinandersetzung im Rahmen unserer Forschungs-, Lehroder Praxisprojekten zu gelangen. Das Trendbook ist eine kuratierte Sammlung von Gedanken, Ideen, Konzepten und Projekten zu einem Rahmenthema in Form von Texten, 2 | Entwickeltes Werkzeug des Lehrstuhls Stadtplanung und Entwerfen, Städtebau-Institut, Universität Stuttgart, Idee und Konzept: Prof. Dr. Martina Baum, Christiane Kolb, Thorsten Stelter, Markus Vogl, Isabel Zintl, Grafik: Mark Julien Hahn.

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Zeichnungen und Bildern. Dabei erhebt es keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Unvollständigkeit ist vielmehr Teil der Methode, um auf dieser kuratierten Basis den Diskurs über Stadtentwicklung wieder zu entfachen, ihn offen, konstruktiv und mit vielen Interessierten zu führen. Hierzu bieten wir mit dem Trendbook ein neues Dialogmedium an. Es dient als Quelle der Inspiration und Reibungsfläche, stimuliert und fordert auf, ist vielmehr Ausgangspunkt denn fertiges Produkt. Die persönliche Arbeit mit dem Trendbook und die daraus entstehenden Erkenntnisse fließen zurück in den gemeinsamen Diskurs. Dieser Rückfluss ist wichtiger Teil des Prozesses. Nicht das einzelne Trendbook sondern die Summe vieler befruchtet den Diskurs. Die bearbeiteten und gesammelten Trendbooks zu einem Thema schaffen eine qualifizierte Gedanken- und Argumentationsbasis. Sie sind somit das Ausgangsprodukt, um sich im Folgeschritt über das Entwerfen spezifischen und neuen Antworten auf komplexe Fragenstellungen im urbanen Raum zu nähern. Die Gestaltung spiegelt dies wieder: Nicht ein Buch zum Lesen und Anschauen sondern ein Buch zum Benutzen soll es sein. Angelehnt an allbekannte Skizzen- oder Notizbücher bietet es den Freiraum und tatsächlichen Platz, sich mit den dargestellten Perspektiven auseinanderzusetzen, diese zu kommentieren und auch weitere, eigene Gedanken, Projekte und Quellen der Inspiration hinzuzufügen. Somit bekommt jedes Trendbook erst durch die Arbeit mit ihm und das Ein- und Weiterschreiben des Diskurses seine Tiefe. Es hält die kritische Auseinandersetzung und Reflexion seines Besitzenden mit dem Rahmenthema fest. Dabei erleichtert es durch die vorgefundene Basis, einen Einstieg in das Rahmenthema zu finden. Aspekte und Standpunkte kristallisieren sich schnell heraus, verdichten sich, gehen ineinander über oder führen zur Konfrontation. Jedes Trendbook spiegelt somit die spezifische Gedankenwelt des jeweiligen Nutzenden wieder. Es wird zum Unikat und in der Summe der Trendbooks zu einem Thema zu einer reichhaltigen Ideenwelt. Diese Prozesse und die dadurch stimulierte Bandbreite der Auseinandersetzung ermöglichen es, neue Erkenntnisse im urbanen Diskurs zu erlangen, die für die weiteren Schritte produktiv eingesetzt werden können, um entwerferisch in urbanen Kontexten tätig zu werden: Das Trendbook wird zu einem wichtigen Werkzeug im Entwurfsprozess. Seinen ersten Einsatz erfuhr das Trendbook als Vorbereitung für den Entwurfsworkshop ›Congestion/Void – Fülle/Leere‹ auf der Internationa-

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len Architektur Biennale Rotterdam IABR 2016 (Baum et al. 2016). Die Teilnehmenden aus den Bereichen der Kunst, Stadtplanung, Architektur und Landschaftsarchitektur erhielten mehrere Wochen vor dem Workshop je ein Exemplar des Trendbooks Congestion/Void – Fülle und Leere, um einen Einstieg in unseren Diskursrahmen zu erhalten und damit zu arbeiten. Damit konnten sie sich bereits intensiv und teilweise auch spielerisch mit dem Thema auseinandersetzen und ihre eigenen Gedanken, ihre eigene Haltung dazu entwickeln. Die Trendbooks wurden zum Workshop mitgebracht und während der gemeinsamen Arbeit als Ressource weiterverwendet. Durch diese vorab geleistete Gedankenarbeit kristallisierten sich sehr schnell Themen, Aspekte und Positionen für den Workshop heraus und ermöglichten interessante Beiträge für den Gesamtdiskurs auf der IABR 2016. Im Forschungsprojekt ›Ressource Ländlicher Raum‹ wird die Methode Trendbook wieder aufgegriffen, um verschiedene Perspektiven des Rurbanen auszuloten. Im Rahmen des Symposiums ›Rurbane Landschaften‹ im Juni 2017 in Weimar wurde die Methode vorgestellt und das Trendbook Stadt/Land Perspektiven an die Teilnehmenden ausgegeben, um damit während der Veranstaltung zu arbeiten. Die durch die Symposiumsteilnehmenden gefüllten und bearbeiteten Trendbooks ergänzen, spiegeln, kommentieren oder negieren die durch uns vorab platzierten Bilder, Textfragmente und Assoziationen. Gleichzeitig gehen sie auch auf die Beiträge der Vortragenden auf dem Symposium ein und entwickeln aus der Auslegeordnung des Trendbooks und dem Gehörten eigenständige und weiterführende Fragen zum Thema. Diese weitere Ebene der Reflexion durch die Teilnehmenden des Symposiums erweitert sowohl die vorgegebene Auslegeordnung des Trendbooks als auch die Fragestellungen der Symposiumsbeiträge und bereichert die Ausgangsbasis für die weitere Forschungsarbeit.

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Trendbook S tadt/L and P erspektiven auf dem S ymposium ›R urbane L andschaften ‹ Fotodokumentation Abbildung 2: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Cover

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

Abbildung 3: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 60

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

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Abbildung 4: Symposium Rurbane Landschaften in Weimar 2017

Sebastian Klawiter (2017)

Abbildung 5: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 60

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

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Abbildung 6: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 13

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

Abbildung 7: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 14

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

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Abbildung 8: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 40

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Abbildung 9: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 48

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

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Abbildung 10: Trendbook Stadt/Land Perspektiven Seite 72

Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017)

L iteratur Baum, Martina et al. (2016): Trendbook Congestion/Void – Fülle/Leere, Beitrag zur Internationalen Architektur Biennale Rotterdam IABR 2016 – The next Economy. Friedrich-Ebert-Stiftung (2015): Ungleiches Deutschland: Sozioökonomischer Disparitätenbericht, Bonn: o.A. Genossenschaft Kalkbreite Zürich (2018): Projekt Genossenschaft Kalkbreite, https://www.kalkbreite.net vom 30.10.2017. Glaeser, Edward (2012): Triumph of the City, London: Penguin Books. Häußermann, Hartmut (2007): »Phänomenologie und Struktur städtischer Dichte«, in: Lampugnani Vittorio Magnago et al. (Hg.), Städtische Dichte, Zürich: Verlag Neue Züricher Zeitung. — (2008): »Stadtgespräche«, in: Lothar Bertels (Hg.), Heidelberg: VS Verlag. Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg (2015): Landesverfassung.

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A bbildungen Abbildung 1: Hannah Noller (2016). Abbildung 2: Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017). Abbildung 3: Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017). Abbildung 4: Sebastian Klawiter (2017). Abbildung 5-10: Städtebau-Institut, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen (2017).

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Raumgeschehen Eine entwerferische Perspektive Hille von Seggern Die Weise, wie man sein fachliches Feld oder seinen wissenschaftlichen ›Gegenstand‹ wahrnimmt, definiert und theoretisch fasst, bestimmt die Weise und die Methoden, wie man arbeitet. Für mich, ausgebildet als Architektin und Stadtplanerin, war die Wahrnehmung des fachlichen Feldes zunächst durch gebaute Umwelt, Häuser und Freiräume bestimmt. Aspekte der Nutzung, der Aneignung, der Wahrnehmung, der Gefühle oder auch der ökonomischen oder gesellschaftlichen Einbindungen, habe ich in ihrer Beziehung zum physischen Raum behandelt. Doch tatsächlich trifft diese Bestimmung nicht wirklich das Arbeitsfeld der raumentwerfenden und raumplanenden Disziplinen. Raum im umfassenden zeitgemäßen Verständnis ist nichts weniger als das gesamte Geschehen unserer Lebenswelt, und unser Verständnis dieses Gegenstandes und unsere Beziehung zu ihm. Und: Ob wir Distanz brauchen oder uns auch als Teil von Raum erfahren können, bestimmen die Wahl der Aufgaben und die Weise der Bearbeitung und Ausformung unserer Lösungen. Wie ich Lebenswelt als Gegenstand der raumgestaltenden Disziplinen, vor allem Architektur, Stadtplanung, Landschaftsarchitektur begreife, was ich folglich unter Entwerfen in Praxis und Wissenschaft verstehe und wie ich es anwende hat mich immer umgetrieben und treibt mich um. Im Folgenden geht es um die Art der Definition dieses Arbeitsfeldes aus einer entwerferischen Perspektive.

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Hille von Seggern

R aumgeschehen als zeitgemässer R aumbegriff Das Feld der fachlichen Tätigkeiten der Landschaftsarchitektur und aller raumentwerfenden Disziplinen ist der komplexe Prozess des alltäglichen Lebens. Gestaltende, prozesshafte Entwicklungsfragen von Regionen, Städten oder Quartieren oder von großen Infrastrukturen, thematischen Layern sind zu den objekthaften Aufgaben wie Parks, öffentlichen Plätzen oder Gebäuden hinzugekommen. Für die Beschreibung dieses erweiterten Arbeitsfeldes bin ich – nach einer langen Reise – bei dem Begriff ›Raumgeschehen‹ gelandet, ein Geschehensblick also auf Lebenswelt. Vor mindestens zehn Jahren habe ich begonnen, den Begriff Raumgeschehen zu benutzen und in etlichen Veröffentlichungen darzulegen (Seggern/Werner 2008; Seggern et al. 2009; Seggern 2009, 2010; Seggern/ Werner/Grosse-Bächle 2008). Der Begriff hat also für mich eine lange Geschichte. Gleichwohl hole ich ihn erst jetzt in seiner grundlegenden Bedeutung für einen kreativen  forscherisch-entwerfenden Zugang zu unserem komplexen Feld in den Vordergrund. Dazu löse ich ihn vom Begriff der Landschaft ab. ›Geschehen‹ ist ein altmodisches, doch vielfach benutztes Wort, das sehr viel beinhaltet und in unterschiedlichem Umfang auch viel leisten kann. Es fasst etwas in allen Details nicht Darstellbares zusammen, bezieht sich auf das, was gerade geschieht in einer relationalen Weise, ist multidimensional, topologisch, performativ, situativ, immer in Bewegung, nahezu grenzenlos. Geschehen ist Hin und Her zwischen Form und Formlosigkeit, zeitlich und zeitlos. Geschehen hat keine Hierarchie, mischt nicht Zusammengehörendes, ist erzählerisch, filmisch, nie vollständig. Der Begriff ist zugleich ein hermeneutischer Begriff bei Gadamer (1972): Hermeneutik ist mehr Geschehen als Verstehen. Und: Verstehen ist Geschehen. Geschehen fasst also, auf eine fast pragmatische Weise, all das komplexe Wissen zusammen. Ein Wissen, das wir heute über Raum als Lebenswelt, über unseren Gegenstand in seinem Prozess haben und das in den letzten Jahren zu so vielen Auseinandersetzungen, Begriffen, (Läpple 1991; Löw 2001; Hauser 2013; Ipsen 2002; Siebel 2004) und insbesondere auch im Zusammenhang mit Landschaft (Jackson 1984; Sieferle 1997; Waldheim 2006; Prominski 2004; Seggern 2003, 2008) geführt hat. Die Debatte wurde wohl zum großen Teil ausgelöst durch die Erkenntnis, dass wir insbesondere großräumige Gegebenheiten

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nie vollständig erfassen und Entwicklungen nicht vollständig prognostizieren können – Lebenswelt also schon gar nicht. Das bedeutet also folgerichtig den Abschied von der Hybris der vollständigen Planbarkeit. Raum als die zentrale Kategorie der raumentwerfenden/planenden Disziplinen in dieser Kombination mit Geschehen, fängt nach meiner Meinung diese langjährige Diskussion um die Frage, was ist ein zeitgemäßer Raumbegriff, ein: Raumgeschehen ist multidimensional, mannigfaltig, relational, dynamisch, immer in Bewegung, komplex, als Raum-Zeit-Kontinuum oder quantentheoretisch zugleich Ding und Nichtding, Partikel und Welle oder auch zugleich space und place beinhaltend. Der nicht-hierarchische Geschehensbegriff erlaubt also auch, verschiedene Perspektiven von Raum gleichrangig nebeneinander bestehen zu lassen. Denn natürlich bleiben für jeweils unterschiedliche Zwecke und unterschiedliche Perspektiven auch unterschiedliche Raumdefinitionen sinnvoll. Der Begriff erlaubt uns die zeitgemäßen Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften oder der Mathematik zu übernehmen ohne die rechnerisch exakten oder experimentellen Beweisführungen zu benötigen. Benutzen wir also den Begriff Geschehen, um uns dem Gegenstand unseres Faches zuzuwenden. Wir tun dies mit unserem sich ständig anhäufenden fachlichen und alltäglichen Wissen und Können und unserem ständigen Üben1 im Gepäck. Es kommt hier bereits eine Beziehungsvoraussetzung ins Spiel, die uns erlaubt, mit dem komplexen Gegenstand zu arbeiten und die gewonnene Erkenntnis zu nutzen: Der Beobachter ist tot, es lebe der Beobachter. Nur über Beobachtung können wir also arbeiten; und wir wissen, dass der Beobachtende das Beobachtete beeinflusst. Unser Blick ist neugierig, es geht um ›nosing around‹2 mit offenem, neugierigem und zugeneigtem Blick auf das Geschehen und in dieses Geschehen eintauchend, Teil von ihm werdend, sich in ihm bewegend. Erst damit laden wir unsere intuitiven Fähigkeiten ein mitzuarbeiten. Rational ist das komplexe Geschehen nicht zu fassen. Natürlich braucht es spezifische 1 | Vgl. Seggern/Werner/Grosse-Bächle (2015) The power of creatig knowledge der Abschnitt »A practice of practising« und der Bezug zu Peter Sloterdijk (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Berlin: Suhrkamp. 2 | Der Begriff geht auf den Soziologen Robert Ezra Park zurück und wird beschrieben u.a. von Rolf Lindner (1990) in: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage.

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Fähigkeiten, diese Art von ›nosing around‹ anzuwenden. Dazu gibt es eine ganze Reihe von methodischen Kniffen – zu denen später. Mit dem Geschehensblick haben wir die Freiheit gewonnen, erst einmal wahrzunehmen, zu verstehen und kreativ Themen zu entdecken, Sichtweisen, oder Fragen zu stellen, die relevant, wichtig, oft unentdeckt sind. Wir sind frei von fachlich vorgegebenen Fragestellungen! Obwohl wir natürlich auch fachlich vorgegebene Gegenden mit ebenfalls vorgegebenen Fragen mit einem Geschehensblick angehen können. Nach der Entdeckung eines Themas, einer Frage oder auch nur einer Konstellation oder Situation, nachdem wir die ersten Verknüpfungen, die ersten Assemblagen kreiert haben, können wir im nächsten Schritt rational überprüfen, ob die angenommene Relevanz der Fragestellung stimmt, ob die Begeisterung, welche die Entdeckung begleitet, trägt. Wenn wir dann – und zwar dann erst! – unsere Raumbrille deutlicher aufsetzen – denn Geschehen beinhaltet ja bereits Raum – können wir genauer nach unterschiedlichen Dimensionen räumlichen Niederschlags der Frage forschen. Raum als Raumgeschehen zu begreifen, eröffnet uns die Freiheit zu entscheiden, welche seiner Dimensionen wir forscherischentwerferisch bearbeiten wollen. Manchen, die Raum liebgewonnen nur materiell und euklidisch sehen, mag die Verbindung von Raum und Geschehen wie ein Oxymoron erscheinen. Aber um es noch einmal zu sagen: Der Raum der Dinge und die euklidische Vermessung bleiben eine wichtige Dimension, die allerdings nicht hierarchisch über andere, etwa soziale oder narrative Dimensionen gesetzt wird. Mit der Betonung von Raum im Geschehensbegriff wird die Frage zugleich in aller Regel kontextuell, spezifisch und beinhaltet damit beispielsweise die Möglichkeit auch jene Hyperobjekte, wie Morton (2013) sie nennt (Erderwärmung beispielsweise), in ihrem jeweiligen örtlich-kontextuellen Niederschlag zu erkunden und zu bearbeiten. Dazu gehört es erst einmal das Geschehen ohne Bewertung wahrzunehmen, sich als Teil des Geschehens zu begreifen und zu verorten, ohne das Problem dabei sofort lösen zu können oder zu wollen.

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R aumgeschehen und urbane L andschaften Raumgeschehen ist also zunächst ein fast neutraler Begriff und zugleich als Wort durchaus poetisch, erzählerisch. Raumgeschehen erzeugt jedoch kein konkretes Bild oder eine konkrete Geschichte – daraus gewinnt der Begriff seine Kraft. Bezogen auf unsere Debatten über Natur, über Landschaft oder auch über rurale oder urbane Lebenswelt kommt Raumgeschehen erst einmal ohne diese Begriffe aus. Das erscheint mir sehr wichtig, weil Lebenswelt tendenziell zu sozial-orientiert ist; es hat sich gezeigt, dass die ›schönen‹ Bilder und Vorstellungen, die mit Landschaft und Natur verbunden sind, fast unausrottbar den Blick auf das, was Raum ist, was die Menschheit damit gemacht hat und macht, verstellt. Deshalb ist mein Plädoyer, den Begriff Landschaft, oder den landschaftlichen Blick tatsächlich erst dann zu benutzen, wenn es sich um eine entwurfliche Wahrnehmung und eine Idee für eine Gegend handelt. Dann wird das Mitspielen der Vorurteile über Landschaft, beispielsweise der Schönheit, vielleicht sogar produktiv. In dem Sinne ist dann für mich im Weiteren urbane Landschaft als entwerferischer Begriff wichtig, weil er dafür steht zur Kenntnis zu nehmen, dass es die von urbanen Prozessen unberührte Landschaft nicht mehr gibt, gleichwohl aber gerade Landschaft als eine zusammenfassende, meistens bildhafte Beschreibung einer Gegend geeignet ist, eine (jeweils neue) Zusammensicht zu leisten. Raumgeschehen als Begriff bezieht uns dagegen in unserem Handeln und Dasein ein, auch ohne den Ballast der schönen Landschaft und der gesamten Landschaftsdiskussion mitzuführen. Er passt somit auch besser in die Anthropozän-Diskussion, in der es wieder neu darum geht, die menschliche Verantwortung auszuloten.

R aumgeschehen in E ntwurfs -F orschungsprozessen  Wie aber taugt der Begriff Raumgeschehen zum Entwerfen, Forschen, Arbeiten, Handeln? Gesagt wurde weiter oben bereits, dass, um mit Raumgeschehen zu arbeiten, ein bewusstes Einbeziehen intuitiver Fähigkeiten notwendig ist. Oder anders: Der Zugang über Raumgeschehen passt zur Intuition, die wesentlicher Bestandteil von Entwerfen und des Erkenntnisvorganges im Entwerfen ist (vgl. Seggern/Werner 2008). Es gilt diesen oft verdeckten, selbst-

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verständlichen oder nur als genial und nicht zugänglich verstandenen Teil von Entwerfen, die Arbeit mit der Intuition als ›Wissen vor dem Wissen‹, explizit zu machen, dieses nicht gänzlich methodisierbare Vorgehen aber doch zu locken, einzuladen, denn nur mit der Kombination aus intuitivem und rationalem Arbeiten und dem Explizitmachen des ›Entanglements‹3 von beidem, wird es möglich, auch entwerferisch-wissenschaftlich zu arbeiten. Intuitive Fähigkeiten wiederum anzuwenden, erfordert eine lebendige Beziehung zum Gegenstand, mehr noch, um kreativ mit ihm zu arbeiten, gilt es, das jeweilige Geschehen zu verstehen: Verstehen ist Kreativität.4 Verstehen wiederum braucht eine zugeneigte Beziehung zum jeweiligen Gegenstand. Deshalb ist eine explizite Formulierung von Zielvorstellungen wichtig. Für mich heißt diese: ›ein lebendiges Leben befördern‹. Lebendiges Leben ist eine sinnhafte, kreative, gestaltende Beziehung zur Welt, nicht nur Überleben, Funktionieren, Konsumieren. Aktuell hat diese Zielvorstellung und überhaupt die Diskussion von Zielvorstellungen als Bestandteil von Wissenschaft Eingang gefunden in den Fachdiskurs, etwa am Beispiel von Hartmut Rosa als ›Resonanz‹ (Rosa 2016) oder von Andreas Weber als ›enlivenment‹ (Weber 2016) – und u.a. als Nachhaltigkeit bei Schneidewind/Singer-Brodowski (2014). Eine schöne alte Formulierung dazu stammt von Albert Schweitzer: »[…] Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will« (Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum 2007). Mir geht es darum, dieses Leben zu befördern und ästhetisch – im weiten Sinne des Wortes – handelnd zu ge3 | Entanglement meint die Verstrickung/Verknäulung des nicht klar trennbaren Intuitiven und Rationalen, das gleichwohl immer wieder explizit gemacht werden muss, um damit zu arbeiten. Entanglement wird hier als Metapher genutzt, nicht etwa exakt wie in der Quantenverschränkung. Vgl. auch Julia Werner, die Ideen als disentanglement beschreibt: Werner, Julia (2008/2015) »Ideen – woher nehmen?« in: Hille von Seggern/Julia Werner/Lucia Grosse-Bächle (Hg.), Creating Knowledge, S. 301 bzw. 218. 4 | Zu meinem Verständnis von Verstehen vgl. Seggern, Hille von (2008) »Ohne Verstehen keine Idee«, in: Hille von Seggern/Julia Werner/Lucia Grosse-Bächle (Hg.), Creating Knowledge, S. 212-252 und zum Verstehen ist Kreativität vgl. Seggern, Hille von (2012) »Understanding = Creativity: Designing Large-scale Urban Landscapes«, in: Marieluise Jonas/Rosalea Monacella (Hg.) Exposure, Melbourne: Melbourne Books, S. 63-71.

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stalten. Je nach Aufgabenstellung ist diese Zielvorstellung selbstverständlich zu präzisieren. Weiterhin braucht es Prinzipien, nach denen man mit und/oder in einem solchen Geschehen arbeiten kann. Für mich haben sich Prinzipien aus der Beschäftigung mit systemischem Denken, Komplexität, Transformation, Quantentheorie, aus dem mannigfaltigen Raum-Zeit-Begriff, der Hermeneutik und Kreativität heraus entwickelt und mein Wissenschaftsverständnis geprägt. Das Prinzip der Zusammenarbeit von Intuition und Ratio wird in den im Entwerfen üblichen Maßstäben – die anverwandelt werden, also nicht unbedingt in der Architektur üblichen Messbarkeit – nachvollziehbar und anwendbar. Dazu benutze ich eine kleine Skizze, die den Grundrahmen meines Vorgehens bildet. Dort wird die unterschiedliche Maßstäblichkeit als ›whole‹, ›dimensions‹ und ›parts‹ benannt. Die Skizze versucht das ›Meshwork‹5, oder die Assemblage des Verfahrens anschaulich zu machen: Abbildung 1: Rahmenskizze Entwurfs-Forschungsprozess

Hille von Seggern, Timm Ohrt, Stand 2016 5 | Der schöne Begriff ›Meshwork‹ wurde von Tim Ingold geprägt u.a. Ingold, Tim (2011): Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description. London/ New York: Routledge.

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Das Prinzip Ganzes, Dimensionen und Einzelnes Grundsätzlich erlaubt die Sichtweise des Raumgeschehens ein jeweiliges Ganzes in den Blick zu nehmen, ohne Vollständigkeit und ohne exakte Begrenzung – das mag eine Region sein, oder ein Thema wie Bildung oder Klimawandel. Dann können einzelne Dimensionen oder Layer wie Netze, Themen oder wie Raumtypologien, materieller Raum, soziale Gruppen, potentielle Akteurinnen und Akteure usw. betrachtet werden; und schließlich einzelne Dinge. Im entwerferischen Vokabular sind dies drei Maßstabsebenen zwischen denen wiederum Verbindungen, Relationen systemischer Art vorhanden sind. Oft ist es sinnvoll diese als Situationen zu fassen.

Das Prinzip Bewegen, Beobachten, Unmittelbar Dabeisein, Teilwerden Das Entwerfen von und im Raumgeschehen erfordert immer unmittelbares Dabeisein, Einmischen, Bewegen, eine Wahrnehmung und ein Verstehen dessen, was ist, was zeitgleich zum Gestalten in und von Lebenswelt wird. Im Erkenntnisweg erfolgt Beschreibung/Beobachtung im Wechsel mit Teilsein des Geschehens. Dies setzt eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit anderen, auch den ›Subjekten‹ einer Forschung und den Dingen, voraus.  Beim räumlichen Entwerfen ist das eigentlich immer so, aber es bedeutet auch ein Wissenschaftsverständnis des Einmischens und Handelns – ein Modus 2/3 Wissenschaft. (Nowotny/Scott/Gibbons 2001; Schneidewind/Singer-Brodowski 2014)

Das Prinzip transformatives Entwerfen Zugleich nutzt Entwerfen als Erkenntnisweise ein spezifisches Arbeitswissen der Gestaltung, um Fragen in ihren räumlichen Bedeutungen zu erkennen und zu bearbeiten, eine bewusste entwerferische Herangehensweise (in Forschung und Praxis). Es bildet sich eine eigene raumentwerfende und -forschende Disziplin, die aus den Welten des Entwerfens, der Wissenschaften und aus den Praktiken des lebensweltlichen Alltags ihre Herangehensweisen ›anverwandelt‹. Dabei geht es um Transformation: Es gibt nicht die objektiv betrachteten Forschungsobjekte, sondern Forschende und Beforschtes wandeln sich und lernen. Gleichwohl wird um Objektivierung gerungen, es geht nicht um reine Subjektivität.

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Das Prinzip Impuls  Beim entwerferischen Handeln arbeitet man immer mit Impulsen in ein ablaufendes Geschehen. Die Impulse folgen aus Thesen, aus denen Wirkungen folgen. Die Impulskonstruktion folgt dabei einer systemischen Sicht auf das Geschehen.

Das Prinzip iterativer Prozess Die Skizze zeigt zusammenfassend den entwerferischen Prozess. Ein Prozess, der sich zu Einflüssen/Erkenntnissen – mehr denn zu Lösungen – entwickelt. Er stellt sich als eine doppelte Iteration dar, ein intuitiver/emotionaler Weg, wie er für Erfindung/Kreativität unabdingbar ist und ein rationaler Weg. Zum Verständnis sind die beiden Stränge hier zeichnerisch getrennt und nur in Verflechtungsbereichen bewusste Verbindungen zwischen beiden dargestellt. Tatsächlich vermengen sich beide ständig. Aber die Verflechtungsbereiche sind besonders wichtig und schwierig in der Bearbeitung, da sie die expliziten Verbindungen zwischen den beiden Erkenntnisweisen darstellen, die es braucht, um wissenschaftlich in der Welt handeln zu können. Dann zeigt die Skizze vereinfacht die genannten drei Handlungsmaßstäbe/Ebenen • die des jeweiligen Ganzen, • die der Layer/Themen/Netze/einzelnen Dimensionen, • die des Einzelnen. Die forschende entwurfliche Arbeit springt, wechselt zwischen den Dreien und sucht Ansätze in allen Dreien, nach dem Prinzip des Impulses, um in ein Geschehen einzugreifen, es zu beeinflussen. Entsprechend müssen Impulse systemisch und relational, situativ gedacht werden. Im forschenden-entwurflichen Prozess wird diese Konstruktion, die Verbindungen und das Verständnis der drei Maßstabsebenen argumentativ kontinuierlich thematisiert und überprüft.

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U nterwegs in deutschen B ildungsl andschaften – ein E ntwurfs -F orschungsprozess Das von Sabine Rabe in diesem Band vorgestellte Projekt: ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹ macht das skizzierte Vorgehen anschaulich (Wüstenrot Stiftung 2015). Es zeigt die beispielhafte Anwendung des oben ausgeführten entwerferischen Rahmens. Das genaue Vorgehen muss jedoch in jedem Projektzusammenhang spezifisch und neu entworfen werden. Raumgeschehen wird dabei produktiv im ForschungsPraxiskontext entwurflich angewendet. In dem Projekt ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹ wurde aus dem gerade ablaufenden Umbau des schulischen Bildungssystems ein relevantes raumbezogenes Thema/eine Frage destilliert: Welche Rolle kann die Alltagswelt (noch) übernehmen, wenn die Kinder und Jugendlichen so lange in der Schule sind? Und spielt es eine Rolle und wenn ja welche, ob sich diese Alltagswelt in eher ländlichen oder eher städtischen Gegenden abspielt. Tatsächlich zeigten sich als »Gleich, gleich – aber anders« (ebd.: S. 109-123) bei aller Gleichheit der Lebensweisen, spezifische unterschiedliche ›Luxusthemen‹: so bot beispielsweise der ländliche Raum luxuriös viel Platz, der städtische, der urbane Raum hingegen ausgezeichnete Mobiltätschancen. Im ländlichen Raum gab es eine gewisse Überschaubarkeit und Gemeinschaftsorientierung während der städtische Raum eine unglaubliche Vielfalt von Menschen, Gelegenheiten und öffentlichem Raum bot. Insofern ist das Projekt ein Beispiel dafür, dass die auf dem Symposium diskutierte Begrifflichkeit des rurbanen Raumes die Realitäten trifft. Die Frage wurde über den Stand der Forschung und Kunst (Literatur) präzisiert und erläutert und durch Wanderungen in den Gebieten, durch Gespräche und einen Testlauf handhabbar gemacht. Ein Vorgehens-Set wurde entworfen, in dem filmisch und ganzheitlich kartographisch gearbeitet wurde, auf Augenhöhe mit den Jugendlichen, die ihre Aktivitäten in Karten eintrugen, übten Alltag wahrzunehmen und zu filmen. Die Jugendlichen filmten und wurden dabei professionell unterstützt; sie waren die Regisseurinnen und Regisseure der Filme, die entstanden. Damit wurde mit der Erarbeitung von Filmen durch die Jugendlichen für die Erhebung ein entwerferisch-erzählerisches Format gewählt, das für die Gruppe der Jugendlichen gut funktioniert. Zusammen mit dem Austausch der Jugendlichen aus Stadt und Land wirkte das Format zugleich erkenntnisgewinnend und transformatorisch. Im Entwurf

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der Auswertung wurde mit einem spielerisch-entwerferischen Workshop, erzählerischer Erkenntnis und Zeichnungen gearbeitet und kartographisch rückgekoppelt. Die rationale Überprüfung erfolgt über Literatur und Diskusionen der Expertinnen und Experten. Schließlich haben erfindungsorientierte entwerferische Workshops mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort das Thema in die Praxis zurückgespielt. Abbildung 2: Konzeption Forschungsvorgehen ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹

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Die Arbeit mit dem hier dargestellten Zugang über Raumgeschehen erlaubt, zunächst einmal sich in eine beliebige Gegend, auf einen beliebigen Pfad zu begeben, sich einzulassen, zu beobachten, zu beschreiben, sich auszudrücken – relevante Dimensionen wahrzunehmen und erst im Gegenüber, im Gespräch mit dem so Gefundenen, das Geschehen zu verstehen. Unabhängig von räumlichen Kategorien und Zuschreibungen, versucht man zunächst mit der Welt ins Handeln zu kommen. Mithilfe eines Geschehensblickes auf die jeweilige gesamte alltägliche Welt in ihren globalen und in ihren lokalen Manifestationen wird es möglich, jeweilige aktuelle Fragestellungen erkenntnisleitend zu entwerfen. Diese führen dann zu fachspezifischen Fragstellungen. Erst dann könnte man mit Begriffen einer rurbanen Landschaft oder überhaupt einer Landschaft wissenschaftlichentwurflich arbeiten. Vermutlich wären die Erkenntnischancen gewachsen.

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A bbildungen Abbildung 1: Hille von Seggern, Timm Ohrt, Stand 2016. Abbildung 2: Wüstenrot Stiftung (Hg.) (2015): Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung, S.  24, ergänzt 2017.

»Es ist nicht voll krass, aber anders« Jugendliche Lebenswelten in der Stadt und auf dem Land Sabine Rabe »Mein Arm hing aus dem Fenster, mein Kopf lag auf meinem Arm. Wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf, und es war das Schönste und Seltsamste, was ich je erlebt habe.« H errndorf 2010

E in S tadt-L and -A ustausch Bildung findet immer und überall statt und somit hat Bildung auch viel mit dem Raum zu tun in dem wir leben. Da sich die räumlichen Bedingungen unterscheiden, müssen sich auch die Bildungsoptionen unterscheiden. Wie und ob sie das tun, untersucht das Forschungsprojekt ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹, das im Jahr 2015-2016 im Auftrag der Wüstenrot Stiftung und gemeinsam mit Jugendlichen aus sehr ungleichen Regionen durchgeführt wurde. Die These: Bildungschancen von Jugendlichen hängen nicht allein vom Schulstandort und den dazugehörigen Bildungsangeboten ab. Sie werden auch von den räumlichen Begebenheiten, Erreichbarkeiten, den Mobilitätsangeboten sowie von demographischen und sozialen Faktoren beeinflusst. Verdichtung und Entleerung von Siedlungsräumen bilden dabei unterschiedliche Hürden und Chancen in Bezug auf die Gleichwertigkeit der Bildungsmöglichkeiten. Je nachdem wo Jugendliche aufwachsen, ist ihre Teilhabe am mannigfaltigen außerschulischen Geschehen (vgl. Hille von Seggern in diesem Band) – an den sozialen Treffpunkten,

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dem Austausch mit Gleichaltrigen, möglichen Freizeitangeboten, dem Zugang zum öffentlichen Raum – stark von den regionalen räumlichen Bedingungen abhängig. Dieser Zusammenhang zwischen Raum und Bildung wird in der gegenwärtigen Bildungsdebatte und vor dem Hintergrund der Einführung der Ganztagsschule kaum thematisiert. Bei der Gestaltung von Bildungslandschaften richtet sich der Blick vornehmlich auf das unmittelbare schulische und außerschulische Angebot und die beteiligten Akteurinnen und Akteure. Auf welche Art die Schule mit der Lebenswelt der Jugendlichen in verschiedenartigen Räumen verwoben ist, spielt dabei keine Rolle. Dabei ist längst klar, welche große Rolle der informellen Bildungswelt neben den Orten der formalen Bildung für Jugendliche zukommt (vgl. Grunert 2006). Die Frage nach der Gleichwertigkeit von Bildungschancen in Abhängigkeit zu den Eigen- und Besonderheiten der jeweiligen Region verlangt nach einer integrierten räumlichen Betrachtung der Lebenswelten. Wie funktionieren welche räumlichen Parameter als Teil einer Bildungslandschaft? Welche Potentiale und konkreten Möglichkeiten bieten unterschiedliche Regionen mit ihren landschaftlichen Charakteristika? Das Forschungsteam benennt diese ganzheitliche Betrachtung von Bildung und Raum als Bildungslandschaft. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden zwei unterschiedliche Standorte gewählt: Ein ländlicher, leicht schrumpfender Standort – Bodenfelde/Leinetal – und ein urbaner, sich verdichtender Standort – Hamburg-St.Pauli/Altona. Es wurden bewusst keine sozialen Brennpunkte und keine extrem schrumpfenden Orte ausgewählt. Es sind noch funktionierende Strukturen mit Zukunftsperspektive, aber auch ihren Schwierigkeiten mit Schrumpfungs- und Verdichtungsthemen. Acht Jugendliche aus den beiden Regionen haben ihre Erfahrungen mit diesen Forschungsfragen selbst gemacht: »Man kommt aus dem Haus und da sind einfach immer Leute.« Nele (14)1 liebt das Leben auf den Straßen von St. Pauli, dort wo ihre Austauschpartnerin Frida (14) lebt. Dagegen bewundert Frida den weiten Blick vom Balkon über die Wiesen und Felder im kleinen Dorf Amelith, in dem Nele lebt. »Sie haben alle ein riesiges Haus mit einem riesigen Balkon eigent-

1 | Sämtliche Interviewzitate entstammen dem Forschungsprojekt ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹.

»Es ist nicht voll krass, aber anders«

lich […] und einen traumhaften Ausblick.« »Alle haben Häuser mit viel Krimskrams und so.« Abbildung 1: Frida und Nele vor dem Haus in Amelith

Lilli Thalgott

Amelie (14) ist begeistert, dass ihre Austauschpartnerin Lillith (14) aus St.Pauli so spontan sein kann: »Sie kann überall hinfahren, auch direkt nach der Schule, alle fünf Minuten kommt ein Bus oder eine Bahn.« Während Lillith das eigene Zimmer in der Stadtwohnung, wie es Amelie in Oedelsheim hat, vermisst. »Die können da einfach so auf die Straße gehen ohne dass ein Auto kommt«, erzählt Yuri (15) aus Altona über das Leben von Cedric in Lippholdsberg. Kevin (14) erlebt eine Form von Freiheit als er mit Eik (14) in Oedelsheim mit dem Mofa durch den Wald düst. Und er bewundert den

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Bauwagen, in dem sich die Dorfjugend trifft: »Sie können Sachen machen und dann kommt nicht gleich die Polizei wie bei uns in der Stadt.« Eik wünscht sich eine S-Bahn für Oedelsheim, die Kevin fast vor seiner Haustür hat und damit durch die ganze Stadt fahren kann. Abbildung 2: Mofafahren mit Eik in Oedelsheim

Filmstill aus dem Film von Kevin

»Aber eigentlich sind sie wie Stadtkinder nur nicht in der Stadt!« fasst Frida ihre Begegnungen mit den Jugendlichen aus der Region Bodenfelde/Wesertal zusammen. Und Lillith drückt den Stadt-Land-Unterschied wunderbar so aus: »Es ist nicht voll krass, aber anders!« Gemeinsam mit Eik, Lillith, Cedric, Yuri, Nele, Amelie, Frida und Kevin hat ein Team aus Planerinnen und Planern sowie Dokumentarfilmerinnen und -filmern die Alltagswelten und die damit verbundenen Bildungschancen in der Stadt und auf dem Land untersucht. Sicher ist, dass das ›Stadtleben‹ und das ›Landleben‹ unterschiedliche Bildungsoptionen beinhalten. Aber wie sehen diese Lebenswelten heute genau aus? Und unterscheiden sich Alltagswelten und die Bildungsoptionen der Jugendlichen auf dem Land und in der Stadt wirklich so sehr?

»Es ist nicht voll krass, aber anders«

Abbildung 3: Das Forschungsteam

studio urbane landschaften – unterwegs

Das Team der Arbeitsgemeinschaft studio urbane landschaften – bildung verfolgte diese Fragestellung zusammen mit den acht Jugendlichen. Vier der Jugendlichen stammen aus dem strukturschwachen Raum im SüdOsten Niedersachsens. Das Pendant bildeten vier Jugendliche aus dem Stadtgebiet Altona – Altstadt/St. Pauli. Über den Kontakt zu zwei ansässigen Schulen wurde in einer Art Castingshow Nele, Amelie, Cedric, Eick, Frids und Lilith gefunden. Im Rahmen eines Austausches besuchten sich die Jugendlichen dann gegenseitig für vier Tage. Bei diesen Besuchen bestand die Aufgabe dann darin, miteinander den ganz normalen Alltag zu verbringen. Zuerst fuhren die Stadtkinder auf das Land und anschließend besuchten die Landkinder die Stadt. Sie lebten in den Familien ihrer jeweiligen Austauschpartnerinnen und -partner und hatten damit einen tiefen Einblick in die alltäglichen Abläufe. Gleichzeitig bestand die Aufgabe des Besuchs darin, den Alltag der Gastgeberin bzw. des Gastgebers filmisch zu dokumentierten. Im Ergebnis sind eine Menge Rohmaterial und acht geschnittene Filme entstanden. Das Material lässt einen tiefen Einblick in die besonderen, aber vor allem banalen alltäglichen Alltags-

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abläufe der Jugendlichen zu. Die Filme erzählen Alltagsgeschichten über das Leben der Jugendlichen auf dem Land und in der Stadt. Abbildung 4: ›Unterwegs mit Frida ist viel und schnell‹ Erzählung einer individuellen Bildungslandschaft

Filmstills aus dem Film von Nele

Ein Auswertungsschritt war die Übertragung des Filmmaterials in Portraits und individuelle Erzählungen der Jugendlichen und die Darstellung dieser individuellen Bildungslandschaften in Karten. Die in den Filmen gezeigten und in Gesprächen thematisierten Situationen und Wege wurden, mit Hilfe der Karten, in einem räumlichen Zusammenhang dargestellt. Die Karten zeigen wichtige und wiederkehrende Orte ihres Alltags, Situationen, Wege, Zusammenhänge, Landschaftsräume, die eine Rolle spielen. Sie geben einen Überblick über die individuellen Bildungslandschaften der Jugendlichen und stellen einen Zusammenhang zwischen Alltag und Raum her. Die individuellen Karten der Jugendlichen auf dem Land und in der Stadt wurden jeweils vom Forschungsteam überlagert. In ihrer Summe erzählen die individuellen Geschichten viel über die Bildungslandschaft Hamburg-Altona/St. Pauli und die Bildungslandschaft Bodenfelde/Wesertal. Sie zeigen wie die Jugendlichen die räumlichen Bedingungen ihres Lebensraumes nutzen – oder auch nicht nutzen.

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Abbildung 5: Karte der individuellen Bildungslandschaft von Kevin(St. Pauli)

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Abbildung 6: Karte Bildungslandschaft Hamburg-Altona/St. Pauli (Überlagerung aller individuellen Bildungslandschaften)

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Die gewonnenen Materialien – Filme und Karten – geben Aufschluss darüber, wie sich die Jugendlichen organisieren, vor welchen Herausforderungen sie stehen und wie sie familiär eingebunden sind. Ergänzend fanden Gespräche mit den Jugendlichen statt. Das Team war in ständigem

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Austausch mit den Jugendlichen: in einem vorbereitenden Workshop, in Gesprächen vor und nach dem Austausch, in einem Interview mit etwas Abstand nach einem gemeinsamen Kinoabend. Die Jugendlichen haben durch ihre gewonnenen Erfahrungen – mit dem Blick auf die andere Welt – die Unterschiede und Ähnlichkeiten gut beschreiben und vergleichen können. Inwieweit unterscheiden oder gleichen sich die Lebenswelten? Welche Rolle spielen die räumlichen Charakteristika für die Bildungslandschaften und die Bildungschancen der Jugendlichen?

G leich , gleich , aber anders Das Forschungsteam hat auf Grundlage der Materialien Luxusthemen und Kippthemen der jeweiligen Region herausgearbeitet. Der Luxus beschreibt den Überfluss, den die Jugendlichen in der Stadt oder auf dem Land haben und das Kippthema beschreibt den Mangel, den die Jugendlichen in Zukunft haben könnten bzw. heute schon haben. Für Bodenfelde/Wesertal wurden folgende Luxus- und Kippthemen ausgemacht, die in der Veröffentlichung ausführlicher erläutert werden (vgl. Wüstenrot Stiftung 2015: 118-119):

Luxus Land • Luxus Platz und unbeobachtete Räume Die Stadtjugendlichen bewunderten auf dem Land vor allem die Wohnsituation in großen Häusern: »So ein großes Zimmer hätte ich auch gern.« (Frida) Vor allem aber sind es die scheinbar unbeobachteten Räume wie der Bauwagen auf der Wiese in Oedelsheim, die eine ganz besondere Qualität haben. • Luxus Überschaubarkeit und Gemeinschaft »Man kennt sich.« (Nele) Die Strukturen und Möglichkeiten sind überschaubar und damit finden die Jugendlichen auch leichten Zugang zur Gemeinschaft und zu den Angeboten.

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• Luxus zeitliche Freiräume und Ruhe »Ich hab ganz gern die Ruhe in meinem Dorf. […] Ich bin manchmal ganz froh, dass es was ruhiger ist, dass ich Freizeit für mich habe, wo ich mich ins Bett legen kann und nichts tun kann.« (Nele) Wenn die Jugendlichen in der Region Bodenfelde nach der Schule nach Hause kommen, ist dort erst mal nichts los. Das genießen die meisten bis der nächste Programmpunkt ansteht. • Luxus räumliche Spezifika und das Wissen des Landes »Speziell gegen das Dorf habe ich nichts. Man kann da viel machen, wenn man gerne in der Natur ist.« (Lillith) Die landschaftlichen Bedingungen bieten ein großes Potential für Sportarten und Möglichkeiten der Entfaltung. Auch ist die Reizarmut und die Ruhe ein hohes Gut. Es ist ein Potential, das von den Jugendlichen auf dem Land nur selten wahrgenommen und auch genutzt wird. Abbildung 7: Luxus Land: unbeobachtete Räume: Bauwagen in Oedelsheim

Filmstill aus dem Film von Kevin

Kippthemen Land • Kippthema Angebote und Vereinswesen »Es ist wirklich schön, dass es jetzt das Zumba-Tanzen gibt. Wir haben hier ja sonst nichts außer Einradfahren, Leichtathletik und Fußballspielen. Wenn das einen nicht anspricht, dann hat man nichts, was man machen könnte.« (Nele) Die Auswahl der Angebote ist klein. Nele hat es auf

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den Punkt gebracht: Wenn man mehr oder andere Dinge machen will, muss man weit fahren. • Kippthema Mobilität und selbstbestimmtes Unterwegssein »Wir müssen immer alles absprechen und organisieren.« (Amelie) Die Jugendlichen kommen überall hin, sie und ihre Eltern sind gut organisiert, zusätzlich fahren die Busse relativ regelmäßig und die Vereine organisieren ebenso den Transport. Doch wenn die Bereitschaft der Gemeinschaft fehlt, dann gibt es ein Problem. • Kippthema Gleichaltrige treffen »Ohne Mona wäre ich hier (in Amelith) verloren.« (Nele) Allein im Dorf nach der Schule – das kann auf dem Land schnell passieren. Die Schule spielt darum eine wichtige Rolle. Hier kommt die Region zusammen. Abbildung 8: Kippthema Land: selbstbestimmte Mobilität: Neles Familie organisiert die Woche

Filmstill aus dem Film von Frida

Luxusthemen Stadt • Luxus Mobilität und selbstbestimmtes Unterwegssein »Sie kommen aus der Schule, überlegen sich, wohin sie fahren wollen, und fahren los« (Nele). Die Jugendlichen in Hamburg scheinen alle Möglichkeiten zu haben, da sie mit dem Bus oder der Bahn immer spontan und selbstbestimmt dorthin kommen, wohin sie wollen. Doch die Ausflüge ins Kino, in die Innenstadt sind ebenso geplant. Die Spontanität

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findet im eigenen Quartier statt. Der Luxus ist die räumliche Nähe an Möglichkeiten. • Luxus öffentlicher Raum, Vielfalt an Menschen, Räumen, Aktionen »Ich finde das schön, dass einem überall Menschen begegnen. Man sieht immer irgendwo was Neues. Man kommt auf die Straße und da sind dann sofort ganz viele Menschen. Das finde ich toll.« (Nele) Sehen und gesehen werden! Die ›Städter‹ haben den öffentlichen Raum als spannenden Aufenthaltsort. Sie können ohne großen Aufwand am öffentlichen Leben teilhaben. Es ist immer etwas los. Doch der Konsum winkt auch an jeder Ecke. • Luxus Angebote und Vereinswesen »Die vielen Möglichkeiten, die sie hier hat. Frida hat ja ein riesiges Angebot an Sportangeboten – und wenn es auch nicht in ihrem Stadtteil ist. Man kommt ja überall schnell hin.« (Nele) Die Möglichkeiten scheinen in der Stadt schier endlos. Das Angebot von normalen bis hochprofessionellen Fördermöglichkeiten zu haben. Es ist jedoch auch unübersichtlich und die Angebote sind dann doch oft überlaufen. Die Jugendlichen brauchen Menschen, die ihnen den Zugang zeigen. • Luxus räumliche Spezifika und das Wissen der Stadt »Der Hafen ist mein Lieblingsort. Ich komme oft um den Schiffen beim Ein- und Auslaufen zuzuschauen, besonders die Kreuzfahrtschiffe […].« (Kevin) Die Jugendlichen kennen ihre Stadt, ihre Sehenswürdigkeiten, die großen Arbeitgebenden. Sie wissen auch um die Probleme der sich verdichtenden Stadt, wie die Gentrifizierung. Sie reflektieren viele Themen des Stadtlebens selbstbewusst und fundiert. Vor allem aber können sie das selbstbestimmte Unterwegssein in ihren Alltag einbauen.

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Abbildung 9: Luxus Stadt: öffentliche Raum, Sehen und Gesehenwerden

Filmstill aus dem Film von Cedric

Kippthemen Stadt • Kippthema Unbeobachtete Freiräume »Manchmal treffen wir uns in der Mitte der Häuser […]. So etwas wie der Bauwagen, das fehlt hier wirklich. Es gab mal einen Bauspielplatz neben der Kirche um die Ecke, da hat man viel gemeinsam gemacht. Den haben sie dann geschlossen. der war auch immer betreut.« (Kevin) Es gibt wenig von Erwachsenen nicht kontrollierte und institutionalisierte Räume in der Stadt. Die selbstbestimmte Aneignung ist nur mit behördlichen Auflagen (und dann wiederum mit Erwachsenen) möglich. Der öffentliche Raum bietet Ansätze von Unbeobachtetsein. Sich diesen anzueignen trauen sich die wenigsten Jugendlichen. • Kippthema Zugänglichkeit von Angeboten Angebote und spezifische Projekte stehen den Jugendlichen in der Stadt in einer großen Bandbreite zur Verfügung. Doch was nützt die Vielfalt, wenn die Jugendlichen die Möglichkeiten nicht kennen oder keinen Zugang finden? Das Angebot ist groß, die Hürden für einen Zugang sind aber ebenso groß. Die Jugendlichen brauchen Möglichmachende, die ihnen die Möglichkeiten darstellen und zeigen, wo sie sind und an wen sie sich wenden müssen. Auch die finanziellen Hürden sind oftmals enorm.

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• Kippthema Zeitliche Freiräume und Ruhe »Mir fällt voll viel ein, aber ich kann es nicht so umsetzten. […] Ich komme gegen vier Uhr nach Hause. Da bin ich dann erst mal voll fertig. Da chille ich dann so rum, oder mit dem Handy mache ich dann so. Wir kriegen ja keine Hausaufgaben auf. Aber ich will ja nicht hängen bleiben. Dann gucke ich mir lieber noch mal Vokabeln an oder organisiere meinen nächsten Tag.« (Lilith) Meist sind die Jugendlichen nach einem langen Ganztagsschultag nicht gleich wieder auf dem Sprung. Sie brauchen Zeit, sich auszuruhen. Das tun sie meist zu Hause oder auch gar nicht. Die verkürzte ›Freizeit‹ nach der Schule und ein dichtes Programm an Musik- und Sportterminen, wie auch die Vertiefung des Schulstoffs lassen die freie Zeit schrumpfen. Abbildung 10: Kippthema unbeobachtete Freiräume: Es gibt kaum Entfaltungsräume

Filmstill aus dem Film von Nele

Beide Bildungslandschaften lassen sich durch die jeweils unterschiedlichen Luxus- und Kippthemen charakterisieren. Die Themen helfen, um die Herausforderungen, welche die räumlichen Bedingungen mit sich bringen, zu beschreiben. Es wird deutlich, dass die beiden Räume trotz der räumlichen Unterschiede als Bildungslandschaften für die Jugendlichen auf dem Land und in der Stadt funktionieren. Sie tun dies jeweils auf ihre eigene Weise. Die Bildungslandschaften können als gleichwertig, trotz unterschiedlicher sozialer, räumlicher und organisatorischer Bedingungen, beschrieben werden. Jede Bildungslandschaft hat ihre Vor- und Nachteile.

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Auch die Jugendlichen haben keine besonderen Nachteile der Lebenswelt der anderen hervorgehoben und das Forschungsteam hat keine gravierenden Benachteiligungen eines Standortes gefunden. (Hier ist nochmal zu erwähnen, dass es sich um keine extrem problematischen Standorte handelt.) Nachdem oben die Standortspezifischen Luxus- und Kippthemen erläutert wurden, wird im Weiteren die Gleichwertigkeit beider Standorte diskutiert. Diese Diskussion wird anhand der entwickelten Aspekte einer guten Bildungslandschaft geführt: • • • • • •

Wohnsituation und Familie, Unterwegssein (Zugang zu Aktivitäten, Milieus und Räumen), Freie Zeit und Freiräume, Das Handy ist immer dabei – Mediennutzung, Schule, Möglichmachende, Unterstützerinnen und Unterstützer, Das Wissen der Stadt/Das Wissen des Landes.

Die Luxus- und Kippthemen wurden unter diesen Aspekten einer ›funktionierenden‹ Bildungslandschaft noch mal genauer beleuchtet. Im Folgenden wird ein Auszug dieser Gleichwertigkeitsdiskussion anhand der Aspekte Unterwegssein aus der Veröffentlichung ›Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften‹ wiedergegeben: »Unterwegssein (Zugang zu Aktivitäten, Milieus und Räumen): Übereinstimmend hat das unmittelbare Wohnumfeld für alle Jugendlichen eine große Bedeutung. Was für die Jugendlichen in der Stadt das Quartier, ist für jene auf dem Land ihr Dorf.«

Abbildung 11a-b: Streifräume St. Pauli, Streifräume Oedelsheim

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Obwohl die Streifräume auf dem Land und in der Stadt ähnliche Größen aufweisen, fallen Angebotsdichte, räumliche und soziale Vielfalt ganz unterschiedlich aus. Die Jugendlichen auf dem Land finden aufgrund des großen Platz- und Raumangebots gute Aneignungsmöglichkeiten vor, um unter sich zu sein (Luxus Land: Platz und unbeobachtete Räume). Im Gegenzug bietet der öffentliche Raum kein so großes Maß an Vielfältigkeit und Diversität. Dies gilt sowohl für die Menschen, die sich hier bewegen, als auch hinsichtlich der Vielfalt der Räume. Die Jugendlichen auf dem Land verfügen nur über ein beschränktes Angebot an organisierten und angeleiteten Freizeitaktivitäten. Für erweiterte Angebote sind sie darauf angewiesen, ihren Streifraum zu verlassen, um sich in den Nachbarort fahren zu lassen (Kippthema Land: Angebote und Vereinswesen). Das Gleiche gilt in Bezug auf ihre Schulfreundinnen und -freunde, die nicht alle im Ort wohnen, und zu denen sie fahren bzw. sich fahren lassen müssen, um sie zu treffen (Kippthema Land: Gleichaltrige treffen). Der Streifraum der Stadtjugendlichen ist grundsätzlich fast beliebig erweiterbar (Luxus Stadt: Mobilität und selbstbestimmtes Unterwegssein). Sie könnten sich die Stadt zu Fuß, per Rad, mit Bus oder Bahn spontan und ohne die Hilfe von Erwachsenen erschließen. Dies tun sie zielgerichtet und organisiert. Beispiele: Verwandtschaftsbesuche, zum Fußballspiel fahren, in die Innenstadt fahren. Auch die Jugendlichen auf dem Land besprechen und planen gezielt Ausflüge nach Göttingen oder entferntere Besuche gemeinsam mit ihren Eltern. Mit Ausnahme einiger Sportflächen gibt es in der Stadt nur wenige Räume, die explizit für Jugendliche vorgehalten werden und die sie allein nutzen können. Wenn sie sich in die Anonymität der öffentlichen Räume begeben, stehen sie meist unter Beobachtung (Kippthema Stadt: Unbeobachtete Freiräume). Die Aneignung abseitiger und unbeobachteter Orte ist schwierig. Meist gibt es Eigentumskonflikte und behördliche Auflagen. Während auf dem Land diese Aneignungsmöglichkeiten gegeben sind, fehlt es dort an der Diversität des städtischen öffentlichen Raumes. (Wüstenrot Stiftung 2016) Die Studie hat bestätigt, dass die o.g. Aspekte einer funktionierenden Bildungslandschaft in beiden Untersuchungsräumen gegenwärtig noch gegeben sind. Alle acht Jugendlichen verfügen über zeitliche, räumliche und soziale Freiräume, sind mobil, erhalten Zugang zu Angeboten, können Gleich-

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altrige treffen, haben Möglichmachende/Unterstützende (Familie, Institutionen), Zugang zu Arbeitswelten und Umgang mit virtuellen Medien. Die Kippthemen weisen auf mögliche Defizite eines Standortes hin, die nicht aus den Augen verloren werden dürfen. Die Einführung einer Ganztagsschule auf dem Land hat zum Beispiel ganz andere Folgen als in der Stadt. Die Jugendlichen würden beispielsweise ihre freie Zeit und ihren Streifraum auf dem Dorf verlieren. Während das Quartier in der Stadt mit einem Ganztagskonzept einfacher verknüpft werden kann. Bisher können noch alle die regionalen räumlichen Spezifika nutzen. Sie sind nicht gleich, aber die acht Lebenswelten der Jugendlichen sind als gleichwertig zu betrachten. Frida aus St. Pauli hat es auf den Punkt gebracht: »Es ist nicht voll krass, aber anders!« Dennoch: die Räume unterscheiden sich! Das erzählten auch die Jugendlichen im Rahmen eines Interviews, das mit etwas Abstand zum Projekt und nach einem gemeinsamen Filmabend geführt wurde. Die Frage lautete: Was würdet ihr dem Land schenken? Und was würdet ihr der Stadt schenken? Sie wünschten beispielsweise dem Land die städtischen Verkehrsinfrastrukturen, reflektierten aber gleichzeitig: »Wenn man zum Beispiel all die großen Sachen auf das Land bringen würde, dann wäre das Land ja nicht mehr Land. Das wär ja schade.« (Nele über das Wesertal) »Weil man so eine gute Verkehrsverbindung hat, ist es ja auch so laut hier.« (Frida über St. Pauli) Und so muss auch die Entwicklung einer Bildungslandschaft auf Grundlage ihrer räumlichen Potentiale und ihrer Kippthemen gemeinsam mit den Jugendlichen und Akteurinnen und Akteuren vor Ort weiterentwickelt werden. Denn die Jugendlichen haben gute Ideen, sie wissen meist was sie brauchen. Und eine gute räumlich gedachte Bildungslandschaft ist nicht einfach so da. Sie muss zuerst einmal verstanden werden und sie braucht vor allem Wertschätzung, Anstöße, Austausch und gute Ideen.

B ildungsl andschaften entwickeln Auf Grundlage der Erkenntnisse der Studie und in der Arbeit mit den Jugendlichen wurden drei Aspekte zur Entwicklung von Bildungslandschaften für die Arbeit der Kommunen und Städte benannt:

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• »Die Lebenswelt der Jugendlichen in der Region und wie sie darin unterwegs sind kennen- und verstehen lernen.« • »Räumliche Darstellung der Bildungslandschaft in einer fortschreibbaren Karte. Die Potentiale und kritische Themen (Luxus- und Kippthemen) identifizieren und sichtbar machen.« • »Gemeinsam mit den Jugendlichen Projekte und Kippthemen identifizieren und sichtbar machen.« (vgl. Wüstenrot Stiftung 2015: 135ff.) Für jeden Aspekt wurden Projektbeispiele für Kommunen ersonnen, die aufzeigen, mit welchen Projekten beispielsweise die Bildungslandschaft der Region entwickeln kann. Abbildung 12: Projektbeispiel zu Punkt 1 Lebenswelten von Jugendlichen verstehen: »4 Tage mit dem Mädchen und dem Jungen aus dem Nachbarort leben«

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Abbildung 13: Projektbeispiel zu Punkt 2: Bildungslandschaft in einer bildhaften Karte darstellen: ›Die Möglichmacher‹

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Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde gemeinsam mit den Jugendlichen erprobt, wie Ideen für ihre ortsspezifischen Themen entwickelt werden können. Dieses Vorgehen nimmt Bezug auf den Punkt 3 »Über Luxus- und Kippthemen Bildungslandschaften entwickeln und das Wissen des Raumes erschließen«. Hierfür wurde ein Spiel erfunden, in dem jeweils ein Mangel mit neuen Ideen behoben werden musste:

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Stadt Land Fiction Abbildung 14: Werkstatt Stadt Land Fiction

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Auf Grundlage der Luxus- und Kippthemen wurden Ereignisse ersonnen, die Ideen für Lösungsvorschläge für die Bildungslandschaft brauchen. So gab es für den ländlichen Raum Bodenfelde das Szenario: ›Totale Pleite! Alle Vereine und Organisationen in Bodenfelde und Umgebung müssen schließen, weil der Gemeinderat sich mal wieder verrechnet hat und für das Vereinswesen kein Geld mehr da ist. Jetzt müsst ihr ran und euren eigenen Verein/Club gründen! Wie würde dieser Verein heißen? Was würdet ihr machen?‹ Die Jugendlichen haben folgende Lösungen gefunden: • »Basketballverein. Ich mache mit meinem Verein Basketballtraining.« • »Ich habe meinen Verein ›NBC‹ genannt = ›Natürlich Basketball Club‹.« • »Ich hätte gerne einen Verein, der Ballett oder Kickboxen anbietet, also neue Sportarten. Der Verein würde einfach ›Sportverein Bodenfelde‹ heißen.«

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• »Mein Verein würde heißen ›Bodenfelder Helden‹. Es wär ein sozialer Verein, wo alle Anwohner mithelfen könnten und tolle Ideen sagen, die sie für die Stadt vorschlagen.« Die Ideen der Jugendlichen waren mal verrückt, träumerisch und mal sehr realistisch. In allen Gedanken stecken Anknüpfungspunkte für Projekte, die auf bauend auf den Ideen gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren der räumlichen Planung und der Kinder- und Jugendressorts weitergedacht und umgesetzt werden können. Das Projektbeispiel ›Moving Village/City‹ (vgl. Abb. 15) setzt zum Beispiel an einem Szenario des Spieles Stadt-Land-Fiction an und wurde auf Grundlage der Ideen der Jugendlichen vom Forschungsteam weiterentwickelt. Abbildung 15: Projektbeispiel ›Moving Village/City‹

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D ie S tudie und nun ? In einem weiteren letzten Schritt hat das Forschungsteam ein ähnliches Spiel noch mal mit Gemeinde- und Behördenvertreterinnen und -vertretern sowie Bildungsakteurinnen und -akteuren in einer Ideenwerkstatt in Bodenfelde und einer Werkstatt in Hamburg-St. Pauli gespielt. In einem Werkstattrahmen mit geladenen Akteurinnen und Akteuren der räumlichen Planung und Bildung wurde getestet, wie aus der Studie konkrete räumliche Projekte werden können. Die Studie wurde allen Beteiligten noch mal vorgestellt und vor allem die Luxus- und Kippthemen der jeweiligen Region ausführlich erläutert. Anknüpfend an diese Themen wurden umsetzbare Projektideen für die jeweilige Region entwickelt. Die Frage an die Akteurinnen und Akteure und ihre Bildungslandschaften lautete: Was ist das lustigste Projekt? Was ist das am schnellsten umsetzbare Projekt? Was ist das dringendste Projekt? Die Ideen reichten von der Vernetzung der Hinterhöfe in St. Pauli, um einen jugendgerechten Streifraum mit ›Freiräumen‹ im dicht besiedelten Quartier zu schaffen, über ein Konzept für temporäre Nutzungen auf dem Heiligengeistfeld, auf dem dreimal im Jahr der Jahrmarkt Dom stattfindet und zwischendrin gut als Bewegungs- und Experimentierraum genutzt werden kann. Oder einer regionalen Bildungskonferenz, die von den Jugendlichen selbst durchgeführt wird. Abbildung 16: Beispiel Projektportrait für Hamburg-St. Pauli: Öffnung der Innenhöfe

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In Bodenfelde wurden ebenso Ideen im gleichen Werkstattrahmen ersonnen. So überprüft nun beispielsweise der Schuldirektor in Bodenfelde gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern die Nachmittagsangebote der Schule und entwickelt diese weiter. Eine weitere Idee ist eine Buslinie, welche die Jugendlichen kostenfrei von Ort zu Ort bringt: ›Rundreise der Linie 194‹, um die eigenständige Mobilität von Kindern und Jugendlichen auf dem Land zu stärken. Ein Musikfestival von Jugendlichen für Jugendliche in der Region war beispielsweise ein Projekt, das den Akteurinnen und Akteuren als lustigstes Projekt am meisten Freude bereitete. Für alle Projekte wurden Projektpartnerinnen und -partner und konkrete Orte benannt (vgl. Wüstenrot Stiftung 2016). Abbildung 17: Beispiel Projektportrait Jugend-Musikfestival für Bodenfelde/ Wesertal

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L os geht es! Die Studie ist nur der Anfang. Es gilt, genau hinzuschauen, wie die Jugendlichen ihren Alltag verbringen und welche Bedürfnisse sie haben. Diese sind wahrscheinlich in jedem Raum anders und es gibt gewiss Räume, die extremere Themen und Probleme beinhalten, als die beiden Orte dieser Studie. Eine Abbildung der spezifischen Bildungslandschaften ist daher nötig! Die Arbeit mit Luxus- und Kippthemen beleuchtet die positiven Aspekte wie auch die Aspekte, die schwere Voraussetzungen

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und Hürden für die Jugendlichen schaffen. Die Herangehensweise bleibt aber in keinem Fall im Problematisieren haften. Sie findet Lösungen, die an die räumlichen Bedingungen anknüpfen. Wir müssen positive Bilder – egal ob in der Stadt oder auf dem Land – gemeinsam mit den Jugendlichen und Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinden schaffen und vor allem auch Ideen umsetzen, die mit den räumlichen Luxusthemen arbeiten und die Bildungslandschaft stärken. Mit Hilfe der Kinder und Jugendlichen können wir ihre Lebenswelten mit ihren Herausforderungen und Ansprüchen am besten verstehen und nur gemeinsam mit ihnen können Bildungslandschaften in die Zukunft gedacht werden. Bildung findet immer und überall statt.

L iteratur Herrndorf, Wolfgang (2010): Tschick, 14. Aufl., Berlin: rororo. Wüstenrot Stiftung (Hg.) (2015): Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung. — (2016): Die Studie und nun? Dokumentation der Werkstätten: Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung.

A bbildungen Abbildung 1-17: Arbeitsgemeinschaft studio urbane landschaften – unterwegs.

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Rurbanität als Sozialraum Jugendliche in der Thüringer Peripherie und die Verhandlung eines urbanen Lebensstils Frank Eckardt Die Veränderungen der gesellschaftlichen Räume in der fortgeschrittenen Moderne haben viele Diskussionen hervorgebracht, die die Frage nach neuen Raum-Typologien virulent werden ließ. Auffallend dabei sind Versuche, um weiterhin an Begrifflichkeiten festzuhalten, die sich aus der stadtplanerischen Perspektive folgerichtig erscheinen mögen, die aber in vieler Hinsicht den sowohl morphologisch-materiellen wie auch den gesellschaftlichen Prozessen nicht entsprechen, die Landschaftsplanerinnen und -planer (vgl. Langner 2016) und Stadtsoziologinnen und Stadtsoziologen gleichsam beobachten. Diesen Beobachtungen ist gemein, dass sie sich von den kategorisierenden Beschreibungen ›Landschaft‹ und ›Stadt‹ als Gegenstand ihrer Forschung lösen, um für die sich entwickelnde gesellschaftliche Raum-Produktion (vgl. Schrödel 2014; Becker/Tuitjer 2016) eine angemessene Beschreibung zu finden. Mit dem Neologismus ›Rurbanität‹ wird ein solcher Versuch unternommen, der sich daran messen lassen muss, ob er die herkömmlichen Erklärungen für das rurale wie das kleinstädtische Leben erweitern, ergänzen oder eventuell sogar ersetzen kann. Alltägliche Lebenspraktiken, Sinnorientierungen, ästhetische und naturbezogene Gestaltungsideen, Imaginationen von Orten der Sehnsucht und Angst, Handlungskonzepte und normative Vorstellungen scheinen sich nicht mehr anhand der dualen Stadt-Land-Widersprüchlichkeit zu verdeutlichen und grüne Städte wie urbane Dörfer lassen solche binären Einteilungen irrelevant erscheinen. Mit einem neuen Begriff ist aber das Erkenntnisproblem nicht gelöst, dass mit einer verschmelzenden Stadt-Landschaft, verstädterten Landschaften und einer rurbanen Gesellschaft auftritt. Vielmehr ist der

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Umgang mit diesen neuen fließenden Räumen Teil einer ›peripheren Gesellschaft‹ (Eckardt 2002) geworden, in der die Bedeutung von Räumen als solche zur Disposition steht. Die individuelle Neu-Interpretation vorhandener räumlich-gesellschaftlicher Dynamiken findet vor allem immer dann statt, wenn wichtige persönliche Entscheidungen anstehen. Das betrifft insbesondere biographische Umbruchphasen. Während durch eine erhöhte Mobilität, Flexibilität und Ortswechsel eine beruflich bedingte Permanenz von Umbruch teilweise zur Norm geworden ist, gelingt der Eintritt in diese polyräumliche Welt nur dann, wenn sie sozialisatorisch vorbereitet wird. Das bedeutet, dass in der als Jugend titulierten Lebensphase vor Eintritt in das anspruchsvolle Alter der ökonomischen, sozialen und kulturellen Konkurrenz, die Fähigkeit erworben werden muss, eine Form von ›Patchwork‹-Identität aufzubauen (vgl. Ferchhoff 2007). Zu dieser Identitätsarbeit gehört ein plurales Raumverständnis, das in der Jugendforschung bislang nur wenig berücksichtigt wurde. Die vorliegenden Studien sind zumeist mit einer unausgesprochenen Selbstverständlichkeit großstädtisch kontextualisiert. Eine Ausnahme bildet hierbei Wehmeyers Arbeit (2013), die sich aber auf den öffentlichen Raum in Kleinstädten beschränkt. Diese Vergleichsstudie zwischen Vlotho und Dortmund behandelt zudem beide Räume als zunächst nach Größe zu kategoriesierende Räume und operiert mit einem Konzept von Raumaneignung, das die Bedeutung von externen Räumen für die Sozialraum-Konstruktion von Jugendlichen nicht berücksichtigt. Damit fällt aber insbesondere für periphere Räume die wichtige Entscheidung, ob man bleiben oder gehen soll, als alles durchdringende Problematik aus der Untersuchungsperspektive heraus (vgl. Becker/Moser 2013). Wenn diese Problematik aufgegriffen wird, dann ist eine Berücksichtigung des speziellen sozialen Umfelds notwendig, um die Möglichkeiten von Bleibe-Strategien zu analysieren (Wochnik 2014). Die in diesem Kapitel vorgestellte Studie widmet sich insbesondere diesem Aspekt und legt dabei den argumentativen Ausgangspunkt bei der Bedeutung der lokalen Konstruktion von Narrativen – in diesem Fall: der Lethargie – mit Bezug auf die Rahmung von leitenden Kategorien der Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Rurbanität als Sozialraum

E ine S oziologie des R urbanen Im Grunde hat sich schon früh in der Stadtsoziologie die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Beschreibung der Stadt als anonymisierte und individualisierte Gesellschaft, wie sie noch von Georg Simmel in seinem berühmten Essay über das ›Geistesleben in der Großstadt‹ angenommen wurde und wie es Ferdinand Tönnies mit seiner Gegenüberstellung von Stadt gleich Gesellschaft und Dorf gleich Gemeinschaft behauptet wurde, die Vergemeinschaftungen in der Stadt nicht angemessen wiedergeben kann. Dass sich ein urbaner Lebensstil kaum einheitlich beschreiben lässt, dürfte für viele Stadtsoziologinnen und Stadtsoziologen ein lang bekanntes Problem sein, für einen nicht-städtischen Lebensstil ist eine solche Problematisierung hingegen weniger präsent. Im Kern entlarvt sich die Debatte um den ›urban way of life‹ als eine Idee von Urbanität, die sich eher großstädtisch-metropolitan von einer Vorstellung von Größe und Diversität leiten lässt. Die Soziologie des Urbanen generiert ihre gegenläufigen Denkbilder: die Kleinstadt, das Dorf und das Landleben. Diese Alternativbegriffe und die damit einhergehenden Raum- und Gesellschaftsvorstellungen wurden bislang als Kontrastfolie zu der diversen und individualisierten StadtGesellschaft entwickelt (Bell/Jayne 2006). Eine intrinsische Erkundung jener Orte, die nicht zuerst durch das Raster des Urbanitätsdiskurses fallen und somit nicht als Dorf, Kleinstadt oder rurale Gemeinschaft gelabelt wurden, liegt nicht vor. Befragungen (Gatzweiler 2012) verweisen darauf, dass die Größe der Stadt keine Bedeutung auf die lokale Lebenszufriedenheit hat. Die wirtschaftliche Lage, der Wohnstatus und die Nähe zu Großstädten stellen demnach die wichtigsten Bedingungen dar, damit Menschen sich ungeachtet von der Einwohnerzahl außerhalb der Metropolen zufrieden fühlen. Landschaft und Naturnähe werden kompensatorische Effekte zugesprochen, die angeblich fehlende Angebote der Großstadt aufwiegen. Ob es eine solche Kausalität gibt, bleibt jedoch fraglich. Bekannt ist hingegen, dass die räumliche Abgeschiedenheit von den Befragten als eindeutig benachteiligender Umstand gesehen wird (McKnight et al. 2016). Insgesamt verweisen die Befunde auf die Notwendigkeit, sich mit Hinblick auf die Erkundung von Gesellschaftsräumen und Lebensumständen von der Bedeutung eines urban-ruralen Kontinuums zu verabschieden. Distanz zu den urbanen Zentren ist der wesentliche Aspekt,

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der die lokalen Dynamiken beherrscht – ungeachtet von der Konstitution als Kleinstadt, Dorf oder ländlicher Kommune. Eine potentiell geringere Versorgung ist den Bewohnerinnen und Bewohnern im Vergleich zu den zentralen Orten teilweise eindringlich bewusst. Diese Benachteiligungen sind relevant und wirken auf allen Ebenen des Zusammenlebens, auch wenn eine oberflächliche Ortszufriedenheit abruf bar ist. Eine wesentliche Komponente der rurbanen Konstellation von Lebensumständen und lokalem Zusammenleben ist die Offenheit der gesellschaftlich-gemeinschaftlichen Ortsstrukturen. Viele Studien heben die politisch-planerische Ebene hervor. Partizipation, Beteiligung und Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger werden als Kriterien für eine Wahrnehmung von Offenheit betrachtet (Kaschlik 2012). Die Bedeutung von Offenheit – etwa gegenüber andersartigen Lebensstilen und Migrantinnen und Migranten – kann aber nicht pauschal für alle Bewohnerinnen und Bewohner rurbaner Strukturen angenommen werden. Die Verbleibdauer und geringe Unterschiede im sozialen Status der Bewohnenden können ebenfalls bewirken, dass sich eine Verbundenheit mit dem Ort entwickelt. Diese Faktoren können teilweise dem Offenheitskriterium entgegenstehen oder es wiederum kompensieren. Wie sich eine Person auf Dauer einen Ort kognitiv, emotional und durch sein Verhalten aneignen und eine Ortsverbundenheit auf bauen kann, wird sozialpsychologisch erklärbar, indem die Bedeutung der sogenannten schwachen (in der Regel nicht-familiärer) Beziehungen zwischen Menschen ihre starke Rolle spielen dürfen (Sandstrom/Dunn 2014). Schwache Beziehungen und Netzwerke können einerseits Menschen binden oder aber helfen, zu anderen Menschen Distanzen zu überbrücken. Bindende (schließende) und überbrückende (offene) Beziehungen befördern sich gegenseitig. Wenn in den Diskussionen um die Gestaltung, Entwicklung und Planung von rurbanen Landschaften die Notwendigkeit der Schaffung von bedeutsamen Orten oder Identitätsangeboten die Rede ist, wäre die analytisch-kritische Unterscheidung nötig, welcher der beiden Beziehungsformen intrinsisch Raum gegeben wird. Anzunehmen ist, dass solche Verräumlichungen nur dann den erwünschten Effekt haben, wenn sie als bindend-überbrückend oder schließend-offen wahrnehmbar sind. Solche Orte ergeben sich als abstrakte Identitätsorte immer wieder aus dem Alltagsleben der Bewohnerinnen und Bewohner selbst, da sie dem Bedürfnis nach emotional positiv bewerteten Orten und als Orientierung in ihren Handlungsräumen entsprechen.

Rurbanität als Sozialraum

Langezeitstudien (Korpela et al. 2009) konnten zeigen, dass sogenannte Lieblingsorte auch über die Zeit der Anwesenheit vor Ort hinaus wichtig bleiben. Abstrakte und konkrete Ortsbezüge entstehen parallel, überörtlich und können sich auf verschiedene Art immer wieder neu verknüpfen und hierarchisieren. Rurbane Geographien ermöglichen und erfordern zugleich eine permanente Kartographierungsarbeit, um zwischen den schwachen und starken Bezügen zu Menschen und Orten immer wieder neue Wege und Aufenthaltsräume zu finden. Sozialpsychologisch wird eine emotionale und kognitive Arbeit erforderlich, um die Bedeutungen von Orten permanent zu evaluieren; soziologisch werden diese Ortskonstruktionen notwendig, um im Geflecht der unterschiedlichen starken und schwachen Bindungen funktionsfähig zu bleiben.

R urbane S ozialr äume Sozialräume haben in den planungswissenschaftlichen Disziplinen zwar in den letzten Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren, hier aber vor allem innerhalb urbaner Kontexte. Die Betrachtung von Sozialräumen innerhalb ländlicher Zusammenhänge wird weniger durch die Planungswissenschaften als vielmehr im Kontext der ruralen Soziologie aufgegriffen. Wenn man aber der hier vertretenen Argumentation folgt, dann ergibt sich die Bedeutung von Sozialräumen nicht nach ihrer Kategorisierung anhand von Größenordnungen bzw. der Zuordnung zu eher ländlichen oder eher urbanen Räumen, sondern sollten diese mit Hinsicht auf ihre sozialpsychologische und soziologische Bedeutung für das Individuum, um sich in der Gesellschaft zurecht zu finden, verstanden werden. In vielen Diskursen wird der Begriff des Sozialraums jedoch nach wie vor statisch mit Lebenswelt gleichgesetzt. Einer solchen Engführung des Sozialraums stehen die Beobachtungen gegenüber, die die hohe Mobilität und Interaktion zu und mit anderen Orten als wichtigen Teil individueller Lebensgestaltung und der eigenen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Orientierungsräume auffasst. Dementsprechend ist eine Begrenzung auf einen räumlichen Horizont problematisch, wenn der Sozialraum diese Diversität und Komplexität des Sozialen nicht repräsentiert. Das bedeutet, dass eine Fixierung auf einen räumlich begrenzten Raum bei der Identifikation relevanter Orte nicht vorweggenommen werden darf. Im Um-

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kehrschluss heißt dies auch, dass einzelne Sozialräume immer auch Teil von individuellen Geographien sind, so dass dieser nicht mit der physischen Präsenz von (zumeist) Bewohnerinnen und Bewohnern identisch ist. Dass durch körperliche Anwesenheit eine Definitionsmacht über den Raum ausgeübt wird, bedeutet nicht, dass ein Raum de facto auch für einzelne Individuen vor Ort die Bedeutung als Sozialraum hat, auch wenn diese dort leben. Wenn also ein angemessener Sozialraum definiert werden soll, ist die Diversität der Bedeutungen eines Raumes einerseits und die Extension der individuellen Handlungs- und Lebensräume über den Aufenthaltsoder Wohnort hinaus andererseits zwingend mitzudenken. Dies ist vor allem mit Bezug auf rurbane Orte bedeutsam, da diese sich stärker als die großstädtischen Sozialräume mit Vorstellungen von anderen Orten und Städten auseinandersetzen müssen. In Anbetracht geringerer materieller, kultureller, sozialer und symbolischer Ausstattung bildet großstädtisches Leben, über Medien, Eigen- und Fremderfahrung vermittelt, eine Folie, an der die eigene Identität abgeglichen wird. Dieser Prozess spielt vor allem in der Phase der jugendlichen Identitätssuche eine Rolle, insofern Möglichkeitsräume mit konkreten Ortsangeboten verknüpft werden. Der rurbane Raum der Sozialisation imaginiert sich auch geographisch. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um eine peripherisierte Rurbanität handelt, die als Ort von Mangel erfahren wird.

D as P rojekt ›N ichts los ?‹ Das Studienforschungsprojekt ›Nichts los? Alltag und Freizeit von Jugendlichen in Thüringen‹ verfolgte das Ziel, sich explorativ mit der Lebenswelt von Jugendlichen jenseits der Großstädte in Thüringen auseinanderzusetzen.1 Ausgewählt wurden die Kleinstädte Meuselwitz, Ruhla und Sömmerda. Leitende Fragen waren dabei: Was sind Bedürfnisse und Wünsche von Jugendlichen für die Zukunft? Wie gestaltet sich ihr Alltag? Welche Räume nutzen sie und wie? Das Projekt wurde im Rahmen 1 | Die Durchführung des Projekts wurde durch die Unterstützung von 16 Studierenden des Studiengangs Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar und der Koordination von René Seyfarth und Franziska Werner ermöglicht. Die Befragungen fanden im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 statt.

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der Werkstatt Sozialraumanalyse der Bauhaus-Universität Weimar durchgeführt und verfolgte dessen konzeptionelles und methodisches Vorgehen (Eckardt 2015). Hierbei handelt es sich um ein exploratives Vorgehen, bei dem in drei Phasen die unterschiedlichen Perspektiven von Jugendlichen, Expertinnen und Experten und der Öffentlichkeit erkundet werden, um durch Perspektivenvielfalt eine prozesshafte und ergebnisoffene Erforschung der Lebenswelt der Jugendlichen zu ermöglichen. In einer ersten Phase wurden leitfadenorientierte Experten-Interviews mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren in den beteiligten Kommunen unternommen. In einer zweiten Phase wurden mehrere Gruppendiskussionen mit Jugendlichen durchgeführt. Generell ist damit das Ziel verfolgt worden, sowohl die Perspektive von außen durch die professionell mit Jugendlichen Tätigen zu erhalten, als auch einen überindividuellen Eindruck von innen, von den Jugendlichen selbst. Ergänzt wurden die Fokus-Gruppeninterviews durch umfangreiche Einzelgespräche und Beobachtungen, die die teilnehmenden Studierenden vor Ort gesammelt haben. In allen drei Kleinstädten wurde zeitgleich und in parallelen Phasen gearbeitet. Abschließend wurde das gesammelte Material verschriftlicht, strukturiert und analysiert. Die Ergebnisse der ersten beiden Phasen wurden komprimiert, zusammengefasst und fokussiert, so dass sie für eine öffentliche Debatte in den Untersuchungsorten präsentierbar wurden. In allen drei Kommunen wurden hierzu öffentliche Diskussionen veranstaltet, bei denen die Grundannahmen des Projektes noch einmal kritisch überprüft werden konnten. Zugleich erlaubten diese Veranstaltungen auch wiederum einen Einblick in die Thematik, etwa mit Bezug auf die Beteiligung von Jugendlichen an dem Diskurs und wie Verantwortliche über diese Thematik denken. Hintergrund und Motivation für dieses Projekt waren vorherige Erfahrungen in anderen Kleinstädten in Thüringen, bei denen eine geringe Beteiligung von Jugendlichen methodenkritisch anerkannt werden musste, die zugleich allerdings mit der Beobachtung zusammenfiel, dass die Themen des demographischen Wandels oftmals wenig Aufmerksamkeit der Lebenswelt von Jugendlichen widmeten (Eckardt 2015b). Die Beschäftigung mit der Frage nach den Bleibe-Perspektiven von Jugendlichen insbesondere mit Bezug auf Familiengründung und Berufsperspektiven werden von allen Beteiligten zwar eingehend als sehr relevant betrachtet, konstatiert wurde aber in vorherigen Projekten auch eine große Unwissenheit über die Ansprüche, die hierfür erfüllt sein müssten. Teilweise

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hat das Paradigma von der ›schrumpfenden Stadt‹ auch diesbezügliche Fragen behindert, da die nicht zu verhindernde weitere Bevölkerungsabnahme die Perspektive auf Umbau, Abriss und Neugestaltung des Bestehenden zu dominieren scheint. Mit dem hier verfolgten Ansatz werden die Prämissen hinsichtlich der Gestaltung der Kleinstädte in peripheren Lagen hingegen anders gesetzt, indem der sozialräumliche Kontext als Ausgangspunkt für die Entwicklung der rurbanen Gesellschaft betrachtet wird.

L ethargie Auffallendes Ergebnis der ersten Phase des Projekts war die immer wieder aufzufindende Meinung, dass zumindest ein Teil der Jugendlichen in den drei Kommunen lethargisch sei. Während des Vergleichens der verschiedenen Interviews mit lokalen Expertinnen und Experten wurde deutlich, dass sich bestimmte Aussagen über das Verhalten der Jugendlichen ähneln und auch häufen. Folgende Zitate stellen Beispiele für derartige Beschreibungen dar: »Rumlungern. Ist das einzige was sie können – unsere Jugendlichen«. »Die chillen, die haben keine Lust zu arbeiten« oder »Das sind die mit der ›Leck mich‹-Stimmung«. Ein Großteil der Interviewpartnerinnen und -partner bezeichnet das Verhaltensmuster der Jugendlichen als passiv oder lethargisch: »Die Jugendlichen verfallen in eine gewisse Lethargie, aus der man sie sehr schwer rauskriegt.« Aussagen über ein ambitioniertes oder motiviertes Verhalten von Jugendlichen sind während der Interviews hingegen kaum gefallen. Aus einigen Gesprächen wird deutlich, dass diese Zuschreibungen mit dem Aufenthalt der betreffenden Jugendlichen an bestimmten Orten verknüpft wird. Auf Nachfrage werden dazu öffentlich-informelle Orte wie zum Beispiel Parks, Spielplätze, Skater-Orte oder Bushaltestellen genannt. Auffallend ist, dass institutionell-formelle Orte wie zum Beispiel Sportvereine, Musikschulen oder Orte schulisch organisierter Freizeitaktivitäten dabei nicht erwähnt werden. Jugendlichen, die sich in öffentlichen Räumen aufhalten, wird nachgesagt, sie hingen rum, tränken Bier und rauchten. Oft werde erst an diesen Orten das lethargische Verhalten von Jugendlichen sichtbar. In den institutionellen Räumen treffe man auf aktive und motivierte Jugendliche. Konsequenterweise

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entwickelt sich eine duale Geographie, bei der Jugendliche eine parallele Raumproduktion vollziehen. Von den befragten Expertinnen und Experten wird hierbei ausgeblendet, dass Jugendliche nicht entweder passiv oder aktiv, sondern vielmehr sowohl passiv als auch aktiv Orte nutzen und aufsuchen. Schülerinnen und Schüler sehen ihr Verhalten durchaus als Ausgleich für ihre Anstrengungen im Unterricht und treffen sich nach der Schule mit ihren Freundinnen und Freunden auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums, trinken Limonade und tauschen sich über Neuigkeiten auf Facebook aus. Jugendliche beschrieben ihr Verhalten wie folgt: »Die wollen Kino, die wollen sich treffen, die wollen Räume haben, die lassen sich auch nicht in Formen pressen, die möchten eigentlich selbst was finden.« Sie würden in erster Linie dorthin gehen, wo die Gruppe sich befindet: »die Gruppe wo sie sich zugehörig fühlen, wo sie sich bestätigt fühlen.« In den Gruppendiskussionen wurde emphatisch betont, dass sie nach Freiheit, Zwanglosigkeit und Anerkennung streben. Sie wollen ihre eigenen Orte haben, ohne vorgeschriebene Verhaltensweisen, fern von den Erwachsenen und einschränkenden Verboten. Sie suchen sowohl nach Räumen, welche als Treffpunkt bzw. Rückzugsorte dienen, als auch nach einem passenden Freizeit-Angebot und nicht zuletzt auch nach Abgrenzung. Folgende Zitate verdeutlichen, wie die Jugendlichen ihr Verhalten selbst sehen, wobei immer von den Anderen die Rede ist, für die man Verständnis formuliert: »die kommen halt eben auch aus der Schule und wollen erst mal mit nichts beballert werden, sondern cool down und ›Wehe du kommst mir jetzt mit Aufgaben!‹.« Oder: »dass man auch junge Leute, die halt hier ein bissl schwieriger sind, mehr mit einbezieht, mehr fragt und nicht nur ›Hauptsache die machen keine Probleme‹.« Das Narrativ von der Lethargie, das sowohl von den interviewten Expertinnen und Experten als auch von den Jugendlichen als Referenzpunkt immer wieder formuliert wird, hat allerdings unterschiedliche soziale Bedeutungen. Während die Jugendlichen dieses Narrativ der Erwachsenen und von Autoritätspersonen wie Lehrerinnen und Lehrern sehr gut kannten, wurde es nur teilweise auch anerkannt. Viele setzten sich damit auseinander, aber zum Teil auch, um sich davon abzusetzen. Übernommen wurde jedoch die Grundstruktur des Lethargie-Narrativs, das deutlich als wertend und zuordnend empfunden wurde. Widerspruch dagegen erfolgte auf zwei Ebenen: Zunächst waren es die anderen Jugendlichen, auf die die Aussagen zutreffen, man selbst wollte sich davon distanzieren,

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in eine soziale Gruppe der ›lethargischen Jugendlichen‹ eingeordnet zu werden. Diese Strategie funktioniert aber offensichtlich nicht, weil die Beurteilung von Lethargie pauschal, ohne Empathie mit den so Kategorisierten und somit ohne Berücksichtigung der konkreten Lebenssituation des Einzelnen, stattfindet. Wer lange an der Bushaltestelle warten muss, wird aus Langeweile schnell ›lethargisch‹ und kann sich somit gegen die Einordnung in die negative Kategorie nicht wehren. Deshalb stellt sich insbesondere für Jugendliche, die sich quasi zwangsläufig an negativ gelabelten Orten aufhalten müssen, die Notwendigkeit ein, entweder sich selbst auch (zumindest teilweise) als lethargisch aufzufassen oder die Einteilung in aktive und passive Jugendliche prinzipiell zu hinterfragen. Wie oben aufgeführte Zitate andeuten, passiert dies durchaus und erscheint erfolgreich zu sein, insofern individuelle Rückzugsräume und Peer-Gruppen vorhanden sind. Soziologisch gesehen koppelt sich damit aber auch die Entwicklung des Selbst-Bildes von weiteren Feedback-Möglichkeiten durch die Erwachsenen und von alternativen lokalen Rollenmodellen ab.

S tigmatisierung Dieser Abkoppelungsprozess hat seinen Ursprung in einem emotionalen Ordnungsschema, das in der Beurteilung des Verhaltens von Jugendlichen im Zusammenhang mit ihrem Aufenthaltsort aufzufinden ist. Die Kategorisierung wird nicht weitergehend begründet und durch seine Selbstverständlichkeit für die Jugendlichen schwer durchschaubar und noch schwieriger kritisierbar. Das scheinbar ›objektive‹ Beschreiben von jugendlichem Verhalten als lethargisch weicht in den Interviews schnell einer wesentlich deutlicheren normativen Kategorisierung in ›gute‹ und ›schlechte‹ Jugendliche. Bei einigen der Diskussionsrunden mit Jugendlichen stellte sich heraus, dass es ein gängiges Bild von den ›guten‹ Jugendlichen gibt, die in diversen Organisationen aktiv sind und eine Hochschulzugangsberechtigung anstreben. Die anderen schwänzen angeblich die Schule und haben keine Berufsperspektive. Die Einteilung ist somit mit einer Zukunftsprognose hinsichtlich der Berufschancen verknüpft und damit auch implizit mit der Frage nach dem Wert für die lokale Gemeinschaft. Die ›guten‹ Jugendlichen engagierten sich im Ort, zum Beispiel im Verein, wobei die aktive Teilnahme am Vereinssport generell hervorgehoben wird. Dies wird deshalb positiv gewertet, weil dieses En-

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gagement die strukturierte Beschäftigung im Alltag bestätigt und nicht irritiert. Begründet wird diese Wertung auch, weil auf diese Weise eine als nötig beschriebene Motivation aus dem Elternhaus bewiesen werde, womit eine indirekte Bewertung der Familien stattfindet. Die ›guten‹ Jugendlichen gehen in der Regel aufs Gymnasium. Bessere Aussichten im späteren Berufsleben werden hierbei als Begründung für die Etikettierung der Jugendlichen und derer Familien formuliert, wodurch sich die Ansprüche an ein ›gutes‹ Verhalten rechtfertigen. Den anderen Jugendlichen werden komplett gegensätzliche Eigenschaften nachgesagt. Sie besuchten meist ›nur‹ die Regelschule, das Interesse an Vereinen oder am allgemeinen Ortsgeschehen sei kaum vorhanden, das Engagement bleibe insgesamt gering. Oft sei auch festzustellen, dass die Mehrheit dieser Jugendlichen aus ›schwierigen‹ Familienverhältnissen komme. Aus fehlender Bildung ergäben sich auch weniger Chancen auf Ausbildungs- oder Arbeitsplätze, beziehungsweise auf Wahlmöglichkeiten für die Zukunft. Dessen Folge sei eine entstehende Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die oft zum ›Herumhängen‹ oder zu Konflikten mit anderen Einwohnerinnen und Einwohnern im öffentlichen Raum führe. Der in der Studie vorgefundene Prozess der Zuschreibung und Kategorisierung von Jugendlichen stellt eine gesellschaftlich problematische Ordnung dar, die als Stigmatisierung verstanden werden kann. Mit der Möglichkeit der Stigmatisierung (Goffman 1975) kann eine gesellschaftliche Mehrheit eine Minderheit unterdrücken (to keep people down), sie kann sie dadurch zwingen, sich nach ihren Normen zu verhalten (to keep people in) oder sie ausschließen (to keep people out). Stigmatisierungen sind insbesondere auf der Ebene der Selbst-Wahrnehmung schwierig zu beschreiben und werden von Nicht-Betroffenen anders wahrgenommen. Inwieweit Menschen tatsächlich oder vermeintlich stigmatisiert werden, schafft für die Betroffenen eine zusätzliche Quelle von Ungewissheit und erschwert eine konstante positive Bewertung der eigenen Persönlichkeit. Die Möglichkeit, ein positives Selbst-Bild aufzubauen, ist letztlich entscheidend für die Frage, ob Jugendliche in den Kleinstädten der Thüringer Peripherie leben wollen. Die Abwägungen, die die Jugendlichen in den Interviews vollzogen, fielen für die zwei etikettierten Gruppierungen sehr verschieden aus. Der Entscheidungsprozess wird dabei von den oben genannten Faktoren erheblich beeinflusst. Die befragten Expertinnen und Experten verdeutlichen, wie normative Wertung und unterschiedli-

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che Zukunftsperspektiven, die für die beiden Gruppen als Möglichkeiten angedacht werden, verknüpft werden: »Die Leute, die man gerne halten will, die vermutlich nicht zu halten sind. Und die Leute, die man nicht so gerne hat, die bleiben natürlich alle hier.« Problematisch ist vor allem auch, dass den bleibenden Jugendlichen wiederum wenig zugetraut wird: »Jugendliche, die ohnehin Probleme haben in der Schule und mit ihrem Selbstwertgefühl; für die es ja noch eine größere Herausforderung ist, an einen anderen Ort zu gehen. Natürlich gibt es auch die Anderen, die mit wehenden Fahnen in die Welt ziehen.«

F a zit Die Frage nach den Bleibeperspektiven von Jugendlichen in rurbanen Räumen, wie dem im Thüringer Untersuchungsraum, kann nur im Zusammenspiel von gesellschaftlichen Raumwahrnehmungen beurteilt werden. Wie gezeigt wurde, hängt insbesondere das Raumverhalten von Jugendlichen davon ab, wie diese durch vorgefertigte Bewertungsschemen beurteilt werden. Mit der Einbettung in ein Narrativ von den ›lethargischen Jugendlichen‹ geht eine Stigmatisierung einher, der sich mit der Bewertung der Lebenschancen der Jugendlichen verknüpft und nur der Bestätigung vorgefertigter Einschätzung von Familien und Jugendlichen dient. Die Irritation dieser Kategorisierungen, die dringend nötig wäre, um Jugendlichen ein experimentierendes Verhalten und somit eine innovierende Rolle in der lokalen Gemeinschaft zu ermöglichen, wird somit ausgeschlossen. Vermittelt wird die Norm-Konformität als Versprechen für berufliches Weiterkommen. Da dieses Versprechen vor Ort kaum eingelöst werden kann, wird sich die Peripherisierung und damit die weitere Abwanderung fortsetzen. Die Rolle von Narrativen, die es ermöglichen würden, auch alternative Kategorien von Verhalten einzubinden oder erst zu entwickeln, scheint für Strategien der De-Peripherisierung entscheidend zu sein. Die beklagte intensive Internet-Nutzung der Jugendlichen bezeugt, dass lokale Anschlüsse an den zentralen Räumen der Gesellschaft entscheidend sind. Sie bieten Freiheiten der Selbst-Imagination, die vor Ort nicht mehr einzufangen sind, wenn mit Narrativen wie Heimatliebe oder Lethargie operiert wird, die mit urbanen Aushandlungsprozessen der eigenen Identität nicht kompatibel sind.

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L iteratur Becker, Heinrich/Tuitjer, Gesine (2016): »Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: 66, 46/47, S. 17-22. Becker, Heinrich/Moser, Andrea (2013): Jugend in ländlichen Räumen zwischen Bleiben und Abwandern, Braunschweig: Thünen-Institut. Bell, David/Jayne, Mark (Hg.) (2006): Small cities: urban experience beyond the metropolis, London: Routledge, S. 1-18. Eckardt, Frank (2002): Eine periphere Gesellschaft. Regionalentwicklung zwischen Erfurt und Weimar, Marburg: Tectum. — (2015): »Die Werkstatt Sozialraumanalyse in Weimar«, in: Soziale Passagen 12, 7(2), S. 363-367. — (2015b): »Suhl ohne Sushi: Das Leben in einer Kleinstadt in Ostdeutschland heute – Ergebnisse einer Sozialraumwerkstatt«, in: sozialraum. de (7) Ausgabe 1/2015, siehe https://www.sozialraum.de/suhl-ohnesushi.php Ferchhoff, Wilfried (2007): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert: Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden: Springer VS. Gatzweiler, Hans-Peter (Hg.) (2012): Klein- und Mittelstädte in Deutschland: eine Bestandsaufnahme, Stuttgart: Steiner. Goffman, Erving (1975): Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kaschlik, Anke (2012): »Eigenständige kleinstädtische Entwicklungen?«, in: Alexandra Engel/Ulrich Harteisen/Anke Kaschlik (Hg.), Kleine Städte in peripheren Regionen, Detmold: Rohn, S. 11-28. Korpela, Kalevi et al. (2009): »Stability of self-reported favourite places and place attachment over a 10-month period«, in: Journal of environmental psychology 29/1, S. 95-100. Langner, Sigrun (2016): »(R)urban Landscapes. Navigating between the Urban and the Rural Perspective«, in: Vanessa Carlow (Hg.), Ruralism. The Future of Villages and Small Towns in an Urbanizing World, Berlin: Jovis, S. 76-89. McKnight, Matthew et al. (2017): »Communities of Place? New Evidence for the Role of Distance and Population Size in Community Attachment«, in: Rural sociology 82 (2), S. 291-317. Schrödel, Gerrit (2014): Empirische Bestandsaufnahme der deutschen Kleinstädte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen: Cuvillier.

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Dorf ist nicht gleich Dorf Betrachtungen eines Lebensstils Katherin Wagenknecht

A uf der S uche nach dem L ändlichen R aum Laut einer Studie der Sparda-Banken geben 29 Prozent der Deutschen das Ländliche als ihr bevorzugtes Wohnumfeld an. Bei Familien mit Kindern liegt die Zustimmungsrate sogar bei 39 Prozent.1 Zugleich verzeichnet der ländliche Raum einen stetigen Bevölkerungsrückgang (vgl. Verband der Sparda-Banken e.V. 2014).2 Über 30 Prozent der deutschen Bevölkerung lebt tatsächlich auf dem Dorf (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015).3 In der Zusammenschau dieser statistischen Eindrücke präsentiert sich der ländliche Raum als familialer Wunschtraum. Beide Erhebungen, sowohl die Studie der Sparda-Banken als auch die der Bertelsmann Stiftung, verwenden den Begriff des Ländlichen. Die Grundlage für die Einteilung in städtischen und ländlichen Raum der Bertelsmann Stiftung basiert auf den Daten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Regionen werden nach Einwohnerdich1 | Im Auftrag des Verbands der Sparda-Banken e.V. führten das IfD Allensbach in Kooperation mit prognos eine bundesweite Studie zum Wohnen durch. 2 | Die Studie weist darauf hin, dass diese Aussage nicht generalisiert für alle ländlichen, wie alle städtischen Räume in gleichem Ausmaß gilt, so ist der Bevölkerungsrückgang in den ländlichen Räumen der neuen Bundesländer stärker, als zum Beispiel im Flächenland Bayern. 3 | Während lediglich 30 Prozent der deutschen Bevölkerung im ländlichen Raum wohnt, steht denen jedoch fast 70 Prozent der Fläche zur Verfügung. Umgekehrt verhält es sich für den städtischen Raum (Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung 2015).

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te pro Quadratkilometer unterschieden.  Im ländlichen Raum wohnen demnach nicht mehr als 150 Menschen pro Quadratkilometer. Irrelevant hingegen ist die vorhandene Infrastruktur, der Gebäudebestand oder die landschaftliche Gestaltung. Der in der Umfrage der Sparda-Bank verwandte Begriff des Ländlichen hingegen bleibt diffus. Unklar ist, was die befragten Personen für Assoziationen und Vorstellungen mit dem Begriff des Ländlichen verknüpfen, ob in der Kürze der Befragung die Einwohnerdichte der vorgestellten Region ausgerechnet oder eine architektonische Vision des Ländlichen entworfen, in der das Dorf als Ort ohne Hochhäuser vorgestellt wird oder man sich eine vertraute Gemeinschaft vorstellt, in der jeder jeden kennt. Während die Studie der Bertelsmann Stiftung allein auf die Einwohnerdichte als Merkmal rekurriert, versucht die Umfrage der Sparda-Banken die Wünsche und Vorstellungen in Präferenzen zu übersetzen. Der Begriff des ländlichen Raums erscheint hier als alltagskulturelles Dispositiv. In der Forschungsliteratur wird das Dorf idealtypisch als eine Vergemeinschaftung beschrieben, in der ganzheitliche Beziehungen und Kommunikationsmuster herrschen, basierend auf gegenseitiger Anerkennung. Auf dem Dorf werden Individuen immer auch Familien und Höfen zugeordnet und damit sozial angebunden und familial integriert. Das Dorf ist ein spezifischer Sozialzusammenhang der einen langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus des sinnlich-geistlichen Lebensbildes aufweist als die Großstadt (vgl. Simmel 2006). Die Beschreibungen funktionieren über eine komparative Nebeneinanderstellung von Stadt und Land. Stefan Höhne beschreibt den Antagonismus zwischen Dorf und Stadt mit den dualistischen Zuschreibungen als Quellcode der Moderne (vgl. Höhne 2015: 39). In Anlehnung an René König und Herbert Kötter4, beschreibt Detlef Baum das Dorf als eine Institutionalisierung von Nachbarschaften. In dieser Darstellung gibt es eine chronologische Erzählung, die aus den Nachbarschaften, also Zusammenschlüssen der nächsten Häuser und Höfe, die die Institution Dorf konstituieren. (Vgl. Baum 2014: 111f.) Diese Vorstellung von Dörfern als eine gewachsene Institution, die auf der Basis von Werten, Normen 4 | Sowohl René König mit seinem Werk zu den Grundformen der Gesellschaft von 1958 als auch Herbert Kötter, der sich mit Struktur und Funktion ländlicher Gemeinden auseinandersetzte (1952), leisteten Grundlagenarbeit in der Forschung über Dörfer als spezifische Sozialzusammenhänge.

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und Traditionen funktioniert 5, kommt an ihre Grenzen, denkt man an die Dörfer und Siedlungen, die dank erfolgreicher Baulandausschreibung erheblichen Zuzug in Einfamilienhausgebiete verzeichnen können. Auch die suburbanen Vor- und Randgebiete von Großstädten, die als hybride Formen rurbanen Charakter aufweisen, stellen diese Definitionen infrage.6 Vor diesen Überlegungen formuliert sich die Frage nach den im Alltag wirksamen räumlichen Kategorien, deren Relevanzen und Bedeutungen sowie inhaltliche Ausgestaltungen durch die befragten Personen.

F orschungsdesign Das verwandte empirische Material, auf deren Grundlage meine Ergebnisse formuliert werden, entstammt einem Forschungsprojekt, in dem es um die Wohn- und Lebensform des Einfamilienhauses geht 7 und umfasst drei Untersuchungsgebiete. Es handelt sich um einen ländlich geprägten Ort, um eine kleinstädtische Siedlung und drittens um einen suburbanen Ortsteil einer Großstadt. Die Auswahl der Untersuchungsgebiete erfolgte über statistische Kenngrößen, wie Einwohnerzahl, Gemeindegröße, Be5 | Stefan Beetz benennt die vergleichende wie die historisierende Bestimmung des Ländlichen als zwei der vier grundlegenden substantiellen Definitionsversuche in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die bis heute reproduziert werden (vgl. Beetz 2010: 123). Andere Perspektiven entwickeln Definitionen des Ländlichen aus Beschreibungen des Gesellschaftlichen, also als semantisches Feld, oder setzen es als gesellschaftliche Projektionsfläche. 6 | Die (Un-)Brauchbarkeit räumlicher Ordnungskategorien und dessen Konsequenzen werden vielfach zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen gemacht, so zum Beispiel von Achim Hahn in seinem Artikel Aspekte neuer Lebensformen im regionalen Raum, oder von Marc Redepenning (2015). 7 | Diese Studie entstand im Teilprojekt A ›Ein Haus für uns bauen: eine Ethnografie tradierter Familienideale im Wandel‹ im Forschungsverbund ›Der Lauf der Dinge oder Privatbesitz? Ein Haus und seine Objekte zwischen Familienleben, Ressourcenwirtschaft und Museum‹, Leitung: Elisabeth Timm (WWU Münster, Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie), gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Programm ›Die Sprache der Objekte – materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen‹, www.hausfragen.net, Förderkennzeichen 01UO1504A.

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völkerungsdichte, Baulandpreise, Immobilienmarkt und Infrastruktur, Verkehr und Erreichbarkeit sowie wirtschaftliche Entwicklungen. In jedem der Untersuchungsgebiete nehmen die Bewohnerinnen und Bewohner Bezug auf die kulturelle Referenz des Ruralen. Welche Faktoren die Wahrnehmungen und Einschätzungen beeinflussen und strukturieren, und darüber hinaus, wie unterschiedlich die Vorstellungen des Ruralen sind, soll in diesem Artikel exemplarisch beantwortet werden. Bruno Latour beschreibt den sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess als das Bestreben, »den Spuren der Assoziation zu folgen« (Latour 2007: 9). Dieser Aufforderung zur Spurensuche entspricht ein Forschungsdesign, welches die Methoden zur Datenerhebung an die jeweiligen feldspezifischen Anforderungen anpasst. (Vgl. Breidenstein et al. 2013: 34) In meiner Studie kombiniere ich verschiedene Herangehensweisen: In offenen Leitfadeninterviews werden Erzählungen über den Alltag, die Wohnstandortwahl und tägliche Praktiken generiert. Die Hausbegehung, wobei es sich um einen von den befragten Personen gestalteten Rundgang durch das Haus handelt, wird begleitet durch Fragen zu typischen Routinen im Haus. Des Weiteren werden die interviewten Personen aufgefordert eine Mental Map ihres persönlichen Wohnumfeldes zu zeichnen.8 Zur Beantwortung der Forschungsfrage, nach dem Wie und Was räumlicher Kategorien, wird unterschiedliches Datenmaterial, das auf verschiedenen erkenntnistheoretischen Zugängen beruht, zueinander sortiert. Um die Forschungsfrage des Artikels, also die Frage nach den im Alltag wirksamen räumlichen Kategorien, zu beantworten, gilt es die Untersuchungsgebiete in ihrer Eigenschaft als Siedlungsgemeinde anzusprechen und die darin wirksamen, gruppenspezifischen Bedeutungsund Handlungszusammenhänge zu erfassen (vgl. Löw 2001: 112). Um ein umfassendes Bild der drei Untersuchungsgebiete zu erreichen, setze ich die statistischen Kenngrößen, die von den befragten Personen gezeichneten Karten sowie die Inhalte der Interviews, als auch die Eindrücke meiner teilnehmenden Beobachtung zueinander in Bezug.

8 | Sowohl die Orte als auch die Personendaten werden in diesem Artikel anonym verwandt.

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P ra xistheorie Praxistheoretische Ansätze entwickeln eine integrierende Forschungsperspektive, deren Ausgangspunkt die praktische Herstellung kultureller Phänomene ist (vgl. Schmidt 2012). Sozial-kulturelle Phänomene werden in und durch alltägliche Praktiken und Routinen hergestellt, stabilisiert und zu dauerhaften Praxisformationen verfestigt (vgl. Reckwitz 2003; Hillebrandt 2014). Dabei verstehe ich die sozialräumliche Kategorie des Ruralen als einen ›Mode of Ordering‹, der in spezifischer Art und Weise soziale Ordnung herstellt und gewährleistet. Soziale Ordnung entsteht in praxeologischen Analysen nicht mehr durch Strukturen. »Instead, variously dispersed ordering modes and modalities were brought to the fore.« (Mol 2010: 262). Der empirische wie analytische Zugriff erfolgt über die Praktiken und Routinen. Anstatt von Normen und Strukturen auszugehen, konzentrieren sich praxistheoretische Konzepte auf Vollzugswirklichkeiten und die darin praktizierten Vorstellungen, Strukturen und Normen. Die statistische Größe der Einwohnerzahl als objektiver Fakt ist damit weniger relevant, als deren spezifische Dokumentation in täglichen Routinen: Jeder grüßt jeden, da jeder jeden kennt. Durch die Konzeptionalisierung von Praktiken als Untersuchungsgegenstand werden Strukturen und Vorstellungen neu positioniert: nämlich als an Praktiken beteiligte Elemente. In der Praxis des Grüßens dokumentiert sich neben dem Bezug zur statistischen Kenngröße der Einwohnerschaft, auch die Vorstellung über Normen des höflichen Miteinanders. Es ist eine Leistung der Akteur-Netzwerk-Theorie9, diese unterschiedlichen Daten (Kenngröße, Praktiken, Normen) miteinander in Verbindung zu setzen. Die Kontextualisierung wird durch die Akteurinnen und Akteure geleistet. Dementsprechend konsequent ist die Forderung nach einer Verwerfung der Strukturkategorien Mikro, Meso, Makro als analytische Einheiten, denn »Maßstab ist die Leistung der Akteure selbst.« (Latour 2007: 319) Anstelle einer Kontextualisierung der empirischen Befunde auf der Grundlage wissenschaftlicher Vorkenntnisse, werden die Maßstäbe und Kontexte vom Material geliefert. Ruralität ist kein externer Maßstab, sondern wird durch die empirischen Akteurinnen und Akteure ins Spiel gebracht. 9 | Zur Akteur-Netzwerk-Theorie als praxeologische Perspektive vgl. Reckwitz (2003); Schäfer (2013).

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Ein weiterer Aspekt einer integrativen Forschungsperspektive ist die in den Praxistheorien formulierte Berücksichtigung materieller wie immaterieller Aktanten, wobei »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, […] ein Aktant [ist].« (Ebd.: 123) Nachdem sich der wissenschaftliche Diskurs zunächst auf materielle Aktanten konzentrierte, gibt es Ansätze, die, entsprechend einer Symmetrisierung, auch immaterielle Bestandteile von Praktiken als Aktanten zu konzeptionalisieren. (Vgl. Voss 2013) Dabei entwickeln praxeologische Konzepte ein spezifisches Verständnis über das Verhältnis von Theorie und Empirie. Theorien sowie theoretische Konzepte sollen sich vom »Empirischen fortlaufend verunsichern, irritieren und revidieren [lassen].« (Schmidt 2012: 31) Es handelt sich um ein empirisch konstituiertes Theorieverständnis (vgl. Hirschauer 2008). Die Akteur-Netzwerk-Theorie fordert dazu auf, eine detaillierte Beschreibung des empirischen Untersuchungsgegenstands anzufertigen. Auf der Grundlage dieser dichten Beschreibung erfolgt eine Ausformulierung der im Material enthaltenen Referenzen.

D orf ist nicht gleich D orf Von Ampeln, Zebrastreifen und allen Möglichkeiten der Welt Gehen wir als erstes nach Adorf. Adorf hat ca. 750 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Entfernung zur nächstgelegenen Großstadt beträgt 50 Kilometer. Bis zur Autobahnauffahrt und zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs, wie Supermarkt, Drogerie und Freizeitangeboten ist die Entfernung zehn Kilometer. Die räumliche Gestalt des Dorfes ist geprägt durch die landwirtschaftlichen Betriebe. Für eine grundlegende Versorgung gibt es einen Dorfladen. »Heute war ich zum ersten Mal in Adorf. Ich bin mit dem Zug nach R gefahren, dann mit dem Schulbusverkehr nach W. Dort musste ich vierzig Minuten auf den Bürgerbus warten. Der dann mit mir als einzigen Fahrgast unendlich langsam über die Dörfer fuhr. Ich habe für die fünfzehn Kilometer insgesamt anderthalb Stunden gebraucht. Ich frage mich, wie viele Stunden die Leute im Auto verbringen. Und ich frage mich, wie ich hier nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommen soll.« (Auszug aus dem Feldtagebuch, März 2016)

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Um nach Adorf zu kommen und den Alltag in Adorf zu gestalten, braucht man entweder ein Auto oder viel Zeit. Der öffentliche Nahverkehr wird durch 20 ehrenamtliche Fahrer organisiert. Die Bürgerbuslinie verbindet die umliegenden Orte und Gemeinden an fünf Tagen der Woche im stündlichen Rhythmus. Das Modell einer ehrenamtlichen Organisation des öffentlichen Personennahverkehrs ist eine Konsequenz des Wandels vom fürsorgenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat und ist in zahlreichen Kommunen fester Bestandteil des Personennahverkehrs und damit der Mobilität. (Vgl. Endter 2015; Lessenich 2008) »Deswegen, also das ist immer, weil Adorf hier zentral ist, man hat hier alle Möglichkeiten der Welt.« (B, Interview 10, Seite 13) Frau Müller beschreibt Adorf als einen Ort an dem die Bewohnerinnen und Bewohner alle Möglichkeiten der Welt haben. Frau Müller begründet diese Qualität des Dorfes mit der zentralen geographischen Lage des Ortes. Diese Einschätzung über die Zentralität wird durch meine Erfahrungen mit der Anreise in öffentlichen Verkehrsmittel kontrastiert. Die Zentralität des Ortes wird nicht daran gemessen, wie der Ort an die öffentlichen Verkehrsmittel angeschlossen ist, sondern innerhalb welcher Fahrtzeiten die umliegenden Orte erreichbar seien. Auf den durch die Befragten gezeichneten Karten des Wohnumfeldes werden die Abstände mit der in Minuten angegebenen Fahrtzeit bestimmt. Kein Ort ist weiter entfernt als 15 Minuten Autofahrt. Der Auf bau der Mental Maps ist immer ähnlich: In der Mitte des Papiers wird der Ort platziert. Drumherum sortieren sich die Orte von täglicher Relevanz. Neben der Tatsache, dass der Ausgangspunkt der persönlichen Mental Map der Ort ist und nicht, wie ich anfangs vermutete, das eigene Haus10, verbildlicht die Karte die Zentralität Adorfs. So wird der eine Ort zum Einkaufen aufgesucht, in dem anderen Ort wiederum ist der Kindergarten, die Arbeitsstelle oder die Schwiegermutter. Die Karten zeigen die regionale Ausdehnung des alltäglichen Wohnumfeldes. Die dörfliche Lebensweise gestaltet sich in Adorf als eine regionale Lebensweise: Der tägliche Bewegungsradius ist regional ausgedehnt und 10 | Meine Vermutung war, dass das eigene Haus als Ausgangspunkt für die Entwicklung der subjektiven Karte genommen würde, was sich in den anderen Untersuchungsgebieten teilweise bestätigte. Interessant ist, dass hier das bildliche Symbol eines Eigenheims verwendet wird, die Beschriftung jedoch sich auf den Ort bezieht. Dieses Detail findet sich auch auf den anderen Karten aus Adorf.

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umfasst selbstverständlich die umliegenden Orte und Siedlungen.11 Die Möglichkeiten der Welt, die Frau Müller in Adorf sucht, finden sich im lokalen Umfeld. Adorf bietet dafür günstige Voraussetzungen die Möglichkeiten und Notwendigkeiten zur Versorgung zu erreichen. Die dörfliche Lebensweise wird als regionale Ausdehnung hergestellt. Das hinter dieser Denk- und Lebensweise stehende Stichwort lautet Erreichbarkeit: Zur Herstellung dieser Zentralität und zur Nutzung der dargebotenen Möglichkeiten muss man mobil sein. Die Anforderungen an die tägliche individuelle Mobilität vergleicht Frau Müller mit dem Verkehrsaufwand in einer Stadt: »Und in der Großstadt, wissen Sie selber, in Städten fährt man bestimmt schon halbe Stunde zum nächsten Kindergarten oder so. Genau, dann braucht man wahrscheinlich eine Stunde bis man irgendwo ist. Mir ist das einfach zu viel Verkehr. Ich bin auch eine Person die ist schnell überfordert. Also schnell von Hektik und Autos und Ampeln und Geräuschen.« (B, Interview 10, Seite 13)

Dass Frau Müller den Konjunktiv als rhetorisches Ausdrucksmittel verwendet, verweist auf ihre fehlende Datenlage. Es handelt sich um eine Spekulation, die im Gespräch von mir als Bewohnerin als Städterin bestätigt werden sollte. Frau Müller versucht die Annahme zu widerlegen, dass die Stadt kurze Wege und damit eine höhere Erreichbarkeit anbiete. Diese kurzen Wege würden durch den städtischen Verkehr, und insbesondere durch Ampeln und Zebrastreifen, verkompliziert und verlängert. Auch Frau Lutz empfindet Autofahren in der Stadt als anstrengend: »Das ist für mich irgendwie ähm zu laut, zu hektisch, zu nervig, dann hat man ständig irgendwelche Ampeln und Zebrastreifen und weiß nicht was, ich glaub ja in Adorf gibt’s nicht eine Ampel, gibt’s nicht einen Zebrastreifen, hier ist ja wirklich gar nichts, aber ähm, ne, ich fand es, ne ich möchte lieber ja Ruhe haben, einfach Ruhe haben.« (B, Interview 8, Seite 8)

11 | Regionalität soll hier weniger als komplementärer Begriff zur Globalisierung diskutiert werden, als vielmehr die räumliche Ausdehnung des Alltagsradius in Kilometern. Die Region wird im geographischen Verständnis als Raum mittlerer Reichweite definiert, wobei es sich um ein funktional, strukturell oder inhaltlich zusammenhängendes Gebiet handelt. (Vgl. Hahn 2009: 62)

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Ampeln und Zebrastreifen symbolisieren die städtischen Herausforderungen. Der städtische Verkehr wird durch die Menge an Schildern, Geboten, Hinweisen und Regeln zur Herausforderung. In Adorf gebe es weder eine Ampel noch einen Zebrastreifen, wobei sich Frau Lutz bei dieser Aussage etwas unsicher zeigt. Diese Unsicherheit bezüglich der Existenz von Verkehrszeichen in Adorf dokumentiert eindrücklich deren Stellenwert. Selbst wenn es eine Ampel gäbe, spielte diese im täglichen Verkehr eine untergeordnete Rolle für die dort Wohnenden. In Adorf gebe es wirklich gar nichts worauf man zusätzlich achten müsse, denn Adorf lasse einen in Ruhe. Auf das Motiv der Ruhe und der Gemütlichkeit, mit Verweis auf unterschiedliche Zeitläufe zwischen Stadt und Dorf rekurriert auch Frau Schmeling: »Idyllisch, ruhig, gemütlich. So und das sind so die Hauptpunkte, man hat hier Ruhe. Das ist keine Hektik hier. Und ja man kann hier vor sich hin prüddeln, sage ich mal. Ländlich einfach. Man kann laufen, wo man will. Spazieren gehen, wo man will.« (B, Interview 9, Seite 4)

Frau Schmeling subsummiert unter dem Begriff des Ländlichen die Merkmale idyllisch, ruhig und gemütlich, sowie die Abwesenheit von Stress und von Hektik und liefert damit zugleich eine lehrbuchhafte Beschreibung des Dorfs.12 In der Formulierung »man könne laufen, wo man wolle«, dokumentiert sich die Vorstellung des Dorfs als ein Ort relativer (Bewegungs-)Freiheit.13 Adorf entsteht in den Darstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner als ein regelreduzierter Raum. Dorf ist demnach ein Raum, in dem ein spezifischer Umgang mit offiziellen Regeln und Normen praktiziert wird. Der Lebensraum Dorf wird zur Antithese des Städtischen, zum kulturellen Gegenmodell der überregulierten und ge12 | Siehe dafür unter anderem den Artikel von Vogelsang/Kopp/Jacob/Hahn Urbane Dörfer, erschienen 2016 in der A us P olitik und Z eitgeschichte , über das Städtische im Dorf, oder als soziologischen Klassiker der Stadtforschung von Georg Simmel D ie G rossstädte und das G eistesleben oder mit historischem Fokus das Überblickswerk von Werner Troßbach und Clemens Zimmermann D ie G eschich te des D orfes von 2006, welches eine Gesamtschau vom Mittelalter bis zur gesamtdeutschen Entwicklung nach 1989 unternimmt. 13 | Zu den unterschiedlichen Logiken des Auto- und Fußgängerverkehrs siehe Goffman (1974: 30).

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ordneten Stadt.14 Wobei außer Acht gelassen wird, dass auch und vor allem die vergemeinschaftende und ländliche Ordnung den Einzelnen in seine Pflicht nimmt, sei es zur Organisation des Turnfestes oder zur Ausrichtung des Schützenschießens.

Vom privaten Rückzug, städtischen Risiken und Kompromissen Eine ganz andere Sichtweise auf die ländliche Lebensweise entwerfen die Einfamilienhausbesitzenden in Bdorf. Auf der Homepage der Stadt B, wird Bdorf einerseits als ein Ortsteil bezeichnet und andererseits als ländlich geprägtes Dorf mit 300 Personen beschrieben. Die Kategorisierung der Siedlung ist somit nicht ganz eindeutig: Bdorf ist zugleich ein Ortsteil einer Mittelstadt als auch ein ländlich geprägtes Dorf. Diese administrative Zugehörigkeit bildet sich jedoch räumlich-geographisch nicht ab: Zwischen dem Ortsteil Bdorf und dem Stadtgebiet liegen neun Kilometer Wegstrecke. Die Anbindung des Ortsteils ist durch öffentlichen Busverkehr geregelt, der sich hauptsächlich an die zeitlichen Bedürfnisse der Schulkinder anpasst. Zusätzlich fährt ein ehrenamtlich organisierter Bedarfslinienverkehr. Auch in Bdorf funktioniert die Beschreibung des eigenen Wohnumfeldes über das kulturelle Narrativ der Antithese Stadt. Dabei ist das Städtische jedoch nicht nur ein Ort der Anspannung, sondern wird zum ernsthaften Risikofaktor: »Die Stadt war schön hat aber einen Chemiepark, der ist etwa so groß wie die Stadt, wenn da Südwestwind weht, dann kommt da halt der Dreck rüber und das war auch keine Option vor allem mit Kindern. […] In der Stadt wurde gewarnt vor dem Niederschlag aus dem Chemiewerk und dann am nächsten Tag hatten die ganzen Pflastersteine so komische Punkte die nicht mehr weggegangen sind.« (A, Interview 4, Seite 2ff.)

14 | Christoph Baumann fasst in seinem Artikel D ie L ust am L ändlichen – P ersistenz und Variationen idyllischer L ändlichkeit (2016) die Entwicklung des kulturellen Narrativs der Ländlichkeit zusammen. In wiederkehrenden Schleifen erfährt der ländliche Raum eine Renaissance und wird als das idyllische Gegenmodell zur Stadt idealisiert.

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Bereits in diesem Beispiel werden die Begriffspaare chemisch und natürlich gegeneinander ausgespielt und einer jeweiligen Siedlungs- und Lebensweise zugeordnet.15 Die Stadt stellt dabei ein Gesundheitsrisiko dar. Konkret wird dabei auf das in mittelbarer Entfernung liegende Ruhrgebiet als industrialisierter Ballungsraum Bezug genommen. Das Ruhrgebiet wird nicht differenziert, sondern als verallgemeinernder Begriff verwendet. Die Anstrengungen des Strukturwandels scheinen vergebens: Die Bergbauvergangenheit des Ruhrgebiets wirkt nach. Das Dorf, welches die Familie als alternatives Wohnumfeld vorschlägt, hingegen ist natürlich und dementsprechend gesünder. In diesen Aussagen rekurriert die Familie auf ein stereotypes Bild der industrialisierten Stadt des 19. Jahrhunderts16, wie es in den Großstadtkritiken unter anderem durch Wilhelm Heinrich Riehl formuliert wurde. Riehl formuliert in seinem mehrbändigen Werk Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik von 1853 eine ideologisch verklärte Großstadtkritik, welche die Stadt zu Beginn der Industrialisierung als Ausgangspunkt nimmt.17 Es liege an der ideologischen Aufladung dieser Polemiken, so Bahrdt, dass die Inhalte teilweise ohne Veränderung eine stetige Reproduktion erfahren. (Vgl. Bahrdt 2006: 61) Ein anderes Risiko, welches sich auf dem Dorf minimiert, ist die Gefahr von einem Auto überfahren zu werden. »Und wir haben gesagt, die Kinder sollen einfach so aufwachsen, dass sie wirklich vor die Haustür gehen können ohne, dass man Angst hat irgendwie da fährt ein LKW vorbei und äh ja – es sollte einfach eine ruhige – sollte eine Spielstraße sein. Ein Bereich ähm ja, keine Autobahn in der Nähe, dass es irgendwie Krach gibt.« (A, Interview 1, Seite 10) 15 | Diese eindeutige Zuordnung komplementärer Begriffe ist Ausdruck eines reduzierten Ordnungsschemas mit welchem der Komplexität und Uneindeutigkeit räumlicher Kategorien gesellschaftlich begegnet wird, so argumentiert Stefan Beetz in seinem Artikel I st das L and anders von 2010. 16 | Zum Prozess der Verstädterung im Zuge der deutschen Industrialisierung ausführlicher die Geschichte der Urbanisierung in Deutschland von Jürgen Reulecke (1985). 17 | Hans Paul Bahrdt schafft in seinem Buch D ie moderne G rossstadt (2006) eine umfassende Auseinandersetzung über die Hintergründe und Umstände sowie zur Frage, welche Stadt Riehl in seinen Ausführungen adressiert.

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Die Kinder sollen spielen können, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, von einem Auto übersehen und überfahren zu werden. Diese Ansicht ignoriert die Abhängigkeit der dörflichen Lebensweise vom Individualverkehr und entwirft zugleich ein Bedrohungsszenario, in welchem die Stadt zur unmittelbaren Gefahr wird. »Es existiert ein breites Spektrum an Bedrohungsszenarien […] auch wenn es […] keine empirischen Anhaltspunkte dafür gibt […].« (Beetz 2010: 126) Die sozialräumlichen Kategorien Stadt und Land funktionieren in verschiedener Art und Weise als Projektionsflächen zur Bearbeitung wie Lösung gesellschaftlicher Konflikte und Erwartungen.18 (Vgl. ebd.: 126) Das Dorf erfährt im Umkehrschluss eine Idyllisierung als ungefährlicher, natürlicher und gesunder Ort. Auffällig in beiden Argumentationen ist der Verweis für wen diese Risiken gelten: Kinder scheinen besonders gefährdet oder, anders gesagt, die bessere Kindheit verbringt man auf dem Land. Darin sind sich die interviewten Familien und Paare in Bdorf einig. Dennoch lässt sich nicht von einer generellen Abwertung der städtischen Lebensweise sprechen: »Ja und Bdorf sollte es eigentlich gar nicht werden ne, also wir wollten eigentlich mehr so Richtung Stadt, Nähe Stadt, also Bdorf ist um einiges, also sechs, sieben Kilometer entfernt.« (A, Interview 1, Seite 9)

Familie Schroer hatte ursprünglich den Plan in der Kleinstadt zu bleiben und in suburbaner Randlage ein Eigenheim zu bauen. Die Familie wollte eine Kombination aus verschiedenen räumlichen Eigenschaften: Grünes Umfeld mit verkehrsberuhigten Straßen, keine Industrie in unmittelbarer Nähe und dennoch relativ kurze Wege zur Arbeitsstelle, zur Nahversorgung und zur Schule sowie Freizeitangeboten. Aufgrund finanzieller Gründe entschied sich Familie Schroer für ein Baugrundstück in Bdorf. Das Preis-Leistungs-Verhältnis wird hier als angemessen empfunden. Diese Wohnstandortentscheidung, die versucht das Dörfliche mit dem Städtischen zu vereinen, also unter anderem die günstigen Bodenpreise wie das ungefährliche Umfeld mit einer guten Anbindung für den Wochenendausflug, gestaltet sich als Kompromiss und als Zusammenführung spezifischer Merkmale beider räumlicher Ordnungen. Frau Schroer 18 | So lässt sich die gegenwärtige Landlust als Antwort auf die kapitalistische Entwicklung verstehen, die mit der Siedlungsform des Städtischen eng verbunden wird. Dabei geht es, nach Beetz, eher um konsumtive Vorstellungen und Ziele.

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formuliert die Aussicht eventuell nach Auszug der Kinder wieder in ein städtischeres Umfeld zu ziehen. Der Wohnstandort Dorf ist ein Kompromiss, der sich für eine bestimmte Lebensphase auszeichnet. Das dörfliche Umfeld entsteht hier als familiales Wohnumfeld auf Zeit. Familie Sattler beschreibt eine andere Motivation für den Umzug nach Bdorf. Mit folgenden Worten fasst Herr Sattler die Wohnlage der Familie zusammen: »Ja man ist hier richtig schön weit weg von allem. Das muss man mögen und wir lieben es. Man hat einfach seine Ruhe.« (A, Interview 5, Seite 31) Das Dorf Bdorf ist richtig schön weit weg von allem. Weit weg von Gesundheitsrisiken, weit weg von der städtischen Hektik, weit weg von Verkehrslärm, weit weg von allem. Der Umzug auf das Dorf bedeutet einen privat-familialen Rückzug. Ähnlich wie die befragten Familien in Adorf dokumentiert sich hier eine Ausformulierung des Motivs der Ruhe. Vor der Hintergrundfolie einer politischen Stadt 19 in der Gesellschaft gestaltet wird, beschreibt Herr Sattler Bdorf als unberührte, apolitische Sphäre.20 Bei der Wahl für die dörfliche Lebensweise handelt es sich also um eine private Entscheidung, die wenig mit der spezifischen Sozialform der dörflichen Gemeinschaft zu tun hat. »Die relevante Mitte […] ist das Haus, die Immobilie, der Ort an dem man Eigentum hat und wo sich das privat-intime Leben abspielt.« (Hahn 2009: 67) Diese privat-familiale Verortung im Lebensumfeld lässt sich auf den Mental Maps der Familien nachvollziehen: Anders als in Adorf dient hier ausschließlich das Eigenheim als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines bildlichen Auf baus der alltäglichen Umgebung. In den Argumentationen und Abwägungen, die mir im Material begegnen, spielt die dörfliche Sozialgemeinschaft als besondere Form der Vergemeinschaftung eine untergeordnete Rolle. In den Aussagen von Familie Sattler ist das Dorf eine private Lebensform.21

19 | Über das Dispositiv der Stadt als politischer Ort ausführlich in Siebel (2015); sowie Bahrdt (2006). 20 | Achim Hahn theoretisiert diesen empirischen Befund mithilfe des Konzepts des Randes. Er beschreibt die Lage am Rand als »abseits historischer sozialer Institutionen« (Hahn 2009: 63). 21 | Julia Rössel untersucht in ihrer Monografie U nterwegs zum guten L eben (2014) die ländliche Idylle als privates Unternehmen bei dem es weniger um gemeinschaftliche Anstrengungen geht, sondern um die Umsetzungen individueller Lebens- und Wohnvorstellungen. Auch Marcus Menzl weist in seiner Publikation L e-

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Diese spezifischen Kombinationen verschiedener Elemente, wie sie hier geschildert wurden, erfahren unter dem Stichwort Urbane Dörfer wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In einer dialektischen Beziehung verknüpfen sich urbane und dörfliche Merkmale.22 So begrüßt Frau Schroer das Vorhaben des Ortsvorstehers ein öffentlich zugängliches WLAN im Ort zu etablieren und ist zugleich froh, dass man hier im Lebensmittelgeschäft auch mal anschreiben lassen könne. Der Umzug aufs Land bedeutet nicht zwingend eine Distanzierung zum Lebensraum Stadt, sondern versucht vielmehr die Realisierung unterschiedlicher Wohnvorstellungen (vgl. Zimmermann 2015: 66) und erreicht damit eine Auflösung traditioneller räumlicher Ordnungskategorien (vgl. Mahlerwein 2009: 25). Hier dokumentiert sich ein dynamisches Verständnis von Wohnen: Unterschiedliche Lebensphasen stellen unterschiedliche Anforderungen an das jeweilige private Lebens- und Wohnumfeld.

Von Kontrolle, Übersichtlichkeit und kurzen Wegen Anders ist es in Cdorf. Cdorf hat 9000 Einwohnende und ist damit statistisch gesehen eine Kleinstadt. In den 1970er Jahren wurde Cdorf eingemeindet und entwickelte sich zu einem suburbanen Vorort einer Großstadt. Mehrere Buslinien fahren alle fünfzehn Minuten nach Cdorf. Cdorf verfügt über eine relativ gute Infrastruktur. Es gibt mehrere Supermärkte, die alle Preissegmente abdecken, es gibt alle Schulformen, mehrere Eisdielen und einen Karnevals- und Gewerbeverein. Und Cdorf wächst. Insbesondere durch Umzüge innerhalb des Stadtgebietes. Interessant ist, dass, obwohl es sich bei Cdorf sowohl raumstrukturell als auch statistisch betrachtet um eine Kleinstadt handelt, die Befragten zur Beschreibung ihres Wohnumfeldes auf das Attribut des Dörflichen zurückgreifen. Doch was macht den suburbanen Vorort zum Dorf?

ben in S uburbia (2007) eine zunehmende Orientierung an Familie und Eigenheim auf, siehe dafür Seite 132 und Seite 399. 22 | Vgl. Baum (2014): 129; Ausführlicher zum Diskurs urbaner Dörfer siehe Vogelsang u.a. (2016): Urbane Dörfer. Städtische Lebensformen im dörflichen Kontext.

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»Also das ist ein Dorf, das ist ein Dorf. Das sagt ja schon viel ähm ich schätz das sehr. Sage ich auch dazu. Ich find das schön, wenn ich einkaufen geh und auch Leute treffe und mit denen palavre, habe ich nichts gegen. Also nach wie vor ist es so. Ich mein, Cdorf ist schon auch in der Zeit total gewachsen und es ist immer noch so – und das macht das Dorf dann aus – dass man doch ständig Leute trifft.« (C, Interview 17, Seite 24)

Auf meine Frage, wie er seinen Wohnort jemandem beschreiben würde, verweist Herr Schmidt als erstes auf die Kategorie des Dorfes in der Gewissheit damit zahlreiche Assoziationen anzustoßen. Für ihn ist es ein wesentliches Merkmal eines Dorfes, dass man sich kennt. Die hohe Kommunikations- und Interaktionsdichte wird von Herrn Schmidt als positiv herausgestellt. Das dörfliche Miteinander entfaltet eine andere Qualität als im städtischen Umfeld, das sich nicht nur in der beschriebenen Quantität erschöpft: »Es ist aus meiner Sicht für Eltern super. Man hat wirklich Sozialkontrolle hier. Also man kennt zum Glück alle Freunde und auch alle Eltern der Freunde. Das ist ein Aspekt. Das ist schon schön ne, dass man irgendwie seine Kinder auch ja ohne Aufsicht. Unser Sohn, ich habe ja gesagt, der ist gesellig, der ist auch spätnachts unterwegs. Da habe ich keine Angst irgendwie. Das ist aus meiner Sicht ein Vorteil eines Dorfs.« (C, Interview 17, Seite 24)

Das geschlossene Sozialsystem eines Dorfes, in dem »jeder (fast) alles von (fast) jedem weiß« (Siebel 2015: 64) bedeutet für Herrn Schmidt relative Sicherheit. Er kenne die Freunde seines Sohnes und die Eltern der Freunde. Die auf dieser Tatsache basierende soziale Kontrolle entsteht als positives Merkmal dörflichen Zusammenlebens. (Vgl. Beetz 2005: 27) Ähnlich wie in Bdorf gelingt auch hier die Beschreibung des Wohnumfelds anhand eines vermeintlichen Bedrohungsszenarios. Die Sicherheit der Kinder stellt eine Herausforderung dar, die das Lebensumfeld Dorf auf vielfältige Weise zu lösen scheint: Es gibt weniger Verkehr, weniger industrielle Belastungen und eben mehr Kontrolle. Herr Schmidt charak-

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terisiert das dörfliche Leben als eine Art der individuellen Entlastung von sozialen Risiken durch kollektive Verantwortung.23 Für Frau Kanichs hingegen entsteht der dörfliche Charakter in der Kompaktheit des Ortes. Es sei eben alles da, Einkaufsmöglichkeiten, Schulformen, Kirchen, Sportvereine und sogar ein Hallenbad. Cdorf habe die dafür passende Größe. Alles sei zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar. Führt Frau Kanichs ihren Alltag und die von ihr beanspruchten Stationen und Orte weiter aus, wird deutlich, dass sich ihr Radius nicht auf die gesamte Kleinstadt beziehungsweise auf den gesamten Stadtteil bezieht. Frau Kanichs bewegt sich in einem bestimmten Bereich des Stadtteils. Diese verinselte Aneignung spezifischer Orte, die im Alltag eine Bedeutung und Relevanz haben, wird als Merkmal für städtisches Wohnen beschrieben. Die Stadt wird immer nur partiell und selektiv wahr- und zur Kenntnis genommen. (Vgl. Bahrdt 2006) Das illustrieren auch die von den Befragten angefertigten Mental Maps zum Wohnumfeld. Während auf den Karten der Paare und Familien aus Adorf relativ umfassend und ganzheitlich das Dorf abgebildet wurde, und die Karten eine relative Deckungsgleichheit aufweisen, sind auf den Karten der Bewohnerinnen und Bewohner aus Cdorf hauptsächlich die eigene Straße zu sehen und vereinzelte Institutionen und Orte, die im Alltag der Familie eine Rolle spielen. Die sozialräumliche Praxis des Wohnens hat in Cdorf etwas mit Selektion und Reduktion zu tun. Einzelne, bedeutungsvolle wie alltägliche Orte werden mehr oder weniger miteinander in Verbindung gebracht. Das Ergebnis sind sechs verschiedene Karten von sechs verschiedenen Familien. Hier entsteht Dorf nicht als spezifischer Typ von Vergemeinschaftung, sondern als individuelle Reduktionspraxis. Jeder baut sich sein Dorf im Stadtteil. Zu diesem Moment der subjektiven Reduktionsleistung findet sich das wiederholte Argument des Rückzugs. Ausflüge in die Innenstadt, zu Freunden und Bekannten, zum Besuch des Wochenmarkts oder kultureller Veranstaltungen, werden als selten und besonders beschrieben. Zwar wird auf der einen Seite die hervorragende Anbindung an die Großstadt als Standortfaktor betont, doch wird es kaum genutzt. 23 | Auch Marcus Menzl (2007) beschäftigt sich mit dem Phänomen der sozialen Kontrolle innerhalb von Einfamilienhausgebieten. Er bestimmt den Klatsch als »vielfach unterschätztes Schmiermittel in sozialen Konstellationen« (Menzl 2007: 285).

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»Der Chor ist in der Stadt. Mein Kontakt zur Außenwelt sage ich immer. Klar, Kino und so machen wir immer noch, aber wie oft fahre ich ins Zentrum. Unser Kieferorthopäde ist noch in da, fährt man rein. Mal mit einer Freundin mal zum Klamotten kaufen, shoppen. Aber sonst.« (C, Interview 16, Seite 30)

Frau Lahnstein bezeichnet ihre Besuche und Ausflüge in die Innenstadt als ihren Kontakt zur Außenwelt. Der Wohnstandort Cdorf entsteht als ein relativ geschlossener dörflicher Lebensraum. Alle Dinge des täglichen Bedarfs können in Cdorf erledigt werden, es gebe wenige Anlässe, für die man Cdorf verlassen müsse. Das wird als hohe Qualität wertgeschätzt. In den Interviews lässt sich eine hohe Nahraumorientierung feststellen, die sich sowohl auf Notwendigkeiten wie Einkäufe als auch auf die Sphäre der Freizeit bezieht. Während die Nahraumorientierung in der Forschung als Merkmal verdichteter Innenstadtquartiere verhandelt wird (vgl. Beckmann/Witte 2006: 228), entsteht es in den Erzählungen als positives Merkmal der dörflichen Lebensweise. Während in Adorf selbstverständlich eine regionale Lebensweise praktiziert wird, besteht die Qualität in Cdorf darin, alles vor Ort zu haben. Der dörfliche Charakter, auf den die Befragten in ihren Ausführungen rekurrieren, begründet sich in der Übersichtlichkeit 24, die jedoch eine Herstellungsleistung der Personen darstellt. Cdorf wird zum Dorf in der Stadt. Interessant ist, dass die Beschreibung des Wohnortes Cdorf im Wesentlichen ohne den Vergleich zur Stadt funktioniert. Eher geht es darum, das Dörfliche im Kleinstädtischen und eigentlich ja im Großstädtischen herzustellen. Dies wird praktiziert und imaginiert durch eine Kommunikationsdichte unter den Anwohnenden, durch die Kontrolle ermöglicht wird und Risiken abgebaut werden. Der sozialen, kontrollierbaren Dichte, steht die selektive Verdichtung von unmittelbar erreichbaren Aktionsangeboten zur Seite, die sich in der Wahrnehmung der Befragten von anderen Angeboten im Stadtkern nicht beeindrucken lässt.

24 | Unübersichtlichkeit wird als Merkmal eines städtischen Lebensumfeldes beschrieben (vgl. Zimmermann 2015: 66).

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F a zit Räumliche Ordnungskategorien sind immer noch relevant. In der Auswertung des empirischen Materials konnten unterschiedliche ›Modes of Ordering‹, benannt werden, die unter Bezugnahme auf das Dispositiv des Ländlichen eine räumliche Verortung des jeweils eigenen Wohnstandortes unternehmen. Die Charakterisierung des jeweils eigenen Wohnstandortes funktioniert auf der Basis der dichotomen Klassifizierung von Stadt und Land, die mit spezifischen Lebenshaltungen assoziiert werden. Jedoch, und hier zeigt sich ein Ergebnis dieser komparativen Nebeneinanderstellung, sind diese Vorstellungen nicht homogen: Eine dörfliche Lebensweise kann sowohl regionale Ausdehnung haben, als auch durch eine Nahraumorientierung geprägt sein. Sie kann im privaten Rückzug bestehen oder in der Reproduktion tradierter Lebensideale. Sie kann charakterisiert sein durch informelle Funktionslogiken oder den expliziten Gebrauch sozialer Kontrolle. Dorf ist eben nicht gleich Dorf. Des Weiteren sind diese kulturellen Imaginationen nicht notwendig deckungsgleich mit Siedlungsstrukturen. Das Vorhandensein bestimmter räumlich-geographischer Faktoren lässt nicht auf eine bestimmte Lebensweise schließen und umgekehrt. Das Ländliche oder eben das Städtische als kulturelle Lebensstile sind nicht das Ergebnis geographischer Voraussetzungen, »sondern ein Ergebnis sozialer und kultureller Praktiken.« (Zimmermann 2015: 55) Dennoch funktionieren beide sozialräumlichen Formen als die Kontrastfolie des jeweilig anderen: In allen dargestellten Beschreibungen wird, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, sich auf Narrative zur Stadt bezogen. Stadt macht Dorf. Und Dorf macht Stadt.

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I nterview A, Interview 1, Familie Schroer, geführt am 12.11.2015 A, Interview 4, Familie Heine, geführt am 14.08.2015 A, Interview 5, Familie Sattler, geführt am 19.12.2015 B, Interview 8, Familie Lutz, geführt am15.03.2016 B, Interview 9, Familie Schmeling, geführt am 21.03.2016 B, Interview 10, Familie Müller, geführt am 11.03.2016 C, Interview 16, Familie Lahnstein, geführt am 02.08.2016 C, Interview 17, Familie Schmidt geführt am 06.10.2016 C, Interview 20, Familie Kanichs, geführt am 23.09.2016

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Hic sunt dracones Hier sind Drachen. Ein Portrait des Aniene Unterlaufs Jorg Sieweke Hier sind Monster! Weltkarten aus den Tagen der Kolonialisierung zeigen noch nicht erschlossene Regionen, bevölkert von Drachen, Seeungeheuern und anderen Monstern. Diese weißen, noch unerforschten Flecken blieben für lange Zeit mythisch und unheimlich. Ausgehend von der Aufklärung sah Weber (1972) mit der Modernisierung in erster Linie einen Prozess der Rationalisierung am Werk. Die Vernunft ersetze zunehmend andere Begründungsweisen wie Tradition oder Autorität, Mythos und Magie würden zurückgedrängt, die Welt wurde als kognitiv beherrschbar gedacht und dadurch entzaubert. So setzte sich eine Weltsicht durch, die alles Mythische oder Magische ins Reich des Ungebildeten oder Lächerlichen verdrängte. Doch aus den Fugen dieser zweckrationalisierten Weltanschauung steigen immer wieder die verleugneten Monster empor. Anstatt sie als rückständige Betrachtungen zu negieren, stellen diese Monster auch ein produktives kulturelles Vehikel dar, das Ängste und Ungewissheiten bebildert, um diese mittels Auseinandersetzung zu durchdringen. Das folgende Portrait der rurbanen Flusslandschaft des Aniene eröffnet Blicke auf die weißen und unbekannten Flecken in unserer modernen Gesellschaft. Auffällig erscheint die Stigmatisierung des Wilden in der Zuschreibung gleichsam unzivilisierter Kultur als auch Natur. Latour bezeichnet diese Mischwesen aus Kultur und Natur als ›Hybride‹ oder ›QuasiObjekte‹ – sie widersetzen sich der rationalen Kategorisierung (Latour 1998).

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Die Beobachtungen und photographischen Arbeiten entstanden im Rahmen eines Aufenthaltes des Autors als Stipendiat der Villa Massimo in Rom.

H inab zum F luss Ausgehend von der außerhalb der Mauern im Quartier Nomentano gelegenen Villa Massimo beginnt die Suche nach einem individuellen Zutritt jenseits touristisch erschlossener Routen. Von der topographisch erhöhten Position, dem Lauf verborgener Bäche folgend, führt der Weg auf die andere Seite der Gleise des Bahnhofs Roma Tiburtina. Der überwiegende Teil des heutigen römischen Stadtgebietes entwässert zum zweitgrößten Fluss der mittelitalienischen Region Latium, dem Aniene, der wiederum westlich der Via Salaria in den Tiber mündet. Der Unterlauf des Aniene (einstiger Name des Oberlaufs: Anio; des Unterlaufs: Teverone) mäandriert heute entgegen seiner durch Goethe und Turner bezeugten historischen Signifikanz fast unbemerkt durch das nördliche Stadtgebiet. Der weitgehend unverbaute und erst auf den letzten 100 Metern tief in die Ebene eingeschnittene Flusslauf wird durch die bis in die Antike zurückreichenden Brücken Ponte Mammolo, Ponte Nomentano, und Ponte Salario markiert. Einer der wenigen öffentlichen Zugänge zum Fluss befindet sich unweit der heutigen Ponte Nomentana Vecchio in einem von Schirmkiefern überstandenen und bestenfalls von Hundebesitzern frequentierten Park. Die Ponte Salaria diente bereits den aus Norden nach Rom Reisenden der Grand Tour als stadtnaheste Querung des Aniene. Mit der Ausnahme Turners, der hier bereits die umgebende Flusslandschaft in den Vordergrund stellt1, liegt der Fokus der meisten historischen Gemälde auf den Bauwerken der Brücken und Türme. Es wird schnell deutlich, dass der Flusslauf des Aniene eine ganze Reihe markanter Orte in Latium auf unvermutete Weise miteinander ver-

1 | Turner, J.,M.,W. (1819) The River Aniene with the Ponte Salario and Torre Salaria, Rome Tate Gallery, London.

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bindet: am Oberlauf etwa Neros Villa und Staustufe2 als Ausgangspunkt der Aquädukte Aqua Anio und Aqua Vecchio, des unmittelbar oberhalb gelegene Kloster Sacro Speco als Ursprung des Benediktinerordens, der Villa Gregoriana mit den Kaskaden im Übergang der Sabiner Bergen ins Flachland sowie die unterhalb gelegenen, bis heute aktiven MarmorSteinbrüche vor Tivoli. Sie alle liegen am Aniene und zeugen vom wechselnden Charakter; vom heiliggesprochenen Tal des Oberlaufs bis zu dem als beunruhigend empfundenen Unterlauf im römischen Stadtgebiet. Der Flusslauf bietet zeiträumliche Relationen ungleichzeitiger Wertschätzung und paradoxer Nutzungsmischungen der sich verändernden Deutungen. Die irrationale Ablehnung und teilweise Furcht vor dieser gleichsam entlegenen und zentralen Landschaft am Unterlauf steht im starken Gegensatz zur religiösen Erzählung des heiliggesprochenen Tals des Oberlaufs des Aniene, wo Benedikts’ Rückzug in eine Grotte den Ursprung des Benediktinerordens markiert und das Monastero di San Benedetto bis heute Pilgerort ist. Worin besteht der qualitative Unterschied zwischen dem Rückzug Benedikts in eine Höhle oberhalb des Aniene damals und dem Rückzug der Geflüchteten in das Dickicht des Flussufers heute? Handelt es sich doch jeweils um non-konformes Verhalten, welches einerseits den Ursprung der Toleranz im europäischen Humanismus herleitete und anderseits das Ende eben dieser Toleranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrantinnen und Migranten hervorruft. Der Verweis auf die Geschichte des Refugiums Benedikts als Außenseiter seiner Zeit eröffnet Möglichkeiten, diese Stigmatisierung des Rückzugs der heute marginalisierten Migrantengruppen differenzierter zu beurteilen.

2 | Neros Villa oberhalb der heutigen römischen Gemeinde Subiaco und unterhalb des späteren Benediktinerklosters liegt im Talausgang und war namensgebend für den Ort unterhalb des (Stau)Sees. Dieser Stausee ermöglichte es, das frische Gebirgswasser des Anio in die bis heute erhaltenen Aquädukte zu lenken: etwa das Aqua Anio.

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Abbildung 1: Hütten der Geflüchteten nahe der Mündung des Aniene in den Tiber

Bild des Autors, 2015

V on ausgetretenen Touristenrouten zu W ildpfaden Die Querung der historischen Ponte Nomentano gewährt einen Blick auf den Aniene durch vergitterte Brüstungen, ein Pfad schwenkt flussaufwärts ein. Ein unverschlossenes, doppelflügeliges Stahltor passierend,

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bahnt sich ein Trampelpfad zwischen abgekippten Schutthügeln entlang des nördlichen Ufers. Hier existieren weder Wege oder Schilder, noch sonstige erkennbare urbane Anbindungen, bestenfalls einläufige Pfade. Ihr wechselnder Abstand zum Ufer scheint der Undurchlässigkeit der Vegetation geschuldet, bald stellt sich der Eindruck ein, die Stadt mit dem Verkehr und der dichten Bebauung hinter sich gelassen zu haben – sie ist kaum mehr zu sehen oder zu hören. Erst später soll deutlich werden, welche Refugien sich in diesem Dickicht verbergen. Diese Flusslandschaft ist weder angelegt noch bepflanzt; es handelt sich meist um spontane ruderale Vegetation, an Wildpfade erinnernde Wege gedeihen durch ihren sporadischen Gebrauch selbst. Im gesamten Verlauf zwischen Ponte Tiburtina und Ponte Mammolo befindet sich keine weitere Brücke zur fußläufigen Querung des Flusses und lediglich handgemalte Wegweiser bieten ein Minimum an Orientierung. Im Gegensatz zu den eingedeichten und durch Straßen, Mauern und Promenaden befestigten Ufer des Tibers, verläuft der Aniene weitgehend unverbaut durch weite Überschwemmungsflächen – die offensichtlich aus diesem Grund noch nicht entwickelt wurden.

V ia P ietral ata : in den M aschen vernakul ärer S ehnsucht Die Unverfügbarkeit dieser Landschaft wird kontrastiert durch die an das südliche Ufer angrenzende Landschaft entlang der Via Pietralata. Die mit Gewerbebrachen gesäumte Straße kann als einer der wenigen sich kulturell endogen entwickelnden Orte Roms betrachtet werden. Richtung Ponte Mammolo begleitet die mäandrierende, schmale Straße ohne Bürgersteige oder Parkplätze den Aniene und bietet einen der bedeutendsten Orte zeitgenössischer Subkultur in Rom. Hier entstehen auf Basis kultureller Transformationsprozesse noch Zwischennutzungen wie Clubs, Galerien, Restaurants und Bars, welche die tagsüber unscheinbare Straße abends in einen glamourösen Boulevard verwandeln. Hier arbeitet und feiert die römische Jugend, weitab touristischer Zentren. Von der Dachterrasse des Lanificio3 lässt sich der Flusslauf anhand des flankierend wachsenden Bambusbandes erkennen. Durch die Industrieglasfenster 3 | Lanifico: Für eine nähere Erläuterung siehe www.lanificio.com/en

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des Restaurants darunter, wirkt das Wasser des Aniene milchig hellblau vom gelösten Sediment der flussaufwärts gelegenen Marmorsteinbrüche. Abbildung 2: Rückseite des Lanificio – Büro, Restaurant, Bar & Club, Via Pietralata 159. Umgenutzte ehemalige Wollspinnerei vom gegenüberliegenden Aniene-Uferweg gesehen

Bild des Autors, 2015

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Diese als Ausfallstraße hoffnungslos unterdimensionierte Via Pietralata fädelt sich auf der Rückseite des Bahnhofs Tiburtina auf die Stadtautobahn der Tangentiale ein. Folgt man den Sackgassen von der Via Pietralata in Richtung des südlichen Aniene-Ufers, enden diese an von Wachhunden verteidigten Kleingarten-Claims, bevor man nur die Nähe des Ufers erreicht hat. Eine weitere allgegenwärtige charakteristische Nutzung innerhalb dieser als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Uferbereiche des Aniene-Unterlaufs sind die ubiquitären Schrottplätze (Abb. 3). Abbildung 3: Schrottplatz am Ufer des Anienean der Via della Foce dell’Aniene

Bild des Autors, 2015

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Abbildung 4: Bettrahmen als improvisiertes Gartentor

Bild des Autors, 2015

Dutzende dieser gut frequentierten Ersatzteilbörsen fügen sich auf bizarr selbstverständliche Weise in die Landschaft ein. Die allgegenwärtigen Bettgestelle werden zu deren Einfriedungen genutzt. Neben den filetierten Komponenten gewöhnlicher Automodelle sammelt jeder Schrottplatz auch individuelle Trophäen; hier ein ausgebranntes Chassis eines frühen Porsche 911 Modells, dort ein Maserati Quattroporte mit fingiertem Totalschaden. Die Verwebung der Schrottplätze mit

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dem politischen und gesellschaftlichen Leben wird anhand der Kandidatur der Inhaberin von Romana demolizioni, Irene Bucci, deutlich: 2016 stellte sie sich für das kommunale Parlament zur Wahl und offerierte ihre Expertise als Entsorgungs- und Recyclingprofi. Am nördlichen Ufer des Aniene erlauben offene Wiesen weite Blicke zurück auf die Silhouette der Stadt. Die überkopfhohen, zweijährigen Großen Kletten (arctium lappa) dominieren weite Teile der Aue, der Korbblütler wurde als Volksarzneipflanze verwendet, ihre Wurzeln wurden u.a. zur Droge Radix Bardanae verarbeitet. Das Klettenwurzelöl findet in der Kosmetik Anwendung; weitere Inhaltstoffe zeigen vorbeugende (Fruktan) und heilende Wirkung (Arctigenin) gegenüber Krebserkrankungen. Die ehemalige Nutzpflanze verweist heute jedoch auf Brachen. Die dichten Bambusbestände entlang des Ufers lassen den Fluss zunächst unerreichbar erscheinen, folgt man jedoch den sich feiner verästelnden Pfaden, bietet das Bambusdickicht einen Schutzraum für unterschiedlich ausgedehnte informelle Nutzungen vom Angelplatz bis zur Dauerwohnnutzung. Im Unterschied zu dem durch bellende Hunde verteidigten Gartenland auf der gegenüberliegenden Uferseite, handelt es sich bei diesen Refugien um diskrete Nutzungen der Bewohnenden, die nur durch das Schimpfen der Wildvögel vor Eindringlingen alarmiert werden und die ihren Standort nicht durch einen Kettenhund preisgeben würden. Hier werden mit den einfachsten Mitteln aus einem Repertoire von Recyclingmaterialien gedämmte, mehrschalige Wandelemente erschaffen, deren Elemente aus dem baulichen Resten vergangener Räumungen zu stammen scheinen – gewissermaßen zeitgenössische Spolien. Mit einer möglichen Räumung und Zerstörung dieser abusiven Behausungen ist jederzeit zu rechnen. Sie können mit nur einem von der Kommune beauftragten Bulldozer-Einsatz entfernt werden. Eines der ungeschriebenen Gesetze dieser Nutzungen besteht daher in ihrer Unsichtbarkeit. Offenkundig werden nur die zu aufdringlichen, vom Wege bereits sichtbaren Hütten beräumt, während benachbarte, sorgfältig im Dickicht verborgene Quartiere als tolerierbar verschont werden. Toleranz ist auch hinsichtlich der Domestizität dieser Behausung gefragt. Einerseits kann man ihren Bewohnenden mit nach frischer Wäsche riechenden Handkarren vom Waschsalon kommend begegnen, anderseits ist offenkundig, dass durch fehlende Kanalisation alle Abwässer ungeklärt in den Fluss münden. Die improvisierten Behausungen, die sich in diesen städtischen Refugien wiederfinden, sind die Orte des Dienstleistungspersonals der rö-

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mischen Gesellschaft, die weder rechtlich noch finanziell Zugang zum legalen römischen Wohnungsmarkt haben. Analog zur Erfahrung mit anderen informellen Siedlungen besteht eine Möglichkeit in ihrer Anerkennung und Legalisierung und damit die nachträgliche Ausstattung mit einer Mindestinfrastruktur, etwa dezentraler Abwassersammlung oder Reinigung. Auf diese Weise könnten die sehr leichten und an den Ort angepassten Behausungen auch infrastrukturell standortverträglich werden und sich als vernakuläre Architektur entfalten.4

U nverhoffte B egegnungen und P raktiken ihrer V ermeidung Jenseits der Via Salaria trennt ein Vater mit seinem Sohn Kupfer aus Elektroschrott, indem beide die Werkstücke mit dem Hammer bearbeiten. Der scheinbar beliebig am Wegesrand gelagerte Schrott stellt also bereits vorsortierte Ressourcen dar. Diese Praxis des stofflichen Recyclings, etwa von Kupferspulen aus Kühlschrank-Kompressormotoren, sei nach Selbstauskunft dieses Bewohners eine alternative Erwerbsform zu Raub und Prostitution. Auch andere Standorte im Dickicht sind dabei keinesfalls zufällig gewählt, sondern strategisch mit Zugang zu dem besten Infrastrukturservice angelegt. Im Umfeld des Pendler-Umsteigebahnhofs Ponte Mammolo befand sich ein dichtes Quartier mit hunderten von Hütten, deren Bewohnerschaft sich sowohl aus dem Servicepersonal für den römischen Tourismus als auch den Römern selbst zusammensetzt. Die prominent gegenüber einem Bussammelparkplatz gelegene Siedlung wurde 2015 mit nur einem Tag Vorwarnung geräumt und hinterließ ein mahnendes Trümmerfeld. Diese Form des ›Quartiermanagements‹ gelangte bis in die Berichterstattung der New York Times (Povoledo 2015). Denn die Bewohnenden wurden damit natürlich nicht aus der Stadt vertrieben, sondern reagieren mit einer Verfeinerung in der Anpassung ihres Rückzuges an Standorte noch tiefer im Uferdickicht sowie im Straßenbegleitgrün der Metro-Stationen. Die Marginalisierung von Orten und Bevölkerungsgruppen scheint sich wechselseitig zu verstärken.

4 | Der Ursprung des Wortstammes ›verna‹ verweist auf den im Hause geborenen Sklaven/Haussklaven.

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Abbildung 5 (li.): Raumsequenzen im Bambusdickicht Abbildung 6 (re.): Innenräume aus flussbegleitendem Bambusdickicht

Bilder des Autors, 2015

Eine weitere unverhoffte Begegnung ergibt sich an einer anderen Sackgasse eines Wildpfads, der unter das Widerlager einer Leitungsbrücke führt. Von gebogenem Bambus geformte Hallen staffeln eine Sequenz von Vorräumen, die schließlich zu einer zweigeschossigen, mit Wärmedämmung versehenen Holzkonstruktion führen. In dem verborgenen, doch sonnigen Vorgarten stehen mehrreihige Weinstöcke hinter einem mit Polizeiband versehenen Zaun. Dieses offensichtlich ›entliehene‹ Polizeiband mag die meisten ungebetenen Besuchenden abhalten, indem es die Markierung eines tatsächlichen Polizeieinsatzes suggeriert. In einer weiteren Begegnung ›warnte‹ ein am Fluss angelnder Vater vor dem weiter gehen denn, weiter hinten seien bissige Hunde. Dieser Bewohner macht sich die Zuweisung ›hic sunt dracones‹ bereits als Selbstschutz zu eigen.

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S ehnsucht – eine F rage der P erspektive Im Kontrast zu den zweifelslos zeitlos bedeutenden Zeugnissen der Antike, der Renaissance und des Barock gibt es im Spannungsfeld der Millionenstadt immer noch Entdeckungen zu machen, die einer weitgehenden Kommodifizierung Roms innerhalb der alten Mauern begegnet. Gerade weil die ›Ewige Stadt‹ so für ihre Bewohnenden immer weniger verfügbar ist, entfaltet sich außerhalb der Mauern die eigentliche endogene Dynamik kultureller Produktivität und steht dabei in der Tradition früherer Epochen von den frühchristlichen Katakomben an der Via Appia bis zu der von Pasolini popularisierten Campagna Romana und den Quartieren entlang der Via Tuscolana. So überrascht es nicht, das sich im Unterholz der durch den Naturschutz regulierten Flusslandschaft marginalisierte Gruppen und Aktivitäten finden, deren Präsenz von offizieller Seite geleugnet wird. Die verbleibende mythische Qualität dieses ›Quasi−Rom‹ ist typischer Ausdruck einer Stadt, die Vieles bietet und Weniges ausschließt. Auch wäre dieses Portrait mit ›degrado di Roma‹ zu oberflächlich und unzutreffend beschrieben, da dies die Orte der Stadt sind, wo sich Kultur von unten spontan und wild neu organisiert. Die beschriebenen Situationen mögen auf den ersten Blick als wahllose und zufällige Restflächen erscheinen, doch die von Geflüchteten identifizierten Standorte verweisen vielmehr auf eine strategische Zweckrationalität hinsichtlich ihrer Lagegunst, der Nähe zu Jobs, Services und Infrastrukturen und zeugen von einer großen Anpassungsfähigkeit an die lokalen Verfügungsräume. Misstrauen, Argwohn und Angst der regulären Bewohnenden weisen auf die Grenzen der Akzeptanz gegenüber dieser ›freundlichen Übernahme‹ ihrer Sehnsuchtslandschaften als Orte unausgesprochener Heimatprojektion durch die Neu-Ankömmlinge. Die Projektionen und Sehnsüchte auf diese durch den Naturschutz versperrte, schlecht erschlossene und kaum gepflegte römische Stadtlandschaft, können nur als unerfüllter, sublimer Wunsch erahnt werden, etwa Sehnsucht der Bürgerinnnen und Bürger einer der am dichtesten besiedelten Städte Europas nach etwas Freiraum und wohnungsnahem Grün. Tatsächlich anzutreffen sind Hundebesitzende und vereinzelte Joggende, die sich qua Gebrauch ihre eigenen Pfade durch das Dickicht bahnen. Auch wenn es sich nicht um offiziell sanktionierte Kultur oder Planung handelt, haben diese hier skizzierten Situationen einen nicht zu

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unterschätzenden Stellenwert als ›Ankunftsstadt‹ (Saunders 2001). Trotz der besten Absichten der Schutzgebietsausweisung wird in diesen weitgehend deregulierten Bereichen vieles kompensiert, was nach offizieller Policy durch die Maschen fallen würde. In der Toleranz dieser Prozesse liegt das Potential eines interkulturellen Katalysators. Hier kann sich die Stadt in neuen Konstellationen selbst erneuern, indem sie emergierenden alternativen Strategien aus dem Informellen jenseits der fortschreitenden Modernisierung und Luxus-Sanierung Roms eröffnet. In positivistischer Analogie zur Berliner Nachwendeerfahrung mit ihren spontanen Nutzungen von Brachen und Spielräumen sind diese informellen Enthaltungen der Stadt notwendig und wichtig für die Erneuerung, Experimentierfreude und Offenheit einer Stadtgesellschaft. In den beschriebenen Situationen mischt sich die funktionale Qualität der Ankunftsstadt mit der Ambivalenz des Weichbildes grüner Infrastrukturknoten.

A synchrone W iederentdeckung urbaner F lüsse Für den Aniene scheint die höchste nationale Schutzgebietsausweisung wenig mit der ökologischen Wertschätzung dieses Bereichs in der Bevölkerung zu korrelieren. In der jüngeren Geschichte entdeckten verschiedene Städte zu unterschiedlichen Zeiten ihre Flüsse ›wieder‹. Der damalige Umweltminister Klaus Töpfer sprang in den 1980er Jahren medienwirksam von einem Polizeiboot in den Rhein, was zu dieser Zeit insbesondere angesichts der Schadstoff belastung als abenteuerlich angesehen und zum Auftakt der Aufwertung der Wasserqualität von Rhein und Elbe wurde. Die Emscher, im Herzen des Ruhrgebiets, wird nach Auszug der Schwerindustrie von einem offenen Abwasserkanal zu einem Fluss umgebaut. Der Verein ›Friends of the LA River‹ initiierte den Prozess, den Fluss von einer nicht betretbaren Flutrinne, zu einem identitätsstiftenden öffentlichen Raum der Stadt zurückzuerobern. Die ehemals abgezäunte Flutrinne wird zur neuen Identität der angrenzenden Stadtteile Downtown, Silver Lake und East Hollywood. Das für die Stadt als unverträglich stilisierte Monster hydrologischer Modernisierung, kehrt zurück in die Domestizität der Nachbarschaften.

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Die Entdeckung des Aniene in Rom scheint vorläufig weiter den informellen Nutzungen vorbehalten zu bleiben. Der überwiegende Teil der Öffentlichkeit meidet und stigmatisiert diese weitläufigen Landschaften inmitten Roms, die sowohl wegen der räumlichen Nähe als auch ihrem Charakter gleichwohl als Erweiterung der öffentlichen Parks wie der angrenzenden Villa Ada dienen könnten. Es gilt festzuhalten, dass die ewige Stadt Rom nicht als eingefrorener, unveränderlicher ›ewiger‹ status quo zu begreifen ist, sondern im Gegenteil ihre Geschichte fortwährend weiter schreibt und sich dabei neu erfindet. Um diesen fortwährenden Wandel zu begreifen, bedarf es einer Hinwendung zu den weniger erschlossenen und domestizierten Orten, wo Gegenwart und Zukunft der Stadt verhandelt werden – nicht als ihre Geschichte, sondern als ihr Geschehen. (Seggern et al. 2008) Die hier skizzierten informellen Aktivitäten entziehen sich den gewöhnlichen Mustern der Modernisierung. Paradoxerweise wird ausgerechnet das ausgewiesene Naturschutzgebiet zum Refugium für urbane Praktiken, deren experimentelle Lebens- und Arbeitsformen in der Rationalität formeller Stadtplanung kein Platz haben: Praktiken des Recyclings, dezentrale Infrastrukturen, raffinierte Interpretationen von Lagegunst zu Infrastruktur und weiteren öffentlichen Dienstleistungen stellen hoch angepasste Lebensweisen da, deren Resilienz selbst mehrfacher Vertreibung widersteht. Die historische Stigmatisierung des Unbekannten als das Fremde scheint sich bis heute fortzusetzen und mündet in die Verleumdung und Meidung weiter Teile der heutigen römischen Stadtlandschaft. Wäre es nicht möglich, diesen mythischen und magischen Momenten in den Maschen fortscheitender Konsolidierung des Städtischen als Bereicherung einer zunehmend durch BIM, Big Data und Smart Cities rationalisierten Welt zu akzeptieren?

L iteratur Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen – Versuch einer symmetrischen Anthropologie, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Berlin: Suhrkamp. Povoledo, Elisabetta (2015): »Migrants in Rome try to recover after Ponte Mammolo Camp is destroyed«, in: New York Times vom 15.05.2015,

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siehe www.nytimes.com/2015/05/16/world/europe/migrants-in-rometry-to-recover-after-ponte-mammolo-camp-is-destroyed.html Saunders, Doug (2001): Arrival City. How the largest migration in history is reshaping our world, London: Windmill Books. Seggern, Hille von/Werner, Julia/Grosse-Bächle, Lucia (Hg.) (2008): Creating Knowledge Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften, Berlin: Jovis. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen: Mohr (Paul Siebeck).

A bbildungen Abbildung 1-6: Jorg Sieweke (2015).

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Rurbane Landschaften BEWIRTSCHAF TEN

Die Moderne auf dem Acker1 Philipp Oswalt Gottsbüren, eine idyllische Ortschaft am Rande des Reinhardswaldes. Im Zentrum eine über 800 Jahre alte Wallfahrtskirche, umgeben von Fachwerkhäusern, 800 Menschen leben hier. In der Ferne sieht man die Hügel mit den urtümlichen Misch- und Eichenwäldern, davor Ackerfluren. Hier erscheint das Landleben intakt. Man könnte fast meinen, die Zeit sei stehen geblieben, wenn man über die Autos und das kleine Neubaugebiet am Ortsrand hinweg sieht. Abbildung 1: Gottbüren, Reinhardswald

Bild des Autors 1 | Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Version des Artikels D ie M oderne auf dem A cker , Oswalt, Philipp (2017) in: Arch+ 228, S. 92-99.

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Abbildung 2: Gottbüren, Reinhardswald

Bild des Autors

Doch hinter dem traditionellen Anblick hat sich in den letzten Jahrzehnten das Leben radikal verändert. Nur die Hülle ist gleich geblieben. Einst waren die Erwerbstätigen zumeist als Waldarbeitende tätig, heute ist man im Dienstleitungssektor beschäftigt und pendelt mit dem Auto zu seiner über Dutzend Kilometer entfernt liegenden Arbeitsstätte. Der Wald gehört dem Land Hessen, das sein Personal abgebaut und die Bewirtschaftung weitgehend outgesourct hat. Wenn Holz geerntet werden soll, wird europaweit ausgeschrieben, und dann kommt beispielsweise ein dänisches Unternehmen für einige Wochen mit schwerem Gerät. Die Waldarbeit ist hochgradig mechanisiert. Das Holz wird verkauft und geht beispielsweise nach China. Die lokale Weiterverarbeitung mit Sägewerk, Handwerk und Gewerbe ist im Zeitalter weltumspannender Wertschöpfungsketten obsolet geworden. Hingegen dient der Wald nun zahlreichen Freizeitvergnügungen: Wandern, Reiten, Mountain-Biken, Fitness, Naturbeobachtung, Jagen. Der Tierpark Sagaburg wird jährlich von 350.000 Besucherinnen und Besuchern aufgesucht. Beliebt sind auch die Lehrpfade durch das benachbarte Naturschutzgebiet und das Themenreiten im Rancho-Style. Im Friedwald kann man sich in innovativer Weise bestatten lassen.

Die Moderne auf dem Acker

Abbildung 3: Forstarbeiter im benachbarten Hellental, 1913

Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins für Heinade-Hellental-Merxhausen

Nicht ganz friedlich hingegen ist der Konflikt um die Windkraft. Da der Reinhardswald als Landesforst direkt dem Land untersteht und es hier keine kommunale Planungskompetenz gibt, ist die Ausweisung von Windkraftvorrangsgebieten leicht durchzusetzen. Dagegen wehren sich vor allem die aus der Stadt Zugezogenen, die ihr Ideal einer ländlichen Idylle zerstört sehen. Die Alteingesessenen hingegen – mit ihrem seit jeher wirtschaftlich geprägten Verhältnis zu Wald und Acker – haben dazu eine eher pragmatische Einstellung. Die landwirtschaftlich Beschäftigten bauen vor allem Zuckerrüben und Getreide für den Abverkauf an. Tierhaltung gibt es wenig. Wegen neuer Hygienevorschriften sind Hausschlachtungen ohnehin nur noch sehr begrenzt möglich. Das Kühlhaus hierfür im Nachbarort steht schon seit Jahren leer. Die Größe von Betrieben in Vollerwerbslandwirtschaft liegt inzwischen bei 100 bis 150 Hektar, Tendenz steigend. Es gibt aber auch zahlreiche Nebenerwerbslandwirtinnen und -wirte, die dies als Nebenverdienst zum Hauptberuf am Wochenende betreiben. Auf 10 bis 15 Hektar werden dann nicht selten ökologische Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung betrieben. Dienstleister erledigen maschinenintensive

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Tätigkeiten, so dass man über die Gerätschaften nicht selber verfügen muss. Die einstigen Bauernhäuser in den Ortschaften sind zu Wohnhäusern geworden, welche von den aus der Stadt Zugezogenen – ob etwa Lehrkräfte, ärztliches Fachpersonal oder Unternehmerinnen und Unternehmer – erworben und oft in jahrelanger, liebevoller Tätigkeit denkmalgerecht saniert werden. Lebensmittel kaufen die Einwohnerinnen und Einwohner auf der Rückfahrt von der Arbeit im Supermarkt im Nachbarort ein. Das Warenangebot dort ist ebenso globalisiert und umfangreich wie bei einem städtischen. Ohnehin lebt man hier einen in jeder Hinsicht städtischen Lebensstil – ob Medien- oder Warenkonsum, Arbeitswelt und Alltagsgestaltung. Wiese und Wald sind hierfür eine Szenerie, deren Ästhetik man schätzt, zu der aber kaum eine Alltagsbeziehung besteht. Besiedlung und Bewirtschaftung des Landes sind nahezu vollständig entkoppelt.

M oderner als die S tadt Wie das nordhessische Beispiel zeigt: Die Modernität des Landes widerspricht dem seit dem 19. Jahrhundert gepflegten Bild eines traditionellen und lokal verankerten Leben auf dem Lande, welches den Gegenpol zur von den Städten ausgehenden Industrialisierung und Modernisierung bildet. Ob Lebensreformer und Kulturpessimisten am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Ökologiebewegung der 1970er Jahre oder die heutigen gesundheits- und nachhaltigkeitsorientierten LOHAS-Konsumenten – sie alle stilisierten das Landleben als eine heile Welt, die durch die von der Stadt ausgehenden Modernisierung bedroht ist. Ein solches Bild verkennt den grundlegenden Fakt, dass die Stadt selbst aus der Landwirtschaft hervorging und seit ihrer Entstehung vor 7.000 Jahren mit der Landwirtschaft ein Zivilisationssystem bildet. Stadt und Land sind keine Antagonisten, sondern komplementäre Pole. Und so ist es wenig überraschend, dass zentrale Modernisierungsimpulse vom Land ausgingen, nicht erst heute. Dafür muss man gar nicht zurückgegen auf die neolithische Revolution. Auch die Anfänge der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert lagen eher auf dem Lande als in den Städten. Hier befanden sich die Bodenschätze wie Erze und Salze, hier gab es das erforderliche Energieangebot, zunächst von Mühlen, später durch Kohlevorkommen. Hier entstanden große Ingenieurbauten zur Landge-

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winnung, wie Eindeichungen, Wasser- und Verkehrswegebau und hier entstanden ebenso in räumlicher Nähe zu den benötigten Ressourcen die ersten Manufakturen. Symptomatisch hierfür ist das legendäre Dorf Coalbrookdale (vgl. Abb. 4), 50 Kilometer westlich von Birmingham. Hier produzierte der Bauerssohn Abraham Darby 1709 erstmals Eisen mit Steinkohle und legte somit den Grundstein für die industrielle Massenfertigung von Roheisen. Knapp 60 Jahre später wurden hier die Eisenbahnschienen erfunden und kurz darauf die erste Eisenbrücke der Welt erbaut. Selbst die Architektur der klassischen Moderne, ein weitestgehend urbanes Phänomen, hat wichtige Impulse von Bauten der Agrarindustrie erhalten. Eine der wichtigsten baulichen Referenzen für Le Corbusier, Walter Gropius und Erich Mendelsohn waren amerikanische Getreidesilos (vgl. Abb. 5). Abbildung 4: Dorf Coalbrookdale

Philipp Jakob Loutherbourg: Coalbrookdale by night (Madeley Wood Furnaces), 1801

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Abbildung 5a+b: Getreidesilos in Kanada

Le Corbusier: Kommende Baukunst, Stuttgart 1926

Mit der fortschreitenden Industrialisierung und Modernisierung der letzten 100 Jahre hat sich das Stadt-Land-Verhältnis wesentlich verändert. Das vor allem von Romantikern, Lebensreformern und Kulturpessimisten im 19. Jahrhundert idealisierte Bild des Landlebens hat zwar die realen Zusammenhänge verschleiert, doch waren damals durchaus tiefgreifende Differenzen der Lebensstile zwischen Stadt und Land gegeben. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Das Land ist zur Stadt geworden. Es gibt keinen fundamentalen Gegensatz mehr zwischen den Lebensformen auf dem Land und in der Stadt. Das Land ist nicht mehr lokal organisiert, autark und selbstbestimmt, sondern umfassend in überregionale und globale Netzwerke einbezogen. Produktion und Arbeit sind nicht mehr ganzheitlich, sondern hochgradig arbeitsteilig und sequenziert, Haushaltsformen und Konsum haben sich dem urbanen Lebensstil angeglichen, ebenso wie die Verfügbarkeit von Technik und Information. Selbstfahrende Fahrzeuge, Produktionssteuerung über Satelliten, ›Genetic Enginnering‹, implantierte Transponder, ›Mass Customization‹, Roboter, Drohnen: Was in Städten zum Inventar aktueller Zukunftsszenarien gehört, ist auf dem Lande schon seit Jahren Alltag. In mancher Hinsicht ist das Land moderner als die Stadt.

D ie M oderne in der L andwirtschaft Um 1800 arbeiteten 80 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland in der Forst- und Landwirtschaft. Im ländlichen Raum lag das Zentrum des Wirtschaftslebens, hier wurden die meisten Güter produziert. Ein

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durchschnittlicher Bauernhof verfügte über 3 Hektar Fläche und mehr als die Hälfte seiner Produktion diente der Selbstversorgung mit Nahrung, Kleidung, Baumaterialien und weiteren Alltagsgegenständen. Heute sind nur noch 1,5 Prozent der Erwerbstätigen in der Forst- und Landwirtschaft tätig. 2010 hingegen gab es in Deutschland nur noch 300.000 Betriebe von durchschnittlich 56 Hektar Größe (Ackerbaubetriebe 140 Hektar) mit insgesamt einer Million Beschäftigten, von denen allerdings zwei Drittel nur in Teilzeit oder temporär beschäftigt waren (Henkel 2015: 42). Vor allem die Mechanisierung der Landwirtschaft, insbesondere durch die massenhafte Verbreitung des Traktors nach 1945, reduzierte den Arbeitskräftebedarf drastisch (Küster 2013: 365). So hat sich in den letzten 60 Jahren der Arbeitsaufwand je Hektar Ackerfläche um 93 Prozent vermindert (Henkel 2015: 45). Die Tendenz zur Vergrößerung der Betriebe und zum Rückgang der Beschäftigung hält – nun befördert durch die digitale Revolution – ungebrochen an. Die Besiedlung des ländlichen Raums ist von der Bewirtschaftung des Bodens fast völlig entkoppelt. Ebenso dient die landwirtschaftliche Produktion nicht mehr dem lokalen Konsum. Die Dorfläden sind verschwunden und in den regionalen Supermärkten der großen Ketten gibt es die gleiche globalisierte Produktpalette wie in den Städten. Die landwirtschaftlichen Betriebe hingegen haben sich jeweils auf wenige Produkte spezialisiert, die sie in großen Quantitäten für die überregionale Lebensmittelindustrie sowie Energiewirtschaft und Chemieindustrie produzieren. Nicht nur die Produktpalette ist reduziert, sondern oft auch die Verarbeitungstiefe. Vorprodukte wie Saatgut oder Jungtiere werden eingekauft, ebenso Dünger, Futtermittel und Dienstleistungen. Spezialbetriebe mit Großmaschinen bieten Aussaat, Pflanzenschutz und Ernte als Dienstleistung an. Exemplarisch für die Arbeitsteilung in der Agrarindustrie ist die Hühnereierproduktion: Zuchtbetriebe züchten reinrassige Großeltern und liefern hybride Elterntiere an Vermehrungsbetriebe. Dort legen die Elterntiere Bruteier, die an Brütereien zum Ausbrüten geliefert werden. Von dort werden die ausgebrüteten weiblichen Küken an Aufzuchtbetriebe geliefert, wo sie zu Legehennen heranwachsen, die dann wiederum an Landwirte verkauft werden, bei denen die Legehennen schließlich die Eier für den Verzehr produzieren. Das Futter wird selbstverständlich jeweils eingekauft, wobei die Futtermittelproduzierenden die verschiedenen Futterbestandteile selbst zukaufen, die wiederum von verschiedenen spezialisierten Ackerbaubetrieben hergestellt werden, bei Soja und Raps

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oft auch in Übersee. Die Ackerbaubetriebe beziehen ihrerseits Saatgut nicht selten von Großkonzernen wie Monsanto (USA) oder ihre Pestizide und Düngemittel von Konzernen wie Bayer. Vom Prinzip ähnelt diese weitverzweigte transnationale Produktions- und Wertschöpfungskette der, anderer Industriezweige wie etwa der Automobilindustrie. In anderer Hinsicht ist die Agrarproduktion schon seit Jahrhunderten globalisiert. Über zwei Drittel der heute hierzulande angebauten Lebensmittel stammt von importierten Pflanzensorten, die zumeist in den letzten 500 Jahren aus Übersee nach Deutschland eingeführt worden sind. So stammen Kartoffeln, Tomaten, Kürbisse und Bohnen aus Südamerika, Mais, Sonnenblumen, Blau- und Erdbeeren aus Nordamerika, Weizen, Linsen, Gurken, Zwiebel, Knoblauch, Auberginen, Aprikosen und Kirschen aus Asien. Abbildung 6: Forschungen des Fraunhofer IESE in Kaiserslautern zu Smart Farming

Fraunhofer IESE

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Inzwischen hält die Industrie 4.0 in der Landwirtschaft Einzug. Digitale Hard- und Software machen bei Landmaschinen 30 Prozent der Wertschöpfung aus, dreimal mehr als in der Automobilindustrie. Kühe mit implantierten Transpondern werden maschinell identifiziert, ihre medizinischen Werte, Produktivität und Verhalten automatisch erfasst und ausgewertet, und dann werden sie individuell von Fütterungsautomaten versorgt und von Melkrobotern gemolken. In der Präzisionslandwirtschaft düngen und spritzen selbstfahrende Traktoren lokal spezifisch auf Basis der algorithmischen Auswertungen von mittels Drohnen erstellter Luftbilder und just-in-Time erhobener Daten. Durch die Vernetzung mit Wetterprognosen können die Prozesse weiter optimiert werden. Alle diese Prozesse sind in eine den ganzen Betrieb umfassende digitale Vernetzung integriert und können von den in der Landwirtschaft Beschäftigten per Tablet oder Smartphone angesteuert werden. Abbildung 7: Drohne Bramor ppX, Kartierung mittels RGB und Multispektralkamera zur Vegetationsüberwachung

C-Astral Aerospace Ltd.

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Abbildung 8: RFID Lesegerät LID575 Microships Australia Ltd, RFID Etikette ermöglichen eine individuelle elektronische Erkennung der Nutztiere

Doug Black

Obgleich sich die Landwirtschaft so verändert und modernisiert hat, so bleiben die Betriebsgrößen in Hinsicht auf die Beschäftigten erstaunlich konstant. Bis heute sind in Deutschland 84 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe Familienbetriebe, in denen nur Familienangehörige tätig sind und die über die Hälfte der Gesamtfläche bewirtschaften (Grieß 2015). Über 50 Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft sind Familienangehörige. (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2015: 58; ebd. 2014: 7) Allerdings hängen diese kleinteiligen Betriebsstrukturen am Subventionstropf. Die landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland erhalten 32,7 Milliarden Euro Direktsubventionen von der EU, was knapp 40 Prozent ihres Nettoeinkommens entspricht (ebd.: 11). Hinzukommen weitere Gelder der EU und des Bundes in Höhe von neun Milliarden Euro. Die Kleinteiligkeit und scheinbare Autonomie der Agrarbetriebe geht einher mit einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen und Vorgaben. So gesehen können sie als Franchise-Unternehmen der Brüsseler Agrarfonds interpretiert werden (oder auch als Franchise-Unternehmen von den großen Konzernen der Biotechnologie, der Lebensmittelindustrie und der Chemie). Zudem ist das Land zunehmend von Dienstleistungsangeboten für Stadtmenschen geprägt und wird damit integraler Teil von Stadtregionen:

Die Moderne auf dem Acker

Co-Farming, Selberernten, Hofläden, Pferdepensionen, Urlaub auf dem Bauernhof und viele weitere Formen von Freizeitgestaltung, Konsumangeboten und Co-Produktion sind heute im ländlichen Raum zu finden und bedienen dabei vielmals ein sehnsuchtsvolles Gegenbild zu einer hochmodernen und industrialisierten Bewirtschaftungsrealität des Landes.

D ie M oderne in der F orstwirtschaft Mindestens ebenso wie die Landwirtschaft ist der heutige Wald ein Kind von Modernisierung und Industrialisierung. Bis um 1800 gab es eine große Vielfalt von Waldnutzungen. Der Wald diente der Energieversorgung, der Ernährung, als Baustoff- und als Rohstofflieferant für vielerlei Gewerbe (Gerbereien, Glas- und Seifenproduktion, Bekleidung und Medizin). Durch Übernutzung in Folge des Bevölkerungswachstums waren die Waldbestände aber stark reduziert, und durch den Wildfraß infolge des Verlusts an Raubtieren auch beschädigt. Erst Industrialisierung und Modernisierung erlaubten eine Regeneration und Neuerfindung des Waldes: Kohle löste Holz als Brennstoff ab, importierte Baumwolle die Schafszucht; die durch Kunstdünger intensivierte Landwirtschaft setzte Flächen zur Wiederaufforstung frei, Holz als Baustoff wurde zunehmend durch Ziegel, Stahl, Beton und später Kunststoff ersetzt. Bei den nun einsetzenden Wiederaufforstungen wurden primär Nadelgehölze angepflanzt, weil diese nicht nur schnellwachsend sind, sondern auch die inzwischen verarmten Böden ertrugen und beständig gegen Wildfraß sind. Die Allmenderechte der Dorf bewohnerinnen und -bewohner wurden abgeschafft und die Zahl der Personen mit Waldeigentum und Forstbetriebe verringerte sich stark, so dass große Wirtschaftseinheiten entstanden. Heute liegt die durchschnittliche Betriebsgröße bei 270 Hektar (Henkel 2004: 187). Rechnet man jedoch die 90 Prozent kleinen Mischbetriebe heraus, die lediglich 17 Prozent der Fläche bewirtschaften, liegt die durchschnittliche Betriebsgröße über 2.000 Hektar (ebd.). Die Forstbetriebe haben mit der Einführung der Harvester vor über 20 Jahren ihre Wirtschaftsweise meist umgestellt.

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Abbildung 9: Ponsse Harvester Ergo 8W

Ponsee (www.ponsee.com)

Abbildung 10: Traktorlenksystem Claas – Easy

CLAAS KGaA mbH (www.claas.de)

Die Moderne auf dem Acker

Sie beschäftigen oft keine festen Waldarbeitskräfte mehr, sondern beauftragen externe Dienstleistende mit den Waldarbeiten. Nach europaweiten Ausschreibungen rücken diese mit ihrem Großgerät an, oft auch aus dem Ausland wie etwa den Niederlanden oder Skandinavien. Die Holzvollernter erledigen die gesamte Produktionskette von Fällen, Entrinden und auf Länge-Schneiden und verfügen inzwischen über Computer, GPS und mobile Vernetzung, was eine digitale gestützte Holzhaushaltung und Sortenbildung erlaubt. Konzepte für eine Forstindustrie 4.0 sind in Diskussion. Auch die anschließende Holzverarbeitung verändert sich. Aus den Dörfern sind die Sägewerke meist längst verschwunden. Das Holz wird international vermarktet und so kann es vorkommen, dass es umgehend nach China exportiert wird, um dann etwa als Möbel oder Spielzeug reimportiert zu werden. Auch die Forstwirtschaft hat sich von lokalen Einbettungen gelöst und ist mehr und mehr in globalisierte Wertschöpfungsketten eingebunden. Die Entwicklung des Waldes zum Industrieforst wird komplementiert durch seine Musealisierung in Teilbereichen. Naturschutzgebiete konservieren und schützen tradierte Waldbiotope, was sie allerdings gerade für naturbewusste Stadtmenschen attraktiv machen kann: Hier können tradierte Bilder des Waldes noch erfahren werden. Überhaupt finden sich heute in Wäldern eine Vielzahl urbaner Nutzungen: Freizeitattraktionen wie Kletterwälder, Mountain-Bike- und Fitness-Pfade, Bildungsangebote wie etwa Öko- und Waldlehrpfade, aber auch Friedwälder als moderne Form der Bestattung sind in den letzten Jahrzehnten in die Wälder eingezogen. Auf der einen Seite ist der Wald heute ein industrialisierter und globalisierter Produktionsraum auf der anderen Seite ein mit spezialisierten Angeboten ausgestatteter urbaner Freizeitpark. Diese beiden Seiten des Waldes gestalten sich vielerorts konfliktreich.

B ewirtschaftung + R aumstrukturen Die heute den ländlichen Raum prägenden Raumstrukturen haben sich vor allem im Prozess der Industrialisierung ausgebildet. Naturlandschaften sind in Bewegung und ständigen Veränderungen ausgesetzt. Auch die menschliche Besiedlung des ländlichen Raumes war über lange Zeiträume dynamisch, denn erst im Mittelalter verfestigte sich die Bebauung zu dauerhaften Dörfern an permanenten Standorten. Seit Be-

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ginn der Neuzeit führte der umfangreiche Erd-, Wasser- und Wegebau zur zunehmenden Fixierung von Wasser- bzw. Landgrenzen und Wegen. Die Ablösung der Allmenden und Lehnsherrschaft durch ein modernes Eigentum an Grund und Boden fixierte räumliche Zuordnungen in rechtlicher Hinsicht. Die Modernisierung von Land- und Forstwirtschaft während der Industrialisierung führten zu Entflechtung von Wald, Feld und Weide und der Fixierung von Grenzen zwischen ihnen. Einst gab es fließende räumliche und zeitliche Übergänge und eine enge funktionale Verflechtung. Flächen wurden abwechselnd als Acker und Forst genutzt, Wälder dienten auch als Weiden, es gab viele Formen extensiver wie auch hybrider Nutzung. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft wurden weniger fruchtbare Flächen aufgegeben und bewaldet. Die früher weit verbreitete Weidewirtschaft verschwand mehr und mehr zu Gunsten der Stallhaltung von Tieren. Die intensive Land- und Forstwirtschaft tendiert zu immer größeren Flächen mit immer homogeneren und einseitigeren Formen der Nutzung. Aufgrund der funktionalen Entflechtungen stehen Acker, Wald, Naturschutzareale, Rohstoffgewinnung und Besiedlung zunehmend zusammenhangslos nebeneinander, während sie zugleich mehr und mehr in überregionale Verkehrs- und Logistiknetzwerke sowie Wertschöpfungsketten eingebettet sind.

B ewirtschaftung + B esiedlung Was bedeutet diese Entwicklung für die Besiedlung des ländlichen Raums? Der drastische Rückgang der Beschäftigten in Land- und Forstwirtschaft hat zu einer fast vollständigen Entkoppelung der Besiedlung von der Bewirtschaftung des Bodens geführt. Schon seit mehr als 150 Jahren schrumpft die Einwohnerschaft des ländlichen Raums nahezu kontinuierlich. Dieser Trend wird sich zunächst mittelfristig fortsetzen, da sich der Strukturwandel nur stark zeitverzögert auf die Einwohnerzahl auswirkt. Viele der einst Beschäftigen verbleiben auch nach dem Ende ihrer Tätigkeit im ländlichen Raum, zumal hier die Wohneigentumsquote auch deutlich höher ist als in Städten. Die Bevölkerung altert. Viele der Nachkommen aber wandern mit Abschluss ihrer schulischen Ausbildung in die verstädterten Regionen ab, um nicht zuletzt das dort größere Angebot an Berufsausbildung und Studium wahrzunehmen. Auch die Zuwanderung von Personen mit Migrationshintergrund in den ländlichen

Die Moderne auf dem Acker

Raum ist bislang unterdurchschnittlich. Und dies, obgleich die Arbeitslosigkeit im ländlichen Raum geringer ist und die Wirtschaftskraft bei schrumpfendem Arbeitsplatzangebot in den letzten Jahren überproportional gewesen ist. Heute stehen in Deutschland durchschnittlich zwischen 20 bis 35 Prozent der Gebäude in Dörfern leer. Nach einer ersten Leerstandswelle in den 1960er/70er Jahren hat eine zweite um die Jahrtausendwende eingesetzt. Inzwischen ist von Geisterdörfern die Rede, da zehntausende ländlicher Bauten an den Staat fallen, weil die Kinder das Erbe ausschlagen oder es gar keine Erben gibt. Der Strukturwandel geht weit über den Rückgang von Arbeitsplätzen in Land- und Forstwirtschaft hinaus. Denn seit dem zweiten Weltkrieg ist auch das Schneider-, Schuster-, Zimmermanns-, Maurer-, Schlosser-, Tischler-, Bäckerhandwerk usw. weitestgehend aus den Dörfern verschwunden. Die Verbindung zwischen Landwirtschaft und lokalem Gewerbe hat sich größtenteils aufgelöst. Einzelhandel, Schulen, staatliche Verwaltung und weiteres wurde in größeren Ortschaften konzentriert. Wo das Land zur Stadt wird, wo es funktional Teil der urbanisierten Regionen wird, bleibt es aber stabil oder wächst sogar. Denn hier manifestiert sich eine Entwicklung, die in Deutschland in den 1930er Jahren eingesetzt hat: In der ländlichen Bebauung wird die einstige Verbindung von Wohnen und Arbeiten zu Gunsten reiner Wohnnutzung aufgegeben. Ob alte Bauernhäuser oder Einfamilienhäuser in den Neubaugebieten am Dorfrand: Die Menschen genießen das Wohnen im Dorf zu günstigen Preisen, mit großen Raumangeboten und Naturnähe, und pendeln mit dem Auto zu Arbeit und zu den Versorgungszentren der Region. Mehr als die Hälfte der Dorf bewohnerinnen und -bewohner pendelt heute aus. In kleinen Dörfern pendeln sogar mehr als zwei Drittel. Die heutigen ›Dörfler‹ arbeiten in städtischen Berufen, ob als Arbeiterin und Arbeiter, Angestellte, im Beamtendienst oder als Selbstständige. Dörfer sind vielerorts zu städtischen Wohnquartieren besonderer Art geworden, die ihre Zielgruppe mit spezifischen Lebensstilpräferenzen gefunden haben. Von diesen werden nachempfundene Formen des Landlebens modifiziert in das Patchwork urbaner Lebensstile eingebaut. Je näher die Dörfer an einem Oberzentrum liegen, desto deutlicher ist diese Nachfrage ausgeprägt. Orte mit weniger als 20 Minuten Autofahrt zum nächsten Oberzentrum profitieren am meisten. Orte, die mehr als 40 Minuten entfernt liegen, bleiben außen vor und schrumpfen stark.

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Tourismusregionen sind die zweite Art ländlicher Räume, die von städtischen Nutzungsformen profitieren. Meist an der Küste oder in den Mittelgebirgen gelegene, landschaftlich reizvolle Orte dienen saisonal als Urlaubsorte für verreisende Menschen aus den Städten. Ob in Tourismusorten oder Pendlerdörfern, die Wunschvorstellungen der Städter gegenüber dem ländlichen Raum stehen oft im Widerspruch zur zeitgenössischen Land- und Forstwirtschaft. Darüber kommt es nicht selten zum Konflikt zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen. Während letztere tendenziell in der Land- und Forstwirtschaft verwurzelt sind und deren heutige Eigenlogik nicht grundsätzlich hinterfragen, hängen zugezogene Menschen aus der Stadt den Idealbildern eines intakten, ›traditionellen‹ Landlebens an. Oft gründen die Zugezogenen Bürgerinitiativen, um eine Modernisierung des Landes zu verhindern, wie etwa bei dem großmaßstäblichen Ausbau erneuerbarer Energien, oder sie bemühen sich um Rückbau und Rekonstruktion, wie etwa bei der Renaturierung von Wasserläufen.

R urbane L ebensweisen Von dort ist es nicht mehr weit zu ›Reenactment‹ und Simulation eines vermeintlich traditionellen Landlebens, wie es in den erfolgreichen Lifestyle-Zeitschriften, wie dem seit 2005 erscheinenden Magazin Landlust oder dem in den USA seit 1990 erscheinenden Magazin Martha Stewart Living, zelebriert wird. Obgleich die Zeitschrift Landlust von einem landwirtschaftlichen Verlag herausgebracht wurde, richtet sie sich nicht an landwirtschaftlich Beschäftigte, sondern an wohlsituierte Eigenheimbesitzende mit Garten, die eine Auszeit vom schnelllebigen Alltag und seinen Problemen suchen, Natur genießen wollen und Freude am Selbermachen haben, ob Basteln, Werkeln, Dekorieren, Kochen, Backen, Gärtnern, Spazieren gehen. Die verkaufte Auflage von Landlust ist dreimal so groß wie die Anzahl landwirtschaftlicher Betrieb in Deutschland, die Leserschaft viermal so groß wie die Anzahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten. Während Bäuerinnen und Bauern heute eine IT-Ausbildung benötigen, pflegen die Dorfpendlerinnen und -pendler in ihrer Freizeit tradierte Handwerksformen. Dabei ist festzustellen, dass diese Entwicklung teilweise über symbolische Gesten und Simulationen hinausgeht. Städtische Landbewoh-

Die Moderne auf dem Acker

nerinnen und -bewohner entwickeln hybridisierte Lebensstile auf Basis von Nebenerwerbslandwirtschaft. Neben einer andersartigen hauptberuflichen Beschäftigung sind sie quasi als Hobby-Landwirtinnen und -wirte tätig. Der Anteil der Nebenerwerbsbetriebe an der Gesamtzahl landwirtschaftlicher Betriebe ist in den letzten 50 Jahren entgegen den Erwartungen von 33 Prozent auf fast 60 Prozent gestiegen, sie bewirtschaften 26 Prozent der landwirtschaftlichen Gesamtfläche (Henkel 2004: 120). Soweit sie nicht durch das Einkaufen hochtechnisierter Dienstleistungen mit den großen Agrarbetrieben gleichziehen, ist ihre Wirtschaftsweise oft bewusst traditionell. Sie erhalten traditionell bewirtschaftete Kulturlandschaften und tragen zur Fortführung sozialer und kultureller Traditionen bei. Bei Ihnen steht nicht allein der wirtschaftliche Profit im Vordergrund, sondern kulturelle Werte und die Verfolgung eines bewussten Lebensstils spielen eine gewichtige Rolle. Typisch hierfür ist zum Beispiel eine ganzjährige Freilandhaltung von Galloway-Rinder auf Weiden, eine extensive tiergerechte Bewirtschaftung, wie sie in herkömmlicher Landwirtschaft schon lange nicht mehr zu finden ist. Und hier zeigt sich ein Paradox auf, das in vieler Hinsicht für den heutigen ländlichen Raum typisch ist: Es sind gerade die aus der Stadt Zugezogenen (zu denen die in der im landwirtschaftlichen Nebenerwerb Tätigen gezählt werden können), welche traditionelle bzw. für traditionell gehaltene Praktiken aufrechterhalten bzw. (wieder) einführen, während sich die klassische Landwirtschaft zunehmend industrialisiert. Die Nebenerwerbslandwirtschaft blickt hierbei auf eine lange Tradition zurück. Über Jahrhunderte konnten sich Gewerbetreibende durch landwirtschaftliche Selbstversorgung auch in schwierigen Zeiten existenziell absichern. Umgekehrt waren viele durch die mit Erbteilung immer kleiner werdenden Höfe gezwungen, neue Tätigkeiten wie etwa Fabrikarbeit anzunehmen, um ihre Familie versorgen zu können. Die Hybridisierung von ›landwirtschaftlichen‹ und ›städtischen‹ Existenzweisen hat also eine lange Geschichte. Das sind heute die Pole des Landlebens: Einerseits Pendlerdörfer für Stadtmenschen, die in ihrer Freizeit einen ländlichen Lebensstil inszenieren, und andererseits aufgegebene Geisterdörfer. Einerseits eine hochtechnisierte, arbeitsteilige und globalisierte Agrarindustrie, anderseits ländliche Brachen und Naturschutzgebiete. Der Strukturwandel ist visuell kaum wahrnehmbar und wird camoufliert. Ob in einem alten Bauernhaus ein Landwirt wohnt oder ein Ver-

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sicherungsmakler, ist auf den ersten Blick kaum erkennbar. Ob ein Melkroboter die Kühe melkt oder dies noch traditionell von Hand geschieht, sieht man einer Scheune von außen nicht an, zumal Melkcomputer ausgesprochen platzsparend sind wie auch die anderen Formen digitaler Technik wie Lenksysteme für Traktoren oder Drohnen. Abgesehen vom Leerstand sind die tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in der Besiedlung kaum erkennbar, und auch die grundlegenden Raumstrukturen von Wald, Feld und Wiese erweisen sich seit 200 Jahren als erstaunlich stabil.

R urbane Z ukunft ? Wie sieht die Zukunft aus? Ein aus heutiger Sicht plausibles Szenario ist, dass die großen landwirtschaftlichen Betriebe auf 500 bis 1000 Hektar anwachsen und nahezu vollautomatisch nur noch von Betriebswirten und IT-Fachpersonal betreut werden. Soweit es agrarischen Sachverstand bedarf, der nicht in die Apparaturen und ihre Software eingeschrieben ist, können externe Fachleute online zur Beratung hinzugezogen werden oder Remote direkt in das lokale Netzwerk des Hofes eingreifen. Parallel entfalten sich hierzu die Dörfer von Pendelnden und Teleworkern, in denen etwa Architektinnen und Architekten nach Beendigung ihrer Planungsarbeit von Gated Communities für Lagos oder Nairobi am Feierabend Bauernstühle schnitzen, naturbelassenes Landbrot backen oder nach den Galloway-Rindern ihrer Nebenerwerbslandwirtschaft schauen. Doch wo verbleiben die Nachfolger der einstigen Land- und Forstarbeiter? Sie heuern temporär als ungelernte lokale Hilfskräfte bei den mit großen Harvestern oder Erntemaschinen ausgestatteten, global agierenden Dienstleistern an. Oder sie sind zum Mindestlohn als Haushaltshilfe, Beschäftigte in der Kranken- und Altenpflege in quasi neofeudalen Strukturen tätig.

Die Moderne auf dem Acker

L iteratur Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.) (2011): Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin: o.A. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hg.) (2014): Ausgewählte Daten und Fakten der Agrarwirtschaft 2014, Berlin: o.A. — (2015): Agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2015, Berlin: o.A. Grieß, Andreas (2015): Landwirtschaft ist Familiensache, https://de.statis​ ta.com/infografik/3259/anteil-der-landwirtschaftlichen-betriebe-aufdenen-nur-familienangehoerige-arbeiten/ vom 24. 10.2015. Henkel, Gerhard (2004): Der ländliche Raum: Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland (Studienbücher der Geographie), 4. Ergänzte und neu bearbeitete Aufl., Stuttgart: Borntraeger. Henkel, Gerhard (2015): Das Dorf: Landleben in Deutschland – gestern und heute, Stuttgart: Konrad Theiss. Küster, Hans Jörg (2013): Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa: Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck. Oswalt, Philipp (2017): »Die Moderne auf dem Acker«, in: Arch+ 228 (2017), Berlin, S. 92-99. Spiekermann, Uwe (2005): »Der Agrarbetrieb«, in: Alexa Geisthövel/ Habbo Knoch (Hg.), Ort der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus Verlag.

A bbildungen Abbildung 1: Philipp Oswalt (2015). Abbildung 2: Philipp Oswalt (2015). Abbildung 3: Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins für HeinadeHellental-Merxhausen. Abbildung 4: Philipp Jakob Loutherbourg: Coalbrookdale by night (Madeley Wood Furnaces), 1801. Abbildung 5: Le Corbusier: Kommende Baukunst, Stuttgart 1926. Abbildung 6: Fraunhofer IESE.

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Abbildung 7: C-Astral Aerospace Ltd. Abbildung 8: Doug Black. Abbildung 9: Ponsse (www.ponsse.com). Abbildung 10: CLAAS KGaA mbH (www.claas.de).

Politik zwischen Stadt und Land: Die Bedeutung des Ruralen im Streit um Agro-Gentechnik Beate Friedrich Dörfer und ländliche Räume spielen im Streit um Agro-Gentechnik, um den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft, eine Schlüsselrolle. Dieser Streit wird seit Jahrzehnten geführt, die Fronten von Gegnerinnen und Gegnern und Befürwortenden sind verhärtet. Als es zwischen 2005 und 2008 politisch ermöglicht wurde, die gentechnisch veränderte (gv) Maissorte MON810 kommerziell anzubauen, also in der regulären landwirtschaftlichen Nutzung einzusetzen, verlagerten sich die Auseinandersetzungen in die Dörfer der Anbauregionen. Auch heute bleibt das Konfliktfeld Agro-Gentechnik bestehen, obwohl der Anbau von MON810 im Frühjahr 2009 verboten wurde, es mithin seit der Anbauperiode 2008 keinen kommerziellen Anbau von gv Pflanzen mehr in Deutschland gab und obwohl die Freisetzungsversuche zu Forschungszwecken seit 2014 unterbrochen sind. Auf europäischer Ebene befinden sich u.a. die gv Maissorten MON 810 und TC1507 im fortgeschrittenen Verfahren der Neu- bzw. Wiederzulassung. Zudem sind neue Züchtungsverfahren entwickelt worden, deren mögliche Kategorisierung als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne des Gentechnikgesetzes (GenTG) zwar noch zu eruieren ist, gegen die sich gentechnikkritische Bewegungen und Organisationen jedoch schon heute positionieren (vgl. Then 2017). Angesichts der aktuellen Situation ist ein ›Blick zurück‹ auf die Konflikte um die mittlerweile schon ›alte‹ Gentechnik genannte Sorte MON810 relevant, denn schon jetzt ist zu fragen, wie sich der mögliche Einsatz der ›neuen‹ Gentechnik bzw. ein Wiederaufflammen der Konflikte um die ›alte‹ Gentechnik auf die betroffenen Regionen und auch auf eine Konzeption und Rezeption des Ruralen auswirken könnte.

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Beate Friedrich

Grundlage der Ausführungen sind Ergebnisse einer mehrdimensionalen, qualitativen Konfliktfeldanalyse (vgl. Friedrich 2015). Der Fokus liegt dabei auf drei Regionen in Deutschland, in denen es bis 2009 Konflikte um den Anbau von MON810 gab: Im Landkreis Kitzingen im Norden Bayerns wurde gv Mais zwar auf kleinen Flächen, aber doch kontinuierlich angebaut, im Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen war der Anbau von gv-Mais in einem Jahr geplant, konnte aber aufgrund von Protesten nicht realisiert werden und im Landkreis Oberhavel in Brandenburg wurde MON810 der dortigen landwirtschaftlichen Struktur entsprechend auf großen Flächen, und zwar in mehreren Jahren hintereinander angebaut. Im Folgenden weise ich zunächst auf die (neue) Bedeutsamkeit des Ruralen im Streit um Agro-Gentechnik hin. In der Konfliktpraxis war dabei bis 2009 sowohl das Zusammentreffen von lokalen, vor Ort lebenden Personen mit externen, nicht in den Regionen lebenden Personen zentral, als auch die vorgenommene Konstruktion von Protesten und dem Anbau von gv Pflanzen als ›das Andere‹. Zudem beschreibe ich die Hybridität sowohl der eingesetzten Pflanzen als auch der entsprechenden Regionen. Abschließend zeige ich mögliche Perspektiven der Konflikte um AgroGentechnik auf.

D ie (neue) B edeutsamkeit des R uralen Durch die bestehende politische und juristische Regelung des Konflikts um Agro-Gentechnik wurden die Regionen, in denen MON810 angebaut wurde oder angebaut werden sollte, zu Räumen der Aushandlung und Entscheidung. Das Koexistenzkonzept schuf dort ein Nebeneinander von gentechniknutzender und gentechnikfreier Landwirtschaft. Während Entscheidungen zur Zulassung der gv Pflanzen, auch von MON810, auf europäischer und nationaler Ebene getroffen wurden und werden, lag die Entscheidung zum Anbau von MON810 bei den in der Landwirtschaft Tätigen. Sie konnten darüber bestimmen, ob es zu einer Anwendung der Risikotechnologie Agro-Gentechnik kommen sollte oder nicht. Diese mit Entscheidungsfreiheiten und -zwängen verbundene Individualisierung produzierte regionale Konflikträume als temporäre Handlungskontexte im Gentechnikkonflikt. Die in der Landwirtschaft Tätigen wurden durch die individualisierte Entscheidung zu Schlüsselpersonen im Konflikt um

Politik zwischen Stadt und Land

Agro-Gentechnik, denn die Technologie kann sich nur verbreiten, wenn sie auf den landwirtschaftlichen Flächen Verwendung findet. Gleichzeitig verlagerten überregional agierende Gegnerinnen und Gegner sowie Befürwortende der Technologie ihren Handlungskontext von der europäischen oder nationalen Ebene in die Anbauregionen und nutzten diese als »Bühne« (Friedrich 2017a: 84). Die Auseinandersetzung um Agro-Gentechnik wurde also nicht mehr (nur) vor und in den Parlamenten oder Gerichten geführt, sondern in den Dorfstraßen und auf den Äckern. Die Anbauregionen als Handlungskontexte wurden dabei einerseits durch die regulierenden Institutionen und andererseits durch die in den Konflikten Agierenden produziert und wirkten sich wiederum auf nationale, europäische und globale (agrar)politische Dynamiken aus (vgl. Massey 2006: 28f.; McCarthy 2005: 747; Robertson 1995: 26). Die Konflikte um AgroGentechnik waren und sind also lokale, regionale, nationale, europäische und globale Konflikte gleichermaßen. Dass die umstrittene Technologie vor Ort auf den Feldern sichtbar und greif bar war, wirkte für beide Konfliktparteien konfliktverschärfend. Agro-Gentechnik war dabei auch ein Symptom für tieferliegende Konflikte, wie die um die Zukunft von Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion und Energiegewinnung. Nicht nur greif bar, sondern auch angreifbar wurde die Technologie auf einer materiell-stofflichen Ebene, indem Gentechnikkritikerinnen und -kritiker auf den Äckern gewachsene Maispflanzen zerstörten – teils öffentlichkeitswirksam im Rahmen der sogenannten ›Feldbefreiungen‹, bei denen als Akt des zivilen Ungehorsams Maispflanzen ausgerissen wurden. Für einige war das Konflikthandeln vor Ort dabei auch Ausdruck eines bestimmten Politikverständnisses, was eine Anbaugegnerin zum Ausdruck bringt, indem sie sagt: »Politik muss man auf dem Acker machen und nicht im Büro.« Für andere wurde das Handeln auf der lokalen Ebene aufgrund seines Erfolgspotentials gewählt: »Am effektivsten lässt sich die Diskussion vor Ort dort führen, wo auch Genmaisfelder angemeldet sind«, so ein Gentechnikkritiker. Auch ein Gentechnikbefürworter betont diese Relevanz des Lokalen: »Und dann hat man festgestellt, dass man am Feld, am Produkt selbst viel besser diskutieren kann.« Die Anbauregionen standen in der Zeit des kommerziellen GVO-Anbaus im auch überregionalen öffentlichen Interesse und wurden durch die Konflikte bekannter. Der diesbezüglich steigende Bekanntheitsgrad der Anbauregionen wurde durch die Anbaugegnerinnen und -gegner zu-

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Beate Friedrich

meist negativ konstruiert, beispielsweise, so im Landkreis Lüchow-Dannenberg, als »Imageschaden« (BUND Kreisgruppe Lüchow-Dannenberg 2008), während die Anbaubefürwortenden, so im Landkreis Oberhavel, die Regionen als »biotechnologischen Innovationsstandort« (Bickel 2005) beschrieben.

Lokale und externe Akteurinnen und Akteure Vor Ort überlagerte sich die Frage, ob gv Pflanzen angebaut werden sollen, mit der Frage, wie das soziale Miteinander im Dorf und in der Region gestaltet sein soll, denn für die vor Ort lebenden Menschen ging es nicht nur um den GVO-Anbau, sondern auch um ihr unmittelbares Lebensumfeld. In der Konfliktpraxis entstanden angesichts des Zusammentreffens einer überregionalen Protestkultur einerseits und lokalen Lebensverhältnissen und -weisen andererseits Konfliktthemen zweiter Ordnung. Diese betrafen die Wertschätzung von Landwirtschaft, den Einsatz von Methoden des zivilen Ungehorsams im Gentechnikkonflikt und nicht zuletzt auch Fragen des Kleidungsstils einer alternativen Protestkultur. In einigen Fällen erweiterten lokale Akteurinnen und Akteure ihren Handlungsbereich über ihren Lebensort hinaus und wurden durch die lokal geführten Konflikte zu überregional agierenden Anbaugegnerinnen und -gegnern oder -befürwortenden, meist im Rahmen von entweder der Initiative ›Gendreck weg‹, die Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen Agro-Gentechnik initiiert, oder von ›InnoPlanta‹, einer Organisation, die sich für die Anwendung von Agro-Gentechnik einsetzt, so dass die Kategorien ›lokal‹ und ›überregional‹ nicht immer erhalten blieben. In einigen Fällen entstand eine Art ›Arbeitsteilung‹ im Protest zwischen den Lokalen und den Externen. Einige vor Ort lebende Gentechnikkritikerinnen und -kritiker beteiligten sich zwar nicht an den Aktionen des zivilen Ungehorsams, hießen diese jedoch gut oder unterstützten sie durch das Bereitstellen von Infrastruktur. Teils wurde den Externen auch eine aktivierende Rolle zugeschrieben. Eine Anbaugegnerin äußert beispielsweise, dass die Externen die Menschen aus der Region »wachgerüttelt« hätten und ein Anbaugegner meint gar: »Klasse, dass sich da jemand darum kümmert.« Ausdruck dessen war die folgende Begebenheit aus dem Landkreis Kitzingen, die in der Mainpost vom 20.04.2009 beschrieben wurde: Eine ältere Dame überreichte am Rande einer im Landkreis Kitzingen nach dem Verbot der gv Maissorte MON810 stattfindenden

Politik zwischen Stadt und Land

Demonstration dem überregional agierenden Gentechnikgegner und Imker Michael Grolm zum Dank Schokolade und Wein. Hielten sich externe Gentechnikkritikerinnen und -kritiker länger in den Anbauregionen auf, kam es zu Kontakten zwischen ihnen und den vor Ort lebenden Menschen. Einige Aktive von ›Gendreck weg‹ suchten bewusst den Kontakt und das Gespräch mit den Menschen aus der Region – auch mit den Landwirtinnen und Landwirten, die den Anbau von MON810 planten. In einigen Fällen verhinderten jedoch behördliche Auflagen ein Zusammentreffen zwischen den Externen und den vor Ort lebenden Menschen. Als im Jahr 2008 im Landkreis Kitzingen die durch die Initiative ›Gendreck weg‹ initiierte Feldbefreiung durchgeführt wurde, fand in Kaltensondheim – einem Ort, durch den eine Demonstration führte – das Feuerwehrfest statt. Durch die Absperrgitter, die aufgestellt wurden, um ein Abweichen der Demonstrierenden von der genehmigten Route zu verhindern, blieben Dorf bevölkerung und Protestierende getrennt. Diese Konstellation führte zu einem Betrachten aus der Distanz, es fanden also in diesem Moment keine Gespräche und direkten Begegnungen statt, sondern die Protestierenden wurden anhand ihres Äußeren begutachtet und als eine exotische Abweichung konstruiert. Die Dorfkultur wurde dabei der Alternativkultur der Protestierenden entgegengesetzt. Ähnliches geschah 2006 im Landkreis Oberhavel, wo sich einige Anwohnende mit Stühlen und Sonnenschirmen vor ihre Häuser gesetzt hatten, um den Anti-Gentechnik-Protest zu beobachten (Hollmichel 2006). Und diejenigen aus den Dörfern, die sich an den Demonstrationen beteiligten, verließen damit – an ihrem Lebensort – ihren gewohnten und vertrauten Kontext. So äußert eine lokale Gentechnikkritikerin aus dem Landkreis Kitzingen: »Da habe ich auch gedacht: Ja, du kennst keinen Menschen, es ist niemand da, der bekannt ist, den du aus den Dörfern hier ringsherum kennst.«

Agro-Gentechnik und die Proteste dagegen als ›das Andere‹ Sowohl die Proteste als auch der GVO-Anbau wurden in den Regionen als eine Abweichung von einer zuvor bestehenden Normalität betrachtet. Für die einen war der GVO-Anbau eine zukunftsweisende Innovation, für die anderen eine Bedrohung für die gentechnikfreie Landwirtschaft und den sozialen Frieden vor Ort. Die Proteste waren für die einen ein Weg zu einer nachhaltigen Landwirtschaft, für andere eine Störung des konflikt-

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freien Miteinanders. Auch wenn der Protest aus den Regionen selbst kam, wurde er teilweise als das ›Andere‹ konstruiert und die entsprechenden Personen als diejenigen, die immer schon anders gewesen seien. Zugespitzt wurde in einigen Fällen behauptet, die Anwendung von Agro-Gentechnik werde erst dann konflikthaft, mithin problematisch, wenn ›Zugezogene‹ oder ›Zugereiste‹ involviert seien. Wenngleich auf einer materiell-stofflichen Ebene tatsächlich bestehende Koexistenzprobleme den gentechnikfreien Maisanbau sowie die Imkerei betrafen, so wurden, beispielsweise im Landkreis Oberhavel, durch einen Anbauer Koexistenzprobleme nicht durch benachbarte Maisfelder, sondern durch benachbarte Pferdekoppeln gesehen – wobei Pferdekoppeln hier exemplarisch für die Landnutzung durch die nicht hauptberufliche Landwirtschaft stehen. Gerade erst die Hybridität von Landwirtschafts- und Erholungs- bzw. Freizeitraum sorgt also in dieser Deutung für eine Eskalation des Konflikts. Seitens einiger Anbaugegnerinnen und -gegner wurde Agro-Gentechnik als ›Invasion‹ von außen konstruiert und Agro-Gentechnik einer bisher gentechnikfreien Regionalität gegenübergestellt, die durch die Anwendung von MON810 bedroht werde. In Einzelfällen bestand die Konstruktion einer gentechnikfreien Regionalität selbst in Zeiten des GVOAnbaus fort, als die Region nachweislich nicht mehr gentechnikfrei war. So äußerte ein (gentechnikkritischer) Interviewpartner beispielsweise in Bezug auf regionale Produkte: »[…] das ist aus der Region, da braucht man keine Angst zu haben.« Hier findet also eine Idealisierung des Ländlichen statt, und zwar obwohl gerade das Ländliche hier der Ort der Risikotechnologie ist1.

H ybride P fl anzen – hybride R egionen Nicht nur in Bezug auf die Nutzung von Agro-Gentechnik, sondern auch darüber hinaus ist Natur in der Landwirtschaft »zu bearbeitende ›Natur‹« (Mölders 2008: 195), Landwirtschaft ein »Arbeiten mit der Natur« (Feindt et al. 2004: 12), ein »Hybrid von Natur und Gesellschaft« (ebd.). 1 | Vgl. hierzu auch Oswalt in diesem Band zur Modernisierung und Technisierung der Landwirtschaft einerseits und der Idealisierung traditioneller Bewirtschaftung durch meist aus Städten Zugezogener andererseits.

Politik zwischen Stadt und Land

GVO als Bestandteil von Landwirtschaft sind gesellschaftlich-technisch produziert und gleichzeitig natürlich und lebendig (vgl. Roßler 2008: 79). Dabei unterscheiden sie sich von anderen landwirtschaftlich genutzten Pflanzen in Bezug auf die »Eingriffstiefe des gesellschaftlichen Gestaltens« (Friedrich 2015: 29). Das deutsche Gentechnikgesetz (GenTG) weist auf die Hybridität eines GVO als natürlich und nicht natürlich hin, indem es diesen einerseits als einen Organismus beschreibt, »dessen genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen […] nicht vorkommt« (§3 Nr. 3 GenTG) und andererseits als eine »biologische Einheit, die fähig ist, sich zu vermehren oder genetisches Material zu übertragen« (§3 Nr. 1 GenTG) (vgl. Friedrich 2017b: 163ff.). In der Praxis zeigt sich die Relevanz der Frage, ob GVO Natur oder Technik sind, beispielsweise in der Debatte um gv Pollen im Honig und deren umstrittene Kategorisierung als natürliche Bestandteile (vgl. Europäische Kommission 2012). Auch in der gentechnikkritischen Bewegung ist die Hybridität von GVO ein zentrales Motiv, indem eine vermeintlich ›natürliche‹ gentechnikfreie Landwirtschaft den GVO gegenübergestellt wird (vgl. Gottschlich et al. 2014: 17ff.). Konfliktgegenstand ist die Produktion einer gentechnisch veränderten Natur. Auch in Bezug auf die neuen Verfahren der Pflanzenzüchtung, beispielsweise unter Anwendung des ›Genome Editing‹, ist umstritten, ob die Pflanzen als GVO zu kategorisieren sind (vgl. Winter 2017). Auch die Anbauregionen sind Hybride. Sie sind als sozial-ökologische Konflikträume gesellschaftlich produziert und prägen wiederum gesellschaftliche Naturverhältnisse. Da gv Pflanzen äußerlich nicht von gentechnikfreien zu unterscheiden sind, ändert sich zwar nicht das Aussehen des physischen Raums, jedoch wandeln sich durch die gesellschaftliche Regulation des Streits um Agro-Gentechnik die Zuschreibungen und Lebenspraktiken: Als MON810 angebaut wurde, verlagerten sich die Konflikte um Agro-Gentechnik in die Dörfer und auf die Äcker. Dabei verschränkten sich das Rurale und das Urbane, indem die ländlichen Räume nicht mehr vorwiegend als Ort der Lebensmittelproduktion oder als Erholungsraum wahrgenommen wurden, sondern als politische, als »umkämpfte Räume« (Woods 2007: 494). In den entsprechenden Dörfern fanden Demonstrationen statt, Live-Sendungen von Fernsehsendern, überregional relevante Wahlkampfauftritte sowie weit über die Dorfgrenzen hinaus beachtete Diskussionsveranstaltungen. Zudem wurden auch in Bezug auf die Beteiligten Trennungen aufgehoben, indem es zu Begeg-

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nungen zwischen den Konsumentinnen und Konsumenten und den in der Landwirtschaft Tätigen kam. Vor Ort überlagerten sich die Konflikte um Agro-Gentechnik oftmals mit bereits bestehenden Konflikten wie die um Stallbauten zur industrialisierten Tierhaltung oder Konflikte darum, welches ein ›gutes Leben‹ auf dem Lande sei, so dass die ländlichen Räume nicht nur im Hinblick auf Agro-Gentechnik, sondern insgesamt zu einem politischen Raum geworden sind, was auch mit einer Politisierung der Beteiligten einher ging. Es ging auch insgesamt darum, wie gewirtschaftet und gelebt werden soll: Um die Anwendung von Pestiziden, um die Gestaltung von Nachbarschaften. Relevant sind dabei einerseits die Bilder von Dorf und ländlichem Raum auf einer symbolisch-diskursiven Ebene: Das Dorf wird als konfliktfreier Raum und als Konfliktraum konstruiert, als Innovationsraum und als Raum, der frei von Risikotechnologien zu halten ist. Andererseits geht es stets um die auf einer materiell-stofflichen Ebene stattfindenden oder geplanten Aneignungsprozessen von Natur. Das Rurale bekommt einerseits – als weiterhin Rurales – eine neue Bedeutsamkeit. Andererseits wird es transformiert, es entstehen rurbane Handlungskontexte. Was bedeutet dies für das Verhältnis von Stadt und Land? Mit Laschewski (2015: 361) gehe ich davon aus, dass sich Dualität und Hybridität nicht ausschließen, sondern einander bedingen, dass Differenzen »(Denk-)Kategorien« sind »mit denen wir uns selbst und andere sowie Zustände und Prozesse in unserer Welt zu beschreiben versuchen und an denen wir unser Handeln orientieren« (ebd.). Hier greift ein »vermittlungstheoretisches Verständnis von Hybridität« (Mölders et al. 2016: 38). Hybridität wird nicht (nur) physisch verstanden, sondern »als sozialer und zeitlicher Prozess« (ebd.: 48). Es gibt eine »soziale Dimension« von Hybridität (ebd.: 54). Damit werden Urbanität und Ruralität zu »kulturelle[n] Phänomene[n] und symbolische[n] Zuschreibungen« (ebd.: 55). Ländliche Räume verändern sich nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern auch in Bezug auf die »diskursive Wahrnehmung« (Hofmeister/ Kühne 2016b: 4). Dabei bestehen teils »Feindseligkeiten gegen Repräsentanzen des Hybriden« (Hofmeister/Kühne 2016a: 283). Der vormals als vermeintlich konfliktfrei konstruierte und durch Einigkeit und Gemeinschaft geprägte ländliche Raum wird durch die Auseinandersetzung um Agro-Gentechnik von Rissen durchzogen. Positiv hervorgehoben wird dabei die wahrgenommene Politisierung im Sinne eines Empowerments.

Politik zwischen Stadt und Land

Raumtheoretisch kann in Bezug auf die Konflikte um Agro-Gentechnik von einer Territorialisierung, einem ›Scaling‹ und einem ›Place-Making‹ gesprochen werden (vgl. Belina 2013: 88ff.). Eine Territorialisierung findet statt, indem eine Konfliktstrategie darin bestand, Räume mit oder ohne Agro-Gentechnik zu schaffen. Im Sinne eines Scalings fand bis 2009 zumindest partiell eine Verlagerung auf das Lokale – das Rurale – statt. Die entsprechenden Orte veränderten sich dabei durch die und in den Konflikten (Place-Making), indem bestimmte Landwirtschafts- und Protestpraktiken zum Einsatz kamen, die die jeweiligen Orte, aber auch die biographische Entwicklung der Beteiligten prägten.

A usblick Kommt es zu einer Neu- oder Wiederzulassung von gv Sorten oder werden unter Anwendung von neuen Züchtungsverfahren, beispielsweise der Methode CRISPR-Cas9 produzierte Pflanzen eingesetzt, ist mit heftigen Konflikten zu rechnen. Genau wie in der Zeit bis 2009, als der Anbau von MON810 möglich war, stellt sich dann die Frage, ob die Konflikte durch eine eingreifende Regulation des Staates geregelt werden sollen oder durch ein Aushandeln vor Ort, das möglicherweise jedoch dem Vorsorgeprinzip entgegensteht. Wird der Gentechnikkonflikt nicht auf nationaler Ebene geregelt, beispielsweise durch ein Anbauverbot, werden die entsprechenden Regionen erneut zu Konflikträumen. Die Bedeutung von landwirtschaftlichen Flächen bleibt bestehen, denn ohne diese ist eine kommerzielle Anwendung nicht möglich – und die Mehrzahl der landwirtschaftlichen Flächen ist noch immer in Regionen gelegen, die als ländlich kategorisiert werden. Werden die umstrittenen Technologien eingesetzt, stellt sich wiederum die Frage, wie die Konflikte vor Ort bearbeitbar sind: Können sie auf einer raumplanerischen Ebene geregelt werden (vgl. Winter/Stoppe-Ramadan 2012: 197ff.)? Wird das Konzept der gentechnikfreien Regionen, bei denen sich Landwirtinnen und Landwirte den Verzicht auf Agro-Gentechnik versprechen, auch in Bezug auf die neuen Züchtungstechniken angewandt (vgl. BUND Bundesgeschäftsstelle 2010)? Kann eine nachhaltige Regionalentwicklung Alternativen zur umstrittenen Anwendung aufzeigen und damit zu einem Interessenausgleich führen (vgl. Pick 2007)? Wie verändern sich die entsprechenden Räume durch die alter-

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nativen Entwicklungspfade? Was charakterisiert die Räume, in denen die umstrittenen Technologien zum Einsatz kommen und wird es sich dabei tatsächlich (weiterhin) um ländliche Räume handeln? Kann das gegenwärtig (wieder) entdeckte Potential einer urbanen Landwirtschaft (vgl. Kost/Kölking 2017) auch unter Anwendung von Agro-Gentechnik genutzt werden? Möglicherweise zeichnet sich hier ein neues Trennungsverhältnis ab: Ein Trend zu einer urbanen ökologischen, gentechnikfreien Landwirtschaft einerseits und einer Anwendung von Risikotechnologien in ländlichen Räumen andererseits.

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Raum und Figur Beobachtungen zur aktuellen Energieliteratur Ingo Uhlig Auf breiter Linie werden aktuelle Energieentwicklungen in der Literatur verhandelt. Den Auftakt der hiesigen Konjunktur bildete ein Import des Themas: Jonathan Franzens Freedom und Ian McEwans Solar wurden im Jahr 2010 im Original und in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Beide Texte – Franzen in tragischer und McEwan in satirischer Form – verhandeln aktuelle Energieentwicklungen vor dem Hintergrund globaler ökologischer Gefahren, aber wenden das Thema ebenso ins Lokale: Sie führen an die Orte der Energieproduktion, behandeln technische Infrastrukturen und (insbesondere bei Franzen) eine eigentümliche Agency, eine Handlungsmacht rurbaner Räume. In der Bundesrepublik sind es die Transformationen der Energiewende, die sich literarisch ausprägen. Angesichts ihrer Verbreitung verwundert es nicht, dass vor allem die Windkraft die Blicke und das Erzählen auf sich zieht – so etwa in Juli Zehs Unterleuten (2016) und Alina Herbings Niemand ist bei den Kälbern (2017). Beide Texte sind Dorfromane, beide führen ins flache und ausgedünnte nordostdeutsche Terrain. Das Erzählen der erneuerbaren Energien nimmt seinen Ausgang zumeist vom Raum, der Geographie und der Landschaft. Im fluss- und gefällereichen Nachbarland Österreich ließe sich etwa eine Wasserkraftpoetik umreißen – verbunden etwa mit Christoph Ransmayrs Kaprun. Oder die Errichtung einer Mauer (1997), Elfriede Jelineks Das Werk (2000) oder jüngst dem novellistischen Einschub »Der Ausflug« in Clemens J. Setz’ Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2016: 361-371). Umspielt werden all diese renewable-stories von einer intensiven lokalen Krimiproduktion, die ihrerseits von den Alpen bis zur Nordsee reicht. Die entsprechenden technischen Entwicklungen werden dabei als kulturelles Thema verhandelt, indem sie als Veränderungen von Lebens-

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räumen entworfen und befragt werden. Die folgenden Ausführungen greifen diese Darstellungen des Raumes und seiner Transformation auf. Der Punkt, auf den ich mich dabei konzentriere, ist eine auffällige Sensibilisierung und Durchlässigkeit der Figuren: Kollektive und individuelle Akteurinnen und Akteure erscheinen häufig als regelrechte Wirkungssphären des Raumes. In zentralen Texten der aktuellen Energieliteratur wird der Raum als agentieller Bereich oder Individuationsfeld entworfen; als eine Instanz, die Figuren prägt und ›zeichnet‹. Das sich abzeichnende Verhältnis von Raum und Figur ließe sich dahingehend kennzeichnen, dass Subjektivität ein stark räumlich geprägtes Phänomen ist und aus dem Raum hervorgeht. Diese literarisch erschlossene Agentialität des Raumes zeigt eine Koinzidenz mit Entwicklungen innerhalb der bildenden Kunst: Etwa wenn Olafur Eliasson das Konzept life is space entwirft (Eliasson 2017) und damit metabolistische und energetische Relationen in den Blick nimmt, die die Grenzen von Körper und Subjekt, von Innen- und Außenwelt konsequent außer Kraft setzen. Und es zeigen sich philosophische Koinzidenzen zum Beispiel in Form einer erweiterten Ökologie bei Félix Guattari. In seinen Schriften der 1980er Jahre entwirft Guattari anschließend an immanenzphilosophische Positionen eine ausgesprochen variable Subjektivität, die in ein striktes Verhältnis zu Umweltbedingungen gesetzt wird: Innerlichkeit wird ebenso wie das kollektive Leben als ein ökologisches Phänomen betrachtet (vgl. Guattari 2014, 2016).

»the sprawl , the sprawl , the sprawl«. Z ersiedeln – J onathan F ranzen (2010) Damit zu einem Impulstext der aktuellen Energieliteratur, der die Thematik von Raum und Figur umreißt: Bei Jonathan Franzens Freedom (2010) handelt es sich um einen groß angelegten, gut siebenhundert Seiten starken Gesellschaftsroman. In realistischer Erzählform kommt eine Familiengeschichte im demokratisch geprägten Amerika zur Darstellung. Franzen leistet mit ausgesprochener Eleganz und Pointe die historische und politische Einordnung dieses Familiengeschehens, das über vier Jahrzehnte verfolgt wird, wobei der Schwerpunkt der Handlung in die 2000er Jahre und die Zeit der Bush-Präsidentschaft fällt. Der Roman ruft die große Tradition literarischer Sitten- und Epochengemälde auf

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und spannt deren weite Bögen: Das Private ist immer auch politisch, das Aktuelle immer historisch und das Nächstliegende immer auch global zu begreifen. In der nachfolgend zitierten Dialogszene erscheinen die beiden männlichen Hauptakteure des Romans. Der eine, Walter Berglund, ist Jurist und Vogelschützer; idealistisch, intellektuell aber zugleich ungelenk im Sozialen. Eines seiner zentralen Anliegen besteht darin, eine Art nachhaltigen Kohlebergbau in dem sich hinter der Ostküste entlangziehenden Mittelgebirgsgürtel der Appalachen zu initiieren. Der andere, sein enger Studienfreund Richard Katz, ist nach den erfolglosen Punk-Jahren seiner Jugend ein berühmter Independent-Musiker, dessen Kreativität gehörig exzentrische Seiten zeigt: exzessive Libido, exzessive Drogenerfahrungen und vor allem ausgeprägten Zynismus. Gesellschaftliche oder ökologische Projekte interessieren Katz allenfalls, insofern sie die kuriosen Betätigungsfelder seines Freundes bilden. In der Szene taucht auch Lalita auf, Walters Mitarbeiterin. Sie und Walter versuchen den Musiker Richard davon zu überzeugen, eine komplex angelegte Umweltkampagne zu unterstützen, in der sich Energie-, Klima- und Vogelschutzthemen verbinden. Walter und Lalita sind Figuren eines stark ausgeprägten politischen Engagements, die nicht zuletzt deutlich machen, dass Franzen an der emanzipatorischen Verpflichtung realistischer Erzählprojekte festhält. Um ihre Vorhaben mit der Aussicht auf Erfolg anzugehen, brauchen sie einen prominenten und charismatischen Träger wie Richard Katz, den Walter nun zu überzeugen versucht, indem er ihm ein Problem, ein landschaftliches Problem darlegt, das ihm auf seinen Dienstreisen begegnet. Im Laufe dieses Dialogs wird aus der geographischen aber eine philosophische Problemstellung, die kollektive und gesellschaftliche Formationen in den Blick nimmt. Das Zitat beginnt in wörtlicher Rede Walters: »›Solange ich in St. Paul war, ging’s mir noch einigermaßen gut, aber ich musste für die Nature Conservancy den ganzen Staat durchqueren, und jedes Mal, wenn ich die Stadt hinter mir ließ, war es wie eine Ladung Säure ins Gesicht. Nicht nur die industrielle Landwirtschaft, sondern die Zersiedelung, die Zersiedelung, die Zersiedelung [the sprawl, the sprawl, the sprawl]. Eine niedrige Baudichte ist das Schlimmste. Und überall Geländewagen, überall Schneemobile, überall Jetskis, überall Quads, überall hektargroße Rasenflächen. Diese verdammten grünen, monokulturellen, chemiegetränkten Rasenflächen.‹

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›Hier sind die Karten‹ sagte Lalita. ›Ja, die zeigen die Zerstückelung‹, sagte Walter und reichte Katz zwei laminierte Karten. ›Die hier zeigt den unberührten Lebensraum im Jahr 1900, die den unberührten Lebensraum im Jahr 2000‹. ›Das macht der Wohlstand‹, sagte Katz. ›Die Erschließung erfolgte aber ohne Sinn und Verstand‹ sagte Walter. ›Wenn nicht alles so zerstückelt wäre, hätten wir wohl immer noch genügend Land für das Überleben anderer Arten.‹ ›Doch, hübsche Fantasie‹, sagte Katz. Es hatte wohl so kommen müssen, dachte er rückblickend, dass sein Freund zu einem von denen wurde, die laminierte Literatur mit sich herumtragen. Dennoch war er überrascht, was für ein wütender Spinner aus Walter in den letzten zwei Jahren geworden war.‹« (Franzen 2010: 290) Walter kommt nun in der Tat in Rage und wechselt dabei die Ebenen, nicht aber das Thema der Fragmentierung: »›Und das hat mich nachts wach gehalten‹, sagte Walter. ›Diese Zerstückelung. Denn überall ist es dasselbe Problem. Es ist wie das Internet oder das Kabelfernsehen – nirgends gibt es ein Zentrum, es gibt keine gemeinschaftliche Übereinkunft, nur noch Trillionen kleiner Fetzen Lärm, die einen ablenken. Nie können wir uns hinsetzen und ein nachhaltiges Gespräch führen, alles ist wertloser Ramsch und eine Scheißentwicklung. Alles Echte, alles Authentische, alles Ehrliche, das stirbt aus. Geistig und kulturell flitzen wir nur herum wie ziellose Billardkugeln und reagieren ziellos auf die neuesten Reize.‹ ›Im Internet gibt’s ziemlich gute Pornos‹, sagte Katz. ›Heißt es zumindest.‹ ›In Minnesota habe ich jedenfalls nichts Systemisches erreicht. Da haben wir nur kleines Stückwerk unzusammenhängender Nettigkeiten angesammelt.‹« (Ebd.: 290f.)

Ein Gespräch also zwischen einer engagierten aber verzweifelten Figur und ihrem zynischen Gegenüber. Inhaltlich herrscht im Grunde Konsens. Prägnant daran ist der Verlauf, der von ökologisch-landschaftlichen Sachverhalten zu Themen der Subjektivität und des Sozialen führt.1 Auf 1 | Das Gespräch wird noch um eine dritte Facette oder Transversale erweitert, die das Thema der Fragmentierung in das Gebiet des Artenschutzes bzw. -sterbens führt und hier die Territorialität einer Vogelart – des Pappelwaldsängers – betrifft: »›Er brütet in Baumwipfeln von alten Laubwaldbeständen‹, sagte Walter. ›Und sobald die Kleinen flügge sind, wechselt die Familie ins Unterholz, um sicher zu sein. Aber die ursprünglichen Wälder wurden alle wegen Nutzholz und Holz-

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den ersten Blick ist es lediglich ein metaphorischer Bezug, die Zersiedelung der Landschaften ähnelt der Fragmentierung und digital forcierten Desintegration der Gemeinschaften, Charaktere und Ideen. Aber es gibt hier durchaus eine systematische Beziehung zu bemerken, und die liegt in der Abwesenheit emanzipatorischer Potentiale: Orte und Subjekte, Landschaften und Gemeinschaften teilen hier die Eigenschaft, weitgehend bar der Möglichkeit zur Progression oder Entwicklung zu sein. Im Gegenteil, das Geschehen und seine Konsequenzen werden als zutiefst regressiv beschrieben: stupider Konsum aller Orten. Die Senke dieser Regression ist Katz’ zynischer Verweis auf die Pornographie. Dabei handelt es sich um eine regelrecht industriell betriebene Provinzialisierung; ein ökologischer und kultureller Niedergang im Zeichen gesteigerter Produktion und exzessiver Konsumtion. Kein Wort fällt etwa über die Rolle und das Potential staatlicher Institutionen oder Bildungseinrichtungen. Walter beklagt letztlich gut marxistisch eine Fehlleitung von Energien und Treibstoffen, allerdings wurden diese nicht von einer korrupten Klasse an sich gerissen, sondern von einer ziellosen Schar energiehungriger Kleinverbraucherinnen und Kleinverbraucher. Soweit das Auge reicht Spielzeuge mit Verbrennungsmotor: »Und überall Geländewagen, überall Schneemobile, überall Jetskis, überall Quads«. Und es ist Walter nicht abzusprechen: Vom Standpunkt der Emanzipation aus gesehen führt es in der Tat zu nichts, damit über Felder zu fahren. Auch wenn Walter mit seiner beharrlichen Suche nach einem authentischen oder humanistischen Zentrum etwas anachronistisch, eher wie eine Figur aus der Ökologiebewegung der achtziger Jahre wirkt, trägt er hier doch eine Idee vor, die sich auch im Zentrum jüngerer Theoriebildung wiederfindet: Die Idee nämlich, dass Territorien und Gefüge, dass die Ökologie des individuellen und sozialen Lebens tief in die Bildung von Subjektivität hineinreichen. Der zersiedelte Raum wäre folglich kein passiver, sondern ein agentieller, ein subjektivierender Raum. Und folglich findet Walter die geographische Depression, von der er spricht, im Sozialen und Individuellen wieder. Es handelt sich um einen aktualisierten raum- und landschaftssensiblen Materialismus, der hier zum Ausdruck kohle gefällt, und die Sekundärwälder haben nicht das entsprechende Unterholz und sind durch Straßen, Farmen, Trabantenstädte und Kohlereviere fragmentiert, weswegen der Waldsänger zu einer wehrlosen Beute von Katzen, Waschbären und Krähen geworden ist.‹« (Franzen 2010: 291).

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kommt. Dessen theoretischen Kern bildet eine durchlässige, raumabhängige Subjektivität, die man auch in jüngeren theoretischen Entwürfen, wie der eingangs angesprochenen von Félix Guattari vorgelegten Ökosophie entdecken kann. Guattaris subjektphilosophischer Vorschlag besteht darin, Subjekte als Terminals, als Umschlagspunkte und damit als fluktuierend zu begreifen: Innerlichkeit bildet sich »an der Kreuzung vieler Komponenten, die relativ autonom und gegebenenfalls disharmonisch sind.« (Guattari 2016: 24) Walters Kritik des rurbanen sprawling entspricht diese Idee einer posthumanen Terminalbildung. Es entstehen hier genealogische Konzeptionen der Subjektivität, die die Autonomie subjektiver Intentionen anzweifeln und deren Genesen konsequent verräumlichen. Ein Subjekt wäre folglich die Gesamtheit seiner körperlichen und unkörperlichen Erzeugungsmomente (Gefüge). Die Trennung von Subjekt und Raum wird kritisch hinterfragt, entsprechend ist es die Kartographie, die als das Medium ins Spiel kommt, um die Entwicklung räumlicher und kultureller Gefüge aufeinander zu beziehen (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 354). Insofern ist auch Walters Faible für ›laminierte Literatur‹ kein Zufall. Der Roman markiert damit nicht zuletzt eine Art Konkurrenz, beinahe einen Kampf zwischen Zeit und Raum: So ist Walters Handlungsmaxime einem Fleetwood Mac Song entlehnt: »Don’t stop thinking about tomorrow«. Gerade diese Sorge um die Zeit, um die historische Entwicklung ist es aber, die zugunsten historisch desinteressierter aber räumlich komplexer Kräfte aus dem Blick gerät. Und so gibt es auch im Roman letztlich eine fatale Dominanz des Raumes, die sich in den Ereignisverläufen der Handlung artikuliert. Walter und Lalita leben hauptsächlich in Washington werden aber zu Reisenden in der Provinz. Als Leserin oder Leser folgt man ihren ausgedehnten Unternehmungen, die das Ziel haben, den Bewohnenden des amerikanischen Hinterlands in Umwelt-, Energie- und Klimafragen eine Art Entwicklungshilfe zukommen zu lassen und ihnen damit auch eine zeitliche Dimension zurückzuerstatten. Das zentrale Ereignis, die zentrale Tragödie der Erzählung wird das Schicksal Lalitas sein und sich etwa dreihundertfünfzig Seiten nach dem zitierten Dialog in den Kohlerevieren der Appalachen abspielen.2 Einem 2 | Nachfolgend die entsprechende Passage. Diejenigen Leserinnen und Leser, für die Freedom noch zu den Lektüreprojekten zählt, sollten diese Fußnote einfach überspringen.

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Raum, der zuletzt auf sich aufmerksam machte, als er unerwartet stark in den Ausgang der US-Wahlen eingegriffen hat.

» kurz davor , daneben , irgendwo z wischen alldem …« – A lina H erbing (2017) Ich möchte Franzen damit verlassen und nach diesem Gespräch, das maximal urban in einem New Yorker Restaurant stattfand nun literarisch in situ gehen, das heißt auf ein Feld in die nordwestmecklenburgische Provinz. Alina Herings Debütroman Niemand ist bei den Kälbern ist 2017 erschienen. Auf dem Buchcover sind ein Paar Gummistiefel zu sehen: olivgrün, dreckverkrustet, nicht von oben, aus der Trägerperspektive, sondern in Frontal- und Nahansicht. Diese Stiefel sind nicht gemacht, um damit zu laufen und die Welt zu erleben, diese Bauernstiefel – der Eindruck bestätigt sich, sobald man auf den dahinterliegenden Seiten zu lesen beginnt – verschließen den Raum und stehen dem Leben im Weg.

»›Well, drive carefully out there, OK?‹ ›I will,‹ she said. ›I love you Walter.‹ ›I love you, too.‹ The woman he loved loved him. He knew this for certain, but it was all he knew for certain, then or ever; the other vital facts remained unknown. Whether she did, in fact, drive carefully. Whether she was or wasn’t rushing the rain-slick county highway back up to the goat farm the next morning, whether she was or wasn’t rounding the blind mountain curves dangerously fast. Whether a coal truck had come flying around one of these curves and done what a coal truck did somewhere in West Virginia every week. Or whether somebody in a high-clearance 4x4, maybe somebody whose barn had been defaced with the words FREE SPACE or CANCER ON THE PLANET, saw a dark-skinned young woman driving a compact Koreanmade rental car and veered into her lane or tailgated her or passed her too narrowly or even deliberately forced her off the shoulderless road. Whatever did happen exactly, around 7:45 a.m., five miles south of the farm, her car went down a long and very steep embankment and crushed itself against a hickory tree. The police report would not even offer faintly consoling assurance of an instant killing.« (Franzen 2010: 629f.).

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Die Erzählung führt in das Dorf Schattin, auf windradbestandene Felder und in einen familiengeführten Milchviehbetrieb. Die Heldin Christin lebt hier, es sind der Hof und das Elternhaus ihres Freundes Jan. Sie hilft auf dem Hof, dem es wirtschaftlich schlecht geht, der niedrige Milchpreis und überhaupt die Strukturschwäche der Region lassen den bäuerlichen Alltag regelrecht fluchbeladen erscheinen – ein Arbeitsleben als Reihung vergeblicher Anstrengungen. Dann beginnt eine Affäre mit dem Windkraftarbeiter Klaus, der aus Hamburg kommt, mit einem Kleinbus der Firma Wintec unterwegs ist und Windräder wartet. Natürlich gibt es dramatische Wendungen, die Affäre fliegt auf und die junge Frau wird den Hof verlassen müssen. Dorf-Tristesse, unerfülltes Begehren, Flucht… Der Roman macht kein Geheimnis um den literaturgeschichtlichen Bezug, der damit entsteht und so wird ihm ein kurzes Motto aus Flauberts Madame Bovary vorangestellt, das die Hauptfigur Christin als Madame Bovary-Version des Windkraftzeitalters kenntlich werden lässt. Anders aber als bei Flaubert bleibt das große existenzielle, tödlich endende Drama hier aus. Bei Herbing wird lediglich der Hund vergiftet. Aber selbst dieses Nichtstattfinden könnte man systematisch lesen: Es gibt nicht einmal ein richtiges Drama, oder anders, es gibt nur ein Drama der Belanglosigkeit. Das dem Roman voranstehende FlaubertZitat fixiert dementsprechend natürliche Nebensächlichkeiten, es lautet: »Auf der Straße wirbelte der Wind Staubwolken auf.« Das Besondere an Herbings Text, gerade angesichts der gegenwärtigen Konjunktur der Dorfliteratur, ist das völlige Fehlen von Klischees und Figuren, die etwa nach dem Typus skurriles Dorforiginal gefasst sind. Die Literatur klammert sich nicht an derartige Schablonen des Dorflebens, sondern errichtet stattdessen einige singuläre und ästhetisch autonome Empfindungen, das heißt Perzepte und Affekte der Landschaft. Gehen wir also in die Fläche und unter die Windräder. Diese Passage findet sich im Eingang des Romans: »Über Lübeck startet ein Flugzeug und fliegt direkt in die Sonne. Und sofort hab ich das Gefühl, ein dickes Kind klammert sich an meinen Rücken und schlingt seine Arme so fest es geht um meinen Hals. Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern

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kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen.« (Herbing 2017: 11)

Die Figur erreicht einen gefühlten Maximalwert an Dezentralität. Dabei markiert dieses topographische Dazwischen oder Zwischen-allem auch einen semantischen Nullpunkt. Franzens geographisch-kulturelle Fragmentierungsthese wird hier in direkter Rede aufgegriffen: »Wieso sollte ich sonst in diesem Moment…« Ich befinde mich zwischen den Fragmenten, auf einem noch abseitigeren Nebenschauplatz, in einem Loch im Netz der kulturellen und geographischen Codes und es existieren folglich keine Möglichkeiten eines Anschlusses geschweige denn der Progression oder Entwicklung. Zu dieser räumlichen Dominanz gehört auch, dass Zeit oder aktuelles Zeitgeschehen im Roman kaum mehr eine Rolle spielen: Die Jahreszeiten, das Wetter und landwirtschaftliche Rhythmen sind in gewisser Weise wichtiger oder handlungsrelevanter als Jahreszahlen. Damit erscheint auch das Thema Energiewende hier nicht im Zusammenhang mit Projekten oder Kontroversen, die sich einem technischen oder historischen Fortschritt (mithin der Zeit) verpflichtet haben, sondern es erscheint in Darstellungen isolierter rurbaner Raumerfahrung. Die Frage ist aber nun, was geschieht hier mit der Figur? Es geschieht etwas sehr Eigentümliches: Es erscheint eine Figur, die sich dem Raum mehr und mehr ausliefert. Die junge Frau ist keine zupackende Akteurin im Raum, vielmehr wird sie selbst der Schauplatz, das Spielfeld räumlicher Intensitäten. Sie bewegt sich nicht durch den Raum, um dessen Objekten, Menschen oder Infrastrukturen mit planendem Geist und praktischem Sinn zu begegnen. Anstatt wahrzunehmen, zu reflektieren und zu handeln, stellen sich Pausen und Langsamkeiten ein. Diese Leerstellen suspendieren die Handlung und werden mit Affekten aufgefüllt. Wie man sieht, ist dieser Raum kaum noch in seinen tatsächlichen extensiven Qualitäten von Bedeutung, sondern er erscheint in merkwürdigen affektiven Zuständen. Um wieder ins Zitat zu gehen: Wie ein dickes Kind, das sich an meinen Rücken klammert – schwer, übergriffig. Anders formuliert: Man kommt diesen literarischen Landschaften nur auf die Spur, wenn man Subjekt und Objekt vertauscht: Es sind keine Figuren, die handeln und dabei mehr oder weniger starke Gefühle haben, es sind Raumwahrnehmungen und Affekte, die zum unscharfen,

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gebeugten oder ›schiefen‹, in jedem Fall aber völlig unklassischen Umriss einer Figur zusammentreten. Um hier den Bogen nochmals zu Jonathan Franzen zu schlagen: Die Literatur berichtet beide Male von regionalen Umbrüchen, die sowohl Landschaften und Subjekte betreffen, sie bleibt dabei völlig dem realistischen Erzählprogramm treu, bringt aber gerade im Zusammenhang mit dieser ausgeprägten Empirie eine fluktuierende, durch Raum und Kontiguität bestimmte Subjektivität zur Sprache. Natürlich wird auch in Herbings Roman die Handlung wieder aufgenommen und an Stationen wie der Liebesaffäre, der Sabotage der Windkraftanlagen, des Dorf- und Hofdramas entfaltet. Die Heldin kreist dabei weiterhin zwischen Wahrnehmungen und Affekten, die begleitet werden von einem wiederholten Austicken aus dem psychosozialen Normalverhalten. Kenntlich wird dabei aber eine Verdichtung des Affektgeschehens, die zumindest die Aussicht darauf lässt, dass sich hier die Flucht und ein sichtbarer Souveränitätsgewinn anbahnen. Für aktuelle literarische Darstellungen der erneuerbaren Energien und ihrer Landschaften steht Herbings Roman insofern exemplarisch, als diese (zumindest bislang) keine Erfolgsgeschichten von Dorfakteurinnen und -akteuren oder auch von Raumpionieren sind. Die Möglichkeit eines guten oder gelingenden rurbanen Lebens wird seitens der Literatur mit dem Hinweis auf das untrügliche Gewicht der Empfindung durchkreuzt: Das Leben der Figur in Schattin erscheint in der literarischen Form glasklar als eines, das überwunden werden muss (wobei dies nicht notwendig heißt, von dort weg zu gehen). Die Literatur ist ästhetisch autonom, nicht bereit Zugeständnisse und Kompromisse zu machen. Sie findet aber – durch welche Tristesse sie sich dabei auch immer bewegt – an den Orten der Energieproduktion zu einer Poesie des Raumes, die über die Genese rurbaner Subjektivität Aufschluss zu geben vermag und sich zu deren Fürsprecher macht.

L iteratur Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Mevre.

Raum und Figur

Eliasson, Olafur (2017): Life is Space, http://olafureliasson.net/se​arch? term=life%20is%20space vom 01.11.2017. Franzen, Jonathan, (2010): Freedom, New York: Farrar, Straus and Giroux. Dt. Freiheit (2010), übers. v. Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Guattari, Félix (2014): Chaosmose, übers. v. Thomas Wäckerle, Wien/Berlin: Turia + Kant. – (2016): Die drei Ökologien, übers. v. Alec A. Schaerer unter Mitarbeit von Gwendolin Engels, Wien: Passagen. Herbing, Alina (2017): Niemand ist bei den Kälbern, Zürich/Hamburg: Arche. Jelinek, Elfriede (2000): Das Werk, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Ransmayr, Christoph (1997): Kaprun. Oder die Errichtung einer Mauer, in: Ders., Der Weg nach Surabaya. Reportagen und kleine Prosa, Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 75-90. Setz, Clemens J. (2016): Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, Berlin: Suhrkamp.

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Rurbane Landschaften VERHANDELN

Landschaftsvertrag 1 Sören Schöbel Beginnen wir mit einem Blick auf die Stadt, in der in den letzten Jahren ein neues Verständnis von Landschaft entstanden ist. Landschaft ist nicht mehr das ›gesunde‹ Gegenüber der ›kranken‹ Stadt, aufzulösen in der Stadtlandschaft, wie es während fast des gesamten 20. Jahrhunderts selbstverständlich war. Im Gegenteil: Stadtlandschaft bezeichnet heute die über Jahrhunderte gewachsene räumliche Vielfalt und zugleich den Zusammenhang der Stadt selbst, entstanden in, aus und über der natürlichen Morphologie des jeweiligen Ortes – Genius Loci. Eine solche kritisch erneuerte Wertschätzung von Landschaft als Ursprung der Stadt, aber durchaus nicht als deterministisches ›System von Leerräumen‹ (Koolhaas 1990) oder als ›gleichberechtigte Partnerin im urbanen Gefüge‹ (100 % Stadt 2014), sondern als immanenter Strukturgeber, zeigt sich im zeitgenössischen Städtebau: zuerst die Flussufer, nun auch Bäche, Hangkanten, Hochpunkte, Niederungen, Terrassen etc. werden nicht als Kategorie ›Grünfläche‹, sondern als grüne, blaue oder auch graue Kondensationskerne und Kraftlinien der Stadt, historisch belegt, ›kritisch‹ rekonstruiert und entwickelt. So zeigt es etwa die ›Strategie Stadtlandschaft‹ (sic!) der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt von 2012 mit ihrer Neudefinition von ›Urbaner Natur‹, in der nicht wie zuvor funktionale Biotopverbindungen, sondern die Landschaften von Spree und Havel als Grundgerüst hervorgehoben werden. Eines der Vorbilder dieser Entwicklung dürften die urbanen Landschaftskonzepte für Salzburg sein, wie sie seit den 1980ern entwickelt wurden (Voggenhuber 1988). 1 | Dieser Text ist, wie der gehaltene Vortrag, ein überarbeiteter Textbeitrag aus Einleitung und Fazit des im Dezember 2017 erschienenen Buchs L andschaf tsver trag . Z ur kritischen R ekonstruktion der K ulturlandschaf t. (Schöbel 2018)

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Während so in der Stadt die Landschaft zunehmend Aufmerksamkeit erfährt, weil sie – neben und im Gründungszusammenhang mit den historischen Kernen – wesentliche Aspekte ihrer Identität und ihrer sozialen, kulturellen und nicht zuletzt ökonomischen Zusammenhänge trägt, war dies im ländlichen Raum schon immer eine Selbstverständlichkeit. Das Land identifiziert sich durch Landschaft. Oder? Durchaus nicht. Tatsächlich sind nicht nur die Zonen zwischen Stadt und Land, sondern auch ländliche Räume von einer bemerkenswerten Geringschätzung und Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Strukturen und Qualitäten der Landschaft geprägt. Hiervon ist auch der ländliche Raum in Deutschland gezeichnet, wo doch angeblich mit der planerischen ›Tabuisierung‹ des Außenbereichs und den Instrumenten des Naturschutzes eine hoch entwickelte Landschaftsgesetzgebung existiert. Abseits von Dorferneuerungen, Internationalen Bauausstellungen oder einzelnen Perlen der Landschaftspflege, in den ›gewöhnlichen‹ Alltagslandschaften ländlicher Regionen, in der Nähe von Autobahnen und in den sogenannten Peripherien der großen Städte, lösen sich Siedlungstätigkeit, Landnutzungen und Infrastrukturen bestmöglich von allen landschaftlichen Bindungen. Ob Landwirtschaft, Rohstoffabbau, Straßenausbau, Siedlungserweiterungen, Gewerbegebiete, Logistik- und Lagerkomplexe, Freileitungstrassen, Solarfelder oder Windvorranggebiete – sie alle werden nicht in die bestehende Landschaft integriert, sondern ohne Rücksicht und Bezugnahme nach ihrer jeweils innenliegenden, ›opportunistischen‹ Logik ›optimiert‹. Fluren sind Großgeräte gerecht bereinigt, Straßen ›fahrdynamisch‹ eingeschnitten oder aufgeständert, Neubausiedlungen durch Sackgassenerschließung und Lärmschutzwände, aber auch die freie Form- und Materialwahl der Häuser von der Landschaft isoliert. Gleich nebenan Gewerbehallen, nach dem x-fachen von Fußballfeldern dimensioniert, unter riesigen Trapezblechflächen, hausgroßen Firmenlogos, endlosen Gitterzäunen verschwinden alte Wege, kleinteilige Flurstrukturen, freie Sichten. Was lässt sich dieser Rücksichts- und Bezugslosigkeit, diesen Qualitäts- und Maßstabsverlusten im ländlichen Raum entgegenstellen? Genau hierfür lohnt der Blick auf die Stadt, um schließlich zur Kulturlandschaft zurückzukehren.

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B ehutsame E rneuerung und kritische R ekonstruktion – der S tadt Was gerade für das Land beschrieben wurde ist heute, so lässt sich an vielen Beispielen belegen, in den Städten so nicht mehr möglich, und wo der bauliche Opportunismus doch durchschlägt, regt sich wenigstens Widerstand, bei Fachleuten und in der Bevölkerung. Vom Großprojekt, über alte Häuser bis zum einzelnen Straßenbaum wird in der Stadt der Wert von Substanz und Struktur erkannt, und zwar gerade nicht im verklärenden Blick zurück in vergangene Zeiten, sondern im Bedürfnis nach sozialer und kultureller Aneignung und Entfaltung städtischen Raums. Seit den 1970er Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der durch die Funktionstrennung betriebenen Auflösung der Stadt eine Rekonstruktion von räumlichen Zusammenhängen entgegengesetzt werden muss und kann. Die Gestalt, die räumliche Struktur, die Form einer Stadt gilt auch in Städten, die nach dem Krieg auf einen stadtstrukturellen Neuanfang gesetzt hatten, nicht mehr als Relikt überkommener, sondern als Voraussetzung nachhaltiger Ökonomie und sozialer Kohärenz. Im Zusammenhang von Funktion, Struktur und Form der Stadt sollen: • Dichte und Mischung von Bewohnenden, Bau­und Infrastrukturen soziale, kulturelle und ökonomische Interaktionen befördern; • Zugänglichkeit und Offenheit von Stadträumen die Vielfalt und Verschiedenheit von Kulturen und individuellen Lebensstilen befördern, wie auch soziale Kohäsion, Verantwortung, Gastlichkeit, Integration, Inklusion und Zivilisation – zugleich Fortschritt, Innovation und Wohlstand; • Entfaltung und Permanenz des städtischen Grundrisses und der Baustrukturen, Identität, Eigenart und Lesbarkeit, aber auch Erneuerung, Nachhaltigkeit und Suffizienz ermöglichen. Die lang geforderte Auflösung der alten Stadt in die moderne Stadtlandschaft wurde durch Leitbilder der behutsamen Erneuerung und kritischen Rekonstruktion der Europäischen Stadt ersetzt, nicht im Sinne einer denkmalmäßigen Pflege oder Rekonstruktion – und erst recht nicht im Sinne einer Verklärung historischer Gesellschaftsverhältnisse; sondern in einer kritischen Analyse insbesondere zu den besonderen sozialen und ökologischen Potenzialen von gewachsenen und verdichteten Raum- und So-

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zialstrukturen. Hierzu wurden Planungskulturen entwickelt, die statt auf ›optimierte‹ und ›alternativlose‹ Expertenpläne auf dialogische Verfahren setzen. Dieser Dialog ist immer ein Zusammenbringen von Menschen und Stadtformen, von Geschichte und Gesellschaft – und eben auch von Landschaft im oben beschriebenen, immanenten Sinne. Dabei werden Verhandlungen von Strukturen der Stadt, aus denen ihre konkreten räumlichen Qualitäten erwachsen sollen, stets mit Hilfe von Grundrissplänen und Raumbildern geführt, Schwarzplänen, unterlagert mit den Parzellen- aber auch Gewässer- und Reliefstrukturen (vgl. Voggenhuber 1988). Stadtentwicklung wird heute in jeder Großstadt von lesbaren, historischen Schichtenanalysen, informellen Rahmenplänen und Visualisierungen, öffentlichen Foren und Publikationen getragen. Die ihr zugrundeliegenden Strukturen der Landschaft, ihre im Stadtraum erfahrbaren Qualitäten, gehören wieder dazu – als Bestandteil, nicht als Gegenentwurf zur Stadt. Die Renaissance der Stadtform und der Landschaftsgestalt ist also weder Widerspruch in sich, noch bedeutet sie eine reaktionäre Verklärung vormaligen städtischen Elends oder ihrer Herrschaftsverhältnisse. Behutsame Erneuerung und kritische Rekonstruktion setzen vielmehr auf die – ökologisch nachhaltige – Freilegung neuer sozialer und ökonomischer Kräfte im Kontext des Gewachsenen. Entwickelt in der urbanistischen Theorie und bestätigt durch die Praxis, sind es nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch räumliche Formen, die soziale Qualitäten beherbergen oder sogar provozieren. Kritische Rekonstruktion und behutsame Erneuerung bedeuten nicht weniger als das Aushandeln eines grundlegenden gesellschaftlichen Bündnisses: einen neuen Stadtvertrag, so wie ihn viele Großstädte in den letzten Jahrzehnten aufgesetzt haben.

L ändlicher R aum und urbane L andschaften Nun lautet hier die These: auch jenseits der Europäischen Stadt ist ein neuer Gesellschaftsvertrag zur Struktur, Funktion und Gestalt des Raumes, und darin eine neue Verständigung über Landschaft als strukturierendes Element, überfällig. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in suburbanen Räumen, der Zwischenstadt (Sieverts 1997). Ein weiterer großer Teil in sogenannten ländlichen Räumen, entwickelt aber dort heute ebenfalls moderne Lebensstile und Bedürfnisse.

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So wie es für die Stadt wiederentdeckt wurde, so ist für das Land und die Zwischenstadt zu fragen: hat nicht auch die Europäische Kulturlandschaft – historisch bewiesen – das Potenzial, wirtschaftliche Kraft, soziale Stabilität, Integration von Zugewanderten, ökologische Vielfalt und räumliche Schönheit auch unter intensiver Nutzung zu gewähren? Ist dies, angesichts der Dezentralität und Intensität der Raumstruktur in Deutschland, nicht sogar eine gleichrangige Frage von Planungskultur?

B austeine eines neuen L andschaftsvertrags Angesichts des laufenden gesellschaftlichen Strukturwandels und notwendiger globaler Transformationen ist es jedenfalls nicht mehr vertretbar, in Stadt, Zwischenstadt und Land auf grundsätzlich verschieden wertige Lebensformen, Lebenschancen und Raumverantwortungen zu verweisen. Das im allgemeinen Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation formulierte Ziel einer kollektiven ökologischen, demokratischen Zukunftsverantwortung betrifft alle Raumtypen. So sind: urbane Lebensformen, Zivilisationsprozesse, soziale Integrationsfähigkeit, kreative Innovationskraft, ressourcenmäßige Optimierung, auch wenn sie originär auf gesellschaftliche und räumliche Strukturen der Stadt zurückgehen, heute und künftig unteilbar überall – ›im Gesamtraum‹ – anzustreben, ohne dass dies den ›kategorialen Unterschied‹ zwischen Stadt und Land aufheben würde. Damit sind die Zielsetzung und die Raumkategorie eines neuen Gesellschaftsvertrags zur Landschaft umschrieben. Es muss um dieselben grundlegenden ökologischen und sozialen Ziele gehen, wie sie für einen neuen Stadtvertrag zur Europäischen Stadt formuliert wurden, jedoch unter den strukturellen Bedingungen und Möglichkeiten der Europäischen Kulturlandschaft. Alle Theorien zur Europäischen Stadt verbindet, dass sie Stadt zuerst als soziale Form verstehen, aber ebenso, dass es sie tragende gebaute Strukturen geben muss: Grundriss, Textur, Typus; Straße, Platz, Monument, Park und Garten sind gewissermaßen a priori Bausteine eines Stadtvertrags. Nach solchen grundsätzlichen Qualitäten und Strukturträgern ist nun auch in der Landschaft zu suchen.

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L andschaftselemente als Tr äger von sozialr äumlichen Q ualitäten Auf der Suche nach vergleichbaren a priori Bausteinen eines Landschaftsvertrags lassen sich Elemente und Strukturen ›differenzierter Agrarkultur‹ (Haber 2018), ›Kulturlandschaft artikulierenden historischen Gebrauchs‹ (Hoffmann-Axthelm 2018) und ›hoher Informationsdichte‹ (Latz 2018) extrahieren, die nicht nur als Objekte zu schützen sind, sondern auch als Strukturgeber oder ›Stimulanzien‹ (Rowe/Koetter 1978) für heutige und künftige Nutzungen und Wertschätzungen kritisch rekonstruiert oder behutsam erneuert werden können, indem aus ihnen konkrete Verortungen, Verhältnisse und Grenzen, also Grundrisse der Landnutzung und der Raumverfügung verhandelt, sowie verbindliche Parameter von Maß und Mischung abgeleitet werden. Es sind dies: • Morphologische Strukturen der Naturlandschaft (Relief, …) • Flurformen (Schlaggrößen, Grenzmarkierungen, Bewirtschaftungstechniken, Fruchtfolgen, …) • Siedlungs- und Betriebsformen (Markt, Dorf, Weiler, Hof, Stadl; Gut, Kloster, Mühle, Ziegelei, …) • Wegeformen (Altstraßen, Ortsverbindungen, Wegerechte, …) • Gewässerformen (Flüsse, Seen, Bäche, Teiche, Be- und Entwässerungssysteme, Retentionsräume, Dämme, Brücken, …). Dabei sind insbesondere solche Strukturen von Interesse, die die Kulturlandschaft Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägten. Sie sind in der Regel noch »innerhalb mehr oder weniger enger Grenzen der morphologischen Bedingungen entstanden, man könnte sagen, dass sie die großräumigen Morphologien stets ›interpretiert‹ haben, sodass die Naturlandschaft durch die Kulturlandschaft noch immer ›hindurchscheint‹. Mit dem technischen Fortschritt ist dieses Hindurchscheinen verblasst, die Siedlungs- und Landnutzungen haben sich zunehmend von der Naturlandschaft ›emanzipiert‹.« (Schöbel 2012: 47) Dieser Zeitraum hat innerhalb der Europäischen Kulturlandschaft die bis dato und seitdem vermutlich größte ökologische Strukturvielfalt hervorgebracht: »Ideale Strukturen in der Kulturlandschaft bestanden wohl Mitte des 19. Jahrhunderts. Hier hatten kleinteilige Bewirtschaftungsweisen nicht nur eine biologische und eine Landnutzungsvielfalt, sondern oft

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auch eine ästhetische Vielfalt hervorgebracht.« (Haber 2018: 90) Zudem war diese frühindustrielle Epoche nach Ablösung von Leibeigenschaft und Aufhebung der Allmende von einigermaßen stabilen räumlichen Grenzen, d.h. verfestigten Flur- und Wegeverläufen geprägt (Küster 2018), die sich mit permanenten Formationen in Stadtgrundrissen – dort sichtbar im Parzellen- und Schwarzplan, hier bisher nur im Kataster, solange ein dem Schwarzplan entsprechendes Medium fehlt – vergleichen lassen. Durch verlässliche Eigentumsstrukturen begünstigten diese stabilen Grenzen auch einen relativ nachhaltigen Umgang mit Böden, Gewässern und dauerhaften Vegetationsstrukturen, namentlich Hecken und Wälder. ›Insbesondere von Interesse‹ heißt aber aus einer kritischen Perspektive eben nicht, diese Epoche zu glorifizieren oder sie auch nur zu verklären, denn sie ist ebenso von Ausbeutung, feudaler Restauration, Landvertreibung und Kolonialismus geprägt. Eine Wiederherstellung ist ohnehin nicht denkbar (Haber 2018). Es geht vielmehr darum, jeweils jene Strukturen der größten ›Informationsdichte‹ (Latz 2018), der vitalsten ›Permanenz‹ und der größten Vielfalt zu identifizieren – dies kann genauso gut für jüngste Landschaftsstrukturen gelten (vgl. ebd.; Konold 2018).

G eset ze und I nstrumente Ein Gesellschaftsvertrag, der doch eine freiwillige Willenserklärung des Kollektivs darstellt, braucht auch verbindliche Regeln: ›die Notwendigkeit staatlich begrenzenden Handelns‹ (Hoffmann-Axthelm 2018: 40). Hierzu soll nun ein notwendigerweise unausgereifter und provozierender, aber dafür grundlegend paradigmenkritischer Versuch unternommen werden.

B augeset zbuch B au GB und B aunut zungsverordnung B au NVO Das deutsche Baurecht unterscheidet für die Zulässigkeit von Vorhaben im ›unbeplanten‹ Raum den Innenbereich vom Außenbereich. Welche baulichen Nutzungen erlaubt sind, unterliegt im Innenbereich (§34 BauGB) dem Prinzip des Einfügens – nach Maß, Art und Weise der ortsüblichen baulichen Nutzung –, im Außenbereich (§35 BauGB) dagegen dem Prin-

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zip der Privilegierung – nach einer abgeschlossenen Liste von Arten der Nutzung. Zwischen beiden liegt der Bebauungsplan (§30f.), welcher, bis auf Aspekte der Raumverträglichkeit, völlig unabhängig überwiegend homogene Bau- und Sondernutzungsgebiete ausweist. Dabei führen sowohl Privilegierung wie Bebauungsplanung immer wieder zu starken Brüchen mit benachbarten, im Bestand gewachsenen Grundstücks- und Gebäudedimensionen, weil die Größenordnungen in der Regel allein der maximalen Nutzungsrate folgen. Moderne Lagerhallen, Wohngebiete und Gewerbeflächen sprengen so örtliche Maße. Nach den Regeln eines Landschaftsvertrags der kritischen Rekonstruktion und behutsamen Erneuerung der Europäischen Kulturlandschaft würde nun das Prinzip des Einfügens auch auf die privilegierten Nutzungen des Außenbereichs und die inneren und äußeren Grenzen und Erschließungen von Bebauungsplänen übertragen, und zwar als Einfügegebot in vorhandene Maßstäbe der Landschaft. Baugebiete und Anlagen hätten sich so in ihrem Umfang, aber auch ihrer inneren Struktur und Erschließungen an Schlaggrößen, Wegenetze und Siedlungsformen der zugrundeliegenden Kulturlandschaft zu orientieren.

R aumordnungsgeset z ROG und R egionalpl anung Der Bauleitplanung vorgängig sind die Regelungen der Raumordnung zur Raumverträglichkeit. Nach der üblichen Praxis unterliegen dabei Stadtkerne einem besonderen Schutz, der etwa in peripheren Gewerbeflächen zu Maximalgrößen und Sortimentsbeschränkungen für tägliche Bedarfsgüter führen kann, damit Einzelhandel und Kleingewerbe in den Innenbereichen und damit die tissue urbaine (Lefèbvre 1970) lebensfähig bleibt. Vergleichsweise schutzlos sind dagegen rurale und suburbane Landschaften, obwohl auch diese unter den Dimensionssprüngen, der Dominanz von Monostrukturen genauso leiden wie kleinräumige Innenstädte. Im ländlichen und suburbanen Raum würde ein Landschaftsvertrag daher die Raum- und die Gebrauchsverträglichkeit der Dimensionen von Vorhaben in die Prüfung der Umweltverträglichkeit (UVP) und der Raumverträglichkeit (ROG) aufnehmen, das heißt bei allen der Produktion, dem Handel oder Dienstleistungen dienenden Komplexen landschaftsbezogene Maximalgrößen, Offenheiten und strukturelle Mischungen vorgeben. Sind alle gleichermaßen verpflichtet, ergibt sich kein

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Wettbewerbsnachteil. Bei jenen Superstrukturen, die globalen Systemgrößen unterliegen, wie Flughäfen, Häfen, Containerumschlagplätzen etc., ist dies nicht umsetzbar; dort ist es umso wichtiger, die Vermittlung zu den umgebenden Alltagslandschaften herzustellen, indem ihre Grenzen interpunktiert, ihre Kanten gebrochen und Zugänge angeschlossen werden, und so mit einer umgebenden maßstabsgerechten und gemischten, nennen wir Lefèbvre aufgreifend: tissue paysagère verwoben.

N aturschut z und L andschaftspflege N at S ch G Weitreichendere Forderungen ergeben sich an die dem Naturschutz unterliegende Landschaftsgesetzgebung. Deutschland sollte dem Europäischen Landschaftsübereinkommen beitreten und die Alltagslandschaften, neben den zu verteidigenden Schutzgebieten, als gleichrangiges Schutz- und Entwicklungsziel betrachten, um so den im Naturschutzgesetz formulierten Entwicklungsauftrag der Landschaftsplanung endlich auch an das im Raumordnungsgesetz verankerte Ziel einer ausgewogenen Raumentwicklung anzupassen. Allerdings wäre damit erstens die Landschaftsbildbewertung in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung (§14 NatSchG) obsolet. Ist es nämlich Aufgabe, Landschaften überall zu qualifizieren, dann wird die exkludierende Klassifizierung von ›Bilderbuchlandschaften‹ gegenüber ›Gegenden‹ mittels ›Wertstufen‹ und ›Vorbelastungen‹ sinnlos. Es könnten nicht mehr länger neue Belastungen gezielt in bereits belastete Landschaften gesteuert und Kompensationszahlungen in ›naturnahe‹ Landschaften umgelenkt werden. Vielmehr müssten jeweils vor Ort ökologisch, sozial und ästhetisch wirksame, strukturelle Verbesserungen umgesetzt werden: die im Landschaftsvertrag gesicherten Zugänglichkeiten und Durchlässigkeiten, Maßbegrenzungen und Mischungsvorgaben auf den Ebenen der morphologischen, parzellären, der Siedlungs-, Wege- und Gewässerstrukturen. Zu sichern wäre nicht ein abstrakter Tauschwert eines Landschaftsbildes, sondern der konkrete Gebrauchswert der Landschaft (Schmölz 2017). So ließe sich endlich auch der im Gesetz neben dem allgemeinen Entwicklungsauftrag auch explizit genannte, aber der exkludierenden Logik widersprechende und daher in der Praxis bislang kaum umgesetzte, Neugestaltungsauftrag der Eingriffsregelung (§15 NatSchG) erfüllen.

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Eine solche Neujustierung des Landschaftsbegriffs im Naturschutzrecht legt es dann auch nahe, seinen sozialen Auftrag zu erweitern, der sich bislang auf die Funktionen der Erholung und des Naturerlebnisses beschränkt, aber die Landschaft nicht als gesellschaftlich produzierten und beanspruchbaren Raum anerkennt. Die Naturschutzgesetze der Bundesländer haben aber bezüglich der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Landschaft weitgehende Regelungen getroffen, vom Jedermannsrecht nach skandinavischem Vorbild bis zur bayerischen Verpflichtung von Kommunen, Uferbereiche zu entprivatisieren. Das Bundesgesetz sollte nun die weitestgehenden Regelungen aus den Ländern in einem expliziten Abschnitt zum Recht auf Landschaft zusammenführen. So wird Landschaft, wiederum der Europäischen Konvention folgend, als alltäglicher Lebensraum qualifiziert.

L andeskultur und F lurneuordnung F lurb G Wenn aber die Landschaftspflege sich aus den Schutzgebieten in die bewirtschaftete Flur ausdehnt, so erfordert dies eine Vereinigung der Landschaftskultur mit der Landeskultur (Haber 2018). Insbesondere in der Flurneuordnung müssen die Ziele der Bereinigung von Streubesitz und des Erhalts differenzierender Landschaftsstrukturen gleichrangig verankert werden. Das bedeutet konkret, dass etwa bei Unternehmensflurbereinigungen übergroße Schläge in kritischer Rekonstruktion alter Flurgrenzen verkleinert werden, während bei der ›klassischen‹ Bereinigung von Streubesitzen eine strukturschonende behutsame Erneuerung solcher Grenzen anzustreben ist. Die ›Beachtung der jeweiligen Landschaftsstruktur‹ (§37 FlurBG) muss künftig als oberste Maxime gelten. Einzufügen wäre auch die Möglichkeit für eine Gebietskörperschaft, aufgrund dringender sozialer oder ökologischer Gründe die Festsetzung eines Kulturlandschaftlichen Sanierungsgebietes zu beschließen, das heißt übergroße Schläge und Distanzen unmittelbar aufzuheben.

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E in L andschaftsgeset zbuch All dies läuft auf die Forderung nach einem integrierten Gesetzbuch zur Landschaftsentwicklung, Naturschutz und Agrarkultur hinaus. Die wirtschaftlichen und sozialen Belange der Landwirtschaft und der Ressourcengewinnung würden darin gleichrangig bleiben, verbindendes Entwicklungsziel ist jedoch eine, an den jeweils prägenden Strukturen der Landschaft spezifizierte und konkretisierte, sozial und ökologisch differenzierte Landnutzung (ebd.).

E in L andschaftsvertrag als informelles P l anwerk Als ›vermittelnde Ebene‹ entspricht der Vertrag einem räumlichen Strukturkonzept, das allen landschaftsrelevanten Planungen im Raum auf den bestehenden Planungsebenen voran geht. Es muss sich dabei allein schon deswegen um einen informellen Plan handeln, weil eine flächenscharfe Abgrenzung nach bestehenden Eigentumsstrukturen im Innern, aber auch entlang von gebietshoheitlichen Grenzen nach außen nicht sinnvoll ist, wenn sich ein Dialog zur Landschaft als Ganzes entwickeln soll. Da aber Landschaften in Deutschland größere Umgriffe als Kommunen, in der Regel auch als Landkreise besitzen, fehlt ihnen, anders als den Städten in ihrem Ganzen, die politisch repräsentierende und die mediale Ebene, also gewissermaßen die Öffentlichkeit oder der Souverän (vgl. Voggenhuber 1988). Ein Landschaftsvertrag soll diese Fehlstelle besetzen, damit auch der ländliche und der suburbane Raum eine gesellschaftliche Ebene erhalten, die die jeweils ganze umgriffene Landschaft verantwortet. Ein Landschaftsvertrag setzt also interkommunal und regional an. Das stellt die kommunale Planungshoheit nicht in Frage, sondern erweitert sie durchaus im Sinne des Subsidiaritätsprinzips auf die notwendige Ebene (Schöbel 2015). Wesentliche Grundlage eines Landschaftsvertrags ist ein Planwerk, das die Landschaft im Zusammenhang eines für jedermann lesbaren Strukturkonzepts oder Masterplans entwickelt. Es basiert auf Karten, die die Landschaft als historisch-zeitgenössische Strukturanalyse, als ›Palimpsest‹ (Corboz 2001) der Kulturlandschaft auf den Ebenen seiner naturund kulturräumlichen Morphologien und Texturen, seines alltäglichen

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Gebrauchs, seiner sozialen Milieus und kulturellen Motive, seiner freien Verfügung und seiner differenzierten Nutzung zeigen. Die eigentliche Herausforderung besteht dabei darin, in Strukturplänen solche immateriellen Qualitäten des Raumes, wie Differenziertheit, Gebrauchsfähigkeit und Informationsdichte, nicht in abstrakten Symbolen oder Schraffuren als Raumfunktionen, sondern ganz konkret mit materieller – gebauter – Raumform in Verbindung zu setzen. Es scheint also durchaus möglich, auch in der Kulturlandschaft anhand von konkreten Planwerken immaterielle Qualitäten des Raumes zu analysieren und gesellschaftlich zu verhandeln. So erhält der Landschaftsvertrag eine konkrete und spezifische räumliche Form, die Planung der Landschaft wird endlich räumlich. Ein auf dieser regionalen Ebene öffentlich entwickelter und öffentlich verhandelter Strukturplan kann als textliche Begründung den Regionalund Landschaftsrahmenplänen sowie den Flächennutzungs- und Landschaftsplänen beigelegt werden und so schließlich eine relativ verbindliche Entscheidungsgrundlage in Planungs- und Abwägungsprozessen bilden. Die Forderung nach einem neuen Landschaftsvertrag ist also keineswegs die nach einer weiteren Planungsebene oder -institution, sondern nach einer neuen dialogischen, ganzheitlich landschaftsbezogenen Planungskultur innerhalb der in Deutschland verankerten Verfahren und Instrumente. So wie der Flächennutzungsplan einer Stadt die Qualität eines Stadtvertrages besitzen soll, und als solcher auf einem ständig weiter zu entwickelnden und gesellschaftlich zu legitimierenden kulturellen Prozess basiert, so sollen Regionalpläne, Außenbereichssatzungen und Bebauungspläne im ländlichen und suburbanen Raum dieselbe Qualität entfalten: als Träger eines Gesellschaftsvertrags, der die proklamierten Gesellschaftsverträge unserer Zeit, die Große Transformation der Energiewirtschaft, die EU-Agrarreformen zum Greening und das Europäische Landschaftsübereinkommen nicht als zu optimierende Funktionen der Landnutzung, sondern nach dem Vorbild der urbanen Planungskulturen als gesellschaftlich verantworteten Raum und nachhaltig gelingendes Verhältnis von Mensch, Natur und Raum zusammenführt: in einem neuen Gesellschaftsvertrag zur kritischen Rekonstruktion und behutsamen Erneuerung der Europäischen Kulturlandschaft.

Landschaf tsver trag

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Rurbane Identität Herausforderungen, Konflikte und Gestaltungsoptionen Reinhold Sackmann, Christoph Schubert1

B evölkerungsrückgang – I dentität als R essource oder H indernis ? Das räumliche Gefüge vieler europäischer Gesellschaften ist in den letzten drei Jahrzehnten in eine widersprüchliche Bewegung geraten. Auf der einen Seite sind alle Teilräume intensiver in immer weiträumigere weltgesellschaftliche Bezüge verstrickt worden, die Raumdimension scheint dadurch aufgehoben worden zu sein. Auf der anderen Seite hat auch in Deutschland räumliche Ungleichheit, das Gefälle zwischen randständigen Regionen und Wachstumsmetropolen, zugenommen. Bevölkerungsrückgang ist gegenwärtig wieder zu einem Indiz eines Peripherisierungsprozesses geworden. Bei diesen Verschiebungen des räumlichen Gefüges der Gesellschaft werden auch Identitäten neu verhandelt. Während der romantische Blick in raumbezogenen Identitäten neue haltgebende Heimatgefühle entdecken möchte, werden in der Bewältigungsliteratur demographischen Wandels wandlungsresistente Mentalitäten selbst zum Risikofaktor (vgl. Sackmann et al. 2015). ›Identitätspolitik‹, der Versuch einer Gestaltung von kollektiven Identitäten, wird deshalb zunehmend als eine mögliche Antwort auf demographische und weltgesellschaftliche Herausforde1 | Wir danken den Gesprächsbeteiligten der Untersuchungsorte und den Teilnehmenden des Abschlussprojekts ›Städtische Identität‹ für die gute Zusammenarbeit. Die Projekte wurden finanziell unterstützt durch das Internationale Graduiertenkolleg der DFG ›Formwandel der Bürgergesellschaft‹ und das Kompetenzzentrum Stadtumbau in der SALEG.

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rungen gesehen. Dabei handelt es sich bei raumbezogenen Identitäten auch um eigensinnige Gefühle, die – wie der Habitus – Vergangenes konservieren möchten. So sahen etwa mehrheitlich die Bewohnenden der hochgradig verstädterten Region des Saarlandes nicht Stadt- oder reine Naturbilder als Repräsentanten ›ihres‹ Heimatgefühls, sondern ›rurbane Bilder‹ in Form einer leicht bewaldeten Hügellandschaft mit sehr wenigen vereinzelten Häusern (Kühne/Spellerberg 2010: 97). Eine adäquate Identitätspolitik sollte deshalb derartige imaginierte Traditionen mit realistischen Zukunftsvorstellungen verknüpfen. Ziel dieses empirischen Aufsatzes ist es, Antworten auf zwei miteinander verknüpfte Fragen zu finden: Welche Rolle spielt rurbane Identität bei der Bewältigung von Bevölkerungsrückgang? Welche Bedeutung kommt rurbaner Identität bei der Konzeption von Identitätspolitik in schrumpfenden Kommunen zu? Hierzu wird zuerst das Konzept rurbaner Identität erläutert. Nach einer kurzen Darlegung der zugrunde liegenden Forschungsprojekte werden in einer ersten Fallstudie identitätsbezogene Bedingungsfaktoren von zivilgesellschaftlichem Engagement als Antwort auf Bevölkerungsrückgang untersucht. In einer zweiten Fallstudie werden exemplarisch Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer Identitätspolitik bei Gebietsreformen erörtert, um danach im Fazit den Zusammenhang von rurbaner Identität und Bevölkerungsrückgang zu resümieren.

R urbane I dentität Regionen sind seit den 1980er Jahren zunehmend in internationale Vergesellschaftungsprozesse (›Weltgesellschaft‹) eingebettet. Damit einher geht eine stärkere Spezialisierung und Hierarchisierung von Regionen aufgrund von Konkurrenz. Chinesische Fertigungsanlagen in der deutschen Provinz gehören ebenso zu diesem Tableau, wie beispielsweise der Versuch von deutschen Schokoladenherstellern der Stagnation einheimischer Märkte durch einen erhöhten Absatz in den weniger gesättigten Märkten Amerikas und Chinas zu entkommen. Gleichzeitig wächst in den dominanten Angestelltenkulturen der Zentrumsländer auch in Reaktion darauf die Sehnsucht nach haltgebender regionaler Kultur (vgl. Göschel 2004): Sei es in der Wiedererrichtung verlorengegangener Ge-

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bäude, im Lesen von Regionalkrimis oder in der Wiederansiedlung ausgerotteter Tierarten. Obwohl Deutschland und ostdeutsche Großstädte seit einigen Jahren wieder wachsen, stellt der Bevölkerungsrückgang insbesondere in der ostdeutschen Peripherie inklusive deren Klein- und Mittelstädte, Teilen des Ruhrgebiets und einigen westdeutschen Peripherien nach wie vor eine zusätzliche Herausforderung dar. Bevölkerungsrückgang und Internationalisierung sind nicht Schicksal. Die neue Beweglichkeit der Weltvergesellschaftung bietet nicht nur Gefahren, sondern die neuen Ströme (flows) eröffnen auch Chancen, Empfänger und Sender dieser ›Flüsse‹ zu werden (Woods 2007). Dazu ist allerdings eine weltoffene Orientierung auf neue Gäste des Tourismus, andere Investierende, neue Arbeitskräfte, ungewohnte Studierende und innovative Produktspezialisierungen erforderlich. (Neue) Identitäten können hierbei nützlich sein. Es ist kein Zufall, dass seit den 1990er Jahren die Bemühungen des Stadtmarketings (vgl. Kausch/Pirck/Strahlendorf 2013) zugenommen haben, mittels Identitätspolitik (Federwisch 2008) sich geschickt zu positionieren (und damit die Wahrscheinlichkeit, Empfänger neuer Ströme zu sein, zu erhöhen). Kommunizierte Identitäten bleiben allerdings unglaubwürdig, wenn sie nicht durch Identitätsarbeit nachhaltig verankert werden. Nach außen kommunizierte Identität sollte deshalb ›tief‹ und ›wahr‹ sein (ZimmerHegmann/Fasselt 2006). Die eben skizzierten sozialstrukturellen Verschiebungen bilden den Hintergrund für eine zunehmende Konzeptualisierung raumbezogener Identität (vgl. Ipsen 2006; Weichhart/Weiske/Werlen 2006), die auf materielle und symbolische Vergesellschaftungen des Raumes ebenso eingeht, wie auf Selbst- und Fremdwahrnehmungen von, sowie Identifikationen mit Raumidentitäten. Da es sich bei raumbezogenen Identitäten um eine Komponente (kollektiver) Identität handelt, soll im Folgenden mit einem handlungszentrierten Identitätskonzept gearbeitet werden, das die Ansätze von Mead (1974), Berking/Löw (2008) und Archer (2007) verknüpft. Danach verstehen wir unter einer raumbezogenen Identität: • Ein Zusammenspiel von vergangenheitsbezogenen, reflexiven Zuschreibungen und den auch für die Handlungseinheit überraschenden kreativen Handlungen der Gegenwart (Mead 1974);

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• die als raumbezogene Identität einer Eigenlogik von Besonderung und Spezifik folgt in Auseinandersetzung mit Geschichte, Bebauung, Interaktionsmustern, Machtkonstellationen und Imaginärem (Berking/Löw 2008); und • die als reflexive Identität aus kommunikativer Erörterung erwächst; oder autonom gesetzt wird; oder in metareflexiver Setzung konstituiert wird. Im Fragmentierungsfall kann es aber auch misslingen, Ziele und Strategien zu entwickeln (Archer 2007). Bei rurbanen Identitäten handelt es sich um eine spezifische Form von raumbezogener Identität, die Bezug auf vorhandene oder vorgestellte Stadt-Land-Differenzen und Hybridisierungen nimmt. Während im Deutschen das Kunstwort ›rurban‹ erst in neuerer Zeit verstärkt Verwendung findet (Arch+ 2017), gibt es in den USA bereits seit den 1930ern Jahren einen zweidimensionalen Diskurs zu rurbanen Gebilden: Zum einen werden damit planungsrechtlich problematische blinde Flecken im Übergang zwischen Stadt und Umland bezeichnet (vgl. Perkins 1943; Firey 1946; Pryor 1968; Tali/Divya/Asima 2014); zum anderen wird mit rurbaner Identität die Vermischung von ländlichen und städtischen Identitäten im Modernisierungsprozess benannt (vgl. Parsons 1954; Alexandru 2012). Auch wenn Vernetzung, Automobilisierung und Massenkommunikation die sozialstrukturellen Differenzen zwischen Stadt und Land eingeebnet haben, so nimmt gegenläufig in jüngster Zeit der kulturelle Wunsch zu, in Städten ›städtisches‹ Leben hervorzuheben (vgl. Gehl 2010), genauso wie in einigen Regionen im Umland die Inszenierung von natürlicher Wildnis zu einem Baugestaltungs- und Vermarktungsgesichtspunkt von neuen Wohnanlagen geworden ist (vgl. Cadieux 2011). Wir definieren ›rurbane Identität‹ als gewollte oder nicht-intendierte Mischungen aus urbanen und ländlichen Identitäten. Diese Mischungen können sich auf Landschaften, Lebensstile, Imaginationen, Ökonomien, Machtgebilde und Geschichte beziehen.

Z wei F orschungsprojekte zu rurbaner I dentität Rurbane Identitäten haben wir in zwei Forschungsprojekten untersucht. In einem Projekt wurden dazu drei Dörfer fallstudienartig zum Umgang mit demographischen Herausforderungen betrachtet. Dazu wurden

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zwischen Juli 2014 und November 2015 mehrwöchige Forschungsaufenthalte in je einer Gemeinde im Landkreis Stendal (Sachsen-Anhalt), im Landkreis Vulkaneifel (Rheinland-Pfalz) und im Landkreis Tirschenreuth (Bayern) durchgeführt und dabei ca. 40 Interviews mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern, Vereinsvorsitzenden und anderen Engagierten geführt. Die Auswahl der Orte erfolgte anhand von Daten aus der laufenden Raumbeobachtung. Die Dörfer sollten dabei nicht mehr als 1500 Einwohnerinnen und Einwohner haben. Um eine größere Varianz sozialer Kontexte und deren Einfluss auf Bewältigungshandlungen beobachten zu können, wurden Orte aus unterschiedlichen schrumpfenden Regionen Deutschlands gewählt. Das zweite hier vorgestellte Projekt untersuchte sich verändernde Identitäten bei Gebietsreformen am Beispiel der sachsen-anhaltischen Mittelstadt Weißenfels (Kompetenzzentrum Stadtumbau 2016). Dazu fand im Juni 2015 ein einwöchiger interdisziplinärer Studierendenworkshop mit 47 Teilnehmenden in Weißenfels statt. Anhand von 35 Experteninterviews, einer quantitativen Jugenderhebung und teilnehmenden Beobachtungen wurden dabei konfligierende Identitäten im Eingemeindungsprozess untersucht und ein neues (Identitäts-)Leitbild sowie verschiedene Interventionsprojekte entwickelt.

R urbane I dentität bei der B ewältigung demographischer H erausforderungen Schrumpfende und periphere ländliche Räume sind mit einer Vielzahl von sozialen und kommunalpolitischen Herausforderungen konfrontiert. Abwanderung und Alterung führen dazu, dass kommunale Finanzen abnehmen, Infrastrukturbedarfe sich ändern und bestehende Infrastruktureinrichtungen schlimmstenfalls geschlossen werden. Kleine Orte haben darüber hinaus in der Vergangenheit oftmals ihre Eigenständigkeit durch Eingemeindungen oder die Gründung von Verbandsgemeinden verloren. In welchem Ausmaß, mit welchen Ideen oder ob überhaupt kommunalpolitische und zivilgesellschaftliche Agierende schrumpfender ländlicher Dörfer in solchen Situationen mit demographischen Veränderungen und deren Folgen umgehen, thematisiert dieses Kapitel anhand dreier Orte aus Bayern, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Wir argumentieren

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dabei, dass für den Umgang mit demographischen Herausforderungen rurbane Identität eine wichtige Rolle spielt. Wie sich ländliche Räume unter den Bedingungen des demographischen Wandels verändern und wie zivilgesellschaftliche Agierende sowie Personen aus Kommunalverwaltung und -politik damit umgehen, ist schon seit Jahren im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen. Drei Gruppen von Forschungsbeiträgen lassen sich unterscheiden. (1) Ein Teil der Arbeiten thematisiert die neuen Bundesländer. Diese Studien fokussieren dabei auf die Lebensumstände in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung und beschreiben in diesem Zusammenhang Alterung und Abwanderung (exemplarisch dazu: Bude et al. 2011; Willisch 2012). (2) Daneben existieren Arbeiten zum Umgang mit dem demographischen Wandel in Kommunen allgemein. Hier werden Aspekte der öffentlichen Infrastruktur, der Kommunalverwaltung, Nahversorgung oder andere Bereiche des täglichen Lebens in den Blick genommen. Das Augenmerk liegt dabei oft nicht auf dem ländlichen Raum, Gegenstand dieser Arbeiten sind Mittelund Kleinstädte (siehe dazu: Bartl 2011; Küpper 2011; Rademacher 2013). In diesem Zusammenhang werden auch Identitätskonflikte und -veränderungen beispielsweise in schrumpfenden Städten verhandelt (vgl. Richter 2013). (3) Eine Reihe von Arbeiten thematisiert darüber hinaus die Rolle der Zivilgesellschaft im Umgang mit demographischem Wandel. Einige zeigen dabei fallstudienartig für den ländlichen Raum, in welchen Bereichen Bürger das Potential sehen, lokale Infrastruktur zu ersetzen oder mit zivilgesellschaftlichem Engagement kompensatorisch zu wirken (Baade et al. 2007; Krämer et al. 2009; Laschewski et al. 2006). Konzepte, bei denen es besonders gut gelingt, Daseinsvorsorgeeinrichtungen durch Engagierte zu erhalten oder zu ersetzen, finden sich häufig als best-practice-Modelle dargestellt. Projekte in den Bereichen des ÖPNV (Burmeister 2010), der Nahversorgung (Frey 2008), der Bildungsinfrastruktur (Kühne 2012) oder Kultur (Stiftung Niedersachsen 2006) sind dabei am häufigsten. Derartige Initiativen stellen jedoch vereinzelt erfolgreiche Ausnahmen dar, nicht die Regel im ländlichen Raum. Damit die Engagierten in ländlichen Räumen zukünftig mehr zum Erhalt der öffentlichen Infrastruktur beitragen könnten, bedarf es für sie größerer rechtlicher Handlungsspielräume, mehr Entscheidungskompetenzen und finanzieller Anreize sowie einer besseren Zusammenarbeit mit Verwaltungsbehörden (Neu 2014: 123). Wir zeigen im Folgenden, dass

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dafür jedoch auch das Vorhandensein rurbaner bzw. das Zusammenspiel dörflicher und städtischer Identitäten eine wichtige Rolle spielt. In den drei untersuchten Orten sind Engagierte und Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sehr unterschiedlich mit demographischen Herausforderungen umgegangen. In dem sachsen-anhaltinischen Dorf wurde zu Beginn des Schuljahres 2013/2014 die Grundschule geschlossen. Im Vorfeld der Schließung entstand aus einer Gruppe bis dahin nicht besonders aktiver Einheimischer eine Bürgerinitiative, die Proteste gegen die drohende Schließung organisierte. Nachdem die Schule geschlossen wurde, der Protest also gescheitert war, fusionierte die Initiative mit dem ortsansässigen Förderverein für den Kindergarten. Gemeinsam organisierten sie von nun an Dorfverschönerungsaktionen, um als Kompensation für den Schulwegfall die Attraktivität des Ortes zu erhalten. Mit dieser Veränderung des Ortes wandelte sich auch das Bewusstsein einiger Dorf bewohnenden für die lokale Politik. Es entstand eine neue parteiunabhängige Wählergemeinschaft, die zur Kommunalwahl erfolgreich über eine gemeinsame Liste antrat und die in der Folge sogar die neue Bürgermeisterin stellte. Das bayrische Dorf dagegen war immer schon stark in Bewältigungsstrategien durch den Landkreis eingebunden. Dieser initiierte ein Rufbussystem zur Ergänzung des regulären ÖPNV und ein kommunaler Zweck- bzw. Interessenverband, der im Landkreis existiert, hat in zwei Demografiekonferenzen zusammen mit Einwohnerinnen und Einwohnern versucht, Maßnahmen zu verschiedenen demographischen Themenfeldern zu entwickeln. Im Ort selbst gibt es eine Seniorenbeauftragte, die in ihrer gegenwärtigen Form aus einer institutionellen Kooperation von Landkreis, Bürgermeister und katholischer Kirche hervorging. Zivilgesellschaftlich organisierte Umgangsweisen sind darüber hinaus im Ort kaum zu finden, da es zwar sehr viele Vereine im Ort gibt, die Einwohnerinnen und Einwohnern häufig in mehreren engagiert sind, aber deshalb kein Potential mehr sehen, sich zusätzlich zu engagieren. Der neugewählte Bürgermeister dagegen hat im Dorf eine neue Gruppe von Seniorinnen und Senioren organisiert, die ehrenamtlich kommunale Arbeiten, wie etwa die Pflege von Grünflächen oder Hausmeistertätigkeiten im Kindergarten, übernehmen. Im Ort in Rheinland-Pfalz gibt es ebenfalls kommunalpolitisch organisierte Bewältigungsversuche des demographischen Wandels. Aus Mitteln des Landes zur Dorferneuerung wurde hier ein zentraler Platz in

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der Dorfmitte, unterstützt durch ein Planungsbüro, neugestaltet. Die Einwohnerinnen und Einwohner wurden dabei im Rahmen von Bürgerforen und Arbeitsgruppen mit eingebunden. Daneben gehen von den Vereinen des Orts jedoch keine Initiativen aus, die auf die Bewältigung des demographischen Wandels zielen, außer der Rekrutierung neuer Mitglieder für den Erhalt der lokalen Vereine. Von diesen sind einige stark überaltert, haben langjährig gleich besetzte Vorstände und es gelingt ihnen kaum neue Mitglieder zu rekrutieren. Im Ort finden sich jedoch auch Vereine, die dieses Problem durch Kooperationen mit gleichen Vereine anderer Orte lösen. So fusionierten sowohl der Sport- als auch der Musikverein mit den entsprechenden Vereinen der Nachbarorte. Der Karnevalsverein ist durch die Gründung einer Theatergruppe für neue Mitglieder attraktiv. Die von ihr organisierten Theaterstücke sind über den Ort hinaus so bekannt und erfolgreich, dass der Verein selbst dadurch an Aufmerksamkeit gewinnt. In allen drei Orten sind die beschriebenen Umgangsweisen selbst gar nicht so neu oder überraschend. Bemerkenswert ist jedoch, wer sie in den einzelnen Dörfern anregte. In allen drei Beispielen sind die Initiierenden des Bewältigungshandels städtisch beeinflusst. Entweder sind sie städtisch sozialisierte Zugezogene oder sie Pendeln zur Arbeit in die (Groß-) Stadt. Oft sind sie akademisch ausgebildet. In Sachsen-Anhalt pendelt die Hauptinitiatorin der Bürgerinitiative zur Arbeit nach Berlin, in Bayern ist der Bürgermeister, der die Seniorengruppe etabliert hat, städtisch sozialisiert und Zugezogener im Ort, und in Rheinland-Pfalz sind die Initiatoren der Vereinskooperationen zumindest zum Teil zugezogen und alle akademisch ausgebildet. Durch sie kommen urbane Handlungslogiken ins Dorf, die dort an dieses angepasst werden. Städtisch inspiriert, verändern sich auch die Formen zivilgesellschaftlichen Handelns. Traditionelle Formen sind oft selbstbezogen. Sie zielen meist nur auf die eigene Dorfgemeinschaft und ihre Aktionen kehren häufig in regelmäßigen Zeitabständen wieder und wiederholen sich. Die urban geprägten Engagierten bedienen sich dagegen des Projekts und der Initiative als neuer Handlungs- und Organisationsform. Ihr Bezugsrahmen ist oft auch nicht mehr nur das eigene Dorf, sondern eine größere regionale Einheit. Bei der Bewältigung des demographischen Wandels spielen so rurbane Identitäten eine wichtige Rolle, da sich städtische und rurale Denkweisen im Bewältigungshandeln verbinden. Sie begünstigen neue Formen und Handlungsweisen zivilgesellschaftlichen Engagements, welche die

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Folgen demographischer Veränderungen in ländlichen Gemeinden bewältigen helfen.

I dentitätspolitik bei G ebietsreformen Die zweite Fallstudie beschäftigt sich mit der Bearbeitung von Gebietsreformen in Form einer Identitätspolitik. Das Handlungsmuster ›Gebietsreform‹ wurde in der Bundesrepublik nach einem grundlegenden Vorschlag von Wagener (1969) in allen westdeutschen Flächenländern in den 1970er Jahren massiv umgesetzt. Seit 2007 kam es infolge von Finanzkrisen und in Reaktion auf Bevölkerungsrückgang zu einer zweiten großen Welle von Gebietsreformen in den neuen Bundesländern (vgl. Bogumil 2016). In Sachsen-Anhalt, dem Bundesland der Fallgemeinde, erfolgte dabei der radikalste Rückbau: Die Zahl der Gemeinden wurde hier zwischen 1990 und 2015 um 84 Prozent reduziert (ebd.: 24). In Deutschland überwiegt beim Handlungsmuster Gebietsreform das Ziel der Steigerung einer effizienten Leistungsfähigkeit der Verwaltung, da von ›economies of scale‹ ausgegangen wird, demgegenüber werden in dieser Sicht leichte Schwächungen der politischen Integration durch größere Einheiten in Kauf genommen. In der Praxis wurde diese funktionalistische Begründung von Kommunalreformen verkürzt auf die Beobachtung von drei Kennwerten: Einwohnerzahl, Fallzahlen bei Verwaltungsvorgängen und Entfernungskilometer zur Gemeinde- bzw. Kreisverwaltung (ebd.: 36). Empirische Studien liegen überwiegend in Form von Ex-ante-Schätzungen von Einsparungen vor (vgl. Hesse/Götz 2009). Ein Literaturüberblick zu den Folgen der westdeutschen Gemeindereformen der 1970er Jahre zeigt eine Steigerung der Verwaltungskraft durch eine stärkere Arbeitsteilung bei nur kurzfristigen Bürgerprotesten auf, kann allerdings generelle Kostensenkungen nicht belegen (vgl. Thieme/Prillwitz 1981; ähnlich Bogumil 2016). In der deutschen Fachdiskussion spielen Aspekte der Identitätsfolgen und -gestaltung im Rahmen von Gebietsreformen eine äußerst randständige Rolle (Scarcinelli 2013: 302; Hesse 2009: 220). Lediglich in einer Schweizer Untersuchung wird berichtet, dass in Schweizer Kommunalgremien das Argument »Identifikation mit der Gemeinde geht verloren« das zweitwichtigste Ablehnungsargument von Fusionen ist, dem 60 Prozent der Befragten zustimmen (Steiner 2002: 349). Deshalb wird im qualitativen Teil dieser Schweizer Studie zu den Folgen von Gebietsreformen

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auch systematisch auf Veränderungen der Identifikation mit der Gemeinde eingegangen. Sehr genau werden diesbezügliche Aushandlungen zum Beispiel zum Namen der neuen Einheit oder ihrem manchmal neuen Wappensymbol berichtet (ebd.: 384, 452). Ziel des eigenen Lehrforschungsprojekts war es in einem interdisziplinären Diskussionsprozess mit Studierenden der Landschaftsplanung und der Soziologie, Verwaltungsangestellten und Bürgerinnen und Bürgern der Kommune Weißenfels ein Konzept für eine Identitätspolitik zu entwickeln, das neue Ansätze aufzeigen könnte. In unserer Untersuchungsgemeinde Weißenfels im Süden Sachsen-Anhalts zeigten die Experteninterviews, dass Identität ein wichtiges Thema dieser Kommune war (ausführlicher: Kompetenzzentrum Stadtumbau 2016). Weißenfels wies 2015 eine schwache gemeinsame Identität auf, überwiegend handelte es sich sogar um eine fragmentierte und gebrochene Identität, die mit erheblichen Einschränkungen der Handlungsfähigkeit verbunden war. Diese Identitätskrise hatte zwei voneinander unabhängige Ursachen: Wenige Jahre nachdem 2007 der Landkreis Weißenfels nach einer Fusion verschwunden ist, wurden 2010 meist zwangsweise 14 Kommunen zur Stadt Weißenfels zusammengelegt, sodass sich 40.000 Einwohnerinnen und Einwohner über 113 Quadratkilometer verteilten. Neben dieser massiven Gemeindereform wirkte auch der radikale Umbruch der wirtschaftlichen Sozialstruktur nach der deutschen Einheit 1990 noch immer nach, da er in Weißenfels u.a. dazu führte, dass die gesamte Schuhindustrie des Ortes abgewickelt wurde. Die Auswirkungen dieser fragmentierten Identität waren vielfältig spürbar. Symbolische Konflikte um die Deutungshoheit des neuen Gebildes waren vorhanden: So war es üblich, dass die Verwaltungsangestellten der Stadt Weißenfels von der ›Kernstadt‹ in Differenz zu den ›Ortschaften‹ sprachen, um den Unterschied zwischen der ehemaligen Stadt und den Eingemeindungen leicht abwertend zu markieren. Auch im Gemeinderat waren die Spaltungen präsent, da die zweitstärkste Stadtratsfraktion sich ›Wählergruppe Bürger für Weißenfels/Landgemeinden‹ nannte und auch hier die Differenz der Eingemeindung konservierte. In vielen Dialogen zeigte sich, dass der nach der Wende erfolgte ökonomische Aufstieg der Lebensmittelindustrie sehr viel weniger wahrgenommen wurde als der Verlust der Schuhindustrie, obwohl sowohl hohe Steuerkraft als auch viele neue Arbeitsplätze eine gelungene Kompensation indizierten. Die Erinnerungspolitik der Kommune hob trotzdem sowohl in einem

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nach 2000 aufgestellten Stadtbrunnen in der Fußgängerzone, als auch in einem großen Schuhmuseum, im die Stadt überragenden Schloss, die Schuhindustrie als ökonomischen Identitätskern der Stadt hervor. Nach der Analyse des Ist-Zustandes der Identität der Untersuchungsgemeinde, wurde in einem zweiten Schritt des Lehrforschungsprojekts ein Leitbild für eine zu formierende Identität entwickelt, das mit ersten Interventionsvorschlägen unterlegt wurde. Das Leitbild wurde mit ›Weißenfelser Land‹ bezeichnet, das vier Kernelemente enthielt: a) Das Ziel sollte die Schaffung einer neuen verbindenden Identität mit dem Namen ›Weißenfelser Land‹ sein. b) Die starke Identität der Dörfer sollte bewahrt werden. c) Die verbindende Identität sollte nicht notwendigerweise eine zentrale Identität sein. d) Es sollte eine pluralistische Identität angestrebt werden, die sich aus vielen Teilidentitäten zusammensetzen sollte. Das Bild auf dem Titelblatt der Leitbildkonzeption zeigt die Stadt und das Schloss Weißenfels auf der rechten Seite, den verbindenden Saalefluss in der Mitte und die umgebende Natur auf der linken Seite. Das Bild soll diese verbindende und pluralistische Identität visualisieren (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Leitbild ›Weißenfelser Land‹

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Dieses Leitbild wurde durch Interventionsansätze in den Bereichen Kultur, Wirtschaft und Landschaft konkretisiert. Exemplarisch sei hier nur der Kulturbereich erläutert. Weißenfels besitzt eine starke geschichtliche und musikalische Identität, die allerdings über eine zu starke Fokussierung auf die Geschichte zu einer Vernachlässigung der Gegenwart geführt hat. Es gibt eine hohe Anzahl von Vereinen mit großer thematischer Vielfalt. Ziel der Interventionen im Weißenfelser Land sollte es sein, Pluralismus zu kommunizieren, verbindende Elemente zu betonen. Der häufig geäußerte Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung sollte in Form von Bürgerkonferenzen und ›runden Tischen‹ vor Ort aufgegriffen werden. Busrundtouren durch die neuen Ortsteile sollten dem Kennenlernen der Orte dienen. Die Vereinsvernetzung sollte gestärkt werden. Hierzu wäre ein ›Tag der Vereine‹ als Eventtag zur Präsentation der Vereine und ihrer Aktivitäten durch Stände denkbar. Dieser Vereinstag kann in der Kernstadt oder mit Bus-Shuttle zwischen den Ortsteilen oder mit einem jährlich zwischen den Ortsteilen wechselnden Veranstaltungsort organisiert werden. Sichtbarkeit der Vereine sollte durch mehr Präsenz in der Lokalzeitung und eine Verlinkung mit dem Veranstaltungskalender der offiziellen Homepage der Stadt erzielt werden. Auf den ersten Blick wirken die Vorschläge wenig revolutionär, weisen allerdings auf einen innovativen Perspektivwechsel hin. So zeigt ein Blick in die bisherige Verwaltungsstruktur der Stadt, dass Vereine in der herkömmlichen Kulturpolitik keine Ansprechperson hatten. In den typisch städtischen Strukturen fällt unter die Rubrik Kultur die Unterstützung der städtischen Museen sowie musikalischer Hochkultur. Vereine als zentrale Bezugspunkte dörflicher Alltagskultur, die mit den vorgeschlagenen Interventionen sichtbarer gemacht werden sollten, stellen hier also Erweiterungen des städtischen Kulturbegriffes dar (obwohl sie, wenn auch mit geringerer Bedeutung, ebenfalls in Städten präsent sind). Die Arbeit an ›rurbanen Identitäten‹ kann ein wichtiges Konzept bei der Bewältigung von Eingemeindungen darstellen. In den meisten Fällen agieren und denken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Verwaltung nach Gebietsreformen weiterhin aus einer städtischen Perspektive heraus, da sie in der Kernstadt bleiben und in den ausgewiesenen Zuständigkeiten zunächst nur eine räumliche Ausweitung ihrer Zuständigkeiten bemerken. Quantitativ und qualitativ kommt es deshalb unreflektiert bei der Hinzufügung von ländlichen Räumen zu Städten zu einer

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Dominanz des Städtischen, die ländlichen Teile fühlen sich in der Folge tendenziell benachteiligt. Im reflektierten Prozess von Eingemeindungen wird dagegen die neue Mischung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten betont. Mit der Akzentuierung von Verbindungen können neue Vernetzungsidentitäten wachsen. ›Ländliche‹ Elemente wie Flusslandschaften, Vereine oder als attraktiv empfundene landwirtschaftliche Elemente wie Weinanbau spielen beim Zeigen und Schaffen der neuen Realität genauso eine Rolle wie ›städtische‹ Elemente in Form einer positiven Inszenierung der Lebensmittelindustrie (zum Beispiel mit einem neuen Erntedankfest), grenzüberschreitender Zuwanderung, Jugendfreizeitangeboten oder Bürgerbeteiligung. Der neue, über politische und ökonomische Umbrüche konstituierte hybride rurbane Raum kann dadurch die Gestaltungs- und Inszenierungsmöglichkeiten rurbaner Identitäten steigern, ohne homogen langweilig oder gesichtslos zu werden.

F a zit Zusammenfassend kann man festhalten, dass raumbezogene Identitäten insbesondere in Peripherisierungsprozessen unter Druck geraten. Regionen in allen Teilen Europas sind immer mehr in weltgesellschaftliche Bezüge einbezogen, die zu neuen Arbeitsteilungen und Hierarchisierungen führen. Insbesondere in Regionen mit Bevölkerungsrückgang wächst das Risiko gebrochener Identitäten, da man passiv die Peripherisierung erleidet, an Überkommenem festhaltend aber der Situation lieber ausweicht als innovativ zu reagieren. Da Mentalitäten dann selbst zu Verstärkern einer Abwärtsspirale werden können, ist in diesen Konstellationen auch Identitätsarbeit erforderlich, um wieder handlungsfähig zu werden. Regionen weisen dabei keine einheitliche Identität auf – auch jene nicht, die einem Peripherisierungsdruck ausgesetzt sind. Vielmehr handelt es sich um spezifische, in langen Interaktionsketten gewachsene und reproduzierte Identitäten, die sich eigenlogisch fortentwickeln. Im Modernisierungsprozess des letzten Jahrhunderts sind dabei in Deutschland die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Identitäten geringer geworden. Es fand eine zunehmende Herausbildung gemischter rurbaner Identitäten statt. Unter der Oberfläche scheinbar homogenisierter Lebenswelten, Lebensstile und Identitäten sind dabei für Individuen und

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Regionen die Möglichkeiten gestiegen, selbst urbane und rurale Elemente zu erweiterten rurbanen Identitäten zu verknüpfen, ohne nur vorhandene Muster reproduzieren zu müssen. Die empirischen Fallstudien haben gezeigt, dass derartige (neue) rurbane Identitäten gerade bei Kommunen, die unter Bevölkerungsrückgang leiden, wichtige Beiträge zur Bewältigung des Peripherisierungsdrucks leisten können. So hat sich in west- und ostdeutschen Dörfern gezeigt, dass bürgerschaftliches Engagement insbesondere dann kompensativ wirken kann, wenn durch Agierende mit rurbanen Identitäten die vorhandene Vereinslandschaft transformiert werden kann. Im dünneren ostdeutschen Vereinsnetz gründeten sie dabei neue Vereine, in Rheinland-Pfalz transformierten sie dazu einige vorhandene Vereine durch ortsübergreifende Arbeit. In der bayrischen Untersuchungsgemeinde war die vorhandene traditionelle Vereinslandschaft so dicht, dass sie im Schrumpfungsfall nicht auf neue Herausforderungen reagieren konnte. In den bayerischen und rheinland-pfälzischen Dörfern waren es deshalb auch rurban geprägte Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, von denen soziale Innovationen ausgingen. In einigen europäischen Ländern, zu denen auch Deutschland gehört, haben sich Gebietsreformen als eine standardmäßig verfolgte bürokratische Bewältigungsstrategie bei Bevölkerungsrückgang etabliert. In den bisherigen funktionalistisch inspirierten Deutungsmustern dieser Reorganisationen spielten Überlegungen zu den Folgen für raumbezogene Identitäten eine äußerst randständige Rolle. In einer empirischen Fallstudie wurde gezeigt, dass insbesondere in ostdeutschen Kommunen aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche fragmentierte und gebrochene Identitäten auch eine Folge von Gebietsreformen sind. Exemplarisch wurde untersucht, wie durch Leitbilder und gezielte Interventionen unterstützende Identitätsarbeit die kulturellen Folgen von Gebietsreformen gemildert werden können. Rurbane Identitäten spielen bei diesen Konzepten eine wichtige Rolle, da sie für die erzwungenen Kooperationen von Stadt und Land, die in Gebietsreformen häufig institutionalisiert werden, Sinnbrücken schaffen können, die neue Identität symbolisieren und durch gemeinsame Handlungen stärken können. Die in dieser Untersuchung verwendeten qualitativen Gemeindestudien zeigen Optionen für die innovative Gestaltung rurbaner Identitäten, die bei der Bewältigung von Bevölkerungsrückgang und Peripherisierung unterstützend wirken. Aufgrund der geringen Fallzahlen werden aber für

Rurbane Identität

die genaue Rekonstruktion der Bedingungsfaktoren rurbaner Identitäten und der intendierten und nichtintendierten Folgen ihrer Verwendung in Peripherisierungssituationen zukünftig ergänzende systematische multivariate quantitative Untersuchungen erforderlich sein.

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Rurbane Identität

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A bbildungen Abbildung 1: Reinhold Sackmann.

Landluft macht frei? Informell verhandeln mit Raumbildern Henrik Schultz In den aktuellen großen Transformationsprozessen im Stadt-Land-Gefüge führt am kreativen Verhandeln kein Weg vorbei. Der folgende Artikel zeigt anhand von Erfahrungen aus der Planungspraxis auf, dass hier informelle Prozesse, in denen sich unterschiedliche Beteiligte auf die Suche nach passenden Bildern und Strategien für die Zukunft ihrer Landschaften machen, Orientierung geben können. Gegenstand des Verhandelns sind die tiefgreifenden räumlichen Veränderungen, die sich etwa im Zuge der Energiewende, der Verkehrswende und der Digitalisierung ergeben. Kurz gesagt, sorgt die Energiewende für eine umfassende Dezentralisierung der Energieproduktion und -versorgung und rückt den ländlichen Raum in den Fokus. Die Digitalisierung führt dazu, dass die Transaktionskosten radikal sinken und die wirtschaftlichen Vorteile der Stadt gegenüber dem Land schwinden. Ehemals zentral organisierte und im städtischen Kontext verortete Einrichtungen können von dezentralen, auf dem Land angesiedelten Strukturen abgelöst werden. Im Zuge der Digitalisierung dynamisierter Dienstleistungen sind diese ortsunabhängig nutzbar. Das Verhältnis von städtischen und ländlichen Räumen verändert sich somit – und der Beteiligtenkreis verändert und erweitert sich ebenso. Wenn in der Landwirtschaft Tätige auch in der Energiewirtschaft tätig sind, melden sie sich in anderen Diskussionen zu Wort. Wenn städtische Bürgerinnen und Bürger die dezentralen Windkraftanlagen als Störung ihres gewohnten Landschaftsbilds wahrnehmen, engagieren sie sich in Bürgerinitiativen auf dem Land. Geht man davon aus, dass Planung und Entwerfen diese Transformationsprozesse kritisch begleiten und gestalten, so gilt es, nach passenden Werkzeugen für die Verhandlungsprozesse zwischen den Beteiligten zu suchen. Oft ist dabei zentral, sich vor Ort den Stand der Landschafts-Transformatio-

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nen zu vergegenwärtigen und sich über passende Strategien zu verständigen. Gemeinsam durchgeführte Raumerkundungen und erarbeitete Raumbilder haben sich dabei bewährt.

Transformationsprozesse im S tadt-L and -G efüge Energiewende, Verkehrswende und Digitalisierung prägen die aktuellen Transformationsprozesse im Stadt-Land-Gefüge: Aktuelle Forschungen zeigen den umfassenden Wandel, der im Zuge der Energiewende bereits stattgefunden hat, und prognostizieren weitere tiefgreifende Veränderungen (BfN, BBSR 2014). Im Süden Deutschlands bestimmen vielerorts Solaranlagen das Landschaftsbild, im Norden Windkraftanlagen. Der vermehrte Anbau von Mais für die Nutzung in Biogasanlagen sorgt für radikal andere Landschafts-Perspektiven. Charakteristisch für den Wandel der Energieproduktion und -versorgung ist die Zunahme dezentraler Konzepte zur Gewinnung erneuerbarer Energien auf dem Land (Agora Energiewende 2017). Das Thünen-Institut nennt ländliche Regionen ›Gewinner der Energiewende‹ (Thünen-Institut für Ländliche Räume 2013). Viele Bürgerinnen und Bürger, die bislang den Strom ausschließlich konsumieren, können sich nun an der Produktion von Strom beteiligen und – digital unterstützt – Strom dann nutzen, wenn er preiswerter ist. Die Heinrich-Böll-Stiftung spricht in diesem Kontext von ›Energie-Demokratie‹ und nennt etwa Bürgerkooperationen bei Windparks als Möglichkeit, Energielandschaften gemeinsam zu gestalten und dafür zu sorgen, dass Steuereinnahmen und damit konkrete finanzielle Vorteile in der Region generiert werden (Theenhaus 2018). Genügend Anlässe und genügend neue Akteurinnen und Akteure zum Verhandeln der neuen Energielandschaften gibt es also. Verhandelt werden muss über komplexe, sich schnell ändernde und teilweise unvorhersehbare Entwicklungen und damit beispielweise über gebaute und virtuelle Infrastrukturen zum Energietransport und zur Vernetzung unterschiedlicher Energiequellen und Nutzer. Wie stellt man allerdings Landschaft als Infrastruktur in verständlichen Bildern dar? Auch bei der Verkehrswende stehen die deutschen Landschaften vor tiefgreifenden Veränderungen. Weiterhin gilt: Je disperser die Siedlungsstruktur, desto höher der alltägliche Radius der Aktivitäten und damit die Anzahl der Personenkilometer, die zurückgelegt werden (Canzler 2016).

Landluf t macht frei?

Die Experten der Agora Verkehrswende formulieren in ihren Thesen, dass auf dem Land die Entwicklung langsamer ablaufen wird und dass die individuelle Mobilität weiter vorherrschen wird (Agora Verkehrswende 2017). Hier gibt es einen deutlichen Unterschied zur Stadt. Und dennoch zeigen Projekte landauf-landab, zum Beispiel zu Fahrradschnellwegen, dass sich auch die Landschaften außerhalb der großen Städte durch ein sich änderndes Mobilitätsverhalten und die damit korrespondierenden Planungen grundlegend verändern. Es geht um ›seamlessness‹ bei der täglichen Mobilität, also um passende, multifunktionale Umsteigepunkte von einem auf das andere Verkehrsmittel. Sich im ruralen Raum über eine innovative, auch digital organisierte Mobilitätsinfrastruktur zu verständigen, braucht kreative Prozesse des Verhandelns zwischen Verkehrsunternehmen, Schulen, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Planenden, Bürgerinnen und Bürgern und vielen anderen. Unter den Schlagworten Wohnen 4.0 und Arbeiten 4.0. werden die Möglichkeiten einer digitalen Organisation unseres (Arbeits-)Alltags diskutiert. Dazu gehört, dass viele Arbeiten nicht mehr zwangsläufig an einem Ort, sondern auch von unterwegs erledigt werden können. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen in vielen Unternehmen nicht mehr täglich im Büro sein, sondern können von unterwegs oder zuhause arbeiten. Das stellt andere Anforderungen an die Wohnorte, an spontan anmietbare Treffpunkte auch im ländlichen Raum und hat tiefgreifende Folgen für die Pendlerdynamiken. Viele wirtschaftliche Vorteile, die die Stadt gegenüber dem Land hatte, wie effiziente Organisation von Sicherheit, Kommunikation und Transport schwinden und es ist offen, welche Entwicklungen das nach sich ziehen wird. Auch hier gilt es Spielräume auszuloten und die Gestaltung unserer alltäglichen Landschaften zu Verhandeln.

K o - kreative G estaltung mit R aumbildern Rurbane Transformationen können mit informellen Projekten gestaltet werden. Zur ko-kreativen Gestaltung guter rurbaner Projekte braucht es passende Raumbilder: Wie lassen sich Prozesse gestalten, in denen unterschiedliche Beteiligte ko-kreativ und auf Augenhöhe verhandeln können? Formelle Prozesse wie die Regionalplanung oder formelle Landschaftsplanung können

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die rasant passierenden Prozesse der Landschaftstransformation oft nur nachvollziehen. In den folgenden Projekten haben sich Beteiligte zusammengefunden, weil sie an einer Zukunftsfrage arbeiten wollten, weil sie Probleme lösen und Transformation aktiv gestalten wollten. Alle Projekte wurden als informeller und doch innerhalb der Gruppe verbindlicher Prozess entworfen und realisiert1. Instrument des Verhandelns waren neben den üblichen Recherchen und Analysen Raumbilder, anhand derer Argumente und Ideen gefunden und ausgetauscht werden konnten. In diesen Raumbildern werden als relevant identifizierte Zukunftsfragen und Interpretationen der aktuellen und zukünftigen Situation nachvollziehbar dargestellt. Abbildung 1: Beispiel Energie Olfen

Stein+Schultz, landinsicht

1 | Alle im Folgenden vorgestellten Projekte wurden durch das Büro Stein+Schultz, Frankfurt a.M. erarbeitet (Stein+Schultz Partnerschaft 2017).

Landluf t macht frei?

Abbildung 2: Olfen Energie: Umpuzzlen erlaubt – wie passen die Bausteine gut zusammen?

Stein+Schultz, landinsicht

Abbildung 3: Olfen Energie: Wie können die Olfener selber mitmachen?

Stein+Schultz, landinsicht

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Das kleine Städtchen Olfen (12.000 Einwohnerinnen und Einwohner) liegt in der Übergangszone zwischen dem Ruhrgebiet als Ballungsraum und dem Münsterland als eher ländlich geprägtem Raum. Kompakte Siedlungskerne, typisch münsterländische Hofstellen im Außenbereich sowie große Feld- und Waldgebiete prägen die Siedlungsstruktur. Die räumlichen Bedingungen in Olfen sind mit zahlreichen anderen Kleinstädten in der Region vergleichbar. Olfen ist dabei, die vorhandenen Einzelansätze zur Nutzung regenerativer Energien zu vernetzen und in einem integrierten Konzept so auszurichten, dass die Kommune langfristig einen großen Teil der benötigten Energie für Strom, Wärme und Mobilität selbst erzeugt. Damit sollen lokale Stoffströme und Wertschöpfungsketten gefördert und die CO2-Bilanz der Stadt verbessert werden. Schon vorhandene Bausteine zur Nutzung regenerativer Energien sind u.a. Biogasproduktion durch mehrere landwirtschaftliche Betriebe, Photovoltaik auf Dächern von landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben, privaten Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden, einige privat betriebene Windkraftanlagen und ein Blockheizkraftwerk im Schulzentrum. Im Rahmen der Erneuerung des landwirtschaftlichen Wegenetzes werden zudem leistungsfähige Rohre für Biogas sowie Glasfaserkabel für Breitbandverbindungen in die landwirtschaftlichen Vorrangstrecken eingebaut. Auf dem Gelände eines ehemaligen Munitionsdepots sollen Windkraftanlagen entstehen, die durch eine Bürger-Genossenschaft getragen und finanziert werden sollen. Das Projekt Energiewende wird mit machbaren Bausteinen begonnen und kann modular erweitert werden. Viele der Bausteine knüpfen an Aktivitäten an, die in Olfen sowieso anstehen, so zum Beispiel die Erneuerung des landwirtschaftlichen Wegenetzes, der Umbau einer innerstädtischen früheren Durchgangsstraße oder die laufende Bewirtschaftung und Erneuerung städtischer Liegenschaften2 . Für eine ganzheitliche energiepolitische Vision ›Unsere ganz eigene Energiewende‹ reichen aber technische Lösungen allein nicht aus. Es geht darum, Menschen für diesen Weg zu gewinnen. Sie müssen politische Entscheidungen treffen, persönliche Investitionen tätigen und auch ihre Konsum- und Lebensgewohnheiten anpassen. Deswegen wurde die Geschichte der geplanten Energiewende in Olfen mit dem Sinnbild des Puzzles und seiner Puzzleteile erzählt. Das Bild zeigt, welche Puzzlesteine es gibt und wie sie zusammenpassen können. Der komplexe 2 | www.regionale2016.de

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Prozess der Transformation der Energie-Gewinnung, -Speicherung und -Distribution wird so selbst für Laien verständlicher – schließlich hat jeder schon mal mit einem Puzzle gespielt. Das Puzzle ist aber mehr als ein Kommunikationsinstrument. Es regt zum Spielen und damit zum kreativen ›umpuzzlen‹ an. Könnten die Puzzleteile auch anders kombiniert werden? Das Puzzlen ist Teil des Entwerfens neuer Energielandschaften. Ein Hemmnis beim Ausbau der Produktion regenerativer Energien ist die Veränderung des gewohnten Landschaftsbilds. Wenn Energie-Großkonzerne dahinterstehen, ist der Widerstand besonders groß. Deshalb sollen in Olfen die in der Landwirtschaft Tätigen, Gewerbetreibenden und Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit bekommen, sich durch Investition und Mitbesitz an Steuerung, Produktion und Wertschöpfung zu beteiligen3. Auf diese Weise werden nicht nur die Akzeptanz regenerativer Energien, sondern auch örtliche Stoffströme und örtliche Wertschöpfung gefördert. Das Puzzle wurde innerhalb dieses Kommunikationsprozesses zu einem zentralen Bestandteil mit dessen Hilfe spezifische Antworten auf die Energiewende in Olfen gesucht wurden. Im informellen Verhandlungsprozess zwischen Stadtspitze, Energieunternehmen, Fördermittelgebenden und Bürgerschaft war das Bild des Puzzles mindestens so wichtig für die Kommunikation nach innen (im Projektteam mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten) wie nach außen.

3 | »Durch die Bürgerwindparks erhöht sich nicht nur die Akzeptanz des Vorhabens, es kommt auch zu höheren Gewerbesteuereinnahmen der Gemeinden sowie zur Beauftragung regionaler Unternehmen zur Errichtung und dem Betrieb der Anlagen« (siehe www.repowering-kommunal.de vom Januar 2013: Kraftwerke optimieren – bestehende Kraftwerke zur Stromerzeugung besser nutzen)

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Beispiel Bewegtes Land im 2Stromland Abbildung 4: Bewegtes Land: Bild Mobilität auf dem Land

Stein+Schultz, landinsicht

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Abbildung 5a+b: Bewegtes Land: 2 Beispiele aus dem Instrumentenkasten. Die Akteurinnen und Akteure im Bewegten Land tauschen sich zu ihren Erfahrungen im Umgang mit den Instrumenten regelmäßig aus

Stein+Schultz, landinsicht

Das Modellprojekt ›Bewegtes Land‹ entwickelt und erprobt Konzepte und Kooperationen für eine nachhaltige Mobilität im ländlichen Raum4. Es ist im Grenzraum Ruhrgebiet-Münsterland im Bereich der Städte Lüdinghausen, Haltern am See, Olfen, Datteln und Selm verortet und will dort zeigen, wie man im ländlichen Raum auch ohne Auto mobil sein kann, nachhaltig zum Arbeitsplatz pendeln und die Landschaft mit einem attraktiven Langsamverkehr erschließen kann. Dabei geht es um Konzepte, die die neuste Technik nutzen und auch wirtschaftlich Sinn machen. Zentral ist, dass solche Konzepte nur miteinander entwickelt werden können, also dass Kommunen mit den verschiedenen Verkehrsträgern zusammen 4 | Das Projekt ist eingebunden in das ›2Stromland‹, einen 8000 Hektar großen landschaftlichen Experimentierraum für das ganze Gebiet der Regionale 2016. Allen Projektbausteinen im 2Stromland liegt eine Annahme zugrunde: Die Landschaft der Zukunft soll ökologisch funktionsfähig, wirtschaftlich tragfähig und mit Genuss erlebbar sein. Erlebbar heißt vor allem, dass es passende Wege und schöne Orte gibt, auf und an denen Menschen sich in die Landschaft vertiefen, beobachten und Ruhe und Entspannung finden können. Erlebbar heißt aber auch, dass es Orte und Wege gibt, die zu Treffpunkten für Menschen werden können. Deshalb ist der intensive Austausch mit dem 2Stromland als Pilotraum, der Ideen für eine Landschaft der Zukunft findet und experimentell erprobt, zentral.

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Lösungen für eine flächendeckende, flexible und bedarfsgerechte Mobilität verhandeln müssen. Die Beteiligten im ›Bewegten Land‹ denken und handeln über drei Kreisgrenzen hinweg und finden gemeinschaftliche Lösungen: Erstens erarbeiten sie beispielhafte Lösungen für die Schülerbeförderung und Bürgerbuslinien als Beitrag zur Erschließung des ländlichen Raums mit flexiblen, bedarfsgerechten und effizienteren Mobilitätsangeboten jenseits des Autos. Ziel ist es, ein attraktiveres Angebot zu schaffen, das sich an den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen und nicht an statischen Linienführungen und Haltestellensystemen orientiert. Damit sollen auch Umsteiger vom Auto gewonnen werden, also Menschen, die zum Beispiel freiwillig auf die Autofahrt zur Arbeit zu Gunsten des örtlichen Mobilitätsangebots verzichten. Zweitens soll der Anschluss ans Ruhrgebiet umfassend verbessert werden. Dazu wird das System an Schnellbussen verbundübergreifend weiterentwickelt. Außerdem werden Orte und Ortsteile besser an die größeren Bahnhöfe angebunden. Drittens widmet sich das Projekt der Frage, wie Wege zur Arbeit, zur Schule, zum Verein oder anderen sozialen Einrichtungen von der ›Überwindung von Raum‹ zum attraktiven Teil der Freizeit werden können. Im Fokus stehen Radverkehrsnetze, die so ausgebaut und ergänzt werden, dass Fahrradfahren zum selbstverständlichen Teil von Pendlerrouten und Alltagsabläufen wird. Die neu entstehende Infrastruktur steht auch Touristen aus Nah und Fern zur Verfügung. Viertens geht es schließlich darum, die Stationen und andere ÖPNV-Schnittstellen zu Mobilitätspunkten umzugestalten, die es ermöglichen, einfach die Verkehrsmittel zu wechseln. Sie sollen zu attraktiven Warte- und Aufenthaltspunkten werden. Erarbeitet werden dazu sowohl konkrete Lösungen für die Region vor Ort (Projektbausteine) als auch ein Set übertragbarer Instrumente, die Regionen mit ähnlichen Herausforderungen nutzen können, um neue flexible, bedarfsgerechte und bürgernahe Mobilitätskonzepte zu entwickeln (Baukasten). Zentrale Funktion der bildlichen Darstellungen war es, die verkehrsplanerische Komplexität der neuen (digital unterstützten) Mobilität allgemeinverständlich darzustellen. Trotzdem waren die Bilder nie ausschließlich Abbildungen einer Planung, sondern dienten auch zur Klärung und Weiterentwicklung erster Ideen. Der Blick auf die Skizzen führte zu teils kontroversen Diskussionen. Die Bilder wurden überarbeitet und es wurde weiter verhandelt. Ist es das, was wir wollen? Stellen wir uns so unsere Mobilität der Zukunft vor? Die oftmals harten Fronten zwischen

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Verkehrsunternehmen, Vertreterinnen und Vertretern der Kommunen, Schulen und bürgerschaftlichen Initiativen können zwar durch solche Bilder nicht komplett eingerissen werden, aber die Bilder halfen dabei, sich über Ideen, Erwartungen und Grenzen auszutauschen. Sie ermöglichten es auch den Beteiligten ohne verkehrsplanerischen Hintergrund sich an den Diskussionen zur kreativen Transformation der Verkehrsinfrastruktur zu beteiligen.

Beispiel Integriertes Kommunales Entwicklungskonzept Arnsberg Abbildung 6: Verhandeln der Ideen in ›Dorfgruppen‹

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Abbildung 7a+b: Bild Spiel mit der Stadt-Land-Struktur

Stein+Schultz

Das Integrierte Kommunale Entwicklungskonzept (IKEK) ›Die Arnsberger Dörfer‹ ist in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Beteiligte aus den Ortsteilen und aus der Stadtverwaltung haben gemeinsam für jeden Ortsteil die aktuelle Situation analysiert und Ideen für die zukünftige Entwicklung der polyzentralen Stadt (in den Bereichen Verkehr, Wohnen, Gewerbe, Freiraum, Erholung etc.) gefunden. Kernelement des informellen Prozesses waren sogenannte ›Dorfgespräche‹, in denen sich die vielen kleinen Stadtteile mit Zukunftsfragen beschäftigt und sich auch untereinander über Potenziale und Herausforderungen ausgetauscht haben (Abb. 6). Ein zentrales – und in dieser Deutlichkeit für das Bearbeitendenteam überraschendes – Ergebnis der Dorfgespräche war, dass sich die Jüngeren auch in den kleinen Stadtteilen/Dörfern bezahlbare Mietwohnungen wünschen. Für sie ist weder das Elternhaus noch ein eigenes Einfamilienhaus eine Option. Gerade gut sanierte Mietwohnungen fehlen jedoch auf den Dörfern. Der zweite – zu erwartende – Aspekt war die Versorgung mit leistungsstarkem Internet. Die Bewohnenden der mittelgroßen Stadt Arnsberg (rund 75.000 Einwohnerinnen und Einwohner) mit ihren vielen kleinen Ortsteilen stellen damit ähnliche Anforderungen an das Leben auf dem Land wie es Stadtmenschen tun. Das erfordert ein Umdenken für die stadt- und freiraumplanerische Transformation der Stadt – vor allem ihrer vielen kleinen, dörflich geprägten Stadtteile. Zentral war neben der Beschäftigung mit den Ortsteilen das Zusammenspiel der Stadtteile in Stadt und Region. Die 1975 aus vier Stadtteilen und 12 Ortsteilen entstandene Stadt Arnsberg hat eine besondere Stadtstruktur. Arnsbergs Stadtteile sind bandartig und polyzentral im Ruhrtal organisiert. Anders als in kompakt organisierten Städten sind die Stadtteile in Arnsberg oft von Grün umgeben. Jeder Ortsteil hat viel ›Rand‹ und

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damit Kontakt zu Wäldern, Wiesen und oft auch zur prägenden Ruhr. Von vielen Ortsteilen hat man weite Blicke ins Stadtland. Das sind Vorteile dieser besonderen Stadtstruktur. Mit ihr sind aber auch Herausforderungen verbunden: Den Verbindungen zwischen den Ortsteilen kommt eine besondere Bedeutung zu. Während in einer kompakten Stadt die Schulen, Ärzte, Alteneinrichtungen, Geschäfte etc. oft räumlich nah sind, braucht es im Arnsberger Stadtland Wege – gebaute wie virtuelle – die Menschen und Orte verknüpfen. Außerdem sind die Durchgangsstraßen in vielen Ortsteilen Barrieren und Lärmquellen. Ziel der Stadtpolitik ist es, dass die Stadt sich nicht in der Fläche erweitert, sondern auf der bestehenden Fläche umgebaut und an die sich wandelnden Bedürfnisse angepasst wird. Die Versorgungseinrichtungen werden sich tendenziell in größeren Strukturen organisieren, so dass die Wege zum Arzt, zum Einkaufen und zur Schule länger werden. Die Verortung dieser Einrichtungen in der Stadtlandschaft wird eine zentrale Aufgabe einer strategischen Stadtentwicklung sein. Umso wichtiger ist es, die besondere Stadtstruktur Arnsberg umfassend zu verstehen und neu zu denken. Um das zu tun, hat das Bearbeitendenteam Bilder entworfen, die Arnsberg Stadtstruktur auf ungewöhnliche Art und Weise darstellen. Die einzelnen Ortsteile wurden dazu in einer Karte zu einer kompakten Stadt zusammengesetzt. Im Vergleich mit der realen Situation der ›Stadtlandschaft im Ruhrtal‹ konnten Vor- und Nachteile, vor allem aber Potenziale der Stadtstruktur und Ideen für die zukünftige Entwicklung diskutiert werden (Abb. 7). Welche Rolle könnte beispielsweise ein linearer Ruhr-Park spielen, der viele Stadtteile verbindet? Wie ist das Verhältnis zwischen Ortsteilen auf der Höhe und den Nachbarstädten, die nicht im Ruhrtal liegen? Die Bilder haben Arnsberg als urbane Landschaft dargestellt und zum Verhandeln über die passende Stadtstruktur für die Zukunft angeregt. Damit ist eine Diskussion angestoßen worden, die auch die Fragen der digitalen Zukunft rurbaner Landschaften zur Sprache bringt. Was wird sichtbar, baulich und mittelund langfristig umgesetzt und was wird virtuell, eventuell flüchtig und ständig in Wandlung begriffen als Prozess gestartet?

Beispiel Raumbild Mitte Thüringen Die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen widmet sich den Stadt-Land-Verflechtungen, ihren Herausforderungen und Chancen, ihren Ressourcen und Fragen. Das Projekt Raumbild Thüringen Mitte

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nimmt den Raum rund um die Städte Weimar und Jena in den Blick und wählt dabei einen großmaßstäblichen, landschaftlichen Zugang. Am Beispiel von Thüringens Mitte näherte sich das Bearbeitungsteam (Henrik Schultz, Sabine Rabe, Sigrun Langner, Ursula Stein, Hille von Seggern) der Frage: Wie sieht das Stadt-Land der Zukunft aus? Wohin führen die großen Transformationsprozesse in der Produktion von Nahrung und Energie? Die dynamischen Veränderungen in der Bewirtschaftung der Landschaft, in der Nutzung von Infrastrukturen und in der Art, wie wir leben, wohnen, arbeiten und uns fortbewegen, machen es nötig, die Landschaft Mitte Thüringen als Prozess zu verstehen. Thüringen wandelt sich und die Konzepte und Projekte für das Stadtland können Prozesse entscheidend beeinflussen, verstärken und ihnen einen anderen Schwerpunkt geben. Das Raumbild stellt Besonderheiten des Raumes und des Veränderungsprozesses dar, identifiziert unterschiedliche Layer der Veränderung und zeigt die Vision ›MultiLAND Thüringen‹. Das Raumbild spielt mit dem Auseinandernehmen der Gegend in ›Monoländer‹ und wieder (neu) Zusammensetzen von Elementen der regionalen Landschaft. Viele der so identifizierten Landschaftsnutzungen sind in sich geschlossene, optimierte Systeme und nehmen wenig Rücksicht auf ihr Umfeld. So bewirken sie räumliche Fragmentierungen, der Raum wird nicht als Ganzes gedacht und entwickelt. Ausgehend von der Tatsache, dass das ganze Land bewirtschaftet und wirtschaftlich produktiv ist (87 Prozent der Fläche sind hocheffizient genutzt und profitorientiert bewirtschaftetes Land), werden hier alle Landnutzungen durch die Brille des Unternehmers bzw. der Unternehmerin angeschaut: Die Landschafts-Unternehmen Ernteland, Infraland, Wohnland, Sehnsuchtsland und Schutzland unterliegen spezifischen Transformationsprozessen und werfen Zukunftsfragen auf. Mit der Metapher der ›Unternehmung‹ und die dazugehörigen Bilder wird ein Verhandeln von Landschaft als gesamtgesellschaftlicher Unternehmung angeregt, an der unterschiedliche große und kleine Landschafts-Unternehmerinnen und -Unternehmer mitwirken können. Das ist zentral, weil nur so Ressourcen gesichert und Lebensqualität gestärkt werden können. Die Mitte Thüringens braucht Landschaftsunternehmerinnen und -unternehmer mit Verantwortung, die aus ›MonoLÄNDERN‹ ein nachhaltiges ›MultiLAND‹ machen. Ein entsprechendes Projekt könnte in einem Dorf spielen, dass komplett von intensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen umgeben ist.

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Abbildung 8: Raumbild Thüringen: Auseinandernehmen in Monoländer und wieder das Zusammenfügen zum ›MultiLand‹ (oberste Ebene)

Stein+Schultz, rabe landschaften, Station C23

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Abbildung 9: Raumbild Thüringen: Ernteland

Stein+Schultz, rabe landschaften, Station C23

Abbildung 10: Raumbild Thüringen: Projektidee Dorfrandpark

Stein+Schultz, rabe landschaften, Station C23

Hier könnten multifunktionale Dorfränder für dezentrale (Ab-)Wasserinfrastrukturen als Dorfrandpark entstehen (Abb. 10). Angebote für

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Spiel und Sport könnten Teil dieser neuen Randlandschaften sein. Aktive Unternehmerinnen und Unternehmer könnten der Wasserzweckverband, die Agrargenossenschaft, die Bürgermeisterin bzw. der Bürgermeister, ein Energiebetrieb, und engagierte Dorf bewohnende sein. Das Projekt könnte so unterschiedliche Landschaftsbestandteile neu verknüpfen und einen großen Schritt in Richtung der Vision ›Multiland‹ machen. Im Diskussionsprozess mit den Projektentwickelnden der IBA Thüringen und interviewten Schlüsselpersonen helfen die Bilder dabei zu verstehen, was relevante Themen sind und welche Fragestellungen entscheidend für die Zukunft der rurbanen Landschaft Thüringens sind.

Raumbilder entstehen in der intensiven Erkundung des Raumes und im Verhandeln Wie entstehen nun solche Raumbilder? Zum einen in der körperlichen Befassung mit dem Gegenstand, dem Raum. Gemeinsame Raumreisen ermöglichen es, sich über Raumwahrnehmungen direkt vor Ort auszutauschen. Ziel solcher Erkundungen, die oft als Wanderungen konzipiert sind, ist es, gemeinsam den Besonderheiten, Herausforderungen und Fragestellungen der Räume auf die Schliche zu kommen. Die Teilnehmenden suchen auf ihrer Wanderung nach einem kreativen Zugang zu den durchwanderten Räumen, nach Erkenntnissen, die noch nicht in Büchern oder Projektberichten erfasst und aufgeschrieben sind, an denen sie aber anknüpfen sollten, wenn sie die Landschaften schützen und weiterentwickeln wollen. Was inspiriert sie als Wanderer? Welche Blicke und Perspektiven eröffnen sich? Welche Wege sind besonders angenehm und warum? Wo würden sie gerne pausieren? Wen und was treffen sie unterwegs? Welche Spuren finden sie? Was überrascht? Die Wanderungen sind im wahrsten Sinne der beste Weg, den Schatz zu heben, aus dem gute Raumbilder und damit gute Raumentwürfe wachsen. Dazu gilt es, das implizite Wissen, das während der Wanderung in Form von ersten Ideen, unscharfen Bildern und Gefühlen entsteht, expliziter zu machen. Zeichnungen, die einem klaren Set an Regeln folgen und das unreflektierte Ausdrücken des Erlebten befördern, sind dabei ebenso wichtig wie gut dokumentierte assoziative Erlebnisberichte. Zum zweiten entstehen Raumbilder im intensiven Wechselspiel aus Expertise (Bildproduktion) und Diskussion im Beteiligtenkreis (Verhandeln und Weiterentwickeln).

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Denn mit dem Entwerfen eines Bildes ist noch kein Raumbild entstanden, das unterschiedliche Beteiligte als ihr Bild sehen und anwenden. Dazu braucht es Verhandlungsprozesse, in die die Expertise der bild-entwerfenden Fachleute und das Wissen der lokalen Beteiligten einfließen. Erste Entwürfe für Raumbilder werden zur Diskussion gestellt und nach intensiver Diskussion überarbeitet, weiterentwickelt und wieder zur Diskussion gestellt. Je intensiver dieser Diskussionsprozess, umso wirksamer das Raumbild. Denn Raumbilder werden nicht gebaut. Sie wirken, indem sie bei den vielen Entscheidungen, die die Beteiligten in unterschiedlichen Projektzusammenhängen treffen, zur Leitlinie werden. Sie werden nie hundertprozentig umgesetzt, sondern sickern vielmehr in eine strategische Ausrichtung einer Stadt oder Region ein. Dabei kommt eine zentrale Eigenschaft solcher Bilder zum Tragen: Die Erfahrung in vielen Projekten zeigt, dass sich Beteiligte oft auf wundersame Weise einig sind, was im Sinne einer Raumvision ist und was nicht. Und das, obwohl das nicht explizit irgendwo geschrieben steht. Vielmehr ist während er Bildsuche ein Gefühl für den Raum und seine Talente entstanden, auf das sich die Beteiligten bei ihren Einschätzungen verlassen können. Abbildung 11: Raumbild Thüringen: Erkundungen

Stein+Schultz, rabe landschaften, Station C23

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Beim Raumbild Mitte Thüringen waren die Erkundungen des bearbeitenden Teams mit den Projektleitenden der IBA zentraler Projektbestandteil – und Voraussetzung für das Entwerfen der Bilder. Erst die Erkundungen mit dem Auto, dem Bus und zu Fuß, die Recherchen und Gespräche mit Beteiligten vor Ort haben gezeigt: Die Mitte Thüringens ist ›radikal normal‹. Die Landschaft ist selbstverständlich, schön, hoch produktiv und stark genutzt. Das spezifische – auch atmosphärisch spürbare – Zusammenspiel aus großen landwirtschaftlich genutzten Flächen, Wäldern, den Städten Weimar und Jena, der östlichen Peripherie Erfurts, einigen Landstädten, einem engmaschigen Netz von Dörfern, Bahnlinien und Straßen prägt die Gegend. Das Wissen über dieses Zusammenspiel, das einerseits für das Entwerfen notwendig ist und anderseits im Entwerfen entsteht, findet man nicht in Büchern oder im Internet. Man muss es erfahren und sich darüber verständigen, um es in Bildern ausdrücken zu können.

Rurbane Landschaften – grenzenlose Möglichkeiten? Durch Energiewende, Verkehrswende und Digitalisierung geprägte Transformationsprozesse führen zu Veränderungen im Stadt-Land-Gefüge. Bei der Beschreibung dieser Prozesse kommt die dualistische Trennung in Stadt – Land vielmals an ihre Grenzen. Es geht vielmehr um Fragen, welche Räume ›geeigneter für …‹, ›näher an …‹, ›erschwinglicher für …‹ etc. sind. Und damit stellt sich sofort die Frage: Geeigneter, näher und erschwinglicher für wen? Je stärker die gewohnten Kategorien Stadt und Land nicht mehr stimmen, umso mehr müssen wir über Talente und Herausforderungen der neu zu entwerfenden rurbanen Landschaften verhandeln. Die Möglichkeiten und Verhandlungsspielräumen sind nicht grenzenlos, aber angesichts des tiefgreifenden Wandels mit den Kräften Dezentralisierung und Digitalisierung doch recht groß. Diesen Spielraum gilt es in informellen Prozessen, die viele Gruppen bei der Transformation beteiligen, zu nutzen und die Transformation – auch mit Hilfe von inspirierenden Raumbildern – zu gestalten.

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L iteratur Agora Energiewende (2017): Dezentralität und Energiewende. Zu den Grundlagen einer politisierten Debatte, siehe https://www.agoraenergiewende.de/fileadmin/Projekte/2016/Dezentralitaet/Agora_Dezentralitaet_WEB.pdf Agora Verkehrswende (2017): Mit der Verkehrswende die Mobilität von morgen sichern. 12 Thesen zur Verkehrswende, siehe https://www. agora-verkehrswende.de/fileadmin/Projekte/2017/12_Thesen/AgoraVerkehrswende-12-Thesen_WEB.pdf Bundesamt für Naturschutz (BfN)/Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2014): Den Landschaftswandel gestalten! Potentiale der Landschafts- und Raumplanung zur modellhaften Entwicklung und Gestaltung von Kulturlandschaften vor dem Hintergrund aktueller Transformationsprozesse, o.A. Canzler, Weert (2016): Räumliche Mobilität und regionale Unterschiede, in: Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hg.), Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: o.A. Gördes, Karlheinz (2018): Zukunftsland Regionale 2016, siehe www.regionale2016.de/de.html Stein+Schultz Partnerschaft (2018): Stein+Schultz Internetauftritt, siehe http://steinschultz.de/ Theenhaus, Thomas (2018): Energiedemokratie – Auf bruch zu gesellschaftlicher Teilhabe, http://energiedemokratie.net/ vom 19.8.2017. Thünen-Institut für Ländliche Räume, Dr. Reiner Plankl (2013): Regionale Verteilungswirkungen durch das Vergütungs- und Umlagesystem des erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), Thünen Working Paper 13, Braunschweig.

A bbildungen Abbildung 1-5: Stein+Schultz, landinsicht. Abbildung 6-7: Stein+Schultz. Abbildung 8-11: Stein+Schultz, Station C23, rabe landschaften.

Zwischen Entfremdung und Resonanz Anmerkungen zur Grundlage kooperativer Formen rurbaner Landschaftsentwicklung am Beispiel der alpinen Region Vallagarina Hannes Langguth

Wo fängt Landschaft an? Wer gestaltet sie? Und in welchem Bezug stehen wir zu ihr? Fragen, die sich auch der Pariser Künstler Paul-Armand Gette mit seinen Arbeiten detaillierter Vermessungen von landschaftlichen Übergängen und Rändern gestellt und die er im Rahmen eines von Annemarie und Lucius Burkhardt organisierten Studienseminars zur Landschaftswahrnehmung im Jahr 1985 im Kasseler Park Wilhelmshöhe eindrucksvoll inszeniert hat. Ein ›0 m Zeichen‹ steht in Mitten des Parks und fragt so nach der Distanz zwischen Betrachtenden und Landschaft. Nach dem Beginn dessen, was wir als Landschaft wahrnehmen, was wir als diese beschreiben. Das, was unmittelbar vor unseren Füßen liegt, es wächst oder krabbelt. Es scheint nicht unserem herkömmlichen Landschaftsbegriff zugeordnet, sondern lässt sich mit Hilfe von wissenschaftlichen, mineralogischen und zoologischen Untersuchungen als beispielsweise Stein, Pflanze oder Insekt genauestens bezeichnen. Schauen wir hingegen in die Ferne, dann sammelt sich die Vielzahl dieser Artefakte plötzlich unter dem Begriff von Landschaft und unserem allgemein gebräuchlichen Verständnis von diesem. Wo also ist der Übergang zwischen Stein und Landschaft auszumachen? Was lehrt uns Gettes’ Experiment? Und wie aktuell ist dieses Experiment in Bezug auf die Auseinandersetzung mit rurbanen Landschaften heute? Mit seiner Installation hebt Gette die Distanz zwischen uns und der Landschaft auf. Er macht deutlich, dass der Beginn der Landschaft kontinuierlich mit uns als individuelle Betrachtende wandert. Mit seinem

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Experiment verortet er uns inmitten der Landschaft, dessen kontinuierlich gestaltender Bestandteil wir selbst sind. Er betont damit einerseits die Rolle und Verantwortung die unserem individuellen Handeln innerhalb der Landschaft zukommt, andererseits macht er deutlich, dass die individuelle Wahrnehmung der Landschaft je nach Standpunkt variiert. Damit manifestiert sein räumliches Experiment, was Lucius Burckhardt in seinen in den 1970er Jahren veröffentlichten Essays zur Landschaftswahrnehmung1 eingehend beschreibt: Nämlich, dass der Landschaftsbegriff lediglich ein Produkt kultureller Interpretation und Aneignung ist. Eine kulturelle Konstruktion, in und mit der wir leben, an der wir uns orientieren, die darüber hinaus zur Grundlage unserer Planungen und Gestaltungen wird, die es jedoch in Bezug zum eigenen Standpunkt innerhalb der Landschaft, damit in Bezug zur eigenen Person und zum eigenen Handeln, permanent neu zu hinterfragen und zu verhandeln gilt (vgl. Ritter/Schmitz 2006). Mit meinem Beitrag möchte ich verdeutlichen, dass das nunmehr über 30 Jahre alte Experiment von Gette sowie Burkhardts Schriften heute keineswegs an Aktualität verloren haben. Am Beispiel der alpinen Region Vallagarina in der norditalienischen Provinz Trient 2 möchte ich zunächst aufzeigen wie weit wir uns – im Kontext weitreichender Globa1 | Der Soziologe Lucius Burckhardt (*1925 in Davos) lehrte zunächst in Münster, Ulm und Zürich, bevor er ab 1973 zum Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an die Universität Kassel berufen wurde. Mit seinen Arbeiten, welche nicht nur Texte und Vorträge, sondern auch Theaterstücke, künstlerische Aktionsformen, Fotografien und landschaftstheoretische Aquarelle umfassten, begründete er in den 1980er Jahren die sogenannte Spaziergangswissenschaft (engl. Strollology). Mit dieser beschreibt Burckhardt eine Methode zur Wahrnehmung von Landschaft und urbanem Raum, welche gestaltende Prozesse unserer alltäglichen baulichen und ökologischen Umwelt bewusst erkenn- und erfahrbar macht. Daraus abgeleitete Essays zur Landschaftswahrnehmung sind beispielsweise Landschaftsentwicklung und Gesellschaftsstruktur (Burckhardt 1977), Warum ist Landschaft schön? (Burckhardt 1979), oder Landschaft ist transitorisch – Zur Dynamik der Kulturlandschaft (Burckhardt 1994). 2 | Die Talgemeinschaft Vallagarina liegt in der norditalienischen autonomen Provinz Trient und erstreckt sich über rund 700 Quadratkilometern im südlichsten Abschnitt des Etschtals. Sie zählt etwa 87.000 Einwohnende, von denen derzeit rund 40.000 (Stand 2016) im Hauptort Rovereto leben.

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lisierungsprozesse und der damit verbundenen Urbanisierung des ländlichen Raums – von der uns umgebenden rurbanen Landschaft und ihren inhärenten ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Prozessen3 entfernt haben. Ich werde diese Dimension der rurbanen Landschaft in der Folge als rurbane Umwelt bezeichnen4. Anders ausgedrückt möchte ich verdeutlichen, dass sich unter gegenwärtigen Bedingungen globaler Urbanisierungsprozesse unser individueller und lokaler Zugang zu der uns umgebenden rurbanen Umwelt zunehmend verschließt, wir uns also von der rurbanen Landschaft und ihren inhärenten Gestaltungsprozessen zunehmend entfremden. Diesen Beobachtungen möchte ich die Praktiken ausgewählter Initativen gegenüberstellen. Initiativen, die innerhalb der Region Vallagarina durch kleinräumliche, kooperative, gemeinwohlorientierte und sozial-ökologisch nachhaltige Formen des Zusammenle3 | Ausgehend von der bereits in den 1970er Jahren durch den Soziologen Henri Lefèbvre vertretenen These der ›Urbanisierung der Gesellschaft‹, verstehe ich eine sogenannte ›Urbanisierung des ländlichen Raumes‹ nicht ausschließlich als die geographische Ausdehnung von Städten, sondern primär als das Zusammenspiel vielschichtiger Prozesse, die kulturelle, soziale, ökonomische und sprachliche Aspekte einschließen (vgl. Lefèbvre etc.). Dabei verstehe ich den ›rurbanen Raum‹ als Produkt dieses Zusammenspiels, das sich aus ganz unterschiedlichen Teilräumen mit je spezifischen urban-ruralen Eigenschaften zusammensetzt. Die Teilräume sowie ihre gestaltenden Prozesse, gilt es vor dem Hintergrund einer progressiven Auseinandersetzung mit ›rurbanen Landschaften‹, sowohl auf empirischer als auch epistemologischer Ebene weitergehend kritisch zu untersuchen (vgl. Champion/Hugo 2004; Angelo/Wachsmuth 2014). 4 | Verschiedene Ansätze sowohl im Bereich der post-marxistischen Kapitalismuskritik (vgl. Gibson-Graham/Miller 2015) als auch im Bereich der Theorie des Entwerfens urbaner Landschaften und Systeme (vgl. Fezer/Schmitz 2004; Seggern/Werner/Grosse-Bächle 2008), beziehen sich auf ein Verständnis von Landschaft als das räumliche Produkt vielschichtiger Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt. Hier möchte ich anschließen, um mit einem Bezug zu dem Begriff Umwelt ein erweitertes Bewusstsein zu schaffen, das politische, ökonomische und ökologische Prozesse sowie das Zusammenleben mit ›more-than-human actors‹ (vgl. Haraway 2015) les- und brauchbar macht. Damit möchte ich die eingangs am Beispiel der Installation ›0m Zeichen‹ beschriebene kulturelle Konstruktion des Landschaftsbegriffs gezielt erweitern, um die Basis einer sozialökologisch nachhaltigen Planung rurbaner Landschaften zu schaffen.

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bens damit begonnen haben ihren individuellen Bezug zur eigenen Umwelt kritisch zu hinterfragen und neu zu erproben. Ähnlich wie Gette und Burckhardt es vor mehr als 30 Jahren versucht haben, möchte ich so eine Art Neujustierung, bzw. eine Neuverhandlung unseres individuellen Bezuges zu der uns umgebenden rurbanen Umwelt auf nicht nur landschaftsbetrachtender und -theoretischer, sondern vielmehr auch auf landschaftsgestaltender Ebene anregen. Damit geht es mir nicht nur darum einen konkreten Bezugspunkt für diese Überlegungen innerhalb der Region Vallagarina zu schaffen, sondern vielmehr diese zu nutzen, um in der Folge ein sozial-ökologisches Denk- und Handlungsmodell abzuleiten, welches bestehende und zukünftige Planungs- und Gestaltungsprozesse in und mit rurbanen Landschaften um eine grundsätzlich verantwortungsvolle und ethische Dimension gegenüber unserer Umwelt erweitert. Abschließend möchte ich meine Überlegungen nutzen, um mögliche kooperative Formen einer rurbanen Landschaftsentwicklung zu skizzieren. Dabei geht es mir weniger um einen neuen Beitrag zu konkreten Planungsansätzen für rurbane Landschaften selbst, als vielmehr um die Neuverhandlung einer gegenüber ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Herausforderungen verantwortungsvoll handelnden Grundlage, auf der wir zukünftige Planungen und Gestaltungen unserer rurbanen Umwelt überhaupt denken und möglich machen können.

E ntfremdung : D ie R egion V all agarina im K onte x t globaler U rbanisierungsprozesse Das Gegenteil einer sich selbst in der umgebenden rurbanen Umwelt verortenden und stetig bewusstmachenden Handlung, auf die uns Gettes Experiment im Kasseler Park Wilhelmshöhe hinweisen will, kann als die Handlung bzw. der Prozess einer zunehmenden Entfremdung beschrieben werden. Eine Entfremdung von den Beziehungen und Prozessen, die unser alltägliches Leben in und mit der rurbanen Umwelt gestalten. Damit möchte ich mich auf den Begriff der Entfremdung im Sinne der neueren Sozialphilosophie beziehen und verstehe den Entfremdungsprozess als eine zunehmende Beziehung der Beziehungslosigkeit. Eine Beziehungslosigkeit, welche entfremdete Verhältnisse erzeugt, in denen wir uns als Subjekt, sowohl uns selbst als auch gegenüber der zunehmend als fremd erfahrenen Umwelt sowie ihren inhärenten und gestaltenden

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Prozessen, entmachtet fühlen (vgl. Jaeggi 2016). Entfremdung beschreibt somit das Herauslösen des Subjekts aus ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Zusammenhängen, ein Bezugsverlust zwischen Größen, die dennoch in einem Verhältnis zueinander stehen. Es handelt sich dabei nicht um die Beschreibung des Nichtvorhandenseins, sondern vielmehr um die Qualität von Beziehungen. Dass wir im Kontext weitreichender Globalisierungsprozesse zunehmend unterschiedliche Formen der Beziehungslosigkeit erkennen, lässt sich anhand der tiefgreifenden Transformationsprozesse innerhalb der alpinen Region Vallagarina auf mehreren Ebenen veranschaulichen. Ein zunächst einfacher Blick in die teils aufwendig gestalteten Werbebroschüren für die Region reicht aus, um eine erste Dimension der Entfremdung von der real erscheinenden rurbanen Landschaft zu verdeutlichen. Die Imagination einer farbenreich blühenden, ländlich-alpinen Idylle wird in diesen Broschüren durch mannigfaltige Wortkonstruktionen wie beispielsweise ›Eine Symphonie aus Gerüchen und Farben‹ vorstellbar gemacht. Auf dem ›Trail of Peace‹ wird versprochen, dass man in Mitten unberührter Gebirgslandschaften seine Sinne entdecken und beispielsweise eine ›harmonische Atmosphäre für die gesamte Familie‹ genießen könne. Diese sprachlichen Kompositionen werden illustriert durch Abbildungen von traditionellen Kulturgütern wie Burgen und Schlössern, oder explizit handgemachten Produkten wie beispielsweise Wein und Käse. Immer wieder angeführte architektonische Highlights, wie beispielsweise das durch den Architekten Mario Botta gestaltete Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Rovereto (MART, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto), tragen ihren Teil zur Attraktivitätssteigerung eines gezielt für die Tourismusindustrie inszenierten Landschaftsbildes bei (APT Rovereto e Vallagarina 2016). Diese Art der Konstruktion eines idealisierten ländlichen Landschaftsbildes kann als eine soziokulturelle Entfremdung von der real erscheinenden rurbanen Umwelt gedeutet werden. Sie ist Ausdruck einer soziokulturellen Grenzziehung zwischen den Polen Stadt und Land, welche sich lediglich räumlichen Beschreibungen längst vergangener (oder nie existenter?) Eigenschaften ländlicher Räume bedient, um spezifische Sehnsüchte und individuelle Erwartungshaltungen gegenüber dem idyllischen Ländlichen zu konstruieren (Redepenning 2017: 35). Folgen wir den Ausführungen Redepennings, dann zeigt sich, dass Grenzziehungen hierbei nicht nur trennend, sondern auch und vor allem verbindend wir-

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ken. Grenzen sind Werkzeuge des sozialen Ordnens und erschaffen aufgrund ihrer Komplexitätsreduktion (in unserem Fall die Imagination des idyllischen Ländlichen) einen hohen Grad an sozialer und psychischer Verbindlichkeit, formen Gemeinschaften und erzeugen das Gefühl von Sicherheit. In einer Zeit zunehmender globaler Krisen, der Omnipräsenz prekärer Lebenswelten sowie wachsender Ungleichheiten, könnte genau diese Betrachtung durch die Brille der soziokulturellen Grenzziehung die gegenwärtig auf blühende Renaissance des idyllischen Ländlichen (vor allem innerhalb westlicher Gesellschaften) und das damit verbundene Festhalten am dichotomischen Denken zwischen Stadt und Land erklären. Stellen wir diesem in den Werbebroschüren gezeichnetem Bild einen tatsächlichen Besuch in der Region gegenüber, so zeichnet sich schnell die brutale Dominanz eines ganz anderen Bildes. Ein Bild, das eine durch großmaßstäbliche Produktions-, Transport- und Energieinfrastrukturen zerschnittene Landschaft zeigt. Eine Art räumlich fragmentierte, durch verschiedene zeitliche Paradigmen gezeichnete, teils zerrissene Landschaft. Alte Siedlungsstrukturen und ländliche Gebäudetypologien sind weitergebaut, teils neu interpretiert, sie finden sich unmittelbar angrenzend an großflächigen Industriearealen, gewaltige Hochspannungsleitungen durchziehen zudem die Landschaft, dazwischen sind immer wieder kleinflächig aufgeteilte Weinanbaugebiete zu entdecken (Abb. 1). Abbildung 1 und 2: Transport- und Energieinfrastrukturen in der Region Vallagarina in Trient, Italien

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In Mitten dieses Landschaftsbildes, parallel zum Fluss Etsch, schlängeln sich, in unregelmäßigen Abständen überspannt und untertunnelt von zahlreichen Auto- und Fußgängerbrücken, die größtenteils vierspurige

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Brennerautobahn und die Brennerbahn durch das Tal (Abb. 2). Mobilität ist das zentrale Element der Region. Im Durchschnitt passieren pro Tag etwa 30.000 Autos, 6000 LKWs und 240 Züge die Vallagarina. Diese Zahlen machen nicht nur die weit in die römische Kaiserzeit zurückreichende Bedeutung der Vallagarina als einen wichtigen Produktions-, Handels- und Transitort zwischen Mittel- und Südeuropa auf den ersten Blick deutlich, sondern visualisieren zudem die enorme Einwirkung der Mobilitätsinfrastruktur auf die Landschaft. Das landschaftliche Bild, welches sich hier abzeichnet, ist das den Alltag nahezu aller Menschen visuell und physisch dominierende Bild, die sich durch die Region der Vallagarina bewegen. Im Gegensatz zu der in den Werbebroschüren abgebildeten Konstruktion einer archetypischen, stets Ruhe und Entspannung schenkenden Tourismuslandschaft, handelt es sich um eine Landschaft, die durch real sichtbare Widersprüche, durch räumlich-gesellschaftliche Brüche und Paradigmen sowie durch das dichte Nebeneinander ganz unterschiedlicher und auf die Landschaft einwirkender Interessen und Konflikte geprägt ist. Es ist das komplexe und vielschichtige Bild einer rurbanen Landschaft (Abb. 3). Ein aus ursprünglich ländlichen Strukturen heraus gewachsenes, im globalen Austausch stehendes, gesellschaftlich und räumlich urbanisiertes, gleichzeitig jedoch stark fragmentiertes Landschaftsgeflecht (vgl. Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010). Abbildung 3: Blick über das Tal der Vallagarina in Trient, Italien

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Am Beispiel des globalisierten Weinbaus der Vallagarina lassen sich weitere Dimensionen unserer Entfremdung von der rurbanen Umwelt verdeutlichen. Traditionell ist der Weinbau in der Vallagarina von kleinflächigen Anbaustrukturen, teils auch in höheren und steileren Lagen,

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geprägt. Auch heute noch bewirtschaften knapp 8.500 Weinanbauende mehr als 10.000 Hektar Fläche innerhalb der Region. Waren es jedoch bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem sub-regionale Netzwerke aus Kooperativen, die den Weinbau mit ihrer Heterogenität in der Anbauweise und einem vorwiegend selbstversorgenden und in die Region eingebetteten Wirtschaftsansatz prägten, so hat sich der Weinbau heute zu einer global vernetzten und effizient gestalteten Hochleistungsindustrie mit Monopolcharakter entwickelt. Mehr als 90 Prozent des in der Region produzierten Weines sind gegenwärtig für den internationalen Markt im unteren Preissegment bestimmt. Mit dieser Polarisierung weitete sich auch der Anbau für den globalen Markt herkömmlicher, für die Region jedoch untypischer Rebsorten, wie beispielsweise Chardonnay und Pinot Grigio, auf bis zu 80 Prozent der gesamten Anbauflächen aus. Kontrolliert werden diese Monokulturen von den beiden großen Genossenschaften Mezzacorona und Cavit, die den zum größten Teil im Zweiterwerb arbeitenden Weinbäuerinnen und -bauern via digitaler Kommunikationssysteme genaue Anweisungen über die zu kultivierenden Rebsorten und Düngezeiten übermitteln. Landwirtschaftliche Flächen des Weinbaus haben sich in diesem Zusammenhang im Laufe der letzten Jahrzehnte zu fremdbestimmten Produktionszonen entwickelt, die immer mehr aus regionalen Ökonomien und Zusammenhängen herausgerissen werden. Weinbau als lokales Handwerk und damit als wissensbasierter Prozess wird im Kontext eines sich immer stärker monopolisierenden sowie am globalen Markt orientierenden Produktionsmodells zunehmend obsolet und aus der Region abgezogen. Für die Region bedeutende Innovationen auf lokaler Ebene können dadurch nicht mehr, bzw. nur noch schwer generiert sowie lokalspezifisches Wissen nicht mehr produziert und weitergeben werden. Damit gestaltet sich der ökonomisch-strukturelle Wandel auch und vor allem als ein kultureller Wandel (Willisch 2013: 60), der eine immer geringere regionale Bedeutung des Weinbaus (bei gleichzeitiger Hochleistungsproduktion) zur Folge hat. Die für die Region spezifische Kultur des Weinbaus und das ihr inhärente Wissen verschließen sich in der Folge zunehmend dem lokalen Zugang und führen zu einer weiteren Dimension der soziokulturellen Entfremdung gegenüber dem Weinbau im Speziellen sowie der rurbanen Landschaft im Allgemeinen. Die anhaltenden und auf dem kapitalistischen Wachstumsimperativ beruhenden Prozesse der Rationalisierung, Technisierung und Globalisierung führen zudem zu einer zunehmenden Beziehungslosigkeit und Entfremdung

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gegenüber ökologischen Schäden in der Region. Zwar sind die Folgen des großmaßstäblichen Einsatzes von Düngemitteln und Pestiziden im Weinbau nicht zu übersehen, jedoch fällt es lokalen Akteurinnen und Akteuren immer schwerer diese Prozesse zu verstehen, in der Folge aktiv zu verändern. Aufgrund des Anstiegs der Jahresdurchschnittstemperatur um etwa zwei Grad Celsius im Laufe der vergangen vier Jahrzehnte sowie der Monokulturen im Weinbau, wurden zudem sowohl verstärkte Regenfälle in den Sommermonaten, als auch eine größere Anzahl von Bodenerosionen und Murgängen in der Vallagarina gezählt. Zusätzlich tragen die ansteigende Mobilität und der dafür notwendige Ausbau der Transport- und Energieinfrastrukturen zum stetigen Anstieg der Kohlendioxid-Emissionen in der Region bei. Die aufgezeigten Entwicklungen in der Vallagarina stellen also die drängende Frage nach dem Wir in einer zunehmend fragmentierten, sich lokal verschließenden und damit entfremdeten Umwelt des Rurbanen. Wie wollen wir in und mit der rurbanen Umwelt (zusammen)leben? Wie können wir unseren lokalen Zugang zur eigenen Umwelt sichern, um die ihr inhärenten Prozesse zu verstehen und selbstbestimmt zu gestalten? Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus?

R esonanz : P raktiken der ›C ommunit y E conomy‹ als D enk - und H andlungsmodell Vermehrt lassen sich einzelne Praktiken innerhalb der Vallagarina beobachten, die gezielt versuchen, den zuvor beschriebenen Entfremdungsprozessen spätmoderner und spätkapitalistischer Zeit- und Gesellschaftsverhältnissen entgegenzuwirken. Ähnlich wie es uns Gettes Experiment aus dem Jahr 1985 lehrt, konstituiert das bewusste Verorten in der Landschaft, bzw. das aktive in Bezug setzen individueller Handlungen mit der eigenen Umwelt, die Basis dieser Praktiken. Die kritische Selbstverortung hilft den Praktiken und ihren Akteurinnen und Akteuren jedoch nicht nur dabei sich in eine direkte Verbindung zur Umwelt zu setzen, um diese zu gestalten, sondern macht gleichzeitig Abhängigkeiten und systemische Zwänge zur Umwelt sicht- und begreif bar. Ich möchte diese wechselseitige Beziehung mit dem vergleichen, was der Soziologe Hartmut Rosa als Resonanzerfahrung im Kontext authentischer Weltbeziehungen bezeichnet:

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»Gelingende Weltbeziehungen sind solche, in denen die Welt den Handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten auch wohlwollendes, entgegenkommendes oder ›gütiges‹ ›Resonanzsystem‹ erscheint.« (Rosa 2013: 9)

Resonanzerfahrungen entstehen dann, wenn das handelnde Subjekt mit sich selbst, mit anderen, mit Objekten, oder der Natur (zusammenfassend mit seiner Umwelt) in einer guten Verbindung, bzw. im Einklang steht. Das Erfahren von Resonanz bedeutet sich selbstwirksam erleben, eine grundsätzliche Empathie für sich selbst und seine Umwelt zu entwickeln, sich in andere hineinversetzen zu können, schließlich mit seiner Umwelt in aktiver Verbindung zu stehen sie dadurch aktiv lesen und gleichzeitig gestalten zu können (vgl. Rosa 2016). In meinen Augen bildet dies die Basis für jede Art eines verantwortungsbewussten und sozial-ökologisch nachhaltigen Eingreifens und Gestaltens der eigenen Umwelt. Bewegen wir uns nun aufmerksam durch die Vallagarina und schärfen unseren Blick, dann begegnen wir einer Reihe von Praktiken, die im Laufe der vergangenen Jahre damit begonnen haben, das gemeinschaftliche Zusammenleben in und mit ihrer rurbanen Umwelt auf Basis unterschiedlicher Resonanzerfahrungen neu zu verhandeln. Eine dieser Initiativen ist ›comun’Orto‹. Die Gruppe wurde vor etwa drei Jahren durch neun lokale Vereine aus verschiedenen Bereichen der Kultur, Sozialarbeit sowie der internationalen Zusammenarbeit initiiert. Mittlerweile zählt sie etwa 60 aktive Mitglieder, zu denen Menschen unterschiedlicher Generationen und Herkunft gehören. Alle Akteurinnen und Akteure verbindet das Gefühl, stärker und nachhaltiger miteinander in Verbindung treten zu wollen, um gemeinsam ein Netzwerk sozialen und ökologischen Engagements innerhalb der Region und darüber hinaus zu bilden. Was mit der Aktivierung zweier von der Kommune Rovereto zur Verfügung gestellter und zentral gelegener Restgrundstücke zunächst als Gemeinschaftsgärten begann, ist mittlerweile zu einer das alltägliche kulturelle und gesellschaftliche Leben bestimmenden Initiative in der Vallagarina gewachsen. Basierend auf Ansätzen der Permakultur und Subsistenzwirtschaft fokussiert die Gruppe auf den Austausch von gemeinsam erarbeitetem Wissen, um eine ökologisch nachhaltige Ernährung und den regionalen Anbau von Nahrungsmitteln zu stärken. Die Zusammenarbeit mit Kindergärten und Schulen sowie mit Menschen unterschiedlichster Fluchterfahrung steht hierbei im Vordergrund. Gepaart mit einer Reihe

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von kulturellen Veranstaltungen, wie beispielsweise Konzerte und Lesungen, gemeinsame Landschafts- und Kräuterspaziergänge, oder das Sammeln, Trocknen und Herstellen eigener Teesorten, hat comun’Orto im Laufe der Zeit eine solidarische Nachbarschaft geschaffen, in der lokale Ressourcen gemeinsam genutzt, Wissen und Waren getauscht und neue lokale Ökonomien getestet werden (Abb. 4). Abbildung 4 und 5: Die Initiativen ›comun’Orto‹ und ›Il Masetto‹

Hannes Langguth (Abbildung 4), Giulia Mirandola (Abbildung 5)

Eine weitere Initiative, die sich mit ihrer Umwelt aktiv in Verbindung setzt, findet sich in einem Seitental der Vallagarina. Es ist die Gruppe ›Il Masetto‹. Vor etwa drei Jahren stellte die Gemeinde Geroli verschiedene leerstehende Gebäude aus kommunalem Besitz zur Verfügung, um durch eine Mietfreiheit von einem Jahr Initiativen zu ermutigen die teils peripheren Orte kreativ umzunutzen. Dank eines Netzwerks aus international tätigen Illustratorinnen und Illustratoren sowie Verlegerinnen und Verlegern hat sich ›Il Masetto‹ mittlerweile zu einem hoch frequentierten Ort der kulturellen Begegnung zwischen lokalen und internationalen Akteuren entwickelt. Künstlerische Seminare, literarische Veranstaltungen und explorative Forschungsformate: im Zentrum der Aktivitäten stehen verschiedene Methoden alternativer Landschaftswahrnehmung durch das gemeinsame Wandern, Zeichnen, Diskutieren und Verhandeln vor Ort (Abb. 5). Eine wiederum andere Initiative wird geprägt durch die Arbeit und das Engagement des international tätigen Design Kollektivs ›Brave New Alps‹. In einem ungenutzten Teil eines ehemaligen Hotels, welches gegenwärtig als Unterkunft für Menschen mit Fluchterfahrung umgenutzt wird, schafft das ›Quercia Lab‹ eine neue Infrastruktur in Form eines Arbeits- und Veranstaltungsraumes sowie einer Holz- und Druckwerkstatt. Sowohl die Bewohnenden der Unterkunft, als auch an-

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dere prekär lebende Menschen der Vallagarina finden hier zahlreiche Möglichkeiten des gemeinsamen Arbeitens und Zusammenlebens, einen sozialen Treffpunkt innerhalb ihres Alltags sowie Perspektiven zur selbstbestimmten Entwicklung alternativer Ökonomien. Trotz einzeln bestehender Verbindungen zwischen individuellen Akteurinnen und Akteuren untereinander, verbleibt eine Vielzahl dieser Praktiken innerhalb der Vallagarina vereinzelt, fragmentiert und in Teilen unsichtbar. Die ebenfalls durch Brave New Alps mitbegründete Initiative ›circolo del suolo‹ (dt. Kreislauf der Erde) hat damit begonnen, dieser Fragmentierung entgegen zu wirken. Durch eine Reihe von Vernetzungsund Informationsaktivitäten, wie beispielsweise regelmäßig stattfindende Diskussionsrunden und gemeinsame Kochabende, der Organisation von thematischen Workshops oder auch das Erstellen von Informationsflyern, versucht die Initiative nicht nur die in der Region vielfältig aktiven Praktiken miteinander zu vernetzen, sondern darüber hinaus auch die grundsätzliche Frage nach der Art und Weise des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in und mit der rurbanen Umwelt der Vallagarina mit möglichst vielen Agierenden aus Zivilgesellschaft, Industrie, Wissenschaft und Politik weiterführend zu diskutieren und neu zu verhandeln. Wie der Name bereits verrät, geht es circolo del suolo sowie den anderen zuvor vorgestellten Praktiken, um die gemeinsame Gestaltung eines sozial-ökologisch nachhaltigen und selbstbestimmten Zusammenlebens zwischen Mensch und Umwelt. Was die Initiativen dabei zudem vereint, ist ihr verantwortungsvolles Handeln. Dieses charakterisiert sich in erster Linie durch seinen lokalen und kleinräumlichen Bezug, durch gemeinschaftlichen und gemeinwohlorientierten Besitz sowie durch Prozesse der gemeinsamen Kontrolle und Entscheidungsfindung. Darüber hinaus agieren sie umweltgerecht, ethisch, kulturell divers, sozial eingebettet und lebensorientiert. Dieses Verantwortungsbewusstsein in Bezug setzen mit ihrer rurbanen Umwelt, erlaubt den individuellen Akteurinnen und Akteuren nicht nur die ihre Umwelt beeinflussenden Prozesse wahrnehmen, sondern darüber hinaus auch im Sinne einer gemeinwohlorientierten und sozial-ökologisch nachhaltigen Zukunft gestalten zu können. Diese Art des bewussten Handelns ›in‹ und ›mit‹ der rurbanen Umwelt macht die Initiativen zu entscheidenden Expertinnen und Experten rurbaner Landschaftsentwicklung innerhalb der Region. Die feministische Kapitalismuskritik von J.K Gibson-Graham sammelt vergleichbare Praktiken unter dem Begriff der ›community econo-

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my‹. Praktiken einer diverse economy, die Formen ökonomischer Diversität jenseits kapitalistischer Verwertungs- und Akkumulationslogik in das Zentrum ihres Denkens und Handelns stellen, um so den Ausgangspunkt einer gemeinsamen Vision eines postkapitalistischen Zusammenlebens zu entwickeln (vgl. Gibson-Graham 2006). Diese Perspektive lässt sich durch die Darstellung der Eisberg-Ökonomie der ökofeministischen Analyse verdeutlichen (Abb. 6). Abbildung 6: Das Modell der ›Eisberg-Ökonomie‹

Brave New Alps auf Basis von J.K. Gibson-Graham

Nur ein Zehntel der im Kapitalismus tatsächlich existenten ökonomischen Leistungen sind monetär in Wert gesetzt und daher sichtbar. Ermöglicht und getragen werden sie hingegen von etwa neun Zehntel anderer Leistungen, bei denen kein Geld fließt oder kein Kapital akkumuliert wird. Dieser weitaus größere Teil bleibt daher unter der Oberfläche verborgen und wird kaum bis gar nicht sichtbar. Hierzu zählen beispielsweise Tauschhandel, Freiwilligenarbeit, Praktika, Ehrenamtstätigkeiten, Konsumentenkooperativen oder unbezahlte Sozial- und Hausarbeit (vgl. Gibson-Graham 2013). Diese postkapitalistische Perspektive möchte ich nutzen, um ein auf dem Konzept der community economy basierendes Denk- und Hand-

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lungsmodell zu schaffen, welches die Chance bietet, den kapitalistischen Hegemonieanspruch innerhalb unseres alltäglichen Zusammenlebens, inklusive der zuvor beschriebenen Dimensionen unserer individuellen Entfremdung von der rurbanen Umwelt, zu überwinden. Indem sie uns gezielt den Blick für alternative, kleinräumliche, gemeinwohlorientierte und sozial-ökologisch nachhaltige Praktiken öffnet, kann die Perspektive der community economy in meinen Augen wesentlich dazu beitragen, eine verantwortungsvolle Grundlage für das zukünftige Verhandeln und Gestalten unserer rurbanen Umwelt (damit auch rurbaner Landschaften) zu erschaffen. Dazu müssten sich jedoch auch bestehende Planungs- und Gestaltungsansätze rurbaner Landschaften für diese Perspektive öffnen. Es bräuchte also den Mut, die Praktiken der community economy in das Zentrum zukünftiger Planungen und Gestaltungen zu rücken, um in der Folge ein gemeinsames Rahmenwerk zu entwickeln, innerhalb dessen, neben den herkömmlichen ökonomischen Formen, Praktiken der community economy sicht- und wahrnehmbar, gefördert und gestärkt sowie innerhalb der Region miteinander in Austausch gebracht werden. In der Konsequenz braucht es kooperative Formen rurbaner Landschaftsentwicklung, die sowohl Planungsinstitutionen als auch Praktiken der community economy einbeziehen, um die gemeinsame Entwicklung einer größeren Vision für das zukünftige Zusammenleben ›in‹ und ›mit‹ der rurbanen Umwelt auf regionaler Ebene neu verhandeln zu können.

K ooperative F ormen rurbaner L andschaftsentwicklung Der Geograph und Stadtforscher Edward Soja hat in einem seiner letzten Aufsätze die Region, bzw. das Denken und Handeln innerhalb der Regionen, als eine entscheidende Bezugsgröße für die nachhaltige Gestaltung lokal-globaler Wechselbeziehungen im Kontext globaler Urbanisierungsprozesse beschrieben. Für die zukünftige Entwicklung von Regionen fordert er unter anderem die kritische Überprüfung demokratischer Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse auf regionaler Ebene, um die regionale Mitbestimmung lokalspezifischer Initiativen zu fördern und skizziert so die Vision eines »community-based regionalism« (Soja 2015: 380). Wie können also Praktiken der community economy (als Expertinnen und Experten der rurbanen Umwelt) für eine kooperative

Zwischen Entfremdung und Resonanz

und sozial-ökologisch nachhaltige Entwicklung der Region brauchbar gemacht werden? Wie können sie, unter Einbezug weiterer lokaler Potentiale (räumlich, soziokulturell, ökonomisch etc.), auf regionaler Ebene in Verbindung gesetzt werden? Und wie können sie gezielt in die Gestaltung regionaler Entwicklungspläne einbezogen werden? Stellen wir uns dazu demokratisch legitimierte Institutionen der Region vor, ähnlich dem Kooperativen- oder Genossenschaftsmodell. Es könnte eine pro Region sein, vielleicht sind es aber auch mehrere. Ihre Mitglieder sind aus einzelnen Nachbarschaften, bzw. Dorfgemeinschaften und Initiativen heraus für eine bestimmte Zeit gewählt, ähnlich dem Räteprinzip, wie es bereits in urbanen Zentren und Nachbarschaften praktiziert wird 5. Ihre Mitglieder bringen ganz individuelle Ressourcen, Potentiale, Qualifikationen und Wünsche in die Verhandlung um eine zukünftige regionale Entwicklung ein. Dabei geht es nicht nur um monetäre Güter oder räumliche Ressourcen, sondern auch um beispielsweise Wissen, Handwerk, oder Aktivismus (Abb. 7). Gemeinsam entwickeln, beraten und verhandeln sie eine, oder auch mehrere Visionen als Grundlage potentieller Entwicklungsansätze für die Region. Bestehende Planungs- und Verwaltungsinstitutionen werden dabei nicht ersetzt, sondern ergänzt. Sie wirken vielmehr beratend und unterstützend, in Teilen moderierend, bringen darüber hinaus ihre Fachkenntnisse gezielt ein. Im Zusammenspiel mit bestehenden Rahmenplänen definieren die Mitglieder gemeinsame Zielstellungen und vereinbaren darüber hinaus Regeln für die kooperative Entwicklung der Region. Unter Mithilfe von Planungsinstitutionen werden zudem situativ angepasste Planungsansätze entwickelt, welche die lokalspezifische Wirkung bestehender Instrumente entscheidend erweitern.

5 | In einzelnen Städten, wie beispielsweise Hamburg, sind sogenannte Zukunftsräte bereits eingesetzt. Sie setzen sich aus Bürgerinnen und Bürger zusammen und agieren als beratende Institutionen der Politik und Planung in der Entwicklung von Lösungen auf aktuelle Fragen der Transformation. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz sehen in der umfassenden Institutionalisierung von Zukunftsräten eine Möglichkeit vielversprechende Werte, Prinzipen und Visionen von Bürgerinnen und Bürgern abzubilden und dadurch die bisherigen demokratischen Strukturen von der lokalen, über die regionale, bis hin zur europäischen Ebene progressiv zu ergänzen (vgl. Leggewie/ Nanz 2016).

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Abbildung 7: Entwurf eines kooperativen Modells rurbaner Landschaftsentwicklung für die Region Vallagarina

Design Studio ›Alpine Commons‹, Wintersemester 2016/17, Habitat Unit, TU Berlin (Leona Lynen, Lukas Pappert, Lucas Rauch, Philip Schläger)

Durch alternative Finanzierungs- und Investitionsmodelle wie beispielsweise die Einführung von Erbpachtverträgen, oder die Festlegung einer im Sinne der ökologischen Verträglichkeit ausbalancierten Landnutzung, kann zudem der ökonomische Druck auf die Ressource Land reduziert und eine nachhaltigere Landnutzung initiiert werden. Auch die Anpassung der Pachtbeträge an die jeweilige Art der Landnutzung, also ob profitorientiert oder nicht, wäre vorstellbar und kann beispielsweise die soziokulturelle Heterogenität und Biodiversität in der Region stärken. Lokale und kleinräumliche Produktionsweisen der community economy können dadurch innerhalb der Region stärker etabliert und gezielt gefördert werden. Eine solche kooperative und regional vernetzte Institution, bestehend aus Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft, Planung, Verwaltung und Politik kann dazu beitragen (ähnlich wie es die Initiative circolo del suolo vor Ort bereits begonnen hat), eine gemeinsame Vision

Zwischen Entfremdung und Resonanz

für die zukünftige Entwicklung der rurbanen Umwelt in der Vallagarina zu verhandeln. Gerade vor den eingangs aufgezeigten lokalen Herausforderungen im Kontext globaler Transformationsprozesse, der damit verbundenen Entfremdung von der eigenen Umwelt sowie dem Verlust einer sozial-ökologisch nachhaltigen rurbanen Landschaftsentwicklung, erscheint ein solcher Ansatz kooperativer Landschaftsentwicklung auf regionaler Ebene wichtiger denn je.

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A bbildungen Abbildung 1-4: Hannes Langguth. Abbildung 5: Giulia Mirandola. Abbildung 6: Brave New Alps auf Basis von J.K. Gibson-Graham.

Zwischen Entfremdung und Resonanz

Abbildung 7: Design Studio ›Alpine Commons‹, Wintersemester 2016/17, Habitat Unit, TU Berlin (Leona Lynen, Lukas Pappert, Lucas Rauch, Philip Schläger).

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Rurbane Landschaften ERFINDEN

Urban-rurale Verknüpfungen entwerfen Kathrin Wieck, Undine Giseke Das Rurale bewegt sich aus seinem Schattendasein. Urbane Bewohnerinnen und Bewohner ziehen aufs Land, rurale Lebenspraktiken drängen in die Stadtzentren. Digitalisierung der Landwirtschaft, Satellitensteuerung, Energiewende, die Herausforderungen des Klimawandels, Globalisierung der Nahrungsproduktion, Landverluste, städtische Lebensstile – das Ländliche inkorporiert die planetaren Prozesse der Urbanisierung und erfindet sich dabei neu. In diesem Beitrag geht es jedoch nicht nur um das Rurale, sondern auch um eine neue Sichtweise auf urban-rurale und stoffliche Verknüpfungen, und damit um eine veränderte Sicht auf Etwas, was sich lange durch Grenzen definiert hat. Stadt und Land, Natur und Kultur, Akteurinnen bzw. Akteure und Objekte – die Vermischung von Kategorien erfordert ein Nachdenken über die Bezugssysteme unseres Wissens und Handelns. Damit einher geht eine Reflexion über das räumliche und transformative Wirken von Landschaftsarchitektur, die aus der Geschichte ihrer Disziplin heraus die Kompetenz hat, diese Verknüpfungen zu identifizieren, sie zu sensibilisieren und sie zu verändern. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihr, lokale Probleme mit globalen Fragestellungen zusammenzubringen – ein Anspruch, der mit dem Anthropozändenken erneut an Bedeutung gewinnt (vgl. Chakrabarty 2015: 158) und der im Umgang mit Natur die Frage nach einer tragfähigen Zukunft unserer Lebensräume aufwirft. Für eine Ertüchtigung von urban-ruralen Verknüpfungen bedarf es allerdings einer Neuorientierung der landschaftsarchitektonischen Praxis. In sich urbanisierenden Regionen wie auch unter Schrumpfungsbedingungen steht eine tragfähige Entwicklung des urban-ruralen Nexus vor großen Herausforderungen. Was bedeutet es für das Entwerfen, den Blick stärker auf das Zusammenwirken von urbanen, natürlichen und technischen Systemen zu richten?

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Kathrin Wieck, Undine Giseke

Abbildung 1: Der Betrachtende und die Objekte – In welcher Landschaft leben wir heute?

Undine Giseke, 2017

»In welcher Landschaft wollen wir leben?« – fragt beispielsweise die IBA Thüringen (IBA Thüringen 2016). Diese Frage wird an die Bewohnenden und Expertinnen und Experten der Region, aber auch an uns alle gerichtet. Beantwortet man sie vor dem Hintergrund der Anthropozändiskussion rüttelt sie durchaus an dem historischen Landschaftsverständnis, das seit Petrarcas Bergbesteigung den Menschen zum Betrachtenden und damit zum Gegenüber einer schönen Landschaft gemacht hat. Das Anthropozän verweist uns darauf, dass sich die Standpunkte und Zeitskalen verändern. Ist die Landschaft des Anthropozäns schön? Von welcher Landschaft sprechen wir, wenn sie weder der Stadt als Gegenwelt noch dem Betrachtenden als Umwelt gegenübersteht? In Zeiten des Klimawandels katapultieren uns die Prozesse der Urbanisierung – egal wo, in Stadt und Land, in Nord und Süd – in die Intimität eines Hyperobjekts, wie Timothy Morton es nennt oder in eine »zero landscape« (Morton 2011: 80, 81). Morton meint damit, die Trennung von erster Person (das betrachtende Subjekt) und dritter Person (das betrachtete Objekt) aufzugeben (vgl. ebd.: 82). Es ist eben diese »Null-Personen-Perspektive«, die wir erst

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

einnehmen müssen gegenüber einer Landschaft, die selbst aktiv ist und urban-rural gleichzeitig (ebd.: 81). Jane Bennett spricht auch von einer Handlungskompetenz der Objekte, die pulsieren und immer wieder Verbindungen eingehen (vgl. Bennett 2010: 23f.). Erkenntnisgewinnung und sinnliche Erfahrbarkeit der Verknüpfungen, diese Erwartungshaltung stellen wir an die Kompetenz der Landschaft Null. Drei Ansätze aus dem laufenden Wissenschaftsdiskurs, die sich mit den Fragen von Verknüpfungen beschäftigen, können hier aufgerufen werden: Anthropozän, urbaner Metabolismus und Assemblage. Als konzeptionelle Zugänge für eine neue Verknüpfungskultur, die durch das landschaftsarchitektonische Entwerfen fruchtbar gemacht werden kann, werden diese Ansätze im Fachgebiet Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung der TU Berlin in Lehre und Forschung verwendet.

D rei konzeptionelle Z ugänge Das Anthropozän verweist uns darauf, dass mit dem Verlust einer Stabilität des natürlichen Systems der Mensch seine unmittelbare Teilhabe an den allumfassenden lokal-globalen Prozessen der Urbanisierung und den irreversiblen Folgen der Industrialisierung erfährt. Aus dieser Perspektive ist der Mensch zu einer gestaltenden Kraft in einer Größenordnung geworden, die bisher nur den natürlichen Kräften zugeschrieben war. Gleichermaßen erwacht damit ein Interesse, sich neben der Wirkungsmacht des Menschen den tiefen evolutionären Prozessen der Erdgeschichte (deep time) und der Tiefe der geologischen Erdschichten, der Geomorphologie (deep ground), intensiver zu widmen. Mit der Überwindung der Zentriertheit auf den Menschen stehen wir vor der Herausforderung, dass wir auch unsere Wissensproduktion diesen Umwälzungen anpassen müssen. Hochwasser, Überschwemmungen und Dürre, aber auch schrumpfende Ressourcen von Wasser und Nahrung verdeutlichen uns, dass wir Bestandteil komplexer Stoff-, Energie-, Kapital- und Informationsflüsse sind (vgl. Renn/Scherer 2015: 13). Diese Prozesse haben eine bisher ungekannte Dimension erreicht. Sie sind – wie Neil Brenner es sagt – planetarisch und verändern auch Wüsten, die Antarktis und Ozeane (vgl. Brenner/Schmid 2014: 162). Sie verändern auch das Rurale schneller und radikaler als die Stadt (vgl. Koolhaas 2014). Wie der Journalist und Philosoph Timothy Morton, die Politikwis-

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senschaftlerin Jane Bennett oder der Soziologe Neil Brenner kratzt auch der Architekt Rem Koolhaas mit seinen Ausführungen an Zuordnungen, mit denen wir bisher unser Umfeld beschrieben haben. Alle diese Ansätze stellen bisherige Kategorien und funktionale Zuordnungen von Stadt und Land unumstößlicher denn je in Frage. Wir haben ihre radikalen Positionen als Aufforderung für die Landschaftsarchitektur verstanden, sie in verknüpfende Sichtweisen und Entwurfsstrategien zu übersetzen. Dabei zeigt sich sowohl in der Forschung als auch in der entwerferischen Praxis, dass sich die urban-ruralen Transformationen nicht mehr mit morphologischen und funktionalen Problemlösungen bewältigen lassen. Sie erfordern vielmehr ein Zusammenspiel aus systemischen Ansätzen und szenarischem Denken, das Verlassen bisheriger Kategorien, die Entwicklung produktiver Einheiten sowie das aktive Stimulieren und Entwerfen von Austauschprozessen. Die Landschaftsarchitektur muss sich der Herausforderung stellen, die Schnittstellen dieses Zusammenwirkens zu identifizieren, neu zu bewerten und Austauschprozesse anzuregen. Abbildung 2: Starkregenereignis – Inmitten des Objekts

Undine Giseke, 2017

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

›Das Ohr an die Erde zu legen‹ und dabei die Wahrnehmung auf mögliche urban-rurale Zusammenhänge und Landschaften zu richten, bleibt dabei eine räumliche und entwerferische Aufgabe. Eine solche integrierte Wissensproduktion kann federführend aus der Landschaftsarchitektur kommen. Federführend deshalb, da sie die Kompetenz hat, unterschiedliches disziplinäres Wissen, kreative Praxis und räumliche Transformation zusammenzubringen. Dies ist nicht nur eine wissenschaftlich-forschende, sondern auch eine entwerfend-konzeptionelle Aufgabe. Materielle Stoffströme, die zum Funktionieren der Stadt notwendig sind, werden durch eine dichte Verflechtung von sozialen, natürlichen und technischen Systemen organisiert. Im Kontext des Leitbildes der hygienischen Stadt der Moderne sind viele dieser Prozesse in die Unsichtbarkeit verbannt worden. Im Konzept des urbanen Metabolismus drängen sie nun wieder verstärkt in die alltägliche Wahrnehmung. Es soll sichtbar und nachvollziehbar werden, wie die Stadt versorgt wird, was in sie hinein- und was aus ihr herausgeht. Es wird gegenwärtig wieder sehr viel offensiver hinterfragt, wie der urban-natürliche Stoffwechsel organisiert ist und wie wechselseitige Verknüpfungen von biophysiologischen Stoff- und Materialaustauschprozessen – wie Wasser, Energie, oder Nahrung organisiert, optimiert und als Teil der Stadt gestaltet werden können (vgl. Prytula 2010). Diese Umkehrung der Sichtweisen reicht bis zu Positionen, die Stadt als die räumliche Manifestation eines lokalen Stoffwechselprozesses definieren, wie Swyngedouw (2006) es macht. Swyngedouw veranschaulicht damit das Defizit der modernen Betrachtungsweise, Stadt und Natur zu entkoppeln. Jeder Stoffstrom hat eigene Infrastrukturkomponenten, die zunehmend weniger als rein technische Lösungen betrachtet, sondern im sozialen, kulturellen und räumlichen Sinn als interaktiv bezeichnet werden (vgl. Sijmons 2014; Giseke et al. 2017). Damit wird der urbane Metabolismus sehr interessant für den planerischen und entwerferischen Diskurs. Räumliche Strukturen und die Interaktivität zwischen Infrastrukturen und natürlichen Prozessen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen sowie die Wechselwirkungen zu stärken, kann zu einer zentralen Aufgabe von Landschaftsarchitektinnen und -architekten werden. Wie durch räumliches Eingreifen in komplexe urbane Landschaften Stoffaustauschprozesse strategisch weiterentwickelt werden können, hat die Architekturbiennale in Rotterdam ›Urban by nature‹ 2014 anhand von Projekten zu Komponenten wie Wasser, Sand, Wind, Biota etc. gezeigt (vgl. IABR 2014; Brugmans/Strien 2014) und so

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den landschaftsarchitektonischen Umgang mit dem urbanen Metabolismus auf die Agenda gesetzt. Ein weiterer Zugang, den landschaftsarchitektonischen Blick konsequent auf die Verknüpfungen zu richten, bieten aus unserer Sicht die theoretischen Ansätze zur Assemblage. Sie ermöglichen eine konzeptionelle, aber auch methodische Herangehensweise, Landschaft als Arbeitsfeld und in ihrer Handlungskompetenz sichtbar zu machen. Durch sie lassen sich die komplexen und wandelbaren Beziehungen von Mensch, Natur und Raum ansatzweise benennen und Abstand zu einer Sichtweise gewinnen, Stadt, Landschaft, Infrastruktur und Mensch getrennt voneinander und symptomatisch zu behandeln. Übergeordnet betrachtet, bezeichnet die Assemblage eine Vielzahl von Wechselwirkungen aus Akteurinnen und Akteuren, Komponenten und Prozessen. Assemblagen durchdringen alle Lebensbereiche, in denen Mensch, Natur und Technik aufeinandertreffen. Die theoretischen Ansätze dazu benennen in verschiedener Spezifizierung die Schnittstellen dieses stetig sich wandelnden Aufeinandertreffens und regen so zu einer reflektierenden Übersetzung für das landschaftsarchitektonische Wirken an. Assemblagen implizieren das Interagieren von Strukturen und Praktiken, von historischen Prozessen, aber auch alltäglichen wechselseitigen Verbindungen, der internen als auch der externen Beziehungen (vgl. Deleuze/Guattari 1987; de Landa 2005). Sie geschehen in multiplen Maßstäben und binden vielfältige menschliche und nicht-menschliche Akteure ein (vgl. Farías/Bender 2011). Sie stellen sozialräumliche und sozialnatürliche Verknüpfungen her (vgl. Gandy 2004). Sie speichern Wissen in Form von Soziomaterialität (vgl. Mc Farlane 2011). Sie erzeugen ungleiche Topographien und ›agencies‹ durch dynamische Materialitäten (vgl. Bennett 2010). Für die Landschaftsarchitektur übersetzt bedeutet dies alles eine mögliche Sichtbar-, Erfahrbar- und Bewusstmachung versteckter Wechselwirkungen. Im hier diskutierten Zusammenhang urban-ruraler Verknüpfungen sind Wechselbeziehungen angesprochen, die zwischen den geomorphologischen Prozessen der natürlichen Sphäre – wie Sedimentation, Strömung, Erosion, Pflanzenwachstum, Feuchtigkeit, Versandung – und den urbanen und infrastrukturellen Strukturen und Austauschprozessen stattfinden. Diese können Komponenten wie Produktion, Verteilung, Verarbeitung, Vermarktung, Konsumption, Recycling, Entsorgung von Stoffströmen wie Nahrung, Wasser, Müll, Energie etc. umfassen. Landschaft als Akteur hat innerhalb dieses Beziehungsgeflechts eine tragende

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und interaktive Position und »wetteifert« mit dem Wirken des Menschen (Bennett in Loenhart/Bennett 2011: 16). Eine wichtige Aufgabe, um diese komplexen Problemstellungen für die entwerferische Praxis der Landschaftsarchitektur zugänglich zu machen, ist, sie in handhabbare Informationen herunterzubrechen, wenn Urbanisierung und Klimawandel die Metadaten geben. Die Ausstellung ›Nervöse Systeme‹ in Fortsetzung des HKW Campus Projektes zum Anthropozän im Jahr 2016 nennt dieses Bewusst- und Erfahrbarmachen in Bezug auf eine Zugänglichkeit durch die alltägliche Praxis: »digestive work« (Marres 2016: 269). Unser Ansatz in den folgenden zwei Praxisbeispielen war es, mit dem Anthropozändenken, dem Konzept des urbanen Metabolismus und den Assemblagetheorien urban-rurale Verknüpfungen zu decodieren und zu stimulieren. Sie wurden räumlich und über verschiedene Maßstabsebenen hinweg, aber auch hinsichtlich ökonomischer Spielräume, sozialräumlicher Vernetzung, Orten und Arten der Wissensproduktion, als Ausdruck vermischter Lebensstile sowie im Versammeln unterschiedlichster menschlicher und nicht-menschlicher Akteure sichtbar gemacht.

V erknüpfungen urban - ruraler S phären in C asabl anca Welche neuen Verknüpfungen können geschaffen werden, wenn Landwirtschaft als integrativer Teil einer wachsenden Stadtregion verstanden wird? Casablanca, Marokkos größte Hafenstadt am Atlantik, gehört zu den schnell wachsenden Regionen der Welt. Sie nähert sich der 5 Millionen-Einwohner-Grenze. Verlief ihr Wachstum zunächst bandartig entlang der Küste, so drängt es seit der Errichtung des Flughafens verstärkt in das Hinterland der Metropole. In der Folge ist ein weitläufiger Flickenteppich aus dichten, teils auch informellen Siedlungskernen und Landwirtschaftsflächen entstanden. Wie kann aus dem willkürlichen Nebeneinander ein synergetisches Miteinander von Stadt und Landwirtschaft werden? Mit dieser Frage hat sich von 2005 bis 2014 das deutsch-marokkanische Forschungsprojekt ›Urbane Landwirtschaft Casablanca‹ (UAC) im Rahmen der deutschen Megacityforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auseinandergesetzt. Unter der Leitung der TU Berlin, Prof. Undine Giseke, ist als ein Ergebnis ein Konzept für eine pro-

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duktive grüne Infrastruktur entstanden, die auf mehreren Ebenen – der räumlich-morphologischen ebenso wie der funktionalen, metabolischen, ökonomischen und auch sozio-kulturellen Ebene – Einstiegsstrategien für eine solche Entwicklung formuliert und in vier Pilotprojekten beispielhaft demonstriert (vgl. Giseke et al. 2015). Innerhalb des Forschungsprojekts wurde mit vielen Akteurinnen und Akteuren gemeinsam ein mehrdimensionales Konzept für die Landwirtschaft in der Stadtregion erarbeitet, um diese vielfältigen Verknüpfungen der urbanen und ruralen Sphären in der Stadtregion aufzuzeigen und konkret zu initiieren. Die stadtregionale Landschaft trägt in diesem Ansatz nicht nur in verstärktem Maße zur Ernährung der Bevölkerung von Casablanca bei, sondern als produktive grüne Infrastruktur stellt sie zugleich Räume für Erholung und Freizeit oder zur Klimaregulierung bereit. Differenzierte Analysen der stadtregionalen Raummuster bildeten die Grundlage der transdisziplinär entwickelten Vorschläge für neue urbanrurale Morphologien. Diese zeigen – ausgehend vom Bestand – Verknüpfungen flächendeckend für die gesamte Stadtregion auf. Diese reichen von der Einbindung landwirtschaftlicher Mikroflächen in dichte Stadtquartiere als auch Dachterrassen oder Gemeinschaftsgärten bis hin zu produktiven Parks in Form von Grüngürteln und grünen Bändern, die die Stadt und ihre Quartiere gliedern und kühlen. In anderen Bereichen dreht sich das Verhältnis um: hier bildet die Landwirtschaft die flächige Basis, in die einzelne urbane Nutzungsinseln und ihre Infrastrukturen eingelagert sind. Wir haben Stadt und Landwirtschaft als interagierende Sphären in einer Stadtregion betrachtet. Das bot darüber hinaus die Möglichkeit, Stoffkreisläufe – wie Nahrung, Wasser, Energie und Abfall – intensiver miteinander zu verschränken. Bisher als getrennt betrachtete Teilsysteme wurden so in Interaktion gebracht und zwar zeitlich, räumlich und metabolisch. Neben räumlichen und funktionalen Verknüpfungen wurden neue soziale und ökonomische Kooperationsmöglichkeiten zwischen den beiden Sphären offensichtlich. Landwirtschaft wird in dem Ansatz zum Ko-Produzenten des Urbanen und die Stadt zugleich zum Ko-Produzenten des Ruralen. Beispielsweise wurden im UAC Projekt für die aride Region sowohl perspektivisch durch Szenarien als auch konkret durch Pilotprojekte aufgezeigt, wie gereinigtes Stadtwasser in der Landwirtschaft zur Bewässerung verwendet und so der Anteil der Bewässerungslandwirtschaft deutlich gesteigert werden kann. Das Konzept für eine stadtregionale Landwirtschaft besitzt auch für viele Kleinbäuerinnen und -bauern eine große ökonomische Attraktivi-

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

tät. Es zeigt zugleich beispielhaft auf, wie die stadtregionale Nahrungssicherheit und -souveränität und die Bedeutung der Landwirtschaft für die regionale Wirtschaft gestärkt werden können. Abbildung 3: Verkopplung urban-ruraler Sphären zu neuen Synergien zwischen Räumen, Stoff kreisläufen und Lebensmustern

UAC Projekt, 2017

E ntwerfen urban - ruraler V erknüpfungen in Thüringen Zentrales Thema im dem Entwurfsstudio ›Entwerfen urban-ruraler Verknüpfungen‹ im Master Landschaftsarchitektur unter der Leitung von Prof. Undine Giseke und Kathrin Wieck war es, für eine Teilregion Thüringens, die bisherigen Kategorien von Kultur und Natur sowie Stadt und Land in Frage zu stellen und die Interaktionen zwischen dem natürlichen und dem urbanen System neu zu denken. Hintergrund für die Konzeption des Entwurfsstudios bot die IBA Thüringen (2013 bis 2023), der es laut ihrem

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Programm um die Beendigung eines naturvergessenen Prinzips der Stadtund Raumentwicklung und um einen »veränderten, gesellschaftlichen Stoffwechsel« (IBA Thüringen 2015: 3) geht. Sie fragt, wie der demographische und der energetische Wandel des Bundeslandes aktiv von Institutionen, Expertinnen und Experten und jedem/jeder Einzelnen gestaltet werden kann. Das sich wandelnde Verhältnis von Stadt und Land verbunden mit einer aktiven Rolle von Landschaft ist dabei ein zentraler Fokus. Die Entwurfsarbeit war ein methodisches Experiment. Wir haben die von der IBA Thüringen aktuell aufgeworfene Frage nach zeitgenössischen Raumbildern für die Region zum Anlass genommen, um die bereits angesprochenen Positionen von Brenner, Koolhaas, Morton und Bennett zum Ausgangspunkt von Entwurfsüberlegungen zu machen. So zielt Rem Koolhaas’ Postulat »The countryside is now the frontline of transformation« (Koolhaas 2014) auf einen neuen Typus eines hybridisierten Stadt-LandVerhältnisses. Es schließt urban beeinflusste Zonen ein, die sich auch als nicht-landwirtschaftliches Land auszeichnen und die städtische Funktionen, Dienstleistungen und Angebote beinhalten. Gleichzeitig übernehmen die in der Landwirtschaft Tätigen zunehmend urbane Lebensmuster und betreiben Landwirtschaft über GPS gesteuerte Maschinen und digitale Kontrollmechanismen. Trotz dieser Intensivierung spricht Koolhaas von einem Prozess der Ausdünnung: die Dörfer wachsen räumlich, aber schrumpfen demographisch und tauschen ihre Bewohnenden vollständig aus (ebd.). Neil Brenners Betrachtungen beziehen sich auf das Weiterdenken von Lefèbvres Vision aus den 1970er Jahren: einer vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft mit einem sich wandelnden Stadt-Land-Verhältnis, das gegenüber dem Koolhaaschen Ansatz eher durch Verdickungen charakterisiert ist (vgl. Brenner 2014: 18). Prozesse der räumlichen Ausdehnung und des Landverlusts (der Explosion) werden ebenso thematisiert wie eine vollständige Urbanisierung aller Bereiche, die »planetarische Urbanisierung« und die Entstehung »operativer Landschaften«, die sich durch eine Verdickung von Infrastrukturen, Kapital und globalen Ökonomien auszeichnen (ebd.: 21). Timothy Morton plädiert dafür, unser westliches, von der Aufklärung geprägtes Landschaftsverständnis und unsere kulturelle Codierung der Landschaftswahrnehmung zugunsten des Konzeptes der Null-Landschaften und einer damit verbundenen ästhetischen Distanzierung aufzugeben. »Wir leben in einem Objekt« und damit beispielsweise in dem »endlos« erscheinenden Hyperobjekt der Erderwärmung (Morton 2011: 82). Hyperobjekte umgeben uns nicht nur, sondern sie durchdringen

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uns und schaffen eine neue Intimität und Unmittelbarkeit – »a solidarity with nonhuman people« (Morton 2017). Damit rüttelt Morton auch an einem Landschaftsverständnis, das den Abstand von Bild und Betrachtendem aber auch die Gestimmtheit von Landschaft aufrechterhält. Mit seiner Perspektive hört Landschaft auf, ein ästhetisch distanziertes Bild zu sein (Morton 2011: 86). »Hyperobjektives Entwerfen« im Sinne Mortons – wird sich fortan um Koexistenz drehen und gibt die Trennung von Natur und Kultur auf (vgl. ebd.). Um Antworten auf die drängenden Probleme zu finden, plädiert Jane Bennett dafür, sich mit Verknüpfungsdynamiken zu beschäftigen, der »thing power« (vgl. Bennett 2010: 20). Diese kann bereits von der dynamischen Materialität der Dinge ausgehen, die die Begabung haben, jederzeit ad-hoc-Verknüpfungen und Interaktionen mit anderen Dingen, Komponenten und Prozessen einzugehen und so Assemblagen zu bilden. »Ohne Zweifel besitzt eine Landschaft eine Wirkungsmacht, eine Lebendigkeit, welche sich mit dem menschlichen Agieren verzahnt« (Bennett in Loenhart/Bennett 2011: 15). Transformationen sind so nicht länger als lineare Prozesse zu verstehen, sondern zeigen sich als »uneven topograhies« (ebd.: 23f.). Diese Kompetenzen von Dingen lassen sich räumlich und systemisch aufzeigen und entwurflich weiterdenken. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Studios waren aufgefordert, den Untersuchungsraum aus diesen unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, mögliche Neu-Codierungen aus den Positionen abzuleiten und konkrete räumliche Übersetzungen dieser Codes zu erzeugen. Welche neuen Verknüpfungen für die Region ergeben sich, wenn wir den Fluss, den Energiestrom, den Müll oder die Topographie als Akteure behandeln? Interessiert hat uns auch, wer die Stimulatoren und Träger möglicher Veränderungen sein können. Entstanden sind neun Entwürfe für die Region mit teils neuen Rollenbildern ihrer Akteurinnen und Akteure. Die rigorosen und wegweisenden Szenarien skizzieren mögliche Raumentwicklungen zwischen Weimar, Jena und Gera, in denen die Region als ein aktives Netzwerk von Räumen, natürlichen Ressourcen, Infrastrukturen, neuem Wissen und traditionellen Praktiken aufscheint. So geben sie beispielsweise Aufschluss darüber, wie aus dem Energiewandel Thüringens das neue Lebensmodell der Stadtlandwirtin bzw. des Stadtlandwirts hervorgehen kann, dass uns das Im-Objekt-Sein (vgl. Morton 2011) von Stoffflüssen vergegenwärtigt und damit die Frage der menschlichen und räumlichen Teilhabe an Transformationsprozessen diskutiert.

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Abbildung 4: Umsetzung von Energie durch verschiedene Lebensmodelle des Stadtlandwirts/der Stadtlandwirtin in Rutterdorf-Lotschen

Bernögger/Faßbender/Hasenstab 2016

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

Das Konzept ›Leben in der Steckdose‹ von Andreas Bernögger, Sven Faßbender und Karolina Hasenstab thematisiert, dass StadtLand schon immer von Energie gestaltet wurde und Gesellschaften das energetische System zu ihrem eigenen Nutzen umgestaltet haben. Die Energiekrise und die Hinwendung zu erneuerbaren Energien bildeten für die Studierenden den Anlass, ein Szenario für Stadtlandwirtinnen und -wirte in Thüringen bis zum Jahr 2030 zu entwickeln – als zentraler Akteurinnen und Akteure zum Ausbau einer Energielandschaftsinfrastruktur. Die Stadtlandwirtinnen und -wirte stehen als Gegenentwurf für unterschiedliche Lebensmodelle, die mit dem Erwerbs- und Bildungsangebot der Stadt verbunden sind und dennoch im ländlichen Raum leben. In ihren unterschiedlichen Rollen produzieren sie Energie, verwenden und vermarkten sie, aber sorgen auch für Anschlussmöglichkeiten an bestehende Modelle wie den Thüringer Landstrom sowie an gemeinschaftliche und öffentliche Stromnetze. Mit drei energetischen Interventionen – dem energetischen Park, der energetischen Mitte und der energetischen Zeit – wird skizziert, wie eine eigenständige Energieproduktion vor Ort das Alltagsleben der Agierenden unmittelbar bereichern kann. Am Beispiel der energetischen Mitte wird gezeigt, wie überschüssig produzierte Wärmeenergie an kalten Tagen zur Beheizung einer Sauna mit Badeteich genutzt werden kann. Im energetischen Park sind die Windräder befahrbar und zeigen an, wieviel Strom aus welchen Energiequellen am Tag produziert und verbraucht wird. Die energetische Zeit wird durch eine Kunstinstallation markiert. In einem ehemaligen Mühlental wird durch diese die Autobahn in Nebel getaucht, wenn zur Zeit der Schneeschmelze mehr Wasser in hoher Geschwindigkeit Strom produzieren kann (vgl. Abb. 5 v.l.n.r.). Abbildung 5 v.l.n.r.: Energetische Mitte – Energetischer Park – Energetische Zeit

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Hisar Ersöz, Lena Mosel und Jasper Lippert entwerfen ein radikales Zukunftsbild, in dem eine extrem individualisierte und differenzierte Gesellschaft ein ökonomisiertes Nebeneinander erzeugt. Das Szenario des ›Operativen Netzlandes‹ in Anlehnung an Neil Brenner beinhaltet Prognosen für eine »thickly urbanized land-scape« (Brenner 2014: 18), die auf Export von Energien, Rohstoffen, Lebensmittel, Wasser und Wissen ausgelegt ist. Es geht von einer radikalen Schrumpfung und Konzentration der Bevölkerung in großen Metropolregionen wie Berlin und Frankfurt a.M. bis zum Jahr 2050 aus. Das impliziert eine Entvölkerung und Transformation von Thüringen in eine produktive Supportregion für die Zentren, »überspannt von Wind- und Solarparks, Wasser- und Pumpspeicherwerken, Servern, Fischund Genfarmen, Industrie- und Logistikparks, Mastfabriken, industrieller Landwirtschaft und Mobilitätstrassen und transdimensionalen Energie-, Daten- und Warenströmen« (Ersöz/Mosel/Lippert 2016). Parallel zu den metropolitanen Garantiezonen und ihren Supportclustern gibt es Räume wie die posturbane Wildnis (aufgrund der erhöhten individuellen Freizeitgestaltung), die Feriendomizile (Technokratenburgen) der Finanzstarken sowie sogenannte Selbstverantwortungsgenossenschaften als semi-autarke Parallelgesellschaft (vgl. Abb. 6). Diese betreiben Permakultur und erproben selbstversorgende Daseinsformen in Abkopplung von der Netzstruktur und deren Steuerungsmechanismen. Das Szenario entwirft ein drastisches Bild mit teils dystopischen Zügen von Parallelräumen in der Region Thüringen, die jedoch Trends beinhalten, die sich heute schon abzeichnen. Abbildung 6: Regionales Supportcluster Weimar-Jena-Gera

Ersöz/Mosel/Lippert 2016

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

Die Arbeit von Jean Bounasse-Blanchou, Tobias Grünewald und Richard Martens ›Marginalitäten als Impulsquelle‹ setzt sich mit den Zentren anthropogenen Abfalls im ländlichen Raum auseinander. Diese sind bislang wenig wahrgenommene Unorte, die oft nur eine eingeschränkte Bedeutung für die urbane Kreislaufwirtschaft haben. In ihrem Szenario transformieren die Verfasser die Orte des Abfalls und die dazu gehörigen Materialprozesse und erzeugen so für beides eine neue Sichtbarkeit. Sie beziehen die gesamte Region mit ihren Flächen zur Kompostierung, Tagebauten, Deponien, Brachen und Abwasserreinigungsanlagen ein. Durch gezielte Interventionen setzen sie Impulse für neue materielle Dynamiken und eine veränderte Wahrnehmung des Abfalls in der Region. Die beispielhaft ausgewählten Orte liegen im Thüringer Mittelland und stehen für verschiedene Arten und Themen von Abfall: ein Steinbruch in Blankenhain, eine Kläranlage in Jena und ein Areal mit leerstehenden Gebäuden in Tümpling. Letzteres wird durch die Lagerung von Baumaterialien aus dem Rückbau von Wohn- oder Gewerbeobjekten zu einem Archiv und zugleich zu einem narrativen Objekt. Es zeigt die Bedeutung des Materials als Baustoff in seinem Stoff kreislauf und gibt ihm eine Plattform, in der die aktuellen regionalen Schrumpfungsprozesse auf andere Weise sinnlich erfahrbar werden. Ergänzend ermöglicht ein Baumarkt den Tausch und Handel mit Baumaterialien und erhöht damit das Bewusstsein für das Material und seine Wiedernutzung. Der Mensch taucht im Sinne von Morton (2011) in die Unmittelbarkeit und Robustheit dieser drei Orte mit ihren spezifischen Materialitäten ein und kann so besser ihre Rolle im System der Materialflüsse und ihre damit verbundenen Aufgaben erkennen. Es entstehen Orte für ein integriertes Erleben. Abbildung 7: Prozesse des Baumaterials werden unmittelbar erfahrbar gemacht

Bounasse-Blanchou/Grünewald/Martens 2016

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Abbildung 8: Baustofflager und -markt in einem leerstehenden Gebäude

Bounasse-Blanchou/Grünewald/Martens 2016

A nforderungen für das E ntwerfen Vier Überlegungen sind aus den szenarischen Statements der Studierenden für die Anforderungen an das landschaftsarchitektonische Entwerfen urban-ruraler Verknüpfungen im Anthropozän zu resümieren: Erstens: Sich die Verräumlichung von Wissen vergegenwärtigen Entwerfen ist eine Form der Wissensproduktion, und Wissen ist nach Renn und Scherer »kodierte Erfahrung« (2015: 14). Die Art und Weise, wie wir unsere gegenwärtigen urban-ruralen Landschaften beschreiben, kategorisieren und entwerfen, ist eine Praktik, Wissen über die Charakteristika von Landschaft freizulegen und weiterzuentwickeln. Sie umfasst heute nicht nur ein Verständnis der lokalen Gegebenheiten und des räumlichen Kontextes, sondern ebenso der systemischen Prozesse, der Stoffflüsse sowie der Energie- und Informationsflüsse und der menschlichen Teilhabe an Beiden. Das Anthropozän stellt die Wissensproduktion der Landschaftsarchitektur vor besondere Herausforderungen, denn das Verhältnis ist reziprok: Durch die Art und Weise der Wissensproduktion »schaffen [wir] die Welt mit, die [wir] beschreiben« (ebd.: 15). Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass wir mit dem Entwerfen und Bauen unsere Kenntnisse und Interpretationen von Stadt und Land in den Raum

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

bringen. Durch die Beschreibung und Gestaltung versetzen wir Landschaften mit Regeln der Wahrnehmung und des Gebrauchs. Mit ihnen stimulieren wir Stoffaustauschprozesse und soziale Begegnung (oder auch nicht). Zu dem Wissen, das wir der Landschaft einhauchen, gesellt sich auch ein Wissen, das Landschaft mittels ihrer Materialität und erdgeschichtlichen Prozesse in sich selbst gespeichert hat und vermittelt. Sich eine entwerfende Wissenspraxis über ein neues Stadt-Land-Verhältnis bewusst zu machen, bedeutet, sich zu fragen, welches Wissen wir auf diese Art und Weise über urban-rurale Landschaften produzieren und zugleich welches Wissen die Landschaften selber einbringen. Als Landschaftsarchitektinnen und -architekten haben wir eine Verantwortung für das Wissen, das der entworfene Raum vermittelt und wie wir Verknüpfungen qualifizieren können. Zweitens: Verdauungsarbeit leisten Hyperobjekte, wie uns Timothy Morton nahe bringt, zwingen uns unsere unmittelbare Beteiligung an den planetarischen Prozessen wie Klimawandel, Erderwärmung, Urbanisierung, Energiewende, Digitalisierung etc. vor Augen zu führen. Wir stehen diesen Objekten nicht gegenüber, wir sind Bestandteil davon, sind mit ihnen gleichsam intim, denn »Man findet sie überall in Zeit und Raum« (Morton 2011: 85). Folgt man diesem Verständnis, entwerfen wir zukünftig nicht mehr ein Gegenüber, sondern eine »zero landscape«, in der es keine Trennung mehr zwischen der ersten und dritten Person gibt (ebd.: 82). Eine mögliche Konsequenz für die Entwurfspraxis ist, die Menschen an die Verknüpfungen von natürlichen Prozessen mit urbanem Metabolismus, infrastrukturellen Leistungen oder sich wandelnden ruralen Ästhetiken, Kulturen und Ökonomien stärker heranzuführen. Gelingt dies, können qualitätsvolle und lebbare Orte entstehen, an denen man von Zeit zu Zeit bei Starkregenereignissen auch mal nasse Füße bekommt. Wir lernen, den Fluss nur dann zum Schwimmen zu nutzen, wenn er nicht durch Schadstoffe belastet ist. In einem solchen intimen Heranführen an komplexe Zusammenhänge und einem Überwinden eines vermeintlichen Komforts besteht die Chance, eine alltägliche und einladende robuste Ästhetik hervorzubringen. Sie wird uns an der Schönheit, Wirkungskraft und Lebendigkeit natürlichtechnischer Hybride teilhaben lassen.

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Drittens: Vitalität des Materials aktivieren Mit Hilfe der Assemblagetheorien kann der Versuch unternommen werden, die Verknüpfungen von Mensch, Natur, Raum und Technik besser zu verstehen, sichtbar zu machen und als Schnittstellen zu aktivieren, beispielsweise im Sinne von Bennetts »pulsierenden, lebendigen Verbindungen« (Bennett 2010: 15). Die Aktivität kann aber auch über die Fähigkeiten der Dinge und ihres Materials selbst entfacht werden, indem Objekthaftes mit menschlichem und nicht-menschlichem Handeln und Denken vereint wird. Für das Entwerfen von urban-ruralen Verknüpfungen kommt dabei die Kompetenz von natürlichen Elementen – in ihrer Eignung als Rohstoff und Ressource zum Bauen, für die Ernährung, zur Energiegewinnung, zum Abtransport und zum Recycling – besonders zum Tragen (vgl. Willmroth 2015: 118). Die Entwurfsarbeit ›Marginalitäten als Impulsquelle‹ (Bounasse-Blanchou/Grünewald/Martens 2016) legt beispielsweise die Kompetenz des nicht mehr gebrauchten Baustoffes in seinen möglichen Verarbeitungs- und Reproduktionsprozessen offen und macht so seine materielle Kraft erfahrbar. Ein solcher Ansatz folgt Bennetts (2010) Sichtweise auf eine dynamische Materialität und erweitert das Entwerfen von urban-ruralen Verknüpfungen um das Feld einer »Landschaftspraxis« (Loenhart 2011: 154), die Agierende, Räume und Stoffströme miteinander vereint. Sie ist nicht allein Gestaltung, sondern nutzt und fördert die »Formkräfte der materiellen Eigenschaften« (ebd.: 158). Ausgehend von dem Können der Materialitäten in Form von natürlichen und technischen Prozessen kann das Entwerfen diese lebendigen Eigenschaften offenlegen und so systemische urban-rurale Versorgungsströme stimulieren, natürliche und regenerierende Prozesse anregen und einen Pfad zu einer anderen Wahrnehmung und Entwicklung von Landschaft eröffnen. Viertens: Szenarien entwerfen für Tiefe der Zeit und ad-hoc Verknüpfungen Die Anthropozändiskussion macht deutlich, dass der Mensch zu einer geologischen Kraft geworden ist. Sie fordert uns zugleich auf, das Erdwissen mit einzubeziehen und die geomorphologischen Veränderungen in der Tiefe der Zeit neu zu lesen. Sich parallel auf die Verknüpfungen im Sinne des Assemblagedenkens zu fokussieren, bedeutet, dass evolutionäre Prozesse mit ad-hoc Verbindungen zusammenkommen und besser verstanden werden können. Es sind Wechselwirkungen, die sich stets

Urban-rurale Verknüpfungen entwer fen

neu, auch zwischen Stadt und Land, konstituieren. Die verschiedenen Zeitskalen von natürlichen Prozessen und urban-ruralen Transformationen übereinanderzulegen und weiterzuentwickeln, stellt das Entwerfen vor die Herausforderung, parallel in sehr kurzen und sehr langen Zeiträumen imaginär zu denken. Im Projekt ›Entwerfen urban-ruraler Verknüpfungen‹ hat uns die Radikalität und Deutlichkeit der theoretischen Positionen geholfen, die Rollenbilder von Stadt und Land zu überdenken. Dafür stehen die drei vorgestellten Entwürfe. Katastrophen wie Hochwasser, Waldbrände, Dürre, Stürme bestärken uns darin, schnell zu handeln, um Gefährdungslagen für den Menschen einzugrenzen und unsere urbanen Systeme infrastrukturell umzubauen, um sie für eine Klimaanpassung fit zu machen. Wir müssen dennoch zugleich auf lange Sicht denken und lernen, Fragen auch an die natürlichen Komponenten der urban-ruralen Landschaften zu richten. Nur so werden wir parallel auch Stellschrauben für Prozesse, die natürliche Komponenten in den Mittelpunkt stellen, identifizieren können und diese durch den Entwurf qualitätsvoll aktivieren. Wir Landschaftsarchitektinnen und -architekten sind als Ideengebende für ein hybrides Naturkonzept in einem engen Zwiegespräch zwischen Stadt und Land, Natur und Kultur, menschlichen- und nichtmenschlichen Akteuren sehr gefragt.

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Kathrin Wieck, Undine Giseke

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S tudentische A rbeiten Bernögger, Andreas/Faßbender, Sven/Hasenstab Karolina (2016): Leben in der Steckdose. Entwurfsarbeit im Entwurfsstudio Master Landschaftsarchitektur TU Berlin, Fachgebiet Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung, Sommersemester. Bounasse-Blanchou, Jean/Grünewald, Tobias/Martens, Richard (2016): Marginalitäten als Impulsquelle. Entwurfsarbeit im Entwurfsstudio Master Landschaftsarchitektur TU Berlin, Fachgebiet Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung, Sommersemester.

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Ersöz, Hisar/Mosel, Lena/Lippert, Jasper (2016): Operatives Netzland TH-50.9270540. Entwurfsarbeit im Entwurfsstudio Master Landschaftsarchitektur TU Berlin, Fachgebiet Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung, Sommersemester.

A bbildungen Abbildung 1: Undine Giseke (2017). Abbildung 2: Undine Giseke (2017). Abbildung 3: UAC Projekt (2017). Abbildung 4: Bernögger/Faßbender/Hasenstab (2016). Abbildung 5: Bernögger/Faßbender/Hasenstab (2016). Abbildung 6: Ersöz/Mosel/Lippert (2016). Abbildung 7: Bounasse-Blanchou/Grünewald/Martens (2016). Abbildung 8: Bounasse-Blanchou/Grünewald/Martens (2016).

Rurbane Perspektiven erzählbar machen Erzählungen als dialogisches Entwurfswerkzeug Anke Schmidt

Über die kulturelle Praxis des Erzählens ordnen Menschen Geschehensprozesse und schaffen sich ihre ›Wirklichkeit‹. Geschichten sind ein kognitives Grundmuster der Menschen zum Verständnis von Wirklichkeit. Menschen verbinden gemeinsame Geschichten und es ist quasi unmöglich, ohne Geschichten durchs Leben zu gehen. Der narrative Modus des Denkens und der Akt des Erzählens stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang: Menschen ordnen Erfahrungen in narrative Erklärungsmuster ein und konstruieren ihr Erleben als Narrativ basierend auf bestimmten Prinzipien. In diesem Bezeichnungsvorgang werden Menschen, Raum und Handlung in eine sinnvolle Beziehung zueinander gesetzt (vgl. Bruner 1991). Auch im Entwerfen können über Erzählungen Beziehungen zwischen Menschen, Raum und Handlungen hergestellt und sichtbar gemacht werden1. Dies lässt sich insbesondere in aktuellen Planungsaufgaben in großräumigen Zusammenhängen einsetzen, die auch rurbane Landschaften betreffen. Diese sind von drei zentralen Aspekten gekennzeichnet: Es ergeben sich komplexe Wechselwirkungen von räumlichen Phänomenen und Dimensionen, die nicht komplett beschreibbar und planbar sind. Weiterhin beeinflussen Menschen, als Beteiligte oder Nutzende von Raum, Planungsaufgaben durch ihr Handeln im Alltag oder in Projekten als Gesprächspersonen, Beteiligte und Entscheidende, die es einzubezie1 | Der Artikel basiert auf Erkenntnissen der Promotion der Autorin G eschichten urbaner L andschaf ten . F ormate des E rzählens für kollaborative E ntwurfsprozesse . In dieser Arbeit ist das vorgestellte Forschungsvorhaben eines von fünf Fallbeispielen für narrative Herangehensweisen in forschenden Entwurfsprozessen.

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hen gilt. Dies erfordert ein kontextorientiertes Vorgehen, das Wirkungszusammenhänge eines Ortes erkennt und weiterentwickelt. Nicht zuletzt nimmt bei Projekten die prozessorientierte Betrachtung gegenüber einer Produktorientierung einen immer wichtigeren Stellenwert ein. Damit gewinnen Kommunikations- und Aushandlungsstrukturen im Entwurfshandeln an Bedeutung (vgl. Langner 2013). Narrative Strategien können solche Aushandlungsprozesse im Entwerfen unterstützen. Der folgende Artikel soll vor dem Hintergrund eines Forschungsprojekts zum Kulturlandschaftsraum Altes Land 2 verdeutlichen, wie räumliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse, die rurbane Landschaften prägen, durch Erzählungen sichtbar gemacht und darüber hinaus Zukunftsperspektiven für die sich wandelnde Kulturlandschaft eröffnet und diskutierbar wurden. Anhand des Projekts wird erläutert, wie Geschichten und Erzählung als Entwurfswerkzeug produktiv werden können, um Entwicklungsperspektiven rurbaner Landschaften zu finden und diskutieren zu können3. Rurban deswegen, weil sich hier urbane Tendenzen in einem ländlich geprägten Raum abzeichnen und die Grenzen zwischen Stadt und Land nicht mehr klar gezogen werden können.

D as ›A lte L and ‹ – eine rurbane L andschaft in ver änderung Die Übergänge zwischen dem, was als Stadt und was als Land bezeichnet wird, sind fließend geworden. Dies zeigt auch eine aktuelle Auswertung der ZEIT, in der bestehende Umfragedaten im Hinblick auf Vorurteile und Unterschiede von Stadt und Land ausgewertet wurden3. Es zeigten

2 | Das Forschungsprojekt ›Wandel Erzählen und Gestalten‹ wurde als Projekt des ›studios urbane landschaften‹ 2009-2010 durchgeführt. Neben den drei Forscherinnen trugen in einem Workshop Hille von Seggern, Bettina Kunst und MarcStefan Andres zur Entwicklung der narrativen Strategien bei. 3 | 15 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland leben in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnenden, 27 Prozent leben in Gemeinden mit 5.000 – 20.000 Einwohnenden, 27 Prozent leben in mittelgroßen Städten von 20.000100.000 Einwohnenden und 31 Prozent leben in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnenden.

Rurbane Perspektiven erzählbar machen

sich nur wenige Unterschiede in den Haltungen der Menschen in Stadt und Land (Bangel/Faigl/Gortana et al. 2017). Aber immer noch hat ›das Land‹ in unserer heutigen Gesellschaft eigene Zuschreibungen als Gegensatz zur Stadt, als schöner bzw. romantischer Ort, als Landschaft, in der bäuerliche Landwirtschaft betrieben wird. In zeitgenössischen Romanen wird das Leben auf dem Land oftmals als Alternative zum Urbanen thematisiert (vgl. hierzu Seel in diesem Band). Aber der ländliche Raum ist in aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen selten idyllisch belegt. In aktuellen Debatten um die Zukunft des ländlichen Raums geht es um Fragen der Landnutzung, den Formen zukünftiger Landwirtschaft, um Versorgungs- und Bildungsfragen, Mobilität, oder Biodiversität. Landwirtschaftliche Betriebe werden immer größer, Mastbetriebe haben Tausende von Tieren, immer größere Maschinen bewirtschaften automatisiert die Felder. Drohnen und digitale Anwendungen verändern die Landwirtschaft. Gleichzeitig gibt es grundlegende demographische Veränderungen, eine Veränderung der Haushaltsgrößen sowie Anzahl und Größe von landwirtschaftlichen Betrieben im ländlichen Raum. Diese Veränderungen kennzeichnen einen Wandel, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten abgespielt hat. Gesellschaftlicher Wandel, Auswirkungen des Klimawandels, Digitalisierung und Globalisierung üben somit einen Veränderungsdruck aus, für die ›der ländliche Raum‹ eigene Antworten finden muss. Der Artikel diskutiert anhand des Beispielraums Altes Land in der Metropolregion Hamburg die Frage, wie sich diese aktuellen Tendenzen im ländlichen Raum mitgestalten lassen. Die Region in der Metropolregion Hamburg steht exemplarisch für eine gewachsene Kulturlandschaft, die sich durch Lebensstilveränderungen, fortschreitende Technik- und Wissensentwicklung, den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit auf dem globalen Markt, klimatischer Veränderungen, neuer Arbeitsmöglichkeiten sowie Wohnvorstellungen verändern. In den touristischen Zuschreibungen gilt das Alte Land als eine romantische Landschaft mit alten Obsthöfen, Apfelbäumen und Wasserläufen. Gleichzeitig findet dort eine hocheffiziente Landwirtschaft statt, um Äpfel zu produzieren. In dieser Region zeigen sich Herausforderungen, die sich in vielen gewachsenen Kulturlandschaften auftun – den Zwiespalt zwischen Erhalt des traditionellen Landschaftsbildes, der Wirtschaftlichkeit der Agrarlandschaft und dem Urbanisierungsdruck in einer wachsenden Metropolregion.

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Die Diskrepanz zwischen Vorstellungsbildern und der Frage nach der Entwicklung einer gewachsenen Kulturlandschaft war Ausgangspunkt des 2008 gestarteten Forschungsprojekts ›Wandel erzählen und gestalten. Anpassungs- und Gestaltungsstrategien dynamischer Kulturlandschaften in urbanen Verflechtungsräumen‹ (Rabe/Schmidt/Stokman 2010). Das Forschungsteam untersuchte darin, welche Prozesse, Techniken und Nutzungen die Kulturlandschaft Altes Land prägten, aktuell prägen und wie Szenarien für die Zukunft dieser Landschaft aussehen können. Ziel war es, Veränderungsstrategien und Bilder zu zeichnen, die zeigen, wie diese Landschaft als dynamische Kulturlandschaft mit Lebensstilen einer modernen Gesellschaft in Zukunft aussehen kann. Um sich dieser Frage zu nähern, adaptierte das Forschungsteam Erzählungen und Geschichten in den Untersuchungsmethoden einer entwurfsbasierten Forschung.

M it E rz ählungen entwurfsbasiert forschen Entwurfsbasierte Forschung Entwerferisches Handeln ist eine Herangehensweise, um mit uneindeutigen, komplexen Situationen umzugehen und dafür Lösungsansätze und Ideen aus einer Vielzahl von Möglichkeiten hervorzubringen (vgl. Seggern et al. 2008; Prominski 2004; Kania et al. 2009; Weidinger 2013; Buchert 2011, 2014). Im Unterschied zu technisch-naturwissenschaftlichen Zugängen verbindet sich im Erkenntnisprozess des Entwerfens planvolles Vorgehen mit intuitiven Zugängen. Es wechseln sich zufällige, suchende Phasen mit Phasen der bewussten Reflexion ab (vgl. Buchert 2011: 79). In einem iterativen Verstehensprozess entstehen unter Einbindung von Zufällen und Assoziationen Ideen und neues Wissen (vgl. Seggern 2008: 68ff.). Diese Herangehensweise prägte auch den hier vorgestellten Forschungsprozess. Die Forscherinnengruppe nutzte Erhebungsmethoden wie Interviews mit offenen Fragen, kartographische Analysen sowie Literaturrecherchen, um die komplexen Zusammenhänge der Landschaft zu verstehen und darzustellen. Schon diese Schritte enthielten entwerferische Anteile, wie zum Beispiel. die Entwicklung und Darstellung der Hauptfiguren. Positive Lösungsansätze für die Zukunft dieser spezifischen rurbanen Landschaft entstehen als Entwurfsarbeit statt über ab-

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geleitete Prognosen. Neben Terminen innerhalb des Teams dienten vor allem Treffen mit Beteiligten vor Ort, um die Ergebnisse zu reflektieren und im Gespräch gemeinsame Erkenntnisse zu gewinnen. Abbildung 1: Das Alte Land mit der Vielfalt an Protagonistinnen und Protagonisten, die in Protagonistenporträts dargestellt werden

studio urbane landschaften

Bestandsaufnahme über Geschichten von Menschen vor Ort Das Alte Land ist eine alte, gewachsene Kulturlandschaft, die sich zu einem hochindustriell produzierenden Landwirtschaftsraum entwickelt hat. Auf den langen Feldern, den sogenannten Hufen, stehen heute kleinwüchsige Apfelbaumreihen, die mit einem komplexen Bewässerungssystem ausgestattet sind. Hinter oder neben historischen Hofgebäuden

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stehen große, neue Lagerhäuser für die Äpfel, damit diese das ganze Jahr frisch bleiben und zur besten Zeit am Markt verkauft werden können. Die Landschaft ist auf den ersten Blick eine monotone Obstbaulandschaft. Schaut man genauer hin, so finden sich abweichende Nutzungen auf den Hufen, wie zum Beispiel neue Einfamilienhausreihen. Häufig ergänzen ein oder mehrere neue Gebäude und auch Ferienhäuser das historische Hofgebäude. Am Horizont sieht man die Lastkräne des Hafens und immer wieder tauchen Flugzeuge vom Airbus-Werk am Himmel auf. Abbildung 2: Die Bewirtschaftung der Hufen erfolgt heute über Reihen kleinwüchsiger Apfelbäume

studio urbane landschaften

Nicht immer zeigen sich Veränderungen mit offensichtlichen Spuren im Raum, wie zum Beispiel der Bau von neuen Lagerhallen. Die Existenz von Zugezogenen oder temporär auftauchenden Erntehelfenden ziehen keine markanten sichtbaren Veränderungen nach sich. Auch die Umstellung von Betrieben auf Biolandbau oder neue Vermarktungstrategien und Hoföffnungen mit Cafés lassen sich über eine visuelle Analyse des Raums nicht nachvollziehen. Auch gilt hier, dass es für die Wahrnehmung von Veränderungen eine Bestandsaufnahme mit zeitlicher Distanz geben muss. Aus diesen Überlegungen heraus entschied das Team, sich den Veränderungen und aktuellen Tendenzen in der Kulturlandschaft Altes

Rurbane Perspektiven erzählbar machen

Land über Gespräche mit Menschen vor Ort zu nähern. Die räumlichen Analysen über Karten und Ortsbegehungen wurden über diese Form der narrativen Bestandsaufnahme ergänzt. In Interviews mit offenen Fragen zeigte sich die Bandbreite an Menschen in einer auf den ersten Blick monofunktionalen Landschaft: Obstbäuerinnen und -bauern, Häuslebauerinnen und -bauern, Urlaubsgäste, Jugendliche, Wasserbauerinnen und -bauer, Naturschützerinnen und -schützer, Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft und im angrenzenden Airbuswerk, Pendelnde, Obsthändlerinnen und -händler. Jede Protagonistin und jeder Protagonist stellt individuelle Ansprüche an den Raum und entwickelt eigene Vorstellungen von der Landschaft. Abbildung 3: Protagonistenportraits existierender Landschaftsnutzender mit wahrgenommenen und genutzten Raumzusammenhängen

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Abbildung 4: Wandelgeschichten zeichnen die Entwicklungsschritte der Landschaft nach, hier am Beispiel des Bewässerungssystems

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In sogenannten ›Wandelgeschichten‹ und ›Landschaftsprotagonisten‹ dokumentierte das Forschungsteam die Vielzahl von Gesprächen mit Menschen vor Ort. Wandelgeschichten stellen die Veränderungen der Landschaft dar (vgl. Abb. 4). Sie zeigen, wie Menschen und technische Entwicklungen ihre Spuren in der Landschaft hinterlassen haben. Raumagierende werden als Protagonistenporträts verallgemeinernd interpretiert und dargestellt. Diese Portraits in Form von kurzen Geschichten über typische Hauptfiguren stellen unterschiedliche räumliche Beziehungen, Haltungen und Nutzungsmuster dar (vgl. Abb. 3). Es entstehen damit Beschreibungsformen der Landschaft, die einerseits Veränderungen der Landschaft nachzeichnen und andererseits Perspektiven und Positionen von Landschaftsnutzenden nachvollziehbar machen. Sie sind ein Interpretationsschritt der Forscherinnen, um die Erkenntnisse aus den Gesprächen aufzuarbeiten. Diese ermöglichen es, das Wissen über die gewachsene Kulturlandschaft, die sich im Laufe der Jahrhunderte den sich kontinuierlich verändernden Bedingungen angepasst hat, hervorzuholen. Insbesondere in den Protagonistenportraits kommen Bewirtschaftungs- und Nutzungszusammenhänge sowie der emotionale Bezug zur Landschaft zum Ausdruck. Die einzelnen Landschaftsprotagonistinnen und -protagonisten zeigen spezifische Zusammenhänge und Hintergründe, worüber sich ein komplexes und auch teilweise widersprüchliches Panorama der Landschaft eröffnet. Mit diesen spezifischen Sichtweisen lässt sich im Entwurfsprozess über die Zukunft der Kulturlandschaft weiterarbeiten.

Rurbane Perspektiven erzählbar machen

Geschichten und Landschaftsprotagonisten als Entwurfsmaterial zur Entwicklung von Szenarien Um mögliche Prozessverläufe zu erfinden, adaptierten die Forscherinnen die Methode des ›Storyboarding‹ für einen forschenden Entwurfsprozess über mögliche Entwicklungsverläufe der Landschaft (vgl. Abb. 5). In der Filmproduktion sind Storyboards dynamische Werkzeuge, um die Geschichte des zukünftigen Films über Zeichnungen mit Dialogen und Figuren zu entwickeln. Das Forschungsteam setzt diese Technik ein, um mögliche Geschichten von und über die Zukunft des Alten Landes zu erzählen. Impulse für die Geschichten geben aktuelle Herausforderungen, wie die Auswirkungen des Klimawandels (hier unter dem Stichwort Hochwasser), demographische Veränderungen wie Bevölkerungswachstum in der Metropolregion mit einer tendenziell älter werdenden Bevölkerung sowie wirtschaftliche Entscheidungen, wie beispielsweise die Elbvertiefung. Prognosen und Statistiken zur Klimaveränderung, demographischen Entwicklung und Elbvertiefung bestimmen den Handlungsverlauf von fiktionalen Szenarien, in dem existierende Landschaftsprotagonistinnen und -protagonisten mit Ereignissen umgehen, auf Veränderungen reagieren und sich verändern. Die Technik des Storyboards hilft, um ausgehend von den Menschen und ihren Motivationen Bilder für die Zukunft zu entwickeln. Die Landschaft wird zu einem fiktiven Schauplatz, in dem Nutzende in verschiedenen Rollen agieren. Die Landschaftsprotagonistinnen und -protagonisten aus der Bestandsaufnahme vor Ort können die Entwurfsarbeit inspirieren: So eröffnet zum Beispiel die zufällige Kombination von Hauptfiguren neue Denkansätze und Möglichkeitsräume für eine zukünftige Entwicklung. Auch werden neue Beteiligte erfunden, die in das Geschehen eingreifen. Beginn dieser Geschichten im Alten Land ist die Gegenwart; 2050 ist das erzählerische Ende in den Geschichten. Im Ergebnis entstanden drei ganz unterschiedliche Szenarien zukünftige Raumnutzungszusammenhänge für das Alte Land (vgl. Abb. 6).

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Abbildung 5: Ein Storyboard visualisiert mögliche Veränderungsschritte und unterstützt den Entwurfsprozess

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Abbildung 6: Das Szenario steht exemplarisch für die Entwicklung einer plausiblen Zukunft für das Alte Land

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Erzählend werden somit plausible Szenarien entwickelt, die an den IstZustand anknüpfen. Anders als in Szenariotechniken, die sich auf statistische Prognosen berufen (vgl. Streich 2005: 166), vermitteln diese Erzählungen über die zukünftige Landschaft mit fiktiven Protagonisten-

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portraits vorstellbare Verläufe großräumiger und langfristiger Transformationsprozesse. Ob darüber Entwicklungsperspektiven mit unterschiedlichen Beteiligten vor Ort verhandelt werden können, wurde in einem Tagesworkshop gemeinsam mit einer Gruppe von Beteiligten vor Ort getestet. Wie sich zeigte, fanden sich die unterschiedlichen Personen schnell in die fiktiven Protagonistinnen und Protagonisten ein. Damit deutete sich an, dass Erzählungen Diskussionen über Veränderungsprozesse einleiten und bereichern können. Es lässt sich nicht abschließend sagen, ob Zukunftsprotagonisten zu Vorbildern für individuelles Handeln werden können. Da die Simulation von Veränderungsprozessen in fiktiven Geschichten gleichzeitig Lösungsstrategien aufzeigt, ist anzunehmen, dass sie dazu beitragen, Prozesse zu verstehen und Ansätze zur Gestaltung des eigenen Handelns eröffnen. Als Denkmodelle könnten Geschichten dann zur Veränderung anregen (vgl. Leggewie/Welzer 2010). Im Gegensatz zu Darstellungsformen, die räumlich-visuelle Charakteristika fokussieren, unterstützen die eingesetzten narrativen Ansätze in der Analyse und im Entwurf eine räumliche Betrachtung im Sinne eines multidimensionalen Raumbegriffs (vgl. Seggern 2015, 2009).

N arrative S trategien in forschenden E ntwurfsprozessen Das Erzählen als eine menschliche Kulturpraxis eröffnet für ein forschendes Entwerfen neue Ebenen, um Landschaften in ihrer Multidimensionalität beschreiben und weiterdenken zu können.

Akteurinnen und Akteure sowie Handelnde stehen im Mittelpunkt Geschichten ermöglichen eine Verständigung über Landschaften als verwobener Zusammenhang von Raum, Menschen, Zeit und Kultur. Erzählungen ermöglichen es, Raum als ein multidimensionales Geschehen (vgl. Seggern 2009) in einer ständigen Entwicklung und Veränderung anschaulich zu beschreiben. In der kleinsten Form vermittelt eine Erzählung Inhalte über wechselseitige Bezeichnungsvorgänge zwischen mindestens zwei Personen.

Rurbane Perspektiven erzählbar machen

Beide partizipieren an der Erzählung. Damit stellen Geschichten Beziehungen zwischen zwei Menschen und der Welt sowie bestehenden Geschichten her, die in einer gemeinsamen Erfahrungswelt bzw. »Sinnzonen« (Berger/Luckmann 1987: 42) münden. Geschichten erlauben es, sich mit gegensätzlichen Vorstellungen und Hintergründen in diesem gemeinsamen »Imaginationsraum« (Koschorke 2013: 102) zu treffen. Erzählen als kommunikative Handlung bindet sich in räumliche und soziale Beziehungssysteme ein. Der Anthropologe Robin Dunbar entwickelt die These, dass Menschen über das Erzählen zwischenmenschliche Beziehungen pflegen. Seinen Studien zufolge stellt Erzählen Bindung zwischen Gesprächsbeteiligten und darüber, als Folge, Vertrauen her. Damit unterstützen gemeinsame Geschichten kooperatives Verhalten in größeren Gruppen. Erzählungen helfen, die Handlungen und Intentionen anderer zu verstehen. Gemeinsame Geschichten tragen dazu bei, ein gemeinsames Wir-Gefühl, Identität und Zugehörigkeit zu entwickeln. Über die Sprache und letztendlich Erzählungen lässt sich auf das Wissen anderer Menschen zurückgreifen (vgl. Dunbar 1998).

Instrument gemeinsamen Wissens Vor der Erfindung der Schrift waren es alleine memorierte Geschichten, in denen gemeinsames Wissen gespeichert und übertragen wurde. Narratives Wissen ist als Erfahrungswissen mit der lokalen Situation verbunden, was Tim Ingold »inhabited knowledge« nennt (vgl. Ingold 2012: 145). Nach neueren Forschungen können Erzählprozesse als Erkenntnisprozesse verstanden werden, denn Erzählungen sind nicht nur »Träger von Wissen, sondern dienen auch der Produktion von Wissen« (Fahrenwald 2005: 46f.). Damit stellt der Prozess des Erzählens eine wichtige Dimension der Erkenntnis dar. In narrativen Konstruktionsprozessen wird aus der konkreten Situation heraus spezifisches Wissen produziert. Erzählungen unterscheiden sich von naturwissenschaftlich-analytischen Erkenntnisweisen dahingehend, dass Hintergründe und Sinnzusammenhänge im Vordergrund stehen. Narratives Wissen ist im Gegensatz zu stabilen Aussagen zum Beispiel der Mathematik dynamisch und interpretierbar. Anders als Zahlen- und Faktenwissen und Tatsachen bleibt in Geschichten immer eine gewisse Unschärfe, die Erklärungsspielräume zulässt (Mentzer/Sonnenschein 2008; Reinmann 2005). Hayden White hat für die Geschichtswissenschaften die Erzählung als »Form

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des Diskurses« (White 1990: 41) beschrieben. Geschichtsschreibende wenden narrative Strukturen und Plotmuster an, um historischen Fakten eine Sinnzuschreibung zu geben. Dies bedeutet auch, dass Erzählungen einen intensiven Diskurs benötigen, um als Erkenntnisobjekt produktiv zu werden. Dies ist nicht als Nachteil zu sehen, sondern fokussiert andere Erkenntnisprozesse, die zum Beispiel notwendig sind, um mit komplexen Situationen umzugehen. Die ›Modus-2-Wissenschaften‹ nutzen die Metapher der Erzählung, um Wissen multi-perspektivisch und kontext-abhängig immer wieder neu entstehen zu lassen. In diesem Sinne unterstützt die Erzählung ein Wissen über analytische und disziplinäre Grenzen hinweg (Nowotny et al. 2004: 271f.).

Geschichten sind Probehandeln Brian Boyd entwickelt in The origin of stories (2010) die These, dass Fiktionen eine Übung im komplexen Denken sind, die jeder beherrscht und die Spaß macht. Die meisten Menschen verfolgen ohne Schwierigkeiten die hohe Komplexität von Personen, Handlungen und Ereignissen in Geschichten, auch wenn sie beispielsweise Schwierigkeiten haben, mathematische Formeln zu lösen. In seiner Studie über die Zusammenhänge zwischen Literatur und Funktionen des Erzählens in Gesellschaften aus einer evolutionären Perspektive heraus zeigt er, wie Erzählen, ähnlich dem Spielen, die menschliche Entwicklung unterstützt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Erzählungen als Gedankenexperimente über menschliche Handlungen zu Erkenntnisobjekten werden können. Dies deckt sich mit Erkenntnissen, die fiktive Darstellungen als ›gedankliches Probehandeln‹ (vgl. Neumann 2000) verstehen. Erzählungen verändern den Blick, liefern neue Ideen und sind ein ideales Instrument, um über die Zukunft zu spekulieren, indem sie Perspektiven und Optionen aufzeigen und Transformationsprozesse nachvollziehbar machen.

L andschaftsepisoden finden , R aumerz ählungen teilen , R aumgeschichten kreieren Die oben skizzierten Potentiale von Erzählen und Geschichten für das Entwerfen können Entwurfs- und Planungsprozesse in unterschiedlichen Situationen bereichern: Narrative Strategien können dazu einge-

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setzt werden, um lokales Wissen der Menschen vor Ort hervorzuholen, um Beschreibungsformen zu entwickeln, die Raum und Handlung als verwobenes Raumgeschehen beschreiben, um Zukunftsbilder als anschauliche Szenarien zu entwickeln und um über narrative Darstellungen mit lokalen Beteiligten über Zukunftsperspektiven ins Gespräch zu kommen. In diesen drei Anwendungssituationen (Landschaftsepisoden finden, Raumerzählungen teilen, Raumgeschichten kreieren) lassen sich Erzählungen und Geschichten in Entwurfsprozessen verwenden (vgl. Schmidt 2018). Die narrativen Strategien im Projekt ›Wandel Erzählen und Gestalten‹ illustrieren, wie sich narrative Strategien auf unterschiedliche Weise einsetzen lassen, um Entwurfsprozesse zu gestalten. Abbildung 7: Anwendungssituationen narrativer Strategien in forschenden Entwurfsprozessen

Darstellung der Autorin

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Landschaftsepisoden finden: Lokales Wissen aufspüren Den Untersuchungsraum über narrative Formate zu kartieren und beispielsweise, wie im dargestellten Forschungsprojekt, über Gespräche mit Menschen vor Ort zu untersuchen, nimmt das Potential von Erzählungen als Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrategie auf. Menschen vor Ort sind als lokale Expertinnen und Experten die erste Quelle für Informationen und Geschichten von Orten. Die Organisationswissenschaften haben gezeigt, wie sich Erfahrungswissen erzählerisch heben lässt (vgl. Reinmann 2005). Indem Strategien des aufmerksamen Zuhörens und der Gesprächsführung eingesetzt werden, ergeben sich neue Einsichten über Bedeutungsmomente und Begabungen von Landschaften. In der narrativen Darstellung werden das lokale (Erfahrungs-)Wissen, wie zum Beispiel persönliche Orte, Bedeutungszuschreibungen und Veränderungen der Landschaft für die Entwurfsarbeit aktiviert. Im eingangs beschriebenen Forschungsprojekt finden sich diese Strategien in den Protagonistenportraits und Wandelgeschichten wieder, die auf Basis der Interviews das lokale Wissen sichtbar machen.

Raumerzählungen teilen: Raumperspektiven im Dialog verhandeln Innerhalb eines komplexen Raumgeschehens gibt es nicht nur eine Wahrheit im Sinne eines logisch ableitbaren Wegs der Entwicklung. Wie das Forschungsprojekt gezeigt hat, können Erzählungen dazu beitragen, Raumvorstellungen und Zukunftsbilder zur Diskussion zu stellen. Anschauliche Darstellungen als Raumgeschichten können die Kommunikation über gemeinsame Ziele unterstützen. Geschichten machen Akteurskonstellationen, Projektideen und innovative Raumpraxis plastisch und vorstellbar. Erzählungen interpretieren Erkenntnisse über den Ort als ein komplexitätserhaltendes Bild, mit dem zum Beispiel das Selbstverständnis und die Zukunft von Regionen oder Projektziele verhandelt werden kann. Im Dialog über Vorstellungen und Bilder von Raum fungieren Geschichten als narrative Gesprächsanker, mit denen eine gemeinsame Zukunftsvorstellung diskursiv er- bzw. gefunden werden kann. Dies adressiert die zentrale Ebene der Kommunikation in komplexen Entwurfsprozessen (vgl. Seggern 2013). Erzählungen können in passenden Darstel-

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lungen als Gedankenexperimente zu neuen Einsichten und Sichtweisen führen.

Raumgeschichten kreieren: Zukunftsperspektiven veranschaulichen Geschichten erfinden Bestehendes neu, indem sie re-konfigurieren und neue Zusammenhänge herstellen. Es lassen sich bisher fachlich-disziplinär getrennte Dimensionen von Beteiligten und Raum kombinieren und in ihren Zusammenhängen und Widersprüchen in Raumentwicklungsprozesse miteinbeziehen. Faktoren, die sonst in Szenarien außen vor bleiben, wie emotionale Bedeutungen, Haltungen und Motivationen, werden in narrativen Darstellungen Teil der Visionsentwicklung. Narrative Techniken der Plotentwicklung wie Storyboardtechniken oder Techniken des Roman- und Drehbuchschreibens können Vorbild für Entwurfsprozesse sein, um handlungsorientierte, prozesshafte Strategien und Möglichkeiten zu erfinden. Das Forschungsprojekt hat gezeigt, wie fiktive Geschichten Handlungsverläufe und Möglichkeiten der Entwicklung in die Zukunft simulieren können. Mit narrativen Ansätzen wurden Ideen entwickelt, die szenisch dargestellt werden können und mit denen in Kommunikationsprozessen gearbeitet werden kann. Damit bieten sie die Möglichkeit, Anpassungsstrategien und neue Handlungszusammenhänge mit entsprechenden räumlichen Veränderungen zu antizipieren.

W ie E rz ählungen P l anungsprozesse ver ändern Techniken und Entwurfswerkzeuge in räumlichen Entwurfsprozessen haben aus ihrer architektonischen Tradition heraus baulich-materielle Dimensionen von Raum. Handelnde Beteiligte kommen in Plänen, Zeichnungen und Modellen nur indirekt vor. Narrative Strategien erweitern die Beschreibungsdimensionen von Raum, indem sie soziale Momente, Zeit und Menschen in ihren Wechselwirkungen mit dem physischen Raum darstellen. Dies entspricht einem zeitgemäßen Raumverständnis, das Landschaft als komplexen, prozesshaften Zusammenhang vieler Dimensionen versteht, das sich ständig verändert (vgl. Seggern 2009, 2015). Sich einem Raum und in diesem Beispiel rurbane Landschaft mit narrativen Entwurfswerkzeugen anzunähern, stellt einen Perspektivwechsel

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dar, da nun Raum aus der Sicht der handelnden Beteiligten beschrieben wird. In den im Projekt ›Wandel Erzählen und Gestalten‹ vorgestellten Wandelgeschichten und Protagonistenporträts drücken sich interne Handlungsmuster der Charaktere und ihre Beziehung zur Landschaft als solches vielschichtiges Geschehen aus. Narrative Strategien lassen sich als einen Ansatz verstehen, mit dem Raum und Handlung integriert dargestellt und damit die visuell-räumliche Perspektive mit diesen wichtigen, nicht-materiellen Aspekten angereichert werden kann.

Im Dialog entwerfen Besonders am Anfang komplexer Entwicklungsprozesse können narrative Strategien dazu eingesetzt werden, um gemeinsam mit Beteiligten Möglichkeiten und Chancen zu sondieren. Es lassen sich in kollaborativen Planungsprozessen anhand von Erzählungen Wandel und Veränderung in die Zukunft antizipieren – und natürlich auch, mit dem Blick zurück, Entwicklungen verstehen. Ein solches Vorgehen mindert Unsicherheiten vor der Veränderung und erkennt die Expertise jedes Einzelnen an. Da Erzählen niederschwellig und interaktiv angelegt ist, lassen sich ganz unterschiedliche Gruppen einbeziehen. Erzählungen sind damit als »epistemische Objekte« (vgl. Rheinberger 2001: 24ff.) Impulsgeber in Entwurfsprozessen. Die hier beschriebenen narrativen Ansätze im Entwerfen stellen die Perspektiven von Nutzenden, ihr Alltagswissen und ihre Raumnutzungspraktiken in den Mittelpunkt der Entwurfsarbeit. Sie können dazu beitragen, Raum in dialogische und dadurch ›beteiligende‹ Prozesse im Sinne gemeinsamer Lernprozesse zu unterstützen. Dieser Prozess erfordert Vertrauen auf beiden Seiten. Mit einem veränderten Verständnis der Rolle von Planenden und Entwerfenden können diese Prozesse unter Einsatz von geeigneten Formaten, Instrumenten und Darstellungen eine Bereicherung des Entwurfshandelns und eine Quelle der Inspiration darstellen.

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A bbildungen Abbildung 1-6: studio urbane landschaften. Abbildung 7: Anke Schmidt.

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Gelandet im ländlichen Raum Neue Entwicklungsimpulse für Gemeinden im urbanisierten Hinterland Andy Westner

V om R uralen zum R urbanen Die landwirtschaftlich geprägte Gäubodenregion in Ostbayern, einst als Kornkammer Bayerns betitelt, wandelt sich durch anhaltende Urbanisierungsprozesse zum Produktions- und Logistikstandort der Automobilindustrie. Die Stabilisierung von Arbeitsplätzen und Wirtschaft, sowie die Aufrechterhaltung notwendiger Versorgungseinrichtungen wurde hier durch gezielte Strukturfördermaßnahmen seit den 1960er Jahren gesichert. Eine robuste Ortsentwicklung der ländlich geprägten Gemeinden über die implementierten strukturellen Veränderungen hinaus wurde jedoch meist vernachlässigt. Die nachgelagerten Effekte dieser geplanten Maßnahmen sind in den Ortskernen der Dörfer, Klein- oder kleineren Mittelstädte dieser Region deutlich ablesbar. Auch demographisch und wirtschaftlich solide Gemeinden (vgl. Bertelsmann Stiftung 2010) leiden zunehmend daran, dass strukturelle Veränderungsprozesse – wie sich ständig anpassende Lebensgewohnheiten, Nutzungswandel in den baulichen Beständen, Umgestaltung von Einzelhandelsstrukturen und technologiegetriebene Dienstleistungsverlagerungen – die Lebensqualität in den Ortskernen und erweiterten Innenorten erheblich beeinträchtigen. Als These ist hervorzuheben, dass es eine Neuerfindung der Rolle des Innenortes bedarf, um die zukünftige Belebung und Bewohnbarkeit der Gemeinden zu sichern. Im Folgenden sollen die Herausforderungen und Potenziale der Siedlungsentwicklung in ländlichen Räumen und Gemeinden identifiziert und ihre Auswirkungen auf die Innenorte diskutiert werden. Vor allem in der Stärkung und Umnutzung identitätsstiftender, orts-

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bildprägender Baustrukturen und städtebaulicher Elemente, sowie in einer besseren räumlichen und funktionalen Verklammerung des Ortskerns mit den Randlagen werden wirkungsvolle räumlich-strukturelle Handlungsansätze gesehen, um die Lebensqualität dieser urbanisierten Gemeinden im ostbayerischen Hinterland abseits der Metropole München zu stärken. Hier können Maßnahmen für eine konsequente Erschließung innerer Freiraumstrukturen zur besseren Orientierung im Ort beitragen und als verbindende Elemente abseits der klassischen Ortsmitte dienen. Zusammen mit angepassten Mobilitätskonzepten stellen besonders diese Räume großes Potential für die Anbindung an benachbarte Gemeinden sowie die Verknüpfung mit der umgebenden Landschaft dar. Das Dorf, das traditionell als Gemeinde der landwirtschaftlich Beschäftigten eine politische Einheit mit historischer Struktur und gewisser Infrastruktur wie Kirche oder Gasthaus darstellte und durch landwirtschaftlich geprägte Siedlungs-, Wirtschaft- und  Sozialstruktur  charakteristisch gekennzeichnet war und die damit verbundenen imaginierten Sehnsuchtsbilder intakter Dörfer, haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Diese Transformationsprozesse sind in jüngerer Zeit vermehrt in den Blickpunkt der Forschung geraten (vgl. Carlow 2016: 120). Wie können Dörfer innerhalb dieser räumlich-strukturellen und funktionalen Veränderungsprozesse zu Orten der Ideenbildung und -verarbeitung werden?

E s braucht eine N euerfindung der R olle des I nnenorts Vielerorts ist der Verlust identitätsstiftender und ortsbildprägender Strukturen sowie übergeordneter städtebaulicher Elemente deutlich spürbar und damit oft verbunden, das Verschwinden von Orten der Gemeinschaft, die vormals als soziale Treffpunkte und öffentliche Kommunikationsbereiche im Innenort eine herausragende Rolle spielten. An den, bis vor nicht allzu langer Zeit stark gefassten Ortsrändern, wuchern im Bereich des Wohnungsbaus generische Einfamilienhaussiedlungen und Seniorenresidenzen zusammen mit einem Konglomerat aus sogenannten ›Big Boxes‹ in Form von Supermarktketten, Gewerbegebieten und Logistikhallen und lösen die Abtrennung zwischen einst dichten Ortskern und umgebender Landschaft auf. Der Weg in die Ortsmitte als gesellschaftliches Zentrum wird meist obsolet und die automobilisier-

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te Gesellschaft findet sich auf Parkplätzen vor Fast-Food-Restaurants an den Ortsrändern wieder (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Verlust räumlich prägender Strukturen als ›soziale Treffpunkte‹ innerhalb der Gemeinde – öffentlicher Kommunikationsort und Treffpunkt: Parkplatz Gewerbegebiet am Rande des Siedlungsgebietes

Bild des Autors

Wie bewohnen und beleben die Bewohnenden ihre Gemeinde in Zukunft, mit welchen Bildern und Alleinstellungsmerkmalen identifizieren sie sich und welche räumlichen Elemente tragen zukünftig zur Orientierung bei, wenn Kirche oder Gasthof immer mehr an Bedeutung verlieren? Um die Wichtigkeit und Wertschätzung von räumlichen Qualitäten mit identitätsstiftenden Elementen und lokalen Gemeinschaftssinn im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zu verankern, ist eine alleinige ›Aufhübschung‹ der Ortsmitte im Rahmen von Ortskernsanierungen nicht ausreichend. Als Fallbeispiel für eine, durch ökonomische Wachstumsprozesse sich strukturell verändernde Gemeinde wurde Wallersdorf im Rahmen eines Lehr-Forschungsprojektes an der Technischen Universität München genauer betrachtet. Die Gemeinde Wallersdorf mit ca. 4.300 Einwohnenden wurde 1953 zum Markt erhoben und unterliegt derzeit einem

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starken strukturellen Wandel, nicht zuletzt wegen des kürzlich eröffneten weltweit größten Ersatzteillagers eines in dieser Region ansässigen Automobilkonzernes. Eine Besonderheit des Markts Wallersdorf ist, dass sich einige der genannten identitätsstiftenden und städtebaulichen Elemente auf engstem Raum wiederfinden oder noch erkenntlich sind. Im Rahmen eines Entwurfslabors1 konnten viele der folgenden Herausforderungen, wie Wohnraum- und Bestandsicherung, Mobilität, Ortsbindung und Innenentwicklung konzentriert veranschaulicht, sowie die festgestellten räumlichen Defizite und Möglichkeiten der sich durch den Logistikstandort wandelnden Nachfragesituation nach Wohnraum in Projektbeispielen, zu innovativen Wohnformen entwickelt werden.

S ichtbarmachen transformativer P rozesse in l ändlichen G emeinden Um Transformations- und Urbanisierungsprozesse ländlicher Gemeinden hinsichtlich strukturellen Wandels, Abhängigkeiten, aber auch produktiver Verbindungen aufzudecken, begaben sich Studierende in dem vorgelagerten interdisziplinären Forschungsseminar ›Wild Wild East‹2 1 | Seit 2011 nimmt sich der Lehrstuhl für ›Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land‹ der Technischen Universität München in sogenannten ›Entwurfslaboren‹, die sich als beispielhafte Untersuchungen an unterschiedlichen Standorten verstehen, der Erforschung und der Konzeption von möglichen räumlichen Lösungsansätzen an. Sie bauen auf der konsequenten Erschließung von lokalem Wissen, Fähigkeiten und Strukturen auf und entwickeln hieraus einen nachhaltigen Entwicklungsansatz für Gebäude, Dörfer und Städte, Regionen und Landschaften. Mit Studierenden der Architektur und Urbanistik, ergänzt durch wissenschaftliche Begleitforschung, wurden ab April 2016 mögliche Szenarien und Konzepte zum Thema ›Innovative Wohnformen‹ für die Gemeinde Wallersdorf erforscht und in Entwurfsprojektionen vor Ort mit Bürgerinnen, Bürgern und Entscheidungsgremien diskutiert. Das Entwurfslabor wurde durch die Marktgemeinde Wallersdorf und die Regierung von Niederbayern unterstützt. 2 | Im Rahmen der interdisziplinären Seminar- und Vortragsreihe ›Wild Wild East – Der bayerische Osten unter der Lupe‹ am Lehrstuhl für Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land an der Technische Universität München, wurden Einblicke in

Gelandet im ländlichen Raum

auf die Suche in die ostbayerische Region, um über kommunale Verwaltungsgrenzen hinaus räumlich zusammenhängende Strukturen und Besonderheiten empirisch zu erkunden und zu beschreiben, sowie Perspektiven für deren Entwicklungen aufzuzeigen. Im Vordergrund stand dabei nicht die lückenlose Beschreibung des ohnehin abstrakten Gesamtsystems ›ländlicher Raum‹, sondern die Identifizierung und Darstellung von Urbanisierungsprozessen innerhalb einer ländlichen Region in Veränderung. Diese Darstellungen sind weniger Projektionen einer Raumkonzeption als vielmehr die Interpretation und graphische (Re-)Konfiguration spezifischer räumlicher Realität. Ziel des Exkurses war sowohl bestehende als auch neuartige räumliche Strukturen ausfindig zu machen und deren Entwicklungspotenziale aufzudecken. Welche räumlichen Strukturen sind in ihrem jeweiligen Kontext flexibel und adaptierbar, gleichzeitig spezifisch wirksam und können so zur allmählichen Entwicklung einer ausgewogenen Qualität und Sicherung des lokalen Umfeldes beitragen? »The way to get at what goes on in the seemingly mysterious and perverse behavior of cities is, I think, to look closely, and with little previous expectation as possible, at the most ordinary scenes and events, and attempt to see what they mean and whether any threads of principle emerge among them« (Jacobs 1961: 63).

Mit Jane Jacobs dialektischer Methodik, der Suche nach alltäglichen Szenen und Ereignissen, startete die Expedition ins ostbayerische Hinterland. Der Betrachtungsraum spannte sich zwischen München, Straubing, Deggendorf und Passau auf. Ein Raum im Osten Bayerns, der in seiner Struktur, Funktionsweise und Vielfältigkeit hinsichtlich nachhaltiger Raumplanung weitestgehend den Gemeinden selbst überlassen wird und auf überregionaler Ebene wenig Beachtung findet. Dieses Gebiet ist die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen ländlicher und städtischer Räume dargestellt und Wege aufgezeigt, diesen langfristig begegnen zu können. Es wurde eine Vielzahl an Möglichkeiten zur methodischen und visuellen Darstellung räumlicher Szenen vermittelt. Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe war die Vermittlung von Szenen im ländlichen Raum und die damit verbundenen Auswirkungen, um ein Verständnis für den Raum im Ganzen, als auch im Spezifischen zu erzeugen und in Raumbildern zu beschreiben. Die Beschreibbarkeit des Raumes stand im Mittelpunkt.

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durch unterschiedliche räumliche Entwicklungstendenzen, Probleme und Chancen gekennzeichnet, die innovative Gestaltungsmöglichkeiten und Platz für neue Ideen boten. Folgende urbane und rurale Entwicklungstendenzen mischen sich in dem Untersuchungsperimeter und stehen im direkten Austausch zueinander: • Produktionsräume und -cluster für Automobilindustrie, Chemie und Energie • Dezentralisierung von Bildungseinheiten • demographischer Wandel und Altersversorgung • Ausgleichsfunktion gegenüber anderen Teilräumen und Metropolen (Tourismus) • Lebensqualität, Mindestdaseinsvorsorge und Mobilität Abbildung 2: Überlagerung der Entwicklungen des Betrachtungsraumes in Ostbayern im Rahmen des Forschungsprojektes ›Wild Wild East – Landungsprozesse‹ (Automobil-Cluster, Chemiedreieck und Bäderdreieck)

Darstellung des Autors

Gelandet im ländlichen Raum

N eue H erausforderungen in l ändlichen G emeinden Wallersdorf liegt inmitten dieses Raumes, der von der Dekonzentrationslogik weltweit agierender Konzerne aus den angrenzenden Zentren ausgenutzt wird, um den in der Metropole herrschenden Druck auszugleichen, wobei der ländliche Raum aus ökonomischer Sicht meist gewinnt, verliert dieser in seinem räumlichen Bestand und wird in seinen Funktionsweisen stark verändert. Mit der Standortentwicklung des kürzlich in Betrieb gegangenen Logistikauslieferungslagers im östlichen Gemeindegebiet Wallersdorfs verändern sich die Anforderungen an das derzeitige Wohnraumangebot sowie Versorgungs- und Infrastrukturen innerhalb des Ortes. Im Zuge dieses Wandlungsprozesses gilt es neue Wohnformen wie Miet- und Kurzzeitwohnen für junge und alternde Bewohnende im Innenort zu entwickeln und Neuausweisungen von Bauland an den Ortsrändern zu minimieren. Es gilt die Herausforderungen und Potenziale im Ort neu zu identifizieren und zu diskutieren. Im Hinblick auf Bedarf an kommunaler und privater Infrastruktur gilt es vor allem identitätsstiftende Orte mit potentiellen Entwicklungsflächen hinsichtlich bestehender Bausubstanz und Freiraumanbindung mit kurzen Wegen und ortskernnaher Anbindungen genauer zu bestimmen (vgl. Abb. 3). Die in Wallersdorf sichtbarste Veränderung ist die seit 1980 ungefähr zweieinhalbfach vergrößerte Siedlungsfläche (vgl. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung 2014). Setzt man dies (in vereinfachter Modellrechnung) in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung, bedeutet das eine Fast-Verdoppelung der Siedlungsfläche pro Einwohner und damit eine Halbierung der Nutzungsintensität der Fläche bei gleichzeitiger Vergrößerung aller Distanzen im Siedlungsraum. Die Konzentration der Innenentwicklung liegt jedoch nach wie vor in der Ordnung der Ortsmitte im ›klassischen Sinn‹. War bislang das Betätigungsfeld Ortserneuerung und Siedlungsentwicklung mehrheitlich entweder in Erhalt und Weiterentwicklung historischer Ortskerne und Baubestände oder der planerischen Ausweisung neuer Bauplätze angesiedelt, so rücken heute verstärkt strategische Aspekte, Prozess- und Ressourcenüberlegungen in den Vordergrund einer verantwortungsvollen Siedlungsentwicklung. Defizite und zukünftige Entwicklungschancen und -potentiale finden sich derzeit jedoch meist abseits des Zentrums in den daran angrenzenden Bereichen. Hier stoßen etablierte Vorgehens-

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weisen wie die geförderte Sanierung von Ortsmitten mit Gebäuden und Fassaden oder der Rückbau von Ortsdurchfahrtsstraßen mit Verkehrsberuhigung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Abbildung 3: Leerstand einer Hofstruktur und Brache im Ortskern Wallersdorf an der Kirchgasse zwischen Marktplatz und Schulzentrum

Bild des Autors

Für die Flächenentwicklung und -steuerung abseits dieser zentralen Bereiche gibt es keine unterstützenden Mechanismen und auf Gemeindeebene sind diese Aufgaben kaum zu bewältigen. Der Ruf nach innovativen – häufig fallspezifischen – Lösungen im Ort wird laut. Besonders im ländlichen Raum hat sich die Natur der Aufgaben bei der Gestaltung und dem Umbau städtischer und dörflich-ländlich geprägter Umfelder grundlegend verändert. Bei erhöhter Wachstumsdynamik müssen die Gemeinden versuchen die Nachfrage nach Bauland in hohem Maße auf die bestehenden Siedlungsflächen zu lenken, die Bestandsgebiete zu verdichten, um bestehende Infrastrukturen intensiver zu nutzen und auszulasten. Der Fokus muss in der Stärkung der Innenentwicklung liegen, Außenentwicklungen sollten immer mehr zur Ausnahme werden. Der Bedarf an Wohnraum in Wallersdorf steigt kontinuierlich, zusätzlich ist aufgrund der Logistikentwicklung zu erwarten, dass mehr Arbei-

Gelandet im ländlichen Raum

tende in Wallersdorf Wohnraum suchen werden, aber eben nicht die typische Klientel für das Einfamilienhaus sind, sondern vermehrt kurzfristig bewohnbaren, klein zugeschnittenen Mietwohnraum nachfragt. Zudem erleben wirtschaftlich relativ starke Landgemeinden einen vermeidbaren Wegzug von Jüngeren und jungen Älteren, die für bestimmte Lebensphasen ihre Ansprüche an Wohnraum und Lebensumfeld in den wenig diversen Angeboten vor Ort nicht beantwortet sehen. (Bertelsmann Stiftung 2010) Wie können die aktuellen Herausforderungen dieser wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung nun in einen alltäglich spürbaren Mehrwert für die in Wallersdorf Lebenden und Arbeitenden offensiv angegangen und umgesetzt werden? Es muss das Moment genutzt werden die Gestaltung des Lebensumfeldes im Ort bewusst anzugehen, die sich durch den eingeleiteten Wandlungsprozess ergibt: hinsichtlich Sicherung des bedarfsgerechten Wohnraums (Unterbringung und Integration von Zeitarbeitenden), die Siedlungsentwicklung an der Bestandssicherung zu orientieren (demographiefeste Siedlungsflächen entwickeln), Anpassung der Infrastrukturen und Sicherung der Lebensqualitäten älterer Menschen (neue Bedarfsmuster für alternde Generationen), Stärkung der Ortsbindung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Sicherung von Mobilität und Erreichbarkeiten, Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement und Selbsthilfe und Sicherung des Fachkräftepotenzials. Der Gestaltungprozess sollte von den durch den Wandel Betroffenen, den Bürgerinnen und Bürgern – Alteingesessenen und Ankommenden – getragen werden, um die Lebensqualität von innen heraus durch konkrete Verbesserung des räumlichen Umfeldes zu gestalten und zu sichern.

I dentitätsstiftende S trukturen , ortsbildpr ägende G rossformen und städtebauliche E lemente – ein P otenzial für W allersdorf Insbesondere innerorts bedarf es der Fähigkeit der räumlichen Struktur, diese Wandlungsprozesse aufzunehmen, um verteilt liegende Standorte mit zentralen Funktionen in ein räumliches Gesamtsystem zu bringen. Um dem Verlust der innerörtlichen Orientierung und Lesbarkeit vorzubeugen, bedarf es der Identifizierung und Stärkung von identitätsstiftenden Elementen wie den Erhalt von baulichen Hof- und Großstrukturen,

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Ausformulierung der Ortseingänge, Verbesserung der Zugänglichkeit und Erschließung von ortskernnahen Bereichen, sowie lokaler und regionaler Freiraum- und Verbindungsstrukturen zur Stärkung des Langsamverkehrs. Einige dieser Elemente und Strukturen haben sich hinsichtlich der ursprünglichen Ortsstruktur in ihrer Bedeutung und Ablesbarkeit verwachsen, diese gilt es neu zu definieren, freizustellen und im Ortsbild neu zu integrieren. Abbildung 4: Darstellung übergeordneter, identitätsstiftender (Bau-) Strukturen, ortsbildprägender Großformen und städtebaulicher Elemente in Überlagerung mit der Grundkarte der »Sanierung Markt Wallersdorf: Vorbereitende Untersuchungen nach §141 BauGB, Wallersdorf«

Darstellung des Autors, Grundkarte (Planungsgruppe Mühle/ReichenbachKlinke/Schaflitzel 1987)

Bis heute ist Wallersdorf aufgrund der Lage am Rand des fruchtbaren Gäubodens durch landwirtschaftliche Haus- und Hoftypologien geprägt. Der Reißinger Bach und seine Überschwemmungsgebiete hatten starken

Gelandet im ländlichen Raum

Einfluss auf die stadträumliche Verteilung der Drei- und Vierseithöfe im Ort. Der landwirtschaftliche Strukturwandel und die damit verbundene Aufgabe der Höfe schreiten seit Jahrzehnten stark voran. Während im letzten Jahrhundert das Flächenwachstum in Wallersdorf hauptsächlich an den Rändern stattfand, blieben die historischen Hofstrukturen als zentrumsnahe Elemente bestehen. Eine besondere Rolle nimmt der Reißinger Bach als innerörtliche und regionale Freiraumverbindung und Rückgrat ein. Die am westlichen Ortsrand liegenden Versorgungsstrukturen sowie die wichtigen Schul- und Sporteinrichtungen im östlichen Teil des Markts sollen durch eine neue attraktive Fuß- und Radweganbindung entlang des Bachs gestärkt werden und räumlich näher an die Ortsmitte rücken. Als wesentlicher Baustein dient er als gemeinschaftlich genutzter Freiraum und trägt zur Akzeptanz und adäquaten Nutzung neuer angrenzender Wohnformen bei. Abbildung 5: Hofstrukturen entlang der Osenstraße in Wallersdorf mit abschließender und raumbildender Wirkung am historischen Ortsende

Bild des Autors

Ein wichtiger Baustein der Entwicklung und Stärkung der zentralen Ortsmitte ist die Aufwertung und Wiederbelebung der beiden Hofstrukturen des Aldersbacher Hofes und des Füeßl-Areals zusammen mit dem derzeit

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ungenutzten Lagerhaus Zitzelsberger und der dazwischenliegenden Parkplatzfläche als zentrales Gelenk am südlichen Eingang des Marktplatzes. Ortsspezifische Schlüsselstellen bilden die historischen Drei- und Vierseithöfe und deren städtebauliche Struktur und raumbildende Wirkung, wie zum Beispiel die prägnanten straßenbegleitenden Hofstrukturen mit Abschluss des historischen Ortskernes an der Osenstraße (vgl. Abb. 5). Der weitestgehende Erhalt der großen Parzellenstruktur, die Proportionen und Volumen der Einzelgebäude sowie deren Stellung zueinander und zum Straßenraum sind hier stark ortsbildprägend.

E ntwurfsl abor W allersdorf – N eues W ohnen im l ändlichen R aum Mit dem Blick auf den konkreten Ort wurden im Rahmen des ›Entwurfslabors Wallersdorf‹ von Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden in Kollaboration mit der Marktgemeinde Wallersdorf und der Regierung von Niederbayern die Fragestellungen der Orts- und Siedlungsentwicklung im suburbanen und ländlichen Raum behandelt und wünschenswerte Zukunftsbilder abgeleitet. Hierbei gilt es besonders Funktionierendes zu sichern und zu verbessern, Ungenutztes wiederzubeleben, bislang Unentdecktes sichtbar zu machen und zu erschließen: Gemeinwohl und Individualinteresse müssen in dieser Zukunftsstrategie ineinandergreifen. Neben der konsequenten Erschließung innerer Freiraumstrukturen, wie zum Beispiel entlang des Reißinger Bachs, ist die rückseitige Verknüpfung des Kernbereiches mit den mehrheitlich durch Einfamilienhäuser geprägten Siedlungsrändern unter besonderer Berücksichtigung der großen ortsbildprägenden baulichen Strukturen zentrale Forderung für eine ortsbauliche Integration in Wallersdorf. Zu beobachten ist, dass sich viele dieser Strukturen zwischen Zentrums- und Randlage, in einer ringförmigen Zone minderer Qualität um den Marktkern wiederfinden. Diese ›schwache Zone‹ liegt nicht in der relativ leicht zu qualifizierenden Mitte, sondern im direkt angrenzenden, ersten ortskernnahen Gürtel, der durch sehr heterogene Strukturen geprägt ist und aufgrund seiner räumlichen Nähe zu Kern und Kernfunktionen dennoch eine Eignung für die Erneuerung besitzt, zum Beispiel durch neue Wohn- und Dienstleistungsprogramme. Zudem besteht hier die Chance für die Qualifizierung des im wachsenden Ort immer wichtiger werdenden Freiraums.

Gelandet im ländlichen Raum

Es braucht vor allem konzeptionelle Umsicht, mit der nicht einfach nur die Neugestaltung des Marktplatzes argumentiert wird, sondern die Dringlichkeiten und Potenziale einer viel weiterreichenden Umfeldverbesserung im gesamten Innenort. Hinsichtlich innerörtlicher Mobilität beinhaltet dies besonders, die immer größer werdenden Verbindungen zwischen Randgebieten und Ortskern auf dem Fußgänger- und Radfahrermaßstab attraktiv zu gestalten, um unter Umständen eine Verlagerung zentral gelegener lokaler Versorgungs- und Einzelhandelsstandorte nach außen zu vermeiden. Auf baulicher Ebene fehlen in diesen ortskernnahen Zonen oftmals die notwendigen Freiraumbezüge aufgrund der typischen Grundstückszuschnitte, die hinsichtlich Erschließung, Orientierung und Nutzung der Bauten meist eingeschränkt sind. Ein langfristig wirksamer Impuls kann für die Ortsentwicklung nur entstehen, wenn die Verklammerung mit den weiter außerhalb liegenden Teilen der Ortschaft gelingt. Abbildung 6: Darstellung von Potentialflächen in zweiter Reihe um die Ortsmitte (gepunktete Zone) und Verbindungen innerhalb des Markts Wallersdorf, mit dem Reißinger Bach, sowie EHF-Siedlungsgebiete (kariert) und mögliche Entwicklungsflächen innerhalb des Ortskernes

Werkstatt Wallersdorf (T. Friedrich, J. Hemmelmann, J. Numberger)

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Mit Blick auf die Statistik zeigt sich, dass sich der neugeschaffene Wohnraum bislang primär auf den Bau von Einfamilienhäusern reduziert. Der Bestand an Wohngebäuden mit nur einer Wohneinheit umfasst 84,7 Prozent, der diesbezügliche Neubau belief sich im Jahr 2015 sogar auf 94,7 Prozent. (Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung 2014) Unter Nutzung der bestehenden baulichen und freiräumlichen Strukturen lassen sich im Ortszentrum von Wallersdorf gut vielfältige Wohnformen anbieten, welche optimiert auf bestehende Bedarfe reagieren können. Ein differenzierteres Wohnraumangebot im Ortskern schafft langfristig eine Attraktivitätssteigerung für ein breiteres Spektrum und steht im direkten Kontext zu einer nachhaltigen Stärkung des öffentlichen Lebens und der Kaufkraft im Ort.

E rfolgsfaktoren Viele Gemeinden und Kleinstädte im ländlichen Raum sind mit ähnlichen Potentialen und Defiziten konfrontiert. Die Aufarbeitung von Erfolgsfaktoren für Wallersdorf benennt zu bewältigende Schlüsselthemen und leitet sie in Prinzipien für den Übertrag auf weitere Bestände und Gemeinden ab. Im ländlichen Raum Bayerns werden die vorher beschriebenen, an die Ortsmitte angrenzenden Zonen in unmittelbarer Peripherie zum Zentrum in einzelnen, flächig entwickelten Orten, vor allem auch in größeren Gemeinden und kleinen und mittelgroßen Städten sichtbar und sind bislang wenig beachtet, weil diese planerisch nur schwierig zu bewältigen sind. Während die bessere Integration der Raumstruktur durch Maßnahmen in Freiraum und Mobilität mehrheitlich öffentliche Belange betrifft, kann die Erneuerung des Kernumfeldes nur durch Verabredungen zwischen öffentlichem und privaten Handeln gelingen, da sich der größte Teil der Potenzialgrundstücke in privatem Eigentum befindet. Die Wohnraumthematik kann inhaltlicher Treiber dieser Entwicklung sein, vor allem hinsichtlich bestehender identitätsstiftender Strukturen und Elemente, welche durch Umnutzung, Umbau und Weiterentwicklung dem Ort Wallersdorf in Zukunft ein starkes ortstypisches Gepräge geben können und zur Verbesserung von Lebens- und Umfeldqualität im gesamten Ortsbereich beitragen. Auf der Basis eines Entwicklungskonzepts

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müssen die Maßnahmen im Umgang von baulichem Bestand mit der Verbesserung der Freiraumqualitäten ineinandergreifen und für unterschiedliche Bevölkerungs- und Altersgruppen und deren Anforderungen zugänglich sein. Welche konkreten Maßnahmen letztlich umgesetzt werden können, um eine zukünftige Belebung und Bewohnbarkeit des Ortes auf mehreren Ebenen zu sichern, hängt entscheidend davon ab, inwiefern der Orts- und Siedlungsumbau als gemeinsames Projekt verankert werden kann. Hierzu gehört neben dem Anschub formeller Verfahren, wie planerischen Voruntersuchungen und der Förderung von Modellprojekten auch die aktive und gestaltende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zusammen mit den Gemeindeverantwortlichen.

L iteratur Arch +228 (2017): StadtLand – Der neue Rurbanismus. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (2014): »Demographisches Profil für den Regierungsbezirk Niederbayern«, in: Beiträge zur Statistik Bayerns Heft 546/2014, München: o.A. Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2010): Wegweiser Kommune, Informationsplattform über demografische Entwicklung in Kommunen, Gütersloh: www.wegweiser-kommune.de vom 13.1.2017. Carlow, Miriam Vanessa (2016): Ruralism – The future of Villages and Small Towns in an Urbanizing World, Berlin: Jovis. Dufter, Vinzenz (2002): Der Vierseithof im Siedlungsgefüge. Dissertation, München. Faber, Kerstin/Oswalt, Philipp (Hg.) (2013): Raumpioniere in ländlichen Regionen. Neue Wege der Daseinsvorsorge, Edition Bauhaus 35, Stiftung bauhaus dessau, Berlin: Spector Books. Franke, Silke/Glück, Alois/Magel, Holger (Hg.) (2011): Gerechtigkeit für alle Regionen in Bayern – Nachdenkliches zur gleichwertigen Entwicklung von Stadt und Land, München: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. – Akademie für Politik und Zeitgeschehen. Gebhard, Torsten (1975): Der Bauernhof in Bayern, München: Süddeutscher Verlag. Jacobs, Jane (1961): The Death and Life of great american cities. New York: Vintage Books, A Division of random house, inc.

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A bbildungen Abbildung 1: Andy Westner (Aus dem Forschungsprojekt ›Wild Wild East | Landungsprozesse‹, sustainable urbanism, TU München, Seite 3). Abbildung 2: Andy Westner (Aus dem Forschungsprojekt ›Wild Wild East | Landungsprozesse‹, sustainable urbanism, TU München, Seite 8). Abbildung 3: Andy Westner (Aus dem städtebaulichen Entwurfssemester (2016) ›Entwurfslabor Wallersdorf – Neues Wohnen im ländlichen Raum‹, sustainable urbanism, TU München, Seite 10). Abbildung 4: Andy Westner (Aus dem städtebaulichen Entwurfssemester (2016) ›Entwurfslabor Wallersdorf – Neues Wohnen im ländlichen Raum‹, sustainable urbanism, TU München, Seite 14). Abbildung 5: Andy Westner (Aus dem städtebaulichen Entwurfssemester (2016) ›Entwurfslabor Wallersdorf – Neues Wohnen im ländlichen Raum‹, sustainable urbanism, TU München, Seite 16). Abbildung 6: T. Friedrich, J. Hemmelmann, J. Numberger (Aus der Masterabschlußarbeit ›Werkstatt Wallersdorf‹ (2016), sustainable urbanism, TU München, Seite 24).

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›Country lofts‹ Zur Wiederaneignung historischer ländlicher Bausubstanz Ines Lüder »As found is a small affair: it’s about being care​ful.« S mithson 2001

Aktuell taucht der Begriff ›Loft‹ im Zusammenhang mit ländlichen Räumen auf. Ausgehend von zwei solchen Projekten konzeptualisiert dieser Beitrag das Phänomen der ›country lofts‹. Das Konzept umschreibt eine aktuelle Art des Umgangs mit historischem Baubestand in sich transformierenden ländlichen Regionen als Erscheinungsform eines neuen Rurbanismus (vgl. Arch+ 228/2017). Nachfolgend einer thematischen Einführung und einer Beschreibung der wesentlichen Merkmale von Lofts, wird das Konzept auf seinen unterschiedlichen Ebenen beschrieben und am Schluss bezüglich seiner Potentiale und Herausforderungen diskutiert. ›Country lofts‹ bezeichnet (weiter-)gebaute Gebäude als Ressource und basiert auf einer prozessorientierten Haltung. ›Country lofts‹ ist zudem eine Praktik und Entwurfsmethodik der Aneignung sowie eine regionale Strategie.

Thema Mit den umfassenden Veränderungen in der Landwirtschaft ist schon vor über einhundert Jahren die ursprüngliche Nutzung von ländlicher Bausubstanz in vielen Fällen verloren gegangen. Neue Gebäudetypen wurden errichtet und somit auch das Erscheinungsbild ländlicher Räume verändert. In der Folge sind durch die volkskundliche Hausforschung Bauern-

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häuser und Scheunenkonstruktionen als historische Typen definiert worden. Weitere Folgen sind einerseits die kontinuierliche Überformung des historischen Bestandes für die Anpassung an die veränderte (landwirtschaftliche) Nutzung und andererseits Leerstand und Verlust. Die Betrachtung der historischen Bausubstanz als Träger kultureller Identität, als historisches Zeugnis und somit als Schutzgut ist weit verbreitet. Aus dieser Perspektive heraus werden Überformung und Verlust als schmerzhaft empfunden. Die nachvollziehbare Absicht, bauliche Zeugnisse in ihrer ursprünglichen, idealtypischen Form zu erhalten, gelingt manchmal. Es wird jedoch meist nur das Bauwerk konserviert, losgelöst von seinem vormals (landwirtschaftlich) produktiven, kulturlandschaftlichen Zusammenhang. Die Relokalisierung von Gebäuden in Freilichtmuseen ist deutlichster Ausdruck hierfür. So wie diese extreme Form der Konservierung ohne weitere Nutzung, kommt auch die Erhaltung bei sich unterordnender Nutzung einer Archivierung gleich. Berechtigung, Notwendigkeit und Möglichkeit hierfür sind sicherlich für einige Gebäude gegeben, jedoch nicht für eine größere Masse realistisch. Von heutigen landwirtschaftlichen Nutzerinnen und Nutzern wird der historische Bestand zudem eher als Last, denn als schützenswert wahrgenommen. Es besteht ein Dilemma zwischen dem Wunsch, die Gebäude in ihrem historischen Idealtypus zu erhalten und den stark veränderten Nutzungsanforderungen. Historischer Baubestand wird oft vorschnell entsorgt. Es »fehlt eine grundsätzlich positive Haltung zum Bestand« (BDA 2016: 1) und es fehlt an angemessenen Aneigungsstrategien. Jedoch erscheint es so, als ob eine aktuelle urbane Dynamik auf dem Land produktiv gemacht werden könnte für die Fortschreibung von charakteristischen regionalen Kulturlandschaften. Diese bestimmen sich nicht nur über einzelne denkmalgeschützte Objekte, sondern auch über den gesamten Bestand der (historischen) Bau- und Siedlungsstrukturen und deren Bezüge zum Territorium (vgl. Corboz 2001). Fortschreibung meint die Weiternutzung und Revitalisierung dieser Strukturen mit dem Ziel, räumliche Qualitäten und Wertschöpfung nachhaltig zu ermöglichen. Als wünschenswert wird eine zukünftige breite und produktive landwirtschaftliche Nutzung des historischen Bestandes formuliert, welche ähnlich kleinmaßstäblich, also in die Gebäude passend, sein müsste, wie zu früheren Zeiten (vgl. Meier 2010: 9). Darüber hinaus entwickeln sich auch noch ganz andere Nutzungsmöglichkeiten des Be-

›Countr y lof ts‹

standes für das Wohnen und Arbeiten. Das Phänomen ›country lofts‹ ist Ausdruck dieser aktuellen urbanen Dynamik auf dem Land.

L oft Das englische Wort › loft‹ bedeutet ein Raum oder Geschoss unterhalb des Daches, ein Dachboden, ein Speicher. Von dieser Raumtypologie hat sich die Bedeutung zudem zu einer Wohntypologie erweitert. Ausgangspunkt hierfür war eine urbane Praktik vor allem von Künstlern Mitte des 20. Jahrhunderts in New York City. Diese haben in zentral gelegenen, leer gefallenen Gewerbe- und Fabriketagen gearbeitet und, zunächst unerlaubt, auch gewohnt – und damit neue urbane Netzwerke etabliert. Das Model des europäischen Künstlerstudios aus dem 19. Jahrhundert, welches gleichzeitig der Arbeit und dem Wohnen diente, wurde hierfür adaptiert (vgl. Field/Irving 1999: 106f.). So hatte auch das Loft Vorläufer und kann als Beispiel einer globalen Verbreitung von Lebensmodellen und von Architektur gelesen werden. Die pionierhafte Aneignung der Lofts wird als subversiv und politisch beschrieben (ebd.: 4f.): Sie kann verstanden werden als Gegenbewegung zu dem damaligen Trend des Wohnens in der Vorstadt und als »Teil einer Bewegung, die den Wert des architektonischen Erbes der Städte erkannt hat und dieses pflegen will« (Slesin/Cliff/Rozensztroch 1988: viii). Baulich handelt es sich bei den Lofts meist um Skelettkonstruktionen mit weiten, hellen Räumen. Das günstige und großzügige Raumangebot war relevanter Treiber für die Aneignung. Raum, der zunächst noch unkomfortabel war und erst bewohnbar gemacht werden musste, der jedoch auch eine flexible, individuelle Nutzung und Gestaltung ermöglichte: das Loft als Labor für alternative Wohn- und Lebensstile und damit als Ausdruck der Persönlichkeit des Bewohnenden (vgl. Banks/Tanqueray 1999: 45). Die frühere industrielle Nutzung ist in den Räumen, in ihrem Material und ihrer Atmosphäre erlebbar und wird bewusst erhalten. Dies mag anfangs den wenigen Mitteln geschuldet gewesen sein, hat jedoch auch mit einer Wertschätzung für die Geschichte sowie für die räumliche und materielle Spezifik des Vorgefundenen zu tun. Im Loft verbinden sich ein urbaner Lebensstil und der architektonische Entwurf für die neue Nutzung mit dem historischen Bestand zu etwas Neuem mit erstaunlicher Wirkung:

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» Loft dwellers seem to be the most fascinating of all urban dwellers. They are the heroes of our modern cities who have fought to rescue and preserve the city without destroying it, turning grand monuments of the past into grand residences of the future. Once-forgotten neighborhoods in many cities have been restored to some of the most exciting residences on the planet.« (Molnar 2001: 9)

Mit den Lofts änderte sich nicht nur das Innere der Gebäude, sondern auch der ursprünglich unattraktive, in Teilen unbewohnte Stadtraum. Akteurinnen und Akteure verschiedener Milieus zogen nach, Netzwerke verdichteten sich, die Quartiere wurden lebendig – mit entsprechenden Folgen für die Immobilienwerte. »Lofts quickly became the territory of the cool, successful and beautiful« (Banks/Tanqueray 1999: 10). So wurde das Loft auch zu einem exklusiven, hochpreisigen Wohnmodel und Verwertungsobjekt. Die eigentliche Bedeutung wird verfälscht, wenn die geschichtliche Patina zum Klischee und Fetisch wird, das Loft zum Einrichtungsstil mutiert oder gar Lofts als Neubauten hergestellt werden (vgl. Field/Irving 1999). Für diese Betrachtung soll im Vordergrund stehen, dass Lofts – und das drückt sich in der eigenständigen Benennung aus – sich zu einer architektonischen und urbanen Typologie entwickelt haben. »While it might be difficult to prove a direct lineage between lofts and some of the world’s most dynamic new architecture, an approach to working in the shells of existing buildings – and even the forms of some new buildings – have certainly been informed by the design and culture of lofts« (Field/Irving 1999: 192).

Die das Loft kennzeichnenden Wirkmechanismen sind übertragbar zum Beispiel auf Museen – die Tate Gallery in London wird als das größte Loft der Welt bezeichnet (ebd.) – oder auf die Stadt an sich in der Betrachtung »City as Loft« (Baum/Christiaanse 2012). Welche Potentiale bietet das Loft für die Transformation der ländlichen Räume?

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›C ountry lofts ‹ Im Projekt Bern rUrban1 (yellow z Berlin 2005) sind die dort so genannten ›LandLofts‹ konzipiert als Teil eines räumlichen Entwicklungskonzeptes für die Region Bern, bei dem der produktive Umgang mit den gewachsenen kulturlandschaftlichen Strukturen im Vordergrund steht. ›LandLofts‹ bezeichnen als Konzept die Nachnutzung bestehender Hofstellen als Gegenmodell zu neuer Flächeninanspruchnahme. Die denkbaren Herangehensweisen an den Bestand umfassen den Erhalt, die Umnutzung, den Rückbau und/oder die Ergänzung mit Neubauten (vgl. Diekmann/ Schröder 2005). Vom Architekturbüro office haratori wird die Transformation einer alten Stallscheune explizit zum ›alpinen Loft‹2 erklärt. Das Projekt steht exemplarisch für eine Reihe aktueller architektonischer Umbauprojekte. Bei diesen werden über die individuelle Nutzung eines offenen Raumangebotes und über den Dialog zwischen Alt und Neu Qualitäten sowohl für die Bewohnenden als auch für den lokalen Kontext geschaffen. Das in diesem Beitrag dargestellte Konzept der ›country lofts‹ baut auf den genannten Projekten auf. Es umfasst die Wertschätzung für den Bestand der historischen ländlichen Gebäude, dessen pionierhafte Aneignung sowie die damit verbundenen architektonischen Erfindungen und sozialräumlichen Netzwerke. Da Lofts eine dezidiert urbane Typologie bilden, erscheint die Verbindung mit dem Land zunächst paradox. Speicher, Scheunen und Wirtschaftsbereiche von Bauernhäusern sind jedoch lofts im englischen ursprünglich wörtlichen Sinne. Diese Bedeutung ist der Grund für die vorgenommene englische Benennung der ›country lofts‹. Ähnlich wie in den Fabriketagen finden sich in ihnen große, nutzungsoffene Räume, sichtbare Konstruktionen und Materialien sowie Relikte früherer Nutzungen: geschichtliche und atmosphärische Räume, gleichzeitig spezifisch und offen, bilden die Basis für heutige Transformationen. Zudem lösen neue oder veränderte, urbane Nutzende in ländlichen 1 | Ideenkonkurrenz Bern rUrban, 2005: büro Z architektur städtebau planung, process yellow architekten und stadtplaner, lad+ landschaftsarchitektur, IBV Hüsler AG (http://yellowz.net/ein-bild-der-region-bern/; 31.08.2017). 2 | Realisiertes Projekt Haratori Office Mathon, 2012-16: Architekturbüro office haratori (http://www.haratori.ch/projects-files/items/haratori-office-mathon. html?status=completed; 31.08.2017).

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Räumen das Paradox auf. Ihnen dient das Haus nicht allein als SchlafContainer – vielmehr etablieren sie vielfältige soziale und wirtschaftliche Bezüge im Raum. Es ist die Verschmelzung urbaner Praktiken und ruraler Strukturen in neuen rurbanen Räumen (vgl. Langner 2016: 88), welche die ›country lofts‹ auszeichnen.

R essource B estand Mittels der Konzeptualisierung als ›country lofts‹ soll ausgedrückt werden, dass der historische ländliche Baubestand, insbesondere die Bauernhäuser, Scheunen und Ställe, nicht nur schützenswerte Denkmale, also aussagekräftige materielle Zeugnisse, sondern auch brauchbare Ressourcen in verschiedener Hinsicht sind (vgl. Petzet/Heilmeyer 2012; Warda 2016: 358ff.). Der Bestand ist mit seiner gespeicherten grauen Energie materielle Ressource, die es im Sinne der Nachhaltigkeit unbedingt zu nutzen gilt. Eine Umbaustrategie ist umso effektiver, je weniger Änderungen vorgenommen werden und je weniger Energie dafür verbraucht wird (vgl. Petzet 2012: 10). Das Material ist atmosphärische Ressource, welche bei neuer lebendiger Nutzung sinn- und identitätsstiftend wirken kann (vgl. Züst/Joanelly 2008: 85). Gespeichert ist im Bestand Wissen und Geschichte. Er trägt geistige und materielle Spuren (vgl. Aicher/ Kaufmann 2015a: 19). Als kulturelle und soziale Ressource schafft er Lebensqualität und Attraktivität (ebd.). Das Bewusstsein für die eigene Identität wird bildhaft im Bestand, der den Menschen als Lebensort dient (vgl. Aicher 2015: 11). Der Baubestand ist regionales Gut auch hinsichtlich seiner städtebaulichen Struktur. Er bildet eine räumliche Ressource. Er ist nicht nur potentielles Verlustobjekt, sondern wertvoller Potentialraum für neue Wohn- und Arbeitsformen. Im Hinblick auf seine Umnutzung und seinen Umbau ist er wirtschaftliche Ressource. Nicht zuletzt stellt er mit seiner räumlichen Spezifik auch eine Ressource für den architektonischen Entwurf (vgl. Warda 2016: 306ff.; 336f.), für das bauliche Wissen und für »baukulturelle Innovationen« dar.3 Die Kultivierung der regionalspezifischen Ressourcen wird als Rezept für die erfolgreiche Entwicklung 3 | Bundesstiftung Baukultur: Baukulturwerkstatt Umbaukultur Bochum, 2017 (https://www.bundesstiftung-baukultur.de/veranstaltungen/umbaukultur; 31.08. 2017).

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von Kulturlandschaft und regionaler Wertschöpfung beschrieben (vgl. Aicher 2015: 11). Der Umgang mit dem Bestand gestaltet sich als Sinnstiftungsprozess (vgl. Meyer 2009). Die Lofts haben in Städten erfolgreich zu einer höheren Wertschätzung und Revitalisierung der Ressource Bestand beigetragen. Mit den ›country lofts‹ besteht die Möglichkeit, durch neue Nutzungen und architektonische Erfindungen solch einen Prozess auch auf dem Land in Gang zu setzen.

P rozesse des B auens Die mit dem Konzept ›country lofts‹ verbundene Haltung betont das Prozesshafte des Bauens sowie des Gebäudetypus. Das Loft zeichnete sich ursprünglich durch ein gestaltendes Leben im umgewidmeten, provisorischen Bestand aus. Auch das Haus im bäuerlichen Alltag war und ist nie fertig: »Immer wurde gebaut – pragmatisch, sparsam, sorgfältig. Gewiss war nur der Wandel« (Aicher/Kaufmann 2015a: 13). Die ländlichen Gebäude sind Bestandteil des tätigen Lebens (vgl. ebd.: 19), das Gebaute ist Geschehen (vgl. ebd.: 13). Hieraus speist sich eine kontextuelle Lebenserfahrung, der »Hausverstand« (ebd.) der Bewohnenden. Diese Prozesshaftigkeit des bauenden Wohnens wird auch für eine Umnutzung und bauliche Weiterentwicklung eingefordert (vgl. Aicher 2015: 11). Erst durch solch eine Aneignung der historischen Bausubstanz wird aus ihr ›belebte Substanz‹: »In besonderem Maß gilt das für umgebaute Bauernhäuser; ihre Geschichte und ihr Potenzial werden gegenwärtig, ihr Ort wird zum Kulturraum, ihre stoffliche Präsenz zum sinnlichen Erlebnis« (Aicher/ Kaufmann 2015a: 8). Die Gebäude können somit der Musealisierung, verklärten Idylle oder Banalisierung entkommen. Die Typologisierung von Bauernhäusern und Scheunen hat dazu geführt, dass ihre Idealbilder sehr stabil im kulturellen Bewusstsein verankert und mit Bedeutung aufgeladen sind. Jedoch entwickeln sich Gebäude, die einstmals über ihre Ähnlichkeiten den historischen Idealtypus ausmachten, teilweise divergent weiter (vgl. Lüder 2017: 86f.). Kultur und Technik schreiben sich als Nutzungsänderungen und bauliche Adaptionen immer wieder in den architektonischen Typus ein. Angesichts seiner persistenten und veränderten Elemente ist es kaum möglich, das Alter eines Gebäudes zu bestimmen. Gebäudetypen sind nicht starr, sondern befinden sich in einem Entwicklungsprozess. Die Verschmelzung eines

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historischen Industriebaus mit einer neuen Nutzung und die entsprechenden baulichen Transformationen sind grundlegende Merkmale von Lofts. Der ursprüngliche Typus geht auf in etwas Neuem, was sich auch in der Benennung ausdrückt. Mit dem Konzept ›country lofts‹ ist eine neue Lesart und Aufforderung zur kulturellen Weiterentwicklung in diesem Sinne verbunden. Der historische Idealtypus wird überformt, der Typus hingegen bleibt durch seine Weiterentwicklung lebendig.

A neignung des B aubestands Die landwirtschaftliche Nutzung hat sich aus vielen historischen ländlichen Gebäuden zurückgezogen und findet in anderen Architekturen statt. Infrastrukturen und die Agrar- und Energieproduktion schaffen weite menschenarme und von spezifischen lokalen Bedingungen abgekoppelte ländliche Räume (vgl. Willisch 2013). Und doch wird auf dem Land immer noch gewohnt und gearbeitet. Es gibt den Sehnsuchtsort des guten Lebens auf dem Land genauso wie die pragmatische Alltagswelt. Beide können und werden auf ganz unterschiedliche Weise realisiert und gelebt. Es existieren vielfältige neue Wohn- und Arbeitsmodelle, die denen in den Städten ähneln und nicht zuletzt durch heutige Vernetzung und Mobilität ermöglicht werden (vgl. Koolhaas 2014). Wie die ersten Nutzenden der Lofts zeichnen sich die heterogenen Akteurinnen und Akteure, die Gestaltenden und Raumpioniere (vgl. Faber/Oswalt 2013) durch Neugierde und Mut, durch Vertrauen auf die Werte des Bestandes und durch schlichtes Machen aus. Für sie bilden die ›country lofts‹ Möglichkeitsräume für die Aneignung – für ein individuelles und flexibles, kontextuelles und atmosphärisches Leben im Bestand. In ihnen können die Funktionsüberlagerungen von Wohnen und Arbeiten an einen Ort – die es im Übrigen in historischen Bauernhäusern immer gegeben hat – in neuer Interpretation fortgeführt werden: der weitergebaute Stall dient dem Arbeiten und dem Sein.4

4 | Vgl. office haratori: (http://www.haratori.ch/projects-files/items/haratorioffice-mathon.html?status=completed; 31.08.2017).

›Countr y lof ts‹

Das Loft ist eine Form der Umwertung von Architektur5. Die Weiter- oder Wiederverwendung soll nicht als Stil, sondern als Methode verstanden werden, dessen wesentliches Kriterium die entwerferische Wiederaneignung des Bestandes ist (vgl. Warda 2016: 314ff., 340), eine Syntheseleistung »von Erhalt und Nutzung, von Respekt und Transformation« (Hagspiel 2015: 28). In der Aufgabe, neue (funktionale) Ansprüche und technische Standards mit dem vorhandenen Bestand in Einklang zu bringen, liegt ein Potential für architektonische Erfindungen. Solch eine »Architektur der Ungleichzeitigkeiten« (Warda 2016: 341) wird beschrieben »als Geste der Versöhnung, auch zwischen materieller ›Wahrhaftigkeit‹ und der Eigenständigkeit des Entwurfs« (ebd.: 302). Mit dem Verständnis für die räumlichen und materiellen Bedingungen und Qualitäten des Bestandes und für das ihm inhärente bauliche Wissen werden Entwurfslösungen in diesem Sinne möglich. Die ursprüngliche Aneignung der Lofts war pragmatisch und erfindungsreich, aus der Not heraus minimalintensiv. Ein »aktives Seinlassen« (Aicher/Kaufmann 2015a: 21) wird auch für den Umgang mit Bauernhäusern gefordert. Die Wiederaneignung der ›country lofts‹ ist intensive Auseinandersetzung mit dem Kontext und dem Material, ist langsamer, kontinuierlicher Prozess – eine vorsichtige gestalterische Praxis des sich Einlassens und des Findens sowie Erfindens. In der Gleichzeitigkeit und Mehrdeutigkeit, welche die Verbindung von Alt und Neu hervorbringt, liegt Ambivalenz und Spannung. Die Lösungen für den Einzelfall sind individuell und manchmal streitbar. ›Country lofts‹ beschreibt also die Aneignung von historischer ländlicher Bausubstanz als eine rurbane Praktik und entwerferische Methode. Hiermit ist eine Einladung zu neuen Nutzungsmodellen und verstärktem architektonischen Experiment beim Umbau verbunden. Eben dieses hat maßgeblich zur Verbreitung und Anerkennung der Lofts beigetragen (vgl. Field/Irving 1999: 5). Herausragende Beispiele der Wiederaneignung von Bauernhäusern und Scheunen6 können als Vorbilder wirken und im

5 | An der mittleren Stelle im Wertesystems zum Umgang mit Bestandsgebäuden: Reduce/Reuse/Recycle (vgl. Petzet 2012: 9f.). 6 | Beispielsweise Projekte von Peter Haimerl (www.urbnet.de/) oder Thomas Kröger (http://thomaskroeger.net/de/tenne/vom 31.08.2017).

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Sinne eines Transformationsdesigns (vgl. Beucker 2016) eine neue/alte regionale Umbaukultur 7 begründen.

R egionale S trategie Für die sich stark verändernden ländlichen Räume werden angepasste Entwicklungsstrategien benötigt (vgl. Carlow/ISU 2016: 6-9). Die Region ist aktuelles Handlungsfeld und aktueller Entwurfsraum für eine neuartige Gestaltung (vgl. Koch/Schröder 2006: 19). Das Konzept der ›country lofts‹ verbindet den architektonischen mit dem regionalen Maßstab. Es beschreibt eine Art des Umgangs mit dem Bestandsgebäude und zielt gleichzeitig darauf ab, regionale Netzwerke und Wertschöpfung zu stärken und zu etablieren durch die erhaltende Transformation möglichst vieler Gebäude und spezifischer Siedlungsstrukturen. Als Teil einer charakteristischen regionalen Kulturlandschaft sind die Gebäude nicht nur private Einzelobjekte, sondern ebenso Gemeingüter. Was beim Loft das Stadt-Panorama und die Verbindung mit dem urbanen Quartier ist, ist bei den ›country lofts‹ der Blick in die Landschaft und das Eingebundensein in neue rurbane Netzwerke8. ›Country lofts‹ können Keimzellen einer gesellschaftlichen Neugier auf die Weiterentwicklung und Neuerfindung von Dörfern und Regionen sein. Das Selbstverständnis einer Region drückt sich in der »weitergebauten Baukultur« (Aicher/Kaufmann 2015a: 17) aus. Es lebt durch den Austausch der am Bau Beteiligten und durch die Identifikation mit dem kulturellen Prozess9.

7 | Zu Umbaukultur siehe StadtBauKultur NRW (https://stadtbaukultur-nrw. de/) und Bundesstiftung Baukultur (https://www.bundesstiftung-baukultur.de/ veranstaltungen/umbaukultur vom 31.08.2017). 8 | Beispiele für Norddeutschland sind u.a. die Kulturnetzwerke im Wendland https://www.kulturelle-landpartie.de/ueber.html) oder in der Uckermark (www. um-festival.de/de/das-festival/konzept.html vom 31.08.2017). 9 | Beispielhaft sind professionelle Netzwerke im Bregenzerwald (siehe http:// werkraum.at/werkraum-bregenzerwald/und www.holzbaukunst.at/organisationmission.html) oder die regionale Vermarktung in Vorarlberg (https://www.vorarl​ berg.travel/architektur-baukultur/vom 31.08.2017).

›Countr y lof ts‹

»Stallprojekte werden zum Gemeinwerk und rücken für dorf- und regionalpolitische Planungen und Gestaltungen in vordere Ränge. Sie fügen sich in Strategien ein, um die Dörfer als vitalen Lebensraum zu erhalten und zu entwickeln. Die Artenvielfalt dieser Projekte stimmt zuversichtlich. Der nicht mehr gebrauchte Stall wird zum Ausgangsort und zur Metapher einer neu erfundenen Landschaft und Landwirtschaft in den Alpen.« (Meier 2010a: 30)

Im Projekt Bern rUrban ist mit den ›LandLofts‹ neben der Weiterentwicklung der charakteristischen Siedlungsstruktur auch die Produktion von Landschaft verbunden. Sich wandelnde Interaktionen zwischen Siedlung und Landschaft im Zuge von Nutzungsänderungen stehen im Mittelpunkt. Als Ziel wird die Weiterentwicklung von Kulturlandschaft beschrieben, welche die Funktionstrennung überwindet und sich durch die Überlagerung von Tätigkeiten und räumlichen Atmosphären auszeichnet. Für die neuen Nutzenden sollen mit dem Eigentum gleichermaßen Nutzungsrecht und Bewirtschaftungspflicht der Kulturlandschaft verbunden sein (vgl. Diekmann/Schröder 2005). Mit der bewussten und kontinuierlichen Produktion geht eine neue gesellschaftliche Verantwortungsübernahme für die regionale Kulturlandschaft einher. Ähnlich wie bei den Lofts (vgl. Field/Irving 1999: 4) kann die Weiterverwendung von historisch-ländlicher Bausubstanz zur politischen Strategie und zum gesellschaftlichen Projekt werden, welche zur Revitalisierung von Lebensorten, regionaler Charakteristik und Wertschöpfung beitragen.

F a zit Was können wir vom Loft für den Umgang mit historischen Gebäuden in sich transformierenden ländlichen Regionen lernen? ›Country lofts‹ beschreibt den Baubestand als vielseitige und weiter zu nutzende Ressource. Die mit dem Konzept verbundene Haltung erkennt die Prozesse des Wohnens und Bauens an und fördert die Weiterentwicklung von Gebäudetypen. ›Country lofts‹ bezeichnet eine Praktik der Aneignung von Bestand für neue oder veränderte, heterogene Nutzungen und Netzwerke und ist mit einer Entwurfsmethodik verbunden, welche sich durch die gleichzeitige Wertschätzung für den Bestand und dessen architektonische Adaption auszeichnet. Es ist eine Perspektive für den Bestandsumbau, der zwischen Konservierung, totaler Überformung und Verfall bzw.

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Abriss liegt. Das Konzept entfaltet sich auf architektonischer und regionaler Ebene. Gebäude – als Bestandteile des Beziehungsgefüges des Territoriums – werden transformiert und inspirieren gleichermaßen die urbane Dynamik aus sich heraus. Den Mühen und Kosten, die für den Umbau von einzelnen Objekten eingesetzt werden müssen, steht die Schaffung von atmosphärischen und charakteristischen Orten, von sozialräumlichen Gemeinschaften und von regionalem Mehrwert in Form von aktualisierten Sinn- und Produktionszusammenhängen gegenüber: »The blurred boundaries between social space, private space and work space continues to be a defining feature of loft culture and an essential part of its complex nature.« (Field/Irving 1999: 111) ›Country lofts‹ schreiben rurale Eigenheiten fort und sind gleichzeitig Bestandteil einer zeitgenössischen kulturellen Entwicklung und Umbaukultur. Sie sind Erscheinungsform und Potential der Urbanisierung der ländlichen Räume, der rurbanen Landschaften. Offen ist die Frage, wie das alltäglich stattfindende Leben und Bauen im historischen Bestand (hier ist auch der Abriss miteingeschlossen) positiv, im Sinne des Konzepts beeinflusst werden kann. Nicht alle Umbauten können die Sensibilität, Qualität und Innovation der Vorbildprojekte besitzen. Bleiben die ›country lofts‹ der Luxus weniger Menschen? Werden sie – reduziert zu einem Stil – zum Statussymbol und Verwertungsobjekt des Immobilienmarktes? Und sind sie dann zu bewerten als Inbesitznahme einer ruralen Idylle für die Bedürfnisse von Stadtmenschen? Darf bei der individuellen Aneignung das Gebäude nur innen verändert werden, damit es von außen erkennbar typisch bleibt? Wie sähe andererseits eine transformierte rurbane Landschaft mit vielen unterschiedlich veränderten Gebäudetypen aus? Um eine regionale Charakteristik weiterzuführen und keinen ›Architekturzoo‹ von verschiedensten Einzellösungen entstehen zu lassen, ist eine hohe architektonische Qualität beim Weiterbauen notwendig10. Für eine Umbaukultur braucht es die gemeinsame Auseinandersetzung über regionalspezifische Strukturen, Morphologien, Proportionen, Konstruktionen, Materialien, über Bautechnik und Handwerk. Das Potential des Konzepts liegt in dem gesellschaftlichen Dialog über den vorgefundenen lokalen und regionalen Kontext und über daraus resultierende Neu-Entdeckungen. Es liegt in der authentischen, wertschät-

10 | Zu möglichen Kriterien siehe Warda 2016: 340ff.

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zenden Aneignung des Bestandes und in der Konsequenz, diesen zu verändern.

L iteratur Aicher, Florian (2015): »Der Bregenzerwald«, in: Florian Aicher/Hermann Kaufmann, Belebte Substanz. Umgebaute Bauernhäuser im Bregenzerwald, München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 10-11. Aicher, Florian/Kaufmann, Hermann (2015): Belebte Substanz. Umgebaute Bauernhäuser im Bregenzerwald, München: Deutsche VerlagsAnstalt. — (2015a): »Versuch über den Lebensraum Bauernhaus«, in: Florian Aicher/Hermann Kaufmann, Belebte Substanz. Umgebaute Bauernhäuser im Bregenzerwald, München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 12-21. Arch+ 228 (2017): Stadtland – Der neue Rurbanismus. Banks, Orianna Fielding/Tanqueray, Rebecca (1999): Lofts – living in space, London: Carlton Books. Baum, Martina/Christiaanse, Kees (Hg.) (2012): City as loft. Adaptive reuse as a resource for sustainable urban development, Zürich: gta Verlag. Beucker, Nicolas (2016): »Transformationsdesign«, in: Arch+ 222, Kann Gestaltung Gesellschaft verändern?, S. 54-55. Bund Deutscher Architekten BDA Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V. (Hg.) (2016): Bestand braucht Haltung. Position des BDA Nordrhein-Westfalen zum Umgang mit dem baulichen Bestand und Erbe, Düsseldorf: o.A. Carlow, Vanessa/Institute for Sustainable Urbanism ISU (Hg.) (2016): Ruralism. The Future of Villages and Small Towns in an Urbanizing World, Berlin: Jovis. Corboz, André (2001): »Das Territorium als Palimpsest«, in: Bauwelt-Fundamente Ausg. 123, S. 143-166. Diekmann, Martin/Schröder, Martin (2005): Bern rUrban. Unveröffentlichte Projektbeschreibung. Faber, Kerstin/Oswalt, Philipp (Hg.) (2013): Raumpioniere in ländlichen Regionen. Neue Wege der Daseinsvorsorge, Leipzig: Spector Books. Field, Marcus/Irving, Mark (1999): Lofts, London: Laurence King Publishers.

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Hagspiel, Hermann (2015): »Kultivierung der Landschaft«, in: Florian Aicher/Hermann Kaufmann, Belebte Substanz. Umgebaute Bauernhäuser im Bregenzerwald, München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 2429. Koch, Michael/Schröder, Martin (2006): »ZwischenStadtEntwerfen. Plädoyer für konzeptionelle Strategien im regionalen Maßstab oder: Für ein raumplanerisches Entwerfen«, in: Deutsches Architektenblatt 9, S. 18-21. Koolhaas, Rem (2014): »Rem Koolhaas in the country«, in: Icon magazine 135, www.iconeye.com/architecture/features/item/11031-rem-koolhaasin-the-country vom 27.07.2016. Langner, Sigrun (2016): »(R)urban Landscapes. Navigating between the Urban and the Rural Perspective«, in: Vanessa Carlow/Institute for Sustainable Urbanism ISU (Hg.), Ruralism. The Future of Villages and Small Towns in an Urbanizing World, Berlin: Jovis, S. 76-89. Lüder, Ines (2017): »Historische ländliche Gebäude als zukunftsfähige Ressource«, in: Jörg Knieling (Hg.), Wege zur Großen Transformation. Herausforderungen für eine nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung, München: oekom Verlag, S. 85-103. Meier, Hans-Peter (2010): »Die Zeit der Ställe«, in: Hochparterre. Der nicht mehr gebrauchte Stall, Zürich: Hochparterre AG Verlag, S. 6-9. — (2010a): »Verblüffende Artenvielfalt«, in: Hochparterre, Der nicht mehr gebrauchte Stall, Zürich: Hochparterre AG Verlag, S. 30-31. Meyer, Nils (2009): Leerräume. Der Umgang mit Denkmalen als Sinnstiftungsprozess am Beispiel der Schlösser und Herrensitze in Brandenburg, Berlin: Jovis. Molnar, Felicia Eisenberg (2001): Lofts – new designs for urban living, Gloucester: Rockport. Petzet, Muck (2012): »Ressource Architektur«, in: Muck Petzet/Florian Heilmeyer (Hg.), Reduce, reuse, recycle. Ressource Architektur, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 8-11. Petzet, Muck/Heilmeyer, Florian (Hg.) (2012): Reduce, reuse, recycle. Ressource Architektur, Ostfildern: Hatje Cantz. Slesin, Suzanne/Cliff, Stafford/Rozensztroch, Daniel (1988): Wohnen in Lofts. Großzügige Appartements und Ateliers in alten Speichern und Produktionshallen, Wiesbaden/Berlin: Bauverlag.

›Countr y lof ts‹

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W ebseiten A rchitekten Thomas Kröger Architekten: http://thomaskroeger.net/de/tenne/office haratori: www.haratori.ch/projects-files/items/haratori-office-ma​ thon.html?status=completed Peter Haimerl Architektur: www.urbnet.de/ yellowz Architekten: http://yellowz.net/ein-bild-der-region-bern/ office haratori: http://www.haratori.ch/projects-files/items/haratori-office-mathon.html?status=completed

W ebseiten N et z werke Wendland: https://www.kulturelle-landpartie.de/ueber.html Uckermark: www.um-festival.de/de/das-festival/konzept.html Bregenzerwald: http://werkraum.at/werkraum-bregenzerwald/und www. holzbaukunst.at/organisation-mission.html Vorarlberg: https://www.vorarlberg.travel/architektur-baukultur/ Stadtbaukultur Nordrhein-Westfahlen: https://stadtbaukultur-nrw.de/ Bundesstiftung Baukultur: https://www.bundesstiftung-baukultur.de/ veranstaltungen/umbaukultur

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Gartenheim Potential innerstädtischer Nachverdichtung Imke Woelk

V orhandene R essourcen und R ahmenbedingungen 1 Berlin verfügt derzeit über 918 Kleingartenanlagen mit insgesamt etwa 73.000 Parzellen (Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz 2018). Ihre Gesamtfläche von knapp 3.000 Hektar nimmt rund drei Prozent der Stadtfläche ein; drei Viertel der Anlagen sind Eigentum des Landes Berlin. Keine vergleichbare Metropole besitzt eine so große Anzahl an privat nutzbaren Gärten im unmittelbaren Einzugsbereich der Innenstadt. Sie bilden eine historisch gewachsene kulturelle, soziale und ökologische Ressource, die in ihrer grünen Identität erhalten bleiben und als ökologisches Element in der Stadt weiterhin zur Stabilisierung des Stadtklimas beitragen soll. Doch angesichts der Wohnungsnot und der Verdrängung sozial schwacher Schichten aus innerstädtischen Lagen bieten diese Enklaven neben ihrer Funktion als Freizeit- und Erholungsort die Möglichkeit, durch einfache Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen neuartige innerstädtisch-dörfliche Quartiere mit Raum für circa 50.000 Haushalte zu schaffen. Im Rahmen der aktuellen Diskussion nach neuen städtischen Wohnformen und der Suche nach zusätzlichem Wohnraum, aufgrund eines prognostizierten Bevölkerungswachstums in Großstädten, entstand 2013 aus einem Projektbeitrag für die BDA Galerie in Berlin eine Potentialanalyse zur Ertüchtigung von Kleingartenanlagen für dauerhafte Wohnzwe1 | Der erste Abschnitt ›Vorhandene Ressourcen und Rahmenbedingungen‹ ist bereits erschienen in: Arch+ 225, Berlin, 2016, S. 144-146.

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cke.2 Die Studie ›Gartenheim‹ zeigt die Möglichkeiten neuer rurbaner Wohntypologien in der Stadt auf, mit denen einerseits günstiger Wohnraum in innerstädtischen Lagen erschlossen werden kann, andererseits aber auch ökologische Ressourcen für die Stadt erhalten bleiben und entwickelt werden können. Abbildung 1: Standortkarte der vorhandenen Kleingartenanlagen, Berlin und Umland

IMKEWOELK und Partner

2 | Eine erste Studie wurde 2014 mit dem 1. Preis des Wettbewerbs ›Changing City – City of Ideas‹ (plattformnachwuchsarchitekten.de) ausgezeichnet und 2016 zusammen mit anderen Studien im Deutschen Pavillon der Architekturbiennale Venedig ausgestellt.

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Abbildung 2: Beispiele Berliner Laubenkolonien: oben: Gartenverein Grunewald ›Wilhelm Naulin‹ – BerlinCharlottenburg-Wilmersdorf, Parzellen: 378, Fläche ges.: 124.000 m² mitte: Kleingartenkolonie Lehrter Straße – Berlin-Tiergarten, Parzellen: 43, Fläche ges.: 11.484 m² unten: Kleingartenanlage Oeynhausen – Forckenbeckstraße, BerlinWilmersdorf, Parzellen: 438, Fläche ges.: 131.372 m²

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Abbildung 3: Beispiele Berliner Laubenkolonien oben: Kleingartenanlagen Inseln Kelchsecken und Entenwall – BerlinKöpenick mitte: Kleingartenanlage nahe S-Bahnhof Westkreuz – BerlinCharlottenburg, Parzellen: 81, Fläche ges.: 27.070 m² unten: Kleingartenanlagen am Priesterweg (Schöneberger Südgelände) – Berlin Schöneberg, Parzellen: 2676, Fläche ges.: 739.204 m².

2017 Google, Kartendaten, 2017 GeoBasis-DE/BKG (2009)

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Die vorhandene Parzellen- und Bebauungsstruktur der Laubenkolonien muss dabei nicht verändert werden, lediglich dauerhaftes Wohnen soll gestattet sein und durch geringfügige Ergänzungen räumlicher und infrastruktureller Art unterstützt werden. Durch Auslagerung von kollektiven Wohnfunktionen in zentrale Gemeinschaftshäuser (Sharing) können Flächen und Ressourcen strategisch verteilt werden. Auch ist es denkbar, öffentliche und gewerbliche Einrichtungen in den Gartenanlagen unterzubringen; Tausch oder Verkauf von selbst erzeugten Lebensmitteln kann hierfür den Ausgangspunkt bilden. Von den drei unterschiedlichen, die Bebauung von Kleingartenkolonien in Berlin regelnden Gesetze und Verordnungen – Bundeskleingartengesetz (BKleingG), Berliner Bauordnung (BauO Bln) und Verwaltungsvorschriften über Dauerkleingärten auf landeseigenen Grundstücken (VVKleing) müsste nur das BKleingG §3, Abs. 2 geändert werden, demzufolge die Ausstattung und Einrichtung der Laube »nicht zum dauernden Wohnen geeignet sein« darf. Allein dadurch kann je Parzelle und Gebäude dauerhafter Wohnraum für ein bis drei Personen geschaffen werden. Alle weiteren Vorschriften betreffend Abstände, Form und Dimension der Bebauung etc. können beibehalten werden. So sollten auch neu zu errichtende Wohneinheiten die vorgeschriebene Grundfläche von 24 m2 einschließlich des überdachten Freisitzes nicht überschreiten (BKleingG §3, Abs. 2). Die Grundstücke dürfen nicht größer als 400 m2 sein (BKleingG §3, Abs. 1). Eine Mindestgröße der Parzellen ist jedoch nicht festgelegt, so dass Teilungen möglich sind und damit eine höhere bauliche Dichte erreicht werden kann. Auch die Regelung der Abstände zwischen den Bauten, wie sie in der Berliner Bauordnung (BauO Bln) beschrieben ist, muss nicht verändert werden. Es ist ein Abstand von 3 m zwischen den Lauben und eine bebauungsfreie Zone von 8 m zwischen den Laubenabschnitten gefordert (BauO Bln §6a, Abs. 1). Kleingartenlauben sollten auch weiterhin genehmigungsfrei sein (BauO Bln §62, Abs. 1), dies stellt eine erhebliche Vereinfachung des Planungsprozesses dar. Die Berliner ›Verwaltungsvorschriften über Dauerkleingärten und Kleingärten auf landeseigenen Grundstücken‹ und der darin enthaltene Muster-Zwischenpachtvertrag (VVKleing) regeln detailliert die auf den Kleingartenparzellen erlaubten Baulichkeiten. Auch diese Regelungen können unverändert bleiben: So dürfen die Bebauungen nur eingeschossig und ohne Unterkellerung ausgeführt werden. Die Höhe ist bei Flachund Pultdächern auf 2,60 m begrenzt, bei Satteldächern auf 3,50 m First-

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und 2,25 m Traufhöhe. Die Verwaltungsvorschrift erlaubt die Errichtung einer Gerätebox von 1,50 m2, die beispielweise als Technikhaus – etwa für die Lagerung von stromspeichernden Batterien – genutzt werden könnte, zudem ist die Errichtung eines Gewächshauses von max. 12 m2 gestattet (VVKleing, Zwischenpachtvertrag §11, Abs. 1+2). Abbildung 4: Spezifische Eigenschaften der bestehenden Kolonien

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Abbildung 5: Typologische Studie in bestehenden Kolonien

Abbildung 6: Zulässige Größe und Bebauung der Laubenparzellen

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Die Versorgung der Parzellen mit Strom, Frischwasser und Telekommunikation ist bereits durch vorhandene Anschlüsse an das städtische Netz gegeben (VVKleing, Zwischenpachtvertrag §5). Sind die Parzellen nicht an die öffentliche Abwasserentsorgung angeschlossen, ist eine Abwasserreinigung auf der eigenen Parzelle mit einer modernen Abwassersammelanlage oder die Einrichtung einer Kleinkläranlage für die gesamte Kolonie möglich. Gleichzeitig ist das Errichten von Photovoltaikanlagen zur Erzeugung von Strom und solarthermischen Anlagen für den Warmwassergewinn auf dem Dach gesetzlich legitimiert (VVKleing, Zwischenpachtvertrag §11, Abs. 2). Die Infrastrukturmaßnahmen können beispielsweise durch eine Anpassung des Pachtzinses, wenn auf den Parzellen gewohnt wird, finanziert werden. Laut BKleingG §5 Abs. 1 darf die Pacht »höchstens der vierfache Betrag der ortsüblichen Pacht im erwerbsmäßigen Obst- und Gemüseanbau, bezogen auf die Gesamtfläche der Kleingartenanlage«, betragen. Für landeseigene Kleingärten fallen in Berlin derzeit höchstens 0,36 Euro Pacht pro m2 und Jahr an, was bei einer Parzelle von 400 m2 lediglich 144 Euro im Jahr ausmacht. Der Spielraum für eine gerechte und sozialverträgliche Lösung ist entsprechend groß. Abbildung 7: Zulässige Dachformen und Höhen der Lauben

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Dass der Vorschlag keineswegs unrealistisch ist, sondern eine attraktive wirtschaftliche Alternative zum Wohnen im Grünen bietet, zeigt das Beispiel Wien: Seit der Novellierung des Kleingartengesetzes 1992 und der Einführung der Flächenwidmung ›Grünland – Erholungsgebiet – Kleingartengebiet für ganzjähriges Wohnen‹ sind über 10.000 Kleingärten zum dauerhaften Wohnen umgewidmet worden (Hagmüller 1998). Abbildung 8: Dichtestudie

Abbildung 9: Mögliche Anordnung der Gartenheime, Bsp.: Gebäudetypen 5, 6 und 1

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Abbildung 10: Gebäudetypen 1-6

Abbildung 11: Grundrissvarianten und Wohnmodule

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I ntegration modul arer W ohnbauten Die Umsetzung kann in kleinen Schritten beginnen. Es ist nicht beabsichtigt, komplette Laubenkolonien ad hoc in alternative Wohnquartiere umzuwandeln. Vielmehr können in einem langsamen Transformationsprozess nach und nach freiwerdende Parzellen übernommen und weiterentwickelt werden. Entsteht ein neues Gebäude, arrangiert es sich grundsätzlich mit seinem Kontext, auch wenn die Interpretation vom neuen Wohnen im Inneren des Gebäudes sehr eigenständig ist. Häufig wird das Vorgefundene auch nur neu nutzbar gemacht. Ein solcher Umbruchprozess kann etwas sehr Schönes sein. Die Aneignung der Räume wäre von einem pragmatischen Minimalismus geprägt, der mit wenig Geld auszukommen versteht. Die formalen Ausdrucksmittel blieben zurückhaltend. Aus den zunächst vereinzelt platzierten Gebäuden, entstünden über die Zeit zusammenhängende Ensembles, die von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren produziert und weiterentwickelt werden könnten. Kontraste und Brüche blieben erhalten. Bis zu welchem Grad sich in den einzelnen Quartieren diese ›rurbanen‹ Räume durchsetzen, hinge von jedem einzelnen Nutzer ab. Durch den Einsatz eines modularen Bausystems in Holzbauweise, welches einerseits für eine industrielle Vorfertigung geeignet ist, kann in kurzer Zeit kostengünstiger Wohnraum geschaffen werden. Andererseits erlaubt der Baustoff Holz, der nicht nur nachhaltig, sondern auch leicht zu transportieren und zu verarbeiten ist, einen Selbstbau der Wohneinheiten durch die künftigen Nutzerinnen und Nutzer. Es ist vorstellbar, dass diese neuen Orte für sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen anziehend sein können. Die Attraktivität entstünde gerade aus der gewachsenen Kultur des Vorgefundenen. Gepaart mit neuen infrastrukturellen Möglichkeiten und Dienstleistungen, erlaubte das Quartier ein alternatives Stadtleben jenseits antiquierter Wohnformen und städtischer Verdichtung. Das Weitergeben von Technik und Erfahrung des ›Gärtnerns‹ wäre dafür sicher ein Ausgangspunkt (Foodsharing). Studienräume (neues Arbeiten), offene Werkstätten (Selbstbau) und Orte der Begegnung (Festräume) böten Chancen zur Erprobung von neuen Kooperations- und Kommunikationsformen. Ein ganztägig geöffneter Kiosk ersetzte den Kühlschrank, das Restaurant und die Fertigmahlzeiten und macht die Küche kleiner. Das eigene Badezimmer kann ins Badehaus in der Nachbarschaft ausgelagert werden.

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Abbildung 12: Integration in die vorhandene Vegetation, Typ Nr. 6

Abbildung 13: Innenraum

Ein Wohnen und Arbeiten in seiner funktional reduziertesten Form, platziert zwischen der Idee eines utopisch anmutenden, gesellschaftlichen Auf bruchs und dem weltabgewandten Rückzug. Dieser stadträumliche

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Transformationsvorschlag ist als Modell einer behutsamen Stadterneuerung gedacht, die die vielschichtige, heterogene und fragmentierte Identität Berlins zu ergänzen verstünde. Abbildung 14: Interieur mit variablem Mobiliar

Abbildung 15: Gebäudetyp Nr. 1 mit Photovoltaik-Paneelen

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Abbildung 16: Lageplan mit integrierter Pionierbebauung und Infrastruktur zur permanenten Nutzung (Gartenverein Grunewald ›Wilhelm Naulin‹, Berlin-Charlottenburg)

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Abbildung 17 und 18: Selbstbau in modularer Holzbauweise

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L iteratur Hagmüller, Roland (1998): Kleingarten Wohnhaus, Wien: Eigenverlag, https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b007182.pdf vom 24.08.2016. Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (2018): Kleingärten, Daten und Fakten, www.stadtentwicklung.berlin.de/um​ welt/stadtgruen/kleingaerten/de/daten_fakten/index.shtml vom 24.08.2016.

A bbildungen Abbildung 1: IMKEWOELK und Partner. Abbildung 2-3: 2017 Google, Kartendaten, 2017 GeoBasis-DE/BKG (2009). Abbildung 4-18: IMKEWOELK und Partner.

Autorinnen und Autoren Baum, Martina (Prof. Dr.) ist Architektin und Stadtplanerin. Seit 2014 Direktorin des Städtebau-Instituts und Professorin für Stadtplanung und Entwerfen an der Universität Stuttgart. Gründerin von STUDIO . URBANE STRATEGIEN, einem Stadtplanungs- und Beratungsbüro mit Sitz in Stuttgart. Christoph, Jessica, Studium der Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar mit Abschluss Diplom. Praktische Tätigkeit in verschiedenen Architekturbüros im In- und Ausland. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät Architektur und Urbanistik, Professur Entwerfen und Wohnungsbau. 2015 delegiert an das Washington Alexandria Architecture Center, Alexandria VA, der Virginia Tech (USA). Weiterhin freie praktische Tätigkeit mit den Schwerpunkten Wohnen und Bauen im Bestand. Eckardt, Frank (Prof. Dr.) ist Politikwissenschaftler und seit 2009 als Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar tätig. Forschungsschwerpunkte sind kulturelle Diversität und soziale Ungleichheiten in der Stadt. Neuste Publikation: (Hg.) Schlüsselwerke der Stadtforschung. Wiesbaden: Springer VS. Friedrich, Beate (Dr.) ist Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Nachhaltigkeitssteuerung der Leuphana Universität Lüneburg. 2015 bis 2017 Forschungskoordinatorin in der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in Niedersachsen (LAGEN); 2009 bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der SÖFNachwuchsgruppe ›PoNa – Politiken der Naturgestaltung‹ an der Leuphana Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte: Sozial-ökologische Forschung, Konflikte um landwirtschaftliche Bio- und Gentechnologien,

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Rurbane Landschaf ten

gesellschaftliche Natur- und Geschlechterverhältnisse, Agrarsoziologie, Soziale Bewegungen, Nachhaltige Regionalentwicklung. Frölich-Kulik, Maria ist Architektin und seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Landschaftsarchitektur und -planung der Bauhaus-Universität Weimar. Sie arbeitet im Forschungsprojekt ›Rurbane Landschaften als Projektions- und Handlungsraum einer nachhaltigen Raumentwicklung‹ im Verbundprojekt ›Experimentierfeld Dorf‹, gefördert von der VolkswagenStiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Verflechtung urbaner und ruraler Lebensformen sowie auf den sozialen und geographischen Beziehungen zwischen Gebäuden und Landschaften. Giseke, Undine (Prof.) ist seit 2003 Professorin an der Technischen Universität Berlin, Fachgebiet Landschaftsarchitektur + Freiraumplanung. 1987 gründete sie mit zusammen mit drei weiteren Partnern das Büro bgmr Landschaftsarchitekten. Von 2005 bis 2014 leitete sie das inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt ›Urbane Landwirtschaft als integrierter Faktor einer klimaoptimierten Stadtentwicklung in Casablanca‹ (UAC-Projekt), gefördert durch das BMBF-Forschungsprogramm Megastädte von morgen. 2015 erhielt sie für ihre Forschungs- und Praxistätigkeit den Gottfried Semper Architekturpreis für nachhaltiges Planen und Bauen. Ihre Forschungsexpertisen sind urban-rurale Verknüpfungskulturen, urbaner Metabolismus und systemisches Entwerfen. Klawiter, Sebastian M.A. Architektur und Schreinermeister; studierte Innenarchitektur und Architektur in Coburg und Stuttgart. Während seiner zweieinhalb jährigen Tätigkeit im Studio Asif Khan in London arbeitete er an einer Vielzahl von internationalen sowie nationalen Projekten in den unterschiedlichsten Maßstäben im Grenzbereich zwischen Architektur und Produktdesign. Seit 2016 ist er in Forschung und Lehre am Städtebau-Institut, der Universität Stuttgart (Prof. Dr. Martina Baum), der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und bei der Initiative Stadtlücken e.V. aktiv. Seit Juni 2018 koordiniert er gemeinsam mit Hanna Noller das Forschungsprojekt ›Future City Lab – Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur‹.

Autorinnen und Autoren

Langguth, Hannes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Habitat Unit (Fachgebiet für internationalen Urbanismus und Entwerfen) am Institut für Architektur der Technischen Universität Berlin. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Untersuchung urban-ruraler Transformationsprozesse in Europa und China, sowie das Initiieren und Gestalten von partizipativen und nutzerorientierten Prozessen rurbaner Raumproduktion. Langner, Sigrun (Jun.-Prof. Dr.) ist Juniorprofessorin für Landschaftsarchitektur und -planung an der Bauhaus-Universität Weimar und stellv. Direktorin des Instituts für Europäische Urbanistik; Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN; Büropartnerin Station C23, Leipzig. Ein Forschungsschwerpunkt sind ›Rurbane Landschaften‹ als Ergebnis urban-rurale Beziehungsgeflechte. Sie leitet das Forschungsprojekt ›Rurbane Landschaften als Projektions- und Handlungsraum einer nachhaltigen Raumentwicklung‹ im Verbundprojekt ›Experimentierfeld Dorf‹, gefördert von der VolkswagenStiftung. Lüder, Ines ist Architektin und hat an der Technischen Universität Braunschweig und an der Universität der Künste Berlin studiert. Sie arbeitete in Architekturbüros in Berlin, realisierte eigene Projekte und nahm am Bauhaus Dessau Kolleg teil. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hat sie an der Technischen Universität Berlin und an der Leibniz Universität Hannover am Institut für Entwerfen und Städtebau gearbeitet. Sie war im BMBFForschungsprojekt ›Regiobranding – Branding von Stadt-Land-Regionen durch Kulturlandschaftscharakteristika‹ beschäftigt. Zurzeit erhält sie ein Promotionsstipendium durch das Programm ›Dörfer in Verantwortung – Chancengerechtigkeit in ländlichen Räumen sichern‹. Mießner, Michael (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Humangeographie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der politischen Ökonomie der Regionalentwicklung, der Regionalpolitik und des Immobilienmarktes sowie der sozialräumlichen Verdrängungsprozesse. Naumann, Matthias (Dr.) ist Humangeograph mit den Schwerpunkten Stadt- und Regionalentwicklung, Infrastruktur und Kritische Geogra-

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phie. Derzeit vertritt er die Professur ›Didaktik der Geographie‹ an der Technischen Universität Dresden. Nell, Werner (Prof. Dr.) ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada und Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Noller, Hanna M.A. Architektur, Dipl. Betriebswirtin (DH) und Schreinerin; studierte Architektur an der HCU Hamburg, Mimar Sinan Üniversitesi Istanbul und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Seit 2016 ist sie in Forschung und Lehre am Städtebau-Institut, der Universität Stuttgart (Prof. Dr. Martina Baum), der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und bei der Initiative Stadtlücken e.V. aktiv. Seit Juni 2018 koordiniert sie gemeinsam mit Sebastian Klawiter das Forschungsprojekt ›Future Ciy Lab – Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur‹. Oswalt, Philipp (Prof.) ist Architekt und Publizist in Berlin, 1988 bis 1994 Redakteur der Architekturzeitschrift Arch+; 1996/97 Mitarbeiter im Büro OMA/Rem Koolhaas; 2000 bis 2002 Gastprofessor an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus; Initiator und Co-Leiter des Europäischen Forschungsprojektes ›Urban Catalyst‹ 2001 bis 2003; Mitinitiator und Co-Kurator der kulturellen Zwischennutzung des Palast der Republik ZwischenPalastNutzung/Volkspalast 2004; seit 2006 Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Universität Kassel; 2009 bis 2014 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau; Associated Investigator am Exzellenzcluster Bild-Wissen-Gestaltung der Humboldt Universität Berlin; seit 2012 Mitinitiator von ›projekt bauhaus‹. Rabe, Sabine ist Landschaftsarchitektin, 2005 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Freiraumentwicklung, Universität Hannover; 2013/14 Vertretungsprofessorin Lehrstuhl Landschafts- und Freiraumplanung, RWTH Aachen. Seit 2009 selbstständig in Hamburg tätig. Sie setzt sich seit vielen Jahren mit großräumigen Bildern sowie den Stadt-Landbeziehungen in Forschung, Lehre und Praxis auseinander. Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN.

Autorinnen und Autoren

Redepenning, Marc (Prof. Dr.) ist Professor für Kulturgeographie, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; abgeschlossene Promotion 2004, Universität Leipzig; Habilitation 2011, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Geographien und Zukünfte des Ländlichen und die Rolle räumlicher Selbstbeschreibungen und Semantiken in modernen Gesellschaften, lokale Kulturen, Besonderheiten und Identität, Lebensqualität und Wohlbefinden und demographischer Wandel. Sackmann, Reinhold (Prof. Dr.) ist Professor für Soziologie, insbesondere Sozialstrukturanalyse, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, mit den Arbeitsschwerpunkten Lebenslauf, Bildung, Arbeitsmarkt, Migration und Demographischer Wandel. Schmidt, Anke, (Dr.) ist Architektin, arbeitet und forscht in Projekten zur strategischen Entwicklung urbaner Räume und Kulturlandschaften mit Schwerpunkt Visualisierungen und Kommunikation; 2005 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Freiraumentwicklung an der Leibniz Universität Hannover; Inhaberin des Büros landinsicht; projektbüro dipl.-ing. anke schmidt; Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN; promovierte zum Thema ›Geschichten urbaner Landschaften – Formate des Erzählens für kollaborative Entwurfsprozesse‹. Schöbel, Sören (Prof. Dr.) ist Professor für Landschaftsarchitektur regionaler Freiräume (LAREG) an der TU München. Studium der Landschaftsplanung an der TU Berlin, freiberufliche Tätigkeit als Landschaftsarchitekt und Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Jürgen Wenzel. Promotion über Qualität und Quantität – Perspektiven städtischer Freiräume. Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung DASL sowie der Akademie Ländlicher Räume Bayern ALR. Forschungsschwerpunkte: städtische und regionale Freiraumstrukturen, neue ländliche Kultur- und Energielandschaften. Schubert, Christoph ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Soziologie der Bildung am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, mit den Arbeitsschwerpunkten Soziologie ländlicher Räume, Umgang mit demographischen Veränderungen, Bildungs- und Hochschulsoziologie.

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Schultz, Henrik (Prof. Dr.) ist Landschaftsarchitekt und Professor für Landschaftsplanung und Regionalentwicklung an der Hochschule Osnabrück. Mit seinem Büro hat er zahlreiche Raumbilder und strategische Landschaftskonzepte entworfen; Autor des Buches Landschaften auf den Grund gehen. Wandern als Erkenntnismethode beim Grossräumigen Landschaftsentwerfen; Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN; Fellow des deutsch-chinesischen Campus: ›Zukunftsbrücke – Sustainable Urban Development in China and Germany in the 21st Century‹ und ›World Responsible Leader‹ der BMW Foundation Herbert Quandt. Seel, Henri studierte Germanistik, Philosophie und evangelischen Theologie; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Briefedition ›Barlach 2020‹ und der Uwe Johnson-Forschungsstelle, Universität Rostock; aktuelle Promotion Universität Rostock: Stadtflucht-Literatur & Beschreibungsarten der Landflucht. Seggern, Hille von (Prof. em. Dr.) ist freiberufliche Architektin, Stadtplanerin und Landschaftsplanerin. Promotion 1982; 1982 bis 2012 Büro Ohrt-von Seggern-Partner, Architektur-Städtebau-Stadtforschung zusammen mit Timm Ohrt; anschließend OSP urbanelandschaften und Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN – Arbeitsgemeinschaften; Hille von Seggern & Timm Ohrt AlltagForschungKunst/HH; Senior Advisor in rabe landschaften, Hamburg. Von 1995 bis 2008 Professorin für Freiraumplanung, Entwerfen und urbane Entwicklung an der TU Hannover. Sie gründete dort 2005 – zusammen mit Julia Werner – das STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN als interdisziplinäres Netzwerk und Think-Tank für Lehre-Forschung-Praxis. Sie ist Mitglied in der SRL und der DASL und war von 1989 bis 1993 Bundesvorsitzende der SRL. Sieverts, Thomas (Prof. em. Dr.-Ing. E.h.) ist Architekt und Stadtplaner, 1966 Gründung Freie Planungsgruppe Berlin mit Kossak und Zimmermann; 1967 bis 1970 Professor für Städtebau, Hochschule für bildende Künste, Berlin; 1970/71 Gastprofessor an der Harvard-University; 1971 bis 1999 Professor für Städtebau, Technische Hochschule Darmstadt; 1988 -1994 Direktor Internationale Bauausstellung Emscher Park; 1995/96 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, zahlreiche Veröffentlichungen; 1996 Gründung der Partnerschaft Büro Prof. Sieverts, Trautmann, Knye-

Autorinnen und Autoren

Neczas Stadtplaner und Architekten; 2000 Erweiterung des Büros zur Partnerschaft S.K.A.T., Architekten und Stadtplaner, Bonn, Köln; Autor des Buchs Zwischenstadt; seit 2010 Doktor Ing. E.h., verliehen von der Technischen Universität Braunschweig; 2014 Fritz Schumacher Preis der Stadt Hamburg. Sieweke, Jorg (Dr.) ist Gründer und Inhaber der design-research Initiative paradoXcity. Seit 2002 arbeitet er als eingetragener Landschaftsarchitekt und Stadtplaner in Berlin zum Spannungsfeld von Landschaftswandel und urbaner Resilienz. In seiner Promotion ›Vergegenwärtigung‹ an der TU Berlin erforschte er die immanente Wissensproduktion und Methodenentwicklung im landschaftsurbanistischen Entwurf hinsichtlich der Paradigmen von Wissenschaft und Natur der Moderne. Von 2009 bis 2016 war er Assistant Professor an der University of Virginia; sowie Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom (2015); DAAD Gastprofessor für Stadtökologie an der HafenCity Universität Hamburg (2014/15); sowie Vertretungsprofessor an der Fakultät Architektur der RWTH Aachen (2012 bis 2014 mit Sabine Rabe). Uhlig, Ingo (Dr. habil.) ist Literatur- und Medienwissenschaftler. Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Promotion 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer Arbeit zu Gilles Deleuze; 2013 Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit der Arbeit Traum und Poiesis. Produktive Schlafzustände 1641-1810 (erschienen Göttingen 2015: Wallstein). Gegenwärtig Forschungen zu agentiellen Räumen und ästhetischen Thematisierungen der Energiewende. Wagenknecht, Katherin studierte Kulturwissenschaft und Philosophie an der Universität Leipzig und an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, sowie Stadt- und Raumforschung an der Technischen Universität Darmstadt. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem BMBF-Verbundprojekt am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Promotionsforschung entsteht zur populären Wohn- und Lebensweise Einfamilienhaus. Westner, Andy studierte Architektur an der Hochschule München und Urban Design an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

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Bis 2012 Architekt und Stadtplaner bei OMA*AMO in New York City; seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität München am Lehrstuhl ›sustainable urbanism – Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land‹ an der Fakultät Architektur (www.land.ar.tum.de); seit 2016 Partner von WESTNER SCHÜHRER ZÖHRER Architekten und Stadtplaner in München. Seine Forschungsschwerpunkte behandeln die Schnittstellen urbaner Strukturen und deren räumliche Abhängigkeiten und Beziehungen mit dem Hinterland. Wieck, Kathrin (Dr.) ist Landschaftsarchitektin; seit 2004 (mit Unterbrechungen) wissenschaftliche Mitarbeiterin in Lehre und Forschung im Fachgebiet Landschaftsarchitektur + Freiraumplanung an der Technischen Universität Berlin; von 2011 bis 2014 war sie im Rahmen des BMBFProjekts ›Urbane Landwirtschaft Casablanca‹ (UAC-Projekt) für die Koordination der UAC-Publikation tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Raumproduktion, Assemblagetheorien und urbane Informalität. Woelk, Imke (Dr.), studierte Architektur an der Technischen Universität Braunschweig und Universität Iuav di Venezia, Gaststudium der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig; 1993 bis 1997 Mitarbeit bei Massimiliano Fuksas, Rom und William Alsop, London; Gründung des Architekturbüros IMKEWOELK + Partner, Berlin; 2000 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin, Labor für Integrative Architektur, Prof. Finn Geipel; 2003 Rom-Preis, Villa Massimo; 2005 bis 2009 Gastprofessorin der Duksung Women’s University, Seoul; 2010 Promotion an der Technischen Universität Berlin. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Auseinandersetzung mit der Idee des ‚offenen Raumes‘, der seit den bedeutenden Bauten von Mies van der Rohe viel diskutiert wird. 2015 Forschungsstipendium der Danish Arts Foundation. 2016 Berufung in den Beratungsausschuss Kunst, Bereich Architektur und Städtebau, Berlin. Die Komplexität und Effektivität ihrer Projekte entsteht aus der Verwirklichung räumlicher und sensorischer Qualitäten, die eine neue Natur schaffen und das Wohlergehen der Nutzer begründen.

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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