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German Pages 461 [464] Year 2023
Susanne Möbuß
Gelingendes Sein
Existenzphilosophie im 21. Jahrhundert
https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Susanne Möbuß
Gelingendes Sein Existenzphilosophie im 21. Jahrhundert
Schwabe Verlag https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Cover: icona basel gmbh, Basel Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4831-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4832-1 DOI 10.24894/978-3-7965-4832-1 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Inhalt
Ein Wort vorab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Annäherung an ein Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Martin Heidegger
................................................
34
Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Übereinstimmung im Problematischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Zwei Extreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Merkmale der Erkennbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Von Grund auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Selbst-Sein
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Im Sinne einer Erweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Jenseits der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 In Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Die Affizierbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Angesichts der Seins-Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Inhalt
Homogenität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
Vergegenwärtigungsmetaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Das doppelte Sein
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Aus anderer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Seins-Vergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Vom Gelingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Einstehen für das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Martin Heidegger
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Franz Rosenzweig
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Weitere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Existenzphilosophie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
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Ein Wort vorab
Existenzphilosophie steht heute vor der gleichen Herausforderung wie in den 1920er Jahren, als ihre Konzeptionen die philosophische Landschaft so unerwartet zu verändern begannen. Es gilt, den Einzelnen zu denken und dabei seine Besonderheit zu bewahren. Dieser Ansprung ist deshalb so einzigartig, weil es damit möglich wird, eine Vorstellung dieses Einzelnen zu entwerfen, die aus dem Schatten jener Definition des Menschen hervortritt, die unser philosophisches Denken seit jeher prägt. Wie sich jedoch gezeigt hat, gehen mit der Umsetzung dieses Vorhabens nicht unerhebliche Schwierigkeiten einher. Denn Einzelnes ist sehr wohl erfahrbar, doch nicht ohne Weiteres denkbar. Theoretiker wie Martin Heidegger, Karl Jaspers oder Heinrich Barth lösten das Problem, indem sie den Wert des Selbst-Seins zum Gegenstand philosophischer Betrachtung erklärten. Doch nicht nur das ! sie bestimmten es als Zielpunkt der existentiellen Bewegung, die der Mensch vollziehen kann. So faszinierend dieser Schritt auch ist, scheint er doch einen hohen Preis zu fordern. Denn nach ihrer Auffassung, die grundsätzlich repräsentativ für Existenzphilosophie jener Phase ist, fordert das Selbst-Werden die Isolation vom Anderen. Hier zeichnet sich der Moment ab, an dem wir ihren Konzeptionen nicht mehr folgen können. Die Bedeutung des Selbst-Seins als Ausdruck des reflexiven Denkens steht nach wie vor außer Frage, doch sollte damit keine Forderung nach Separation vom Anderen einhergehen, das heute in der ganzen Weite seines Ausdrucks sowohl den anderen Menschen als auch die Welt meint, in der unser Existieren stattfindet. In dem Verständnis, das hier vertreten wird, bedeutet Existenz, Selbst im Kreis des Anderen zu sein. Damit tritt neben die Betrachtung ihres Gedankens die Reflexion des Begriffes vom Sein, aus dessen Denkbarkeit die Überzeugung der Gleichwertigkeit alles Seienden resultiert. Der Vorstellung des Seins heute Aufmerksamkeit zu schenken, wie es an dieser Stelle geschehen wird, ist weder selbstverständlich noch unproblematisch. Zu schwer lasten die Ablehnungen auf ihr, die ihr nicht nur von einigen existenzphilosophischen Autoren entgegengebracht wurden. Und doch lohnt es den Versuch, sie jenseits der Ontologie wieder in das Denken der Existenz aufzunehmen. Die folgenden Seiten verstehen sich nicht als Erörterung eines philosophiehistorisch relevanten Themas, sondern als Einladung zu einer gemeinsamen Meditation über die beiden Begriffe
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Ein Wort vorab
der Existenz und des Seins. Denn ein Text wie dieser kann nur funktionieren, wenn er sich an jemanden richtet. Nicht an irgendjemanden, sondern an den Anderen, mit dem Existenz zu gelingendem Sein werden kann.
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I. Annäherung an ein Phänomen
Es wäre kaum möglich gewesen, den Anspruch, der mit dem existentiellen Denken einhergeht, im formalen Gerüst der bestehenden Philosophie zu realisieren. Zu offensichtlich hebt sich die Bedeutung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Begriff der Existenz zugeschrieben wird, von seiner vorherrschenden Verwendung ab – und tut es noch immer, wie im Bewusstsein der Folgen dieser Feststellung hinzugefügt werden kann. Nach exakt einhundert Jahren auf diese Tatsache hinzuweisen, ist nicht Zeichen philosophiehistorischen Interesses, sondern Indikator ungebrochener Aktualität, die die Suche nach einem geeigneten Ausdruck philosophischer Haltung kennzeichnet. Denn darum ging es damals wie auch heute: im Denken Verhalten zu repräsentieren, in dem sich das Verhältnis zum Anderen spiegelt. In der Weise, wie dieses Andere betrachtet wird, hebt sich existentielles Denken vom philosophischen Diskurs ab. Und in eben diesem Aspekt ergänzt der moderne Ansatz wiederum dieses Denken. Denn Existenzphilosophie kann in bemerkenswerter Präzision auf die Erfordernisse ihrer jeweiligen Zeit reagieren, womit sie ein grundsätzliches Selbstverständnis zu erkennen gibt, das entscheidend zu ihrer Profilierung beiträgt. Sie positioniert sich nicht primär als Gesamtheit ihrer theoretischen und methodischen Konzeptionen, um nach Wahrheit und Wirklichkeit zu fragen. Sie sucht vielmehr ihren Standort im Gesamt bestehender Positionen, um Instrument jenes Verstehens zu sein, das zum Gedanken des Sein-Könnens – der Existenz ! führt. Für die Denker, die zwischen den 1920er und 1960er Jahren dieses Sein-Können reflektierten, war es unauflöslich mit der Vorstellung des Selbst-Seins verbunden, weshalb es nicht einmal übertrieben wäre, Existenzphilosophie dieser Phase als Denken des Selbst zu kennzeichnen. Doch damit wird schneller gedacht, als diese Zeilen zu folgen vermögen. Welche Bilder stellen sich ein, wenn nach dem Phänomen «Existenzphilosophie» gefragt wird? Versuche der Deskription, so könnte geantwortet werden, dazu bestimmt, den Menschen in seiner Daseins-Situation zu beschreiben. Das fast übermächtige Motiv der Geworfenheit wird in der Erinnerung erscheinen, das die Tatsache des Seins erklärt, ohne dessen Grund und Sinn benennen zu können. Von der Angst würde zu reden sein, die den Menschen überfällt und in schonungsloser Weise mit dem Faktum seines Nicht-mehr-Seins konfrontiert. Szenarien der Erschütterung des bisher für selbstverständlich Gehaltenen werden aufsteigen, durch die ein Mensch mit brutaler Unausweichlichkeit auf sich selbst https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zurückgeworfen wird, gelöst von Halt und Orientierung bietenden Bindungen. Doch zugleich, und darin liegt die Kraft des existentiellen Denkens, werden wir uns an Beschreibungen jener Momente erinnern, in denen der Einzelne sich aufrichtet und sein eigenes Sein-Können zu verwirklichen beginnt. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass er aus eigenem Vermögen schafft, was er nicht mehr aus Vorsehung oder Bestimmung zu schöpfen versteht. Es sind Bilder wie diese, die unsere Sichtweise der Existenzphilosophie prägen. Ihre ungewöhnliche Plastizität könnte beinahe die Frage nach dem Selbstverständnis jenes Denkens in den Hintergrund treten lassen, das sich in ihnen auszudrücken sucht. Die Frage nach dem Selbstverständnis ist nicht mit jener nach der Intention existentiellen Denkens identisch, ist diese doch durch die Vorstellung des zu erreichenden Ziels bestimmt, wohingegen jene das Verständnis zu erfassen versucht, aus dem überhaupt Vorstellungen entstehen können. Für deren Umsetzung sind Formen der Begrifflichkeit und der Argumentation zu finden, die geeignet sind, im Kontext des philosophischen Diskurses ihren Platz einzufordern. Doch in der Frage nach dem Verständnis des existentiellen Denkens wird dieser Diskurs selbst Gegenstand der Reflexion. In beiden Ausrichtungen positioniert sich Existenzphilosophie in kritischer Distanz, womit sie sich grundsätzlich von einem Großteil gültiger Konzeptionen abhebt. Denn deren Intention kann durchaus darin bestehen, Schwächen innerhalb des Diskurses aufzudecken und auszugleichen, ohne dass damit zwangsläufig dessen Infragestellung insgesamt einhergehen müsste. Genau das geschieht in jenem Denken, das sich nun zu präsentieren beginnt. Es versteht sich als existentielles Denken, da es der Intention seiner bedeutenden Vertreter folgt, geht aber insofern darüber hinaus, als es dessen Selbstverständnis stärker fokussiert. Die Arbeit an Begriffen zur Reflexion der Existenz ist das eine, die Frage nach deren Sinn das andere. Hier zeichnet sich eine Beobachtung ab, die im Folgenden zu thematisieren sein wird. In ihrem grandiosen Bestreben, Diskurs-erneuernde Elemente in die Philosophie einzubringen, scheinen manche der klassischen Texte der Existenzphilosophie den Anspruch, diesen als solchen zu bedenken, ein wenig aus dem Blick zu verlieren. Verwunderlich wäre es keinesfalls, wird die Größe der Aufgabe berücksichtigt, vor der Denker der Existenz standen. Nicht weniger als die Entscheidung zwischen Zuspruch oder Korrektur wesentlicher Funktionsformen der Philosophie stand auf dem Spiel, was sie mitunter unversehens zu einem Bekenntnis zu deren Tradition werden ließ. Vor uns liegt ein Tableau unterschiedlichster Reaktionen auf diese Herausforderung, beginnend bei Martin Heideggers Kritik am bestehenden Seins-Denken bis zu Heinrich Barths Rückgriff auf Elemente der Transzendentalphilosophie. Ist es angesichts des immensen Anspruches, das Projekt «Existenzphilosophie» zu realisieren, verwunderlich, dass nicht auch noch in jedem Moment die Reflexion dessen, was dieses für den Menschen bedeute, geleistet werden konnte? So kommt es dazu, dass das existentielle Denken in manchen Augenblicken traditioneller wirkt, als es von seinen Vertretern vielleicht selbst für https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
I. Annäherung an ein Phänomen
erstrebenswert gehalten worden wäre. Aus der Distanz von einhundert Jahren fällt es leichter, Intention und Selbstverständnis zu differenzieren und dort anzusetzen, wo ein Defizit nicht zu übersehen ist. Ist es ein allzu hartes Urteil, das durch das Wort vom Defizit ausgedrückt wird? Hart mag es sein, doch es entstammt dem ungebrochenen Vertrauen in dieses Denken, das noch immer als das geeignete Medium erscheint, das Sein-Können des Menschen zu bedenken. Worin liegt also dessen Besonderheit, die es in den folgenden Seiten ins Licht zu rücken gilt? Ihre erste Bestimmung enthüllt zugleich das erwähnte Defizit, da das, was Existenzphilosophie zum Teil ist und sein kann, nicht immer mit jenem Erscheinungsbild übereinstimmt, das sie uns bisher gezeigt hat. Auch wenn die Formulierung äußerst pathetisch klingen mag, entspricht es ihrem Selbstverständnis, dienendes Denken zu sein. Da jedes Denken und besonders solches im Kontext der Philosophie einem Zweck dient, wird diese Feststellung möglicherweise kaum überraschen. Ist es nicht immer die Aufgabe philosophischer Erwägungen, einen bestimmten Zweck zu verfolgen, der als definiertes Ziel deren Ausrichtung festlegt? Doch um diese Form der Ausrichtung geht es im Motiv des dienenden Denkens keineswegs. Damit soll ihm gewiss nicht sein Zweck abgesprochen werden, der allerdings nun in spezieller Weise interpretiert wird. Denn existentielles Denken stellt sich in den Dienst des Menschen, und zwar nicht des Menschen schlechthin, sondern des personifizierten Einzelnen. Ihn will es im Kontext philosophischer Betrachtung reflektieren, was in doppeltem Sinne gemeint ist: gleichermaßen bedenken wie spiegeln. Ein Motiv hält damit Einzug in das Repertoire philosophischer Begrifflichkeit, das auch in der Vergangenheit immer wieder vereinzelt thematisiert wurde, ohne jedoch zu einem umfassenden Theorie-bildenden Gedanken geworden zu sein. Hier setzen die Stimmen des existentiellen Denkens an und formulieren eine jener wenigen gemeinsamen Überzeugungen, die ihre Aussagen repräsentieren. Zur Selbst-Bildung des Einzelnen will es aufrufen, denn nichts anderes ist Existenz als der Weg zum eigenen Sein. Aber ist das wirklich ein neuer Ansatz? Besteht die Aufgabe von Philosophie nicht seit jeher darin, Formeln zu finden, die den Menschen fordern, fördern und bilden, indem sie ihn beispielsweise zur Selbstbestimmtheit ermutigen? Und wird deren Notwendigkeit nicht gerade in Zeiten erkennbar, in denen die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen eher das Gegenteil nahelegen? Insofern könnte doch beinahe jede Philosophie als Ausdruck dienenden Denkens verstanden werden. Warum konnten oder wollten sich Denker der Existenz mit diesem Wirken nicht zufriedengeben? Weil es Gefahr läuft, die Situation des einzelnen Menschen aus dem Blick zu verlieren. Für sie steht fest, dass es nicht genug ist, wenn Philosophie Sätze der Wahrheit formuliert, solange sie nicht gleichzeitig darüber Rechenschaft ablegt, was diese Wahrheit für den einzelnen Menschen bedeutet. Die subversive Botschaft des ‹es ist nicht genug› ist freilich älter als ihre moderne Artikulation in den Schriften von Franz Rosenzweig, Martin Heidegger oder Karl Jaspers. Sie klingt in den Werken von Søren https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Kierkegaard ebenso an wie in den Aphorismen von Friedrich Nietzsche, findet sich in Arthur Schopenhauers Texten ebenso wie in den Bekenntnissen des Aurelius Augustinus. Fast wirkt es so, als würden die Existenz-Denker zu allen Zeiten vor derselben Aufgabe stehen, wenn sie dem bestens funktionierenden Apparat philosophischer Argumentation ein Ungenügen attestieren und Modelle zu dessen Kompensation vorschlagen wollen. Doch handelt es sich tatsächlich um einen Mangel, der so schwer wiegt, dass er dazu auffordert, das Wirken von Philosophie grundsätzlich in Zweifel zu ziehen? Die Frage nach der Bedeutung ihrer Theoreme für den einzelnen Menschen ist nicht irgendeine Suche nach Verständnis, das auf dem Wege der Erkenntnis zu erlangen wäre. Sie bildet vielmehr den kontextuellen Rahmen, innerhalb dessen überhaupt von Erkennen und Verstehen zu sprechen ist. Existentielles Denken reagiert auf die Situation des modernen Menschen, der nach der Bedeutung theoretischer Sätze der Philosophie fragt und greift mit kühner Entschlossenheit in deren Funktionsmechanismus ein, indem sie nicht mehr von dem Menschen, sondern von dem Einzelnen spricht. Doch dann spielt sich etwas ab, das an Tragik kaum zu überbieten ist: Aufmerksamkeit und argumentative Kreativität werden so sehr von dieser Operation in Anspruch genommen, dass das eigentliche Ziel, mit dem dieses Denken einmal angetreten war, hinter den Erfordernissen der theoretischen Explikation fast ein wenig in Vergessenheit zu geraten scheint. So wirken manche Erörterungen der Existenzphilosophie bisweilen so, als würden sie über den Einzelnen in derselben Manier reden, wie es zuvor vom Menschen üblich gewesen ist. Ist die formale Dominanz des Diskurses am Ende stabiler, als erwartet? Wer sich heute zum existentiellen Denken bekennt, steht in derselbe Spannung zwischen Intention und Selbstverständnis eines Denkens, das Theorien formulieren muss, um über die Begrenztheit theoretischer Aussagen über den Einzelnen sprechen zu können. Denn dieser soll nicht nur als ein Begriff unter anderen zur Disposition stehen, sondern als dieser Einzelne der Adressat existentieller Philosophie sein. Als solcher ist er jedoch nicht nur als Begriff zu fassen, sondern er erscheint in der unvergleichlichen Besonderheit individueller Präsenz. In diesen Überlegungen auf jene Arbeit der neuen Justierung philosophischer Selbstverortung hinzuweisen, kann nicht ohne eine plakative Kontrastierung erfolgen, die ein vermeintlich homogenes Bild der Philosophie ihrer neuen Bestimmung entgegensetzt. Tatsächlich gibt es weder diese Kontur noch die Existenzphilosophie, die sie reformieren sollte. Bereits Fritz Heinemann, der 1929 diese Titulierung benutzte, war sich der außerordentlichen Problematik ihrer Anwendung auf heterogene Ansichten bewusst und sprach daher von «Existenzphilosophien». Gemeinsam war den Denkern, auf die er sich bezog, ein ungewöhnliches Interesse am Menschen, doch nicht am Menschen schlechthin, sondern am Einzelnen, an diesem Einen, wie es später immer häufiger heißen wird. Erstaunlich ist an seiner Betrachtung jedoch nicht nur der scheinbar aussichtslose Versuch, verschiedenartigste Denkformen durch eine gemeinsame Etikettiehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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rung zu fixieren, sondern vor allem sein Bedürfnis, eine geistige Erscheinung seiner Zeit noch im Moment ihrer Artikulation zu beleuchten. Seine kleine Schrift Neue Wege des Denkens zählt erstaunlicherweise nicht zu den Standardwerken der Literatur zur Existenzphilosophie und stellt doch ein zu Unrecht vernachlässigtes Beispiel intellektueller Positionierung dar. Als Heinemann versuchte, Kriterien zur Kennzeichnung jenes Denkens zu finden, das sich gerade mit eruptiver Kraft auszudrücken begann, war für ihn noch überhaupt nicht absehbar, welche Entwicklung diesem bevorstehen würde. Ihm ging es darum, ein Phänomen in statu nascendi zu beschreiben. Doch warum? Wird die Vitalität eines Prozesses nicht dadurch eingeschränkt, dass man seine Gesetzmäßigkeiten definiert, noch während er abläuft? Wird eine Entwicklung nicht allzu schnell uninteressant, wenn ihre Wesenszüge bestimmt werden, noch bevor sie sich vollständig entfalten konnten? Impliziert nicht der Gedanke der Vollständigkeit allein schon die Vorstellung von etwas Abgeschlossenem, das fortan allenfalls in den ihm zugewiesenen Abmessungen zirkulieren kann? Heinemanns Bestreben wäre durch Fragen wie diese schlecht umschrieben. Eher wird ihm gerecht, wer seinen Versuch würdigt, die unterschiedlichsten Theorien unter einem gemeinsamen Begriff zu bündeln, um ihre Besonderheit herausstellen zu können. Uns sind andere Beispiele bekannt, in denen ein ähnlicher Versuch unternommen wurde: die Beantwortungen der Frage, was Aufklärung sei, die von Moses Mendelssohn im September 1784 und drei Monate später vom Immanuel Kant in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht wurden, oder François Lyotards Erklärung, was unter Postmoderne zu verstehen sei. Hannah Arendt knüpft 1945 an die von Mendelssohn und Kant exemplarisch vorgeführte Erklärungsabsicht mit ihrer kleinen Schrift Was ist Existenzphilosophie an und steht dabei vor einem ähnlichen Problem wie sechzehn Jahre zuvor Fritz Heinemann. Wie können allein so unterschiedliche Theorien wie die von Karl Jaspers und Martin Heidegger unter einer gemeinsamen Bezeichnung geführt werden? Arendt findet eine Lösung, indem sie die Divergenzen stärker als die Übereinstimmungen hervorhebt und sich zu einer bewertenden Stellungnahme hinreißen lässt, die beider Denken am Maßstab der Modernität misst: Im Gegensatz zu Jaspers versucht Heidegger, mit den neuen Inhalten systematische Philosophie durchaus im Sinne der Tradition wieder zu beleben. […] [Jaspers] hat der modernen Philosophie gleichsam die Wege vorgezeichnet, auf denen es sich bewegen muß, wenn es sich nicht in die Sackgassen eines positivistischen oder nihilistischen Fanatismus verrennen will.1
Wie überzeugend diese Bewertungen in ihrer Zeit waren, kann nur vermutet werden. Dass sie dem Blick kaum standhalten können, der aus heutiger Perspektive auf sie fällt, liegt vor allem an Arendts Kommentierung der radikalen Selbst1
Was ist Existenzphilosophie?, S.27 und 45. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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heit, die sie im Denken Heideggers meint, erkennen zu können. Hinzu kommt, dass sie den Begriff der Existenz, wie sich gleich zu Anfang ihres Textes zeigt, als Ausdruck für das «Sein des Menschen»2 begreift. Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein. In ihrer Gesamtheit gleicht Arendts Frage, was Existenzphilosophie sei, einem leidenschaftlichen Plädoyer für das Denken Karl Jaspers’, das in der Feststellung mündet, mit ihm sei «die Existenzphilosophie aus der Periode ihrer Selbstischkeit herausgetreten».3 In eben dieser «Selbstischkeit» gipfelt ihrer Kritik nach Heideggers Konzeption, die im Mitmenschen ein «störendes Element der Existenz» sehe.4 Dass es jedoch am Ende beinahe unmöglich ist, zwischen den Entwürfen von Heidegger und Jaspers zu wählen, wenn Wahl eine größtmögliche Vergleichbarkeit voraussetzt, die zumindest auf ähnlichen Bewertungskriterien beruht, wird an Arendts Feststellung erkennbar, «Heideggers Philosophie [sei] die erste absolut und ohne alle Kompromisse weltliche Philosophie».5 Diese Kommentierung Arendts ist deshalb so wichtig, weil sie eines festhält: Sein Bild des In-der-Welt-Seins ist ebenso sehr Metapher des Seins wie Bekenntnis zur Welt, die sich dem Menschen in der partikulären Vorfindlichkeit des Dinglichen zu denken gibt. An der Frage, ob und in welcher Intensität der Welt-Bezug des Menschen reflektiert wird, scheiden sich die existenzphilosophisch motivierten Konzeptionen deutlicher als an der Überlegung, wie sie das menschliche Selbst interpretieren. Denn in der Abwägung, ob der Welt-Bezug des Menschen Gegenstand existentieller Reflexion sein soll oder nicht, spiegelt sich eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung. Ist Existenz lediglich vor dem Hintergrund von Transzendenz denkbar, wie sie etwa in der Vorstellung eines Umgreifenden oder des ganz Anderen zu finden wäre, von dem die monotheistischen Religionen Zeugnis ablegen? Diese Frage gilt es im Folgenden zu beantworten. Denn je länger die Beschäftigung mit Existenzphilosophie erfolgt, wird eines immer klarer: Heinemanns Formulierung der Philosophien war mehr als weitblickend. Über alle Differenzierungen in einzelnen Aspekten hinweg ist das Kriterium zur Unterscheidung der einzelnen Entwürfe in der Frage nach Transzendenz zu sehen. Aus der Entscheidung der jeweiligen Denker, ob und in welcher Form ihr Rechnung zu tragen sei, folgt eine Reihe von Konsequenzen, die, wie es Hannah Arendts Text zeigt, grundsätzlich zwar auch für sich betrachtet werden können, tatsächlich aber nur im Konstrukt ihrer Gesamtheit ganz zu erfassen sind. Daher bleibt zu überlegen, ob einzelne Motive wie etwa die «Selbstischkeit», wenn sie von ihrem argumentativen Kontext gelöst werden, nicht möglicherweise in verzerrter Form erscheinen. Martin Heideggers Denken ist, ganz so, wie es Arendt 2 3 4 5
Was ist Existenzphilosophie?, S.5. Was ist Existenzphilosophie?, S.47. Was ist Existenzphilosophie?, S.47. Was ist Existenzphilosophie?, S.34. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
I. Annäherung an ein Phänomen
konstatiert, kompromisslos «weltliche Philosophie». Weder der Bezug auf Religion noch auf den Gedanken eines Umgreifenden, wie ihn Karl Jaspers vornimmt, sind für die Ausarbeitung einer solchen Philosophie relevant. Umso nachvollziehbarer ist es dann doch aber, dass dort in anderer Weise vom Sein zu sprechen ist als in Konzeptionen, die mit der Vorstellung eines Anderen operieren. Wird weltlich nach dem Sein gefragt, muss der Begriff des Selbst in einer besonderen Funktion eingeführt werden, insofern er nicht Reflektor des ganz Anderen, sondern immer nur Resonanz des welthaft Anderen sein kann. Selbst in-der-Welt zu sein, bringt andere Forderungen mit sich, als Selbst im Angesicht des Anderen zu sein. Denn alle Möglichkeit, doch auch alle Last der Entscheidung zwischen den Weisen des Seins, alle Begabung, doch auch alle Bürde, den Sinn des Seins in der Existenz zu finden, gründet ausschließlich im Bewusstsein des Einzelnen, der sich seines Selbst in Ansehung der Welt vergewissert. Heute kann auf Existenzphilosophie anders geschaut werden, als es etwa in den 1940er Jahren möglich war. Es ist mittlerweile ausreichend Zeit vergangen, um tatsächlich von einer Entwicklung sprechen zu können, die jedoch bei weitem noch nicht ihr Endstadium erreicht hat. Es ist möglich, zwischen den außergewöhnlichen Vorzügen dieses Denkens und jenen argumentativen Leerstellen zu unterscheiden, die es bisher nicht in zufriedenstellender Weise hat füllen können. Dazu zählt noch immer die Frage einer existentiellen Ethik, aber auch die Forderung, dass es nicht nur Denken des Menschen, sondern auch Denken der Welt sein müsse, weil sich im 21. Jahrhundert stärker als noch in den 1920er Jahren Ersterer nicht losgelöst von Letzterer reflektieren lässt. Denn die Bedingtheit der Existenz durch die Gefährdung ihres welthaften Grundes ist für uns nicht mehr abzuweisendes Faktum der Erkenntnis geworden. Soll heute eine Konzeption existentiellen Denkens zur Diskussion gestellt werden, hat sie als erstes Element ihrer Selbstreflexion über die gerade angesprochene Frage Rechenschaft abzulegen: Bezieht sie sich in irgendeiner Weise auf den Gedanken eines Transzendenten? Im Weiteren ist zu überlegen, ob der Begriff der Existenzphilosophie tatsächlich stark genug ausgeweitet werden kann, um gleichermaßen Entwürfe mit religiöser Konnotation oder gar Begründung wie auch solche, die auf beides verzichten, bezeichnen zu können. Für Hannah Arendt spielte diese Unterscheidung keine vorrangige Rolle, da für sie festzustehen schien, dass es sich in den beiden Konzeptionen von Jaspers und Heidegger um genuin philosophisch geprägte Sichtweisen handelt. In seiner zeitgleich zu ihrer Studie veröffentlichten Schrift Esquisse pour une histoire de ‹l’existentialisme› ! Skizze einer Geschichte des Existentialismus konstatiert Jean Wahl: On pourrait considérer la philosophie de Jaspers comme une sorte de laïcisation et une généralisation de la philosophie de Kierkegaard, […]. Mais dans ce monde limité, nous accomplissons néanmoins un mouvement, ou plutôt des mouvements de transcendence,
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I. Annäherung an ein Phänomen
non pas vers Dieu, puisque Dieu nèxiste pas, […] mais vers le monde, vers l’avenir et vers les autres hommes.6
Auch wenn er keine weitere Akzentuierung dieser Differenz vornimmt, deutet sich doch bereits der Umstand an, dass je nach grundsätzlicher Ausrichtung einer Theorie der Existenz zweierlei Weisen erforderlich sind, vom Menschen zu sprechen. Was so selbstverständlich klingt, bedarf offensichtlich der besonderen Erwähnung, wird doch diese Notwendigkeit allzu selten in ihren Konsequenzen bedacht. Es reicht nicht aus, einem existenzphilosophischen Text einmal eine religiöse Komponente zu attestieren und ihn ein andermal als atheistisch zu bezeichnen. Vielmehr liegt eine tiefe Differenz darin, den Menschen einmal als den Hörenden der Grundworte des Glaubens und ein andermal als denjenigen zu beschreiben, der zwar auch fähig ist, den «Ruf des Gewissens» zu hören, der allerdings «aus [ihm] und doch über [ihn]» kommt.7 Es ist etwas völlig anderes, ob von Schöpfung oder jener Geworfenheit gesprochen wird, die der grundlose Grund menschlichen Seins ist. Daran ändert sich nichts, wenn der Begriff der Geworfenheit stärker im Sinne eines Gefühls der Entfremdung gedeutet wird, die der moderne Mensch zu erfahren hat, dem sich keine bestehenden Sinnzusammenhänge in seinem Dasein erschließen. Das doppelt geschürte Empfinden, ausgesetzt zu sein, trifft jenen Menschen mit besonderer Härte, der nicht im letzten Augenblick doch noch zu glauben vermag. Selbst die Berufung auf einen «philosophischen Glauben» nutzt noch die Kraft dieser Möglichkeit, dem Los der absoluten Eigenverantwortlichkeit entgehen zu können. Denn er lässt ein Anderes erscheinen, das Referenzpunkt des Selben im Handeln und im Denken wird. Karl Jaspers beschreibt es folgendermaßen: «Das Sein, das uns umfängt, […]. Transzendenz ist das Sein, das niemals Welt wird, aber das durch das Sein in der Welt gleichsam spricht.»8 Existenzphilosophie ohne den Bezug auf ein Anderes, das nicht in der Welt oder im anderen Menschen zu finden ist, ist nicht unmöglich, doch offensichtlich unattraktiv, wie der Blick in ihre Geschichte veranschaulicht. Selbst Martin Heidegger in seinem kompromisslos weltlichen Denken greift im entscheidenden Moment, da es die Denkbarkeit des gewandelten Seins zu belegen gilt, auf das Bild der Göttlichen zurück und beschwört damit Assoziationen an eine längst verloren geglaubte Verwurzelung des Anderen in der Welt herauf. Und Albert Camus, der Existenzphilosophie näherstehend als dem Existentialismus, erklärt in der schlichten Schönheit seiner Sprache, dass das Leben zu änEsquisse pour une histoire ‹l’existentialisme›, S.21 f. und S.29. In Sein und Zeit, § 57, S.275 kommentiert Heidegger jenes Sich-aufgerufen-Fühlen des Menschen, das sich ihm in der Sorge eröffnet: «Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ‹Es› ruft, wider Erwarten und gar wider Willen. Andererseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.» 8 Der philosophische Glaube, S.17. 6
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dern sei, nicht aber die Welt, die er zu seiner Gottheit gemacht habe. Was ist es also, dass Existenzphilosophie offensichtlich mit solcher Macht davon abhält, Sein um des Seins willen, die Welt um der Welt willen und den Menschen um des Menschen willen zu begreifen? Sie will existentielle Philosophie sein. Denn der Begriff der Existenz ist zwar ihr Gegenstand, doch reicht es, wie eingangs angedeutet wurde, nicht aus, ihn zu objektivieren. Existentiell will die Haltung des Denkenden sein, so wie es auch die Haltung des Menschen sein sollte, dem diese Philosophie gewidmet ist. Hier geht es nicht nur um die Frage, was gedacht wird, sondern wie es gedacht wird, nämlich in einem Gestus des Bezeugens. Und genau hier zeigt sich der Grund dafür, dass es so schwierig zu sein scheint, Sein ohne Transzendenz zu verstehen. Denn wenn Zeugnis abgelegt wird, werden dem Bezeugten Bestand und Wert attestiert, die allein kraft seiner Denkbarkeit gelten. Ihm gegenüber, das keiner Rechtfertigung bedarf und jeden Versuch einer Begründung ad absurdum führt, erscheint nur ein Akt der Affirmation angemessen. Setzt das Bezeugen den Bestand des Bezeugten, so wird ihm im Bekenntnis absoluter Wert zuerkannt, was bedeutet, dass es niemals dem Eigenen entsprechen wird. Daraus empfängt der Inhalt des Bekenntnisses seine unbezweifelbare Gültigkeit: Er scheint dem Kontext individueller Prägung entzogen zu sein und kann deshalb, der Dialektik von Beweis und Widerlegung nicht unterworfen, in einem Moment uneingeschränkter Bejahung bekundet werden. Kaum ein anderes Bild illustriert diese Vorstellung des wirkend Entzogenen, das keiner Legitimation bedarf und doch das Denken und Handeln des Menschen inspiriert, so eindringlich wie das des Sprunges in den Glauben, das Søren Kierkegaard entwarf. Das Denken des ganz Anderen kann nicht in der Welt erfolgen, kann aber in ihr bezeugt werden, indem sich der Mensch zur Gültigkeit dieses Undenkbaren bekennt. Vielleicht ist es unser psychologisches Kennzeichen, denkend an etwas anknüpfen zu wollen, das nicht unserem Einfluss unterliegt. Der Glaube an das Göttliche, die Berufung auf Transzendenz und sogar der Verweis auf ein a priori der Erkenntnis erfüllen dieses Bedürfnis in ihren je eigenen Argumentationskontexten. Warum sollte also ohne zwingende Notwendigkeit auf diesen Vorzug verzichtet werden? Weil es dem konkreten Anderen, das uns in den unterschiedlichsten Situationen begegnen kann, etwas vorenthält, indem es unsere Aufmerksamkeit, die ihm ganz gehören sollte, stets zugleich auf etwas lenkt, das dessen eigentlicher Gegenstand zu sein beansprucht. Die Welt um der Welt willen denken, den Menschen um des Menschen willen – diese Worte hier noch einmal anzuführen, macht jetzt erst wirklich Sinn. Denn genau darin bestehen die Aufgabe und die einzigartige Möglichkeit von Existenzphilosophie. Die ganze Aufmerksamkeit demjenigen zu schenken, der unsere Erfahrung nicht übersteigt, sondern sie am Ort der Existenz – der Welt – entstehen lässt. Ist dieses nicht in der Tat das größte Geschenk, das wir gleichermaßen bereiten und empfangen, im Miteinander hier und nirgends sonst? Bezeugen dieser Möglichkeit und Behttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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kenntnis zu ihrem Wert können als Wirkweisen des Menschen betrachtet werden, die um der Unmittelbarkeit der Existenz willen jede Form des Transzendierens überflüssig werden lassen, sofern sie als Bewegung des ‹Über-Hinaus› zumindest als partielle Distanzierung vom Überschrittenen verstanden wird. Existenzphilosophie, so könnte vermutet werden, ist deshalb dem Transzendieren besonders zugetan, weil Existenz selbst als Bewegung gedeutet wird, die im Entwurf auf ein ‹Noch-Nicht› vollzogen wird. Ohne ein Regulativ von absoluter Gültigkeit, wie es im Gedanken des Umgreifenden oder dem Glauben an Gott zu finden wäre, würde jeder Entwurf in der schwindelerregenden Bindungslosigkeit der eigenen Verantwortung schweben, sein Wohin nicht kennend und sich dennoch auf das selbstgewählte Ziel stürzend. Jean-Paul Sartre drückt dieses Erschaudern davor aus, selbst Grund jener Bewegungen sein zu müssen, in denen der Schwindel der Freiheit erscheint: «Daher erfasse ich mich selbst als total verantwortlich für mein Sein, insofern ich sein Grund bin, und zugleich total als nicht zu rechtfertigen.»9 Existenzphilosophie, die auf den Gedanken der Transzendenz verzichtet, gibt nicht ohne Grund ein bisher für wesentlich gehaltenes Konstituens auf. Der Grund ist gegeben und könnte nicht besser sein. Es ist die gerade genannte Entscheidung, sich der Welt und dem anderen Menschen ganz zuwenden zu wollen, oder, um es anders zu formulieren, ihnen nichts schuldig bleiben zu wollen. Die Folge besteht darin, die Unsicherheit eines Denkens, das nur aus dem Sein schöpfen kann, was immer zur Sinngebung erforderlich ist, aushalten zu müssen. Doch steht, wer so vorgeht, beileibe nicht mit leeren Händen da. Philosophie bietet im jahrhundertelang bewährten und in ihrem Gebrauch geschärften Theorierepertoire Instrumente, die genutzt werden können, um das so beunruhigend Wirkende erklären und seine scheinbar selbstnegierende Negativität im Bild eines Denkbaren auffangen zu können. Nicht alle Instrumente taugen allerdings gleich gut für dieses Vorhaben. Es gibt einige, die verworfen, andere, die neu geeicht werden müssen. Es werden Momente entstehen, in denen die Frage aufkommt, ob nicht die Mittel der Theologie letztlich geeigneter wären, um dem Anliegen dieser Existenzphilosophie gerecht zu werden. Vor allem das Interesse an der Welt und am Menschen artikuliert sich hier anders, folgt nicht primär einem Erkenntnisinteresse, sondern dem Wunsch, sie als Spiegel der Schöpfung zu begreifen. Die Intensität, in der Bezogenheit gedacht wird, erreichten philosophische Diskussionen bisher nur sehr selten und doch soll sie, wie die Existenz-Denker der 1920er Jahre fordern, auch die Perspektive des eigenen Fragens bestimmen. Kann aber die spezielle Haltung der Zuwendung zum Anderen, die religiöses Empfinden kennzeichnet, auch mit Mitteln der Philosophie erreicht werden? Der Nachweis, dass es möglich ist, wird auf den folgenden Seiten zu führen sein. Hannah Arendts kurze Darstellung erschien, noch bevor sie 1945 in deutscher Fassung veröffentlicht wurde, in englischer Version 9
Das Sein und das Nichts, S.179. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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in der Vierteljahreschrift Partisan Review. Damit kommt ihr die Besonderheit zu, aus dem Exil einen Blick auf ein Stück deutscher Philosophie zu werfen. Der evangelische Theologe Paul Tillich verfasste 1944 in der Emigration einen Text, der als «erste Einführung der Existenzphilosophie in Amerika gedacht war».10 Werden beide Präsentationen von Existenzphilosophie verglichen, könnte fast der Eindruck entstehen, es handele sich um zwei differente Sujets. Während Arendt dem Begriff des Seins kaum einen Platz in ihrer Skizze des existentiellen Denkens einräumt, entfaltet Tillich aus ihm dessen Merkmal. Bezogen auf die so wichtigen Begriffe wie Angst und Verzweiflung stellt er fest: Wenn die Philosophie der persönlichen Erfahrung den Zugang zum schöpferischen ‹Ursprung› des Seins bildet, so ist es notwendig, daß die Begriffe, in denen die unmittelbare Erfahrung ausgedrückt wird, auch die Struktur des Seins selber beschreiben. Die sogenannten ‹Affekte› sind dann nicht nur subjektive Gemütsbewegungen ohne ontologische Bedeutung; sie sind halb-symbolische, halb-realistische Merkmale der Struktur der Wirklichkeit selber.11
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Existenzphilosophie, in: Philosophie und Schicksal, S.145. Existenzphilosophie, in: Philosophie und Schicksal, S.160. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Eine philosophische Konzeption wie diese, die auf die Inanspruchnahme des Gedankens der Transzendenz verzichtet, muss sich vom metaphysischen, nicht jedoch vom ontologischen Denken verabschieden. Damit scheint sie in eine mittlerweile bereits zur Tradition gewordene Zurückweisungsgeste einzuschwenken. Doch sollte die Ablehnung des Metaphysischen nicht unabhängig von ihrer Motivation betrachtet werden. Hier erfolgt sie aus dem Bedürfnis, die Aufmerksamkeit des Denkens und Erfahrens ganz dem Anderen im Sein zu widmen. Kaum ein anderer Begriff der philosophischen Terminologie weist eine solche Spannweite der Bedeutung auf wie jener der Existenz. Dass eine massive Differenz zwischen seiner Verwendung im existenzphilosophischen Sinne und seiner Einbindung in den Kontext analytischer Philosophie besteht, verwundert nicht wirklich. Denn hier wird er, wenn alle internen Unterschiede für einen Moment ausgeblendet werden, vornehmlich zur Aussage über Bestehendes genutzt. Wird einem Ding Existenz attestiert, kommt das seiner Anerkennung als etwas gleich, das ist. Unter stark simplifizierender Perspektive entspricht diese Auffassung noch dem traditionellen Gebrauch des Begriffes, der vor allem dazu diente, das, was ist, von der Weise zu differenzieren, als was es ist, womit dann der Begriff der Essenz zum Tragen käme. Eine nicht unwichtige Spezifikation könnte in den Bestrebungen nicht existentiellen Denkens gesehen werden, Existenz als Eigenschaft zu verstehen. Wird von einer Eigenschaft gesprochen, müsste stets nach demjenigen gefragt werden, dessen Eigenschaft sie ist. Damit verlagert sich die Betrachtung deutlich. Denn nun ist es nicht mehr möglich, Existenz als Gegenstand einer Seins-Aussage zu begreifen, da der Vorstellung einer Eigenschaft der Aspekt ihrer möglichen, jedoch nicht zwingend erfolgenden Verwirklichung inhäriert. In erweiterter Blickrichtung wäre nach den Bedingungen zu fragen, unter denen eine Eigenschaft zum Tragen kommt, womit ein Feld der Überlegungen gestreift würde, das nicht zu den genuinen Bereichen der analytischen Philosophie zählt. Nicht zu ihren Arbeitsgebieten, so kann ergänzt werden, doch umso offensichtlicher zu jenen der Existenzphilosophie. Hier scheint sich eine gegenseitige Skepsis zweier philosophischer Positionen anzudeuten, aus der auch heute kein Hehl gemacht wird. Zumindest ist es zu einer mittlerweile fast stereotyp klingenden Verlautbarung geworden, dem existentiellen Denken begriffliche und analytische Unklarheit zu attestieren. Auch wenn bislang an dieser Stelle noch nicht geklärt werden konnte, was der Begriff der Existenz etwa bei Martin Heidegger https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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oder Karl Jaspers bedeutet und ob überhaupt von einer übereinstimmenden Auffassung ausgegangen werden kann, ist so viel bereits jetzt festzuhalten: Existenz als Seins-Aussage macht in diesem Zusammenhang keinen Sinn, da damit der Aspekt der Zeitlichkeit, der für das Verständnis dieses Begriffes maßgeblich ist, ausgeschlossen würde. Das Testat, dass etwas ist, reduziert das Interesse, das seiner Fragestellung zugrundliegt, auf die Fixierung eines gegenwärtig für unbezweifelbar zu haltenden Zustandes des Bestehens. Ob dieser Ausgangspunkt von Entwicklungen oder gar von Veränderungen sein kann, die das Bestehende seinem Wesen annähern, ist nicht mehr in der Frage enthalten. Denn von Existenz zu sprechen, dient letztlich in herkömmlicher Sicht dem Zweck, Aussagen über eben diesen Bestand von etwas treffen zu können, die dann Bestandteil weiterführender Betrachtungen sein können. Da in diesem Umfeld des analytischen Denkens auch die Frage nach der Wahrheit einer Aussage relevant wird, wäre es nachgerade fatal, mit dem Begriff der Existenz jenes Entwicklungspotential assoziieren zu wollen, dem im existentiellen Denken zentrale Bedeutung zukommt. Aus analytischer Sicht könnte nicht sinnvoll nach demjenigen gefragt werden, was mit dem Begriff der Existenz bezeichnet werden soll, wenn dieses primär durch sein ‹Noch-Nicht› gekennzeichnet wird. Denn so viel kann vorgreifend angemerkt werden: Wenn es die Tendenz einer Gemeinsamkeit der unterschiedlichen existenzphilosophischen Konzeptionen gibt, so besteht sie in der Kontrastierung eines Seins-Zustandes und einer Verwirklichungs-Möglichkeit, die dem Menschen zugesprochen werden können. Darüber, ob diese formaler oder pragmatischer Natur ist, herrscht dann jedoch bereits Uneinigkeit, was insofern höchst interessant ist, als sich aus der einen oder anderen Antwort Konsequenzen für die Annahme ethischer Verbindlichkeit ergeben werden. Wird Existenz nicht als formales Kriterium der Denkbarkeit, sondern als daseinseffizienter Verwirklichungs-Modus gedeutet, ist es naheliegend, ihr den Wert eines zu Erstrebenden zu attestieren. Ein solcher Schritt könnte unter Berufung auf das Wort des Aristoteles aus seiner Schrift De anima – Über die Seele gestützt werden, wonach stets Verwirklichung wertvoller als Vermögen sei.12 Für Aristoteles als Naturforscher, dessen Denken zu einem Großteil empirisch fundiert ist, bedarf diese Feststellung keiner Begründung, da er sie in der Entwicklung eines jeden Organismus bestätigt findet. Das, wozu dieser fähig ist, wird zu irgendeinem Zeitpunkt zur Entfaltung gelangen, wenn es nicht durch äußere Widerstände daran gehindert wird, davon ist Aristoteles überzeugt. Die Eigenschaft der Schwere etwa wird, sofern sie nicht durch externe Einwirkung aufgehalten wird, einen Körper eine abwärts gerichtete Bewegung vollziehen lassen, um an seinen natürlichen Ort, der dem Hohen entgegengesetzt ist, zu gelangen. Der 12 Über die Seele, III, 5, 15: «Auch dieser Geist [intellectus agens] ist abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt, da er seinem Wesen nach Aktualisierung ist. Denn immer ist das Wirkende ranghöher als das Leidende und das Prinzip höher als die Materie.» https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sinn dieser Bewegung, wenn dieser Ausdruck hier verwendet werden sollte, liegt in der Vollführung eben dieser Bewegung. Wie wichtig diese Auffassung aus dem Kontext der aristotelischen Physik für die anstehende Frage nach der Existenz ist, mag sich nicht sofort erschließen. Sie illustriert aus einem kaum zu erwartenden Zusammenhang eine Vorstellung, die für das traditionelle Denken nicht nur der Existenz, sondern des menschlichen Wesens ausschlaggebend ist. Es ist die Möglichkeit, jedem Organismus und damit auch dem Menschen eine ihm gemäße Bewegung zuzuschreiben, die zu vollziehen seiner eigentlichen Natur entspricht. Die zwingende Folgerichtigkeit dieses Gedankens, der unsere philosophische Tradition kennzeichnet, ist niemals grundsätzlich infrage gestellt worden. Warum hätte es auch geschehen sollen, gründet sie doch auf der Beobachtung dessen, was in der Natur in jedem Augenblick zu beobachten ist. Organismen bewegen sich nicht willkürlich, vom Zufall der sie bedingenden Faktoren gelenkt, sondern folgen ihrer wesentlichen Bestimmtheit mit der Präzision regelgeleiteter Abläufe. Der einzige Schritt, der eventuell der Rechtfertigung, zumindest aber der Erklärung bedarf, besteht in der Anwendung auf das menschliche Wesen. Ihn als Organismus unter anderen ansehen zu können, stellte für Aristoteles keine unüberwindliche Schwierigkeit dar, teilt der Mensch doch Seelenvermögen mit allen anderen Lebewesen und unterscheidet sich von ihnen lediglich durch das Vermögen der Rationalität. Ob es hier angebracht ist, von lediglich zu sprechen, ist letztlich eine Frage der persönlichen Neigung bei der Beurteilung dessen, was den Menschen bestimmt. Ist es dasjenige, das ihn mit allem Seienden verbindet, oder dasjenige, das ihn diesem gegenüber herausstellt. Aristoteles selbst neigt zur zweiten Ansicht, was ihn jedoch nicht daran hindert, die Befunde der Empirie als Grundlage seiner Definition des Wesens – und zwar nicht nur des menschlichen ! zu nutzen. In allem Seienden gibt es eine Tendenz der Entwicklung, die nur durch externe Einwirkung gehemmt oder gar unterbunden werden kann. Geschieht keines von beidem, wird diese Entwicklung stattfinden, um das Seiende seine ihm eigentümliche Positionierung einnehmen zu lassen. Ein Stein fällt, wenn keine Hand ihn auffängt; ein gasförmiger Stoff steigt auf, wenn seine Bewegung nicht verhindert wird. Und der Mensch? In jedem Fall ist auch er nach aristotelischem Verständnis, das so leise und doch so dauerhaft unser Denken prägte, in Bewegung oder sollte in Bewegung geraten, falls er diese nicht actualiter vollführt. An diesem Punkt wird der Bezug zur leitenden Thematik, dem Begriff der Existenz, offensichtlich. Es gibt einen Zustand, in dem wir uns befinden, der als unser Sein bezeichnet werden kann. Würde dieser Zustand nach einem Muster analytischer Bestimmung bezeichnet, käme der Begriff der Existenz im Sinne einer Eigenschaft in Betracht, die grundsätzlich jedem Ding eignet und damit, die Umkehrung des Gedankens versteht sich von selbst, nicht zur Unterscheidung der Dinge geeignet ist. Spätestens an diesem Punkt ist eine nähere Betrachtung dessen erforderlich, was im vorliegenden Kontext als Eigenschaft verstanden https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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wird. Auf die weiteren Überlegungen vorausblickend ist sie als eigentümliche Möglichkeit aufzufassen. Etwas kann über verschiedene solcher eignenden Eigenschaften kenntlich gemacht werden, zu denen im Falle des Menschen das SeinKönnen zählt, das im Zuge der existentiellen Bewegung realisiert werden kann. Die Unterschiedlichkeit analytisch und existenzphilosophisch geprägter Verwendungen des Begriffes der Existenz ist nicht zu unterschätzen. Wird in der ersten Weise einem Ding oder Menschen Existenz zugesprochen, hebt es sich von der Menge aktuell nicht seiender Gegenstände ab. Eine weitere Kennzeichnung, die seine Abgrenzung gegen andere existierende Dinge erlauben würde, ist damit nicht zu leisten, jedoch auch nicht von vorrangigem Interesse. In dieser Weise von Existenz zu sprechen bedeutet, einem Gegenstand Sein zu bescheinigen, womit es in einem ganz bestimmten Moment in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, der möglicherweise mit Blick auf die weiteren Überlegungen eine Wiederholung sinnvoll werden lässt. Existenz, so wäre aus existenzphilosophischer Warte zu kommentieren, ist die Eigenschaft des Sein-Könnens. Wird eine ExistenzAussage getroffen, in der festgestellt wird, dass etwas ist, verliert der Begriff der Existenz seine eigenschaftliche Bedeutung, da die Möglichkeit, sein zu können, nicht mehr sprachlich gefasst werden kann. Wird Existenz als Eigenschaft verstanden, beobachten wir die erstaunliche Tatsache, dass ihre Explikation den logischen Ausschluss des gegenteilig Möglichen, des Nicht-Seins, anzeigt. Zur Ermöglichung sinnvoller Aussagen, um deren Gewährleistung in der analytischen Philosophie gerungen wird, stellt dieser Umstand nicht notwendig ein Problem dar, sehr wohl jedoch für existenzphilosophische Reflexionen des Begriffes der Existenz, denn hier scheiden sich die Bedeutungen der Termini «Sein» und «Existenz» eindeutig. Hier erschöpft sich die Bedeutung einer Aussage nicht in der Feststellung, dass etwas ist, sondern verlangt danach, auch Ausdruck dessen zu sein, was dieses etwas werden kann. Aus diesem Grunde scheint es in diesem Denken bis jetzt unverzichtbar zu sein, die Rede vom Sein des Seienden vom Sein des Menschen zu differenzieren, was dazu führt, dass Existenz letztlich nur dem Menschen zugesprochen werden kann. Ob mit dieser Aufspaltung das letzte Wort im Gebrauch der Begriffe «Sein» und «Existenz» gesprochen ist, wird im Verlauf der weiteren Betrachtungen zu fragen sein. Zunächst kann vermerkt werden, dass es nach existenzphilosophischer Überzeugung die Möglichkeit der Entwicklung jener dem Menschen eigentümlichen Wesenhaftigkeit gibt, die sich nicht im Sein erschöpft. Darin, diese Möglichkeit anzunehmen, stimmen die existenzphilosophischen Konzeptionen überein, doch darüber, wohin diese Möglichkeit letztlich führen wird, herrscht Uneinigkeit. Geeint im Dissens könnten sie sich aber doch dem analytischen Denken gegenüber positionieren und darauf beharren, dass sie sich keinesfalls mit der Benennung eines status quo zufriedengeben werden, selbst dann nicht, wenn dieser als Seins-Testat ausgewiesen wird. Mit dessen Formulierung schließt sich das Interesse innerhalb dieses Denkens, das vornehmlich der Bildung sinnhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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voller Sätze gilt. Die Reflexion von Folgerungen, die sich aus Möglichkeiten der Existenz ergeben könnten, zählt nicht zu den primären Arbeitsfeldbestimmungen innerhalb dieses Denkens, das gemeinhin als analytisch bezeichnet wird. Die Feststellung des Bestandes eines Gegenstandes oder auch des Menschen ist gleichwohl für die Aussage sinnvoller Sätze von unverzichtbarer Bedeutung, insofern sie den Gegenstandsbereich markiert, innerhalb dessen diese artikuliert werden kann. In Abgrenzung zum existenzphilosophischen Verständnis ist noch einmal zu betonen, dass das Testat der Existenz dort der Kennzeichnung eines Ist-Zustandes dient. Nur den realiter Vorliegenden kann in diesem Verständnis Existenz, das heißt eben in diesem Zusammenhang: Sein, zuerkannt werden. Fraglich könnte vor diesem Hintergrund bleiben, auf welcher Grundlage Sein erfasst wird, das dann in der Existenz-Aussage zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Zusammenhang empirische Vorgängigkeit annehmen zu wollen, mag naheliegen, erweist sich jedoch nicht als überzeugend, da die Suche nach sinnvollen Sätzen sich damit zu unverhohlen in Abhängigkeit von vorgängigen Mustern der Erfahrung begeben würde. Die Thematisierung einer solchen Bedingung des analytischen Denkens findet jedoch kaum statt. So bleibt zu vermuten, dass die Grundlage, auf der etwas als seiend erfasst wird, für die Artikulation der Existenz letztlich irrelevant ist. Ein solcher Umstand führt jedoch zu einer nicht unbedeutenden Folgerung. Dasjenige, dem Existenz attestiert wird, wird im Zustand der Gegenwärtigkeit beurteilt werden müssen. Gegenwärtig erscheint das Sein, das in der Existenz-Aussage fixiert wird; momenthafte Gültigkeit kommt dieser Aussage selbst zu. Denn sie kann immer nur Aussage über den gegenwärtigen Zustand sein, nicht über dessen Bedingung oder Entwicklung. Was auf der einen Seite den Geltungsbereich analytischer Sätze in besonderer Weise reglementiert, reduziert ihn auf der anderen Seite auf eine Momentaufnahme des faktisch Gegebenen. Zur plastischen Hervorhebung der Differenz, die sich in dieser Hinsicht zum existentiellen Verständnis zeigt, wurde auf die Erwägung verzichtet, wie es sich mit der Existenz von Ideen oder Vorstellungen verhält. Reduzierung auf Bestehendes ! es ist speziell dieser Aspekt, der aus existenzphilosophischer Warte nicht zu akzeptieren ist. Denn hier scheiden sich, wie bereits angedeutet, die Bedeutungen der Termini «Sein» und «Existenz». Beide stimmen nicht mehr mit dem gerade angesprochenen Gebrauch überein. Der Begriff des Seins dient nicht dem Testat gegenwärtigen Bestandes, sondern fungiert eher zur Artikulation der Tatsache, dass überhaupt etwas ist. Hierauf wird zurückzukommen sein. Von Existenz in dem neuen Verständnis zu sprechen, bedeutet, über Seiendes zu sprechen, das einen Veränderungsprozess durchläuft. Aus dieser Perspektive betrachtet könnte gefragt werden, ob sie damit nicht sehr stark dem Gedanken der Eigenschaft ähnelt, der auf Seiten der analytischen Philosophie diskutiert wurde. Es könnte argumentiert werden, dass Seiendem die Eigenschaft der Veränderbarkeit zukommt und dass das Produkt der entsprechenden Vorgänge als Existenz bezeichnet wird. In Texten dieser philosophischen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Tradition wird diese Frage allerdings nicht erörtert, aus gutem Grund, wie zu vermuten ist. Allzu groß sind etwa bei Karl Jaspers oder Heinrich Barth die Vorbehalte gegen den Gedanken des Seins schlechthin, viel zu groß, um seine Reflexion in die eigenen Konzeptionen zu integrieren. Inwieweit die Vorbehalte, die sich auch noch in den Schriften des Emmanuel Lévinas finden, tatsächlich der Vorstellung von Sein gelten oder nicht eher dessen Interpretation durch Martin Heidegger, bleibt eine nicht zu entscheidende Alternative. Dass Lévinas an dieser Stelle mit den genuinen Denkern der Existenz in einem Atemzug genannt wird, mag im ersten Moment für Verwunderung sorgen. Seine frühe Arbeit De l’évasion – Ausweg aus dem Sein aus dem Jahr 1935 zeigt offensichtliche Parallelen zu einer Haltung dem Sein gegenüber, wie sie etwa zeitgleich, zunächst in literarischer Form, von Jean-Paul Sartre vertreten wird. Beide, Lévinas und Sartre, stehen in einer Entwicklungsphase des existentiellen Denkens, was nicht bedeutet, dass sie dessen Konturen unverändert übernehmen. Noch die späte Schrift Autrement qu’être ou au-delà de l’essence ! Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von 1974 lässt Lévinas’ vehemente Ablehnung des Gedankens vom Sein erkennen. Welches Interesse sollten diese Theoretiker daran haben, Existenz als Eigenschaft von Seiendem zu begreifen, solange dieses auch nur in flüchtigster Verbindung zu einer Konzeption von Sein gedacht wird?
Der Einzelne Eine neue Justierung der hier ansetzenden Überlegungen wird in dem Moment möglich, in dem auf eines der wenigen allgemein anerkannten gemeinsamen Merkmale existentieller Philosophien geschaut wird, nämlich den Gedanken des Einzelnen. Der einzelne Mensch in seiner situativen Bedingtheit soll Gegenstand philosophischer Reflexion werden, so lautet die Forderung, die vor allem in den 1920er Jahren erhoben wurde. Das Bedürfnis, diesen Einen in seiner individuellen Konturierung zum Gegenstand des Fragens nach dem Menschen zu machen, kommt in dieser Zeit nicht zum ersten Mal zum Ausdruck, gewinnt hier aber besondere Relevanz für die Artikulation philosophischen Denkens. Der Blick in die Geschichte dieses Denkens zeigt das Aufbrechen eines expliziten Interesses am Einzelnen in den unterschiedlichsten Epochen. Vor allem Aurelius Augustinus ist hier zu nennen. Mit seiner an Eindringlichkeit nicht zu überbietenden Suche nach demjenigen, was das Ich sei, formuliert er eine Frage, die sich nicht mehr durch Verweise auf allgemeine Bestimmungen wie etwa die Kreatürlichkeit des Menschen – aus religiöser Perspektive – oder seine Vernunftbegabtheit – aus philosophischer Sicht – beantworten lässt. Stattdessen betont er die Funktion des Erinnerns, ein und dieselbe für jeden Menschen, doch in ihrer Realisierung je spezielles Merkmal der individuellen Geschichte. Und in Søren Kierkegaards
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Der Einzelne
Verständnis des Glaubens kann es letztlich nur der Einzelne sein, der sich im Aushalten der Verzweiflung der Erfahrung des Göttlichen würdig erweist. Es ist jedoch das eine, Bilder des einen Menschen zu entwerfen, das andere hingegen, sie zum Bestandteil philosophischer Theoriebildung erklären zu wollen. Denn der Gedanke des Einzelnen ist kein Motiv, das sich problemlos an jene Stelle setzen lässt, die bisher vom Begriff des Menschen ausgefüllt wurde. Einen Begriff durch ein Motiv auszutauschen, kann nicht folgenlos bleiben. Denn eine ganze Reihe philosophischer Annahmen muss nun neu ausgerichtet werden, was zum Teil sogar zu deren grundsätzlicher Infragestellung führen kann. Es sei hier nur ein Kontext genannt, in dem sich die Folgeschwierigkeiten besonders massiv zeigen. Theorien der Ethik, die auf dem Gedanken eines Norm-setzenden Imperativs basieren, sind möglich, solange davon ausgegangen werden kann, dass prinzipiell jeder Mensch in gleichem Maße dazu in der Lage ist, diesen zu verstehen und in seinen Handlungen zur Geltung zu bringen. Denn jeder Mensch ist qua Natur als vernunftbegabt zu betrachten. Soll der normierende Wert der Ethik für den Einzelnen untersucht werden, wird sehr schnell erkennbar, dass er anders begründet werden müsste, wenn er denn überhaupt noch aufrechterhalten werden kann. Mit dem Motiv des Einzelnen wird zunächst der Gedanke menschlicher Wesensbeschaffenheit hinfällig, als deren Inhalt zuvor die Vernunftbegabtheit angesehen werden konnte. Tatsächlich wird diese den einzelnen Menschen zwar nach wie vor eignen, doch ihr Bestehen kann nicht mehr als egalisierendes Element angeführt werden, auf dem dann die Formulierung einer allgemein gültigen Ethik beruhen könnte. Denn diese kann nicht mehr einen jeden in gleicher Weise ansprechen, sondern müsste sich an jeden Einzelnen in der ihm entsprechenden Weise richten. Schon die Erwähnung dieses Erfordernisses verdeutlicht seine Aussichtslosigkeit. Natürlich wird mit der Einführung des Motivs des Einzelnen nicht die Möglichkeit von Ethik bezweifelt, doch ihre Begründung muss den veränderten Bedingungen Rechnung tragen, unter denen sie nun erfolgt. Niemand brachte diese Tatsache deutlicher zum Ausdruck als Hermann Cohen, der in seiner Schrift Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 1918 die Unmöglichkeit feststellt, den Einzelnen zum Adressaten ethischer Weisungen machen zu wollen. Erst in dem Moment, in dem dieser in seinem Mitleiden mit anderen erkannt wird, sei er als Individuum gerechtfertigt und damit im Kontext ethischen Denkens zu bedenken. Doch hat er einen berühmten Vordenker, der denselben Gedanken in etwas anderer Akzentuierung rund einhundert Jahre früher formulierte: Meiner Meinung nach aber ist alle Philosophie immer theoretisch […]. Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen, sind alte Ansprüche, die sie, bei gereifter Einsicht, endlich aufgeben sollte. Denn hier, wo es den Werth
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oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das innerste Wesen des Menschen selbst, […].13
Was Arthur Schopenhauer in aller nur vorstellbaren Entschlossenheit ausspricht, rührt an den Grundfesten philosophischen Selbstverständnisses nicht nur seiner Zeit. Denn dieses fußt auf der Überzeugung, Aussagen allgemeiner Gültigkeit und Postulate allgemeiner Geltung schaffen zu können, die den einen entscheidenden Vorteil bieten: Sie bedürfen zu ihrer Anerkennung keiner Rechtfertigung in Ansehung der Person. Mit dieser Voraussetzung bricht das Denken des Einzelnen ohne jeden Kompromiss. Hermann Cohen demonstriert, wie im Rahmen philosophischer Reflexion, die seiner Auffassung nach nach wie vor durch den Primat der Vernunft geleitet wird, auf diesen Bruch zu reagieren ist. Er fragt, wie der Einzelne als Einzelner und nicht als Gattungswesen Mensch ansprechbar ist, um Ethik auch in diesem Extremfall der Denkbarkeit gewährleisten zu können. Über seine Affektivität, so lautet die Antwort, die wohl nicht zufällig die Erinnerung an Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung hervorruft. Im Mitleiden tritt der Einzelne bei Cohen als ethisch gefordert und moralisch kompetent in Erscheinung, weil er die Daseinsverfassung des anderen Menschen erkennt und versteht. Das Mitleiden ist ein Empfinden, das nicht durch einen Imperativ des «Du sollst» gefordert werden kann. Doch es kann von einem Menschen, der erkennt und versteht, was seine Mitmenschen empfinden mögen, erwartet werden. Der Frage, ob damit am Ende doch wieder eine Gleichheit, zumindest aber eine Vergleichbarkeit der Menschen denkbar wird, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Sie wird später zu stellen sein. Am Beispiel der Problematik ethischer Theoriebildung wird ersichtlich, mit welch massiven Herausforderungen derjenige zu kämpfen hat, der den Begriff des Menschen durch das Motiv des Einzelnen ersetzen will. Mit ihnen fanden sich auch die Denker der Existenz konfrontiert. Doch zum Großteil wirken ihre Texte so, als wäre deren Bewältigung nicht ihr wichtigstes Anliegen gewesen. Immer wieder begegnet jene Kritik, die das Fehlen existenzphilosophischer Ethik hervorhebt. Selbst JeanPaul Sartre, der als existentialistischer Denker bereits erkennbar auf Probleme reagiert, die die Existenzphilosophie unbearbeitet ließ, war vor diesem Vorwurf nicht gefeit. Das enorme öffentliche Interesse, das die Veröffentlichung seiner Cahiers pour une morale – Entwürfe für eine Moralphilosophie im Jahr 1983 begleitete, ist ein eindrucksvoller Beleg für das Bedürfnis, endlich auch von dieser Philosophie Erklärungen zur Ethik zu hören. Umso tiefer war die Enttäuschung, als der Band den an ihn gerichteten Erwartungen nicht gerecht zu werden schien. Das Denken des Einzelnen und der Begriff der Existenz ! dieser Verbindung gilt es im Moment zu folgen. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten, ja es kann sogar davon ausgegangen werden, dass es die 13
Die Welt als Wille und Vorstellung, IV, § 53, S.357. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Der Einzelne
Umdeutung des Existenzbegriffes ohne das Bestreben, den Menschen als den Einzelnen reflektieren zu wollen, nicht gegeben hätte. Zur Erklärung muss zunächst das scheinbar selbstverständliche Faktum benannt werden, dass der Einzelne, dieser Eine, wie es auch heißt, nicht kategorial gedacht werden soll. Denn andernfalls würde er sich in seiner Denkbarkeit in nichts von jener hypothetischen Gesamtheit unterscheiden, die mit dem Begriff «Mensch» bezeichnet wird. Hierin bestand gerade einer der mächtigsten Anlässe zur Umdeutung, die von den Denkern der Existenz vollzogen wurde: Sie wollten Mittel und Wege finden, um tatsächlich diesen einen Menschen in seiner je eigenen Besonderheit, die zugleich seine besondere Eigenheit ist, philosophisch zum Ausdruck zu bringen. Philosophisch, das heißt in der Weise solcher Reflexionen, die ihn als Einzelnen, doch im selben Moment auch als Begriff des Einzelnen denkbar werden lassen. Zeichnet sich nicht bereits hier ab, dass der Kampf gegen Windmühlen ein erfolgversprechenderes Unterfangen ist? Ein Begriff dient nach verbreiteter Auffassung im philosophischen Diskurs dazu, als Zeichen des von ihm Bezeichneten zu fungieren, so dass er in Rede und Schrift jederzeit und unbesehen des real Gegebenen auf dieses verweisen kann. Schnell wird jedoch erkennbar, dass der Begriff «der Einzelne» nicht für ein in seiner Besonderheit vereinzeltes Bezeichnetes stehen kann. Er kann ohne Weiteres dazu genutzt werden, um auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass es gesonderte Einzelne geben kann, doch verfehlt er damit das im Grunde von ihm zu Bezeichnende. Der Einzelne ist eben keine Klasse möglicher Individuen, sondern, wie der Ausdruck «dieser Eine» noch um ein Vielfaches besser zur Geltung bringt, dieser und kein anderer. Unter erkenntnistheoretischer, soziologischer oder ethischer Perspektive muss geklärt werden, wodurch die Verwechslung beider verhindert wird. Wodurch unterscheiden sich zwei Einzelne? So banal und fast ein wenig lächerlich diese Frage auch klingt, verbirgt sie doch eine gewichtige Problematik, die in der Philosophie spätestens seit der Zeit der Scholastik für intensive Meinungsverschiedenheiten sorgte: Worin besteht das Individuationsprinzip von Seiendem? Im Mittelalter wurden vornehmlich zwei Antwortmöglichkeit favorisiert und jeweils unter Aufbringung bemerkenswerten argumentativen Scharfsinns diskutiert – Materie und Form. Mit Erklärungen, die hieraus ableitbar wären, können sich die Denker der 1920er Jahre nicht mehr zufriedengeben, zumal dann nicht, wenn es ihnen nicht mehr um die Erörterung der metaphysischen Kategorie des Individuellen, sondern um die Exemplifizierung vereinzelten Seins in der Welt geht. Ihnen ist der Mensch, ganz so, wie es Arthur Schopenhauer und Hermann Cohen vorausnahmen, längst zu einem Leidenden geworden, dessen affektive Gestimmtheit nicht von dem einen oder anderen Unglück herrührt, sondern von der Erkenntnis der Natur des Seins selbst, so wie es sich in den konkreten Vollzügen seiner Lebbarkeit darstellt. Diese Facette des Bildes vom Menschen drängt erst allmählich in den philosophischen Diskurs. Doch ist sie erst einmal dort sichtbar geworden, muss es schwierig sein, sie fortan nicht berücksichtigen zu wollen, so sollte man https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zumindest meinen. Die Geschichte des philosophischen Denkens belehrt jedoch eines Besseren. Wie oft werden Autoren wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Franz Rosenzweig zu Randgängern des offiziellen Diskurses erklärt und als genau das betrachtet: Autoren, deren Schriften eher im Kontext des Literarischen zu rezipieren wären, weil sie all das sind, was einem Bild von Philosophie als Wissenschaft der Erkenntnis kaum zu integrieren ist: zu individuell, zu emotional, zu unwissenschaftlich. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit wird in Kauf genommen, um eine Form anwenden zu können, in der der Einzelne Gegenstand der philosophischen Reflexion werden kann. Doch woher rührt dieses Interesse? Warum konzentrieren sich die Denker der Existenz nicht darauf, ihm in literarischer Gestalt gerecht zu werden? Warum sollte er Thema der Philosophie werden, wird dabei doch von Anfang an eine kaum zu überwindende Problematik erkennbar? Im gängigen Repertoire philosophischer Theoriebildungen schien es nach Auffassung der Denker der Existenz noch kein geeignetes Instrument zu geben, um den Einzelnen, diesen Einen, thematisieren zu können. Beschreibbar ist er, wie die Texte von Kierkegaard und Schopenhauer zeigen. Doch ist er damit noch lange nicht kategorisierbar, das heißt auf ein gemeinsames Merkmal zu reduzieren, das als seine Wesensbestimmung verstanden werden kann. Eine kurze Betrachtung der beiden Begriffe «der Mensch» und «der Einzelne» kann diesen Umstand veranschaulichen. Der Begriff des Menschen bezeichnet ein Gattungswesen, dessen Bestimmung dazu dient, es von anderen Lebewesen zu unterscheiden. Rationalität ist nach landläufiger Auffassung dieses Kennzeichen, sein Alleinstellungsmerkmal. Eine interne Differenzierung einzelner Menschen ist weder beabsichtigt noch erforderlich, da sie zu dieser externen Abhebung nichts beitragen würde. Der Begriff des Menschen erfüllt seine Funktion, Aussagen über jenes Wesen zu treffen, das als allen Menschen gemeinsam gedacht wird. Die Frage, ob es eventuell Menschen gibt, die dieser allgemeinen Bestimmung nicht entsprechen, würde an der Gültigkeit derartiger Aussagen nichts ändern. Denn dessen Kennzeichnung bedarf keiner Verifikation durch Einzelfallprüfungen, weil sie im Kontext der Aussagen selbst begründet ist. Anders würde es sich mit dem Begriff des Einzelnen verhalten. Sollte für ihn ein Kriterium allgemeiner Gültigkeit gesucht werden, das es erlaubt, ihn auf jedes Wesen dieser Gattung, wenn es denn eine solche gäbe, anzuwenden, käme hierfür lediglich die Vereinzelung in Betracht. Diese ist jedoch keine Eigenschaft, die jedem Einzelnen zukommt, sondern eine Feststellung, die darauf abzielt, Vergleichbarkeit von Vornherein aufzuheben. Der Begriff «der Einzelne» bezeichnet nicht Wesen, die durch ein gemeinsames Merkmal von allem anderen unterschieden werden können, sondern jeweils ein einzelnes Exemplar, dessen Verallgemeinerbarkeit daraus resultiert, dass es eine potentiell unendliche Anzahl solcher Einzelwesen geben kann. Über deren Beschaffenheit sagt der Begriff jedoch nichts aus. Noch eine weitere Differenz zum Begriff des Menschen wird absehbar. Das von ihm Bezeichnete ist in jedem Augenblick als gleich und gleichbleihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Der Einzelne
bend zu verstehen, da es sich um ein Gattungswesen handelt. Wird nach dem Bezeichneten des Begriffes vom Einzelnen gefragt, zeigt sich eine grundsätzlich andere Situation. Denn der Einzelne ist kein mit seiner Bestimmung identisches Wesen, wie es beim Menschen der Fall ist. Wie er sich als vereinzelter zu erkennen gibt, hängt von seinen individuellen Entwürfen und seinem personellen Profil ab und ist daher weder vorhersehbar noch im Begriff zu fixieren. Letztlich entspricht diese Beobachtung exakt dem Anspruch, der zur Entwicklung des Gedankens vom Einzelnen und seinem Begriff geführt hat. Hier soll nicht jedes Individuum unter einer allgemeinen Kennzeichnung, die in der Benennung aufgehoben ist, gedacht werden, um mittels dieser Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine Gegenstand philosophischer Reflexion werden zu können. Stattdessen soll das Bild vom Einzelnen sich einer solchen funktionalen Reduktion verweigern, so dass dieser stets etwas anderes sein kann, als das von seinem Begriff Bezeichnete. Der Variabilität individueller Entwurfsakte sollte damit Rechnung getragen werden, selbst um den Preis der Unartikulierbarkeit des Einzelnen im Begriff. Es gibt in der philosophischen Terminologie nicht viele weitere Beispiele, an denen diese grundsätzliche Unerfüllbarkeit des Zeichens durch das von ihm Bezeichnete abzulesen ist. Zwar sind Fälle bekannt, in denen dem Wort kein Benanntes als Konkretion entsprechen kann, weil es sich um solche reiner Idealität handelt. Das Wahre, das Gute und das Schöne sind solche Begriffe, deren Reihe noch um einige weitere Beispiele ergänzt werden könnte. Anders steht es hingegen beim Begriff des Einzelnen. Denn dieser hätte den in der Vereinzelung seiner Individualität vorfindlichen Menschen zu bezeichnen, der jedoch gerade in dem Aspekt, den der Begriff feststellt, nicht als der Einzelne erscheint. So ist es nicht verwunderlich, dass häufiger von dem erwähnten Ausdruck «dieser Eine» Gebrauch gemacht wird. Denn dieser erweist sich als sehr viel geeigneter dafür, auf diesen Menschen als diesen einen Menschen hinzudeuten. Endlich ist der Boden bereitet, um auf die angesprochene Beziehung der Termini des Einzelnen und der Existenz zurückkommen zu können. Die Bezeichnung «der Einzelne» setzt einen Erfüllungsrahmen – nicht mehr, aber auch gewiss nicht weniger. Es wird das Feld der Möglichkeit angezeigt, dass sich ein Mensch in individueller Weise verhält und entwickelt. Nicht die Eigenschaften, die ihn mit anderen Menschen verbinden, stehen im Fokus der Betrachtung, sondern seine ihm eigene unvorhersehbare Besonderheit, die nur darin mit den Vorstellungen der anderen verbunden werden kann, dass auch ihnen diese besondere Unvorhersagbarkeit eignet. Der Einzelne kann sich als ein verantwortungsbewusster Freund zeigen oder als in sich gekehrter Grübler, er kann das eine werden und das andere aufgeben – alle Entwicklungsmöglichkeiten werden von dem Begriff des Einzelnen umschlossen, ohne doch nur eine einzige von ihnen exakt bezeichnen zu können. Denn im Gegensatz zum Bild des Menschen ist dasjenige des Einzelnen von der Zeit abhängig, in der er sich artikuliert, gebärdet und verändert. Es muss folglich dazu geeignet sein, allgemeine Anzeige dieser Variabilihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tät sein zu können, eine Notwendigkeit, die für den Begriff des Menschen nicht besteht. Über diesen, der sich nicht in einem besonderen Exemplar konkretisiert, kann in jedem Augenblick mit der Sicherheit gesprochen werden, ein und dasselbe Vorstellungsbild zu erzeugen. Hierin liegt sein keinesfalls, nicht einmal in Ansehung des existentiellen Denkens, zu vernachlässigender Vorzug. In jedem Moment ruft er, wenn er im Begründungskontext der Tradition westlicher Rationalität erwähnt wird, die Imagination des vernunftbegabten Wesens, des animal rationale, hervor. Der Begriff des Einzelnen kündigt ein Wesen variablen Selbst-Entwurfs an. Diese Unterscheidung wirkt sich auf die Weise aus, in der vom Sein beider gesprochen werden kann. Dem Begriff des Menschen kann die Annahme des Seins entsprechen. Denn soll er eine Aussage über den Menschen enthalten, den es tatsächlich geben kann, wäre es unsinnig, sie als Aussage über ein Nicht-Seiendes verstehen zu wollen. In diesem Zusammenhang würde aus analytischer Warte von Existenz zu sprechen sein, die Vorhandenheit oder Nicht-Sein kenntlich machen soll. Aus existenzphilosophischer Sicht verschiebt sich diese Verwendung, von Existenz zu sprechen. Sie dient nicht mehr dazu, diese Differenzierung anzudeuten. Der Ausdruck Existenz wird stattdessen zur Bezeichnung der Seins-Weise des Einzelnen ausgewählt. Wird von Sein gesprochen, was im weiteren Verlauf dieser Überlegungen ausführlich geschehen wird, wird damit die Vorhandenheit dessen, dem Sein attestiert wird, gesetzt. Der Begriff des Menschen zielt darauf, dieses Wesen von allen anderen Wesen kraft der Exemplifizierung seiner speziellen Eigenschaft unterscheiden zu können. Der Begriff des Seins grenzt dasjenige, von dem er ausgesagt wird, von dem Bereich des Nicht-Seins ab. In freier Übertragung handelt es sich in beiden Fällen um Maßnahmen der differenzierenden Bestimmung, da beide Termini nur dadurch sinnvoll in Gebrauch genommen werden können, dass sie das Bezeichnete durch Negation ihres Gegenteils hervorheben. In Kombination ergibt sich hier eine starke Aussagedominanz: Der Begriff des Menschen impliziert das Sein des Bezeichneten als notwendige Option, da es widersinnig wäre, ihn zu Bezeichnung von etwas Nicht-Seiendem zu verwenden. Die Frage, ob das Benannte tatsächlich vorfindlich ist, ist in diesem Moment von sekundärer Bedeutung. Sein bezeichnet hier optionale Faktizität. Anders verhält es sich im Fall des Ausdrucks der Existenz. Dass er nicht mehr in Anwendung kommt, um Faktizität auszudrücken, wurde bereits erwähnt. Stattdessen eröffnet er die Möglichkeit, die optionale Entwurfsdynamik des Einzelnen denken zu können, dem in dem Augenblick Sein zugesprochen wird, in dem ihm Existenz bescheinigt wird. Insofern ist von Existenz nicht losgelöst vom Sein auszugehen, da sie eine bestimmte Erfüllungsmöglichkeit besonderer Seins-Weisen benennt. Als solche hat sie optionale Gültigkeit, indem sie ankündigt, dass Seiendes kraft eigener Setzung so und nicht anders sein kann. Dieser Aspekt ist im Rahmen existenzphilosophischen Denkens von vorrangiger Bedeutung. Während Sein, da es nicht auf einen göttlichen Schöpfungsakt zuhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten
rückgeführt werden kann, als grundlos und infolgedessen zunächst als nicht sinnhaft bestimmt zu betrachten ist, inhäriert der Bezeichnung Existenz stets der Gedanke selbstgründender Setzung. Mag Sein als Faktizität immer unerklärlich bleiben, kann für Existenz in ihrem spezifischen Verständnis, um das es hier geht, die Begründung im Sein des Einzelnen angenommen werden. Wenn dieser nicht aktiv wird, indem er sich als dieser Eine sein macht, gäbe es keinerlei Grundlage, von Existenz zu sprechen. Für eine philosophische Konzeption, die erklärtermaßen auf die Vorstellungen vorgängiger Kausalität, wie sie im religiösen Glauben gefunden werden kann, verzichtet, ist dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung. Denn so läuft das Seins-Verständnis des Menschen, der hier als der Einzelne gedacht wird, nicht Gefahr, sich in der Unverbindlichkeit grundloser Faktizität zu verirren, da diese in jedem Moment in der Gewissheit steht, eigentliches Sein erst noch werden zu können. In jedem Moment? Diese Behauptung bedarf der Präzisierung. Damit die Gewissheit selbstgründender Existenz möglich wird, muss, darin sind sich existenzphilosophische Denker bisher erstaunlich einig, eine Erschütterung erfolgt sein, die die Möglichkeit selbstgründenden So-Seins erschließt. Solche Erschütterungen affizieren den Menschen emotional, indem sie sich im Erleben von Angst äußern, und dadurch die Tatsache der scheinbaren Sinnlosigkeit des Seins bis ins Extrem der Vergegenwärtigung steigern. Auf dieser Basis einer vollständigen Zersetzung des Vertrauens in ein Anderes als Bedingung der Sinnhaftigkeit kann das Bewusstsein eigener Gründungskompetenz entstehen, das den Einzelnen zum Entwurf seiner Existenz befähigt. Mit diesem Hinweis hat sich die Perspektive der Betrachtung allerdings schon merklich verändert, wodurch den späteren Überlegungen vorgegriffen wird. Zunächst ging es darum, die Begriffe «der Mensch» und «der Einzelne» sowie «Sein» und «Existenz» für einen kurzen Moment auf ihre formale Beschaffenheit zu befragen. Im weiteren Verlauf wird es hingegen darum gehen, ihre Bedeutung zu diskutieren.
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten Einleitend wurde auf Unterschiede hingewiesen, die die verschiedenen Konzeptionen von Existenzphilosophie kennzeichnen, ohne dass diese bisher benannt wurden. Darum ist es nun an der Zeit, jenen Begriff einer näheren Prüfung zu unterziehen, der diesen Philosophien ihre Bezeichnung gab. Wie einheitlich ist der Gebrauch des Begriffes der Existenz, oder ist es bereits eine falsche Voraussetzung, hier überhaupt von Einheitlichkeit zu sprechen? Anhand von drei Deutungen soll dieser Frage nachgegangen werden, die in einem weiteren Schritt dazu führen wird, auch die Übereinstimmung der hier vertretenen Ansicht mit diesen Interpretationen zu diskutieren.
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Martin Heidegger Im Jahr 1967 veröffentlicht Martin Heidegger eine Auswahl seiner Arbeiten unter dem Titel Wegmarken, die er mit folgenden Worten einleitet: «Die Aufreihung schon veröffentlichter Texte möchte etwas von dem Weg merken lassen, der sich dem Denken nur unterwegs andeutet: zeigt und entzieht.»14 Über einen Zeitraum von vierzig Jahren erstreckt sich die Zusammenstellung, die mit den Anmerkungen zu Karl Jaspers’ ‹Psychologie der Weltanschauungen› von 1919/21 beginnt und mit Kants These über das Sein von 1961 endet. Wie sehr Heidegger das Bild des Unterwegs-Seins favorisiert, das Metapher für die ununterbrochene Annäherung des Denkens an die Denkbarkeit seines Seins ist, zeigt nicht zuletzt dessen Formulierung in den unterschiedlichen Phasen dieses Denkens. Nicht zu allen Zeiten will Heidegger dieses mit Philosophie, so wie sie als wissenschaftlicher Diskurs betrieben wird, identifizieren. Gerade in den 1950er Jahren häufen sich die Bemerkungen, dass es notwendig sei, aus ihr herauszutreten, um zu einer unverstellten Sicht auf die Möglichkeit gelangen zu können, Seyn zu denken. Denn dieses kann seiner Überzeugung nach niemals Gegenstand logischer Erörterungen werden, weshalb Heidegger sogar die Forderung erhebt, das Denken müsse «alogisch» werden. Mit dem Abstand von rund dreißig Jahren konstatiert er, die ontologische Differenz in Sein und Zeit noch nicht entschieden genug reflektiert zu haben. Die Entwicklung des Formverständnisses, auf die eigenen Werke angewandt, kennzeichnet Heideggers Schriften in markanter Weise. So nähert sich sein Schreiben, das nicht Gestalt, sondern Wesen des Denkens ist, kontinuierlich der Dichtung als Form des artikuliert Erfahrenen an, wobei selbst diese in den späten Jahren mitunter noch zu stark vom Wort getragen erscheint. Der Schritt, das Gedachte in Symbolen und Zeichen darzustellen, ist die vielleicht nicht naheliegende, aber doch nachvollziehbare Wendung zum Denken, das sich selbst die Form verweigert, verweigern muss, will es das Verstehen des Seyns zum Ausdruck bringen. Für Heidegger bedeutet dieses nicht rationales Nachvollziehen eines zuvor Erfahrenen, sondern Erfahrung des Denkens selbst, das nichts anderes als sein Objekt zu begreifen vermag denn sein eigenes denkend-Sein. Da einiges auf eine Entwicklung innerhalb Heideggers Verlautbarungen hindeutet, stellt sich die Frage, ob dieses auch mit Blick auf seinen Begriff von Existenz zutrifft. Als frühester hierfür relevanter Text kommen jene Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen› in Betracht, mit denen die Wegmarken eingeleitet werden. Es sind verschiedene Blickwinkel vorstellbar, in denen diese Schrift gelesen werden kann: als philosophische Kritik, als Auseinandersetzung mit Karl Jaspers in einer Zeit, da beide noch nicht ihren einige Jahre währenden Briefwechsel aufgenommen hatten, als Bezugnahme auf die Phänomeno14
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Martin Heidegger
logie seines Lehrers Edmund Husserl oder auch als eine der ersten Explikationen des eigenen Existenz-Verständnisses. Nur die letzte Perspektive ist im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung. Neben dem Konstatieren seiner Ansicht nach unzulässiger Unreflektiertheit methodischer Aspekte der Darstellung stellt Heidegger doch anerkennend fest, Jaspers habe «durch das Beistellen von bisher so nicht gesehenen Phänomenen auf das Existenzproblem in verstärkter Konzentration aufmerksam gemacht».15 Bei den Phänomen, die Jaspers beigestellt habe, handelt es sich vor allem um die Ableitung des Daseins aus dem Leben, das in zweifacher Gestalt erfasst werden könne: als «schöpferisches Gestalten und Leisten» sowie als «Erleben […] Er-fahren, Erfassen, Zusicheinholen».16Es ist jedoch festzuhalten, dass Heidegger diese Herleitung keineswegs teilt, sondern lediglich den Effekt zu schätzen weiß, der dadurch entsteht, nämlich auf das Existenz-Problem als solches zu schauen. Es als Problem kenntlich zu machen, steht für ihn im Mittelpunkt seines Interesses, dessen Artikulation noch sehr stark dem gedanklichen und terminologischen Kontext phänomenologischer Untersuchungen entspricht. Daran, Existenz als etwas «Besonderes» und «Neues»17 herauszustellen und «damit in der Philosophie neuen Lärm zu schlagen», ist ihm hingegen nicht gelegen. Den Problemansatz bereitstellend schreibt Heidegger: ‹Existenz› ist eine Bestimmung von etwas; […] eine bestimmte Weise des Seins, als ein bestimmter ‹ist›-Sinn, der wesentlich (ich) ‹bin›-Sinn ‹ist›, der nicht im theoretischen Meinen genuin gehabt wird, sondern gehabt im Vollzug des ‹bin›, eine Seinsweise des Seins des ‹ich›. Das so verstandene Sein des Selbst besagt, formal angezeigt, Existenz.18
Mit Blick auf die weiteren Überlegungen ist aufschlussreich, dass hier eine Erläuterung des Begriffes der Existenz vorbereitet wird, die über ein Seins-Testat hinausgeht. Zwar spricht Heidegger vom «‹ist›-Sinn», stellt aber sofort richtig, dass dessen Explikation nicht auf die Feststellung des Seins zielt, sondern auf den Sinn von Sein, insofern er sich in der Selbst-Begegnung des Ich erschließt. Daher spricht er vom «Vollzug» des ‹Ich bin›, der sich als Weise des Seins verstehen lässt. Zu Beginn wurde ein kurzer Blick auf die Verschiedenheit der Begriffe «der Mensch» und «der Einzelne» geworfen. Daran anknüpfend kann nun Heideggers Hinweis darauf gelesen werden, dass das Ich sich dem Erfahren nicht als «Vereinzelung eines ‹Allgemeinen›»19 zeige, wodurch es, wie ergänzt werden kann, Exemplar wäre, dem letztlich kein So-Sein unabhängig von einem umfassenden Allgemeinen zukommen könnte. Im Gegensatz dazu gewinnt das Ich einen Eindruck seines So-Seins durch die Erfahrung seiner selbst als seiend, das 15 16 17 18 19
Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.15. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.15. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.28. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.29. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.29. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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heißt als in bestimmter Weise seiend: «[…] das Erfahren ist Erfahren des ‹ich› qua Selbst».20 Es muss also immer schon eine Erfahrung theoretisch bestehen, die es dem Ich ermöglicht, sich selbst als in bestimmter Weise seiend zu begreifen: «Der Existenzsinn ist, […] gerade der Seinssinn, der nicht aus dem ‹ist› des spezifisch kenntnisnehmend explizierenden und dabei irgendwie objektivierenden ‹ist› gewinnbar wird, sondern aus der Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst, […].»21 Wichtig an dieser Erläuterung ist, dass Heidegger mit ihr jeden Versuch ausschließt, Existenz etwa als Eigenschaft des Seins interpretieren zu wollen. Es ist nicht vom Sein auszugehen, dem dann nachgeordnet ein Portfolio möglicher Eigenschaften, zu denen auch Existenz zählen kann, zugewiesen wird. Vielmehr wird Sein in dieser Deutung immer schon und immer nur in der «Grunderfahrung» des Selbst-Seins erfahrbar. Diese ist nicht, wie ihr Begriff schon zu erkennen gibt, als ein Verstehen zu denken, das etwa aus verschiedenen vorausgehenden Erfahrungen gewonnen werden könnte, sondern als Erschließungsmodus der Seins-Erfahrung schlechthin. Damit wird solches Bestreben hinfällig, Sein als Terminus aufzufassen, der Abstraktes bezeichnet. Denn es ist nur in jener Erfahrung zugänglich, in der das Ich sich selbst erfasst, sich selbst als so-seiend, wie hinzugefügt werden muss. In letzter Konsequenz folgt daraus, dass Sein immer nur als So-Sein erfahren werden kann, weshalb Heidegger erklärt: «Sofern das ‹ich bin› als etwas artikuliert werden kann […], kann formaliter Existenz als ein Seinssinn, ein Wie des Seins angesprochen werden.»22 Das würde heißen, dass Sein stets nur als Existenz erfahrbar wäre. Doch würde damit nicht mehr gefolgert, als Heidegger hatte sagen wollen? In einer ersten Annäherung war hier bisher davon ausgegangen, Existenz als Ausdruck der Möglichkeit zu begreifen, sich in einer verstehenden Weise im Sein zu halten. Klingt diese letzte Formulierung vielleicht ein wenig gekünstelt, so liegt es daran, dass sie in exakt dieser Gestalt der Vermeidung einer vermutlich näherliegenden Wortwahl dient. Denn wäre es nicht sehr viel geläufiger gewesen, davon zu sprechen, dass sich Existenz zum Sein verhält? Genau dieser Vorstellung, die durch eine solche Erwähnung hätte hervorgerufen werden können, gilt es zuvorzukommen. Nach Heideggers Ansicht gibt es nicht das Sein, aus dem dann Vereinzelungen hervorgehen, die sich zu ihrem Ursprungs-Sein verhalten. Diese Assoziation eines Zugrundeliegenden, an dem Seiendes partizipiert, lehnt er ab und liefert gerade in diesem frühen Zeugnis seines Existenz-Denkens eine Erklärung unter Hinweis auf das ‹Ich bin›. Bisher wurde in recht großzügiger, vielleicht auch unzulässiger Sorglosigkeit, wie kritisiert werden könnte, vermieden, auf die Bedeutungs-Differenz der Begriffe vom Ich und vom Selbst einzugehen. Psychologische Faktoren, die zur 20 21 22
Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.29. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.30. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.31. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Martin Heidegger
Unterscheidung angeführt werden könnten, nimmt zumindest Heidegger nicht in Anspruch, da beide Begriffe ihn ausschließlich vor dem Hintergrund ontologischer Betrachtung interessieren. Es sind Weisen, sich im Sein zu halten, die allenfalls durch das Maß der Bewusstheit des Seins-Bezuges, das sie dem einzelnen Menschen eröffnen, unterschieden werden können. So markiert die Aussage des Ich Bewusstsein ontischer Faktizität, diejenige des Selbst ontologisches Verstehen. «In der auf das Ich bezogenen Grunderfahrung wird dessen Faktizität entscheidend; die eigene hic et nunc gelebte, […] Lebenserfahrung, […].»23 Wie stark diese Auffassung auf phänomenologisches Denken rekurriert, kann hier nicht berücksichtigt werden. Dagegen ist dem Umstand größte Aufmerksamkeit zu schenken, wie wichtig für Heideggers Darstellung der Begriff der Erfahrung ist, der, nicht nur in diesem Zusammenhang, gleichsam das Gegenstück zu jenem der Abstraktion im Denken ist. So wird in den Seiten dieses kurzen Textes immer wieder sichtbar, dass Seins-Verstehen nach seiner Überzeugung kein Vorgang des Urteilens über eine ontische Tatsache ist, sondern Erleben in der Unmittelbarkeit des eigenen So-Seins. Die Gratwanderung, auf die sich Heidegger damit begibt, ist insofern riskant, als sie ihn in gefährliche Nähe zu Karl Jaspers’ Vorstellung vom Leben als dem Gründend-Begründenden führt, die er eindeutig ablehnt, und zwar nicht nur als Zeichen methodischer Unschärfe. In einer kurzen Passage nimmt Heidegger Jaspers’ Position ein und formuliert aus dessen vermeintlicher Warte: «Das Leben als Ganzes ist für mich eine leitende Idee, ich brauche mich nur umzusehen, dieses Leben ist überall irgendwie einfach da. Dieses Ganze, Einheitliche, Ungebrochene, […] führt mich.»24 Dass diese Zeilen mehr Persiflage denn sachlich korrekte Zusammenfassung sind, bedarf wohl keiner Erwähnung. Gegen das vermeintlich Vage diese Ansicht versucht Heidegger, das ExistenzProblem als Frage zu installieren, der gerade nicht durch den Hinweis auf das «überall irgendwie einfach» vorkommende Leben beizukommen ist. Diese Auffassung würde letztlich – wenn auch unter anderer Denomination – den Glauben an jenes Zugrundeliegende befördern, den er mit Blick auf das Sein ablehnt. Ihn interessiert nicht, was es gibt, sondern wie dasjenige, das es gibt, sich seiner vergewissern kann. Doch ist es dann klug, von der «Lebenserfahrung» zu sprechen, die das Ich durchläuft? Zugleich heißt es im Text aber auch, dass das «Erfahren des ‹ich› qua Selbst» erfolge. Und das Selbst ist nicht in vergleichbarem Maß in Prozesse der Lebenserfahrung eingebunden, sondern in die diesen vorlaufende «Grunderfahrung des bekümmerten Habens». Um den Begriff der Bekümmerung für den vorliegenden Kontext ausreichend zu verdeutlichen, kann mit dem Vorbehalt der nur möglichen Annäherung der Gedanke des Selbst-Verhältnisses ins Spiel gebracht werden. Dieses ist nicht mit den Lebenserfahrungen identisch, sondern vergegenwärtigt dem sich als Selbst setzenden Ich in der Be23 24
Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.32. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.23. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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wusstheit seines So-Seins die Einsicht in das stets um dieses Selbst kreisende Bewusstsein. Alles andere als Ausdruck extremer Zentriertheit auf Akte der Introspektion schöpft diese Einsicht ihre Unmittelbarkeit aus dem Erleben des Ich in der Zeit, das als Sinn des Sich-selbst-Habens zugleich Entwurf eines «Erwartungshorizontes» des selben Sich-Habens ist.25 Der Begriff der Bekümmerung könnte zwar die Vorstellung von Sorgfalt hervorrufen, die als Antizipation des Motivs der Sorge in Sein und Zeit gelesen werden könnte, signalisiert aber vor allem die Tatsache, dass es dem Selbst um es selbst geht. Diese Vergegenwärtigung ist nicht als Form theoretischen Wissens zu verstehen, sondern als Erkenntnis existentieller Bedeutung. In grundsätzlicher Weise zeichnet sich in diesem Zusammenhang, den Heidegger entwirft, die Möglichkeit der Aussage über Existenz als «Seinssinn», ein «Wie des Seins» ab. Neben die Lebenserfahrungen, die in ihrer Faktizität das Erleben des Ich kennzeichnen, tritt als Seins-konstitutiv die Grunderfahrung des Sich-selbst-Habens, das ein Selbst-Verhältnis genuiner Art ist. Dieser Umstand wird daran ablesbar, dass Heidegger ihn an das Erleben der Zeit bindet, in dem das Ich sich erfahrend und Erwartung setzend zu sich selbst verhält. In äußerst freier Deutung könnte man sagen, dass das Ich, stets in Erfahrung seiner Faktizität begriffen, in diesem Verhältnis zu einem ihm Entsprechenden eine Ahnung seines Sein-Könnens gewinnt. Dieses Entsprechende bezeichnet Heidegger als das Selbst, dem es nicht um Lebenserfahrungen geht, sondern darum, sich kontinuierlich in der Möglichkeit des eigentlichen Seins zu halten. Heidegger verwendet den Begriff des Eigentlichen in seinen Anmerkungen nur äußerst zurückhaltend, und zwar interessanterweise dann, wenn er Kritik an der Existenz-Sicht seiner Zeit übt. Vorausgegangen ist dieser eine Erwähnung des Gewissens, die aufhorchen lässt. Zunächst heißt es: «Das Existenzphänomen erschließt sich also nur einem radikal angestrebten historischen, […] wesentlich selbst bekümmerten Erfahrungsvollzug.»26 Das Historische als Erstreckungslinie des Selbst-Bezugs ist nicht als Zeit-Dimension zu verstehen, in der Existenz abläuft. Es erweist sich vielmehr als erfahrender Selbst-Bezug, insofern das Bewusstsein, Sein in der Zeit zu sein, stets präsent ist, jedoch nicht im Sinne eines Selbstverständlichen, sondern im Sinne eines zu vollziehenden Bezuges zum Sein. Dann fährt Heidegger fort: «‹Gewissen›, hier verstanden als Gewissensvollzug, […] ist seinem Grundsinn nach historisch charakterisiertes Wie des Selbsterfahrens […].»27 Als dessen formales Kennzeichen kann die «Selbstbekümmerung» verstanden werden, die kein faktisches sich um sich Sorgen meint, sondern darauf verweist, dass Existenz in der Zeitlichkeit der Erfahrung als Weise des Seins – als die Weise, zu sein – zu begreifen ist. Hieraus folgt, «[…] daß das eigentliche Existenzphänomen auf einen ihm eigentümlichen Zugangsvollzug hinweist, daß 25 26 27
Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.31. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.33. Anmerkungen zu Karl Jaspers ‹Psychologie der Weltanschauungen›, S.33. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Martin Heidegger
es nur in einem in bestimmter Weise zu gewinnenden Wie des Erfahrens gehabt wird, […].»28 Das Merkmal, das diese Auffassung am einprägsamsten kennzeichnet, besteht in eben diesem Begriff des Erfahrens, der sich in einer nicht unbedingt zu erwartenden Bipolarität darstellt. Erfahren wird einmal etwas, das gleichsam als Medium der Erfahrung schlechthin gedeutet werden kann, dann aber auch das Selbst, das sich nur medial vermittelt erfahren kann. Beide Vollzugsrichtungen des Erfahrens, die nicht mit dem vielleicht geläufigeren Begriff der Erfahrung gleichzusetzen sind, bedingen einander, doch nicht so, wie es in Anlehnung an philosophische Terminologie eventuell als Subjekt-Objekt-Relation erscheinen könnte. Das Selbst wird zu keinem Moment seines Seins in der Zeit Subjekt, das heißt in diesem Fall selbstmotivierender Ausgangspunkt des Erkennen-Wollens, das sich auf ein Objekt seiner Wahl richten könnte. Denn als Seiendes vermag es niemals jene erkennende Distanz einzunehmen, die erforderlich wäre, um von dem Erkannten mit absoluter Gewissheit sagen zu können, dass es nicht mit dem Erkennenden gleicher Art sei. Genau diese Voraussetzung ist im Erfahren nicht gegeben, insofern Erfahrenes und Erfahrender ein und derselben Weise sich im Vollzug erst ermöglichender Seins-Setzung angehören. Für Heideggers Verständnis von Existenz ist dieser Umstand grundlegend. Der Erfahrende, der in den bisher betrachteten Aussagen als Ich in der Vollzugsgewissheit des Selbst-Seins erscheint, erfährt letztlich nichts anderes als dieses Selbst-Sein, was soviel bedeutet wie: Sein eigenen Erfahrens. Der mehrfache Gebrauch des Begriffes «Vollzug» deutet aber bereits an, dass dieses Sein kein faktisch Vorfindliches ist, sondern Ausstehendes in der Unabgeschlossenheit des Selbst-Seins, das niemals als erfüllte Seins-Ganzheit zu denken ist. Denn als Sein in der Zeit läuft es sich stets voraus, wie bereits in diesem frühen Text durch den Gedanken der Selbstbekümmerung angedeutet wird. Der Selbst-Bezug, der in diesem Begriff zum Ausdruck kommt, spiegelt den Seins-Bezug, den Heidegger mit dem Motiv des Erfahrens veranschaulicht. Auch im Selbst-Bezug der Bekümmerung laufen die Vorstellungen des Aktiven und des Empfangenden zusammen, sind niemals identisch, doch in jedem Moment als funktional geschieden aufeinander bezogen. In ihrer Verwurzelung im phänomenologischen Denken wie auch in ihrem Beharren auf der einer Untersuchung notwendig vorgängigen Klärung des methodischen Zugangs nehmen Heideggers Anmerkungen den Ansatz vorweg, der rund sieben Jahre später in Sein und Zeit aufgegriffen wird. Für die vorliegende Betrachtung ist die dort vorgenommene Einordnung des Begriffes der Existenz besonders aufschlussreich: «Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat,
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woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.»29 Und wo ist dieser Punkt zu finden, der hier durch das «woraus» und das «wohin» angedeutet wird? Im Selbst, das in der Seins-Weise der Existenz sein Selbst-Sein erfährt. Immer wieder ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass dasjenige, das das Selbst erfährt, sein Sein ist, das es als Selbst erfährt. Diese wie eine unnötige Verzerrung klingende Formulierung weist darauf hin, dass es eben keine Vision totalen Seins ist, die das Selbst gewinnt, sondern Sein im Zuschnitt seiner selbst. Doch auch umgekehrt ist dieser Gedanke festzuhalten: Das Selbst erfährt sich nicht in einem Bild isolierter Ich-Identität, sondern immer seiend, was als Begriff von Sein verstanden werden kann. In den einleitenden Paragraphen von Sein und Zeit geht Heidegger auf die «phänomenologische Methode der Untersuchung» und darin speziell auf den «Begriff des Phänomens» ein, den er als «das Sich-an-ihm-selbst-zeigende» bestimmt, womit eine «ausgezeichnete Begegnisart von etwas» gemeint ist.30 Von hier aus fällt noch einmal Licht auf die zuvor erwähnte Formulierung aus den Anmerkungen, wonach Existenz eine Weise des Seins sei. In beiden Gedanken ist entscheidend, wie großen Wert Heidegger auf die Art und Weise legt, in der etwas geschieht beziehungsweise sich zeigt. Hier von bedingend-bedingt zu sprechen, mag manieriert klingen, erfüllt aber doch die Funktion, bereits jetzt den Begriff des Eigentlichen vorzubereiten. Es gibt verschiedene Weisen, zu sein, darunter auch die, eigentlich zu sein. Es gibt Seins-Vergessenheit, aber auch das «schonende Denken», das der Frage des Wie in so außergewöhnlichem Maße Rechnung trägt. Je weiter eine Entwicklung in Heideggers Texten erkennbar ist, spielt diese Frage eine immer drängendere Rolle, die deshalb so besonders ist, weil sie in seinem Denken jenen Platz erfüllt, der traditionellerweise von Theorien der Ethik eingenommen wurde. Seine Kritik am Seins-Denken seit der Antike gipfelt in der Feststellung, dass die Frage nach dem Sinn von Sein fast systematisch unterdrückt worden sei.31 Soll diesem Zustand ein Ende bereitet werden, ist ein methodischer Zugang zu benennen, der es erlaubt, nach dem Sinn von Sein zu fragen. Dieser zeigt sich am Sein selbst, weshalb Heidegger folgert: «Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate.»32 Deswegen ist in den Anmerkungen vom Existenz-Phänomen die Rede, das, wie sich nun in Sein und Zeit zeigt, von demjenigen Seienden aufgesucht werden
Sein und Zeit, § 7, S.38. Sein und Zeit, § 7, S.31. 31 «Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert.» Sein und Zeit, § 1, S.2. 32 Sein und Zeit, § 7, S.35. 29
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kann, das «die Seinsmöglichkeit des Fragens hat».33 Dieses Seiende wird als Dasein bezeichnet. Wenn Heidegger hier vom Fragen spricht, meint er damit nicht den Wunsch, aus interessegeleiteter Haltung Verständnis von etwas bis dahin Unbekanntem erreichen zu wollen, sondern den Ausdruck des Verstehens von Sein, das immer schon besteht. Ist es dann aber nicht unnötig, vielleicht sogar unsinnig, überhaupt noch nach demjenigen fragen zu wollen, das stets im Verstehen gegeben ist? Heidegger selbst wirft diese Überlegung auf. Für unseren Kontext ist sie insofern aufschlussreich, als mit ihrer Beantwortung die Möglichkeit entsteht, Dasein und Existenz zu differenzieren. Denn dass mit letzterem Begriff keine bloße Vorhandenheit ausgesagt werden soll, weder in Heideggers noch dem hier verfolgten Sinn, hat sich schon abgezeichnet. Was bietet Existenz aber, das nicht auch vom und im Dasein geleistet werden könnte? Existenz «bestimmt» Dasein, so heißt es im Paragraphen vier von Sein und Zeit,34 was folgendermaßen begründet wird: «Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer schon irgendwie verhält, nennen wir Existenz.» Die Bedenken der Zirkularität, die einem Fragen nach etwas attestiert werden kann, das immer schon im Verstehen ist, scheinen durch diese Formulierung noch intensiviert zu werden, denn das «Sein selbst» ist dasjenige, das erfragt werden soll. Hier wird nun klar, dass Existenz das Erfragte ist, ein Gedanke, der zunächst auf ein An-sich-Sein hindeuten könnte, zumal dann, wenn vom «Sein selbst» die Rede ist. Einige Zeilen später nimmt dieser Gedanke dann jedoch eine radikal andere Wendung: «Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.»35 Existenz ist Möglichkeit, die aus der Kontrastierung zweier Optionen entsteht, diese aber zugleich auch erst eröffnet. Sofort bietet sich die Erinnerung an die Erklärung in den Anmerkungen an, wonach es sich bei Existenz um eine Seins-Weise handele. Wenn das Dasein sich aus «einer Möglichkeit seiner selbst» versteht, und dieses eben Heideggers Deutung von Existenz ist, wird diese frühe Auffassung nun in entscheidender Weise präzisiert. Denn die Seins-Weisen sind keine Optionen, die etwa von einem Sein vorgegeben würden, das einen Stand ontischer Allgemeinheit hat. Sie liegen vielmehr als Weisen des Seins im Selbst, das sich ihrer nicht anders zu bemächtigen vermag als in den Möglichkeiten des Sich-Verstehens, das nach Heideggers Deutung Seins-Verstehen ist. Nun lägen sicherlich Deutungen nahe, die von ihm nicht vorgesehen sind. Hören wir den Begriff des Selbst, assoziieren wir eventuell den Bestand psychischer Verfassung, mit dem die Vorstellung des unverwechselbar Eigenen in Charakter, Handeln und Denken einhergeht. Selbst zu sein bedeutet oftmals eine Unterscheidung von anderen Menschen, die unmöglich mit mir ein Selbst teilen können. Die enge 33 34 35
Sein und Zeit, § 2, S.7. Sein und Zeit, § 4, S.13. Sein und Zeit, § 4, S.12. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Verbindung zu einer Konzeption vom Ich hatte Heidegger in seinen Anmerkungen hergestellt, ohne jedoch eine klare Differenzierung beider Termini vorzunehmen. Prägende Faktoren wie Kultur, Sozialisation und Zeit, in der sich ein Mensch nach nicht wissenschaftlich fundiertem Verständnis als er selbst erlebt, scheinen zunächst in Heideggers Darstellung keine Rolle zu spielen. Eine andere Deutung der zitierten Zeilen könnte dahin tendieren, Existenz als Eigenschaft zu begreifen, über die ein Mensch – nach Heideggers Terminologie das Dasein – verfügt. Diese könnten ergriffen werden oder ungenutzt bleiben, in jedem Fall würde ihr bloßer Bestand Dasein im Sinne einer Wesensbestimmung kennzeichnen. Die Deutung des Selbst, die sich in Sein und Zeit findet, hat wenig mit unserer üblichen Auffassung gemein. Denn hier geht es gerade nicht darum, einen Weg zu beschreiben, wie das Selbst es selbst werden kann und sich damit von allen übrigen Persönlichkeiten abhebt, sondern darauf hinzuweisen, dass es ein Format darstellt, Sein zu erfahren, und zwar Möglich-Sein, Existenz. Auf die Annahme, bei dieser handele es sich um eine Eigenschaft, reagiert Heidegger selbst: Das ‹Wesen› des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausgestellten Charaktere sind daher nicht vorhandene ‹Eigenschaften› eines so und so ‹aussehenden› vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. […] Dasein ist je seine Möglichkeit und es ‹hat› sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.36
Zwar nutzt Heidegger in diesem Zusammenhang den Begriff der «Jemeinigkeit» zur Verdeutlichung der Tatsache, dass diese Möglichkeit, zu sein, Selbst-Sein kennzeichnet, doch führt dieser Ansatz nicht zur Ausarbeitung einer Theorie der Individuation, wie vielleicht zu erwarten wäre. Der Gedanke ist schwer zu fassen, weil die Erwartung womöglich auf anderes setzt, doch ist er in größtmöglicher Entschiedenheit zu artikulieren: Der Begriff der Existenz dient Heidegger als formale Bestimmung des Daseins. Dieses Faktum wird für den anstehenden kurzen Vergleich der Existenz-Deutungen, der hier zum Zweck einer möglichst differenzierten Verwendung des Begriffes angestellt wird, entscheidend sein. Denn hinter dieser Gegenüberstellung zeichnet sich eine der wichtigsten Fragen an existenzphilosophisches Denken ab, die im weiteren Verlauf zu stellen sein wird: Kann der Vorstellung von Existenz ethisch motivierende Bedeutung zuerkannt werden? In einem Denken, das erklärtermaßen ohne Rückgriffe auf die Vorstellungen von Transzendenz oder religiöser Verbindlichkeit auskommen will, ist dieses tatsächlich das vorrangige Problem, an dessen Lösung sich sein Gelingen oder Versagen entscheiden wird. Wenn also davon ausgegangen werden kann, dass Existenz die formale Bestimmung des Daseins in der Weise des Sein-Könnens meint, tut sich zumindest ein zunächst marginal anmutender Deutungsspielraum auf, der dem Dasein die 36
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Möglichkeiten, es selbst oder nicht es selbst zu sein, eröffnet. Wo Entgegensetzung alternativer Optionen besteht, muss aber auch eine Erklärung dafür geboten werden, wie es zu der einen oder der anderen von ihnen kommt. Ist Existenz als Wesen des Daseins anzusehen, kommt ihm dieses offenbar nicht automatisch zu, wie es durch die Annahme einer dem Dasein eignenden Eigenschaft zu belegen wäre, sondern muss vom Dasein ergriffen werden können. Der Gedanke ist zutreffend, doch seine Formulierung irreführend. Denn sie erweckt den Eindruck, als könne von Seiten das Daseins – also von Seiten des Menschen, wie einmal mehr in Erinnerung gerufen werden sollte – etwas unternommen werden, um dem Wesen entsprechend sein zu können. Diese Vorstellung trifft nicht zu. Es gibt keinen wirklich stichhaltigen Hinweis darauf, dass Heidegger das Wollen zur Bedingung des existentiellen Seins setzt oder zum existentiell Sein-Wollen auffordert, weil es etwa die anzustrebende Seins-Weise sei. Gleichwohl sind seine Ausführungen in Sein und Zeit von der Überzeugung durchdrungen, dass es um Existenz geht, wenn nach dem Sinn von Sein gefragt wird. Um diesen Eindruck überprüfen zu können, ist ein etwas tieferer Blick in diese Schrift erforderlich, der mit dem Begriff der Eigentlichkeit das Argument eines So-und-nicht-andersSein-Sollens vorzubereiten scheint. Punktuelle Querschnitte durch den Text erweisen sich als geeignetes Mittel, um im vorliegenden Kontext erfolgversprechende Resultate zu erzielen. In Erinnerung ist aus den Anmerkungen der dort vielleicht unvermutet auftauchende Begriff des Gewissens, unvermutet, weil er eher in Abhandlungen ethischer oder religiöser Natur zu erwarten wäre. In Verbindung mit dem Motiv des Rufes taucht der Begriff in Sein und Zeit wieder auf und verweist auf ein dem Dasein Mögliches. Sofort bemüht sich Heidegger aber um eine Klarstellung dessen, was durch diese Ausdrücke tatsächlich angedeutet wird. «Solche Erwartungen, die zum Teil auch der Forderung einer materialen Wertethik gegenüber einer ‹nur› formalen unausgesprochen zugrundeliegen, werden allerdings durch das Gewissen enttäuscht. Dergleichen ‹praktische› Anweisungen gibt der Gewissensruf nicht, einzig deshalb, weil er das Dasein zur Existenz, zum eigensten Selbstseinkönnen, aufruft.»37 Obwohl Heidegger an dieser Stelle seinen Gebrauch des Begriffes Gewissen von dessen «vulgärer» Auslegung abhebt, gibt es doch zumindest eine Priorisierung der Existenz, wenn hier vom Aufruf gesprochen wird, der zu ihr auffordert. Doch welche Tätigkeit führt zu dem damit Priorisierten? Ist es ein Wählen, was so naheliegt, klingen doch noch immer Søren Kierkegaards Erläuterungen an, wenn in existenzphilosophischem Kontext von Wahl die Rede ist? Dann entsteht allerdings sofort eine nur schwer in ihren Folgen einschätzbare Frage: Der Wert des zu Wählenden ist nach Kierkegaards Überzeugung durch den Glauben verbürgt. In letzter Konsequenz weiß der Mensch seiner Auffassung nach, was er wählen sollte. Doch woher sollte ihm eine solche 37
Sein und Zeit, § 59, S.294. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Gewissheit zuteilwerden, wenn das Religiöse im Seins-Denken nicht mehr zur Sprache kommt? Die gerade zitierten Zeilen geben Antwort, indem sie auf das eigenste Selbst-sein-Können hinweisen. Auf den Begriff der Eigentlichkeit bezogen ergibt sich eine interessante Erklärung. Wird mit ihm im ersten Moment das Richtige assoziiert, das vielleicht durch Hindernisse oder Ablenkungen verstellt ist oder unerreichbar scheint, zeigt der zweite Blick den Wortkern des Eigenen, der in ihm enthalten ist. Das Eigentliche ist das Eigenste, das sich dadurch auszeichnet, dass es nur von dem je und je Einzelnen übernommen werden kann. Diese Deutung widerspricht der des Richtigen keineswegs, sondern ergänzt sie um einen wichtigen Aspekt. Heidegger selbst spricht nicht vom Richtigen, doch soll dieser Ausdruck hier auf einen keineswegs zu unterschätzenden Aspekt im Verständnis der Eigentlichkeit hinweisen. Denn es muss etwas mit diesem Begriff verbunden werden, das ihn der Uneigentlichkeit gegenüberstellt. Wird nun im Eigentlichen das Eigene erkannt, das Heidegger noch durch die Formulierung des Eigensten intensiviert, wird die für den Moment ausreichende Bedeutung dieser Vorstellung klar: Das Eigentliche ist dasjenige, das nur jeweils vom Einzelnen als sein Eigenstes geleistet werden kann. Und das ist nichts anderes als seine Existenz als sein eigenstes Sein-Können. Wenn also nach dem motivierenden Impuls gefragt wird, der von dem Denken der Existenz ausgehen könnte, zeigt sich Folgendes: Der Ruf, der im weitesten Sinne als ein solcher Impuls verstanden werden kann, ermutigt zu jenem Geschehen, das nur der Einzelne zum Austrag bringen kann. Diese Arbeit darf er sich nicht abnehmen lassen, indem er sie jenem Man überlässt, aus dessen öffentlicher und allgemein verbindlicher Herrschaft die Möglichkeit des eigensten Selbst-sein-Könnens ihren Ausgang nimmt. Wird Heideggers Denken an dieser Stelle radikal auf seine fundamentale Konzeption heruntergebrochen, zeigt sich die Kontrastierung von Man und Selbst, von Öffentlichkeit und dem Eigenen. Existenz, so hieß es, ist eine Seins-Weise des Daseins. Nun kann hinzugefügt werden, dass es die Seins-Weise des Einzelnen ist, der sein Sein-Können reflektiert. Bedeutet aber eine solche Fokussierung des Selbst-Seienden nicht seine Distanzierung von allen vormals bestehenden faktischen Bezügen, die ihn an die Welt und den anderen Menschen binden? Ist der Ruf zur Eigentlichkeit als Weg der Existenz nicht Aufforderung zur Isolation des Einzelnen, von dem fortan in Anlehnung an Friedrich Rückerts Zeilen nur noch festgestellt werden kann, er sei der Welt «abhanden gekommen»? Derartige Folgerungen könnten unter Hinweis darauf zugleich bestätigt und verharmlost werden, dass es in der existentialen Analyse gar nicht um Weisen faktischen So-Seins geht, die das Verhalten und Handeln eines Menschen abbilden. Vielmehr sollen Strukturen des Verstehens von Sein offengelegt werden – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unter Hinweis auf diese gewiss zutreffende Feststellung könnte solche Kritik von Heideggers Denken ferngehalten werden, die diesem den eklatanten Mangel an tatsächlicher Daseins-Relevanz attestiert, weil es eben keine Aussagen über das real https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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vollzogene Miteinander trifft. Doch würde damit eine Rechtfertigung dieses Denken erfolgen, die es letztlich gar nicht nötig hat. Denn zum einen beinhaltet die scharfe Kontrastierung von Einzelnem und Öffentlichkeit genug Potential, um ethische Debatten anfeuern zu können. Und zum anderen finden sich in Sein und Zeit durchaus wenige, aber bedenkenswerte Stellungnahmen zum möglichen Einwand des Weltverlustes. Die Seins-Weise des Einzelnen «löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. […] Aus dem eigentlichen Selbstsein […] entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man […].»38 Selbst-seiend wendet sich der Einzelne dem Anderen zu, weil er die strukturale Bezogenheit im Sein, das immer auch Mitsein ist, versteht, und versucht nicht, aus den Vorgaben der Anderen eine Vision seiner Selbst zu schöpfen. Indem diese Spur der Deutung verfolgt wird, bleiben notgedrungen Begriffe unerwähnt, die für die gesamte Konzeption in Sein und Zeit unverzichtbar wären. Unerwähnt, doch nicht unbeachtet, so kann ergänzt werden, denn sie tragen auch diese auf eine knappe Rekonstruktion des Existenz-Begriffes zugeschnittene Interpretation. Gerade in diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Heidegger fast niemals vom Einzelnen spricht, von diesem einen Menschen in der situativen Bedingtheit seines So-Seins. Die Rede vom Dasein tritt an dessen Stelle, womit der außergewöhnlichen Herausforderung Rechnung getragen wird, philosophisch, das heißt in allgemeingültiger Weise, über den Einzelnen in seinem eigensten Sein-Können zu sprechen. Für Heidegger steht fest, dass er eben als dieser Eine nur unter einer Voraussetzung thematisiert werden kann, nämlich in Hinblick auf seine strukturelle Seins-Möglichkeit. Im Grunde beinhaltet diese Formulierung einen Widerspruch. Indem auf die Struktur einer Möglichkeit geschaut wird, wird das allgemeine Kennzeichen von etwas anvisiert, das nur in je einzelnem Vollzug zu ergreifen oder zu vernachlässigen ist. Vor diesem Hintergrund wirkt es konsequent, dass Heidegger fast durchgängig vom Dasein spricht und selbst den Begriff des Menschen meidet. Denn hierbei handelt es sich nur um ein Vermeiden und keinesfalls um ein Ignorieren, wie bisweilen erklärt wird. Auch mit Blick auf den Begriff der Ontologie stellte sich für Heidegger eine Schwierigkeit, mit der es umzugehen galt. Als Wissenschaft des Seins thematisiert sie seiner Auffassung nach nicht nur Sein als Aussage oder faktisches Sein im Sinne seiner Faktizität, sondern vor allem das Sein-Können der Existenz. In den beiden ersten Fällen konnte Heidegger getrost die Frage nach dem Ursprung ausklammern, die dann allerdings im dritten Fall umso drängender sichtbar wird. Denn Existenz ist nicht immer schon gegeben, wie daraus hervorgeht, dass sie als Seins-Weise des Dasein bezeichnet wird. Es müssen also Gründe dafür benannt werden, dass diese Weise zu sein auch tatsächlich realisiert wird. Der 38
Sein und Zeit, § 60, S.298. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Hinweis auf das eigenste Selbst-sein-Können bietet hierfür eine Erklärung. Der Einzelne ergreift dieses Sein-Können und wird damit dessen Realisator. Es wäre verlockend, ihn auch als dessen Grund zu betrachten, doch wäre dann zwischen einem absolut zu denkenden Grund dafür, dass überhaupt etwas ist, und der Ursache dafür zu unterscheiden, dass sich aus diesem Gegründeten eine seiner Möglichkeiten verwirklicht. Jean-Paul Sartre wird einige Jahre später vor genau diesem Problem stehen, das An-sich-Sein in individuell separiertes Für-sich-Sein zu differenzieren. Er verweist zur Auflösung dieser Schwierigkeit auf die Möglichkeit und Funktion des Negierens, durch das jeweils veränderbare Ausschnitte von Sein durch den einzelnen Menschen geschaffen werden. Die durch diese Partikularisierungsakte entstehenden «Utensilitätskomplexe» bieten Momentaufnahmen selbstgegründeter Seins-Bezüge. Erstaunlicherweise – zumindest dann, wenn man die massive Kritik vor Augen hat, die Emmanuel Lévinas am Seins-Begriff in Sein und Zeit übt – ist Heidegger an der Vorstellung eines An-sich-Sein, das ohne Bezug zum Seienden gedacht werden kann, nicht interessiert. «[…] faktisches Existieren des Daseins ist nicht nur überhaupt und indifferent ein geworfenes In-der-Welt-seinkönnen, sondern ist immer auch schon in der besorgten Welt aufgegangen.»39 Entfernt erinnert der Begriff des Besorgens an den Ausdruck der Bekümmerung, den Heidegger in seinen Anmerkungen verwendete. In Sein und Zeit ist die Bedeutung der Sorge, der das Besorgen entlehnt ist, auf zweierlei bezogen: den immer schon bestehenden Bezug des Daseins – des Menschen – zur Welt und dessen Zeitlichkeit. In der Sorge und ihren verschiedenen Ableitungsformen vermag sich Dasein auf das ihm Mögliche in der Faktizität des Situativen zu beziehen, wofür eine in die Zukunft vorgreifende Erwägung des Faktischen erforderlich ist. In der Sorge ist sich das Dasein stets vorweg, so fasst Heidegger diesen Gedanken, denn in ihr erfolgt – um einen Begriff zu benutzen, der nicht dem Text entstammt – eine Projektion des Situativen unter expliziter Abschätzung ihrer Erfordernisse. Nicht dieses Geschehen steht jedoch im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Tatsache, dass Sorge als Strukturmerkmal des Daseins aufzufassen ist. So erklärt es Heidegger und greift zur Bekräftigung auf ein kontextuell außergewöhnliches Darstellungsmittel zurück. Um die «Selbstauslegung des Daseins als ‹Sorge›» belegen zu können, das heißt als «vorontologisches Zeugnis», fügt er die sogenannte cura-Fabel aus dem zweiten Teil des Faust in seine Erläuterungen ein. Anschließend schreibt er: «Dieses vorontologische Zeugnis gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung, daß es […] die ‹Sorge› als das sieht, dem das menschliche Dasein ‹zeitlebens› gehört, […].»40 Es könnte nach der Relevanz dieser Bemerkung für die anstehende Betrachtung gefragt werden. Der Bezug wird sofort erkennbar, wenn Heideggers weitere Ausführungen betrachtet 39 40
Sein und Zeit, § 41, S.192. Sein und Zeit, § 42, S.198. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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werden, in denen er als Bedeutung des Wortes cura auf den Sinn der Hingabe verweist. Danach ist der Mensch in jedem Augenblick seines Daseins der Hingabe fähig, die sein Sein jedoch nicht von Anbeginn an realiter kennzeichnet. Diesen Umstand berücksichtigend, führt Heidegger ein Motiv ein, das man ansonsten vergeblich in seiner Schrift sucht. «Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten […] sein kann, ist eine ‹Leistung› der ‹Sorge›.»41 Es ist der Begriff der perfectio, der Vervollkommnung, der für uns interessant ist. Denn hier klingt, selten genug in Sein und Zeit, die Vorstellung einer Veränderung zum Besseren an, die mit dem Begriff der Existenz verbunden ist. «Das Werden zu dem», was wir sein können, ist damit jedoch noch lange nicht als eine Aufforderung zu faktischen Maßnahmen zu verstehen, die uns diesem Ziel näherbringen, denn noch immer gilt Heideggers Aufmerksamkeit dem Aufdecken jener Struktur, die dem Sein inhäriert. Die Rede von Struktur soll keineswegs die Assoziation an Gesetzmäßigkeiten erwecken, die Sein konstituieren, sondern Ausdruck der Tatsache sein, dass Sein seine eigene Möglichkeit des Sein-Könnens ist. Warum ist es hilfreich, dieses noch einmal zu betonen? Weil damit der grundsätzliche Charakter von Existenz bestätigt wird. Sie ist, so hatte Heidegger am Anfang seiner Schrift formuliert, Wesensmerkmal des Seins und dieses besteht darin, Möglichkeit zu sein, und zwar ganz genau die bereits erwähnte Möglichkeit des eigensten Selbst-sein-Könnens. Da diese uns jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt gegenwärtig ist, bedarf es des Rufes, der noch nicht zum Selbst-Sein, aber doch zum Verstehen des Selbst-sein-Könnens auffordert. Nun könnte es so aussehen, als würde diese Aussage über Existenz nur als Inhalt einer Strukturanalyse des Seins von Belang sein. Ihre Bedeutung für den realen Daseinsvollzug stünde damit deutlich in Frage. Wie bedenkenswert sind Heideggers Äußerungen, wenn es darum geht, die Bedeutung der Existenz-Möglichkeit für das Agieren des Einzelnen abzuschätzen? Dass sie je eigenstes Sein kennzeichnet, konnte festgestellt werden. Auch sind aus den Anmerkungen noch die Begriffe von Ich und von Selbst in Erinnerung. Es ist also an der Zeit, diese nun noch einmal aufzugreifen. Im letzten Teil von Sein und Zeit fragt Heidegger: «Wie kann das Dasein einheitlich in den […] Weisen und Möglichkeiten seines Seins existieren? Offenbar nur so, daß es dieses Sein in seinen wesenhaften Möglichkeiten selbst ist, daß je ich dieses Seiende bin. Das ‹Ich› scheint die Ganzheit des Strukturganzen ‹zusammenzuhalten›».42 Während in dieser Sicht dem Ich Kontinuität des Seins attestiert wird, kann es Veränderungen des Sich-selbst-Habens durchlaufen, die es vom Man zum eigentlichen Selbst führen. «Dieses ist eine existenzielle Modifikation des eigentlichen Selbst.»43 Dass dieses bereits im 41 42 43
Sein und Zeit, § 42, S.199. Sein und Zeit, § 64, S.317. Sein und Zeit, § 64, S.317. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Man anzusetzen ist, gewährleistet es, hier von einer Modifikation und nicht von einem Entstehen, einer neuen Gründung des Selbst ausgehen zu können. Die Verwandlung, die es erfährt, wird an zwei Zustandsweisen des existentiellen Verstehens erkennbar: im Man, sofern es sich seines Selbst-sein-Könnens noch nicht gewiss ist, und an sich selbst, insofern es im Gewahren seiner Möglichkeit, zu sein, diese bereits vollzieht. Denn obwohl Heidegger in Sein und Zeit eine Strukturanalyse des Daseins vorlegt, wäre eine strikte Priorisierung des Theoretischen vor dessen Geschehen abzulehnen. Es ist nicht so, dass der Mensch zunächst seine Möglichkeit des Sein-Könnens theoretisch erfasst und sich auf der Grundlage dieses Verständnisses zur Realisierung entschließen kann. Vielmehr geht mit dem Ausgang aus dem Man dessen Verstehen einher, das die Möglichkeit nur begreifen kann, weil sie bereits existentiell vollzogen wird. Heidegger legt großen Wert darauf, ein allzu naheliegendes Missverständnis zu vermeiden. Der Ruf zum eigensten Sein-Können fällt nicht unter die Kategorie von Aufforderungen, die zu «brauchbaren […] Möglichkeiten des ‹Handelns›» führen.44 Existenz, so fährt er fort, kann nicht als «Idee eines regelbaren Geschäftsganges» verstanden werden, wie er zum Beispiel im Kontext einer «materialen Wertethik» zu erwarten wäre. «Der Ruf erschließt nichts, was positiv oder negativ sein könnte als Besorgbares, weil er ein ontologisch völlig anderes Sein meint, die Existenz.“ Dieses Verstehen des Rufes in seiner ontologischen Bedeutung als, so könnte ergänzt werden, Erschließung der Möglichkeit des SeinKönnens, bedenkt jedoch in jedem Augenblick zugleich, dass Sein Sein in-derWelt ist. Auch wenn Heidegger auf der Tatsache beharrt, dass der Ruf keine Aufforderung zur Tat sei, darf doch nicht übersehen werden, dass er Bedingung des Verstehens vom In-der-Welt-Sein-Können ist. Etwas später schließt sich eine faszinierende Formulierung an. «Dieses In-sich-handeln-lassen des eigensten Selbst aus ihm selbst […] repräsentiert phänomenal das im Dasein selbst bezeugte eigentliche Seinkönnen.»45 So wie das Verständnis des Seins nur deshalb überhaupt möglich ist, weil durch das Sein des Fragenden stets ein Vorverständnis gegeben ist, ist der Ruf nur deshalb vernehmbar, weil das Selbst immer schon Selbst-seinKönnen ist. Es bedarf lediglich des Aufrufes zum eigensten Selbst-Sein. Nur durch die Übernahme des Selbst-Seins als der eigensten Möglichkeit kann jene Abhebung vom Man erfolgen, die sich im Begriff der Existenz, so wie er am Anfang in Sein und Zeit charakterisiert wurde, angekündigte. Sie ist die Seins-Weise des Daseins, die diesem möglich, doch nicht in jedem Moment gegeben ist. Im Sinne seiner Strukturanalyse bleibt Heidegger in dieser Schrift äußerst zurückhaltend mit Aussagen dazu, wie jene Modifikation des Selbst erreicht werden kann, die erforderlich ist, um der Seins-Möglichkeit der Existenz entsprechen zu können. Allerdings wäre es illusorisch, ausgerechnet von diesem Text Anleitungen 44 45
Sein und Zeit, § 59, S.294. Sein und Zeit, § 60, S.295. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zur Realisierung zu erwarten, weil darin nicht dessen Ziel besteht. Wenn denn allen gegenteiligen Gründen zum Trotz dennoch ein Minimum an verwertbarer Information erwartet wird, besteht dieses in einer ebenso schlichten wie folgenreichen Erkenntnis: Der Seins-Weise der Existenz kann nur vom Einzelnen entsprochen werden. Warum das nicht immer schon der Fall ist? Weil es einer Erschütterung bedarf, um ihn aus seiner Bindung an das Man herauszureißen. Warum ein solcher Ausdruck der Gewaltsamkeit? Weil es einen jähen Einschnitt im Sein des Einzelnen bedeutet, erfahren zu müssen, dass er anders sein kann, als er ist. Anders und besser, soviel steht fest. Denn eigentliches Sein steht dem Einzelnen noch bevor. Aus den Schriften Søren Kierkegaards ist die unermessliche Impulskraft der Empfindung der Verzweiflung bekannt, die den Menschen aus der Verhaftung im einzig für möglich Gehaltenen löst und zugleich für die Erfahrung des Ewigen freistellt. In vergleichbarer Weise schreibt Heidegger in seiner Analyse der Angst des Todes: «Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, […] sich aus der ‹Welt› und der öffentlichen Angelegenheit zu verstehen. […] Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und –ergreifens.»46 An dieser Stelle ist auf die zuvor zitierte Formulierung des In-sich-handeln-lassens des Selbst zurückzukommen. Der Mensch wird nicht mit einer völlig neuen und unerwarteten Einsicht konfrontiert, wenn ihm in der Angst ein Freiraum zum Selbst-Sein-Können aufscheint. Tatsächlich ist ihm dieser Raum seit jeher zu eigen, nur wurde er aus nachvollziehbaren Gründen, die Heidegger ebenso wenig verschweigt wie Kierkegaard, bisher nicht betreten. Das Sein im Man kann durchaus als eine Entlastung erfahren werden, die von der Notwendigkeit des Selbst-wählen-Müssens entbindet. Es kann als Schutz und Orientierung empfunden werden, der Stimme der Öffentlichkeit zu folgen, obwohl es sich in Wahrheit um die Stimme einer «Diktatur» handelt. Und doch lässt sich das Wissen um den verschlossen geglaubten Raum nicht für alle Zeit unterdrücken. Es kommt der Moment, in dem Schutz und Orientierung des Man hinfällig werden, nämlich in dem Augenblick, in dem begriffen wird, dass der eigene Tod eigenste Angelegenheit ist. «Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat.»47 Mit Blick auf den Versuch, typisch existenzphilosophische Elemente im Denken Martin Heideggers zu benennen, zeigt sich hier eine der charakteristischen Auffassungen. Denn an dieser Stelle von einer Seins-Möglichkeit zu sprechen, verweist auf die Überzeugung, dass sogar im Unabänderlichen durch die Einstellung des Menschen eine optionale Natur erfahren werden kann. «Das Sein zum Ende entsteht nicht erst durch eine und als zuweilen auftauchende Einstel-
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Sein und Zeit, § 40, S.187 f. Sein und Zeit, § 50, S.250. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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lung, sondern gehört wesenhaft zur Geworfenheit des Daseins, […].»48 Der Akzent, den Heidegger auf den Gedanken der Geworfenheit legt, antizipiert die Vorstellung der absoluten Verpflichtung im Sein, wie sie besonders im existentialistischen Denken formuliert wird, wenn etwa Jean-Paul Sartre erklärt, wir seien zur Freiheit verurteilt. Die mitklingende Bedeutung im Bild der Geworfenheit, die aus der Annahme der Grundlosigkeit des Seins resultiert, schwingt zwar in Heideggers Deutung mit, steht jedoch nicht im Vordergrund. Wichtiger ist ihm, auf die Tatsache hinzuweisen, dass die Übernahme des nicht vom Menschen Veränderbaren keineswegs Zeichen der Hilflosigkeit, sondern Demonstration der Wahl des eigensten Sein-Könnens ist. Denn wo könnte dieses sich eindrucksvoller beweisen als in Anbetracht der Finalität des eigenen Seins? Damit erfüllt der Mensch jenes Können, das über das individuelle Verhalten hinaus als Bestimmung der Existenz, das heißt als Wesensmerkmal des Daseins, bezeichnet wird. «Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt.»49 Noch einmal stehen wir vor einer scheinbar paradoxen Formulierung. Einer Möglichkeit hörig zu sein, würde unter anderen Umständen das Besondere des Möglichen bis zur blanken Notwendigkeit zusammenlaufen lassen. Hier deutet sich die Überzeugung an, dass der Mensch nicht anders kann, als sich der Bestimmung seines Wesens, das in der Existenz besteht, zu öffnen. Oder wurde hier vorschnell geurteilt? Gibt es denn nicht die Aussicht, dem Ruf des Sein-Könnens nicht zu folgen und die Übernahme des eigensten Seins dauerhaft zu unterdrücken? In dem Moment, in dem mir bewusst wird, dass mein Tod meine eigenste Möglichkeit ist, ist es mir unmöglich, diese Einsicht ausblenden zu wollen. Die Wahl, von der Heidegger spricht, ist daher kein Abwägen mit anschließender Entscheidung, sondern die Übernahme der Bedingtheit meines Seins im Sinne der Existenz. Wir stimmen in das Wesen ein, das unser Sein kennzeichnet. Es verwundert nicht, dass Heideggers Darstellung nichts von dem stolzen Aufbegehren und der heroischen Entschlossenheit zeigt, die Albert Camus’ Essay Le mythe des Sisyphe – Der Mythos von Sisyphos zu einem so berührenden Zeugnis existentiellen Denkens macht. Doch sollte die Tonalität beider Schriften nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide letztlich Vergleichbares aussagen. Wenn Camus erklärt, der Fels, den Sisyphos in unablässiger Folge zum Gipfel des Berges zu bewegen habe, sei «seine Sache»,50 dann entspricht dieses Heideggers Vorstellung des eigensten Sein-Könnens. Wie überzeugend beide Artikulationen ein und desselben Gedankens aber am Ende sind, bleibt fraglich. Sein und Zeit, § 50, S.251. Sein und Zeit, § 58, S.287. 50 «Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! […]Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache [‹Son rocher est sa chose›].» Der Mythos von Sisyphos, S.99 f. und Le mythe de Sisyphe, S.167. 48
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Das nicht Veränderbare im Gestus selbstbestimmten Seins zu übernehmen, mag als Möglichkeit verstanden oder als der faszinierendste Selbstbetrug der modernen Philosophie betrachtet werden. Es ist leider nicht möglich, an dieser Stelle in aller Tiefe der Frage nachzugehen, ob Heideggers Verständnis der Existenz Veränderungen unterlag. So muss es bei der Feststellung bleiben, dass es tatsächlich eine Entwicklung im Denken dieses Begriffes gegeben hat, die hier nicht unberücksichtigt bleiben darf. Besonders im Laufe der Texte, die in den 1950er Jahren entstanden, wird eine Akzentuierung des Motivs vom Seyn erkennbar, die auch Auswirkungen auf die Deutung von Existenz hat, das in Sein und Zeit, aber auch schon teilweise in den Anmerkungen zu finden ist. Zusammengefasst kann vom Wesen des Daseins gesprochen werden. Was bedeutet nun die Einführung des Seyns-Begriffes? Erstaunlicherweise wirkt sie sich vornehmlich auf die Sichtweise des Daseins aus. Denn nun gewinnt ein Motiv zunehmend an Bedeutung, das eine erweiterte Sichtweise auf den Menschen im Dasein fordert: das Bild der «Sterblichen». Das Wort und seine Verwendung bei Heidegger entstammen seiner tiefen Verbundenheit zur Dichtung Friedrich Hölderlins, was jedoch nicht zu einer philologisch motivierten – und philologisch korrekten – Auslegungsweise führt. Vielmehr scheint Heidegger in den Hymnen des Dichters ein Denken präformiert zu finden, das seinem eigenen Denken-Wollen entspricht. Damit erscheint der Mensch nun nicht mehr als derjenige, mit dessen Nennung auf das in Sein und Zeit erfragte «Wer des Daseins» geantwortet wird, sondern als derjenige, dem eine seinsgründende Aufgabe bisher kaum ersichtlichen Ausmaßes zukommt. Zur Veranschaulichung dieses Auftrages, wie es gelegentlich auch heißt, kann auf das Bild des «Gevierts» geschaut werden. Mit ihm verdeutlicht Heidegger sein Verständnis von Bezogenheit im Sein, durch das alles Seiende aufeinander verwiesen ist. In Anlehnung an Hölderlins Worte stehen sich im Geviert, dem ursprünglich aus dem Bereich der Typographie stammenden Bild einer Umrahmung, in der Schriftzeichen platziert werden, die Göttlichen und die Sterblichen, Himmel und Erde gegenüber. Es handelt sich zwar um ein formales Schema, doch hat es über das Aufstellen relationaler Bezüge höchste Relevanz als Versichtbarungsmetapher jenes Geschehens, das als Seyn bezeichnet wird. Denn darauf gilt es von Anfang an zu achten, wenn über diesen Begriff gesprochen wird: Er bezeichnet keine Abstraktion, die in ontologischer Argumentation Verwendung finden würde, sondern tatsächliches Geschehen im Sein. In dessen Vollzug konstituiert sich Seyn als verwirklichte Möglichkeit des Seins. Wiederholt spricht Heidegger in seinen Texten der 1950er Jahre, zu denen vorrangig die als Schwarze Hefte bekannten Denktagebücher zählen, von der «Kreuzungsmitte des Seienden» und markiert damit gleichermaßen die formale Justierung innerhalb des Gevierts wie auch den Ort der Entstehung von Seyn. Im Seyn erlangt das Sein des Seienden eine neue Qualität, die diesem schon immer möglich war, ohne deshalb bereits verwirklicht worden zu sein. Im Seyn, sichtbar dargestellt im Geviert, stehen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Mensch und Welt sich nicht als Wesenheiten gegenüber, die keine Relation aufweisen, sondern im Bezugsgefüge dessen, was formal in Sein und Zeit als In-derWelt-Sein bezeichnet wurde. In großzügiger Auslegung kann die Verwandlung vom Sein zum Seyn als zweiter Schritt zur Eigentlichkeit betrachtet und dadurch mit der Verwandlung vom Man-Selbst zum Selbst verglichen werden. In beiden Fällen handelt es sich um Wendungen zum Möglichen, das durch verdunkelnde Faktoren überdeckt zu werden scheint, bis es zu Bewusstsein gelangt. Worin diese Verdeckung im Fall des Selbst besteht, hat sich gezeigt. Sie liegt im Funktionskomplex der Öffentlichkeit, von Heidegger als Man tituliert, der zwar wohl pragmatische Lebensvollzüge erleichtert, doch einen Blick des Verstehens in das Sein-Können, das darüber hinausgeht, versperrt. Das vorstellende Denken, das sich an Maßstäben der Machbarkeit und Zweckorientierung bemessen lässt, verhindert das Denken des Seyns. Auch hier geht es also darum, den Blick freizustellen, um das Denken der Möglichkeit des Seins, Sein in Relation sein zu können, zu eröffnen. Bestand die erste Freisetzung darin, die Möglichkeit des eigensten Selbst-Seins zu erschließen, kann die zweite Freisetzung, die vom Sein zum Seyn führt, die Möglichkeit des Bezogen-Seins aufdecken, in dem alles Seiende zueinandersteht. Dass diese Verwiesenheit nur demjenigen erkennbar ist, der sich aus der Diktatur des Man zum Eigen-Sein aufgestellt hat, ist durchaus nachvollziehbar. Denn abermals geht es nun darum, aus dem Getriebe des zielorientierten Agierens, das Gemeinschaften zusammenhält, zurückzutreten, um die Möglichkeit des zielungebundenen Denkens realisieren zu können. Vielleicht ist es verführerisch, darunter ein Denken zu verstehen, das nur um das Eigene kreist und sich ganz in einer Haltung der Weltabgewandtheit gefällt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Seyn zu denken bedeutet, Verwiesenheit zu denken, die nicht nur Mensch und Mensch, sondern auch Mensch und Welt verbindet. Einerseits wird damit nichts Neues gesagt, da das In-der-Welt-Sein bereits in Sein und Zeit thematisiert wurde. Aber in der Phase seines Philosophieverständnisses ging es Heidegger noch vor allem darum, Strukturen des Seins zu explizieren. Rund dreißig Jahre später steht das Schaffen von Verweisungsmomenten im Mittelpunkt, das nun den Text als Medium hierfür zu nutzen weiß. Mit großer Vorsicht kann es so formuliert werden, dass Sein und Zeit im allerweitesten Sinn noch ein Produkt zielorientierten Denkens gewesen ist, da es formale Kriterien benennt, um den Sinn von Sein zu verstehen. Dieses um zu ist Ausdruck einer Zweckgebundenheit, so sehr es zu denken auch selbst gegen diese Zuweisung rebellieren würde. Die Schriften etwa der Vier Hefte aus den Jahren 1947 bis 1950 oder den Vigiliae und Notturno von 1952 bis 1957 legen von einem anderen Verständnis dessen Zeugnis ab, was ein Text selbst dann leisten kann, wenn er sich in der Gefolgschaft philosophischen Schreibens etablieren will. Die fragmentarische Form, teils in aphoristischer Kürze, teils sogar nur noch in der graphischen Signatur verfasst, sperrt sich aus gutem Grund gegen die Erwartung, stringente Argumentationen vorzuführen. Diese kleinen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Schriftstücke, der Lyrik zum Teil näher als der Erörterung, sollen Verbundenheit stiften, anstatt über deren Möglichkeit zu dozieren. So bedauerlich es auch ist, kann dieser Gedanke hier nicht vertieft werden. Denn nicht die Entwicklung von Heideggers Deutung von Textualität steht im Fokus, sondern die Veränderung in der Deutung von Existenz, die sich innerhalb dieser dreißig Jahre vollzogen hat. Nun heißt es: «Aus solchem Wesen erst wird der Mensch existent als der Sterbliche.»51 Ist es aber nicht auch der Sterbliche, als den sich der Mensch im Aushalten der Angst angesichts des Todes erfährt? Er ist es, doch weitet sich in den späteren Verlautbarungen die Sichtweise, in der dieser betrachtet wird, immens. Denn nun gilt es nicht mehr der Freisetzung des Denkens für das eigenste Sein-Können zu folgen, sondern der Freisetzung des Eigensten für das Gesamt, wie es exemplarisch im Bild vom Geviert zum Ausdruck kommt. Die Sterblichen sind die zur Bezogenheit Befreiten, die ein zweites Mal zu ihrem eigensten Sein-Können finden, das sie nun zum Sein in Verwiesenheit befähigt. Es ist vor diesem Hintergrund möglich, von einer zweiten existentiellen Wendung zu sprechen, die aus der vermeintlichen Selbst-Zentriertheit herausführt, die als Folge der Aufforderung zum eigensten Sein-Können entstehen könnte. Das Selbst in der zweiten Wendung erfährt sich und zugleich das Andere in Welt und Mensch, die in hypostasierter Form als der Himmel und die Göttlichen erscheinen. Der Mensch in der vollen Entfaltung seines existentiellen Vermögens steht in der Kreuzungsmitte des Seienden, die er nicht als ein Verortungsschema vorfindet, sondern durch sein Vermögen, das Andere zu denken und für dessen Wahrung zu sorgen, erst schafft. Auch wenn gerade von einer Entwicklung des Existenz-Denkens die Rede war, weil zwei Wendungen zum Eigentlichen möglich und vonnöten sind, zieht sich doch eine starke Linie kontinuierlicher Überzeugung durch die Texte. Diese gilt nach Heideggers eigener Erläuterung nicht eventuellen nutzbaren Angaben, denen Wirkung im Faktischen zuerkannt werden könnte. Das Denken fördert keine praktischen Kompetenzen, sondern die eine wesentliche Fähigkeit, im Eigensten mit dem Anderen sein zu können. Anfang der 1950er Jahre notiert Heidegger: Aber diese Betonung des ‹Existenziellen› hat einen ganz anderen Sinn als bei Kierkegaard, der aus der Subjektivität denkt und das Interesse am ‹Existieren› verfolgt. Die Hervorhebung der ‹Existenz› in Sein und Zeit hat auch einen ganz anderen Sinn als der ‹Appell› an die Existenz bei Jaspers, dem eine moralisch-metaphysische Bestimmung zukommt. In der Betonung der Existenz des Da-seins verbirgt sich etwas wesentlich Fragwürdigeres – nämlich die Wesentlichkeit des Da-seins für die Wahrheit des Seins als solchem.52
An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie weit der Rahmen ist, der der Deutung von Heideggers Denken Raum gibt. Was heißt es denn, wenn das Sein sich zum 51 52
Vier Hefte II, S.136. Vigiliae und Notturno, Vigilia I, S.58. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Seyn wandelt? Ist Letzteres als eine qualitativ hochwertigere Version zu betrachten, die um ihrer selbst willen anzustreben ist? Schließen die Aussagen zur Existenz jegliche Möglichkeit aus, im Kontext ethischer Diskussionen rezipiert zu werden? Welchen Sinn hat der Wandel zur Eigentlichkeit als der Wesensmöglichkeit des Seins, wenn er nicht an der Verfassung des Seienden abzulesen ist? Als wichtigstes Merkmal des Begriffes der Existenz, wie er von Martin Heidegger dargestellt wird, kann dessen Ausständigkeit gelten. Denn er dient eben nicht dazu, Teil einer Seins-Aussage zu sein, sondern verweist auf die Möglichkeit einer Weise, die das Sein-Können des Einzelnen kennzeichnet. Die Tatsache, dass es sich dabei um keine beliebige Weise unter anderen, sondern um das Wesensmerkmal des Daseins handelt, gibt ihr eine außerordentliche Bedeutung. So klar sich diese Struktur den zugrunde gelegten Texten entnehmen lässt, so schemenhaft werden ihre Konturen, wenn nach ihrer Relevanz im Faktischen gefragt wird. Auf der einen Seite sträubt sich Heidegger dagegen, dass von seinem Denken praktische Empfehlungen zu erwarten wären. Doch auf der anderen Seite steckt sein Existenz-Verständnis als Teil seiner ontologischen Analyse so fest im Konzept des In-der-Welt-Seins, dass es ohne Folgen hierfür kaum vorstellbar ist. Im Bild vom Geviert, das primär als Strukturmodell dient, wird schließlich ersichtlich, dass die Kontrastierung in Verwiesenheit alle Elemente des Seins-Denkens aufeinander bezieht und damit nicht folgenlos innerhalb dieses Bezugsgeflechtes bleiben wird, das er mit dem Begriff des Seyns bezeichnet. Ausständigkeit charakterisiert also Heideggers Begriff der Existenz. Hierzu kommt ein weiteres Motiv, das dem ersten an Bedeutung in nichts nachsteht: Die völlige Transzendenzlosigkeit. Es könnte eingewendet werden, dass doch der Entwurf in die Existenz durchaus als ein Schritt des Transzendierens, des Überschreitens des bestehenden Daseins aufzufassen sei. Zur Reaktion auf diesen Einwand hängt alles vom Verständnis des Begriffes der Transzendenz ab. Im vorliegenden Kontext wird er, ganz gleich, in welchem speziellen thematischen Rahmen er auftaucht, zur Beschreibung eines Gültigkeitskomplexes von Aussagen verstanden, der nur dadurch zustande kommt, dass er unter Abhebung von den konstanten Erscheinungsformen des Seins gebildet wird. Konstitutiv für die Bildung eines solchen Komplexes ist die Art seines Hervorgehens aus dem Denken des Seins, dessen Möglichkeiten an einem bestimmten Punkt für nicht mehr ausreichend erachtet werden, um die Leistung der Vernunft würdigen zu können. Im Zusammenhang existenzphilosophischen Denkens, wie es hier vertreten wird, entsteht dadurch ein nicht notwendiger Bruch innerhalb der Vorstellung der Denkbarkeit als solcher. Zur Verdeutlichung dieser Ansicht ist es hilfreich, sich zu fragen, welche Rolle das Wirken der Vernunft in Heideggers Konzeption von Existenz spielte, eine Frage, die natürlich zu umfangreich ist, um an dieser Stelle angemessen reflektiert zu werden. Doch eine Tendenz lässt sich bereits aus den wenigen Textbezügen ableiten, die hergestellt und unter bewusster Vermeidung des Begriffes der Vernunft gedeutet wurden. Denn nicht sie steht nach Heideggers Überzeuhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gung im Fokus der Rede vom Sein, sondern das Denken, das für ihn einen Bestandteil enthält, der ihm in unserer philosophischen Tradition nicht selbstverständlich zugerechnet wird: die Erfahrung. Das Denken des In-der-Welt-Seins etwa basiert auf der Erfahrung von Mitsein und Sorge, in denen sich das Dasein immer schon austrägt. Der Schritt, aus dieser Primär-Begegnung zur Formulierung von Existentialien überzugehen, bedarf der Ausweitung einzelner Erfahrungsinhalte zu Aussagen allgemeiner Gültigkeit, die jedoch nicht als Abstraktion im herkömmlichen Sinne verstanden wird. Denn dort tritt der einzelne Inhalt nach und nach in den Hintergrund und macht der Artikulation des Grundsätzlichen Platz. Wie sehr sich Heidegger darum bemüht, eine solche Hervorgehensweise allgemeingültiger Aussagen über das Sein zu verhindern, wird bereits auf den ersten Seiten von Sein und Zeit deutlich. Dort erklärt er, dass derjenige, der nach dem Sein fragt, selbst im Sein steht – keine außergewöhnliche Feststellung, wie ergänzt werden könnte. Und doch ist sie in hohem Maße bedenkenswert, weil dadurch klar wird, dass sich das Sein nicht wird objektivieren lassen. Denn jede Aussage über dieses ist immer zugleich eine Aussage über den Fragenden, der, und hier ist eine sprachliche Differenzierung wichtig, nicht am Sein teilhat, sondern selbst Sein ist. Die Vernunft könnte sich in ihrer Abstraktionsabsicht niemals so weit selbst aus dem befragten Sein distanzieren, um es sich nicht eingestehen zu müssen, am Ende nur zu Feststellungen über das eigene Sein gelangen zu können. Im Gegensatz zu ihrer partiellen Ausblendung aus dem Prozess der Seins-Vergewisserung, die in der Existenz als der Einsicht in das Wesen des Seins erfolgt, erweist sich Erfahrung als geeignetes Medium, um Sein-im-Sein-Können zu vergegenwärtigen. Dabei fixiert sie nicht eine zuvor theoretisch erwiesene Option in einem Akt des Wählens, sondern schafft die Möglichkeit des Sein-Könnens im Sein, das sich bereits vergegenwärtigt hat. Eine der großen Schwierigkeiten im Denken der Existenz besteht darin, dass sie im Grunde nicht vor dem Moment ihrer Verwirklichung positiv zu erfassen ist, sondern sich lediglich als ein Können im Sein ankündigt. Die Aussage, sie sei Wesensmerkmal des SelbstSeins ist bemerkenswert, doch letztlich sagt sie nichts über die Existenz, sondern über die Veränderungsbedürftigkeit des Seins aus. Diesem Umstand trägt Heidegger dadurch Rechnung, dass er die verbale Variation des Seyns einführt und damit noch immer nicht einen Zustand vervollkommneten Seins markiert, aber doch zumindest dessen verwandelten Modus denkbar werden lässt. Gerade die Erwähnungen des Seyns in seiner unmittelbaren Aufgehobenheit im In-derWelt-Sein verdeutlichen, wie unnötig und sogar wie irreführend die Annahme von Transzendenz in diesem Kontext ist, wenn sie in obigem Sinne verstanden wird. Denn sie scheint stets auf eine gewisse Form von Priorisierung anzuspielen, wonach die ihr zugrundeliegende Abhebung des Überschreitens ein Überschrittenes zurücklässt, das in der einen oder anderen Hinsicht als verbesserungsbedürftig ausgewiesen wird. Wird dieser Aspekt betrachtet, würde die Annahme https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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von Transzendenz in Heideggers Deutung des Seins durchaus Sinn machen, denn dieses ist seiner Auffassung nach definitiv veränderungsbedürftig und jede Veränderung, von der er spricht, ist notwendig eine solche zum Besseren. Seyn ist eine entwickelte Form des Seins, insofern gibt es hier auch eine Priorisierung. Dass es trotzdem stimmig ist, das Denken von Transzendenz im Deutungsansatz seiner Philosophie abzulehnen, wird an der Verbindung der beiden Motive von Seyn und Welt erkennbar. Mit der Entfaltung von Seyn geht eben gerade keine Distanzierung von der Welt in ihrer unmittelbaren Bezugsstruktur einher, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Seyn geschieht im Welt-Bezug. Speziell in seinen späteren Texten wird sichtbar, dass er diesen keineswegs als ein Abstraktum denkt, das allenfalls dazu geeignet ist, als allgemeine Aussage über Seyn dienen zu können. Immer stärker nähert sich in seinem Denken das Sprechen vom Seyn der Vorstellung des Handwerkes an, worunter er den kundigen Umgang mit dem Dinglichen in der Welt versteht. Die verschiedenen Bilder des Ländlichen sind, vor diesem Hintergrund betrachtet, alles andere als verklärende Idyllen, sondern Metaphern des Gleichmaßes, in dem Denken und Tun in der rechten Weise verstanden voranschreiten können und müssen, soll das eigentliche Denken des Seyns ermöglicht werden. Eigentlich, soviel hat sich gezeigt, ist das Eigenste, das für Heidegger aus einem schwer zu ermittelnden Grund täuschungsresistent zu sein scheint. Doch ist er tatsächlich so schwer zu erkennen? Das eigenste Sein-Können wird gerade nicht als Form ungehemmter Ich-Zentriertheit verstanden, woraus dann eventuell die Gefahr hemmungsloser Willkür im Entscheiden und Tun folgen könnte. Das eigenste Sein ist Sein in der Kreuzungsmitte des Seienden und damit um das Andere bedacht. In welcher Perspektive wurde denn soeben von Täuschungen gesprochen, gegen die das eigenste Sein gefeit ist? Sie wären nicht im Erkennen zu vermuten oder im theoretischen Denken, sondern im angewandten Denken, das nach traditioneller Differenzierung dem Bereich der praktischen Philosophie zuzuordnen wäre. Heidegger hält wenig von der Aufspaltung des Denkens in zwei Kernkompetenzen. Denn immer ist es Denken des Seins im Sein und hat daher in jedem Augenblick Bezug zur Welt, die in ihrer Dinglichkeit von ihm konsequent reflektiert wird. Heidegger wendet sich nicht nur gegen jene Auffassung von Existenz, die er Søren Kierkegaard unterstellt, sondern auch gegen den «Appell», wie ihn seiner Ansicht nach Karl Jaspers zum Ausdruck bringt und ihm dabei «moralisch-metaphysische Bestimmung» attestiert. Doch trifft er damit die Auffassung seines früheren «Kampfgefährten»?
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Karl Jaspers
Karl Jaspers Gleich zu Beginn des zweiten Teils seines dreibändigen Werkes Philosophie aus dem Jahr 1932 erklärt Jaspers: «Nenne ich Welt den Inbegriff alles dessen, was mir durch Orientierung des Erkennens als ein zwingend für jedermann wißbarer Inhalt zugänglich werden kann, so ist die Frage, ob alles Sein mit dem Weltsein erschöpft sei, […].»53 und konkretisiert diese Frage in Form ihrer Beantwortung: «[…] was gibt es dem gesamten Weltsein gegenüber? Das Sein, das – in der Erscheinung des Daseins – nicht ist, sondern sein kann und soll und darum zeitlich entscheidet, ob es ewig ist. Dieses Sein bin ich selbst als Existenz.» Könnte damit die vergleichende Betrachtung des Existenzbegriffes von Karl Jaspers nicht beendet werden, noch bevor sie begonnen hat? Sowohl der moralische als auch der metaphysische Aspekt aus Heideggers Erwähnung scheint sich auf ganzer Linie zu bestätigen. Denn warum sollte dieses Sein sein, wenn es nicht ewig gegründet, und warum sollte es sein, wenn es nicht das wahre Sein wäre? Die starke Entgegensetzung zum Weltsein, in der Jaspers es positioniert, trägt das ihrige dazu bei, einen tatsächlichen Gegenentwurf zu Heideggers Konzeption zu vermuten, denn etwas später heißt es: «[Ich] höre […] den Anspruch aus meiner möglichen Existenz: mich von der Welt zu lösen, an die zu verfallen ich in Gefahr bin. – Oder ich vollziehe in der Welt, welche als mir verwandt so nahe ist, ein Transzendieren.»54 Weitaus drastischer als Heidegger, für den die Abhebung der Existenz aus dem Sein vornehmlich dessen Verwandlung bedeutete, kontrastiert Jaspers Welt und Existenz, die er «in Spannung» zueinander sieht.55 Für den Menschen wird diese an dem Gefühl der Ungeborgenheit spürbar, das er in der Welt meint, erfassen zu können. Weder das für «den Verstand Wißbare», noch «das empirisch Erfahrbare» können dieses Empfinden reduzieren, da sie erst dessen Ursprung sind, denn beide «sind mir das Andere».56 «Diese Spannung wird im Philosophieren aus möglicher Existenz vorausgesetzt. Welt als das Wißbare, Existenz als das zu Erhellende werden dialektisch unterschieden und wieder ineinsgefaßt.»57 Unterschiedlicher könnten die Ansätze zur Bestimmung von Existenz kaum sein. Zwar stimmen sie in dem Gedanken überein, dass sie wesentlich Möglichkeit ist, doch scheiden sich die Deutungen dann sofort hinsichtlich der Frage, was Möglichkeit sei. Für Heidegger ist es die Möglichkeit des Sein-Könnens, für Jaspers das Bekenntnis zum Anderen der Transzendenz. Diese Gegenüberstellung mag Philosophie II, S.1. Philosophie II, S.3. 55 Philosophie II, S.4: «Welt und Existenz stehen in Spannung. Sie können weder eines werden noch voneinander sich scheiden.» 56 Philosophie II, S.3. 57 Philosophie II, S.4. 53 54
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verwundern. Denn sah nicht auch Heidegger in der Abhebung der Existenz vom Sein dessen qualitative Veränderung, die offensichtlich erforderlich war, weil dieses der Verbesserung bedurfte. Handelt es sich dabei nicht um dieselbe Auffassung wie die von Jaspers vertretende, wonach Existenz Distanzierung von der Welt erfordert? Eine kleine Korrektur der Formulierung ist an dieser Stelle angebracht. Denn Existenz erfordert nicht nur Distanzierung, sondern fordert sie – in welcher Weise, wird zu fragen sein. Der nähere Blick der beiden Wege, von Existenz zu sprechen, ergibt ein im ersten Moment verwirrendes Bild. Denn im Grunde müssten das Erfassen des eigensten Selbst-Seins in Heideggers Verständnis und die Spiegelung von Existenz als dem zur Transzendenz Führenden im Ich mehr Gemeinsamkeiten als Unterscheidendes aufweisen. In beiden Fällen geht es um einen Vorgang der Vereinzelung, in dem aus dem Sein Möglichkeit wird. In beiden Fällen erfolgt eine Ansprache an den Menschen, bei Heidegger als Ruf des Gewissens im Sinne des Sein-Könnens, bei Jaspers hingegen von der Transzendenz ausgehend.58 Könnte denn nicht darauf verwiesen werden, dass auch Heidegger in seinem Verständnis des Existieren-Könnens letztlich auf das Gewahren eines Anderen setzt, damit ich überhaupt einen Begriff davon erhalte, was neben dem Sein des Daseins möglich ist? Unterscheidet sich beider Denken im Grunde nur durch die Tonalität der Artikulation? Denn dass beide vor einer immensen Schwierigkeit stehen, wird schnell sichtbar. Sie wollen auf das Mögliche hinweisen, können dieses jedoch nicht benennen, da es sich als ‹Noch-Nicht› der Verbalisierung entzieht. Einig sind sie in der Überzeugung, dass das Mögliche nur dem Einzelnen gilt, dessen Seins-Weise sie entsprechend zu explizieren suchen. Der Begriff des Selbst erweist sich hierfür als geeignet, da er die letzte erkennenderfassende Verschränkung der Seins-Reflexion signalisiert. Durchaus vergleichbar zeigen sich die Beschreibungen jener das Selbst-Sein auf unbestimmte Zeit aussetzenden Wirkung der Öffentlichkeit, dem Heidegger das Ergreifen des eigensten Sein-Könnens entgegenstellt. Und Jaspers? «Der Existenz ist gewiß, daß ihr nichts eigentlich Seiendes als Erscheinung im Zeitdasein unentschieden bleiben kann; denn ich lasse entweder den Lauf der Dinge über mich entscheiden, und verschwinde als ich selbst, […] oder ich ergreife das Selbst aus selbstseiendem Ursprung mit dem Bewußtsein: es muß entschieden werden.»59 Auch an anderen Stellen des Textes fällt auf, dass Jaspers von Existenz in personalisierter Form spricht, wie es auch hier der Fall ist. Eine vergleichbare Sprachform findet sich in Sein und Zeit mit Bezug auf das Sein, ohne diesem jedoch in ähnlich starkem Maße Forderungscharakter zuzuweisen. Ist das der Grund dafür, dass sich Heidegger vom «Appell» distanziert, dem «moralisch-metaphysische Bestim«Ob ich sie [die Welt] sehe, denke, in ihr handle und liebe, in ihr hervorbringe und gestalte, ich ergreife in allem zugleich ein Anderes als Erscheinung der Transzendenz, welche zu mir spricht.» Philosophie II, S.3. 59 Philosophie II, S.8.
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mung» zukommt? Gleichwohl eignet seiner Konzeption des Rufes, der aus mir an mich ergeht, nicht minder eindeutiger Forderungscharakter, denn ihn nicht zu vernehmen wird den Menschen davon abhalten, eigentlich existieren zu können. Es sind ohne Frage grobe Pinselstriche, mit denen hier eine kontrastierende Skizzierung der Existenz-Vorstellungen bei Heidegger und Jaspers vorgenommen wird. Sie können nicht dazu dienen, Details zu erfassen, die mit Sicherheit wichtig wären. Doch was leisten sie dann? Sie bereiten den Hintergrund für die Hervorhebung eines der wichtigsten Kriterien zur Unterscheidung dieser Vorstellungen. In den gerade zitierten Zeilen wird es in den Worten erkennbar: «es muß entschieden werden». Bis zur Feststellung der notwendigen Vereinzelung des Selbst aus der Öffentlichkeit laufen die Konzeptionen beider Denker parallel, doch dann folgen sie unterschiedlichen Richtungen. Jaspers akzentuiert die Bedeutung des Wählens dessen, was Existenz fordert. Heidegger hingegen spricht Wahl und Entscheidung keine vergleichbare Bedeutung zu. Seine Verwendung des Ausdrucks «Entschlossenheit» widerspricht diesem Vermerk nicht, da er anderen Ursprungs ist. Dieser liegt nicht im wählend-entscheidenden, sondern im verstehenden Denken. Der sich nun anschließende Gedanke droht bereits im ersten Moment in sich zusammenzufallen. Denn da Heidegger davon spricht, dass das Sein es selbst oder nicht es selbst sein könne, impliziert dieses die notwendige Annahme einer einlösenden Differenzierung. Es muss eine Ursache dafür benannt werden können, warum die eine Option ergriffen, die andere hingegen verworfen wird. Und dient als eine solche Ursache nicht das Wählen oder Entscheiden? Die Engführung der Konzeptionen von Heidegger und Jaspers gerade an diesem Punkt steht in direktem Zusammenhang zur Thematik dieser Betrachtungen, weshalb sie etwas näher zu beleuchten ist. Heideggers Denken scheint in weitem Umfang auf der Annahme von Kontrastierungen zu basieren. Das Man setzt er dem Selbst entgegen, das Eigentliche dem Uneigentlichen, das Hören dem Überhören. Wenn das Wirken des Zufalls auszuschließen ist, muss er erklären, wie es zur Priorisierung der einen oder anderen Möglichkeit kommt. Und doch taucht der Begriff des Wählens äußerst selten in Sein und Zeit auf, was das argumentative Unterfangen der Begründung ganz klar erschwert. Im Kontext seiner Erörterung des Phänomens der Angst findet sich eine erste zur Klärung des Sachverhaltes relevante Äußerung: «Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … […] die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.»60 Es entstehen also nicht reale Optionen, zwischen denen das Selbst zu entscheiden hat, denn es ist selbst immer schon seine Möglichkeit, eigentlich zu sein. Diese Feststellung ist insofern wichtig, als sie die Annahme zurückweist, Optionen seien dem Sein nicht ursprünglich zukommende Möglichkeiten, über die aus dem Sein heraus entschieden wird. Dasein ist immer schon Existenz, de60
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rer sie jedoch nicht in jedem Moment gewärtig ist. In einem ersten Interpretationsansatz kann daher festgehalten werden, dass das Ergreifen des Eigentlichen nicht Produkt des Wählens ist, sondern einer noch näher zu betrachtenden Freistellung aus Verdeckungen. Diese, die mit dem Hinweis auf die dominierende Wirkung des Man begründet werden können, verdunkeln nicht das Bestehen der entgegengesetzten Möglichkeiten, sondern die Tatsache, dass das Selbst je schon es selbst ist. Genau genommen braucht es sich nicht für das Eigentlich-Sein zu entscheiden, da es ihm bereits eignet. Es muss nur in seiner Bedeutung als eigentliches Sein erfasst werden, was dadurch erfolgen kann, dass sich das Selbst ergreift. Und Ergreifen heißt in diesem Fall das zu vermeiden, das es verhindert. Wenn Heidegger vom «Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und – ergreifens»61 spricht, steht die existentielle Möglichkeit des Selbst-Seins im Vordergrund, nicht Schritte des Entscheidens, die es realisieren. Trotzdem muss das «Freissein für die Freiheit» Grund gewinnen, doch nicht auf dem Wege eines willentlich vollzogenen Abwägens. Grund gewinnen meint hier, dass ein Verdecktes, doch immer schon Präsentes, aus seinen Verhüllungen befreit wird. Hierfür empfiehlt Heidegger keine Techniken, sondern gibt nur einen einzigen Hinweis. Aus der Einsicht eines alle faktischen Erfahrungen aussetzenden NochNicht wird das Selbst-Sein nicht als Möglichkeit, wohl aber als Eigentliches, erschlossen. «Das Dasein hat sich in seinem Sein je schon zusammengestellt mit einer Möglichkeit seiner selbst. […] Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg.»62 Es bedarf folglich eines erschließenden Vorlaufens, das die Struktur des «vorweg» kenntlich werden lässt. Dieses Vorlaufen geschieht in der Angst.63 In einer kurzen Replik heißt es: «Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ‹Welt› zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen.»64 Damit formuliert Heidegger ein Grundelement existenzphilosophischer Theoriebildung. Eine existentielle Erschütterung ebnet den Weg zum Freisein für, doch nicht so, als würden sich damit auf einmal zwei Möglichkeiten auftun, zwischen denen zu wählen ist. Die Formulierung des Zurückholens ist besonders aufschlussreich: Sie besagt, dass das Selbst-Sein die eigentliche Weise des Seins je schon ist und nicht erst als gänzlich Neues ergreifen muss.65 Zurückholen aus Sein und Zeit, § 40, S.188. Sein und Zeit, § 41, S.191. 63 «Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst.» Sein und Zeit, § 41, S.191. 64 Sein und Zeit, § 40, S.189. 65 «Entsprechend ist auch das Dasein, solange es ist, je schon sein Noch-nicht.» Sein und Zeit, § 48, S.244. 61
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den Überformungen des Uneigentlichen – so kann das Geschehen der Existenz auch umschrieben werden. Denn «die Substanz des Menschen ist die Existenz».66 Und wie könnte dieser seine Substanz erfinden? Zu finden ist sie im Übermaß der Verdeckungen, kenntlich zu machen im Verstehen des Rufes, der «aus mir und doch über mich»67 kommt. Der Ruf, der zu nichts aufruft, als zum eigensten Sein-Können, trifft das Selbst im Man.68 Aber: «Der Anruf des Selbst im ManSelbst drängt es nicht auf sich selbst in ein Inneres, damit es sich vor der ‹Außenwelt› verschließen soll. All dergleichen überspringt der Ruf und zerstreut es, um einzig das Selbst anzurufen, das gleichwohl nicht anders ist als in der Weise des In-der-Welt-seins.»69 Diese Zeilen an dieser Stelle zu zitieren ist deshalb nahezu unverzichtbar, weil sich in ihnen die deutlichste Differenz zur Auffassung von Karl Jaspers ausdrückt. Seinen Weltbezug kündigt das Selbst zu keinem Zeitpunkt auf, um sich für andere Quellen der Inspiration öffnen zu können. Für Heidegger besteht kein Entweder – Oder, das uns zwingt, zwischen Welt und Transzendentem zu wählen, denn das Selbst erfährt sich nur in seinen Welt-Bezügen. Es wirkt daher konsequent, wenn er erklärt: «So bedarf es keiner Zuflucht zu nichtdaseinsmäßigen Mächten. […] Warum Auskunft bei fremden Mächten suchen, bevor man sich dessen versichert hat, daß im Ansatz der Analyse das Sein des Daseins nicht zu nieder eingeschätzt, […] wurde.»70 Damit kein Missverständnis entsteht: Auch Karl Jaspers spricht nicht explizit von nichtdaseinsmäßigen Mächten, wenn auch sein Gebrauch des Transzendenz-Begriffes die Assoziation nicht dauerhaft verhindern kann. Zwei Motive unterscheiden die Konzeptionen beider Denker, die für den vorliegenden Zusammenhang ausreichend Konturierung erlauben: Für Heidegger liegt Existenz – und nicht nur deren Möglichkeit – immer schon im Sein und ihre Freisetzung ist nicht Folge willentlicher Entscheidung. Diese beiden Ansichten werden nun als Spiegelachsen der Interpretation genutzt, um Jaspers’ Position skizzieren zu können. Ob damit seinem Denken nicht Unrecht getan wird, weil es von Anfang an am Werk Heideggers gemessen wird? Es wird nicht an ihm gemessen, sondern mit ihm verglichen und erlaubt in einem Kontext, der letztlich vorbereitenden Charakter hat, eine möglichst pointierte Rekonstruktion zweier existenzphilosophischer Konzepte. Welche Auskunft geben seine Texte über seinen Gebrauch des Begriffes der Transzendenz? In der Vorlesung, die Karl Jaspers im Sommersemester 1961 hielt, heißt es: «Transzendenz ist uns gegenwärtig, wo die Welt Sein und Zeit, § 43, S.212. «Andererseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.» Sein und Zeit, § 57, S.275. 68 «Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen.» Sein und Zeit, § 56, S.273. 69 Sein und Zeit, § 56, S.273. 70 Sein und Zeit, § 57, S.278. 66 67
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nicht mehr als das aus sich selbst Bestehende, als das an sich Seiende, das Ewige, sondern als ein Übergang erfahren wird, […]».71 Ein Zweifel an der Welt als Erfahrensgrund muss der Vergegenwärtigung von Transzendenz vorausgehen, da uns ersichtlich wird, dass es etwas gibt, das ihr nicht auf direktem Wege zu entnehmen ist. An dem Möglichen dieses Anderen, das Grund und Gegenstand des Begreifens ist, zweifelt Jaspers nicht einen Moment, wenngleich er einräumen muss, dass wir nicht «eigentlich davon reden» können, da es uns nicht als Gegenstand zugänglich ist. Diese Feststellung verwundert ein wenig. Dass wir eigentlich nur von «Dingen in der Welt» reden können, bedeutet nicht, dass keinerlei Ausdruck von Transzendenz erfolgen kann. Denn sie ist uns in der Rede von Chiffren zugänglich, in Verbildlichungsformen des Denkbaren.72 Ist die Rede dem Welt-Sein verhaftet, wenn sie durch Akte der Vergegenständlichung repräsentiert wird, muss auch Wissen notwendig auf eben diesen Grund beschränkt bleiben. In welchem Modus des Begreifens nähern wir uns dann aber Transzendenz an, die nicht als solche darstellbar ist? Dass Vernunft hier an ihre Grenzen stößt, verwundert nicht. Doch auch Erfahrung scheint kein geeigneter Weg zu sein, um ihrer gegenwärtig zu werden. Denn auch sie würde noch zu stark dem Weltlich-Gegenständlichen verhaftet sein, worin aus anderer Perspektive gerade ihr außerordentlicher Vorzug besteht. Gesucht wird also ein Grund, nicht als Ursprung, sondern Tableau der Vergegenwärtigung, auf dem Transzendenz empfangen werden kann. Nach Jaspers’ Überzeugung kommt hierfür nur das Spüren in Betracht. Denn nur hier vermag die Gewissheit zu wirken, dass sich neben der Welt-Erfahrung «etwas verschleiert». «Es ist nicht erschöpft mit der Welt, mit diesem Augenblick, […]. Wo das auftaucht, beginnt eigentlich der Mensch. Der Mensch, der nicht mehr dahinlebt.»73 Die Andeutung dieses Geschehens überrascht nicht. Denn nicht zufällig zählt sie zu den grundsätzlichen Vorstellungen existenzphilosophischen Denkens, wo sie als jenes unverzichtbare Element betrachtet wird, ohne das Existenz nicht stattfinden könnte. Mit dieser Bemerkung wird Jaspers’ Aussage nicht die Originalität abgesprochen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass er hier einen Gedanken formuliert, der repräsentativ für diese Philosophie ist. Doch muss diese Einschätzung nicht präzisiert werden? Eine Erschütterung, ein «Sprung im Menschen»74 ist erforderlich, um das Gespür, um Jaspers’ Begriff zu wählen, des Anderen zu wecken, das nicht aus der Welt allein hervorgeht. Ein anderes DenChiffern der Transzendenz, S.43. «Von dieser Transzendenz, die wir […] einfach auch ‹Gott› nennen, […] diese Transzendenz, die wir nicht erkennen, zu der wir vermöge unserer Freiheit in Bezug stehen, stellen wir uns vor oder denken wir in Chiffern. Chiffer ist nie die Transzendenz selbst.» Chiffern der Transzendenz, S.45. 73 Chiffern der Transzendenz, S.14. 74 Chiffern der Transzendenz, S.14. 71
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ken kann Folge dieses Einbruches in bisheriges Erleben sein, doch muss sie nicht zwangsläufig im Gewahren von Transzendenz bestehen. «[…] das Bewußtsein des Nicht-eigentlich-Seins, das Suchen dessen, was das Sein selber ist, was ich selber bin.»75 Interessant ist an dieser Formulierung, dass sie auf ein Defizit oder besser: eine Privation verweist, die ein Mensch spürt. Aus der vagen Ahnung eines Möglichen wird das gegenwärtige Sein als defizitär beurteilt. Folglich muss etwas möglich sein, das diesen Mangel ausgleicht. Fraglich bleibt dabei allerdings, ob der Mangel in Ansehung von Transzendenz erfasst oder diese als Kompensationsform des Nicht-eigentlich-Seins konstruiert wird. Im Vorgriff auf den weiteren Gedankengang ist bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass dieser Annahme, egal, in welcher Richtung sie vertreten wird, keine zwingende Notwendigkeit zukommt. Für Jaspers, das wurde bereits erwähnt, besteht hingegen kein Grund, an ihrer Gültigkeit zu zweifeln, ganz im Gegenteil: das Spüren von Transzendenz verbleibt nicht im Modus einer Feststellung, sondern hat existentielle Bedeutung, denn der Mensch «spürt etwas anderes, wozu er da ist.»76 Zwei Aspekte von außerordentlicher Bedeutung laufen hier zusammen. Zum einen die Gewissheit, dass das Sein der Welt nicht alleiniger Grund unseres Erlebens sein kann und zum anderen die Überzeugung, dass das Andere, das sich aus dieser Feststellung ergibt, über den Sinn unseres Seins Aufschluss gibt. Beides sind Aspekte, die auch in Artikulationen religiösen Denkens zu finden sind, oder im Grunde vornehmlich dort gelten. So ist es nur naheliegend, dass Jaspers «Gott» der Transzendenz zurechnet, die sich in Chiffren vergegenwärtigt. Wenn im vorliegenden Kontext wiederholt der Ausdruck der Vergegenwärtigung verwendet wurde, hat es einen naheliegenden Grund. Transzendenz muss im Moment, in dem sie spürbar wird, als dem Menschen zugänglich aufgefasst werden. Damit wird sie zumindest für Augenblicke zu einem Spüren in der Zeit. Stattdessen vom Inhalt des Spürens in der Zeit zu sprechen, würde Jaspers’ Verständnis verfehlen, da Transzendenz zu keinem Zeitpunkt Gegenstand von werden kann, ganz gleich, ob von Denken, Erleben, Gewahren gesprochen wird. Denn so würde sie sich als Objekt dem denkenden, erlebenden oder gewahrenden Subjekt entgegenstellen müssen, was Jaspers ablehnt. In den Vorlesungen finden sich wiederholt Bezugnahmen auf eine Art der Gewissheit, die uns davon sprechen lässt, in unserem Dasein einem Anderen gegenüber zu sein. Damit ist kein personal Anderer gemeint, sondern ein Referenzpunkt unseres Spürens, um bei diesem von Jaspers gewählten Ausdruck zu bleiben. «Wir selbst sind mehr als wir im Erkennen tun und natürlich immer mehr als das, was wir etwa von uns erkennen.»,77 so heißt es zum Beispiel gleich in der ersten Vorlesung und lässt uns angesichts der Selbstverständlichkeit, die sich im Wort «natürlich» ausspricht, aufhorchen. Ist es natürlich so, dass uns 75 76 77
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stets ein Unerfülltes eignet, um das wir aus einer inneren Sicherheit wissen, die kein logischer Beweis zu ersetzen vermag? Wie gelangen wir zu dieser Gewissheit, die für uns Impuls des Werdens im Sein ist? Jaspers verweist zur Beantwortung dieser ungestellten Frage auf unsere Möglichkeit, uns selbst zu begreifen. Eingebettet in ein Nicht-Wissen-Woher und ein Nicht-Wissen-Wohin steht uns die kurze Spanne der Selbst-Begegnung offen, die, gerade weil sie ein Interim zwischen zwei Unbekannten ist, der Vorstellung von uns selbst die Idee der Unabgeschlossenheit im Sein vermittelt. Auch diese ist nicht beweisbar und doch geht sie «durch die Jahrhunderte, durch die Zeitalter und die Verschiedenheit der Kulturen.»78 Diesen Befund möchte Jaspers seinen Zuhörern «fühlbar machen». Es ist offensichtlich, mit wie viel Bedacht er sich für diese Formulierung entschieden hat, denn hier kann nur an das intuitive Verstehen appelliert werden, das eine andere Erkenntnisdimension erschließt als das Wirken der Vernunft. Eine höchst spannende Parallele zur Heideggers Sein und Zeit ist in diesem Zusammenhang zu beobachten. Um zu zeigen, dass Dasein wesentlich Sorge ist, greift dieser auf ein «vorontologisches Zeugnis» zurück und zitiert die cura-Fabel, die in Goethes Faust erwähnt wird. Vorontologisch heißt aber auch prärational, weil sie uns in einer kognitiven Verfassung anspricht, die grundsätzlicherer Natur ist als die Rationalität. Und Jaspers? Er zitiert einen Bericht des Beda Venerabilis aus dem 7. Jahrhundert n. Chr.: In winterkalter Nacht fliegt ein Sperling in die Versammlungshalle des Königs, durchquert diesen Raum, der sich so dramatisch von dem Draußen unterscheidet, und kehrt dorthin zurück, woher er kam. In diesem Moment ist der Raum außerhalb der Halle den Versammelten nur als das Andere vorstellbar, das nicht mit dem Ort ihres Beisammenseins identisch ist. Greift auch Jaspers damit auf ein vorontologisches Zeugnis zurück? Er selbst würde es vermutlich nicht so bezeichnen, doch die Intention, gerade auf eine traditionelle Quelle Bezug zu nehmen und ihr plausibilitätssteigernde Wirkung zu attestieren, kann mit Heideggers Schritt verglichen werden. Dabei ist dieser nicht als Novum zu betrachten. 1927 erschien Der Stern der Erlösung des jüdischen Denkers Franz Rosenzweig, der in so vielerlei Hinsicht Motive und Argumentationen des späteren existentiellen Denkens antizipiert. An jener Stelle seiner Schrift, an der von der Verwandlungsfähigkeit des Menschen zum eigentlichen Selbst die Rede ist, fügt auch Rosenzweig ein vorontologisches Zeugnis ein, indem er auf Zeilen aus dem Hohelied Salomos verweist. Drei Denker, die in unterschiedlicher Weise dem existenzphilosophischen Kontext zugerechnet werden können, stützen sich in dem Moment, in dem nach logischem Verständnis eine Begründung oder gar ein Beweis der Tatsache zu erwarten wäre, dass der Mensch anderes zu sein vermag, als er ist, auf nicht-philosophische Quellen. Damit stellen sie ihre eigenen Vorstellungen in die Kontinuität jenes Denkens des AndersMöglichen, die ihre Überzeugungskraft aus eben dem Umstand gewinnen, den 78
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Karl Jaspers nennt: «es geht durch die Jahrhunderte». Da dieser Hinweis anstelle einer rational nachvollziehbaren Erklärung wirken soll, ist es nicht unangemessen, nach seiner Überzeugungskraft zu fragen. Kommt etwas, das sich in verschiedenen Religionen und Kulturen findet, per se Geltung und Aussagewert zu? Zumindest ein vorsichtiger Zweifel kann erhoben werden. Denn daraus, dass etwas von vielen vertreten wird, resultiert nicht zwangsläufig dessen allgemeine Qualität. Liegen uns also drei Beispiele eines im Grunde problematischen Vorgehens vor, an religiöse und kulturelle Kontinuität dort zu appellieren, wo Beweise nicht möglich sind? Es wäre ein Irrtum, hier dreimal eine Begründung anstelle eines Beweises suchen zu wollen. Die Absicht, der Rosenzweig, Heidegger und Jaspers folgen, zielt auf einen anderen Gedanken. In den Vorlesungen liegt eine vielleicht nicht überzeugende, doch in jedem Fall auf eigener Geltung beruhende Erklärung vor, wenn er nach der Bedeutung jener Erfahrensformen fragt, die er als Chiffren bezeichnet: Wir leben in unserem Dasein in einer Welt, in der all diese […] sind, vorkommen, uns ansprechen, vieldeutig bleiben, und uns, so lang wir leben, in der Unruhe halten, was es bedeutet, was es für uns bedeutet. Und in dieser Unruhe, […] ist dann die Frage nach Gott, nach der Transzendenz, nach dem Etwas, durch das wir sind, das wir befragen und von dem wir hören möchten, dass es ist, was es ist, […].79
Das Bedeuten greift «über den Menschen hinaus» und gibt uns die Möglichkeit, uns im «Vorstellen und Denken» darauf zu beziehen. Bedeuten und Sich-Beziehen hängen in Jaspers’ Verständnis auf engste Weise zusammen und stützen sich in ihrer existentiellen Relevanz. Etwas würde mir nichts bedeuten, wenn ich mich nicht darauf beziehen könnte, so wie ich mich auch nur auf etwas beziehen kann, das mir etwas bedeutet. Im Auslegungsfeld des Begriffes vom Bedeuten steht eine Lesart hier im Vordergrund. Mir wird bedeutet, etwas zu tun, überwiegt das Verständnis als: Etwas ist von Belang für mich. Zwei Aussagevarianten desselben Begriffes, der auffallend klar an die Weise erinnert, in der Martin Heidegger davon spricht, dass uns etwas «angeht». Auch in dieser Formulierung schließen sich zwei Auffassungen aneinander, indem mich etwas betrifft und damit eine Forderung an mich gestellt wird, beziehungsweise ich mich zu etwas aufgefordert fühle. Der Wunsch, den Karl Jaspers ausspricht, wenn er schreibt, wir möchten hören, dass es sei, was es sei, kann eine gewisse Tragik nicht gänzlich verbergen. Denn woher sollte die Bestätigung dieser Annahme kommen, wenn sie nicht der Mensch selbst durch sein Sein bezeugt? Die Frage, was Transzendenz ist, kann nicht unter Hinweis auf sie selbst beantwortet werden, sondern allein durch unsere Frage nach ihr. Das Vorverständnis klingt bereits in der Frage an, so beschreibt Heidegger die Voraussetzung dafür, überhaupt nach dem Sinn von Sein suchen zu können, der nur dadurch auszumachen ist, dass wir die Frage in jene 79
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nach dem «Wer» des Daseins ummünzen, die niemand sonst beantworten kann als derjenige, der sich im Dasein befindlich denkt. Die Frage danach, was über das Sein der Welt hinaus sein kann, stellt derjenige, der von Grund auf weiß, dass es dieses ‹Über-Hinaus› zu bedenken gilt, weil er es zu spüren vermag. In Fortsetzung dieses Gedankens kann Jaspers erklären: Wir sind nicht so, wie wir sind, sondern immer in der Gefahr, es nicht mehr zu sein, unter der Aufgabe, es werden zu wollen. […] Aber in dem Ursprung dessen, wo wir eigentlich sind, und von woher wir […] unseren Willen kontrollieren und den Sinn der Wissenschaft feststellen, dieses Etwas ist das, was an der Grenze liegt, an der unsere Sprache aufhört, und unsere Grunderfahrung, wie mir scheint, die allerentschiedenste ist, […].80
In dieser Grunderfahrung erleben wir uns selbst als Erfahrende, die Grund der Erfahrungsmöglichkeit von Transzendenz sind. Dass Erfahrung weiter greifen kann, als Sprache zu reichen vermag, ist vor allem als Absage an das wissenschaftliche Sprechen zu verstehen und weniger als Andeutung eines generell Unaussprechlichen, denn Transzendenz spricht sich nach Jaspers’ Überzeugung in jedem Augenblick aus, in dem wir nach ihr fragen. Die Zirkularität dieses Gedankenganges ist offensichtlich. Ob sie auch offensichtlich dessen Überzeugungskraft schmälert, kann letztlich nur je individuell entschieden werden. Es ist dieselbe Zirkularität, der wir in Sein und Zeit begegneten, wie gerade noch einmal in Erinnerung gerufen wurde. Und doch, man möge mir meine Einlassung nachsehen, wirkt sie dort weniger problematisch. Denn indem Heidegger nicht nach dem Selbst fragt, um die Frage nach dem Sinn von Sein beantworten zu können, sondern nach dem Sein, in dem diese gestellt wird, lenkt er den Fokus auf das Sein der Welt, zu der auch der Mensch zählt. In der frühen Phase seines Denkens entstammt dieser Ansatz dem stark formalistischen Interesse am Sein und seinen Aufweisungsmodifikationen wie Dasein und Welt. In den späteren Jahren verstärkt sich die Ausrichtung der Aufmerksamkeit in eindrucksvoller Weise auf die Beachtung des Dinglichen, das unmittelbar Grund der Erfahrung von Seyn werden kann, wenn es in der Form des zweckungebundenen Denkens reflektiert wird. Für Heidegger ist Grunderfahrung, um diesen Ausdruck von Jaspers zu übernehmen, Erfahrung des Dinglichen in der Welt, wie nicht zuletzt in seinem Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes erkennbar wird, wenn er vom Sich-insWerk-Setzen der Wahrheit spricht.81 Im Kunstwerk wird diese Beachtung des Gegenständlichen in seiner elementaren Seins-Präsenz abgebildet. Wenn Jaspers von der Welt spricht, zeigt sich ein anderer Schwerpunkt. Sie ist die uns Fremde und in ihrer Faktizität Unzugängliche, obwohl sie gerade aufChiffern der Transzendenz, S.41. «So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.» Der Ursprung des Kunstwerkes, S.30. 80
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grund ihrer Faktizität die zuallererst Begreifbare sein könnte. Doch sie vermag seiner Auffassung nach eben nicht, wie es Heidegger darstellt, unser Fragen nach uns selbst in gleicher Weise auszulösen und zu beantworten. Stattdessen heißt es in Philosophie II, wir müssten uns ihr gegenüber in Distanz begeben, um frei für die Erfahrung von Transzendenz zu werden. Dauerhaft wird diese Distanzierung nicht bestehen, da auch von einem Einsenken in die Welt im Wissen um Transzendenz die Rede ist. Doch wirkt das Sprechen von Welt hier eher wie ein unumgänglich Erforderliches, das nun einmal zu bedenken ist, da sie Ort unseres Sein-Könnens ist. Ort dieses Könnens, doch nicht sein Grund, so ist zu ergänzen. Dass für uns etwas aussteht, betont Jaspers immer wieder, etwas, dessen Sinn sich uns erst in dem Moment erschließt, in dem wir ihn in unserem Spüren des Anderen bestätigt finden. Aber es ist eben seiner Auffassung nach ein Anderes als Welt erforderlich, um unsere Ahnung des Ausstehenden erwecken zu können. Diese Ahnung wird nicht rational greifbar, sondern nur mittels jenes Spürens, dessen Begriff in der Terminologie der Chiffern der Transzendenz so oft Erwähnung findet. In der Ahnung des Anderen geht es nicht primär darum, dieses kennen zu lernen und sich mit seiner möglichen Struktur vertraut zu machen, sondern die Wirkung zu erfassen, die durch sie in unserer Selbstwahrnehmung hervorgerufen wird. Denn dass wir uns in Distanz zur Welt bringen können, ist Zeichen unserer Freiheit, die wir ergreifen, weil wir sie bereits vollzogen haben. Es ist nicht so, dass eine vage Vorstellung von Freiheit uns den Entschluss fassen lässt, nach einem Anderen der Welt zu suchen. Vielmehr geht aus der Erfahrung, dass diese uns offensichtlich nicht zu befriedigen vermag, der Gedanke der Freiheit hervor, die mich denken lässt, was mich eigentlich sein lässt. Diesen Vorgang auf eine einzige Ursache zurückzuführen, ist ebenso unmöglich, wie ihn etwa als Wirkung der Transzendenz zu begreifen. Denn diese wirkt nur dort, wo wir sie bereits als wirksam vorausgesetzt haben. Ebenso wäre es nach Jaspers’ Auffassung unmöglich, nur uns selbst als Quellgrund des Gedankens der Transzendenz betrachten zu wollen, denn wir müssen uns etwas konfrontiert sehen, das uns umgibt und umfängt. Gerade diese letztgenannte Qualität findet Jaspers in der Welt nicht gegeben. Das komplexe Geflecht aus Begründung und Erfahrung fasst er folgendermaßen zusammen: Wir sind nicht frei durch uns selbst, sondern wir werden in unserer Freiheit uns geschenkt und wissen nicht, woher. […] Und wenn wir uns geschenkt werden, so liegt es so, dass je klarer unsere Freiheit uns im Augenblick ist ! […] dass wir dann umso klarer spüren, […] dass in dieser Freiheit jene Notwendigkeit steckt, die nicht durch die Welt kommt, […] Nicht aus irgendeinem der Gegenstände, die wir in der Welt erkennen, sondern wir nennen das, woher es kommt, die Transzendenz oder Gott.82
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Dass Karl Jaspers damit eine Auffassung vertritt, die im Rahmen dieser Überlegungen nicht geteilt werden kann, wird im weiteren Verlauf zu begründen sein. Da es im Moment darum geht, Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Deutung des Existenz-Begriffes aufzuzeigen, der in verschiedenen Konzeptionen existenzphilosophischen Denkens vertreten wird, genügt der erste Hinweis. Mit Blick auf Jaspers’ Positionierung innerhalb dieses Tableaus philosophischer Standortbestimmungen hat sich bisher angedeutet, dass es sich bei Existenz und Transzendenz um zwei aufeinander verweisende Begriffe handelt. Wie wirkt sich nun also die Einsicht, dass wir im Spüren unserer selbst die Gewissheit von Transzendenz erleben, auf sein Verständnis von Existenz aus? Immer wieder ist in Jaspers’ Schriften und diesen Betrachtungen von Transzendenz als dem Anderen die Rede. Damit mag ein irreführender Eindruck erweckt werden. Denn das Andere ist nicht ein der Zugänglichkeit gänzlich Entzogenes, wie es von ihm vielleicht in einem als absolut zu verstehenden Sinne zu denken wäre. Die Andersheit von Transzendenz ist stets komparativ zu sehen, insofern es das Andere eines Bestehenden ist und sich in seiner Denkmöglichkeit von dessen Erkenntnis abhebt. So führt Jaspers seinen Begriff von Transzendenz in Abhebung vom Erkennen der Welt an, der sie kontrastierend, aber doch komplementär zugeordnet wird. Sind Transzendenz und Welt in einer offenen Verweisungsstruktur einander beigeordnet, muss es eine Möglichkeit geben, Transzendenz in Welt zu erleben. In diesem Zusammenhang spricht Jaspers vom Spüren, das mich die Gewissheit des Anderen begreifen lässt. Doch würde dieses Erleben letztlich dem Gedanken von Transzendenz nicht gerecht, würde es sich nicht in einem Akt der Reflexion dem Verstehen analog präsentieren? Hier wird der Gedanke der Existenz relevant. «Als Existenz bin ich, indem ich mich durch Transzendenz mir geschenkt weiß.»83, so heißt es in der ersten Vorlesung, die Karl Jaspers 1947 in Basel hielt. Und weiter erklärt er: «Eigentlicher Glaube aber ist der Akt der Existenz, in der Transzendenz in ihrer Wirklichkeit bewußt wird.“ Man könnte zweifeln, ob diese Konnotationen des Existenz-Begriffes überhaupt Ähnlichkeit zu seiner Verwendung bei Martin Heidegger und, wie noch zu zeigen sein wird, bei Heinrich Barth aufweist. Trotz seiner Bindung an das Denken von Transzendenz zeigt der Begriff der Existenz eine grundsätzlich vergleichbare Bestimmung. «Wir sind mögliche Existenz. Wir leben aus einem Ursprung, der über das empirisch objektiv werdende Dasein, über Bewußtsein überhaupt und Geist hinaus liegt.»84 Dieser Ursprung ist also nicht in der Welt zu finden, wenngleich es in ihr Verweisungssignaturen gibt, die auf ihn hindeuten. Erkennbar sind für uns nur diese Signaturen. «Da aber die Begegnung von Existenz und Transzendenz Begegnung in der Welt ist, ist sie für die Zeit an die Welt gebunden. Weil, was für uns ist, in der
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Zeitlichkeit des Weltseins erscheinen muß, gibt es kein direktes Wissen von Existenz und Gott.»85 Wenn gerade vom Reflektieren gesprochen wurde, das ein dem Verstehen analoges Erfassen erlaubt, führt die Klärung dieses Motivs zurück zu den Vorlesungen, die Karl Jaspers 1935 in Groningen unter dem Titel Vernunft und Existenz hielt. Der Nachweis der funktionellen Vergleichbarkeit beider steht dort im Zentrum, einer Vergleichbarkeit, die auf «Zusammengehörigkeit» zurückgeführt wird.86 Dort heißt es: «Wie ich Bewußtsein nur bin, indem ich zugleich das Andere des gegenständlichen Seins erblicke, unter dessen Bedingungen ich da bin und mit dem ich umgehe, so bin ich Existenz nur in eins mit dem Wissen um Transzendenz als die Macht, durch die ich eigentlich ich selbst bin. […] Ohne Existenz fiele der Sinn von Transzendenz.»87 Hervorzuheben ist hier, dass Jaspers vom Sinn der Transzendenz spricht und damit signalisiert, dass der Verweisungszusammenhang beider durch ein Geschehen der Reflexion entsteht, in dessen Verlauf ich mir meiner selbst als eigentlich bewusst werde. Wird von diesem Punkt aus der Übergang zur Frage nach Vernunft und Existenz gewählt, wird schnell ersichtlich, dass Zusammengehörigkeit im Sinne funktionaler Angewiesenheit auf die jeweils andere zu verstehen ist. «Existenz wird nur durch Vernunft sich hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt. […] Jede ist erst durch die andere. Sie treiben sich gegenseitig hervor, finden aneinander Klarheit und Wirklichkeit.»88Um auf die Parallelisierung von Reflexion und Verstehen zurückzukommen, kann die Vergleichbarkeit beider nun so gefasst werden, dass beide nicht durch ein vermeintlich Objektives, das ihnen Gegenstand werden könnte, bedingt sind, sondern durch die erkennende Verschränkung, in der die Bestehensmöglichkeit beider sich vergegenwärtigt. Hatte Jaspers erklärt: «Wir sind mögliche Existenz», so beginnt sich nun abzuzeichnen, worin diese Möglichkeit besteht, nämlich in nichts anderem als im Modus der Selbst-Einsicht. Dieser Ausdruck entstammt nicht Jaspers’ Terminologie. Er wird an dieser Stelle verwendet, um jenen Vorgang zu beschreiben, den er mit dem Begriff der Existenz bezeichnet. Dass es keine Selbst-Erkenntnis sein kann, erklärt sich durch die Weise, in der philosophisch von Erkenntnis gesprochen wird, nämlich im Sinne objektivierenden Wissens. Objekt kann ich mir selbst als «mögliche Existenz» jedoch nicht werden: Ist also Existenz unzugänglich für den, der nach ihr im Medium des nur objektiven Verstandes fragt, bleibt sie dem dauernden Zweifel preisgegeben; kann aber kein Beweis mich zur Anerkennung des Seins der Existenz zwingen, so bin ich denkend doch nicht am EnDer philosophische Glaube, S.33. «Vernunft und Existenz. Die abkürzende Formel soll keine Antithese bedeuten, vielmehr eine Zusammengehörigkeit, die zugleich über sich hinausweist.» Vernunft und Existenz, S.33. 87 Vernunft und Existenz, S.44. 88 Vernunft und Existenz, S.49 f. 85
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de: über die Grenze des gegenständlich Wißbaren hinaus gelange ich durch einen nicht mehr rational einsichtig zu machenden Sprung.89
Kommentieren diese Zeilen vornehmlich die Frage, wie ich mich in Freiheit der Existenz zuwende, ist diese nicht von der Überlegung zu trennen, wohin ich mich in ihr wende. Für Karl Jaspers scheint die Antwort festzustehen: Zu einer Einsicht in die mögliche Existenz, was nicht als Einsicht in die Möglichkeit von Existenz zu verstehen ist. Handelt es sich aber nicht nur um eine Spielerei mit Worten ohne tiefere Bedeutung? Tatsächlich wiegt der Unterschied zwischen beiden Formulierungen schwerer, als vermutet. Einsicht in die mögliche Existenz setzt sie dadurch als präformiert voraus, da sie in der Gewissheit von Transzendenz gründet. Zwar kann sie nicht allein aus diesem Grund erscheinen, doch würde das Wollen von Existenz scheitern, wenn es sich nicht in der Selbstverständlichkeit dieser Gewissheit zu begründen wüsste. Einsicht in die Möglichkeit von Existenz benennt der Sache nach einen ähnlichen Vorgang, in dem ich mich selbst ergreife. Allerdings spielt dieser sich ohne die scheinbare Notwendigkeit ab, Transzendenz zu denken. Seine Begründung muss folglich, da sein Grund ein anderer ist, anders buchstabiert werden. Ich bin der Grund, auf dem sich Transzendenz als Begründung möglicher Existenz spiegelt, so könnte in einiger Großzügigkeit die Sichtweise von Karl Jaspers zusammengefasst werden. Und wie würde die Auffassung von Martin Heidegger zu umschreiben sein? Im Sein liegt der Grund meines Sein-Könnens, das keiner weiteren Begründung bedarf. Darin, Existenz als Sein in Möglichkeit zu denken, stimmen beide überein, doch ist dieses gewiss eine schmale Basis der Vergleichbarkeit. Sie ist dazu geeignet, den Begriff der Existenz aus seiner Bedeutung als Seins-Aussage zu lösen und ihn zum Verweisen auf ein ‹Noch-Nicht› zu nutzen. Insofern setzt dieses Verständnis den Begriff der Existenz eindeutig gegen derartige Verwendungen ab, die ihm das Testat von Faktizität zuordnen. Für eine Positionierung von Existenzphilosophie ist diese Differenzierung keinesfalls zu unterschätzen, da die Denkbarkeit eines ‹Noch-Nicht› im Sein dem Menschen die Freiheit des Selbst-Entwurfes eröffnet. Wird dann jedoch überlegt, ob diese Philosophie auch eine innere Homogenität zu erkennen gibt, überwiegt die Feststellung ihrer Differenziertheit. Dass hierbei unter anderem die Frage entsteht, ob das Sein zum Existentiellen Gegenstand menschlichen Wollens sein kann, wurde bereits angedeutet. Es spricht einiges dafür, dass beide Denker diese in unterschiedlicher Weise beantworten würden. Für Martin Heidegger ist es von elementarer Bedeutung, bereits in Sein und Zeit darauf hinzuweisen, dass der Aufruf zum Selbst-sein-Können eher als Geschehen zu begreifen ist, das über uns kommt. Sich ansprechen zu lassen setzt natürlich die grundsätzliche Empfänglichkeit für eine derartige Aufforderung voraus. Doch scheint es so zu sein, dass ich mich, habe ich den Ruf einmal ver89
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nommen, weder dagegen entscheiden kann, ihm zu folgen, noch über die Richtung zu befinden vermag, in die er mein Denken und Handeln lenkt. Denn beide Wirkweisen entstammen ihrer Gründung im Sein – das heißt für Heidegger: im Sein der Welt – und drücken sich auch unmittelbar dort aus. Da der Seins-Bezug zu keinem Moment aufgekündigt wird, ist keine zusätzliche Motivationsquelle erforderlich, die darüber Aufschluss gibt, was es bedeutet, existierend zu sein. Die Bemerkung, der Welt-Bezug würde nicht infrage gestellt, muss an einem Punkt präzisiert werden. Denn mit großer Leidenschaft thematisiert Heidegger eine notwendige Distanzierung von unserem zweckorientierten Denken und Tun, das wir tagtäglich im Dasein, in der Welt, praktizieren. Allein die Kontrastierung der beiden Formen des «vorstellenden» und des «schonenden Denkens» gibt hierüber Aufschluss. Während ersteres das Dingliche der Welt ohne Einschränkung dem menschlichen Verfügungsstreben unterwirft und es zum Objekt abschätzenden Nutzungsanspruches macht, tritt Letzteres an, um den Eigenwert des Gegenständlichen, der als Gegenständigkeit bezeichnet werden kann, zu erkennen und zu respektieren. Dass dieser besondere Gedanke Gefahr läuft, dadurch unterlaufen zu werden, dass die Beurteilung des Eigenwertes eines anderen letztlich nur Projektion eigener Sichtweise sein könnte, ist an anderer Stelle diskutiert worden.90 Hier ist lediglich auf die Problematik aufmerksam zu machen, die dann entstehen kann, wenn behauptet wird, das Eigentliche, das heißt das Eigene, eines Anderen – ganz gleich, ob es sich um einen anderen Menschen oder ein Ding handelt – abschätzen zu können. Wie variabel sind die Grenzen unseres Erkennens, wenn sie auf Anderes treffen und diesem in der allerbesten Absicht gerecht zu werden suchen. Es ist eines der unschätzbaren Verdienste von Emmanuel Lévinas, diese Frage mit unablässiger Intensität immer wieder artikuliert zu haben. Als ein Beleg für Heideggers Zurückweisung willentlicher Intervention im Prozess der Existenz-Findung kann auf die besonders in den 1950er Jahren vorgenommene Akzentuierung des Motives des Sich-angehen-Lassens hingewiesen werden. In seinem Denken – und vielleicht nicht nur in diesem – ist kein eindringlicherer Ausdruck einer Haltung der Empfänglichkeit vorstellbar, die, ohne Erwartung zu sein, das Andere in den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit aufnimmt. Dieses Sich-angehen-Lassen ist weit davon entfernt, Zeichen von Passivität zu sein, die sich nach Heideggers Auffassung nicht nur im Handeln zu erkennen gäbe, sondern im Erkennen. Doch läge es nicht nahe, dort von untätiger Enthaltung zu sprechen, wo kein Wille zum Erkennen, kein interessegeleitetes Verstehen-Wollen nachzuweisen ist? Beides sind, davon ist Heidegger überzeugt, Formen einer besitzergreifenden Haltung im Sein, was sicherlich schnell zum Widerspruch reizt. Denn es scheint doch eine arge Simplifizierung vorzuliegen, wenn jedes Erkennen-Wollen unabhängig von seinem Mo90
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Eine Erörterung dieser Problematik findet sich in Neue Überlegungen zur Existenzphiloso-
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tiv als Zeichen vereinnahmenden Denkens gewertet wird. Die Gesetzmäßigkeiten in der Natur verstehen zu wollen, um deren eventuelles Gefährdungspotential für den Menschen zu minimieren, ist ein Vorgang zweckorientierten Denkens und kann nicht als Form falschen Denkens betrachtet werden. Ein solcher Einwand verfehlt Heideggers Anliegen. Er leugnet keineswegs den Nutzen und sogar die Notwendigkeit zielführenden Denkens, sondern erklärt, dass dieses nicht zum Verstehen des Seins führen könne. Hierfür ist jene Freiheit des Denk-Möglichen erforderlich, die tatsächlich nur von zweckungebundenem Denken gewährleistet werden kann, das nicht antritt, etwas zu denken, sondern sich zum Denken bewegen lassen will. Diese Formulierung legt sofort eine Problematik offen, der sich eine Konzeption vom Denken stellen muss, die es als zielunbedürftig erachtet. Selbst der Vorsatz, mich von Anderem ohne dessen vorherige Titulierung als Objekt meines Interesses angehen lassen zu wollen, offenbart meine Unfähigkeit hierfür. Denn selbst in dieser vielleicht anerkennenswerten Absicht liegt ein Vorsatz vor. Um es noch einmal zu betonen: Mit diesen Überlegungen befinden wir uns im Kontext existenzphilosophischer Diskussion, der es um die Frage geht, wie ein Mensch das ihm Mögliche erkennen und verwirklichen kann. Pragmatische Aspekte der Nutzenabschätzung und Risikobeurteilung eines solchen Fragens für die konkrete Lebensführung im Miteinander sind davon im Moment noch unbenommen. Ausgangspunkt dieser letzten Erwägungen war die Differenz, die sich zwischen den Bewertungen des Wollens in den Konzepten von Martin Heidegger und Karl Jaspers andeuten. Für Heidegger ist das Frei-Werden zum eigensten Sein-Können, das heißt zur Existenz, nur unabhängig von einer willentlichen Präferenz zu denken, da andernfalls gerade das Frei-Werden einem vorgeordneten Sinn unterworfen wäre, der den Gedanken des Frei-Seins von Anfang an ad absurdum führen würde. Wenn gerade von einer unterschiedlichen Bewertung der Möglichkeit des Wollens mit Blick auf Existenz gesprochen wurde, ist nun noch einmal zu prüfen, ob Jaspers an dieser Stelle wirklich anders vorgeht als Heidegger. Wenige Hinweise auf seine Sicht des Welt-Seins konnten bereits vorgenommen werden, die nun um folgende Feststellung erweitert werden können: «Die Erfüllung des Daseins ist Weltsein. Mögliche Existenz ist in der Welt als dem Felde, auf dem sie sich erscheint. Welt als das Gewußte ist das Fremde. Ich stehe zu ihr in Distanz; […].»91 Warum wird in einem Zusammenhang, der der Frage nach der Funktion des Wollens gilt, nun noch einmal auf Jaspers’ Verständnis des Welt-Bezuges des Menschen eingegangen? Weil dieser Bezug für beide Denker von entscheidender Bedeutung für die Klärung der Weise des Sich-selbst-Ergreifens ist. Eine solche Formulierung würde Heideggers Verständnis insofern verfehlen, als er eher vom Ergreifen des Eigensten-Sein-Könnens sprechen würde. Ein Interesse an einer Theorie des Selbst als psychologischem Begriff, das in diesem Ergreifen zu erken91
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nen ist, ist seinen Schriften nicht zu entnehmen, ganz im Gegenteil. Ihm geht es um das Sein-Können, das Ausdruck möglichen Selbst-Seins ist. Eine Frage, die an dieser Stelle zu stellen ist, lautet nun: Wie viel Individualität kommt dem eigensten Sein-Können zu? Dass es nicht völlig abwegig ist, diesen Aspekt hier zu thematisieren, geht aus der Kontrastierung von Man-Selbst und eigentlichem Selbst hervor, die sich in Sein und Zeit findet. Müsste dann nicht davon auszugehen sein, dass Letzteres individuiertes Sein ist? Dass eigenstes Selbst-Sein nur dem Einzelnen zugesprochen werden kann, hat sich bereits gezeigt. Erübrigt sich dann nicht die Frage nach dessen individuellem Profil, da es einen Widerspruch in sich bedeuten würde, zwar den Einzelnen denken, aber dessen Individualität unberücksichtigt lassen zu wollen. Erneut ist daran zu erinnern, dass es sich bei Sein und Zeit um eine Strukturanalyse des Seins und nicht um eine Schrift zur SelbstKonstituierung handelt. Können diese beiden Bestimmungen aber überhaupt differenziert werden? Sie müssen sogar unterschieden werden, um an diese Schrift Heideggers keine Erwartungen zu richten, die sie nicht befriedigen will. SelbstSein ist, so lesen wir, in den beiden Modi des Man und des Eigentlichen formal zu erfassen. Während Ersterer dem Sein der Öffentlichkeit entspricht, hebt sich Letzterer dadurch ab, dass er das Sein des Einzelnen kennzeichnet. Damit stellt Heidegger, auch wenn seine Darstellung vorübergehend einen anderen Eindruck zu erwecken scheint, nicht die konkrete Masse und das Individuum gegenüber, sondern zwei formal zu begreifende Modifikationen des Sein-Könnens. Eine formale Aufweisung bedarf keiner Spezifizierungen. Daher erübrigt sich im Kontext dieser Schrift die Überlegung, wodurch sich der Einzelne individuiert. Zwei Individuen unterschiedlicher Sozialisation und kultureller Zugehörigkeit würden, um ein Beispiel einzufügen, von dem Heidegger vermutlich wenig halten würde, das eigenste Selbst-Sein-Können in ein und derselben formal zu denkenden Weise ergreifen, insofern sie dazu überhaupt nur im Seins-Modus der Vereinzelung fähig sind. Wodurch sie sich dann jedoch vereinzeln? Nicht der eine vom anderen Einzelnen, sondern der ontologisch zu denkende Einzelne vom Man. Weiter braucht Heidegger in diesem Moment seiner Argumentation nicht zu gehen. Denn damit hat er die Voraussetzung benannt, die sich erfüllt, wenn vom eigensten Selbst-Sein die Rede ist. Weiterführende Überlegungen, die der Klärung von spezifischen Folgeaspekten dieser Auffassung gelten würden, muss er tatsächlich nicht anstellen, auch wenn vermutlich gerade sie es sein würden, die Sein und Zeit zu einem Text werden ließen, der dem Menschen und weniger dessen Sein gilt. Vor allem an dieser Stelle könnte ein Einwand erhoben werden. Widerspricht nicht die Erörterung des vorlaufenden Verstehens, das mir die Möglichkeit des eigenen Todes als Möglichkeit vor Augen führt, dem gerade Gesagten. Wenn dort ausgeführt wird, dass ich mit der Einsicht in die Unvertretbarkeit konfrontiert werde, insofern diese Möglichkeit nur von mir übernommen werden kann, scheint es sich doch um ein zwar verhalten skizziertes, doch unverkennbares Plädoyer für die individuelle Einstellung dem eigen Nicht-mehr-Sein https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gegenüber zu handeln. Die Antwort auf diese Entgegnung mag ernüchtern, vielleicht sogar enttäuschen, denn sie kann nur das gerade Festgestellte unverändert wiederholen. Das Sein zum Tode ist keine Erörterung individuellen Erkennens und Verhaltens, sondern formale Skizzierung der Tatsache, dass dieses Sein nur vom Einzelnen übernommen werden kann. Damit deckt Heidegger auch in diesem Zusammenhang ein Strukturgesetz der Seins-Verhaltung auf und versucht nicht, Aussagen über die unterschiedlichen Ansätze zu treffen, wie Individuen als Einzelne agieren könnten. Zur Anknüpfung an den ursprünglichen Gedankengang, der der Klärung der Funktion des Wollens im Denken von Heidegger und Jaspers dient, kann nun gefragt werden, ob es eine vergleichbare Konzeption auch in den Texten von Karl Jaspers gibt. Es ist eine plakative Weise, zu antworten, doch soll sie hier um der eindeutigen Kontrastierung beider Positionen willen gewählt werden: Martin Heidegger denkt Sein, Karl Jaspers den Menschen im Sein. Fast erübrigt sich die Bemerkung, wie selten sich der Begriff des Menschen in Heideggers Schriften nachweisen lässt. Stattdessen ist vom Dasein die Rede und der Mensch findet als dessen «Wer» Erwähnung. An dieser massiven Zurückhaltung, vom Menschen zu sprechen, wird sich auch in den späteren Texten kaum etwas ändern, in denen der Ausdruck «die Sterblichen» präferiert wird, um diese etwa in das Bezugskonstrukt des Gevierts zur Veranschaulichung der Verwiesenheit im Sein einfügen zu können. Karl Jaspers versucht im Gegensatz dazu, so weit wie möglich auf die Erwähnung des Seins-Begriffes zu verzichten, was ihm jedoch nur in begrenztem Maße möglich ist. Denn Existenz bezeichnet er als «Sein», dessen Beschreibung nun noch einmal zitiert werden soll: «[…] was gibt es dem gesamten Weltsein gegenüber? Das Sein, das – in der Erscheinung des Daseins – nicht ist, sondern sein kann und sein soll und darum zeitlich entscheidet, ob es ewig ist. Dieses Sein bin ich selbst als Existenz.»92 Damit stellt Jaspers gleich zu Beginn seiner weit angelegten Untersuchung zur «Existenzerhellung» ewiges und zeitliches Sein gegenüber, oder um es präzise zu formulieren: SeinKönnen als Möglichkeit ewigen Seins in der Zeit und Faktizität. Ein Wort aus obiger Formulierung zieht die Blicke unmittelbar auf sich. Das Sein, das sein «kann und sein soll». In einer Frage nach der Bedeutung des Wollens spielt dieser Begriff des Sollens natürlich eine herausragende Rolle. Denn er scheint bei unvoreingenommener Lektüre sofort auf die Vorstellung von Verbindlichkeit zu deuten, die von diesem Sein ausgeht. Von welchem Sein? Es ist nicht das Sein des Daseins gemeint, das in der Zeit zu erfahren ist, sondern jenes Sein, «das nicht ist», sehr wohl aber werden kann und dann mit dem Begriff der Existenz zu bezeichnen ist. Aus dieser gedanklichen Spannung zwischen dem ‹Noch-Nicht›, das sein soll, und dem Können, das ihm korrespondiert, bezieht Jaspers letztlich den Hintergrund für seine Einführung des Begriffes der Transzendenz. Denn er muss begründen können, woher die Überzeugung stammt, an dieser Stelle von 92
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einem Sollen sprechen zu können, zumal deshalb, weil er sehr deutlich zeigt, dass dieses nicht aus dem Sein der Welt abzuleiten ist. Sie fordert seiner Auffassung nach geradezu die Suche nach ihrem Anderen, das ihr gegenüber zu denken ist. So gibt es denn seiner Ansicht nach Sein in zwiefältiger Weise, als Sein der Welt und als Sein der Existenz. «Jenes ist da oder nicht da, Existenz aber, weil sie möglich ist, tut Schritte zu ihrem Sein oder von ihm hinweg ins Nichts durch Wahl und Entscheidung.»93 Unmissverständlicher scheint nicht vom Wirken des Wollens gesprochen werden zu können. Weiter heißt es: «Mein Dasein ist endlich, sofern es nicht alles Dasein ist, […] auch Existenz ist nicht für sich allein und nicht alles; denn sie ist nur, wenn sie bezogen ist auf andere Existenz und auf Transzendenz, von der als dem schlechthin Anderen sie sich bewußt wird, nicht durch sich selbst allein zu sein; […].»94 Eine solche Anerkennung eines «schlechthin Anderen» wäre für Heidegger inakzeptabel, da es ein Anderes des Seins seiner Auffassung nach nicht gibt. Nicht einmal dem Seyn könnte ein solcher Rang zufallen, da es Modifikation des Seins ist und damit nicht schlechthin anders sein kann. Im weitesten Sinne stimmt Karl Jaspers’ Deutung insofern mit der von Martin Heidegger überein, als beide Existenz als Weise des Seins betrachten. In beiden Fällen zeichnet sich mit dem Denken von Existenz die Vorstellung eines Ausgleiches der Unerfülltheit ab, die dem Menschen spürbar werden kann. Dass hierfür außergewöhnliche Situationen erforderlich sind, deren Erleben einer psychischen Erschütterung unserer bisherigen Seins-Weise gleichkommt, kennzeichnet nicht nur diese beiden Konzepte, sondern zählt zu den wenigen, aber umso wichtigeren Konstanten existenzphilosophischen Denkens. Noch einmal ist nun allerdings darauf zu achten, wo und mit welchen Folgen diese Erschütterung, im Erleben von Angst exemplarisch ausgelöst, stattfindet. Heidegger lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich im Sein und zwar dem einzigen Sein, das uns gegenwärtig ist, ereignet. Wenn er davon spricht, dass eine Befreiung aus dem Man vonnöten sei, um eigentliches Selbst-Sein ergreifen zu können, dann handelt es sich dabei tatsächlich nur um eine Lösung aus deren Seins-Vorgaben diktierendem Einfluss. Ganz anders verhält es sich bei Karl Jaspers. Hier ist explizit von einer Distanzierung zur Welt die Rede, der, wie die gerade angeführten Zeilen belegen, ein anderes Sein zugesprochen wird als der Existenz. Jaspers macht kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass Spannungen unser Verständnis der möglichen Existenz prägen,95 die sich in diesem Kontext als Spannung zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit, zwischen Existenz und Welt-Sein darstellen. Aufgrund dieser dualen Konzeption stellt der Gedanke von Transzendenz für ihn keine unPhilosophie II, S.2. Philosophie II, S.2. 95 «Welt und Existenz stehen in Spannung. Sie können weder eines werden noch voneinander sich scheiden.» Philosophie II, S.4. 93 94
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erfüllbare Herausforderung dar. Zunächst kann er festhalten: «Daher unterscheidet sich mögliche Existenz von der Welt, um dann eigentlich in sie einzutreten. Sie löst sich von der Welt, um in ihrem Ergreifen mehr zu gewinnen, als Welt sein kann.»96 Angereichert durch die Gewissheit von Transzendenz ist zwar wohl eine andere Sicht auf die Welt zu finden, doch bedarf es zu ihrer Erlangung einer vorübergehenden Distanzierung von der Welt, die Jaspers, um es noch einmal in Erinnerung zu rufen, als «Inbegriff alles dessen, was mir durch Orientierung des Erkennens als ein zwingend für jedermann wißbare[r] Inhalt» bezeichnet hatte.97 In einer Untersuchung, die sich primär mit dem Denken von Karl Jaspers beschäftigen würde, wäre an dieser Stelle auf den Begriff der «Existenzerhellung» einzugehen, die als eine Reflektion des Existenzvollzuges verstanden werden kann.98 Im vorliegenden Zusammenhang muss es bei dieser einen Erwähnung bleiben, da nicht der Weg möglicher Reflexion von Existenz zur Diskussion steht, sondern deren originärer Vollzug. Nach Jaspers’ Auffassung ist dieser nicht unabhängig von dem Bezug zu Transzendenz erklärbar, wobei dieser, wie gerade erwähnt, als eine besondere Weise des Seins zu verstehen ist. Es ist keineswegs übertrieben, daher vom Anderen zu sprechen, als das Transzendenz «zu mir spricht».99 Zu mir und offenbar nicht «zu jedermann und nicht jederzeit gleich. Ich muß für sie bereit sein, wenn ich sie hören will. Komme ich nicht entgegen, so entzieht sich, wohin ich transzendieren könnte, weil es nur für Freiheit und durch Freiheit ist und gar nichts Zwingendes hat.»100 Nichts Zwingendes, doch wie es scheint, etwas, das der Vorbereitung oder Bereitschaft bedarf. Weil Jaspers Transzendenz als Weise des Seins betrachtet, die sich vom Welt-Sein unterscheidet, kann er diesen Gedanken problemlos zulassen, der für Heidegger nicht ohne Weiteres zu akzeptieren wäre. Denn es gibt schon Sein, auf das sich Existenz entwerfen kann. In Heideggers Verständnis muss sich das existentielle Sein erst selbst gründen. Unzutreffend wäre es allerdings, Bereitschaft als ein tätiges Vorbereiten zu verstehen, das durch planendes Organisieren und gezielte Verwirklichungsmaßnahmen zu leisten wäre. Bereit-Sein bedeutet vielmehr grundsätzliche Offenheit für das Denken von Transzendenz, das weder beweisbar noch widerlegbar ist, da es sich dabei nach Jaspers’ Auffassung um eine Seins-Tatsache handelt. Ob es auch als Glaubens-Tatsache fungiert, wäre an anderer Stelle zu fragen. Wenn es denn einen Sinn gibt, in dem von Bereit-Sein für das Denken von Transzendenz gesprochen werden kann, dann liegt er im Ergreifen der Existenz. Erst aus ihr Philosophie II, S.4. Philosophie II, S.1. 98 «Ist Existenz wirklich vollzogenes Durchbrechen des Weltdaseins, so ist Existenzerhellung die denkende Vergewisserung dieses Durchbruchs.» Philosophie II, S.8. 99 Hier erneut zitiert aus: Philosophie II, S.3. 100 Philosophie II, S.3 f. 96 97
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weiß sich der Mensch in der Transzendenz stehend. «Erst möglicher Existenz wird an den Grenzen der von ihr im ‹Bewußtsein überhaupt› erkannten empirischen und der ihr in Kommunikation sich offenbarenden existentiellen Wirklichkeit das wirkliche Sein der Transzendenz fühlbar.»101 Als Möglichkeit finden wir uns in der Existenz, doch Transzendenz ist mehr als Möglichkeit, sie ist Sein. Während Existenz zu ergreifen ist, ist Transzendenz immer schon da, jedoch, so könnte es vielleicht formuliert werden, ungefühlt.102 Für die seit geraumer Zeit diese Überlegungen durchziehende Frage nach der Funktion des Wollens im Konzept von Karl Jaspers wird nun endlich die Beantwortung denkbar. Da Existenz und Transzendenz nicht identisch sind,103 kann er das Wählen im Kontext der Existenz für praktikabel erachten und es zugleich mit Blick auf Transzendenz verneinen.104 Denn wie sollte Sein Gegenstand der Entscheidung werden? Nicht wählbar und als Inhalt des Erkennens nicht planbar erweist sich Transzendenz als das andere Sein auch dadurch, dass es nur einen Weg zu ihrer Empfängnis gibt, wohingegen verschiedene Wege zur möglichen Existenz führen. «Es gibt im Dasein nicht den einzigen, festen, objektiv gewiß werdenden Weg der Existenz überhaupt, sondern eine Ungewißheit der Möglichkeit, in der Transzendenz zweideutig und fragwürdig bleibt, wenn man sie wissen will.»105 Hingegen löst sich diese Fragwürdigkeit in der Gewissheit der Begegnung auf. Auch wenn es verlockend ist, Existenz als Vorbereitung zum Erleben von Transzendenz zu begreifen, würde eine solche lineare Abfolge doch den Gedanken verfehlen. Es ist nichts Neues, gänzlich Unbekanntes, das sich in der Existenz erschließt, sondern Transzendenz liegt in ihr als die Begründung ihres eigenen Sein-Könnens. Auch hierbei ist nicht an das Wirken einer Ursache zu denken, denn beide, Existenz und Transzendenz, sind je schon verschränkt in ihrem jeweiligen Sein. Denn, um es nochmals zu betonen, Transzendenz versteht Jaspers als das andere Sein, das demjenigen der Welt gegenüber,– nicht entgegensteht. Existenz ist demnach immer schon auch in ihrem Sein gegründet. Existenz gibt dem Gedanken der Transzendenz Raum, so könnte die Vorstellung formuliert werden. Mit diesem Raumgeben ist für den Menschen die Einsicht verbunden, sich in dem wissen zu können, das es scheinbar selbst erst zum Ausdruck gebracht hat. Das Ergreifen der möglichen Existenz schwebt so lange in der Gefahr des Scheiterns, bis das Gegründet-Sein in Transzendenz, im anderen Sein, vergegenwärtigt wird. Erst Philosophie III, S.8. «Transzendenz ist, was uns täglich umfängt, wenn wir entgegenkommen. […] Zwar ist die Transzendenz das Sein, das nicht in Möglichkeit verwandelt werden kann.“ Philosophie III, S.33. 103 «Aber Transzendenz ist nicht Existenz.» Philosophie III, S.65. 104 «Aber niemals ist der Bezug auf Transzendenz einer planenden Veranstaltung zugänglich.» Philosophie III, S.68. 105 Philosophie III, S.69. 101 102
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dann ist im eigentlichen Sinn von Existenz zu sprechen.106 Auf die Tatsache, dass stets mit dem Sich-Ausbleiben von Existenz zu rechnen ist, solange dieses Gegründet-Sein nicht erfasst wurde, kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Als Faktum benannt reicht ihre Erwähnung momentan aus, um die Frage nach der Bedeutung der Wahl im Werden betrachten zu können. Es wurde bisher eine schmale Basis der Argumentation in der Vermutung gelegt, dass Karl Jaspers und Martin Heidegger deren Erfordernis im Ergreifen des eigentlichen Seins unterschiedlich bewerten. Getragen wird diese Auffassung durch die je eigenen Bewertungen der Bedeutung des Welt-Seins. Für Heidegger, so geben es vor allem seine späteren Texte zu erkennen, ist dieses in seiner unmittelbaren dinglichen Faktizität gegeben und uns erfahrbar. Dass er diese nicht an sich als Ermöglichungsgrund des Seins-Denkens deutet, sondern in seiner immer gegenwärtigen Bezogenheit auf das Denken des Seins, bestätigt ein Blick in das erste seiner Hefte aus dem Jahr 1947, wo es in der für diese Denktagebücher charakteristischen Diktion heißt: «[…] auf das Seiende können wir uns nie verlassen und dürfen es doch nie verschmähen. […] Sein erst und nur im Seienden. Beide zumal aus dem (Austrag); […]. Dieser ist das Seyn; […].»107 Und in den Vigiliae ist zu lesen: «‹Sein› meint stets Sein des Seienden; auch ‹Seyn› meint dieses, […].»108 Eine Distanzierung aus diesem Erfahrungsraum lehnt er ab, da das Erfassen des Seyns kein Akt der Abstraktion von dieser Dinglichkeit ist,109 sondern dessen von aller Zweckgebundenheit freigestelltes Begreifen. Daher spricht Heidegger nicht von Abkehr und Aufgabe der Bindung an das Seiende der Welt, sondern von der Verwandlung desjenigen, der Seiendes als Welt erfährt – des Menschen.110 Unter Anspielung auf das Versichtbarungsmodell relationalen Seins, das Geviert, erklärt er: «Geht es darum, daß die Menschen erst eigens die Sterblichen werden, dann sagt dies eigentlich: es geht um das Ereignis. Es geht […] nicht um den Menschen nur, auch nicht um den Gott, sondern um das Anfängliche, das Gottheit und Menschheit in ihrem anfänglichen Bezug […] eigentlich, d. h. ereignet, gewährt.»111 Dass die Menschen erst Sterbliche werden, besagt, dass sie sich ihrer Stellung innerhalb des Verweisungskomplexes des Seins gewiss werden, eigentlich werden. Die Rede von Gott und Gottheit in diesen Zeilen ist nicht als Indikator religiösen Denkens in Heideggers Theorie zu verstehen. Sie bezieht sich auf den Funktionszusammenhang alles Denkbaren im Bild des 106 «Sie [Existenz] bewährt ihre Möglichkeit nur, wenn sie sich in der Transzendenz begründet weiß.» Philosophie III, S.4. 107 Vier Hefte I, S.67. 108 Vigiliae und Notturno, Vigilia I, S.58. 109 «Das Denken als die Sage der Welt gehört nicht in das Absolute, geht nicht auf ein oberstes Prinzip, nicht auf einen letzten Grund. Es ist endlich, insofern es, das Geviert der Welt sagend, die endige Ortschaft des Ereignens im Eigentum des Dings bereitet.» Vier Hefte I, S.70. 110 «Gang in die Nähe: Erfahren: die Welt. Erfahren die Pfade der Welt.» Vier Hefte I, S.25. 111 Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.135. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Gevierts112 und signalisiert dort die Denkmöglichkeit gänzlicher Zweckfreiheit, das heißt Selbst-Ständigkeit, die dem Menschen Begriff des Möglichen schlechthin werden kann. Der anfängliche Bezug ist die reine Möglichkeit der Denkbarkeit, die noch vor jeder tatsächlichen Beziehung besteht, doch erst in ihr als Motiv der Bezogenheit im Sein erfasst werden kann. Gerade nach der Lektüre von Sein und Zeit, das als Fundamentalontologie der Analyse von Seins-Strukturen dient, mag allein schon eine Formulierung wie die des Begreifens schwer zugänglich erscheinen. Sollte sich ausgerechnet Heidegger, der es in seinem frühen Werk kaum für angebracht hält, vom Menschen zu sprechen und stattdessen die formale Aufweisung des Daseins benennt, in den 1950er Jahren dazu hinreißen lassen, das Begreifen in seiner Konnotation des Taktilen als Weg zu denken, um Seyn erfassen zu können? Genau in dieser Zeit geht er auf die Frage nach Welt und Natur ein, eine kurze Stellungnahme, die jedoch zum Beleg des vorliegenden Deutungsansatzes von außerordentlicher Relevanz ist: ‹Welt› ist für die Wendung In-der-Welt-sein keine kosmologische Bestimmung. […] Es ist kein Zufall, daß in Sein und Zeit ‹die Natur› im neuzeitlichen Sinne – als Gegenstand des wissenschaftlichen Betrachtens – nicht vorkommt. Die Wahrheit des Seins und damit des Menschenwesens hat anderen Ursprung […]. Wenn Da-sein, In-der-Welt-sein nicht mehr von der Subjektivität und dem Bewußtsein her, sondern aus der Lichtung des Seins gedacht sind, dann erweist sich der Bezug ‹des› Seins zum Menschenwesen als ein ganz anderer.113
Denn vor diesem Hintergrund wird der Mensch als der Gebrauchte erkennbar, als derjenige, von dessen Verwandlung, die im Erfahren des Seins stattfindet, das Denken des Seins und damit die Denkbarkeit des Seyns abhängt.114 Für eine Gegenüberstellung der Konzeptionen von Heidegger und Jaspers, die hier in groben Zügen entworfen wird, ist diese Passage extrem wichtig. Denn sie verdeutlicht, dass mit dem Motiv der Verwandlung des Menschen keine Steigerung seiner Bewusstheit und subjektiven Erkenntnisleistung illustriert werden soll, ja dass die Frage nach dem Selbst desjenigen, der bewusstseins – und erkenntnisfähig ist, hier nicht gestellt wird. Vielleicht wirkt dieser Ansatz allzu weit vom wirklichen Interesse an der Persönlichkeit des Sein Denkenden entfernt. Eventuell fällt Heideggers Sichtweise spürbar hinter die von Karl Jaspers vertretene zurück, dessen besondere Aufmerksamkeit gerade den Konstitutionsbedingungen des selbstbewussten Menschen gilt. Auf den ersten Blick lässt sich gegen diesen Eindruck kaum Nennenswertes anführen. Doch wenn die Perspektive ein wenig anders ausgerichtet wird, ergibt sich ein anderes Bild. Es geht Heidegger nicht nur um Die beste Darstellung des Gevierts findet sich in: Winke I und II, Winke II, S.110. Vigiliae und Notturno, Notturno I, S.254. 114 «[…] daß das Menschenwesen, in das Seyn gebraucht, dessen Wesen mitausmacht.» Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.154.
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den Menschen, sondern um den Menschen In-der-Welt. Insofern ist für ihn von Anfang an eine andere Justierung des Denkens gegeben, als für Jaspers. Das Faktum der Bezogenheit im Sein ist für Heidegger unverhandelbarer Ausgangpunkt seines Fragens nach dem Sinn von Sein. Und wo würde dieser anders zu erfahren sein als in der Welt, was hier sehr konkret als Begegnung mit Dinglichem verstanden wird. Es liegt vielleicht nahe, beim Lesen des Begriffes der Dinge an pure Materialität zu denken, an Bestand in der Zeit und an das Letzte, dem sich Philosophie zuwenden könnte. Wie sehr sich Heideggers Deutung von einer solchen Assoziation, die durchaus in der Geschichte des philosophischen Denkens ausreichend Belege fände, unterscheidet, wird an einer Textzeile, eher einem Vers, so möchte es scheinen, aus den Winken, 1957 entstanden, erkennbar: «Jedes Ding ein Schmuck der Stille, Zier der Fuge, Glanz der Einfalt, Ruf des Sterns.»115 Sind solche Äußerungen überhaupt dazu geeignet, unter theoretischer Perspektive interpretiert zu werden? Obwohl die Begriffe «Stille», «Fuge» und «Einfalt» Termini des Spätwerkes von Martin Heidegger sind, spricht alles dafür, sie auch in einem solchen Kontext zu lesen. Denn diese signalisieren Weisen der Haltung im Sein, die von einem verwandelten Bezug des Menschen zum Sein Zeugnis ablegen. Dieser drückt sich auch in der Art aus, in der die Frage nach dem Sein zu stellen ist: «Mit dem Sein hat sich das Fragen selber durchkreuzt. Das Fragwürdige hat sich in das Denkwürdige eines anderen Denkens verwandelt.»116 Dieses fragt nicht mehr nach den Erscheinungsmodi des Seins, sondern nach der Verweisungsstruktur im Sein, in die Mensch und Welt gleichermaßen einbezogen sind. Aus diesem Grund kann Heidegger schreiben: «Auch Seyn haftet noch und gerade am Sein. Die Preisgabe von Transzendenz und Differenz.»117 Um den Gedanken im Vergleich zu Jaspers’ Sichtweise fortzuführen: Seyn ist kein Sein zweiter Art, ist nicht das andere Sein, das eventuell dem Transzendenten entsprechen könnte, sondern ist verwandeltes Sein, zu sich selbst aus der Nutzungsdominanz befreites Sein-Denken-Können. Dass Denken für Heidegger schon längst kein Geschehen mehr unter logischer Regelhaftigkeit ist, deutet seine Parallelisierung mit der Arbeit des Handwerkers an, die so leicht als idyllische Verklärung des Bäuerlichen abgewertet werden kann. Der Ausdruck «das Handwerk des Denkens» ist wörtlich zu verstehen. Denn das Werk der Hand erschließt, was das Werk des Denkens in Sprache zu fassen vermag. Ist keine Distanzierung von der Welt erforderlich, so ist sie letztlich auch nicht einmal möglich. Denn immer stehen wir in dem elementaren Bezug zu ihrem Sein, das unser Sein ist. Ist Distanzierung auszuschließen, macht es im Grunde kaum noch Sinn, von Entscheidung oder Wahl zu sprechen, die das Selbst zum Ergreifen des eigensten Sein-Könnens befähigt. Die Erschütterung, die im Gewahren der Angst 115 116 117
Winke I und II, Wink I, S.76. Vigiliae und Notturno, Notturno I, S.241. Der Begriff «Sein» ist im Text durchkreuzt. Winke I und II, Winke I, S.51. Der Begriff «Seyn» ist im Text durchkreuzt. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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erfolgt, stellt den Menschen nicht vor Alternativen, zwischen denen abzuwägen wäre. Stattdessen steht der Einzelne, der so affektiv ergriffen wird, bereits in der Eigentlichkeit seines Selbst-Seins, da er die Übernahme des Ausstehenden – seines Todes – bereits als eigenste Möglichkeit erfasst. Ist es dann überhaupt noch erforderlich und gar sinnvoll, von Möglichkeit zu sprechen? In dem Moment, in dem diese vor Augen tritt, ist sie bereits ergriffen, denn das Selbst ist nicht mehr dazu in der Lage, jene Strategien der Vermeidung des Wissens, um die eigene Endlichkeit zu praktizieren, die Heidegger in Sein und Zeit beschreibt. Dass es gerade die vorlaufende Gewissheit des eigenen Nicht-mehr-Seins ist, an der er das Erscheinen des vermeintlich Möglichen aufzeigt, bestätigt nur einmal mehr die tiefe Verwurzelung unseres Daseins im Welt-Sein und dessen Zeitlichkeit. Wir sind Wesen in der Welt und können, wenn wir uns von dieser Tatsache in konkreten Momenten der Erfahrung angehen lassen, nicht anders, als sie zu bezeugen. Ein weiterer Hinweis mag an dieser Stelle nützlich sein. Es geht Heidegger nicht darum, uns zum Selbst-Sein aufzurufen, um uns zu handlungsfähigen Individuen in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter werden zu lassen, sondern darum, dass wir als Einzelne die Beschaffenheit – das heißt die Möglichkeit – von Sein bezeugen. Das eigenste Sein-Können zu ergreifen, wird nicht zum Inhalt der Reflexion, weil Heidegger am einzelnen Menschen als diesem Einen gelegen wäre, sondern weil nur der Einzelne die Bezugsstruktur des Seins repräsentieren kann. Denn er zeigt, was im Sein als Haltung möglich ist. Und im Sein heißt bei Heidegger: im Sein der Welt. Ein anderes Sein zu denken, kommt für ihn nicht in Betracht. Für Karl Jaspers ist dessen Denkbarkeit elementarer Bestandteil seines Existenz-Verständnisses. Die ausgezeichnete Weise, dieses Sein zu reflektieren, die weit davon entfernt ist, als Problem betrachtet werden zu müssen, charakterisiert er wie folgt: Freiheit, des Wesen der Existenz im Dasein, ist deren Möglichkeit in der Wahl, ist in einer Welt zugleich abhängig und auf Zufälle angewiesen, ist mit einem Anderen. Transzendenz aber zeigte sich uns nicht als die Möglichkeit in dem bestimmten Sinn, der eine Wahl noch frei ließe, sondern als die Möglichkeit, die mit Wirklichkeit und Notwendigkeit identisch wäre.118
Im Zuge möglicher Existenz ist, da sie den Gesetzmäßigkeiten des Seins im Dasein unterworfen ist, ein Wählen ihres Weges vorstellbar, das in Ansehung von Transzendenz keine Grundlage mehr findet.119 Da für Martin Heidegger das Seyn Möglichkeit des Seins im Sein ist und er deshalb auf die Annahme eines anderen Seins verzichten kann, gilt das, was Karl Jaspers über das Nicht-Wählen können Philosophie III, S.63. «Aber niemals ist der Bezug auf Transzendenz einer planenden Veranstaltung zugänglich.» und: «Transzendenz ergreife ich nicht, indem ich sie denke oder mit ihr durch irgendein nach Regeln wiederholbares Tun umgehe.» Philosophie III, S.68 und S.83. 118 119
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im Transzendenten schreibt, bei ihm letztlich bereits im Sein. Für Jaspers ist der Gedanke von Transzendenz unverzichtbar, da er davon ausgeht: «Mit dem Weltdasein, das mich überall angeht, kann ich mich dennoch keineswegs identifizieren. Ich kämpfe gegen es als das Fremde, das mich bedroht; […].»120 Das Angehen und die Bereitschaft des Sich-angehen-Lassens sind in Heideggers Konzeption tragende Elemente einer Bezugsstruktur im Sein, die, wenn sie ausformuliert werden, Grundlage einer Theorie existentieller Ethik werden können. Für Jaspers findet sich Möglichkeit im Sein der Welt, das er auch als «Weltdasein» bezeichnet. Aus ihm heraus erfolgt die existentielle Bewegung des Überschreitens.121 Da uns dieses Transzendenz begreifen lässt, könnte der Schluss eventuell naheliegen, dass es eine dauerhafte Lösung aus den unmittelbaren Seins-Bezügen der Welt bedeute. Doch dem ist nicht so. Denn im Bewusstsein, mich selbst ohne Bezug zur Welt gedacht zu haben, ist eine Rückkehr zum Denken des Welt-Seins vorstellbar. «Ich stehe wieder mitten in der Welt, […]. Kein anderes Zentrum ist als nur das meine des einzelnen daseienden Wesens. […] Die Welt wird zur zeitlichen Stätte der Existenz.»122 Um welche Art der Bezüge handelt es sich, die der Mensch – die ich – zum Sein unterhalte? So offensichtlich sich die Konzeptionen von Heidegger und Jaspers auch besonders in ihrer Bewertung des Welt-Seins unterscheiden, trifft diese Frage sie doch in derselben Weise. Sind es Bezugnahmen im Erkennen oder im Handeln, im Denken oder im Tun? Oder ist es vielleicht sogar unsinnig, beide gegeneinander abgrenzen zu wollen? Mit Blick auf Heideggers frühere Aussagen scheint eine Beantwortung dieser Fragen eindeutig zu sein, verliert ihre Eindeutigkeit jedoch, je mehr spätere Texte hinzugezogen werden. Die Lektüre von Sein und Zeit lässt den Leser mit dem Eindruck zurück, dass es dort um das reine Verstehen der Strukuraufweisungen des Seins gehe, wie es sich dem Denken im Bestreben der Funktionsanalyse darbietet. Doch dann ist vom Handwerk des Denkens zu lesen und von der Notwendigkeit, einen Seins-Wandel zu erwirken, der durch einen Wandel im Denken erreicht werden kann. Zugleich weist Heidegger Versuche, seine Zeilen als Bekenntnis zum Wirken in der Welt verstehen zu wollen, dadurch zurück, dass er erklärt, kein praktischer Nutzen sei von ihnen zu erwarten. Unser verändertes Denken verändert unsere Einstellung zum Sein in der Welt, so könnte schließlich die Beantwortung der Frage lauten. Tritt das «schonende» an die Stelle des «vorstellenden Denkens», beherrscht nicht mehr der Nutzungswille unsere primäre Beziehung zu Welt, sondern das Bewusstsein Philosophie III, S.94. «Das, wohin wir das Dasein überschreiten, indem wir seiner bewußt werden, ist jedoch nicht das Dasein selbst als ein umfassenderes Dasein, das radikaler zu gewinnen wäre, sondern entweder die Idee einer übergreifenden Welt der objektiven Wirklichkeit oder das Selbstsein der Existenz oder das eigentliche Sein der Transzendenz.» Philosophie I, S.67. 122 Philosophie I, S.69 und S.82. 120
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gemeinsamen Seins im Selben, das als Seyn bezeichnet wird. Um es noch einmal zu betonen: Heidegger ruft nirgends, nicht einmal in seinen Verlautbarungen zur Rolle der Technik in der modernen Welt, dazu auf, handelnd deren Gestalt zum Besseren zu verändern. Doch Denken, das sich in so drastischer Weise selbst in seinen Möglichkeiten korrigiert, kann nicht folgenlos im Verhalten der Welt und allem Mit-Seienden gegenüber bleiben. Die Bezüge des Menschen zum Sein sind für Martin Heidegger vornehmlich im Erfassen der stets gegebenen Bezogenheit zu sehen, die nirgends plastischer zum Ausdruck kommt als in der Versichtbarungsfigur des Gevierts. So verändern sich unsere Einstellung zum Sein und in gleichem Zuge unsere Stellung in der Welt. Das Geschehen des Wandels verortet Heidegger im Denken des reflektierenden Selbst, das jedoch nicht als Selbstzweck betrachtet werden sollte. Es geht ihm nicht um eine philosophische Klärung der psychischen Prozesse der Selbstfindung und Selbstwerdung als Beitrag zu einer Theorie, die in erster Linie dem Einzelnen und seiner Selbsterfahrung nützt. Sein Aufruf zum eigensten Selbst-Sein steht im Dienste des Seins insgesamt, womit keine Feststellung über eine eventuelle Denkbarkeit des Seins als Ganzes einhergeht. Sein ist ganz in der Artikulation seiner Vielheit, so könnte hier seine Ansicht zusammengefasst werden. Wenn also vom Sein insgesamt die Rede ist, steht Sein in all seinen Erscheinungen im Fokus. Es mag immer wieder verwundern und vielleicht sogar verärgern, dass Heidegger so selten vom Menschen und stattdessen eher von Sein und Dasein spricht. Denn sein Denken könnte dadurch distanziert und nicht am Menschen interessiert wirken. Das Paradoxe ist, dass genau das Gegenteil der Fall ist, zumindest dann, wenn der hier vertretenen Interpretation gefolgt wird. Danach gilt sein Interesse dem Menschen und dem Sein insgesamt. Eine solche Feststellung kann natürlich immer als Bestandteil einer ontologischen Betrachtung gelesen werden, wonach die Ebene allgemeiner Kennzeichnung der Beschaffenheit von Sein niemals verlassen wird. Wird Ontologie, wie es der Begriff anzeigt, als Wissenschaft vom Sein verstanden, wären gegen eine solche Lesart noch nicht einmal erstzunehmende Einwände vorstellbar. Denn letztlich leistet sie so, wie sie sich in ihrer Geschichte verfolgen lässt, genau das, was sie leisten soll. Nicht jede Aussage über Sein muss jedoch zwingend als Gegenstand wissenschaftlicher Herangehensweise betrachtet werden. Vom Sein kann anders gesprochen werden als in der Form allgemeiner Strukturanalysen. Dieser Gedanke bildet das Kernstück der vorliegenden Überlegungen. Interesse am Menschen und am Sein insgesamt ! ist von Karl Jaspers eine grundsätzlich differente Position zu erwarten? Zunächst ist daran zu erinnern, dass er in weitaus stärkerem Maße die Konstitutionsbedingungen des Selbst thematisiert. Ob sein Studium der Medizin und die Arbeit in der Psychiatrie hierfür ausschlaggebend ist, sei dahingestellt. Das Sich-ausbleiben-Können, das Scheitern im Prozess des Selbst-Werdens, erörtert er eingehend und fokussiert damit einen Aspekt, den Martin Heidegger nicht in vergleichbarer Weise betrachtet. Im Gegensatz dazu erwähnt Jaspers den Begriff des Seins nur dann, wenn es unumhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gänglich zu sein scheint, etwa im Kontext der Frage nach der Welt, deren Beschaffenheit er eindeutig charakterisiert: Sie kann nicht Grund einer umfassenden Erfahrung des Seins sein. Hierzu bedarf es des anderen Seins, der Transzendenz. Das Selbst, dem sich die Gewissheit von Transzendenz erschließt, wendet sich zwar nach vollzogener Distanzierung wieder der Welt zu. Doch hat sich sein Bezug zu ihr durch die Erfahrung des zweiten Seins verändert? Der Themenkomplex der Kommunikation wäre an dieser Stelle zu erwähnen, da sich in ihr gelingendes Selbst-Sein in der Begegnung mit Anderen ausmachen lässt. Da dieser Zusammenhang jedoch momentan nicht von unmittelbarer Relevanz ist, muss es bei der bloßen Erwähnung bleiben. Könnte stattdessen nach der Bedeutung des Handelns in Jaspers’ Konzeption gefragt werden, tritt sofort der Begriff des «inneren Handelns» in den Vordergrund, mit dem eine Modifikation des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens angesprochen wird. Doch nicht nur das. In bemerkenswerter Weise nimmt Karl Jaspers zur Problematik seiner Zeit Stellung. Hervorzuheben sind vor allem seine Positionierungen in den Schriften Zur Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands aus dem Jahr 1946 und Wohin treibt die Bundesrepublik. Tatsachen, Gefahren, Chancen von 1966. Denn in beiden plädiert er für eine verantwortungsbewusste Weise, sich im gesellschaftlichen Gefüge und deren Vergangenheit gegenüber zu verhalten. Die geistige Situation der Zeit, 1930 verfasst, bietet ein Resümee seiner Betrachtungen jenes zeitgeschichtlichen Grundes, auf dem Existenzphilosophie seiner Auffassung nach zu wirken vermag und zu wirken hat. Diese Formulierung ist mit Bedacht gewählt, denn tatsächlich geht Jaspers von einer Aufgabe aus, die Existenzphilosophie zukommt, indem sie sich von der traditionell betriebenen Philosophie unterscheidet.123 «Bezug auf das eigene Dasein» aufzuzeigen steht somit im Mittelpunkt des Anspruches, der seiner Auffassung nach an Existenzphilosophie erhoben werden sollte, deren Besonderheit er in einer der wenigen je von ihren Vertretern versuchten Definitionen fixiert: «Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt.»124 Im ersten Moment klingt dieses so, als diene diese Philosophie letztlich nur dem Denkenden, auf dass er er selbst werde. Sie befähigt ihn zu einer Reflexion seines Selbst-SeinKönnens, das sich im Kontext des Welt-Seins in Kontrastierung zur Transzendenz realisiert. Immer wieder fallen die Überlegungen auf diese Überzeugung zuZur Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkt Jaspers, dass sie «überall zum Betrieb von Universitätsschulen» wurde, «die immer seltener die Gemeinschaft philosophischer Menschen waren, […]. Äußerlich philologisch, innerlich rationalistisch, ohne Bezug auf das eigene Dasein des Einzelnen, führte sie ihren durch Tradition strengen Denkens verdienstlichen Betrieb der Schulen fort, […].» Die geistige Situation der Zeit, S.131. 124 Die geistige Situation der Zeit, S.149. 123
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rück, wonach das Sein der Welt hierfür nicht tragfähig genug ist. Es bedarf des Einfindens im Denken von Transzendenz, um die Natur des Möglichen im Sein erfassen zu können. Die Welt allein reicht hierfür nicht aus. Wird schließlich noch einmal nach der Bedeutung gefragt, die dem Tun in Jaspers’ Darstellung von möglicher Existenz zukommt, so wäre eher von der Einstellung des Menschen zum Sein – und zwar zum Sein beiderlei Natur – zu sprechen. Denn trotz aller Bemühungen, Existenzphilosophie einen eigenen Wirkungskontext zuzuschreiben, bleibt es doch eine Philosophie mit deutlicher Akzentuierung ihres erkenntnissteigernden Wertes. Erkenntnis, das muss freilich sofort hinzugefügt werden, richtet sich laut obiger Definition nicht auf das externe Sein, sondern das Erfahren der Innerlichkeit des Menschen, die bei Jaspers unter dem Begriff des Selbst thematisiert wird. Im weitesten Sinne stimmt er in der Überzeugung mit Heidegger überein, dass Existenzphilosophie das Verstehen fördert, das nicht mit dem Verständnis von Sachverhalten zu verwechseln ist. Denn dieses ist auch ohne einen Akt erkenntnis-begleitender Introspektion möglich, da es sich auf Objekte des Erkennens bezieht. Ein Wissen um die eigene Subjektivität, die über die Bewusstheit der eigenen kognitiven Kompetenz hinausgeht, ist nicht erforderlich, sie könnte sich sogar für einen Objekt-bezogenen Erkenntnisakt als hinderlich erweisen, indem sie dessen erstrebte Allgemeingültigkeit den Bedingungen individueller Fähigkeiten oder Befindlichkeiten unterwirft. Für Karl Jaspers und in etwas geringerem Umfang auch für Martin Heidegger geht Einsicht in das Selbst-sein-Können mit dem Verstehen des Seins und seines Sinnes einher. In ungeschützt plakativer Form kann die dennoch bestehende Differenz beider so zusammengefasst werden: Für Heidegger besteht der Sinn im Erwirken des SeinKönnens des Seins insgesamt; für Jaspers im Erwirken des Selbst-Seins in der Welt. Noch immer gelten diese Betrachtungen der Frage, ob es einen einheitlichen oder zumindest vergleichbaren Gebrauch des Begriffes der Existenz in den ihm gewidmeten Philosophien gibt. Darin, ihn als Ausdruck des Frei-Seins für das Verstehen des Seins zu werten, stimmen die Auffassungen von Jaspers und Heidegger grundsätzlich überein. Denn in beiden Konzeptionen verweist er auf ein ‹Noch-Nicht› als offene Möglichkeit des Denkens. Die kontextuelle Einbettung dieses ‹Noch-Nicht› zeigt unterschiedliche Akzentuierungen, doch in diesem Faktum reiner Begriffs-Bedeutung stimmen sie überein. Eine dritte Position wird nun hinzugefügt, um ein möglichst weites Bedeutungsfeld dieses Begriffes vorführen zu können. Es handelt sich um die Interpretation von Heinrich Barth, der aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen zu den fast vergessenen Vertretern der Existenzphilosophie zählt. Dieser Umstand ist deshalb umso verwunderlicher, als er mit hohem Argumentationsaufwand sein System von Existenzphilosophie im Tableau philosophischer Strömungen seiner Zeit platziert und dabei sein Vorhaben und dessen Einlösung beständiger Kommentierung unterzieht, was einen ungewöhnlich klaren Blick auf das Projekt «Existenzphilosophie» erhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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laubt. Der Blick, den er dabei auf bestehende Texte dieser thematischen Ausrichtung wirft, ist durchaus kritisch, was deshalb umso aufschlussreicher ist, als er aus zeitlicher Distanz erfolgt.
Heinrich Barth 1965 erscheint postum Heinrich Barths großangelegte systematische Darstellung Erkenntnis der Existenz, in der er unter anderem offen seine Vorbehalte gegen zeitgenössische Strömungen der Philosophie ausspricht. Von Martin Heidegger sind schon lange keine einheitlichen Untersuchungen mehr erschienen; Karl Jaspers veröffentlicht 79-jährig Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung; die große öffentliche Anteilnahme, die Jean-Paul Sartres am 28. Dezember 1945 gehaltenen Vortrag Ist der Existentialismus ein Humanismus? begleitete, hat sich längst gelegt. Auch wenn dieses Ereignis der Geschichte des Existentialismus zuzurechnen ist, verdeutlicht eine kurze Vergegenwärtigung des Zeitpunktes, zu dem Heinrich Barth an seiner Definition von Existenzphilosophie arbeitet, doch den Überblick, der ihm auf das Zustandekommen und die Wirkung der wichtigsten Werke dieses Genres möglich war. So konnte er beobachten, wie das moderne existentielle Denken, ursprünglich in den 1920er Jahren mit großer Verve artikuliert, die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nur mühsam überdauert hat und sich fast unmerklich in den Existentialismus französischer Prägung aufgelöst zu haben scheint. 1951, als Barth zum ersten Mal an der Universität Basel seine Vorlesung Grundriß einer Philosophie der Existenz hielt, die er noch zwei weitere Male vortragen sollte, besonders aber während der Arbeit an Erkenntnis der Existenz, musste ihm Existenzphilosophie als ein Relikt der Zwischenkriegszeit erscheinen, verständlich, wenn die Bedingungen ihrer Entstehung bedacht wurden, doch aktuell kaum noch von Bedeutung. Die Voraussetzung für sein Vorhaben, sie in einem neuen System den Bedürfnissen seiner Zeit anzupassen, war grundsätzlich anderer Natur als etwa zur Entstehung von Heideggers Sein und Zeit oder Jaspers’ dreibändiger Philosophie. Denn er konnte nicht ein in jenem Moment noch relativ neues Denken entwickeln, das sich nur auf wenige Ansätze in vergangenen Epochen zu stützen hatte. Für ihn ging es auch darum, das Scheitern der bisherigen Existenzphilosophie, wenn diese Formulierung nicht zu drastisch ist, zu analysieren und Fehler, die dort seiner Auffassung nach offensichtlich begangen wurden, zu vermeiden. So liegt sein Werk als eine Konzeption vor uns, die zugleich Diagnose und Therapie ist – Diagnose der letztlich seiner Überzeugung nach selbstverursachten Schwäche der Existenzphilosophie und Therapie zum Zwecke ihrer Neubegründung. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die beiden genannten Schriften von Heinrich Barth ein ungemein kostbarer Bestandteil existenzphilosophischer Literatur und sollten einen entsprechenden Platz in deren Aufarbeitung erhalten. Um noch ein Detail zur zeitlichen Einordnung hinhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zuzufügen: Heinrich Barth tritt für das Projekt «Existenzphilosophie» in einem Moment ein, in dem in Frankreich Emmanuel Lévinas mit seinem ersten großen Werk Totalité et Infini – Totalität und Unendlichkeit von sich reden macht. Dieser Text, 1962 erschienen, lässt nur noch schemenhaft die frühere Nähe zum existentialistischen Denken erkennen. So griff Lévinas 1935 in Ausweg aus dem Sein ein Motiv der Seins-Erfahrung auf, das drei Jahre später in Jean-Paul Sartres Roman La Nausée – Der Ekel weitaus mehr Beachtung fand. Die Auseinandersetzung mit dem Seins-Denken Martin Heideggers beginnt in jenen Jahren, kurz, nachdem Lévinas bei ihm und Edmund Husserl in Freiburg studierte, und wird Motiv kontinuierlicher Reflexion bleiben. Wahrscheinlich würde es schwerfallen, Emmanuel Lévinas als genuinen Vertreter der Existenzphilosophie zu bezeichnen, doch kann sein Werk in jedem Fall in ihrem Kontext gelesen werden. Dabei ist der Akzent, den es setzt, klar erkennbar. Auch Lévinas denkt über die bestehende Existenzphilosophie hinaus und versucht, freilich aus anderer Intention als Heinrich Barth, Lehren aus ihrem vermeintlichen Scheitern zu ziehen. Denn trotz des zum Teil leidenschaftlichen Appells für die Bedeutung menschlicher Selbst-Reflexion ist es den Entwürfen von Heidegger und Jaspers nicht gelungen, sich als starkes Äquivalent der traditionellen Subjekt-Philosophie zu etablieren. Warum wäre gerade dieses aus seiner Sicht aber so wichtig gewesen? Weil er ihr ein eklatantes Versagen in moralischer Hinsicht attestiert, das in unvorstellbarer Dimension im Geschehen des Holocaust seinen Ausdruck fand. Denn eine auf dem Denken des Subjekts basierende Philosophie, so argumentiert Lévinas, sei unfähig, das Andere, das in der Person des anderen Menschen, des Fremden, begegnet, zu verstehen, das heißt hier in seiner Eigenheit zu erfassen. Stattdessen basieren traditionelle Vorstellungen seiner Ansicht nach stets auf einem Prozess ununterbrochener Reproduktion der Begriffe des Eigenen, der aus der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts abgeleitet werden könne. Der Mensch führt das Fremde auf das Eigene zurück und zieht aus diesem Fundierungsgeschehen das Recht zur moralischen Bewertung, womit sich die fatale Wirkung dieses Zirkels schließt. Denn als moralisch wertvoll kann sich immer wieder das Eigene definieren, das dann Grundlage jeder folgenden Entscheidung darüber wird, ob etwas oder jemand als fremd und damit dem Eigenen unterworfen angesehen werden sollte. Vor diesem Hintergrund wäre eine Revision der Subjekt-Zentriertheit unserer philosophischen Tradition zwingend erforderlich gewesen, so gibt Lévinas immer wieder zu verstehen. Ist es verwunderlich, dass seine Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang auch der Wirkung von Existenzphilosophie galt? Sie hätte doch dadurch, dass sie den Gedanken des erkennenden Subjekts weitgehend aufgibt und durch jenen des erfahrenden Selbst ersetzt, die besten Mittel in Händen, um eben dieses Selbst zu einer Instanz der Selbst-Reflexion zu erklären, die in der Reflexion des Moralischen ihren Ausdruck hätte finden können. In deren Kompetenz hätten dann nicht mehr nur die Fragen nach dem Vorgang des Selbst-sein-Könnens gelegen, sondern vor allem diejenigen nach der Bedeutung, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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die es für das Sein insgesamt hat. Martin Heidegger stellt diese Frage, belässt es bei ihrer Beantwortung allerdings bei einer ontologischen Argumentation, die von ihm nicht dazu genutzt wird, im Bereich ethischer Problemstellungen zum Tragen zu kommen. Karl Jaspers, der diese ontologische Fokussierung des Denkens erklärtermaßen nicht teilt, demonstriert die Möglichkeit einer Anwendung des existentiellen Begriffes vom Selbst schließlich in seiner Diskussion der «Schuldfrage», indem er die Verantwortlichkeit der Deutschen für die Unfassbarkeiten von Krieg und Holocaust thematisiert. Inwieweit Lévinas hiervon Kenntnis genommen hat oder nehmen konnte, lässt sich nicht mit völliger Gewissheit entscheiden. Fest steht zumindest, dass Jaspers in seinen Schriften namentlich fast nie erwähnt wird, was daher nicht überrascht, da dessen Wirkung in Frankreich deutlich hinter derjenigen Martin Heideggers steht. Es wäre also nicht verfehlt, davon auszugehen, dass sich die tiefe Enttäuschung, die Emmanuel Lévinas mit Blick auf das existentielle Denken verspürt haben muss, vornehmlich auf das Versagen Martin Heideggers bezieht – des Denkens und vor allem auch seines Verhaltens während der Jahre nationalsozialistischer Herrschaft und danach. Denn auf ein Wort der Erklärung und weitaus stärker der Entschuldigung für die nicht erfolgte öffentliche Distanzierung wird nicht nur Lévinas gewartet haben. Auch wenn sich an diesem Punkt möglicherweise Reaktionen auf Heideggers mehrfach bekundete Annäherung an NS-Ideologie mit der Bewertung seiner Philosophie verbinden, bleibt doch Letztere ein Indiz für die kaum noch spürbare Resonanz, die existentielles Denken in den 1960er Jahren fand. Und genau in dieser Situation tritt Heinrich Barth an, um ihr durch systematische Darstellung zu neuem Geist zu verhelfen. Die mehrfache Erwähnung der Systematik, die er hierfür als Form wählt, ist keineswegs beliebig. Denn exakt im Mangel der strukturierten Form des Denkens, das sich jederzeit auf seinen Mittelpunkt berufen und diesen in der Ausformulierung des Gedachten kenntlich machen kann, sieht er eines der schwerwiegendsten Probleme der Existenzphilosophie: «Auf eine Einheit des ‹Grundes› darf auch die Philosophie der Existenz nicht Verzicht leisten. In Ausrichtung auf die Einheit des Grunds kann sie sich nur in ‹systematischem› Zusammenhange entfalten. Die Existenzphilosophie darf sich nicht als ein Reich ohne Mitte zu erkennen geben.»125 Schreckt sie hiervor nicht zurück, demonstriert sie nur jenen dramatischen «Substanzverlust», den Barth meint, in allen bestehenden Konzeptionen feststellen zu müssen: Wenn es mit der Philosophie der Existenz in Wahrheit eine große Bewandtnis hat, dann wird es nicht vorkommen, daß diese an sich willkommene Erneuerung der Philosophie zu einer nur mehr sterilen Auseinandersetzung mit der philosophischen Vergangenheit führt. Altbekannte, präzise Fragestellungen werden im gegenwärtigen Denken auf die Sei-
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Erkenntnis der Existenz, S.25. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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te geschoben, […]. Wie sollte es da nicht zu einem Substanzverlust der Philosophie kommen?126
Erneuerung der Philosophie unter Respektierung ihrer altbekannten Fragestellungen – das ist das Ziel, dem Heinrich Barth in seinem Denken folgt. Was aber blieb in diesen unberücksichtigt, so dass es nun nach einer Re-Formulierung zu suchen gilt? Einen «Bedeutungsinhalt von eminenter Gewichtung»,127 so erklärt Barth, nämlich die Frage nach dem «Sein des Menschen». Verwundert diese Aussage nicht? Besteht nicht seit jeher das Anliegen von Philosophie in dieser Frage? Was ist die Suche nach einer Definition des menschlichen Wesens denn letztlich anderes als der Versuch, diesen in seiner unverwechselbaren Kontur erfassen zu können? Um unverwechselbare Kontur geht es auch Heinrich Barth, doch sucht er sie nicht durch den Hinweis auf eine Fähigkeit des Menschen dingfest zu machen, sondern durch die Benennung der Möglichkeit, die nur diesem eignet. In seiner bereits erwähnten Vorlesung Grundriß einer Philosophie der Existenz umgrenzt er das Wirkungsfeld von Existenzphilosophie zunächst durch die negative Ausweisung, «daß es diese Philosophie nicht mit der ‹Welt›, mit dem Sein der ‹Natur›, mit dem ‹Gegenstande› dessen, was man ‹Wissenschaft› zu nennen pflegt, zu tun hat.»128 Wenn diese Feststellung wirklich dazu dient, das Sein des Menschen von jenem der Welt zu differenzieren, wobei der Gedanke der Wissenschaftlichkeit als methodische Herangehensweise momentan ausgeklammert wird, wird sie nicht die Spur der weiteren Überlegungen vorzeichnen – es sei denn auf dem Wege der negativen Abhebung. Das Anliegen, das Sein des Menschen in Isolation von dem der Welt zu begreifen, kann ebenso wenig geteilt werden wie jenes, ihm ein in der Transzendenz anderes Sein gegenüberzustellen. Der kurze Blick auf die verschiedenen Akzentuierungen innerhalb des in offener Verweisung bestehenden Gefüges der Existenzphilosophie zeigt, welch enorme Bandbreite diese einnehmen können, ohne doch am Grundansatz, dem Sein des Menschen nachforschen zu wollen, etwas zu verändern. Denn darin stimmen die Aussagen von Martin Heidegger, Karl Jaspers und Heinrich Barth überein: Sie alle fragen nach jenem Element, das nur dem Sein des Menschen zuerkannt werden kann und dieses ist nichts anderes als dessen Existentialität. In vereinfachter Form betrachtet entspricht diese Suche der Frage nach dem Wesen des Menschen, das sich nicht zuletzt seit den verschiedenen Kontextualisierungen im aristotelischen Denken als Kennzeichen der Differenzierung vom übrigen Seienden zu bewähren scheint. Doch wie zwingend ist dieser Gedanke? Sprechen wir heute vom Alleinstellungsmerkmal, das etwas zukommt und es unverwechselbar markiert, zeigt sich 126 127 128
Erkenntnis der Existenz, S.22. Erkenntnis der Existenz, S.21. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.4. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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die am Pragmatischen orientierte Perspektive, die es erforderlich macht, Objekte eindeutig zu spezifizieren. Über Notwendigkeit und Nutzen einer solchen Betrachtungsrichtung ist kaum zu debattieren. Doch wie steht es mit der Anwendung eines solchen Gedankens auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Werden die Bestrebungen des Aristoteles angeschaut, in seiner Schrift Über die Seele die Positionierung der menschlichen Seele im Gesamt des Organischen zu veranschaulichen, bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Zu einem Zeitpunkt, da es kaum Vorbilder gab, derart grundsätzliche Aussagen über den Zusammenhang innerhalb der Natur zu treffen, die seinem hohen systematischen Anspruch gerecht werden konnten, ist eine Leistung besonderer Originalität. Der Mensch teilt eben durch seine Vermögen der Ernährung und der Bewegung das organische Sein der Natur und ist dadurch zu zwei Dritteln Wesen der Natur. Die kühne Entschlossenheit, mit der Aristoteles zunächst eine Sonderstellung des Menschen in der Welt des Organischen ausschließt, ringt noch heute aufrichtige Anerkennung ab. Doch dann nennt er das rationale Vermögen als dritten, nur uns eignenden Seelenteil, was als bloße Feststellung noch keineswegs problematisch zu sein braucht. Denn wer wollte zu seiner Zeit – und vielleicht nicht nur zu seiner – ernsthaft bestreiten, dass wir uns von anderen Lebewesen unterscheiden. Wenn hier ein gewisses Problempotential gesehen wird, besteht es nicht in der Aufweisung eines differenzierenden Kriteriums, sondern darin, dass genau dieses Kriterium über unser Wesen Auskunft gibt, das heißt uns erst eigentlich zum Menschen machen soll. Für einen kurzen Moment sei die Frage zugelassen, ob dieses die einzig mögliche Deutung des Faktums menschlicher Rationalität ist. Dass sie uns von anderen Lebewesen unterscheidet, wird nach derzeitigem Stand des Wissens kaum zu bezweifeln sein, doch muss das zwangsläufig bedeuten, dass sie uns auch kennzeichnet? Was würde geschehen, wenn für die Dauer eines Atemzuges eine andere Deutung zugelassen würde? Nicht das, was uns vom übrigen Sein abhebt, macht uns eigentlich aus, sondern die größte annehmbare Schnittfläche, die wir mit diesem teilen. Doch kaum ist dieser Gedanke ausgesprochen, scheint er sich als allzu spekulativ zu erweisen, gänzlich ungeeignet, die Entwicklung unseres philosophischen Denkens aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Die Konzeptionen von Heidegger, Jaspers und Barth stimmen trotz bereits benannter und noch aufzuzeigender Differenzierungen darin überein, dass sie die Annahme eines Seins präferieren, das nur uns Menschen eignet. Damit bewegen sie sich im funktionalen Rahmen traditioneller Wesensvorstellung, auch wenn sie nicht eine Eigenschaft, sondern eine mögliche Seins-Weise zu deren Bestätigung heranziehen. Für Jaspers und Barth steht damit fest, dass Philosophie, die diese Weise thematisieren will, nicht zugleich das Sein der Welt zu ihrem gleichwertigen Gegenstand erklären kann. Damit scheint sich die Gemeinsamkeit beider Denker jedoch bereits zu erschöpfen, wie etwa aus folgender Stellungnahme Heinrich Barths hervorgeht: «Die Bedeutung der ‹Existenz› figuriert in der gegenwärtigen Existenzphilosophie als ‹Transzendieren› (Jaspers). https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Wir schließen uns dieser Terminologie nicht an; sie hat etwas Verwirrendes.»129 Wichtig ist zu berücksichtigen, dass Barth hier wirklich zunächst eine Verwirrung der Terminologie vor Augen hat. Denn unter dem Begriff des Transzendierens, so wie er ihn in Gebrauch findet, versteht er einen sich «ereignenden Akt des Existierens», der immer wiederholbar zu ständig neu erfolgenden Setzungsmomenten gegenwärtigen Seins führt. «Wir werden uns darüber verständigen können, daß in diesem usuell gewordenen Begriff des ‹Transzendierens› ein Äquivalent für die klassisch verstandene ‹Transzendenz› nicht gesehen werden kann.»130 Wenn Barth es bei dieser Interpretation belässt, wirkt ihr Bezug auf die Deutung durch Karl Jaspers jedoch eher problematisch. Denn indem dieser unter Bezugnahme auf den Begriff von Transzendenz von einem anderen Sein spricht, bietet sein Verständnis einen gedanklichen Fixpunkt der Bewegung des Transzendierens, auf die Barth hinweist. Dass der Gedanke der Transzendenz auch für ihn durchaus von Interesse ist, zeigt seine Bemerkung, die der Beschaffenheit von Existenz gilt: «Das In-die-Erscheinung-Treten der Existenz ist in der Tat ein ‹Hinaus-› oder ‹Hinüberschreiten› aus der gegenwärtigen Erscheinung. Ein Schreiten wohin? In die offene Möglichkeit eines Noch-nicht-Seienden, auf dessen Sein-Sollen sich die Existenz teleologisch ausrichtet.»131 Würden dieses die einzigen Zeilen sein, die uns zur Rekonstruktion von Heinrich Barths Denken zur Verfügung stünden, wären sie doch ausreichend, um es in seinen Grundzügen zu erfassen, denn die Charakterisierung des Existenz-Begriffes ist ihnen in ihren wichtigsten Bestandteilen zu entnehmen. «In der Aktualisierung von Möglichkeiten des Existierens tritt die Existenz in Erscheinung.»132 und berührt damit die Vorstellung des Noch-nicht-Seienden, das sich zu sein macht. Doch nicht nur sich, so ist sofort hinzuzufügen, denn dann bestünde eventuell die Gefahr, von einer beliebigen Verwirklichungsweise auszugehen, die sich ohne Ziel oder als Ergebnis situativ bedingter Abwägungen von Zielvorgaben konkretisieren würde. Gegen eine solche Annahme von Beliebigkeit geht Barth sogleich vor, indem er den Aspekt der Teleologie anspricht. Durch den Akt der Vorwegnahme des ‹Noch-Nicht› definiert der Mensch in seinem Existieren-Können jenes Sollen, das ihm motivational vorausgeht und seinen Sinn, wie Barth an anderer Stelle betont, festlegt. Damit wird bereits jetzt erkennbar, dass dessen Deutung von Existenz im Sinne eines Entwerfens auf ein zukünftiges Sein, das zunächst als Möglichkeit bestehen muss, mit der von Heidegger und Jaspers vertretenen Auffassung übereinstimmt. «Weil wir es bei dem Thema des ‹Menschen› mit einem Seienden in der Zeit zu tun haben, darum ist es nicht möglich, daß in der theoretischen Ist-Aussage die Existenz in der unter129 130 131 132
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.25. Erkenntnis der Existenz, S.119. Erkenntnis der Existenz, S.119. Erkenntnis der Existenz, S.64. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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schiedenen Weise ihres Da-Seins, nämlich als zeitbezogenes aktuelles Geschehen, ausgesagt wird.»133 In Bezug auf die eingangs angedeutete Unterscheidung des existentiellen Existenz-Begriffes von seinem eher analytisch fundierten Verständnis ist diese Feststellung Heinrich Barths eine wichtige Bestätigung. Denn sie trägt der Zeitlichkeit menschlichen Seins in einer Weise Rechnung, die charakteristisch für das Denken der Existenz ist. Verführerisch, jedoch irreführend wäre es nun, aus der Zeitlichkeit auch auf die Räumlichkeit dieses Seins als eines seiner wesentlichen Merkmale schließen zu wollen. Motivisch fassbar wäre diese im Denken des Welt-Bezuges des Menschen, dessen Thematisierung allerdings bei Karl Jaspers relativ schwach ausgeprägt ist und auch bei Heinrich Barth nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit steht, wie folgende Bemerkung belegt: «Existenzphilosophie beruht auf der Erkenntnis, daß der Mensch in einem andern Sinne ‹ist› als wie ein Stein oder ein Baum. […] ‹Sein› bedeutet in seiner Bezogenheit auf den Menschen etwas radikal Anderes als das Sein von gegenständlich Seiendem.»134 Schärfer könnten zwei Deutungen vom Sein kaum kontrastiert werden. Existenz als Seins-Weise des Menschen hebt sich strukturell vom Sein des übrigen Seienden ab. Die Vorstellungen von Jaspers und Barth, die sich an diesem Punkt am nächsten stehen, lassen es sogar als fraglich erscheinen, ob hier überhaupt von übrigem Seienden gesprochen werden darf, so wenig berücksichtigen sie das prä-existentielle Sein, in dem sich der Mensch aber doch immer befindet. Dieses ist ihm sicher, wenn er sich denn als da-seiend begreift, doch sein Existieren ist nicht nur an sich Möglichkeit, sondern auch möglich erst in der Aussicht seiner Konkretisierung. Eine Gefahr von nicht zu unterschätzendem Ausmaß könnte sich hier abzeichnen. Es spricht nichts dagegen, Existenz als Seins-Weise des Menschen zu begreifen, die sein Vermögen des Sich-Entwerfens in die Zukunft, die ontologisch betrachtet als ‹Noch-Nicht› zu denken ist, ausnutzt. Ebenso wenig spricht etwas dagegen, in der Konkretisierung von existentiellem Vermögen die Verwirklichung unseres eigentlichen Sein-Könnens zu erkennen. Doch diese beiden Ansätze werden in dem Moment zur Grundlage einer kritisch zu reflektierenden Folgerung, wenn aus ihnen auf eine höhere Wertigkeit der Existenz dem Sein gegenüber geschlossen wird. Denn in dieser Annahme verbirgt sich noch so viel jenes hierarchisierenden Denkens, das unsere philosophische Tradition charakterisiert. Wiederum führt die Spurensuche zurück zu Aristoteles, auch wenn er beileibe nicht der Erste gewesen ist, der in dieser Form der kontrastierenden Wertung dachte. Erneut ist auf seine Schrift zur Seelenlehre hinzuweisen, die in diesem Zusammenhang Aufschluss gibt. Dort heißt es, wie
133 Erkenntnis der Existenz, S.86, und zuvor hieß es: «Das ‹Existere› des Menschen ist offenbar nicht etwas, das wir als ‹Sachverhalt› bezeichnen können.» 134 Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.8 und S.15. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Heinrich Barth
bereits an früherer Stelle zitiert: «Denn immer ist das Wirkende ranghöher als das Leidende und das Prinzip höher als die Materie.»135 Bereits aus dieser Gegenüberstellung zweier möglicher Wertungsalternativen gehen eindeutige Priorisierungen hervor, deren Relikte sich – so unglaublich es auch sein mag – noch im modernen Existenz-Denken nachweisen lassen. Denn ohne auch nur ein einziges Mal einer kritischen Prüfung oder gar einer Begründung unterzogen worden zu sein, wird dort das Vermögen der Existenz anders bewertet als das Sein. Ein Vergleich zweier unvergleichbarer Begriffe liege hier vor, so könnte argumentiert werden. Sein bezeichnet das Faktum der Faktizität, das über den Menschen und das übrige Seiende ausgesagt werden kann. Existenz verweist im Gegensatz dazu auf eine Leistung des Menschen, der die ihr inhärente Möglichkeit ergreift. Die Interpretationen variieren hinsichtlich der Frage, ob Wollen und Entscheidung hierfür erforderlich sind, oder ob sie eher als ein Geschehen-Lassen aufzufassen sei. Ganz gleich, welche Wahl getroffen wird, hebt das Existieren-Können den Menschen aus dem Stand reiner Faktizität in den Möglichkeitsraum der Selbst-Werdung. Ist Existenz damit als das qualitativ hochwertigere Sein zu verstehen? Die Aussagen von Jaspers und Barth könnten diesen Eindruck erwecken, da sie zumindest klarstellen, dass das auf dem Wege der Existenz-Verwirklichung entworfene Sein sich von jenem steten Sich-gleichBleiben des Welt-Seins unterscheidet. Solange in diesem Zusammenhang vom Sein des Menschen gesprochen wird, wird sich an dieser Wertung wahrscheinlich nichts ändern. Wer diesen Ausdruck verwendet, nimmt stillschweigend die mit ihm einhergehende Hierarchisierung in Kauf. Wie dem zu entgehen sei? Vorausgesetzt, es wird überhaupt versucht, diese Konnotation zu vermeiden, bestünde der naheliegende Schritt darin, nicht vom Sein des Menschen, sondern eher vom menschlichen Sein zu sprechen. Was sich dadurch ändert? Die erste Formulierung erweckt den Eindruck, dass Sein vorstellbar wäre, welches nur dem Menschen zukommt, wohingegen die zweite Formulierung auf ein vom Menschen geprägtes Sein hindeutet. Dieser gedanklichen Linie wird zu folgen sein. Heinrich Barths Erklärung, der Mensch sei in anderem Sinne als der Stein und der Baum, rückt an diesem Punkt noch einmal in der Vordergrund. Die Aufgabe der Existenzphilosophie in Ansehung des Seins des Menschen beschreibt er folgendermaßen: «Eben diese Bedeutung von ‹Sein›, die sich wie in anderer Dimension liegend, vom Sein der natürlichen Realität abhebt, will sie erkennen.»136 Für jemanden, der sich derart weit in der Kennzeichnung dieser «anderen Dimension» wagt, wäre es nicht einfach, die Bedeutung des Seins des Menschen im Gesamt des Seienden zu eruieren, vorausgesetzt, er wollte diesen Weg überhaupt gehen. Dass eine solche Position im Sinne der hier vorliegenden Überlegungen nicht geteilt werden kann, zeichnet sich immer stärker ab, ohne bisher explizit 135 136
Über die Seele, III, 5, 15. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.8. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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thematisiert worden zu sein. Barth verfolgt einen Deutungsansatz, der ihn zur Ausführung seiner ganz speziellen Form von Existenzphilosophie führt. Seine Sorge, die bestehenden Konzeptionen könnten sich als «Reich ohne Mitte» erweisen, wurde bereits erwähnt. Wie ist nun seiner Meinung nach einem damit einhergehenden «Substanzverlust» entgegenzuwirken? Die Antwort klingt vielleicht allzu schlicht. Dadurch nämlich, dass das Zentrum existenzphilosophischen Denkens benannt wird. Für Barth ist dieser Mittelpunkt in der Frage nach einem gemeinsamen Wahrheitsanspruch zu finden: «Auf eine Einheit des ‹Grundes› darf auch die Philosophie der Existenz nicht Verzicht leisten.»137 Dass sie sich in ihrer kurzen Geschichte zu leichtfertig von bewährten Ansichten getrennt hat, ohne für sie adäquaten Ersatz anbieten zu können, beklagt Barth bereits auf den ersten Seiten seiner Schrift. Die Möglichkeit, dass ihr womöglich gar nicht daran gelegen war, wirklich adäquaten Ersatz zu bieten, zieht er nicht in Betracht. Dadurch, dass das Gelingen der Konzeption von Existenzphilosophie an den Gedanken des Wahrheitsanspruches gekoppelt wird, nimmt ihre Ausführung von Anfang an eine ganz bestimmte Richtung, die sie – zumindest bei erster Betrachtung – von den beiden bisher angesprochenen Entwürfen unterscheidet. Denn es steht nicht die Frage nach dem Selbst-werden-Können des Einzelnen in ihrem Zentrum, sondern nach seinem Erkennen. «Nicht nur die Philosophie der Existenz ist, wie auf der Hand liegt, ein Problem der Erkenntnis. Uns wird sich die Existenz als solche in der Bedeutung der ‹Erkenntnis› darstellen.»138 Die Folgerung, die sich hieraus ergibt, formuliert Barth selbst in denkbar unmissverständlicher Kürze: «Indem wir Existenz als Erkenntnis verstehen, treten wir zu aller Existenzontologie in Widerspruch.»139 Existieren als Erkenntnisvollzug verstanden, leistet genau das, was Barth von ihrer Philosophie fordert: Sich auf einen eindeutig feststellbaren Mittelpunkt zu beziehen. In der bloßen Erwähnung von Erkenntnis ist dieser freilich noch nicht benannt, doch in Sicht genommen. Wenn der erkennende Mensch der existierende Mensch ist und Barth die Überzeugung seiner Vorgänger teilt, diesen als Einzelnen erfassen zu wollen,140 könnte eine Schwierigkeit entstehen, der es seiner Auffassung nach vorzubeugen gilt. Wie kann verhindert werden, dass die unzähligen Erkenntnisbewegungen der Menschen in eine unüberschaubare Vielfalt zerfasern? Nur dadurch, dass sie in ihrer Vollzugsdynamik einem identischen Ablauf folgen. Dessen immer gleichbleibende Gestalt wird durch den GeErkenntnis der Existenz, S.25. Erkenntnis der Existenz, S.59. Und auf S.129 heißt es: «‹Existenz› ist uns als solche ein Problem der Erkenntnis.» 139 Erkenntnis der Existenz, S.129. 140 «Die Existenzphilosophen dürfen einig sein in der Intention, den Menschen in seiner Konkretion philosophisch zu erfassen und zu umschreiben. Und wir sind in dieser Tendenz mit ihnen einig.» Erkenntnis der Existenz, S.83. 137 138
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Heinrich Barth
danken des Transzendentalen gewährleistet. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beabsichtigt Heinrich Barth, seine Konzeption von Existenzphilosophie in enger Bezugnahme auf bestehende Elemente des philosophischen Denkens zu konstruieren. Richtungweisend wird für ihn dabei die Theorie des Transzendentalen in Anlehnung an ihre Formulierung durch Immanuel Kant. Am Anfang des Kapitels, das er deren Darlegung widmet, geht Barth auf den Begriff der Transzendenz ein und stellt sogleich klar: «Im Problem des ‹Transzendentalen› findet ein allgemeines, in einer breitern Basis des Menschlichen verwurzeltes Problem, das theoretisch-spekulativ und zugleich existentiell relevante Problem des ‹Transzendierens› oder der ‹Transzendenz›, seine äußerste Zuspitzung.»141 Dass ihm nicht an der «Verdoppelung der Weltrealität» gelegen ist, die durch die Annahme von Transzendenz entstehen könnte, hat sich bereits abgezeichnet. Denn aus ihr könnte «die Gefahr einer Weltlosigkeit der Existenz» resultieren,142 wenn diese vornehmlich in der Realität der Transzendenz ihre Verwirklichung finden sollte. Ein Gegeneinander-Abwägen verschiedener Realitäten ist auch deshalb für Barth nicht von Interesse, weil er seinen Begriff von Existenz nicht primär durch die Aufweisung seines Realitäts-Bezuges, sondern seines Erkenntnis-Vollzuges konturieren will. Umso dringlicher ist daher das Erfordernis, die Einheit im Erkennen-Können der Einzelnen zu begründen. Der Kantischen Vorgehensweise explizit folgend, setzt Barth mit seiner Beantwortung der Frage «Wie gewinnen wir überhaupt Zugang zu einer ‹Transzendentalphilosophie›?» an, indem er den Ausgangspunkt aller Erkenntnis, die Erfahrung, fokussiert. Da diese je Einzelnes erfasst, bliebe ein sinnhafter Zusammenhang von Erkenntnis als solcher, die aus ihr hervorgehen soll, fragwürdig. Zu leisten sei dieser lediglich durch die Annahme des transzendentalen Prinzips der Vernunft, wie Barth konstatiert. Denn er ist davon überzeugt, dass «Die letzte, unüberholbare Voraussetzung für alle in der Erkenntnis sich vollziehende Auseinandersetzung mit dem Wirklichen […] nicht im Wirklichen selbst […] liegen [kann].»143 Denn diese könne immer nur der Erfahrung zugänglicher Gegenstand sein. Wird nach der Möglichkeit gefragt, deren Kontingenz im Gedanken von Sinnhaftigkeit aufzufangen, erweist sich ihre fundamentale Unzulänglichkeit, da der Sinn des Kontingenten ein seit jeher fast unmöglich zu Denkendes sei. Die Folgerung, die Barth formuliert, scheint daher hohe Plausibilität aufzuweisen: «Der Vollzug von sinngebenden Akten setzt voraus den Sinn, die Vernunft, die Erkenntnis. […] Wir nehmen keinen Anstand, in diesem Zusammenhange auf den etwas suspekt gewordenen Terminus ‹Idee› zurückzugreifen.»144
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Das Auftauchen der Frage nach Sinnhaftigkeit im Kontext der Frage nach Erkenntnis mag im ersten Moment verwundern. Da es Barth nicht um die Klärung des Begriffes der Wahrheit an sich, sondern jener Wahrheit geht, die sich durch ihre Möglichkeit auszeichnet, existentiell Relevantes anzuzeigen, erschließt sich die Notwendigkeit, an dieser Stelle deren Sinn zu thematisieren. Denn nur so kommt «existentielle Wahrheit» in den Blick, die sich durch ihre Qualität des Sinnbezuges im Vergleich zu logischer Wahrheit auszeichnet. Für ihr Verständnis ist es nach Barths Überzeugung unerlässlich, die Möglichkeit in die Betrachtung einzubeziehen, Sinn nicht nur zu schauen, sondern vor allem zu setzen. Eine der spannendsten Überlegungen im Zuge einer Auseinandersetzung mit Heinrich Barths Konzeptionen besteht sicherlich darin, nach der Vereinbarkeit von existentiellem Sinnanspruch im Begriff von Wahrheit und der transzendentalen Begründung von Erkenntnis zu fragen.145 Bevor hierauf jedoch übereilt geantwortet wird, ist seinem Gedankengang zunächst noch ein Stück weit zu folgen. Ausgangspunkt hierfür bildet folgende Erklärung: «‹Wahrheit› ist die transzendentale Voraussetzung der sich im Erkennen aktualisierenden Erkenntnis.»146 Formal besagt diese Feststellung, dass Erkennen auf «die transzendental verstandene Idee» des Erkennens ausgerichtet ist. Das Besondere der Barth‘schen Interpretation besteht aber darin, dass dieser Idee keine absolute Priorität vor aller Erkenntnis zukommt, sondern dass sie mit dem Vollzug des Erkennens gesetzt wird. Auch Sinnhaftigkeit besteht nicht vor aller Erkenntnis, sondern erscheint in ihrem Vollzug allererst als denkbar. In diesem Gedanken verknüpfen sich die beiden Aspekte, die in seiner Deutung des Wahrheits-Begriffes zusammenlaufen: Dessen Erkenntnis-ermöglichende und dessen im Zuge des Erkennens gesetzte Bedeutung. Über diese Benennung hinaus verbinden sich zwei unterschiedliche Möglichkeiten, von Wahrheit zu sprechen. Auf der einen Seite ihre Erkenntnisnotwendige Bedeutung und auf der anderen Seite ihre existentielle Dimension. Denn diese ließe sich nicht allein dadurch nachweisen, dass darauf verwiesen würde, alles Erkennen müsse notwendig transzendental fundiert sein. Den Übergang der ersten zur zweiten Bedeutung formuliert Barth folgendermaßen: «Die ‹Wahrheit›, ausgesprochen auch als ‹Wahrhaftigkeit›, gewinnt in weiten Lebensbereichen eine existentiell relevante Bedeutung. Sie hat nicht nur erhellenden, sondern auch verpflichtenden Charakter.»147 Um es jedoch noch einmal zu betonen: Auch wenn Barth von Ideen spricht und in diesem speziellen Kontext die Idee des Guten erwähnt, heißt es nicht, dass er ihren Bestand vor aller Verwirklichung voraussetzen würde. Es gibt nicht die Idee des Guten, sondern diese wird zur Idee dadurch, dass der Mensch sie setzt. Wie ist das vorstellbar? Ein bislang «Denn alle Erkenntnis beruht auf transzendentaler Voraussetzung.» Erkenntnis der Existenz, S.227. 146 Erkenntnis der Existenz, S.228. 147 Erkenntnis der Existenz, S.231. 145
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Heinrich Barth
nicht berücksichtigter Begriff muss nun hinzugezogen werden, nämlich der der Entscheidung. Die Nähe zum existentiellen Denken seiner Vorgänger kündigt sich ihn ihm unmittelbar an, denn er deutet auf einen Setzungsakt des ‹NochNicht›. Indem der Mensch – der Einzelne, wie auch Barth betont – die konkrete Daseins-Situation transzendierend seine Existenz-Möglichkeit ergreift, entscheidet er über den Sinn dieser Möglichkeit. Dass dieser nicht von vornherein gegeben ist, mag überraschen, muss doch die Möglichkeit des Existieren-Könnens dem Sein inhärieren. Die Möglichkeit sehr wohl, doch nicht deren Erfüllung mit Bedeutung, das heißt das Testat ihrer Sinnhaftigkeit. Könnte der Begriff der Entscheidung auf das Abschätzen verschiedener Alternativen im Wünschen und Wollen hinweisen, greift Barths Interpretation doch weiter. Es handelt sich nicht um die Wahl dieser oder jener konkreten Option, sondern um die Entscheidung für das Existieren-Können. Noch einmal ist nachzufragen. Liegt dieses Können nicht im Sein begründet, so dass es vom Menschen nur ergriffen zu werden braucht? Nicht im Sinne Heinrich Barths. Existieren-Können wird erst dann denkbar, wenn es im Vollzug des Existierens konkretisiert wird. Die Frage nach einer eventuellen Vorlage im Sein spielt für ihn letztlich keine Rolle, da er, wie er es nannte, keine Existenzontologie zu betreiben gedenke. In der Entscheidung erfolgt ein Sich-Entwerfen in die Zukunft, woraus folgt, dass dasjenige, das sich im ‹Noch-Nicht› verwirklicht, genau als das eintreten soll, was entschieden wurde. Hier kommt der gerade angesprochene Gedanke der Verknüpfung zweier Argumentationsperspektiven zum Tragen. Denn durch den Aspekt des Sollens des Entschiedenen gewinnt eine erkenntnistheoretisch gegründete Erörterung existentielle Bedeutung: Wir existieren als Einzelne in der entwerfenden Vorwegnahme eines Zukünftigen, das im aktuellen Entwerfen gegenwärtig wird. Dieses Entwerfen geschieht in einem Horizont der Erwägung dessen, was als ‹vorzüglich› in Frage kommt. Indem wir uns abwägend die Möglichkeit des ‹Vorzüglichen› vor Augen stellen, richten wir uns auf die transzendental übergreifende Voraussetzung des ‹Guten›.148
Kompakter ließe sich der Zusammenhang von Entscheidung, Entwurf und transzendentaler Begründung nicht ausdrücken. Zu betonen bleibt lediglich noch einmal, dass die Idee des Guten nicht an sich besteht, sondern erst im Moment, in dem die Entscheidung sich konkretisiert und ein Ziel ihrer Motivation zu erkennen gibt, als deren Begründung gedacht werden kann. Wäre hier die Anmerkung vorstellbar, dass doch dieser Gedanke am Ende der Erläuterung des Transzendentalen, nicht jedoch der Existenz dient, ist gleichsam seine Rückwirkung zu betrachten. Indem der Mensch den Entwurf in das ‹Noch-Nicht› der Zukunft vornimmt, schafft er selbst jene Bestimmung, die dann als Begründung seines Existierens gewertet werden kann. Scheint in den letzten Überlegungen der Be148
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griff der Erkenntnis aus dem Blick geraten zu sein? Darauf, dass Barth logische und existentielle Wahrheit unterscheidet, wurde bereits kurz geschaut. Dieselbe Differenzierung nimmt er auch in Bezug auf den Erkenntnis-Begriff vor. Gegenstand existentieller Erkenntnis ist die Einsicht in genau diesen Vollzug der selbstsetzenden Sinngebung der Existenz, in der diese sich an einem Wert des Sinnhaften orientiert, den sie selbst im Prozess ihrer Konkretisierung begründet. Im weitesten Sinne kann davon ausgegangen werden, dass seine Vorstellung der existentiellen Erkenntnis die Komponente der Selbst-Einsicht beinhaltet, die zumindest für Karl Jaspers von zentralem Interesse war. Und wird anerkannt, dass das Verstehen des eigensten Selbst-Sein-Könnens, das Martin Heidegger thematisiert, auch ein einsehendes Geschehen ist, das Einblick in eben dieses Selbst des Seins bietet, könnte der entsprechende Gedanke auch in seiner Konzeption nachgewiesen werden. Heinrich Barth tritt, wie er selbst konstatiert, für die «transzendentale Begründung der Existenz» ein.149 Wie die spärlichen Bemerkungen an dieser Stelle zeigen, knüpft er damit an den Bedeutungskontext des Begriffes des Transzendentalen, wie er in der philosophischen Tradition verwendet wurde, an, ohne es jedoch bei dessen Zitat zu belassen. Denn dann wäre es in der Tat eine kaum einzulösende Aufgabe, ihn auf den modernen Begriff der Existenz beziehen zu wollen. Wie sollte diese der Wirkung eines solchen Begründungsgedankens ansichtig werden? In Heinrich Barths Diktion klingt diese Problematik folgendermaßen: «Was für eine ‹Vernunft› ist transzendentale Voraussetzung unserer in der Zeit sich ereignenden existentiellen Erkenntnis?»150 Bei der Beantwortung kommt ihm dann seine zuvor eingeführte Doppelung von Wahrheit und Erkenntnis zugute, die er nun auch im Begriff der Vernunft findet. So ist es denn nicht die theoretische Vernunft, die im Begründungsansatz des Transzendentalen zu denken ist, sondern Vernunft mit existentieller Bedeutung. «Eine Begründung existentieller Erkenntnis in einem Vernunftprinzipe, dessen Bedeutung die Existenz vermissen läßt, kann es nicht geben.»151 Die Unterscheidung beider Modi der Erkenntnis mag sich nicht sofort erschließen. Denn was beinhaltet Letztere, das Ersterer nicht eignet? Die Komponente der Selbst-Einsicht, so kann vermerkt werden. Diese vermittelt in Barths Auffassung Welterfahrung und transzendentale Erkenntnis, indem sie sich selbst als der Bewegung des Sich-Entwerfens für fähig erkennt. Ob dieses als ein Hinüberschreiten, ein Transzendieren der Welterfahrung zu deuten ist, könnte gefragt werden, denn es spricht tatsächlich Einiges dafür, dass Barth es so verstanden wissen will. Sein Begriff des Selbst kam bislang nicht zu Sprache, was nun nachzuholen ist:
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Heinrich Barth
Was wir ‹Selbst› nennen, ist nicht Voraussetzung, sondern Aktualisierung der Existenz, qualitativ gesteigerte Aktualisierung. […] Wir existieren in existentieller Erkenntnis auch sofern wir in unserm Selbst existieren, und zwar eben dort in einem eminenten Sinne. Ist doch mit dem ‹Selbst› gerade die dichteste und gehaltvollste Weise des Existierens gemeint und damit auch die dichteste Erschließung existentieller Wahrheit.152
Der Aspekt der qualitativen Steigerung von Existenz, der hier anklingt, erklärt sich durch deren Deutung als Erkenntnis. Diese kann, davon ist zumindest Barth überzeugt, variierende Grade der Intensität zeigen, von Dichte, wie es hier heißt. Wichtig ist besonders der Hinweis, im Selbst nicht Voraussetzung von Existenz zu sehen, was zunächst nach einer massiven Kontrastierung zu den Vorstellungen von Heidegger und Jaspers klingt. Besonders Ersterer bestätigt diesen Eindruck dadurch, dass er von dem Man-Selbst spricht, aus dem sich das eigentliche Selbst befreit. Wird jedoch der Gedanke der graduellen Steigerung von Existenz und damit von Selbst berücksichtigt,153 den Barth zur Sprache bringt, nähern sich beider Auffassungen doch stärker einander an. Eine qualitative Variabilität des Selbst-Standes würde nun allerdings eines objektiven Maßstabes bedürfen, an dem sie zu taxieren wäre, zumindest nach herkömmlichem Dafürhalten. Dass eine solche Bemessungsgrundlage hier nicht angenommen werden kann, wird aus folgender Überlegung ersichtlich. So entschieden Barth für den Gedanken der transzendentalen Begründung der Erkenntnis eintritt, bleibt doch zu berücksichtigen, dass er diese zugleich als Begründung existentieller Erkenntnis begreift. Verstehen der Wirkweise des Transzendentalen mündet daher immer in die Einsicht des Selbst, erschließt diese erst eigentlich. Wenn denn nach einem Maßstab für die Grade «qualitativ gesteigerte[r] Aktualisierung» der Existenz gefragt werden soll, ist dieser im Selbst zu suchen: Das zentrale, erfüllte, in die Tiefe des Selbst greifende Selbstverständnis, das nicht ohne Beteiligung und Inanspruchnahme der Existenz denkbar ist, erweist sich als einer der wesentlichen Faktoren der Existenzgeschichte. Denn dieses nicht nur psychologisch, sondern existentiell relevante reflektierende Selbstverständnis geht unmerklich über in das Entwerfen des zukünftigen Selbst – dieses Entwerfen, das nicht mehr ein Seiendes, sondern ein Sein-Sollendes zum Gegenstande hat.154
Besonders aus diesen Zeilen ist abzulesen, warum Heinrich Barths Denken eben keine reine Transzendentalphilosophie, sondern Existenzphilosophie ist. Denn, so könnte argumentiert werden, während Erstere dem Nachweis des Prinzips alles Erkennens dient, entwirft Letztere eine aus dieser Erkenntnis abgeleitete Vorstellung von jenem Regulativ, das die Entscheidung über das Zukünftige betrifft. Erkenntnis der Existenz, S.348 f. «Unter dem ‹Selbst› eines Menschen verstehen wir seine Existenz, sofern wir sie uns ihrer Tiefe und in ihrem wesenhaften Gehalte vor Augen stellen.» Erkenntnis der Existenz, S.339. 154 Erkenntnis der Existenz, S.263.
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Dessen Wirkung liegt aber nicht in einem absoluten Weisungsanspruch, der das zu Entscheidende bestimmt, sondern in der Einsicht in das Selbst als Zentrum existentieller Einsicht. In stark verkürzter Form kann es so ausgedrückt werden: Erkenntnis der Existenz ist Selbst-Erkenntnis. Es selbst produziert jene Setzungen, an deren Sinnhaftigkeit es sich im Zuge zukünftiger Entscheidungen, die sich in das ‹Noch-Nicht› entwerfen, orientieren wird. Heinrich Barth ist äußerst zurückhaltend, wenn es um Aussagen über das Wesen des Menschen oder dessen Bestimmung geht. Mit Blick auf die Funktion existentieller Selbst-Erkenntnis trifft er allerdings eine bemerkenswert klare Feststellung: «Selbsterkenntnis bietet Voraussetzung und Gelegenheit zur Erkenntnis menschlicher Bestimmung.»155 Die Feststellung, Erkenntnis der Existenz sei Selbst-Erkenntnis, muss schließlich noch in einem wesentlichen Aspekt präzisiert werden. Denn deren Inhalt ist nicht etwa ein Panorama psychischer Verfasstheit, sondern der Vorgang des Erkennens selbst. Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie wenig Heinrich Barth an Fragen der Konstitution des Selbst, die sich nicht auf dessen Erkennen beziehen, interessiert zu sein scheint. Bemerkenswert, jedoch nicht verwunderlich, denn gerade in dieser Hinsicht wollte er sein System der Existenzphilosophie offensichtlich von anderen Konzeptionen absetzen. Welche Rolle sollte in seinem Begriff der transzendental begründeten Existenz auch den Stimmungen und Verstimmungen zukommen, die von Martin Heidegger zu grundsätzlichen Gegebenheitsweisen des Selbst-Seins und von Karl Jaspers als notwendige Impulsgeber existentieller Selbst-Erfahrung erklärt wurden?
Vergleich An diesem Punkt angelangt wird eine kurze vergleichende Betrachtung der drei hier erwähnten Entwürfe zur Existenzphilosophie möglich. Bereits das Thema, das gerade angesprochen wurde, legt eine derart signifikante Differenz offen, dass fast gefragt werden könnte, wie denn Gedanken mit solch unterschiedlicher Ausrichtung unter einem gemeinsamen Namen zusammengefasst werden können? Zur Diskussion steht die Bedeutung jener Erschütterung, die Gleichmaß und Selbstverständlichkeit des alltäglichen Tuns durchbricht und den Menschen – als Einzelnen – vor die Herausforderung seines Existieren-Könnens stellt. In Karl Jaspers’ Schriften finden sich die wichtigsten Ausführungen hierzu im Zusammenhang seiner Erörterung der Grenzsituationen. Der Begriff der Grenze ist dabei in seiner doppelten Bedeutung zu lesen. Denn diese markiert das Ende von etwas und eröffnet dadurch zugleich den Blick auf das offene Feld des Möglichen, das notwendig ist, um Existenz denken zu können. Die Konfrontation mit etwas, das nicht der eigenen Verfügung unterliegt, gibt die Perspektive auf das einzig 155
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Verfügbare frei, das den Menschen eigentlich ausmacht: seine Existenz. Wichtig ist hier noch einmal der Hinweis, dass diese sich nicht von selbst einstellt, sondern vom Einzelnen ergriffen werden muss. Denn andernfalls könnte sie nicht Beleg seines eigensten Selbst-Seins werden, wie Martin Heidegger durch seine Kontrastierung von Man-Selbst und eigentlichem Selbst des Menschen zeigt. Der Begriff der Erschütterung geht auf das Denken Søren Kierkegaards zurück, der die Zäsur im menschlichen Leben, die Indifferenz im Tun von der gewählten Haltung im Sein unterscheidet, in vorausschauender Gültigkeit zu beschreiben wusste. Ihre durchschlagende Wirkung, die den Menschen als diesen Einen urplötzlich mit der Möglichkeit seines Werden-Könnens konfrontiert, erreicht die Erschütterung, die er diagnostiziert, letztlich nur dadurch, dass es sich um eine psychische Affektion handelt. Bei ihm äußert sie sich in Form der Verzweiflung, bei Heidegger und Jaspers in Form der Angst. Es ist in der Tat entscheidend, dass der Mensch in einer rational nur bedingt kontrollierbaren Weise affiziert wird, da diese Erschütterung seine Daseins-Einstellung grundlegend verändern wird. Einer solchen Affektion ist auf rationalem Wege schwerlich beizukommen, davon ist Martin Heidegger überzeugt. Noch einmal sei an seine Worte aus Sein und Zeit erinnert: Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichkeit und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und –ergreifens.156
Es ist immer wieder faszinierend, wie sich in einzelnen Formulierungen weitgreifende Argumentationen in komprimiertester Weise abbilden lassen. Hier liegt eine solche Formulierung vor. Denn sie bestätigt, dass die Erschütterung – ein Ausdruck, den Heidegger nicht verwendet – aus dem Dasein heraus auf den Raum des Möglichen verweist. Noch weitaus bedeutsamer ist aber die Wahl der Ausdrücke, die in diesen Zeilen das Begreifen dieser Wirkung signalisieren. Vom Verstehen ist die Rede und vom Offenbaren, beides Umschreibungen eines erkennenden Geschehens, das nicht mit einem philosophischen Begriff von Erkenntnis identisch ist. Dass Verstehen im existentiellen Sinne etwas anderes als Verständnis meint, hat sich bereits abgezeichnet. Denn es beinhaltet neben dem Erfassen der strukturellen Beschaffenheit des jeweiligen Zusammenhanges auch das Erfassen der Bedeutung, die ihm für das Gewahren der eigenen ExistenzMöglichkeit zukommt. Auch der Ausdruck des Offenbar-Werdens dient Heidegger dazu, ein Verstehen kenntlich werden zu lassen, das in einem einzigen Akt theoretisches Erfassen des formalen Aspektes und seiner existentiellen Bedeu156
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tung umgreift. Daher ist es aus existenzphilosophischer Sicht konsequent, für die Initiierung eines solchen Geschehens auf eine das rationale Verständnis im buchstäblichen Sinne unterlaufende Affektion zu setzen. Denn die emotionale Beteiligung des Menschen an diesem Vorgang ist insofern entscheidend, als er sich in radikaler Vereinzelung vorfinden muss, um seine existentielle Beteiligung am Prozess des Verstehens erfassen zu können. Und Vereinzelung ist nicht abstrakt zu denken, sondern zu spüren, am eigenen Leibe und dem eigenen Sein zu erfahren, wie hinzugefügt werden kann. Dass Heidegger in obigen Zeilen von der Vereinzelung spricht, ist daher unverzichtbar. Denn diese Erfahrung des Sein-Könnens macht jeder Einzelne je für sich. Vielleicht fällt auf, dass er aber auch vom Sich-selbst-Wählen spricht. Im Zuge der bisherigen Überlegungen wurde die Funktion des Wählens mit Blick auf sein Denken jedoch bestritten, worin eine partielle Differenz zur Deutung von Karl Jaspers gesehen wurde. Holt die Gedanken nun am Ende ein Widerspruch ein? So ist es nicht. Denn das Wählen, das Heidegger vor Augen hat, ist kein Abwägen zwischen zwei Möglichkeiten, die in dem Moment erscheinen müssten, in dem das Freisein für zu Bewusstsein gelangt. Wahl-Möglichkeit unterscheidet vielmehr das Dasein vor der Erschütterung von dessen affektiver Durchdringung. Auch die Tatsache, überhaupt von Wahl sprechen zu können, ist eine ihrer Wirkungen, wie bereits Kierkegaard zu verstehen gab, als er feststellte, Wahl sei nicht die Abwägung zwischen zwei Optionen, sondern das Faktum des Wählen-Könnens an sich. Es mag auffallen, dass die Betrachtung immer wieder zu Gedanken Martin Heideggers zurückkehrt und das in größerem Umfang, als es mit Ansichten von Karl Jaspers oder Heinrich Barth der Fall ist. Das geschieht gewiss nicht zufällig, sondern aus gutem, wenn auch nicht unproblematischem Grund. Wie sich sogleich noch weiter zeigen wird, liegen mit den Aussagen dieser drei Denker drei teils extrem unterschiedliche Konzeptionen von Existenzphilosophie vor. Werden heute entsprechende Überlegungen angestellt, ist es erforderlich, sich innerhalb dieses Tableaus möglicher Positionen zu positionieren, wobei sofort klar ist, dass eine Verortung in gleicher Nähe zu allen drei Entwürfen nicht möglich sein kann. Zu stark variieren die Akzentuierungen, die Heidegger, Jaspers und Barth vornehmen, um eine undifferenzierte Bezugnahme zu erlauben. Es sind Aspekte der Heideggerschen Konzeption, die hier den Boden für eine weiterführende Reflexion bieten. Das bedeutet auf gar keinen Fall, dass mit Heidegger zu denken sei, sondern dass Bestandteile seiner Deutung von Existenz Grundlage einer kritischen Prüfung werden können. Doch bevor dieser Ansatz zu verfolgen ist, gilt es zunächst noch für einen Moment bei der Frage nach Übereinstimmungen und Differenzen der Deutungen von Existenz zu bleiben. Das so charakteristische Element der Erschütterung, das in den Vorstellungen von Heidegger und Jaspers unverzichtbarer Indikator existentiellen Werden ist, scheint bei Heinrich Barth keine vergleichbare Rolle zu spielen. Doch wie ist das möglich? Gehört es nicht zu den wenigen Konstanten, die Existenzphilohttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sophie überhaupt zu erkennen gibt, so elementar, dass sie sich sogar noch im existentialistischen Denken von Jean-Paul Sartre und Albert Camus findet? Unvergessen sind doch die Worte des Letzteren, 1942 niedergeschrieben: «Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, […] immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ‹Warum› da, und mit diesem Überdruß, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.»157 Auch wenn es bei Camus nicht mehr einer Affektion wie der Angst bedarf, um die Frage nach dem Warum auszulösen, und auch wenn es klingen könnte, als gelte es diese auf rationalem Wege zu beantworten, ist genau das Gegenteil der Fall. Denn die Bewusstseinsregung, la mouvement de la conscience,158 die in diesem Moment ihren Anfang nimmt, führt zur Einsicht, dass ein ausschließlicher Gebrauch der Vernunft in Fragen der Daseins-Erklärung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Auf die Verfassung im Dasein reagieren wir emotional-affektiv, wie am deutlichsten im Gefühl des Absurden spürbar wird, und nicht kalkulierend und analysierend. Ganz ähnlich führt uns Jean-Paul Sartre 1938 in seinem Roman Der Ekel zu jenem Einbruch des Affektiven, wenn das «Zuviel» des Seins, das uns umgibt und umschließt, zu Bewusstsein gelangt. Die Tatsache, dass beide den Begriff des Bewusstseins verwenden, den Heidegger im Gegensatz zu Jaspers demonstrativ meidet, könnte als Indiz dafür verstanden werden, dass sie der Vernunft eine gewichtigere Funktion im Prozess der Aufarbeitung affektiver Erschütterungen zuweisen. Denn Bewusstsein verlangt nach Aufklärung der Ursachen jener Affektion, so könnte betont werden. Doch zumindest Camus weist einen solchen Gedanken strikt zurück. Für ihn geht es darum, die Wirkweisen von Vernunft und Natur in einem umfassenden Bild des Einverständnisses zu verbinden, in dem allein der Mensch sich der Bedingtheit seines Daseins zu stellen vermag. Der kurze Blick über die Grenze existenzphilosophischen Denkens hinaus diente einzig dem Zweck, auf die Tatsache hinzuweisen, dass im KonstitutionsElement der Erschütterung eine sogar dessen spezifische Ausrichtung überdauernde Konstante der Theoriebildung gesehen werden kann. Und Heinrich Barth, der deutlicher noch als Karl Jaspers für das Projekt «Existenzphilosophie» wirbt und ihm durch seine systematische Darstellung eine mit der Tradition verträgliche Form zu geben sucht, sollte gerade darauf verzichten? Von Verzicht zu sprechen, erweckt einen falschen Eindruck. Denn es könnte so wirken, als habe sich Barth aus nachvollziehbaren Gründen gegen die Integration dieses Elementes in seine Konzeption von Existenz entschieden, obwohl sie dort sinnvollen Platz hätte finden können. Ein solcher Platz war von Anfang an nicht gegeben. Denn warum sollte in einer Theorie, die die transzendentale Begründung der Existenz und nicht nur des Existenz-Denkens erläutert, ein Element affektiver Natur zum Ein157 158
Der Mythos von Sisyphos, S.16. Le mythe de Sisyphe, S.29. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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satz kommen können, ja mehr noch: überhaupt vorstellbar sein? Fällt der Blick zurück zu Kierkegaard, Heidegger und Jaspers, ergibt sich aber folgender Zusammenhang: Die affektive Erschütterung ist unverzichtbar dafür, dass der Mensch sich in Vereinzelung erfahren kann. Ohne einen solchen Initiativmoment bliebe es in ihren Entwürfen letztlich unverständlich, wann, wie und warum sich der Einzelne überhaupt erst als Einzelner begreift. Damit tritt die Frage in den Vordergrund, ob Barth generell keine Erklärung für die Vereinzelung des Menschen zu geben braucht. Bis jetzt sind keine Anhaltspunkte dafür sichtbar geworden, ganz im Gegenteil. Derjenige, der im Entwerfen des ‹Noch-Nicht› dessen transzendentale Begründung setzt und zugleich bestätigt, wirkt stets in der gleichen Weise, die nicht durch eventuelle Bedingungen individueller Präferenz beeinflusst wird. Darin sieht Barth den seiner Ansicht nach unbestreitbaren Vorzug des Gedankens des Transzendentalen: Er garantiert, dass all die Einzelerkenntnisse, die die Menschen vollziehen, nicht in ein unüberschaubares Chaos münden, sondern Strukturelemente des Erkennens schlechthin verwirklichen. Eine Textpassage, die bisher aufgespart wurde, kann nun gewinnbringend betrachtet werden. Sie entstammt Barths Erläuterungen der Frage, worin «der Unterschied zwischen ‹seiner›, des Andern, und ‹meiner› zum ‹Faktum› gewordenen Aktualisierung der Existenz […]» liege?159 Weiter heißt es: «Die Reflexion auf ‹meine› Aktualisierung bedeutet: Die Reflexion auf eine Aktualisierung, in der ich, der Reflektierende, aktuell gewesen bin. Wobei mir ‹jetzt›, in meiner Gegenwart, meine nunmehr ‹gewesene›, aber einst aktuelle Aktualisierung nur auf der Ebene einer objektivierenden Reflexion gegenwärtig sein kann!» In der rückblickenden Erkenntnis der Existenz, die nun zum Gegenstand der Betrachtung geworden ist, spielen etwaige Individuierungsfaktoren keine ausschlaggebende Rolle mehr, da, so kann unter Zuhilfenahme der bisherigen Befunde ergänzt werden, in dem Augenblick lediglich das Strukturmodell verwirklichten Existieren-Können reflektiert wird. Da sich diese Feststellung allerdings schwerlich mit dem vermeintlichen Anspruch von Existenzphilosophie, Theorie zum Existenz-Geschehen des Einzelnen sein zu wollen, vereinbaren lässt, weist Barth auf die Tatsache hin, dass die Reflexion gleichwohl diejenige des Einzelnen sei, da sie «eine existentielle Bedeutung von bestimmtem Gehalt» habe, die sie von Reflexionen der Anderen unterscheide. Worin diese Bedeutung sich ausdrückt, bleibt allerdings relativ offen. Die Schwierigkeit, hier Stellung zu beziehen, thematisiert Heinrich Barth selbst, indem er die Frage nach dem Verhältnis der Vorstellungen von Subjekt als Erkennendem und Individuum aufwirft.160 Der Umstand, dass er speziell in diesem Teil seiner Darstellung vielfältigen Bezug zur philosophischen Tradition herstellt, mag die Tiefe der Problematik noch umso plastischer zum Ausdruck bringen. Hier liegt die wahrscheinlich größte 159 160
Erkenntnis der Existenz, S.295. Erkenntnis der Existenz, S.305. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Herausforderung an ein Denken, das als existentiell und als transzendental bestimmt werden soll. Denn auf den ersten Blick lässt die Annahme eines transzendentalen Prinzips der existentiellen Erkenntnis nicht nur die Annahme eines Erschütterungsmomentes als Initiierung, sondern auch diejenige einer individuellen Beteiligung des Menschen am Erkenntnis-Vorgang überflüssig erscheinen. Verwundert es also, dass Barth die Frage nach der Individualität des existierenden Einzelnen auf einen Gedanken herunterbricht, der sie als Produkt, nicht als Bedingung existentiellen Werdens darstellt? Der Einzelne tritt als Einzelner in Erscheinung, so ist zu lesen. «Der Akt der Existenz als solcher bedeutet ein Eintreten von dem, was ‹nicht ist› in das, ‹was ist›, eben als ein Eintreten in die Erscheinung.»161 Das In-Erscheinung-Treten, wenn es so verstanden wird, zeigt aber nicht diesen oder jenen Einzelnen in möglicherweise individueller Bedingtheit, sondern letztlich das Faktum, dass Existenz vollzogen wurde, das heißt, dass der Existenz-getragene Erkenntnisvorgang in Setzung des Transzendentalen stattgefunden hat. Daher macht es Sinn, an dieser Stelle vom Produkt des Existenz-Vollzuges zu sprechen, auch wenn Heinrich Barth diese Formulierung mit ziemlicher Sicherheit zurückweisen würde. Denn sie gibt vor, Existenz als ein Abgeschlossenes zu bezeichnen, was seiner Auffassung nach nicht denkbar ist. Das Bild des In-Erscheinung-Tretenden ist Bildnis des Einzelnen, soviel kann schließlich festgehalten werden, und zwar des Einzelnen in seiner Existentialität, also seiner vollzogenen Existenz-Möglichkeit. «[…] in der gegenwärtigen Erscheinung des Individuums spiegelt sich wider, wie sich der Mensch zu seiner Existenz verhält, […].»162 In diesem Zusammenhang kann Barth dann auch vom Selbst sprechen, das er als «Mitte und Grundlage der ‹individuellen› Existenz des Menschen» begreift.163 Ob ihm damit auch jene herausragende Bedeutung wie in den Darlegungen von Heidegger und Jaspers zukommt, kann gefragt werden. Einem Missverständnis ist an dieser Stelle jedoch vorzubeugen. Wenn vom Produkt der existentiellen Bewegung die Rede ist, könnte ein allzu starker Eindruck von Linearität entstehen, innerhalb derer sich Voraussetzung und Ergebnis des Existenz-Vollzugs unterscheiden ließen. Dem ist freilich nicht so, wie speziell die Rückschau auf Martin Heideggers Begriff des eigensten Selbst-Seins zeigt. Vereinzelung aus dem Man-Selbst ist zwar seiner Überzeugung nach unverzichtbar, um von eigenstem Sein sprechen zu können. Doch ereignet sich im Prozess der Vereinzelung bereits Existenz, ohne deren Annahme das Selbst dem Man verhaftet bleiben würde. Das eigenste Selbst-Sein bei Heidegger ist und bleibt Sein im Modus der Eigentlichkeit. Dass für Heinrich Barth eine entsprechende Auffassung aufgrund seiner tiefen Skepsis dem Seins-Denken gegenüber nicht in Betracht kommt, liegt auf der 161 162 163
Erkenntnis der Existenz, S.118. Erkenntnis der Existenz, S.331. Erkenntnis der Existenz, S.341. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Hand. Folglich steht für ihn auch nicht die Klärung der Frage an, wie sich das Selbst aus dem Man vereinzelt, das in Heideggers Sicht das Dasein des Menschen zunächst maßgeblich bestimmt. Enthebt ihn das aber keineswegs der Überlegung, wie individuell Existenz sein kann, transponiert er diese auf das ohnehin von ihm präferierte Areal erkenntnistheoretischer Argumentation und führt den Gedanken des In-Erscheinung-Tretens als spezielle Form der Erkennbarkeit ein. Die diversen Bezüge auf ästhetische Konzeptionen, die er in diesem Kontext herstellt, bekräftigen den Eindruck, dass es sich bei seinem Begriff von Erscheinung zwar um ein Motiv auch sinnlicher Vermittlung handelt, dem jedoch gleichwohl Erkenntnis-erschließende Bedeutung zukommt. Denn der In-Erscheinung-Tretende, der der Existierende ist, gibt sich als denjenigen zu erkennen, der Existenz erkennend vollzogen hat. Hier ist es zutreffend, die Vergangenheitsform zu wählen und hier bestätigt sich die zuvor gebrauchte Formulierung des Produktes im wörtlichen Sinne des Verwirklichten. Denn um in Erscheinung treten zu können, muss der Existenz-Vollzug bereits stattgefunden haben. Dass dieser von Barth als Erkenntnis-Bezug verstanden wird, hat sich gezeigt. Dieser läuft, nicht zuletzt durch seine Ausrichtung auf das Transzendentale als Prinzip aller Erkenntnis, formal stereotyp ab. In seiner Vorlesung geht Heinrich Barth auch auf die sich so schwer auflösende Problematik ein, Existentialität und Formalität im Denken vereinbaren zu wollen: Es ist nun aber nicht so, daß sich die Existenzfrage in zahllose individuelle und dabei beziehungslose Existenzfragen aufsplittert. Jeder Einzelne sieht sich vor die eine Existenzfrage, als vor die Frage existentieller Erkenntnis, gestellt; die er freilich in einer je besonderen Aktualisierung der Existenz zu beantworten hat. […] Es liegt am Tage, daß dies keine individuelle Frage ist; vielmehr die Frage nach dem einen Sinn der Existenz; in ihrer Bezogenheit auf den Einzelnen.164
Diese Formulierung lässt aufhorchen, denn die Priorisierung, die Heinrich Barth darin zum Ausdruck bringt, ist höchst aufschlussreich. Ohne seinem Denken Unrecht zu tun, kann festgestellt werden, dass sein vorrangiges Interesse nicht der Darstellung des Einzelnen und seines Existieren-Könnens gilt, sondern der formal-transzendentalen Begründung von Existenz, die durch den Einzelnen konkretisiert werden kann. Ein letztlich unbedeutender Unterschied? Mitnichten, denn er signalisiert die Positionierung im Feld philosophischer Ausrichtungen, die Barth seiner Konzeption damit gibt. Wie er immer wieder betont, versteht er die Existenzfrage als Erkenntnisfrage. So ist es denn nicht verwunderlich, dass er sich eher zurückhaltend zu den Aspekten der Vereinzelung des Menschen äußert, die für Heidegger und Jaspers von weitaus größerem Belang sind. Seine Zurückhaltung führt jedoch dazu, dass es sich aus seinen Texten nicht ohne Weiteres erschließt, worin seiner Ansicht nach denn die Bedeutung besteht, die er der 164
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existentiellen Erkenntnis im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis zuweist. Worin besteht die «Bezogenheit auf den Einzelnen»? Seine Äußerungen zur Welterfahrung legen den Schluss nahe, dass er deren Bezug zum Einzelnen nachgeordnete Relevanz attestiert. Damit ist nicht gesagt, dass er ihn für unwichtig halten würde, sondern lediglich, dass dessen Untersuchung nicht beabsichtigt ist. Darin unterscheidet sich sein Denken zumindest nicht von Karl Jaspers’ Darlegungen. Denn auch dieser fokussiert, wenn auch aus anderer Motivation, die Konstitutionsbedingungen des Einzelnen in seinem Selbst-Erkennen. Oder wird hier vorschnell geurteilt? Wie allein schon Jaspers’ Ausführungen zum Begriff der Existenzerhellung belegen, geht es auch ihm um die Begründung von Erkenntnis – jedoch einer Erkenntnis, die ihre Situierung im Denken des Einzelnen findet, einem Denken, dessen Erschließungsmodus dem des Fühlens am nächsten kommt: Ist Existenz wirklich vollzogenes Durchbrechen des Weltdaseins, so ist Existenzerhellung die denkende Vergewisserung dieses Durchbruchs. […] Das Weltdasein wird von der Existenzerhellung durchdrungen, nicht so, daß nun gewußt würde, worauf es ankommt, sondern so, daß Möglichkeiten fühlbar werden, durch die Wahrheit ergriffen werden kann, welche dadurch ist, daß ich sie werde.165
Damit steht auch für ihn die Frage nach der Art dieser Erkenntnis und ihrer Entstehung im Vordergrund, die er allerdings mit der Vorstellung des Gelingens oder Verfehlens der Selbst-Setzung verknüpft. Insofern wäre das Zögern davor, seine Aussagen zur Existenzerhellung dem Kontext erkenntnistheoretischer Überlegungen zuzuschlagen, sehr viel grösser als im Falle von Heinrich Barth. Schließlich lässt dieser selbst keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass er sich in den Traditionslinien des Kantischen Begriffes vom Transzendentalen bewegt. Existenzerhellung im Sinne von Karl Jaspers verweist auf die Möglichkeit, dass der Mensch zu Selbst-Reflexion gelangt. Erkenntnis, wie sie Heinrich Barth deutet, erschließt zunächst ihre eigene Funktionsweise. Ihr Bezug auf die Auswahl des Gegenständlichen, das sie erschließt, bleibt zweitrangig. Und wie sieht es bei Martin Heideggers Denken aus? Von beiden wird es aufgrund seiner ontologischen Verhaftung abgelehnt, wobei es der Spekulation überlassen bleibt, ob hier wirklich nur philosophische Bedenken den Ausschlag geben. Wird Heideggers Position in direkte Gegenüberstellung zu derjenigen von Barth und Jaspers gebracht, scheint sie sich von beiden deutlich abzuheben. Denn weder die Konstitutionsbedingungen des Selbst in seinem Selbst-Bezug scheinen für ihn sonderlich bedenkenswert gewesen zu sein noch eine eher dem Bereich der Erkenntnistheorie zuzuordnende Analyse des Funktionszusammenhanges von Erkenntnis. Seine Bemühungen gelten dem Sein. Doch was heißt das? Sein ist sein Ausdruck für die Erschließung der Bezogenheitsstruktur alles Seienden. Eine Fokussierung der 165
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Selbst-Bildung, wie sie von Karl Jaspers vorgenommen wird, wäre für ihn irrelevant, weil es seiner Überzeugung nach keinen Sinn machen würde, das eine Seiende – den Menschen – losgelöst vom anderen Seienden – der Welt – betrachten zu wollen. Genau das ist der Grund, warum seine Darstellungen hier mit größerer Zustimmung gelesen werden. Heinrich Barth formuliert in aller Klarheit, dass es mit dem Sein des Menschen eine besondere Bewandtnis habe. Sein Begriff des Transzendentalen und Karl Jaspers’ Vorstellung von Transzendenz bekräftigen die Feststellung, dass es nur dem Menschen obliegt, verstehend Zugänge zu beiden zu finden. Transzendenz bezeichnet Jaspers sogar als das «andere Sein». Martin Heidegger spricht im Gegensatz dazu von Existenz als Seins-Weise des Menschen. Diese feine Differenzierung ist ausschlaggebend. Der Mensch ist seiend wie jedes andere Seiende, verfügt aber über eine ihm eigene Möglichkeit, sein Wissen um das Sein zum Ausdruck zu bringen. Existenz als dieses Wissen enthebt ihn nicht der Bindung an das Sein, sondern personalisiert sie. Am deutlichsten wird dieser Gedanke in den Äußerungen zum Sterben-Können sichtbar, was zunächst wie eine äußerst sarkastische Formulierung klingen mag. Wie kann das finale Faktum, das sich unserer Beeinflussung dauerhaft entzieht, mit dem Begriff des Könnens bezeichnet werden? Weil darin Heideggers Ansicht liegt, dass wir das Sterben zur eigensten Angelegenheit machen können.166 Und hier ist wirklich von einem Können zu sprechen, da es nicht von sich aus eintritt, sondern ergriffen werden will. Wird aber etwas, ganz gleich, worum es sich handelt, zur eigenen Sache erklärt, resultiert daraus eine Folgerung, die in vergleichbarer Weise weder für Barth noch für Jaspers besteht. Das Angeeignete kann und muss vom Augenblick seiner Übernahme an verantwortet werden, denn niemand sonst könnte es erfüllen, als derjenige, der es sich zu Eigen gemacht hat. Die Konsequenz, die sich hieraus ergibt, ist absolut bemerkenswert. Denn ausgerechnet Heideggers Konzeption von Existenz, die in ihrer fundamentalontologischen Verwurzelung mitunter so formalistisch wirken kann, beinhaltet an sich einen Indikator ethischer Relevanz. So ist das eigenste Sein-Können am Ende keine ontologische Zustandsbestimmung mehr, sondern Synonym für das Verantwortlich-sein-Können, das mit der Übernahme des Eigenen einhergeht, ohne explizit thematisiert werden zu müssen. Der Konzeption von Martin Heidegger in der Gegenüberstellung der drei Entwürfe die höchste potentielle ethische Bedeutsamkeit zuzusprechen, könnte verwundern, vielleicht sogar Widerspruch hervorrufen. Denn an welcher Stelle in Sein und Zeit bekennt er sich zu dieser Zielsetzung, die letztlich über seine Seins-Analyse hinausgreift? Es könnte auf das Motiv der Sorge verwiesen werden, das in seiner Variante der Fürsorge als wohlwollender «Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die ja das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor.» Sein und Zeit, § 50, S.250.
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Bezug zum anderen Menschen gedeutet werden könnte. Doch gerade diese Verbindung erweist sich als nicht geeignet, um die Annahme ethischer Implikation zu stützen. In der Sprache seiner Seins-Analyse erklärt Heidegger: Wenn das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial konstitutiv bleibt, dann muß es ebenso wie der umsichtige Umgang mit dem innerweltlich Zuhandenen, das wir vorgreifend als Besorgen kennzeichneten, aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden, als welche das Sein des Daseins überhaupt bestimmt wird. […] Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, […] steht in der Fürsorge.167
Es deutet nichts darauf hin, dass es zur Ausübung fürsorgenden Verhaltens einer existentiellen Selbst-Werdung bedarf. Von Ausübung zu sprechen, geht bereits zu weit, da Heidegger in den entsprechenden Paragraphen in Sein und Zeit ausdrücklich keine Handlungsempfehlungen gibt, sondern Bezogenheitsweisen im Sein, das wesentlich Mit-Sein ist, aufzeigt. Vielleicht wirkt es befremdlich, in einer solchen Art über das Phänomen der Fürsorge zu schreiben, das doch per se – zumindest in unserem Kulturkreis – als Zeichen mildtätigen Wohlwollens positiv besetzt ist. Wenn also nicht Heideggers Ausführungen zur Fürsorge als Begründung einer potentiell ethischen Komponente seines frühen Werkes infrage kommen, wird der Blick auf die Übernahme der eigensten Möglichkeit umso interessanter. Noch ein letztes Mal muss auf die frühere Feststellung Bezug genommen werden, wonach das Ergreifen der Existenz-Möglichkeit im Sinne Heideggers nicht als Folge einer willentlichen Entscheidung zu bewerten ist. Aus der momentan anstehenden Betrachtung der Aneignung des nicht der eigenen Verfügung Unterstehenden kann rückwirkend Licht auf diese Feststellung fallen. In dem Augenblick, in dem das Sterben als eigenste Möglichkeit erfasst wird, ist es bereits eigenste Seins-Form geworden, denn die Alternative, die in der irrigen Hoffnung auf ein Ausweichen liegen könnte, besteht nicht mehr. In dem Augenblick, in dem sich das Selbst seines eigensten Sein-Könnens bewusst ist – Heidegger verwendet den Begriff des Bewusstseins hier nicht – hat es sich bereits dem Man-Selbst entwunden. Vorstellbar wären Situationen, in denen dieses SeinKönnen gar nicht erst erfasst wird, doch ist es denkbar, so ist es bereits vollzogen. Eine vielleicht als abwegig eingeschätzte weiterführende Überlegung zeichnet sich mit dieser letzten Formulierung ab. Wenn im Denken die Verwirklichung vollzogen ist, könnte das doch bedeuten, dass grundsätzlich der Vorsatz einer Handlung ausreicht und nicht mehr der Umsetzung in einer konkreten Aktion bedarf. Mit aller gebotenen Vorsicht kann dieser Gedanke zumindest mit Blick auf Martin Heideggers Verständnis als hypothetische Erwägung zugelassen werden. Denn wenn seinen Schriften eine Absicht in pragmatischer Hinsicht zu entnehmen ist, was er selbst vehement bestreitet, so liegt sie in der Aufforderung zur Veränderung des Denkens, das heißt konkret des Seins-Verständnisses. Nir167
Sein und Zeit, § 26, S.121. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gends wird dieser Wandel, der seiner Auffassung nach so dringend erforderlich ist, klarer erkennbar als in dem Übergang vom «vorstellenden» zum «schonenden Denken», der bereits erwähnt wurde. Durch die Korrektur des Seins-Denkens verändert sich unsere Haltung im Sein. Dass aus einer verwandelten Einstellung dann auch entsprechende Handlungen hervorgehen, braucht seiner Ansicht nach schlichtweg nicht mehr kommentiert zu werden, da aus korrigierter Einstellung dem Sein gegenüber notwendig Handlungen folgen werden, die ihr entsprechen. Wird damit die Frage gestreift, inwieweit sich das Ergreifen der ExistenzMöglichkeit, die für alle drei Denker in erster Linie eine Verstehens-Möglichkeit ist, auch im Handeln des Existierenden ausdrückt, fällt die Antwort wie gesagt sehr unterschiedlich aus. Karl Jaspers deutet eine solche Wirkung zumindest an, indem er darauf hinweist, dass der Mensch im Zuge seiner Selbst-Reflexion in jenen Weltbezug, aus dem er sich distanzierte, zurückkehrt. Von einer Andeutung mit Blick auf das Denken von Heinrich Barth zu sprechen, wäre schon zu viel. Er schließt die Möglichkeit dieser Wirksamkeit nicht aus, unternimmt allerdings auch wenig, um deren Plausibilität zu erweisen.
Übereinstimmung im Problematischen Für das Vorhaben, das Projekt «Existenzphilosophie» auf seine gedankliche Homogenität hin zu befragen, könnten die Konsequenzen des bisher Dargestellten kaum drastischer ausfallen. Denn welche Übereinstimmungsmerkmale sind bisher sichtbar geworden? Die klarste Konvergenz betrifft die Deutung des Begriffes der Existenz, des wichtigsten Bestandteils, wie erklärt werden könnte. Dieser dient nicht dazu, als ist-Aussage den Status aktueller Vorhandenheit zu benennen, sondern als optionale Aufweisung das Vermögen des Menschen kenntlich zu machen, Entwürfe in das ‹Noch-Nicht› des Zukünftigen vorzunehmen. Damit ist von Anfang an entschieden, dass er einzig auf den Menschen angewendet werden kann, was bei der Verwendung des Begriffes im Sinne einer Seins-Aussage nicht festgelegt ist. Damit liegen zwei nahezu entgegengesetzte Deutungen dieses Begriffes im gegenwärtigen philosophischen Gebrauch vor, ein Faktum, das verstärkt berücksichtigt werden könnte, wenn existentielles und analytisches Denken ins Gespräch gebracht werden sollten. Die Gewissheit, dass von einem Vorhandenen gesprochen wird, wenn von dessen Existenz die Rede ist, kann und will sich das existentielle Denken nicht zum Ziel setzen. Ganz im Gegenteil: Mit der Festlegung einer Aussage auf das Faktum der Tatsächlichkeit eines Menschen würde dessen Existenz-Fähigkeit negiert. Es ist wohl eine Aussage über sein Sein im Sinne der Faktizität möglich, doch nicht über sein zukünftiges Sein, das er im Zuge der Verwirklichung seines Werden-Könnens setzt. Eine weitere Unterschiedlichkeit im Gebrauch der Begriffe ist an dieser Stelle zu berücksichtigen. In der modernen nicht existentiellen Diskussion wird von Existenz mitunter im Sinhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Übereinstimmung im Problematischen
ne einer Eigenschaft gesprochen, die entweder als «diskriminierend» oder «nicht-diskriminierend» verstanden wird. In der ersten Verwendung ist durch die Eigenschaft der Existenz die Unterscheidung der Gegenstände, denen sie zugesprochen wird, möglich, wohingegen sie in der zweiten Weise allem ohne Unterscheidung zugewiesen werden kann. Wenn hier von Eigenschaft die Rede ist, ist dabei jedoch nicht an jenen Begriff des Vermögens zu denken, der im existentiellen Sinne Verwendung findet, um die Entwurfskompetenz eines Menschen zu benennen, die ihn seine Existenz ergreifen lässt. Eigenschaften in diesem Kontext entsprechen eher dem, was traditionell auch als Attribute bezeichnet wird, also eine Anzahl von Merkmalen, die einem Gegenstand zukommen und ihn – als diskriminierende Eigenschaften verstanden – spezifizieren. Diese kurze Bemerkung ist wichtig, um ein Missverständnis zu vermeiden. Würde Eigenschaft eher als Fähigkeit oder Vermögen verstanden, würde sich eine undeutliche Zone der Bedeutungs-Überschneidung zum existentiellen Denken ergeben. Denn dann könnte eingewendet werden, dass der Unterschied zum analytischen Denken kleiner ist als eben noch behauptet. Zumindest im Falle der Verwendung des Existenz-Begriffes als diskriminierende Eigenschaft könnte dann geltend gemacht werden, dass sie nicht nur das bloße Sein eines Gegenstandes, sondern sehr wohl auch schon dessen So-Sein markiert. In jedem Fall bezieht sich der nicht-existentielle Gebrauch des Existenz-Begriffes auf ein Vorhandenes in seiner raum-zeitlichen Präsenz, auf einen Status der Faktizität also, der im existentiellen Verständnis lediglich eine Aussage über das Faktum des Seins, nicht jedoch über Existenz zuließe. Die Überlegung, wie es sich denn mit Nicht-Gegenständlichem, das heißt Ideellem, verhält, kann im vorliegenden Kontext ausgeklammert werden. Dass die Rede vom analytischen Denken eine ähnliche Problematik wie diejenige vom existentiellen Denken beinhaltet, da beide durch eine interne Differenzierung verschiedenster Ansätze eher als lockerer Verbund von Ansichten erscheinen, sei schließlich angemerkt. Wenn in beiden Fällen aber dessen ungeachtet von dem einen oder anderen Denken die Rede ist, stützt diese sich auf den Entschluss, ein Minimum an Bedeutungs-Konvergenz für den Moment als repräsentativ anzusetzen, um eine grobe Gegenüberstellung beider erreichen zu können. Im Falle des existentiellen Denkens ist dieses, wie bereits erwähnt, die Deutung des Begriffes der Existenz als optionale Ankündigung, im Falle des analytischen Denkens die Verwendung als Aussage über eine Eigenschaft von Gegenständlichem, zu dem, um dieses nachzutragen, auch der Mensch zählt, da auch über dessen Sein eine Aussage möglich sein soll. Fast unnötig erscheint der Hinweis, dass im existentiellen Denken Fragen thematisiert werden, die im Zuge analytischer Vorgehensweise nicht nur als nicht relevant, sondern sogar als unwissenschaftlich zu bewerten wären, wie etwa die Frage nach der Möglichkeit, die Begründung existentiellen Werdens in der affektiven Natur des Menschen nachweisen zu wollen. Selbst wenn sich Existenzphilosophie nicht mehr der Frage nach der Ursache des Seins schlechthin zuwendet, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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da diese mit den Mitteln ihres Denkens nicht zu klären ist, bleibt die Frage nach der Begründung von Existenz doch wichtig und gewinnt sogar zentrale Bedeutung als Kompensation des Ausfallens metaphysisch oder religiös ausgerichteter Erklärungsversuche. Fallen diese beiden Begründungskontexte fort, ist die Erklärung jenes Vermögens, durch welches ein Mensch Grund seiner eigenen Existenz – seines eigensten Seins – werden kann, umso dringlicher nötig, um den Eindruck völliger Kontingenz im Sein verhindern zu können. Dieser würde jede Begründung im Daseinsgeschehen zunächst als nicht-begründet erscheinen lassen. Erklärungen dieser Art liegen nicht im Zuständigkeitsrahmen analytischen Denkens, so kann vielleicht in eindeutiger Vereinfachung festgehalten werden. Aus einer solchen Position selbst auferlegter Beschränkung um der höheren Korrektheit des philosophischen Sprechens willen kann relativ schnell der Eindruck entstehen, Existenzphilosophie beschäftige sich mit jener Klasse von Scheinproblemen, gegen die sich etwa Ludwig Wittgenstein nahezu zeitglich zum Entstehen ihrer kanonischen Texte aussprach. Im Vorwort seines Tractatus logico-philosophicus vermerkt er: «Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. […] Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.»168 Bereits die Festsetzung einer solchen Grenze würden die Denker der Existenz vermutlich nicht akzeptieren, da ihr keine Begründung zugewiesen werden kann. Das Faktum, dass sie aus den Möglichkeiten der Sprache resultieren könne, müssten sie schließlich umso entschiedener ablehnen. Denn sie stellen sich mit großer Entschlossenheit der Herausforderung, Gründe dafür anführen zu können, dass ein existentieller Entwurf in die Zukunft möglich ist, der dem ‹NochNicht›, um mit Heinrich Barth zu sprechen, die Notwendigkeit des Sollens zuweist. Oder wäre eventuell auch ein anderer Gedanke zu fassen? Darüber, wie dasjenige beschaffen sein wird, das im Zuge existentiellen Werdens gesetzt wird, machen zumindest Heidegger und Jaspers kaum Aussagen. Dass Heinrich Barth hier ohne jeden Zweifel vom Transzendentalen ausgeht, mag sich dadurch erklären, dass dieses seiner Überzeugung nach als Prinzip allen Erkennens wirkt. Insofern ist es zwar, zumindest nach seiner Deutung, auf keine Begründung, wohl aber auf die funktionale Aktualisierung im Erkenntnisprozess des Einzelnen angewiesen. Ist also die Folgerung allzu abwegig, dass auch im Kontext bestimmter Varianten der Existenzphilosophie das Respektieren einer Grenze zu beobachten ist, die Rückgriffe auf metaphysische und theologische Erklärungsmuster des Seins und des Sein-Sollens ausklammert? Entsteht nicht letztlich genau durch das Wahren dieser Grenze der Argumentationsdruck, Begründungen menschlichen Sinn-Verständnisses zu finden, die diesseits des Ausgegrenzten liegen und aus sich selbst funktionieren? So attraktiv der Gedanke auch ist, eine zumindest 168
Tractatus logico-philosophicus, Vorwort ! ohne Seitenangabe. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ansatzweise vergleichbare Intention in verschiedenen Strömungen der Philosophie der 1920er und 1930er Jahre zu sehen, ist eines jedoch zu berücksichtigen: Die Ausgrenzung metaphysischer und theologischer Aussagen erfolgt im existentiellen Denken nicht deshalb, weil sie nicht in korrekter Weise vorzunehmen wären, sondern weil sie nicht dazu geeignet sind, Muster für die Denkbarkeit des Einzelnen zu sein. Diese Feststellung gilt wenigstens für Martin Heidegger, Karl Jaspers und den hier nicht zu Worte kommenden Denker Franz Rosenzweig, der mit seinem monumentalen Werk Der Stern der Erlösung aus dem Jahr 1927 so viele Motive späteren existentiellen Denkens antizipiert. Ob in der Fokussierung einer philosophischen Theorie des Einzelnen auch Heinrich Barths Anliegen bestand, kann mit Recht angezweifelt werden. Damit wird nicht behauptet, dass dessen Denkbarkeit in seinen Schriften keine Rolle spielt, sondern dass sie nicht den Kern seiner existenzphilosophischen Konzeption ausmacht. Existentiell vom Menschen – vom Einzelnen – zu sprechen, erweist sich als herausfordernder als zunächst zu vermuten gewesen wäre. Am offensichtlichsten wird dieser Umstand angesichts des Begriffes der Existenz. Sein analytischer und sein existentieller Gebrauch sind hier als Markierungen zweier Extreme der Auslegung zu sehen, denn sie stehen für eine doppelte Aussagefunktion: Diejenige, die sein Sein und diejenige, die sein Können benennt. Mit dieser Bemerkung soll der Blick auf die Frage gelenkt werden, ob sich Reste der traditionellen Auffassung vom Wesen am Ende nicht doch noch im existentiellen Denken finden. Oder anders formuliert: Wie individuell ist das existentielle Verständnis des Einzelnen tatsächlich? Die Antwort mag ernüchternd klingen, scheint sie doch dramatisch hinter den so heroisch artikulierten Wunsch dieser Philosophie, endlich Theorie des Einzelnen sein zu wollen, zurückzufallen. Die Ursache hierfür liegt in dem Umstand, dass von allen drei Denkern trotz der erwähnten Unterschiede der Begriff der Existenz über denjenigen des Seins bestimmt wird. Was heißt das? Eine schlichte Erinnerung an das bisher Gesagte erklärt diesen Sachverhalt im Grunde schon ausreichend. Martin Heidegger betrachtet Existenz als Seins-Weise des Menschen, Karl Jaspers als das menschliche Sein und Heinrich Barth als das andere Sein. Dass damit keineswegs dreimal ein und dasselbe ausgesagt wird, ist bereits kurz erläutert worden. Wie auch immer die jeweilige Formulierung das Besondere der Existenz akzentuiert, immer wird sie als ein Modus der Abhebung vom Sein aufgefasst, die freilich nur dann sinnvoll denkbar ist, wenn sie das Sein als den Ausgangspunkt ihrer Ausrichtung nutzt. Vielleicht sorgt die Tatsache, dass nun auch Heideggers Auffassung mit in diesem Zusammenhang genannt wird, für Irritation. Denn bisher wurde stets darauf bestanden, sein Verständnis von Existenz von dem der beiden Anderen abzusetzen, insofern sie zwar eine Art, zu sein, bezeichnet, die sich jedoch nicht grundsätzlich von der Seins-Art alles Übrigen unterscheidet. So wichtig dieser Hinweis auch nach wie vor ist, muss jetzt doch bemerkt werden, dass auch er Existenz aus dem Sein bestimmt, eben als eine Weise, zu sein. Noch steht die Verknüpfung mit dem Gedanken der Wesensbehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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stimmung zur Erläuterung an. Wird nach dem Wesen des Menschen vor ontologischem Hintergrund gefragt, den Jaspers und Barth freilich zurückweisen würden, ohne ihn allerdings de facto aufzugeben, so ergibt sich zum gegenwärtigen Stand der Überlegungen dieses Resultat: Der Mensch ist der Existieren-Könnende. Die Formulierung ist alles andere als elegant, was aber nicht ihren Aussagewert beeinträchtigt. Der Mensch ist derjenige, der er ist, weil er sich durch die Möglichkeit der Existenz vom Seienden unterscheidet. Im Grunde genommen liegt damit eine ganz traditionelle Wesensbestimmung vor, die im Vergleich zu derjenigen des animal rationale, die über viele Jahrhunderte im Gebrauch war, lediglich das differenzierende Merkmal austauscht. Nicht Rationalität ist unser Alleinstellungsmerkmal, wie es heute vielleicht heißen könnte, sondern unsere Existenz-Fähigkeit. Und der Einzelne? War Existenzphilosophie nicht seit Søren Kierkegaards furioser Darlegung dazu angetreten, ihm theoriebildend endlich gerecht zu werden? Ernüchternder könnte der Befund nach rund einhundert Seiten Erörterung kaum ausfallen. Denn in Anbetracht des zuletzt Gesagten müsste sich folgende Feststellung ergeben, die auf der Wesensgleichheit von Mensch und Einzelnem beruht: Beide sind die Existieren-Könnenden. Im Falle der traditionellen Wesensbestimmung der Rationalität würde sich dieselbe Folgerung zeigen, nur mit deutlich weniger Problematik behaftet. Der Mensch ist ebenso vernunftbegabt wie der Einzelne. Warum sollte das auch problematisch erscheinen, da der Einzelne, wenn er denn definiert worden wäre, als individuelle Verkörperung des ideellen Menschen verstanden werden könnte. Was sollte daran schockierend sein, ist doch die Wesensbestimmung des einzelnen Menschen letztlich nur durch die Bestimmung des Menschen schlechthin denkbar, insofern sich dieser wie alle anderen durch ein und dieselbe Fähigkeit von allem übrigen Seienden unterscheidet. Warum kann dieser Gedanke nun nicht eins zu eins auf die Frage nach der Wesensbestimmung unter Hinweis auf die Existenz-Fähigkeit übertragen werden? Weil der Einzelne nicht mehr als Exemplar der Gattung Mensch betrachtet werden soll, sondern als für sich zu Betrachtender, das heißt als Individuum im Moment seiner Vereinzelung. Was hat sich also zwischen der Überzeugung, ihn als Exemplar des Menschen schlechthin denken zu können, und dem Anspruch der Existenzphilosophie, ihn als Einzelnen denken zu wollen, verändert? Der Einzelne musste lernen, am Dasein zu leiden. Der Begriff des Menschen schließt dessen Leidensfähigkeit nicht zwingend ein. Es ist das Verdienst von Arthur Schopenhauer, in neuerer Zeit auf das Leiden an der Vernunftbegabtheit hingewiesen zu haben. Der Mensch, der seiner Interpretation nach Organismus unter anderen ist, zeichnet sich zwar durch Rationalität aus, doch empfindet er diese nicht als Begabung des Erkennen-Könnens, sondern als Belastung des Erkennen-Müssens. Ihm erschließt sich die Natur des Daseins als fortgesetztes Leiden, da es grund- und ziellos im Kreislauf ewigen Werdens und Vergehens
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schwebt.169 So erlebt der Mensch sich als «Fabrikwaare der Natur» mit dem schrecklichen Los, diesen Status auch noch reflektieren zu müssen. «In gleichem Maaße also, wie die Erkenntniß zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, wächst auch die Quaal, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht, und wieder umso mehr, je deutlicher erkennend […] der Mensch ist: […].»170 Da Schopenhauer keinen göttlichen Schöpfungsakt mehr zur Begründung menschlichen Seins und seiner Sinnhaftigkeit in Anspruch nehmen kann oder will,171 entwirft er ein Daseinsszenario, das in erstaunlichem Maße dasjenige moderner Existenzphilosophie vorbereitet. Die schwere Ernüchterung, die ein Mensch erfährt, wenn er sich nicht mehr als gewollt und geschaffen nach göttlichem Plan begreifen kann, drückt sich in seinem Denken in unmittelbarer Weise aus, da sie nicht mehr nur benannt, sondern als Quellgrund existentiellen Verhaltens verstanden wird. In letzter Konsequenz bleibt demjenigen, der bisher kaum Veranlassung sah, sich selbst in dieser Weise reflektieren zu müssen, nur der finale Entschluss, den Kreislauf des Seins zu durchbrechen: Er erkennt das Ganze, faßt das Wesen desselben auf, und findet es in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerstreit und beständigem Leiden begriffen, sieht, wohin er auch blickt, die leidende Menschheit und die leidende Thierheit, und eine hinschwindende Welt. […] Wie sollte er nun, bei solcher Erkenntniß der Welt, eben dieses Leben […] bejahen […]? er sieht sich an allen Stellen zugleich, und tritt heraus.172
Die Optionen, die Schopenhauer für dieser Heraustreten anzubieten hat, sind wahrlich begrenzt. So bleibt dem Menschen als Mittel zur Verneinung eben dieses leidvollen Lebens nur die Verneinung jenes Prinzips, das sich in ihm beständig reproduziert – die Askese. Denn sie erweist sich als einziger Weg, durch Unterdrückung der Vitalfunktionen den Bestand des leiblichen Organismus und mit ihm der Vernunft aufzulösen. Das Motiv des Leidens, das Schopenhauer in so ergreifenden Beschreibungen vor unseren Augen erstehen lässt, taucht in seinem Werk nicht zum ersten Mal auf. Bereits in der Literatur der Renaissance und des Barocks finden sich durchaus verwandt anmutende Schilderungen. Was seine Darstellung für die Rekonstruktion der Entstehung moderner Existenzphilosophie bedeutsam macht, ist zum einen ihre schonungslose Radikalität und zum anderen der Umstand, dass er damit ein Lebensgefühl der Menschen artikuliert, 169 «So ist sein Daseyn, […] ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stetes Sterben.» Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 57, S.406. Zuvor hieß es: «Der Mensch allein trägt in abstrakten Begriffen die Gewißheit seines Todes mit sich herum: […].» § 54, S.369. 170 Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 56, S.404. 171 Unter Verwendung des Existenz-Begriffes in traditionellem Sinn schreibt Schopenhauer: «Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren.» Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 57, S.407. 172 Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 68, S.488 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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das nicht mehr vollständig aufzuheben sein wird und sich fortan in die philosophische Literatur einschreibt. Dass dieser Ausdruck einer emotionalen Reaktion auf die Erkenntnis des Daseins niemals allgemeine Gültigkeit erlangt, erklärt sich dadurch, dass ein solches Empfinden dort, wo das Vertrauen in die Vernunft unbeschadet besteht, niemals Grund finden wird. Ein solches Vertrauen herrscht im existentiellen Denken – dessen Deutung durch Heinrich Barth ausgeklammert – kaum noch, weshalb es sinnvoll ist, Schopenhauers Diagnose des Leidens in dessen Kontext zu erwähnen. Denn hier sehen wir ihn bildlich vor uns, den Menschen, der nicht mehr an den Wert der Erkenntnis zu glauben versteht, das Wirken seiner Vernunft aber nicht zu ignorieren vermag. Leiden am Dasein ist Leiden an dem Bewusstsein, Teil dieses Welt-Seins zu sein, da sich die Bestimmung des Daseins, wie sollte es auch anders sein, mit derjenigen der Welt deckt. Aber sehen wir dadurch auch bereits den leidenden Einzelnen? Seine Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung erschien 1819, Enten-Eller – Entweder-Oder von Søren Kierkegaard im Jahr 1843. Noch hat sich die Vorstellung vom Einzelnen in Schopenhauers Denken nicht aus dem Begriff des Menschen gelöst. Sogar der gegenteilige Eindruck könnte entstehen. Seine Deutung des Mitleids basiert gerade auf der Erfahrung des Menschen, einer wie alle zu sein, worin sich die düstere Vision seiner Daseins-Sicht nur noch verstärkt. Daher heißt es: «Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem Leidenden.»173 Gerade die Gewissheit, dass es das Los alles Seienden, auch der Tiere, ist, leiden zu müssen, verleiht Schopenhauers Darlegungen ihre bedrückende Intensität. Auch wenn es widersinnig klingt, scheint der Einzelne in diesem Wissen die Freiheit zu erleben, nicht nach dem eigensten Selbst fragen zu müssen. Oder müsste es heißen: fragen zu können? Für Schopenhauer würde vermutlich die erste Formulierung zutreffen, da sich in ihr die Bürde, kraft der Vernunft die Bedingtheit des Daseins erkennen zu müssen, nur noch um ein Vielfaches verstärken würde. Die Freiheit, nach dem eigenen Selbst fragen zu können, setzt sich erst allmählich im philosophischen Denken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch und natürlich steht Søren Kierkegaard wie kein Zweiter für diese Entwicklung. Denn in seinem Denken erwacht die Überzeugung, nicht an die Solidarität der Galeerensklaven gebunden zu sein, wie es Arthur Schopenhauer mit Bezug auf ein Erlebnis in frühen Jahren deutete. Dass selbst diese Solidarität Schutz zu bieten vermag, wird in seiner Konzeption vom Mit-Leiden sichtbar, das unmittelbar dazu führt, alles vermeiden zu wollen, was das Leiden des Anderen vermehrt. Selbst diesen Schutz lässt Kierkegaard nicht mehr gelten. Ein Leichtes für jemanden, dessen Denken im Glauben wurzelt, so könnte hinzugefügt werden. Denn der Einzelne, dieser Eine, dessen Zeichnung in seinen Schriften Kontur annimmt, mag wohl der Verbindlichkeit im Vertrauten entsagen, weil er sich aufgefangen im Religiösen weiß. Wenn eine philosophiehistorische Perspektive eingenommen 173
Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 66, S.481. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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wird, zeigt sich, dass das Werk beider erforderlich war, um den Weg zur Formulierung modernen Existenz-Denkens zu bereiten. Schopenhauer thematisiert das Motiv der Geworfenheit in ein grund- und sinnloses Sein; Kierkegaard die Entschlossenheit des Einzelnen, er selbst in Bezug zum Anderen zu werden. In einem kurzen Moment leuchtet diese Entschlossenheit auch in Arthur Schopenhauers Text auf, nämlich dort, wo er das Heraustreten des Menschen aus der erkannten Bindung an das Ganze durch das Sein im Ganzen anspricht. Er wertet diese einzige Möglichkeit der Negation des Lebens zwar nicht explizit als Akt individuellen Entschlusses, doch kann diese Einschätzung trotzdem zutreffen. Denn der Schritt in die Askese kann als ein Schritt in die Vereinzelung verstanden werden. Vielfältige Verweise sind erforderlich, um eine Einschätzung des Begriffes der Existenz vornehmen zu können. Denn dieser hat sich eben nicht linear und kontinuierlich über einen bestimmten Zeitraum entwickelt, sondern ist nach einzelnen Präformierungen, die jeweils spezielle Aspekte seines Bedeutungsumfanges akzentuierten, in den 1920er Jahren scheinbar unvorbereitet und mit eruptiver Kraft zum Ausdruck gekommen. Zwei solcher punktuellen Vorbereitungen liegen uns in den Schriften von Arthur Schopenhauer und Søren Kierkegaard vor. Durch ihre Berücksichtigung wird es möglich, das Motiv des Leidens in den Themenkomplex existentiellen Denkens aufzunehmen, jenes Motiv, das bisher für die Präzisierung der anstehenden Problematik fehlte. Diese entsteht, wenn nach Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wesensdefinition des Einzelnen gefragt wird. Eine solche Bestimmung unter Rückgriff auf die Definition des Menschen in seiner Allgemeinheit vornehmen zu wollen, ist möglich, aber nicht notwendig, ja nicht einmal wünschenswert. Der Begriff des Einzelnen, der sich in den 1920er Jahren abzuzeichnen beginnt, entspricht in seiner Wortgestalt jenem, den Kierkegaard verwendet, nicht jedoch in seiner Bedeutung in vollumfänglicher Weise. Die Elemente der Erschütterung, der Vereinzelung und der Wahl, hier bisher eher als Entscheidung bezeichnet, teilt dieses Denken mit seinem modernen Pendant. Doch Verwurzelung des Denkens im Glauben kann nicht mehr als selbst-verständlich vorausgesetzt werden. So schiebt sich motivisch Schopenhauers Darstellung des Leidens, die den Begriff der Geworfenheit antizipiert, zum Teil sogar noch über das Motiv des Einzelnen, wodurch dessen Konturen deutlich verschwommener erscheinen. Obwohl das Werk von Franz Rosenzweig nicht im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht,174 ist doch eine kurze Bezugnahme an dieser Stelle unerlässlich. Denn niemand drückt das Bedürfnis, den Einzelnen zu denken, eindringlicher aus als er, wobei der Akzent tatsächlich darauf liegt: Den Einzelnen nicht nur zu erfahren, in konkreten Situationen zu erleben, sondern ihn zu denken, das heißt zum Inhalt philosophischer Reflexion zu erkläFür seine Bedeutung als Vorbereiter modernen Existenzdenkens kann auf Ethik der Existenz hingewiesen werden.
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ren. Im Stern der Erlösung, dem Text, der auf so ergreifende Weise von der intellektuellen Authentizität seines Verfassers Auskunft gibt, heißt es: Schopenhauer fragte als erster unter den großen Denkern nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt. Eine höchst unwissenschaftliche Frage, wenn sie wirklich so gemeint war, daß nicht nach dem objektiven Wert […] gefragt sein sollte […], sondern wenn die Frage auf den Wert für den Menschen, vielleicht gar für den Menschen Arthur Schopenhauer ging.175
Entfernt erinnert Rosenzweigs Korrektur, nicht nach dem Wesen, sondern dem Wert der Welt zu fragen, an Heideggers berühmte Einleitung in Sein und Zeit, in der er erklärt, nicht nach dem Sein, sondern nach dem Sinn von Sein fragen zu wollen. Was ändert sich durch diese beiden Richtigstellungen, die äußerlich recht unscheinbar so radikal in das Selbstverständnis philosophischen Erkenntnisstrebens eingreifen? Sowohl die Frage nach dem Wert als auch die nach dem Sinn werden von jemandem für jemanden gestellt. Hierbei kann es sich um den Fragenden selbst oder den Anderen handeln, der doch wie ich mit einer Erfahrung konfrontiert ist, die sprachlos macht. Auch Rosenzweig kennt und beschreibt sie in den wohl ergreifendsten Worten, mit denen eine philosophische Seins-Analyse eingeleitet werden kann: «Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. […] Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. […] die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln […].»176 Dieses eklatante Versagen der Philosophie, die gleichsam am Bedürfnis des Menschen vorbei argumentiert, wirft er speziell dem Denken des Deutschen Idealismus vor, doch schneidet die Philosophie «von Jonien bis Jena» in seiner Diagnose nicht viel besser ab.177 Sind wir mit dem kurzen Blick auf das Werk Franz Rosenzweigs wirklich auch nur einen Schritt vorangekommen? Gerade seine Einleitungsworte scheinen so fernab jeder Frage nach dem Einzelnen zu gelten, wenn er von allem Sterblichen spricht. Es gibt einen Fortschritt im Gedankengang, der sich folgendermaßen zu erkennen gibt: Die beiden zitierten Passagen aus dem Stern der Erlösung sind dazu geeignet, letztes fehlendes Element im noch immer offenen Begründungszusammenhang zu sein. Dieser soll klären, ob im existentiellen Denken, das der traditionellen Vorstellung vom Wesen stärker verhaftet ist, als zu erwarten war, auch der Einzelne Gegenstand einer Definition ist. Sollte es sich bestätigen, könnte mit gutem Recht gefragt werden, wozu dann letztlich dessen Gedanke mit recht hohem argumentativem Aufwand in die Philosophie eingebracht wurde. Rosenzweigs Zeilen bilden diese Erwägung in ebenso einfacher wie
175 176 177
Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.8. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.3. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.13. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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elementarer Form ab. Denn es bedarf nicht immer der großen sprachlichen Geste, um Fundamentales auszudrücken. «Alles Sterbliche» erstarrt in der Furch des Todes, doch nur der Einzelne leidet. Vielleicht werden bereits an diesem Punkt Einwände laut, die Rosenzweig die Verallgemeinerung einer sehr persönlichen Erfahrung vorhalten. Dass er, für einige Jahre an der Front dienend, den Schrecken des Krieges und ihrer Wirkung auf die menschliche Psyche Ausdruck gibt und damit sicherlich ausspricht, was nicht nur ihn betraf, sollte erwähnt werden. Denn es ist gewiss nicht verfehlt, den Stern der Erlösung, 1921 erschienen, als ein Werk zu lesen, das unmittelbare Reaktion auf die Erlebnisse in der Zeit des Ersten Weltkrieges ist. Insofern ist es aller Wahrscheinlich nach mehr als Antwort bloß individuellen Erlebens. Dieselbe Frage könnte übrigens auch an einen Text wie Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung gerichtet werden, denn auch dort findet eine philosophische Reflexion des individuellen Leidens am Dasein statt, das eben nicht als private Emotion, sondern Kennzeichen menschlicher Daseins-Relation schlechthin ausgewiesen wird. Mit einigem Mut zur Generalisierung könnte sogar gefolgert werden, dass wahrscheinlich gerade existenzphilosophische Texte den erwähnten Einwand provozieren, da sie aus einer höchst individuellen Erfahrenslage entstanden sind. Und gerade dadurch illustrieren sie, unbeabsichtigt zumeist, das Problem, um dessen Reflexion es geht. Als Hintergrund hierzu zeichnet sich eben jetzt dieses gedankliche Szenario ab: Können Aussagen zum individuellen Erleben allgemeingültig gelten und wie allgemeingültig können Aussagen zum Individuellen sein? Oder anders formuliert: Konterkarieren Autoren dadurch, dass sie ein Erleben des Einzelnen als charakteristisch für alle Menschen ausgeben, nicht ihren eigenen Versuch, den Einzelnen zum Gegenstand philosophischer Theoriebildung zu machen? Müssen wir uns nach all den Bemühungen, deren früheste Anzeichen sich bereits im Denken des Aurelius Augustinus finden, am Ende gar eingestehen, dass es unmöglich ist, Philosophie des Einzelnen begründen zu wollen? Manche Erörterungen benötigen einen langen Atem. So ist es auch in diesem Fall, denn nur äußerst langsam kommen diese voran und fallen immer wieder auf die gerade benannte grundsätzliche Schwierigkeit zurück. Doch das heißt keineswegs, dass kein Zwischenbefund festgehalten werden könnte, auch wenn dieser vermutlich nicht gefallen wird. Vereinzelung ist ein unerlässlicher Indikator für den Vollzug der existentiellen Bewegung. An diesen Aspekt kann nicht oft genug erinnert werden, um die Geduld für die weiteren Fragen zu stärken und ein Zeichen der Hoffnung zu setzen, am Gedanken des Einzelnen zu guter Letzt doch festhalten zu können. Wie fallen schließlich die Entscheidungen darüber, ob ein Motiv beibehalten werden kann oder als unverträglich mit dem übrigen Theorieansatz aufzugeben ist? Ausschlaggebend hierfür ist der Test, ob sich das Motiv widerspruchsfrei in den gesamten Kontext einfügt und stimmig in verschiedene Partikularkontexte zu integrieren ist. Voraussetzung für die weiteren Überlegungen ist die scheinbar https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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selbstverständliche Feststellung, dass Anzeige der Existenz des Einzelnen seine Vereinzelung ist, die mit verschiedenen Konnotationen behaftet gedacht werden kann. Stellvertretend sei an die Übernahme des eigensten Sein-Könnens erinnert, die nur von jedem je einzeln zu leisten ist. Die Hervorhebung des Gedankens der Übernahme ist allerdings bereits ein Moment Theorie-bildender Verallgemeinerung, insofern festgestellt wird, dass immer dann, wenn ein Mensch das ihn Betreffende zur eigenen Angelegenheit erklärt, ein Akt der Übernahme vorliegt. Entscheidend ist dabei dasjenige, was geschieht, nicht dasjenige, wodurch das Geschehen kategorisiert wird. Es kommt also darauf an, wie wir uns verhalten und wie wir agieren, nicht im Sinne sozialer Beziehungen, sondern im Sinne verstehenden Selbst-Bezuges. Vielleicht wäre es verlockend, an dieser Stelle auf den Begriff des Bewusstseins zurückzugreifen, denn wenn vom Selbst-Bezug die Rede ist, scheint dieses doch der sich vornehmlich anbietende Erklärungsansatz dafür zu sein, wie ein solcher Bezug erfolgen kann. Aus gutem Grund wird die Erwähnung des Bewusstseins in diesem Moment jedoch vermieden. Denn mit ihr würde ausgesagt, dass sich der Einzelne als Subjekt zu seinem eigenen Agieren selbst objektiviert, da bewusste Reflexion nach Übereinkunft im philosophischen Gebrauch stets Reflexion von etwas ist. Diese Doppelfunktion, die im Einzelnen im Vollzug seiner existentiellen Bewegung anzusetzen wäre, kann jedoch nicht mit Gewissheit behauptet werden. Die Argumentationsdecke mit Blick auf die untersuchten Texte erweist sich momentan als nicht tragfähig genug, um hier entschlossener vorzugehen. Die Frage, ob existentielle Bewegung in jedem Moment selbstreflexiv erfasst werden muss, wird zumindest in den hier untersuchten Texten nicht übereinstimmend beantwortet. Der Einzelne, um von der theoretischen Betrachtung zur Geschehnisebene zurückzukommen, ergreift eine Möglichkeit, die ihm als realisierbar erscheint. Der Eindruck, dass sie im Rahmen des eigenen Könnens liegt, ist bereits erstes Anzeichen dafür, dass dieses Können umgesetzt wird. Auf diesen Aspekt ist bereits hingewiesen worden. Was soll nun damit gezeigt werden? Dass der Mensch im Vollzug existentieller Bewegung tatsächlich ganz und gar vereinzelt agiert. Schließlich kann ihm keine Norm und kein Imperativ vorschreiben, wie er sich, um bei der von Heidegger thematisierten Situation zu bleiben, angesichts der Einsicht in die Endlichkeit des Daseins verhalten soll. Kein Glaubenssatz vermag ihn zu ermutigen und keine philosophische Theorie zu motivieren. Ein Zurück in den Zustand der Ahnungslosigkeit oder des unterdrückten Einsehens ist nicht einmal durch die wirkmächtigsten Strategien der Verdrängung als realistisch einzuschätzen, wie Søren Kierkegaard mit meisterlicher Präzision und psychologischem Feinsinn vor Augen führt. So ist der Mensch denn im Grunde gegen seinen Willen zum Einzelnen geworden, denn wie sollten wir uns vornehmen können, auf alle Sinn- und Orientierung bietenden Vorstellungen, die uns vielleicht unser ganzes bisheriges Leben geschützt haben, verzichten zu wollen. Vereinzelt wider Willen, aber um das eigene Können wissend ! so steht der eine https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Mensch vor uns. Denn läge es nicht in seinem Vermögen, diese Erfahrung zuzulassen, hätte sie ihn vermutlich niemals ergreifen können. Hier ist er der Inbegriff des Einzelnen – und doch nicht individuell. Das Problem, das gerade zur Diskussion steht, kennzeichnet das existenzphilosophische Denken wie kein zweites. Insofern handelt es sich um ein philosophisches Problem, da es um die Frage der Denkbarkeit des Einzelnen und nicht dessen Agieren und Empfinden geht. Ein Schritt zurück kann den Zusammenhang in Erinnerung rufen. Unterschiedliche Bestimmungen dessen, was Philosophie sei, sind vorstellbar. Hier wird ihr Anspruch gesehen, die größtmögliche Vielfalt an Erfahrbarem durch Theoriebildung in Denkbares zu transformieren. Mit diesem Ansinnen stimmt auch existentielles Denken grundsätzlich überein, auch wenn die von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger erhobene Forderung nach einem «Neuen Denken»178 eine Relativierung uneingeschränkter Zustimmung bedeutet. Die alternative Position vertritt, wie bereits angesprochen, Heinrich Barth mit dem erklärten Ziel, Existenzphilosophie unter Rückgriff auf Formen traditionellen Denkens konzipieren zu wollen. Für alle stellt sich die Frage, welche Bestandteile der Philosophie sie beibehalten und welche sie nach Möglichkeit einer modifizierten Deutung unterziehen, um sie dem Anliegen des eigenen Denkens anpassen zu können. Zu jenen Elementen des Diskurses, die sich anscheinend nicht auflösen lassen, ohne den Anspruch allgemeiner Gültigkeit des Festgestellten aufzugeben, zählt der Begriff des Wesens, auf den bereits kurz hingewiesen wurde. Dabei muss dieser noch nicht einmal explizit genannt werden, denn in dem Moment, in dem Theoriefähige Aussagen über etwas formuliert werden, steht ihr Gegenstand im Modus seiner allgemeinen Kennzeichnung. Theorie kann sich nicht auf Einzelexemplare beziehen, ganz gleich, ob es sich um Gegenständliches oder Lebewesen handelt, da dadurch stets mit der Gefahr der Falsifikation des bisher Gesagten durch das Auftauchen der Norm nicht entsprechender Einzelerscheinungen zu rechnen wäre. Diese an sich banale Bemerkung ist deshalb nicht sinnlos, weil sie das Dilemma existenzphilosophischen Denkens illustriert. Dieses soll dem Einzelnen gelten, den es in dem Moment als Einzelnen aus dem Blick verliert, in dem es ihn theoretisch zu erfassen sucht. Vor diesem Hintergrund erscheinen Besonderheiten im Werk zweier Existenzdenker als konsequente Reaktionen. An Radikalität im positivsten Sinne nicht zu übertreffen ist der Entschluss Franz Rosenzweigs, das Verfassen theore178 Mit Blick auf seinen Stern der Erlösung schreibt Rosenzweig 1925: «[…] er ist bloß ein System der Philosophie. Und nun allerdings einer Philosophie, die dem Leser, […] das vollste Recht zum Mißfallen gibt, einer Philosophie nämlich, die nicht etwa eine bloße ‹kopernikanische Wendung› des Denkens herbeiführen möchte, nach der, wer sie vollzogen hat, freilich alle Dinge verkehrt herum sieht, aber doch nur die gleichen Dinge, die er auch schon zuvor sah, sondern seine, des Denkens, vollkommene Erneuerung.» Das Neue Denken, in: Zweistromland, S.140. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tischer Texte aufzugeben und stattdessen den unmittelbaren Kontakt zum Menschen, dem sein Denken gilt, zu suchen. Die Gründung des Freien jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main im Jahr 1920 ist früher Ausdruck der Überzeugung, den Menschen nicht über das Wort der Abstraktion, sondern nur in Ansprache von Angesicht zu Angesicht erreichen zu können. Einen ganz anderen Weg geht Martin Heidegger, der zwar grundsätzlich am Vertrauen in das geschriebene Wort festhält, dieses jedoch in einer Intensität neuen formalen Bestimmungen unterwirft, die es mitunter fast unmöglich erscheinen lassen, deren philosophischen Bezug noch zu erkennen. Teils in Form von Lyrik, teils in extremer Fragmentarisierung und Verwandlung in graphische Signaturen gibt er seinem Denken Gestalt, wie speziell in den Denktagebüchern der 1950er Jahre zu verfolgen ist. Dass es im Zuge dieses Vorgehens zu einem Entwurf neuer philosophischer Terminologie kommt, zählt dabei noch zu den konventionelleren Maßnahmen. Liegen uns damit also tatsächlich Reaktionen auf die Einsicht vor, den Einzelnen zwar in direkter Begegnung und im Text literarischer Form ansprechen zu können, ihn aber nicht auf philosophischem Wege thematisieren zu können? Für Rosenzweig kann diese Intention angenommen werden, ob sie auch Heidegger motivierte, ist nur zu vermuten. Denn in Sein und Zeit hebt er selbst noch den Wert der Vereinzelung hervor, die Indikator des Ergreifens eigentlichen Selbst-Seins ist. Zu dem Zeitpunkt hält er eine allgemeine Aussage über das Funktionsmodell der Vereinzelung noch für möglich. Und auch seine Ausführungen zur Angst präsentieren noch eine Ansicht des Einzelnen, die ihn als denjenigen zeigt, der das Sterben zur eigenen Sache erklärt. Zweimal finden sich also Bemerkungen zum Einzelnen in analysierender Form, was im Kontext dieser Schrift allerdings auch nicht verwundert, da sie insgesamt der Strukturanalyse des Seins dient. Mit den Jahren scheint dann jedoch das Vertrauen in die wissenschaftliche Form des Sprechens vom Sein mehr und mehr zu schwinden, was schließlich zu dem Entschluss führt, der Philosophie im akademischen Format zu entsagen. Sein neues Denken soll nicht Theorie, sondern Vollzug der Seins-Erfahrung sein, das heißt der Erfahrung des Anderen. Und diese, davon ist Heidegger in den späteren Jahren überzeugt, ist auch als Erfahrung mit dem Text möglich. Dass die hier angestellten Überlegungen nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern bereits im Kontext existenzphilosophischer Betrachtungen erörtert wurden, zeigt sich nirgends deutlicher als im Werk Heinrich Barths. Doch auch nirgends sonst im Rahmen der hier zugrunde gelegten Textauswahl wird die Schwierigkeit erkennbarer, in existentieller Theorie Raum für die Denkbarkeit des Einzelnen zu schaffen. Bemerkenswert ist der Kontext, in dem Barth seine Reflexion dieser Problematik anstellt und von Anfang an keinerlei Zweifel daran aufkommen lässt, dass es sich tatsächlich um eine solche handelt. Bemerkenswert, weil er nicht nach dem Einzelnen, für den er zumeist den Begriff des Individuums verwendet, nicht mit Blick auf den von ihm zu leistenden Entscheidungshttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Vollzug fragt, sondern nach dessen Erscheinung. Das In-Erscheinung-Treten ist für Barth Zeichen verwirklichter Existenz, so dass die höchst interessante Folgerung entstehen könnte, dass wir in der Erscheinung tatsächlich dem Einzelnen der Existenz begegnen. Zunächst stellt Barth fest: «Der Mensch tritt nicht in seiner ‹Menschheit›, sondern in seiner Individualität in die Erscheinung. Wobei wir bei seiner Individualisierung wiederum zweierlei zu unterscheiden haben: Wir können Menschliches erkennen […] und Besonderung menschlicher Haltungen und Handlungen, […].»179 Nach einem ausführlichen philosophiehistorischen Exkurs heißt es dann: Indem wir uns über die konkrete, individuelle Wirklichkeit des Menschen verbreitet haben, ist uns zum Bewußtsein gekommen, daß eben diese Konkretion nicht als eine einfache, fraglos vorhandene Gegebenheit hingenommen werden darf. Sie gibt sich uns vielmehr als der Schauplatz einer reichen philosophischen Problematik zu erkennen. Wir haben uns andrerseits um eine Darlegung der transzendentalen Voraussetzung der menschlichen Existenz bemüht.180
Den erwähnten Schauplatz will Barth ganz offensichtlich nicht betreten, ist sich aber dessen ungeachtet darüber im Klaren, dass er nicht gänzlich aus dem Blick zu verlieren sei. Die Akzentuierung seiner weiteren Ausführungen ist aufschlussreich. Denn Barth fragt ausdrücklich nicht nach dem Individuum als solchem, sondern insofern es Erscheinung des sich in der Existenz aktualisierenden Menschen ist. Dass ihn diese Perspektive zunächst zu einem Begriff führt, der primär dazu geeignet zu sein scheint, den Menschen schlechthin zu kennzeichnen, verwundert daher nicht. «Den ‹Menschen› erkennen heißt: ihn, der in seiner konkreten Individualität in Erscheinung tritt, unter dem Gesichtspunkt seiner transzendental verstandenen Tranzendenz erkennen. Erst darin liegt eine Erkenntnis des ‹Sinnes› der menschlichen Existenz.»181 Unter den gegebenen Bedingungen wählt Barth den naheliegendsten Weg, indem er zwar auf der einen Seite eine Bestimmung des Menschen in seiner Existenz-Fähigkeit vornimmt, auf der anderen Seite aber einräumt, dass nur der individuelle Mensch in Erscheinung treten könne. Ist das vielleicht die Lösung des Problems, das nun schon geraume Zeit diese Betrachtung beherrscht? Die Bestimmung des Menschen würde sich demnach mit der Bestimmung des einzelnen Menschen decken, wobei anstelle der Bestimmung auch ihr Sinn genannt werden kann. Können wir dieser Deutung folgen und endlich unseren Frieden mit dem Dilemma der Existenzphilosophie machen, die den Einzelnen thematisieren wollte, ihn jedoch nicht denken kann? Die Aussagen Heinrich Barths, die im Vergleich zu seinen übrigen Ausführungen nur einen sehr schmalen Raum ein179 180 181
Erkenntnis der Existenz, S.319 f. Erkenntnis der Existenz, S.354 f. Erkenntnis der Existenz, S.356. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nehmen, bieten leider keine Lösung, sondern schärfen nur noch einmal die Konturen der Problematik. Denn seine Erklärungen bestätigen den bereits entstandenen Eindruck, wonach der Einzelne als Einzelner gleichsam aus dem Raster philosophischer Theoriebildung herausfällt. Diese kann dazu dienen, den Sinn des Menschen und dessen Existenz in ihrer transzendentalen Verwirklichung zu diskutieren, doch in Erscheinung tritt der Einzelne in seinem individuellen Handeln und Verhalten. Fast wirkt es so, als wollte Barth die Schwierigkeit noch um eine Gradeinstellung komplizieren, wenn er in seiner Deutung des Freiheitsbegriffes von Augustinus auch hierauf zu sprechen kommt und dabei neben einer Deutung dieses Begriffes auch seine eigene Sichtweise zum Ausdruck bringt: «Das Ich ist nicht der verborgene Träger und Veranstalter der Entscheidung; sondern eben dies ist das Ich, was in der aktuellen Entscheidung selbst konkret in die Existenz tritt.»182 Terminologisch kommt damit der dritte Ausdruck neben dem des Einzelnen und des Individuums hinzu. Ohne unnötige Verwirrung zu stiften, kann die Bedeutungsgemeinsamkeit im Faktum gesehen werden, dass sie dem Begriff des Menschen nicht entsprechen, also Modulationen der Konkretion signalisieren, die durch ihn nicht zur Sprache gebracht werden können. Wichtig ist an Barths Feststellung, dass er eine individuelle Beteiligung am Geschehen der Entscheidung, die Entscheidung zur Existenz ist, offenbar nicht für denkbar hält. Auch in dieser Darstellung ist erst dann vom individualisierten Menschen zu sprechen, wenn er in Erscheinung tritt, was, wie sich gerade gezeigt hat, nur dem vereinzelten Menschen möglich ist. Doch warum ist das so? Weil Erscheinung nach Barths Verständnis die Weise ist, in der sich Existenz konkret zum Ausdruck bringt. Birgt seine Bearbeitung des Problems am Ende doch mehr Lösungspotential, als ihr zunächst zugestanden wurde? Denn der zuletzt artikulierte Gedanke würde doch bedeuten, dass wir nur deshalb überhaupt einen Begriff von Existenz in ihrer transzendentalen Bedingtheit erlangen können, weil wir deren Wirkung quasi am Einzelnen, der uns begegnet, erkennen können. Wie diese Wirkung aussehen könnte, belässt Barth freilich eher im Dunkel, verweist aber auf den Wert der «Koexistenz», in der sich Existierende in Konkretion einander zu erkennen geben.183 Im Sinne dieser Koexistenz begegnen sich tatsächlich, wie es der Begriff bereits ankündigt, nur diejenigen in der Existenz, was den Zweifel aufkommen lassen könnte, ob es sich dabei dann nicht um eine Form qualifizierter Gemeinschaft handeln müsste? Unterstrichen wird diese Erwägung dadurch, dass Barth an anderer Stelle von einer qualitativen Steigerung existentiellen Gehalts spricht.
Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins, S.108. «Nicht aus Partikeln und Besonderungen integriert sich die Realität menschlicher Koexistenz. […] Von koexistierenden Menschen ist hier die Rede, die in existentieller Erkenntnis sich auf sinngebende Transzendenz ausrichten.» Erkenntnis der Existenz, S.362. 182
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Da es sinnvoll ist, die Konzeption vom Selbst, die Heinrich Barth vertritt, derjenigen von Martin Heidegger gegenüberzustellen, soll auch dieser Begriff nun kurz beleuchtet werden. Auf das Bestehen einer fundamentalen Differenz zur Darstellung in Sein und Zeit weist bereits die folgende Formulierung hin: «Was wir ‹Selbst› nennen, ist nicht Voraussetzung, sondern Aktualisierung der Existenz, qualitativ gesteigerte Aktualisierung.»184 Nach Heideggers Ansicht besteht der Mensch als Selbst bereits im Kontext gesellschaftlicher Prägung, kann aber darüber hinaus das eigenste Selbst-Sein ergreifen, womit seine Existenz gemeint ist. Wenn Barth von der Aktualisierung spricht, muss auch er von einem möglichen Selbst-Sein-Können ausgehen, das dann im Zuge der existentiellen Bewegung verwirklicht werden kann. Weiterführend heißt es: «Trotz seines überlegenen Bedeutungsgehaltes ereignet sich das Selbst doch in der Dimension des konkreten Existierens, als eine Weise des In-die-Erscheinung-Tretens, […].»185 Das Gesamt der in Erscheinung Tretenden und sich in dieser Weise Erkennenden bezeichnet Barth als Koexistenz.186 Das Selbst des Menschen, das dabei erfasst werden kann, wenn der Andere es zu erfassen vermag, «ist ein je Einmaliges und Unvertauschbares.»187 Ist eine deutlichere Hervorhebung des Einzelnen vorstellbar? Wohl kaum, auch wenn zu fragen bleibt, worin die «qualitative Verdichtung» besteht, auf deren Wirkung Barth sein Bild vom Einzelnen gründet. Im Moment genügt es, den Gedanken der qualitativen Verdichtung zur Kenntnis zu nehmen und hinsichtlich seines Nutzens für die immer noch bestehende Frage zu prüfen, ob es Existenzphilosophie möglich ist, eine überzeugende Theorie des Einzelnen aufzustellen. Der Hinweis auf unterschiedliche Aneignungen existentieller Erkenntnis ist grundsätzlich bestens dafür geeignet, diese auch in gewissem Umfang als Erkenntnis des Einzelnen auszuweisen. Doch was genau meint Barth mit dem Begriff der Verdichtung. Um es noch einmal zu betonen: Von Existenz spricht er nicht mit Blick auf Handlung, sondern Erkenntnis, das heißt Verstehen ihrer transzendentalen Begründung. Demnach wären graduelle Abstufungen in dem Maß möglich, in dem dieses Verstehen vergegenwärtigt wird, insofern es diesen Zusammenhang erhellt. Jeder Einzelne kann in existentieller Bewegung vorgestellt werden, in der er Erkenntnis des transzendentalen Grundes betreibt und sie bezüglich ihrer Relevanz für seine eigene Sinnsuche im
Erkenntnis der Existenz, S.348. Erkenntnis der Existenz, S.348. 186 Auf die besondere Befähigung desjenigen, der die Erscheinung des Anderen erfasst, weist Barth ausdrücklich hin: «Eine wahrhaft humane Begegnung setzt Erfahrung voraus, die für qualitative Unterschiede offen steht und darum in der Lage ist, Wesenhaftes vom Unwesentlichen sich abheben zu lassen, um so des ‹Selbst› eines Menschen innezuwerden.» Erkenntnis der Existenz, S.340. 187 Erkenntnis der Existenz, S.344. 184 185
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Dasein prüft. Nicht die Art dessen, was er denkt, ist individuell, sondern das Ausmaß, in dem er dieses Denken sein Sein durchdringen lässt. Ein wenig verwirrend wirkt diese Sichtweise allerdings dennoch. Da Barth die Formulierung der qualitativen Unterschiede verwendet, müsste erklärt werden können, worin diese bestehen. Die Hervorhebung quantitativer Differenzierungen wäre eher einsichtig, insofern jeder Einzelne nach individuellem Maß Erkenntnis der Existenz zu verwirklichen vermag. Doch woher stammen qualitative Abstufungen? Müsste das nicht bedeuten, dass in der existentiellen Erkenntnis selbst von Unterschieden auszugehen ist? Doch gerade deren Verbindung mit dem Gedanken des Transzendentalen scheint hierfür nicht den mindesten Raum zu lassen. In der Erkenntnis als solcher kann die Vorstellung von Abstufungen also nicht gründen. Um sie dennoch erklären zu können, müsste auf den Aspekt der Erscheinung geschaut werden, in der sich jeder Einzelne nach Barths Bemerkung unverwechselbar zu erkennen gibt. Hier soll er als Selbst in Erscheinung treten können, wobei Folgendes gelten soll: «Das ‹Selbst› weist zurück auf die Existenz, sofern sie in der qualitativen Verdichtung ihres Seins, in ihrem Grundgehalte, in ihrer Wesenhaftigkeit existiert.»188 Wird nun auch der Begriff der Existenz ins Spiel gebracht, könnte vielleicht an eine Art von Erkenntnis-Konzentration gedacht werden, deren Intensität variieren mag. Und doch fällt es schwer, diesen Bemerkungen Barths, die in der Tat nicht viel mehr als kompakte Erwähnungen sind, die keineswegs die außerordentliche Detailliertheit der übrigen Darlegungen zeigen, zu folgen. Denn kann das wirklich die Erläuterung der besonderen Bedeutung des Einzelnen sein, die er ausdrücklich auch für seine Konzeption von Existenzphilosophie geltend macht? Dass jeder Mensch in eigenem Maße moralischen Weisungen folgt und sie in unterschiedlichem Umfang in seine Lebensführung integriert, ist keine typische Auffassung, die dieser Philosophie zugesprochen werden könnte. Sie liegt vielmehr vor allem Diskussionen im Problemfeld der Vereinbarkeit von Determiniertheit und Freiheit des handelnden Menschen zugrunde. Was macht der Mensch nach klassischer Wesensdefinition anderes, als nach Kräften dem Primat der Rationalität zu entsprechen? Kann es also als befriedigende Erklärung im Rahmen der Existenzphilosophie gelten, dass der Einzelne – jeder Einzelne – die existentielle Bewegung vollführen kann und sie je nach individuellem Vermögen und situativer Bedingtheit dann auch verwirklicht? Eine Unterscheidung ist an dieser Stelle erforderlich. Zur Vereinbarkeit der existentiellen Beteiligung des Einzelnen und der generellen Struktur von Erkenntnis, um bei Barths Gedanken zu bleiben, wird wahrscheinlich keine weiterführende Erläuterung möglich sein. Erkenntnis des Transzendentalen läuft immer gleich ab, doch jeder Einzelne verwirklicht sie in individuellem Maß. Die Frage, ob es sich hierbei um eine qualitative Differenzierung handeln kann, wurde angesprochen. Wie gewinnen wir aber die Informationen, 188
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Übereinstimmung im Problematischen
um diese Ansicht vertreten zu können? Wir beobachten den einzelnen Menschen in seinem Agieren und interpretieren dieses als Realisierungsakte von Erkenntnis, die in allgemeiner Gültigkeit definiert werden kann. In dem Augenblick, in dem Aussagen über das generelle Verhalten des Einzelnen und dessen Bezug zum Allgemeinen getroffen werden, ist dieser jedoch bereits Gegenstand einer anderen Weise der Zur-Kenntnisnahme geworden, da er nun in seiner Verhaltensmöglichkeit reflektiert wird, die als seine Wesensbestimmung gedeutet werden kann. Der faktische Einzelne in dieser oder jene individuellen Kontur des Handelns und Verhaltens, einmalig und unverwechselbar, wie Barth es formuliert, ist nicht mehr Gegenstand der Erkenntnis. Im Grunde begegnen wir hier dem Manko der klassischen Abstraktionstheorie, die von den individualisierenden Faktoren absehen muss, um verbindlich gültige Aussagen über jedes Individuum in seinem wesenshaften Wirken treffen zu können. Dass philosophische Erkenntnis auf diese Weise funktioniert, hat sich in der Tat lange Zeit bestätigt. Warum sollte es nun mit dem Aufkommen der Existenzphilosophie plötzlich nicht mehr so sein? Weil diese mit dem Anspruch aufgetreten ist, den Einzelnen in den Fokus der Reflexion zu rücken und damit einen längst überfälligen Schritt zu tun. So zumindest können vor allem die Intentionen von Søren Kierkegaard, Franz Rosenzweig oder Karl Jaspers verstanden werden. Der Blick in Darstellungen der Existenzphilosophie zeigt, dass das Motiv des Einzelnen eines ihrer wenigen übereinstimmenden Merkmale ist. Odo Marquard erklärt in seiner Vorlesung an der Universität Gießen im Sommersemester 1974: Der Einzelne ist die Ernststätte: der, der die Dinge lebensweltlich auszubaden hat. Schon allein deswegen ist es problematisch, wenn der Einzelne der Philosophie als Thema entgleitet. Hier hat die Existenzphilosophie (das muss geprüft werden) möglicherweise Wichtigkeit: Weil sie der Philosophie ein Thema gegenwärtig hält, das wegen seiner lebensmäßig begründeten Unvermeidlichkeit stets gegenwärtig sein muss: das Thema des Einzelnen.189
Die besondere Herausforderung, vor der Denker der Existenz stehen, liegt darin, Argumentationsformen und Sprachfiguren zu finden, in denen sich Theorien des Einzelnen fixieren lassen und dabei das Besondere ihres Gegenstandes so weit wie irgend möglich zu bewahren. Und wie weit ist es möglich? Einem Denker wie Karl Jaspers, dessen Modell der Existenzerhellung mit psychologischem Interesse am Menschen eine gemeinsame Grenze teilt, fällt es vermutlich leichter, diesen Spagat zu vollführen. Wenn er etwa vom Scheitern, vom Sich-Ausbleiben des Selbst spricht, handelt es sich ohne Frage um das Versagen des Einzelnen. Doch sollte dieser Eindruck, der durch die intellektuelle Biographie des Verfassers bedingt sein mag, nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Jaspers mit dem
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Grundproblem zu kämpfen hat. Wie ist eine Theorie des Einzelnen vorstellbar? Franz Rosenzweig geht das Problem wohl am offensivsten an, wenn er schreibt: […] er [der Einzelne] ist nicht jenseits der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wissens, sondern diesseits; er ist nicht, wenn das Wissen aufhört, sondern ehe es anfängt; und nur weil er vor dem Wissen ist, kommt es, daß er auch nachher noch ist und allem Wissen, mag es ihn noch so vollständig in die Gefäße seiner Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit aufgefangen zu haben wähnen, immer wieder sein sieghaftes ‹Ich bin noch da› zuruft.190
Dieses «Ich bin noch da» ist der widerständigste Ausdruck des Einzelnen, der in der hier zugrunde gelegten Literaturauswahl zu finden ist. Wie weit die Beharrlichkeit der Selbstbehauptung trägt, ist für Rosenzweig dann eine andere Frage als für Heidegger, Jaspers und Barth, weil er den Einzelnen im Gegenüber des Göttlichen vorstellt. Sein Entwurf ist von Anfang an darauf angelegt, letztlich im Bild religiöser Gemeinschaft aufzugehen. Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein. Mit der Konzeption Heinrich Barths wird ein Kontrast zu dieser Auffassung sichtbar, was vor allem an einer Auffassung ausgemacht werden kann. Rosenzweig thematisiert den Augenblick der Erschütterung, wie ihn Kierkegaard beschrieb, als Erscheinung radikaler Vereinzelung. «Der Einbruch des Selbst beraubt ihn [den Menschen] mit einem Schlage all der Sachen und Güter, die er zu besitzen sich vermaß. Er wird ganz arm, er hat nur sich, kennt nur sich, niemand kennt ihn; denn es ist niemand da außer ihm.»191 Der Moment der Vereinzelung hat durchaus etwas Schonungsloses, das uns überfällt, ohne dass wir ihn uns hätten wünschen können. Das Bild der Vereinzelung tritt in der Entwicklung des existierenden Menschen an genau jener Stelle auf, an der es auch von Kierkegaard, Heidegger und Jaspers platziert wird, nämlich als erster Indikator von Existenz. Dass es falsch wäre, von deren Voraussetzung zu sprechen, wurde bereits erläutert. Und bei Heinrich Barth? Dort wird das Motiv des Einzelnen im Zuge der Erscheinung von Existenz sichtbar. Vereinzelung kraft Existenz, so könnte sein Verständnis charakterisiert werden. Es ist zwar etwas schwierig, existentielle Bewegung als Prozess aufzufassen, in dem verschiedene Phasen zu unterscheiden sind. Doch diese eine Unterscheidung ist möglich, die den Zeitpunkt markiert, an dem vom Einzelnen gesprochen wird. Die vier genannten Denker gehen davon aus, dass Vereinzelung und Existenz zumindest in einem Verhältnis sich bedingender Gleichzeitigkeit zu denken sind, und folglich die Äußerungen zum Einzelnen an einer Stelle erfolgen, die nach herkömmlicher Auffassung auf notwendige Vorgängigkeit deuten würde. Barth platziert seine Überlegungen zum Einzelnen im Zuge der Erörterung des In-Erscheinung-Tretens, also als Anzeige realer Exis190 191
Der Stern der Erlösung, I, III, S.69. Der Stern der Erlösung, I, III, S.77. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tenz in qualitativen Verdichtungen, wie er es nennt. Eine Erklärung für diese Darstellung könnte in dem Faktum gesehen werden, dass er den Weg der Existenz durch dessen Ausrichtung auf das Transzendentale stärker normiert, als es bei Heidegger und Jaspers der Fall ist. Heidegger lässt weitgehend ungesagt, wie die existentielle Bewegung zu vollführen ist, und Jaspers stellt sie zu einem nicht unerheblichen Teil in die Gestaltungskompetenz des Einzelnen. Im Gewahren der «Unbefriedigung» am Dasein wird mögliche Existenz seiner Deutung nach vorstellbar. «Unbegründbare Unbefriedigung tritt aus dem bloßen Dasein heraus. Mit ihr trete ich in die Einsamkeit des Möglichen, vor der alles Weltdasein verschwindet. Diese Einsamkeit ist […] die Unbefriedigung am Daseienden überhaupt als der Anspruch, aus dem Ursprung meiner selbst zu sein.»192 Für Heinrich Barth ist die Frage eines individuellen Existenz-Eintritts eher von sekundärem Interesse, weshalb es nachvollziehbar ist, dass er sie dort stellt, wo es das Phänomen der Erscheinung zu erörtern gilt. Erscheinung in seiner Interpretation ist eine Form der Selbst-Präsentation mit deutlich empirischem Einschlag. Denn im sinnlichen Erfassen eines Menschen kann derjenige, der zu sehen versteht, Existentielles begreifen. Nicht zufällig kommt Barth in diesem Zusammenhang auf das Kunstwerk zu sprechen, das die Möglichkeit dieser Erkenntnis im Erscheinen exemplarisch demonstriert. Warum dieser Hinweis? Mit ihm wird auf die angeklungene Unterscheidung Bezug genommen, die im Zuge des Fragens nach der Bedeutung des Einzelnen im existentiellen Denken relevant wird. Wenn der Einzelne in Barths Deutung in Erscheinung tritt, so geschieht dieses auch auf empirischem Wege, wie der Hinweis belegt, er erscheine in der Weise seiner Handlungen und Verhaltensweisen. Das heißt, er wird für uns zunächst zum Gegenstand der Beschreibung. Erfüllt sich auf diese Weise die Absicht der Existenzphilosophie, vom Einzelnen zu handeln? Ein letzter Gedanke Heinrich Barths soll diese Überlegungen auf ihren vorläufigen Abschluss konzentrieren. Als der In-Erscheinung-Tretende ist der Einzelne, soviel hat sich gezeigt, koexistent mit Anderen, die nicht beliebig Andere sind, sondern diejenigen, die einander zu erkennen vermögen. Über diese heißt es: «Jeder Einzelne steht vor der Sinnfrage seiner Existenz; vor der Frage seiner Existenz in sinnvoller Entscheidung. Es liegt am Tage, daß dies keine individuelle Frage ist; vielmehr die Frage nach dem einen Sinn der Existenz in ihrer Bezogenheit auf den Einzelnen.»193 Unter Rückgriff auf den Gedanken der Koexistenz kann festgehalten werden, dass nicht alle Einzelnen existieren, sondern jeder Einzelne als er Selbst. Hat sich nach all den Ausblicken und Fragen hinsichtlich der existenzphilosophischen Bestimmung des Einzelnen das Blatt am Ende damit doch noch zum Guten gewendet und belohnt die Ausdauer und Beharrlichkeit mit dem zufriedenstellenden Gewinn gesicherten Verstehens? Ja und nein, so lautet die viel192 193
Philosophie II, S.6. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.45. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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leicht ernüchternde Antwort. Existenzphilosophische Thematisierungen des Einzelnen in seiner konkreten Besonderheit sind möglich, jedoch ausschließlich in der Weise der Beschreibung. Kierkegaard beschreibt den Einzelnen im Durchleben der Verzweiflung, Jaspers im Suchen und Verfehlen des Selbst-Seins, Barth im In-Erscheinung-Treten. Dass Heidegger gerade nicht genannt wurde, liegt daran, dass er dem Motiv des Einzelnen in Sein und Zeit am wenigsten Aufmerksamkeit schenkt, da dort Seins-Analyse sein Ziel ist. In vorgreifender Verallgemeinerung kann festgehalten werden, dass immer dann, wenn in existenzphilosophischen Texten vom Einzelnen die Rede ist, dieses in Form deskriptiver Denomination erfolgt. Werden hingegen allgemeingültige Aussagen über den Einzelnen in der Struktur seiner Seins-Ermöglichung, das heißt seines ExistierenKönnens, getroffen, gelten sie nicht diesem Einen, der nach Rosenzweig sein stolzes «Ich bin noch da» ausruft, sondern dem Wesen des Menschen im Seins-Modus der Vereinzelung. In strikter Verknappung der Bedeutung des Begriffes wird so nicht vom Erkennen, sondern vom Denken zu sprechen sein, das Wesensmerkmale fixiert. Vielleicht ist es an der Zeit sich einzugestehen, dass Existenzphilosophie ausgerechnet jenes Element, das sie von anderen Konzeptionen unterscheiden sollte, zwar beschreiben, aber nicht denken kann. Könnte in dieser Feststellung möglicherweise ein Grund für die relativ kurze Wirkungszeit dieser Philosophie zu sehen sein? Setzen wir die 1920er Jahre als Beginn der modernen Existenzphilosophie an und betrachten das Werk von Heinrich Barth als deren vorerst letzten systematischen Ausdruck, ergibt sich gerade einmal ein Zeitraum von rund vierzig Jahren, in dem sie für Aufmerksamkeit sorgte. Und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass bereits in den 1940er Jahren der Existentialismus als Gegenbewegung von sich reden machte. Ist dieser Ausdruck nicht zu drastisch?
Existentialismus Noch immer finden sich Verwendungen der Bezeichnungen Existenzphilosophie und Existentialismus, die beide nahezu synonym setzen. Für den Versuch, die Entwicklung Ersterer auch über ihre offensichtliche Hoch-Zeit hinaus zu verfolgen, wäre es dienlich, beide zu unterscheiden, was aufgrund ihrer divergenten Ausgangslage ohne Weiteres möglich ist. Der Begriff der Freiheit spielt in beiden eine entscheidende Rolle. Doch ihre Bewertung differiert überdeutlich. In existenzphilosophischen Schriften der genannten Denker, die in diesem Fall ausnahmsweise als ein relativ einheitliches Konvolut betrachtet werden können, signalisiert der Hinweis auf die Freiheit des Menschen sein Frei-Sein für die Möglichkeit des existentiellen Werdens. Werden nur der früheste und der späteste der hier behandelten Entwürfe zu Rate gezogen, bedeutet existentielles Werden das Ergreifen des eigensten Selbst-Seins und die Erkenntnis als Setzung des Tranhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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szendentalen. Die konkreten Ausführungsformen dieses Werden-Könnens unterscheiden sich, doch die Deutung ihrer Geschehnisstruktur gleicht sich in bemerkenswerter Weise. Warum wurde gerade nicht von ihrer Voraussetzung gesprochen? Es wäre schließlich nur naheliegend, Freiheit als Grund des WerdenKönnens anzusehen. Weil sie nicht deren Voraussetzung ist, soviel kann mit Blick auf die Aussagen von Martin Heidegger und Heinrich Barth festgestellt werden. Denn dann wäre davon auszugehen, dass wir frei gedacht werden und aufgrund dieser Bedingung dazu in der Lage sind, bisher Unverwirklichtes zu realisieren, das uns durch irgendeinen Impuls als unsere eigentliche Möglichkeit, zu sein, erscheint. Doch gerade so verhält es sich nicht. Stattdessen erscheint uns erst unsere Möglichkeit, zu werden, was wir sein können, als Ausdruck von Freiheit, deren Vorstellung jedoch erst im Moment ihrer vermeintlich In-Anspruchnahme entsteht. Ein letztes Mal sei an Heideggers Formulierung erinnert, die diesen Sachverhalt in aller wünschenswerten Klarheit festhält: «Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens – und ergreifens.»194 Freiheit gründet in einem sich vollziehenden Modus des Seins und ist nicht dessen Ursprung. Natürlich könnte eingewendet werden, dass wir zu einem solchen Vollzug gar nicht in der Lage wären, würde nicht er seinerseits Folge einer Verursachung sein. Hier von Verursachung zu sprechen, würden sowohl Heidegger als auch Jaspers jedoch ablehnen. Um für einen Moment noch einmal zu deren Gedanken-Konstruktion zurückzukehren, ist der Blick auf die Bedeutung der affektiven Erschütterung zu richten, die Heidegger im Erleben der Angst, Jaspers im Erfahren von Grenzsituationen sieht. Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Prius gesprochen werden kann, das dem existentiellen Entwurf vorausgeht, dann müsste es unter Hinweis auf diese Erschütterungen geschehen und nicht unter Bezugnahme auf ein Konzept von Freiheit. Diese wird nicht als eine Fähigkeit gedeutet, die dem Menschen schon immer eignet, sondern ihrerseits als Modus existentiellen Seins. Damit kann sie nicht Voraussetzung des Werden-Könnens sein, da sie sich selbst mit dessen Konkretisierung verwirklicht. Anstelle von Verursachung wäre in diesem Kontext eher von Ermöglichung zu sprechen, von einem Geschehen, das als Initiativ-Moment der existentiellen Bewegung gewertet werden kann. Die affektive Erschütterung ist dieses Geschehen. Sie setzt uns für den Entwurf unseres Existieren-Könnens frei und ist nicht ihrerseits Folge einer eigenschaftlich zu denkenden Freiheit. Warum ein solches Frei-Setzen überhaupt erforderlich ist? Weil die Verhaftungen, die uns an die «Diktatur des man», wie es Heidegger formuliert, und an die scheinbare Selbstverständlichkeit des Weltbezuges binden, durchtrennt werden müssen, um die Perspektive auf jene andere SeinsWeise zu öffnen, die als Existenz bezeichnet wird. Eine Besonderheit des existentiellen Denkens besteht in der Überzeugung, dass der Gedanke der Freiheit nicht 194
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theologisch oder metaphysisch fundiert ist, sondern situativ. Der Unterschied beider Ansichten könnte nicht größer sein. Der Grund für unsere Freiheit wird nicht in einem Willensakt Gottes oder als Konsequenz eines ersten Prinzips alles Seienden gesehen, so dass sie uns kraft unseres Seins immer schon eigenschaftlich eignet. Stattdessen erscheint Freiheit im Moment ihrer Realisierung, die letztlich an die Bedingungen gebunden ist, die die Daseins-Situation des Menschen vorgibt. Eine Begriffs-Präzisierung ist an dieser Stelle unerlässlich. Denn wenn hier von Freiheit die Rede ist, geht es weniger um die Freiheit des Wollens, die uns in einzelnen Handlungen zielgerichtet und nach Maßgabe unserer Entscheidungen agieren lässt. Im Zuge der Rede von Existenz auch auf Freiheit einzugehen, bezieht den Aspekt des Verstehens und seiner Ermöglichung in deren Erörterung ein. Heideggers Formulierung zeigt den Weg an, indem sie das «Freisein für» ausdrückt. In einem Dasein, so kann es unter Vorbehalt für alle drei hier zu Wort kommenden Denker vermerkt werden, das durch allerlei pragmatische Erfordernisse beherrscht wird, muss der Blick erst frei für das Mögliche darüber hinaus werden. Und eben das ist Existenz. Aber trifft diese Sichtweise auch für das Denken von Heinrich Barth zu? Im ersten Moment sieht es nicht so aus: Unter ‹Freiheit› verstehen wir diejenige Bestimmung der Existenz, derzufolge sie in ihrer Aktualisierung auf Grund des transzendentalen Prinzips der existentiellen Erkenntnis existiert. […] ‹Freiheit› der Existenz ist die Bezogenheit ihrer Aktualisierung auf ihre transzendentale Voraussetzung, und dies will sagen: auf transzendentale Existenz.195
Allein schon die Verwendung der Begriffe Bestimmung, Prinzip, Bezogenheit und Voraussetzung könnte darauf hindeuten, dass Barth hier grundsätzlich anders argumentiert als Heidegger und Jaspers. Doch was hat es mit ihnen auf sich? Aus der Erwähnung einer Bestimmung der Existenz geht keineswegs das Faktum ihrer vorgängigen Bedingung hervor, da ja das Bestimmte Existenz und nicht das Sein ist. Da Existenz von Barth als Aktualität der Erkenntnis gedeutet wird, entsteht ihre Bestimmung im Zuge dieser Aktualisierung. Schwerer scheint die Betonung des transzendentalen Prinzips zu wiegen und eine Vereinbarkeit mit der zuvor gekennzeichneten Auffassung von Freiheit am Ende gar zu verhindern. Denn bisher konnte hervorgehoben werden, dass Freiheit nicht als Ursache des Existieren-Könnens, sondern als dessen Erscheinung zu verstehen ist. Doch auch in diesem Fall zeigt sich eine größere Übereinstimmung als zunächst vermutet. Das transzendentale Prinzip ist nicht denkbar, bevor es der Mensch erkennend setzt. So bezieht er sich letztlich auf das grund-legende Motiv seines Denkens, das erst im Moment seines Vollzuges als solches erkennbar wird. Auch wenn sich dieser Ansatz durch die explizite Fokussierung des Problemkontextes der Erkenntnis in funktionaler Hinsicht von den beiden anderen Konzeptionen unterscheidet, zeigen sie doch alle eine vergleichbare Intention. Denn sie alle betrach195
Erkenntnis der Existenz, S.553. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ten Freiheit nicht als gegeben, sondern als gesetzt. 1935 erschien Heinrich Barths Schrift Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins, die neben der Arbeit der Auslegung auch manch kostbaren Hinweis auf das eigene Denken enthält. Für unseren Gedankenweg ist eine Formulierung interessant, die scheinbar schlicht die Überlegungen ausgezeichnet fokussiert: «Durch Gedankengänge und Verhandlungen, die das Problem der Freiheit angehen, zieht sich das beziehungsreiche, vielsagende Stichwort des ‹Könnens›. ‹Kann› der Mensch oder kann er nicht?»196 In diesem Text verwendet Barth den Begriff der Bewegung, der auch im vorliegenden Kontext zur Kennzeichnung des Existentiellen genutzt wird.197 Das Motiv des Könnens führt den Gedanken der Freiheit in seiner elementaren Bedeutung vor Augen, was es erlauben wird, zur Frage der Unterscheidung von Existenzphilosophie und Existentialismus zurückzukehren. Werden-Können, Existieren-Können – das sind die Signaturen, durch die im Text das existentielle Vermögen des Einzelnen, sich als dieser Eine sein zu machen, angezeigt wird. Wenn an dieser Stelle auf einen Gedanken von Jean-Paul Sartre eingegangen wird, geschieht es aus doppeltem Grund. Zum einen soll sein Freiheits-Begriff dem gerade skizzierten gegenübergestellt werden. Und zum anderen findet sich im Kontext seiner Erörterung dieses Begriffes eine Aussage, die unmittelbar an das Ende des letzten Kapitels anknüpft. Zum Verständnis seien einige wenige Bemerkungen zu jenem Denken vorangestellt, das er in seiner Schrift L’être et le Néant – Das Sein und das Nichts aus dem Jahr 1943 in weit ausholenden Argumentationen entfaltet. Grundvoraussetzung dieses Denkens ist, so könnte es zusammengefasst werden, das Leiden am Sein, das in literarischer Form im Roman Der Ekel von 1938 seinen frühesten Ausdruck im Werk dieses Denkers findet. Angesichts der erdrückenden Fülle des Seins, die als ein einziges bedrohliches «Zuviel» erlebt wird, vermag der Protagonist nur noch mit dem Gefühl des Ekels zu reagieren. Darauf, dass Emmanuel Lévinas dieses Motiv interessanterweise bereits drei Jahre vor Sartre thematisiert, wurde bereits hingewiesen. Findet im Roman die Beschreibung der Erfahrung des Seins statt, dient Das Sein und das Nichts dem Nachweis jener Möglichkeit, aus der heraus der Mensch diese zu reflektieren vermag. Zu diesem Zweck weist Sartre auf unser Vermögen hin, die homogene Fülle des An-sich-Seins, das in etwa jenem Grund entspricht, der im Ekel dargestellt wird, in je einzelnen Akten des individuellen Bezuges zu strukturieren und in ein Für-sich-Sein, das letztlich Sein für jeden Einzelnen in besonderer Weise ist, zu modifizieren. Der Weg, über den diese Setzungen individuell konzipierter Seins-Ausschnitte gelingen können, ist die Nichtung, die dasjenige, das situativ nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit wird, zurückweist. GenichteDie Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins, S.51. «Worin liegt das Prinzip der Lebensbewegung, derjenigen Bewegung, die wir heute durch den Begriff der ‹Existenz› genauer bestimmen?» Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins, S.45. 196 197
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tes Sein hat zum Einzelnen lediglich noch den Bezug, dass es von ihm negiert wurde. Bereits an diesem Punkt wird die Verbindung zur Frage nach dem Begriff der Freiheit ersichtlich. Denn gäbe es nicht das Nichtungsvermögen, müsste das An-sich-Sein uns ohne Aussicht auf Veränderung in jener kompakten Fülle erscheinen, von der Sartres Konzeption des Existentialismus ihren Ausgang nimmt. Thematisch führt er seine Betrachtung des Begriffes der Freiheit in Das Sein und das Nichts im Kontext seiner Handlungstheorie ein. Dort bestimmt er sie als «grundlegende Bedingung der Handlung»,198 was folgendermaßen zu verstehen ist: Jede Handlung basiert seiner Auffassung nach auf der Möglichkeit, sich durch die Nichtung des Gegenwärtigen, mag dieses als Situation oder als Zustand aufgefasst werden, eine andere Situation oder einen anderen Zustand vorzustellen.199 Dieses Zusammenspiel aus Nichtung und Vorstellung kann aufgrund der Freiheit stattfinden, die damit als eine dem Sein stets inhärierende Möglichkeit gegeben sein muss. Es könnte überlegt werden, ob sich bereits hier ein Unterschied zu den existenzphilosophischen Sichtweisen andeutet. Dafür würde sprechen, dass Freiheit bei Heidegger erst im Moment der aufbrechenden Existenz-Möglichkeit zur Bewährung gelangt und sich bei Barth erst aktuell im Moment der Entscheidung realisiert. Gegen den Versuch, hier eine unterschiedliche Deutung geltend zu machen, könnte darauf verwiesen werden, dass das aktuelle Wirken der Freiheit lediglich als Verwirklichung einer zuvor potentiell bestehenden Möglichkeit verstanden werden kann, wie letztlich schon Heideggers Formulierung des «Freiseins für die Freiheit» umschrieb. Mit einer weiteren Äußerung Sartres kann der Ansatz eines differenten Freiheits-Begriffes schließlich entkräftet werden, denn er schreibt: «Ich bin nämlich ein Existierendes, das seine Freiheit durch seine Handlungen erfährt; aber ich bin auch ein Existierendes, dessen individuelle und einmalige Existenz sich als Freiheit verzeitlicht.»200Die Folgerung kann als eine der wichtigsten existentialistischen Aussagen zur Beschaffenheit der Freiheit gelesen werden: «So geht es in meinem Sein fortwährend um meine Freiheit; sie ist keine hinzugefügte Qualität oder Eigenschaft meiner Natur; sie ist ganz genau der Stoff meines Seins; und da es in meinem Sein um mein Sein geht, muß ich notwendig ein gewisses Verständnis der Freiheit besitzen.»201 Diese letzten Worte streifen in so offensichtlicher Weise die Erklärung Martin Heideggers am Anfang von Sein und Zeit, wo er von der Frage nach dem Sinn von Sein spricht, die wir nur deshalb zu stellen vermögen, weil wir seiend sind. «Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muß uns daher schon in gewisser Weise verfügDas Sein und das Nichts, S.761. «Denn eine Handlung ist eine Projektion des Für-sich auf das, was nicht ist […].» Das Sein und das Nichts, S.757. 200 Das Sein und das Nichts, S.762. 201 Das Sein und das Nichts, S.763. 198
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bar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.»202 Wenn von dieser Art Verständnis die Rede ist, wird Grundsätzliches ausgedrückt, das selbst keine Erklärung oder Begründung benötigt oder – auch diese Sichtweise wäre einzunehmen – zulässt. Charakteristisch ist der Zusammenhang, in dem beide Autoren auf diese Art des Verständnisses verweisen. Es ist exakt der Punkt, an dem in religiös ausgerichtetem Denken der Bezug zum Göttlichen als erster Begründungsinstanz vorzunehmen wäre. Vom Sinn des Seins zu sprechen ist nicht Sartres Präferenz, doch kann seine Formulierung, es gehe dem Sein um sein Sein, als Auskunft über eine Sinn-adäquate Überlegung aufgefasst werden. Wie sich im weiteren Verlauf dieser Betrachtung bestätigen wird, arbeiten Existenzphilosophie und Existentialismus mit argumentativen Leerstellen, die immer dort aufbrechen, wo traditionellerweise Erklärungen aus dem Glauben herangezogen worden wären. Eine solche Leerstelle liegt uns auch hier vor, da die Beantwortung der Frage nach dem Sinn zu den Fragen zählt, für deren Beantwortung der Bezug auf göttliche Setzung den wichtigsten Beitrag leisten konnte. Es ist hier nicht der Ort, Spekulationen darüber anzustellen, warum das Vertrauen in diese Weisungskompetenz erschüttert wurde. Fakt ist, dass diese Erschütterung sowohl für Heidegger als auch Sartre Realität war, der auf philosophischem Wege Rechnung zu tragen ist. Auch der Begriff der Freiheit wäre in diesem Zusammenhang verhandelbar, da sie als eine Gabe gedeutet werden könnte, die dem Menschen zuteilwurde. Von allen Interpretationen, die sie als Eigenschaft verstehen wollen, distanziert sich Sartre entschieden durch seine Worte, sie sei der Stoff des Seins. An diesem Punkt und nicht in der Betrachtung des Einsatzmomentes von Freiheit erschließt sich ihre unterschiedliche Bewertung in Existenzphilosophie und Existentialismus. Denn es handelt sich dabei tatsächlich um die Bewertung eines Faktums, für das weder Grund noch Sinngebung benannt werden kann, sofern sie nicht im Sein zu suchen wären. Warum schätzen Vertreter beider Richtungen dieses Denkens das Faktum der Freiheit unterschiedlich ein? Für die Theoretiker der modernen Existenzphilosophie erscheint sie als Auszeichnung, für die Repräsentanten des Existentialismus als Bürde. Die Erklärung der ersten Art, Freiheit zu bewerten, sollte aus den bisherigen Überlegungen ersichtlich geworden sein. Sie ist Bestandteil jenes Geschehens der Frei-Setzung, durch die der Einzelne aktuell zur existentiellen Bewegung befähigt wird. Durch diese Frei-Setzung erscheint ihm das Ergreifen des eigensten Selbst-Seins als realisierbare Möglichkeit. Durch sie ist er in der Lage, das Wesen seines Seins, wenn man bei diesem Begriff bleiben möchte, zu erfüllen. Das Sich-Entwerfen in das ‹Noch-Nicht› ist der eigentliche Ausdruck unseres Könnens. Wie anders wirkt dagegen die existentialistische Bewertung. Denn an die Stelle des Könnens tritt das Gefühl des Müssens. Eine kurze Zwischenbemerkung 202
Sein und Zeit, § 2, S.5. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ist an dieser Stelle vonnöten. Selten werden die Begriffe von Freiheit und Existenz im existenzphilosophischen Sinne im Kontext einer Handlungstheorie diskutiert, da sich Existenz primär als veränderte Einstellung dem Sein gegenüber, gegründet auf dessen Verstehen, zu erkennen gibt. Für Sartre ist die Erörterung der Bedingtheit des Handelns der Rahmen, in dem er seine Deutung des Freiheits-Begriffes platziert und in diesem Zuge jene berühmt gewordene Formulierung anführt, die wie keine andere als Credo des Existentialismus betrachtet werden kann: Die Freiheit hat aber kein Wesen. Sie ist keiner logischen Notwendigkeit unterworfen; von ihr müßte man sagen, was Heidegger vom Dasein schlechthin sagt: In ihr geht die Existenz der Essenz voraus und beherrscht sie. Die Freiheit macht sich zu Handlung, und wir erreichen sie gewöhnlich über die Handlung, die von ihr mit den Motiven, Antrieben und Zwecken organisiert wird, […].203
Der Ausspruch, die Existenz gehe der Essenz voraus, stammt in dieser Form nicht von Heidegger, wenngleich dieser auf das Verhältnis beider Begriffe zueinander eingeht und klarstellt, dass er mit Existenz, anders als in der ontologischen Tradition, nicht das Faktum des Vorhandensein schlechthin bezeichnet wissen will, sondern die Seins-Weise des Menschen, die, so ist hinzuzufügen, eine SeinsWeise in Potentialität ist.204 Deshalb ist es für Heidegger wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass «Dieses Seiende [der Mensch] […] nicht und nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur Vorhandenen [hat].»205 Sartres Formulierung, die Existenz gehe der Essenz voraus, spielt offen auf die traditionelle Sichtweise metaphysischen und auch religiösen Denkens an, wonach das Wesen bestimmt ist, bevor das Seiende, das ihm entsprechen soll, faktisch besteht, weil es für jedes vorstellbare Exemplar des so Definierten gilt. Die existentialistische Umkehrung dieser Auffassung ist Programm. Denn sie beruft sich auf die Entwurfs-Kompetenz des Einzelnen, der sich aus seinem faktischen Sein, das wesensmäßig noch nicht bestimmt ist, zu demjenigen werden lässt, der er sein wird. Auch in seinem legendären Vortrag L’existentialisme est un humanisme – Der Existentialismus ist ein Humanismus, den er 1946 unter heute kaum noch vorstellbarem öffentlichem Interesse in Paris hielt, greift er diese Formel auf und erläutert sie vor seinen Zuhörern, die von ihm nicht mehr und nicht weniger als eine Verteidigung seiner Lehren erwarteten, folgendermaßen: Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil Das Sein und das Nichts, S.761. «[…] existentia besagt nach der Überlieferung ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht zukommt.» Sein und Zeit, § 9, S.42. 205 Sein und Zeit, § 9, S.43.
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er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folglich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen.206
Vielleicht ist aufgefallen, dass der Gebrauch des Begriffes der Existenz nicht exakt jenem entspricht, den die Existenz-Denker präferieren. Denn danach müsste es heißen, dass der Mensch erst vorhanden ist, sich existentiell entwirft und damit sein Wesen bestimmt. Neben dieser Variation in der Begriffs-Deutung zeigt die Passage aber noch etwas anderes, das im vorliegenden Zusammenhang mindestens genauso interessant ist. Denn hier artikuliert Sartre jenen Gedanken, auf dem hauptsächlich die Unterscheidung existentialistischen von existenzphilosophischem Denken beruht. In Letzterem erscheint das Faktum der Freiheit als positiv, da in ihm das Existieren-Können sichtbar wird. Würde, was im Rahmen der Existenzphilosophie freilich fast nicht erfolgt, diese Ansicht auf das Feld konkreter Handlungsbegründung übertragen, würde sich ergeben, dass der Mensch seine soziale Existenz nach eigener Wertsetzung zu entwerfen vermag. Karl Jaspers und Heinrich Barth weiten ihre Überlegungen zwar auf den Bereich der Kommunikation aus, belassen deren Erörterung allerdings eher im Modus allgemeiner Strukturanalyse. Für Sartre ist eine solche Begrenzung des Denkens unhaltbar, weshalb er besondere Aufmerksamkeit auf die Frage richtet, warum wir handeln, wie wir handeln: In der Tat ist alles erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und folglich ist der Mensch verlassen, denn er findet weder in sich noch außer sich einen Halt. […] Wenn tatsächlich die Existenz dem Wesen vorausgeht, ist nichts durch Verweis auf eine gegebene und unwandelbare menschliche Natur erklärbar; […]. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.207
Wie mögen diese Worte auf die Menschen gewirkt haben, die sie unmittelbar nach Kriegsende hörten, die Wirkungen von Krieg, Besatzung und Unfreiheit noch immer spürend? Vielleicht könnte vermutet werden, dass Sartre das Motiv der Verurteilung speziell für seinen Vortrag gewählt hat, um durch dessen Suggestivkraft dem Faktum der Eigen-Verantwortlichkeit des Menschen in durchaus plakativer Weise gerecht zu werden. Jedoch taucht dieses Bild bereits in Das Sein und das Nichts, also drei Jahre früher auf und zwar in einem Zusammenhang, auf den gleich einzugehen ist. Die Eindringlichkeit der obigen Zeilen spricht gewiss für sich. Von der Gewissheit des Existieren-Könnens, die existenzphilosophischen Texten ihre ganz eigene Tonalität gab, ist rund zwanzig Jahre später nichts mehr übriggeblieben. Stattdessen herrscht das Empfinden der Last vor, die darin besteht, sich selbst Grund des Selbst-Seins zu sein. Es ist eine vielleicht allzu offensichtliche Erwähnung, dass sich die beiden Richtungen existentiellen Denkens 206 207
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jeweils nach einem der beiden Weltkriege artikulierten. Sie deshalb als unterschiedliche Reaktionen auf die Erfahrungen der katastrophalen Ereignisse einzuschätzen, wäre wohl nicht völlig unzutreffend, würde jedoch ihre philosophische Bedeutung vernachlässigen. Es scheint doch durchaus plausibel zu sein, dass Sartre, der momentan als der Repräsentant des Existentialismus betrachtet wird, mit seiner Theorie der Verurteilung zur Freiheit und des Seins ohne Entschuldigung direkt auf eine Schwachstelle existenzphilosophischen Denkens reagiert. Denn hat dieses dem Menschen möglicherweise zu viel abverlangt, indem es die Entwurfs-Kompetenz des eigenen Seins in dessen eigene Hände legte? Vielleicht könnte eingewendet werden, dass wir in den Konzeptionen von Heidegger, Jaspers und Barth keineswegs «verlassen» und ohne Halt erscheinen, da es doch sehr wohl Orientierungspunkte gibt, auf die wir uns in unserer existentiellen Bewegung beziehen können. Das vorgängige Seins-Verständnis im Sinne Martin Heideggers wäre hier zu nennen, das Transzendente bei Karl Jaspers und das Transzendentale als Grund der erkennenden Existenz bei Heinrich Barth. Wie immer man die jeweilige Stimmigkeit dieser drei Bezugspunkte bewerten mag, ist kaum zu leugnen, dass damit starke Markierungen gegeben sind, an denen sich der Mensch, der – und darin hat Sartre unbestritten recht – seine bisherigen Sicherungsbezüge verloren hat, orientieren kann. Fällt hier nicht ein Begriff auf, der nicht so recht zu passen scheint, wenn an die existenzphilosophischen Texte erinnert wird, die bisher zur Sprache kamen? Hat nach deren Darstellungen der Mensch seinen Halt im Bewährten wirklich nur verloren? Oder war nicht immer wieder von jener komplexen Situation die Rede, in der sich durch Erschütterungen zwar das Gefühl des Verlustes einstellen mochte, dieses aber nur deshalb überhaupt als ein solches zugelassen wurde, weil der Mensch bereits als Einzelner sein bisheriges Dasein zu reflektieren vermochte? Die drei vorgestellten Konzeptionen stimmen in der Überzeugung weitgehend überein, dass Verlust und Vereinzelung Hand in Hand gehen und letztlich als positiv zu bewerten sind, weil sie uns unsere «Freiheit zum Freisein» vor Augen führen. Ein tiefer Moment der Selbst-Reflexion geht mit dem Vollzug der existentiellen Bewegung einher, denn nur so ist es uns möglich, uns selbst als Grund unseres Existierens zu erfassen. So optimistisch diese Sichtweise auch wirken mag, ist allerdings auf ein gewaltiges Manko hinzuweisen, dessen Erwähnung Sartres Deutung des Verlustes unbeabsichtigt bestätigen könnte. Die drei Sicherungsmarkierungen bestehen nicht an sich, sondern erscheinen als wirkmächtige Faktoren zur Ausrichtung der Existenz erst im Moment ihres Vollzuges. Eine punktuelle Ausnahme könnte allenfalls Heideggers Vorstellung des Seins-Verständnisses bilden, da wir uns schon immer in der Relation des Verstehenden zum Verstandenen befinden. Doch auch dieses Verstehen gilt es freizusetzen, wodurch dessen Bedeutung für die Seinsgestaltende Kompetenz des Menschen erst erkennbar wird. So produziert der Mensch nach existenzphilosophischer Sicht, wie sie bisher herausgestellt werden konnte, selbst jene Orientierungswerte, auf die er sich existierend bezieht. Trifft https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sartres Bild des Auf-sich-selbst-gestellt-Seins des Menschen also doch auch für die früheren Entwürfe zu, die seiner Ansicht nach ganz offensichtlich nicht erklären konnten, wie mit diesem Verlust an Halt und Sinngebung umzugehen sei? In seinem Vortrag wird deutlich, dass er vor allem an den Verlust des Glaubens denkt, wenn er von der Haltlosigkeit im Dasein spricht. Und mit dessen Gewicht kann es wohl wirklich keine der drei genannten Konzeptionen aufnehmen. So mag es zumindest im Moment erscheinen. Sartre beschreibt in seinem Humanismus-Vortrag eine Stimmung, der sicherlich diejenige der Menschen seiner Zeit entspricht, stellte doch gerade die Frage, wie angesichts bis dahin für unvorstellbar gehaltener Ereignisse zu agieren sei, den Einzelnen vor extrem schwierige Entscheidungen. Noch einmal ist aber darauf hinzuweisen, dass es ihm nicht nur um die Zeichnung eines situativen Stimmungsbildes ging, so belangreich es auch war, sondern um die Folgerung aus der existenzphilosophischen Sicht des Menschen. Damit legt er den Finger in die Wunde dieses Denkens, wenn das Bild nicht zu pathetisch klingt. Denn er treibt den Gedanken des Entwerfens in ein ‹Noch-Nicht›, der sich letztlich als charakteristisch erweist, auf die Spitze, oder – anders formuliert – beschreibt, was passiert, wenn dieser konsequent verfolgt wird. Da die betrachteten Texte an diesem Punkt relativ wenig Aufschluss bieten, kann nur vermutet werden, wie Heidegger, Jaspers und Barth diese Frage beantworten würden: Handelt es sich bei der existentiellen Bewegung um ein einmaliges oder ein sich ständig wiederholendes Geschehen? Am ehesten gibt noch Heinrich Barth mit der Einführung seines Begriffes der Entscheidung Auskunft. Diese wird zwar grundsätzlich als Entscheidung zum Erkennen-Können des Transzendentalen gedeutet, scheint aber seiner Darstellung nach auch als fortgesetztes Geschehen denkbar zu sein. Denn wir entscheiden uns, soviel ist der Erkenntnis der Existenz zu entnehmen, dann für das Vorzüglichste, wenn es für uns als Möglichkeit in der Entscheidung erscheint. Relativ eindeutig präsentiert sich Heideggers Sichtweise, die für ein einmaliges Durchbrechen jener Hemmnisse spricht, die das Erkennen des eigensten Sein-Könnens als Möglichkeit begleitet. Dass es wenig Anhaltspunkte dafür gibt, auch in diesem Fall von einer Entscheidung auszugehen, wurde bereits erwähnt. Mit aller Vorsicht, die geboten ist, wenn es um typische Merkmale der Existenzphilosophie geht, kann doch davon ausgegangen werden, dass hier die existentielle Bewegung als einmaliges und sich dann kontinuierlich fortsetzendes Geschehen betrachtet wird. Ein einziges Aufbrechen der Einsicht in das Existieren-Können scheint damit im Kontext dieser Philosophie von Interesse zu sein. Und wenn eben von deren Wunde gesprochen wurde, die Sartre offenlegt, besteht sie genau in diesem Umstand: Über die Reflexion der Erst-Erschütterung gehen die Denker der Existenz kaum hinaus, was ihren Ausführungen fast etwas allzu Theoretisches verleiht. Denn die Frage, was der Mensch mit seiner Existenz anfangen könnte, wird kaum nachdrücklich gestellt. Karl Jaspers und Heinrich Barth streifen sie zumindest, so könnte erwidert werden, indem sie nach dem https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Wesen von Kommunikation und Koexistenz fragen. Doch handelt es sich dabei um genau das: Die Suche nach deren allgemeiner Beschaffenheit. Die weiterführende Überlegung, welche konkrete Bedeutung das In-Erscheinung-Treten des Einzelnen für ein gesellschaftliches Miteinander hat, unterbleibt weitgehend. Umso überraschender wirkt Heinrich Barths kurze, aber prägnante Stellungnahme zum Sozialismus in seiner Vorlesung zur Existenzphilosophie. «Ein guter, humaner Sozialismus wird die wirkliche Existenzlage der Einzelnen, ihre innern und äußern Lebensbedingungen, im Auge behalten und ihre Verschiedenheit respektieren. Ihm liegt es daran, daß die Einzelnen eben in der Lage, in der sie existieren, nach ihrer besten Möglichkeit ihre Existenz aufbauen.»208 Und in Erkenntnis der Existenz findet sich folgende aufschlussreiche Passage: «Der Mensch existiert nicht in einem fertigen Status der Existenz, sondern in sich abstufenden Möglichkeiten mehr oder weniger eindeutigen Existierens.»209 Im Gegensatz zu Heidegger stellt Barth grundsätzliche Überlegungen zum Problemkomplex «Existenz» und «gesellschaftliche Realität» an, auch wenn sie auf sehr viel breiterer Basis wünschenswert wären. Wird die Frage nach der Einmaligkeit des existentiellen Aktes an Jean-Paul Sartre gerichtet, erfolgt die Antwort ebenso unverzüglich wie bestimmt. Existenz muss sich immer wieder aufs Neue in jedem Akt des Entscheidens bestätigen. Damit verlagert er die begründende Argumentationsebene existenzphilosophischer Texte in das Feld konkreter Umsetzung und schließt so für eine gewisse Zeit jene offene Stelle, die die Konzeptionen speziell von Heidegger besonders angreifbar erscheinen ließ. Denn immer wieder konnte nach dem Nutzen seiner Seins-Analyse gesucht werden, den er jedoch, wie er selbst in den 1950er Jahren bekräftigt, niemals für erstrebenswert hielt. Es liegt nahe, hierauf mit der Feststellung zu kontern, dass Philosophie, die sich nicht in der konkreten Umsetzung bewährt, letztlich ein zweifelhaftes Unterfangen sei. Doch ist angesichts Heideggers Ausschluss des Praktischen daran zu erinnern, dass er darin, selbst wenn es sich um Umsetzung im Sinne des Seins-Verständnisses handeln würde, die Bestätigung zweckgebundenen Denken sehen würde, das der Einsicht in die Struktur des Seins seiner Ansicht nach seit jeher im Wege steht. Spekulativ wäre die Annahme, dass seine Bewertung des Praktischen anders ausgefallen wäre, wenn er nicht dem selbst auferlegten Verdikt seines Denkens hätte folgen müssen. In der vorliegenden Form scheint sich sein Denken in der Befürchtung, Seins-vergessenes Denken zu werden, in einer letztlich inakzeptablen Seins-Ferne zu halten. Sollte diesem Eindruck Abhilfe geschaffen werden, müsste ein anderer Weg gefunden werden, vom Wirken des Denkens zu sprechen. Anders muss dieser Weg sein, damit er eben nicht in die terminologische und inhaltliche Kontrastierung zwischen vorstellendem und schonendem Denken führt, sondern in eine Ermög208 209
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.165. Erkenntnis der Existenz, S.635. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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lichung neuen Seins-Verstehens. «Daß das Denken – als das entsagende – das unscheinbare Tun werde, nicht erst durch eine Anwendung ins Praktische, sondern so, daß es rein zu seinem eigenen Anfang findet: […].»210 Zu diesem Anfang findet es, wenn es sich vor der Scheidung in zwei differente Denkformen konstituiert, «in aller Einfachheit», wie es in den Winken aus dem Jahr 1957 heißt. Es gibt Momente in der Beschäftigung mit philosophischen Texten, in denen die Erleichterung förmlich mit Händen zu greifen ist, wenn eine Formulierung auftaucht, die es verhindert, eine Theorie letztlich verwerfen zu müssen. Dieses ist eine solche Formulierung. Denn da es im Folgenden den Wert des Gedankens vom Sein zu eruieren gilt, ist und bleibt Heideggers Deutung ein Modell, das gewiss nicht in allen seinen Komponenten geteilt wird, das aber im Vergleich zu den Konzeptionen von Karl Jaspers und Heinrich Barth manche Vorzüge bietet. Der markanteste Vorzug besteht in Heideggers Begriff des In-der-Welt-Seins – doch davon später mehr. Der bereits an dieser Stelle vorgenommene Hinweis darauf, dass Denken als ein Tun verstanden werden kann, wird zu der Frage führen, wie dieses möglich sein soll. Weit entfernt von Andeutungen, Anspielungen und Verweisen artikuliert Jean-Paul Sartre seine Sicht der existentiellen Bewegung. Diese zeichnet sich nicht durch die besondere Möglichkeit aus, als Begründung des menschlichen Selbst- und Seins-Verständnisses zu dienen, sondern ist pures und unspektakuläres Wirken im Alltäglichen. Dabei kommt jenes Motiv der Nichtung erneut zum Tragen, das bereits zur Erklärung der individuellen Konstituierung des Für-sichSeins gedient hatte. Die Akte der Nichtung lassen das Gewählte erscheinen, da es sich nur so aus der Fülle möglicher Optionen abheben kann. Wirken im Alltäglichen, das heißt in jeder nur vorstellbaren Einzelfallentscheidung, trägt nach Sartres Auffassung auch zur Konturierung einer Version individuellen Seins bei, die als Selbst-Sein bezeichnet werden kann. Anders als für die drei zuvor genannten Denker steht der Begriff des Bewusstseins für Sartre im Zentrum seiner Untersuchungen. Ihm geht es daher nicht primär darum, wie wir uns in die Existenz entwerfen, sondern darum, wie wir dieses Entwerfen als Inhalt unserer Bewusstheit erfassen können. Dieser Vorgang einer die Selbst-Konstituierung begleitenden Reflexion zeigt jedoch eine Schwierigkeit eigener Art, die für Sartres Bewertung der existentiellen Bewegung ausschlaggebend ist, denn es «bleibt bestehen, daß im Erfassen unser selbst durch uns selbst wir uns mit der Eigenschaft eines nicht zu rechtfertigenden Faktums erscheinen. […] Daher erfasse ich mich selbst als total verantwortlich für mein Sein, insofern ich sein Grund bin, und zugleich total als nicht zu rechtfertigen.»211 Der Gedanke, Grund des eigenen Seins zu sein, kennzeichnete bereits die existenzphilosophischen Konzeptionen und hatte dort die wesentliche Funktion, im Moment der Vereinzelung des Menschen, die 210 211
Winke I und II, Winke I, S.79. Das Sein und das Nichts, S.174 und S.179. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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unter konkreten Bedingungen betrachtet als Haltlosigkeit erscheinen konnte, Orientierung zu bieten. Dass diese nur vom Einzelnen zu setzen ist, konnte im Kontext dieses Denkens noch als Beleg des Existieren-Könnens gewertet werden, also grundsätzlich mit positiver Konnotation versehen. Diese vermag Sartre nun nicht mehr zu sehen, ganz im Gegenteil. Jeder Entwurf, von denen es seiner Auffassung nach tatsächlich unzählige gibt, greift in ein ‹Noch-Nicht› vor, womit er zunächst mit Heinrich Barths Bestimmung konform geht. Dem so Entworfenen inhäriert bei Barth das interne Sollen, insofern dasjenige, das im Entwurf gesetzt wurde, nun auch verwirklicht werden soll. Dieser innere Begründungszusammenhang ist in seiner Theorie entscheidend und bewahrt sie davor, in Beliebigkeit zu münden. Denn jeder Entwurf realisiert exakt das, was ihm als Entscheidung zugrunde liegt. Für Sartre steht, wie angedeutet, nicht das Funktionieren dieses Begründungszusammenhanges im Vordergrund seiner Aufmerksamkeit, sondern die Reflexion, mit der sich ein Mensch diesen vergegenwärtigt. Heruntergebrochen auf die ontologische Perspektive, die er gleich auf den ersten Seiten von Das Sein und das Nichts eingenommen hat, registriert das Bewusstsein zunächst Modifikationen von Seins-Strukturen. So wird der Mensch durch seine Nichtungsakte Grund seines Für-sich – bis hierher dem existenzphilosophischen Denken analog – registriert aber zugleich die Tatsache, eigener Grund zu sein, als Anzeichen eines Mangels, denn «das Für-sich bestimmt sich fortwährend selbst dazu, das An-sich nicht zu sein. […] Das, was nicht ist, bestimmt das, was ist; es ist im Sein des Existierenden als Korrelativ einer menschlichen Transzendenz, aus sich hinauszuführen bis zu dem Sein, das es nicht ist, als zu seinem Sinn.»212 Die Erwähnung der fatalen Folge dieser Sichtweise bleibt Sartre nicht lange schuldig, denn kurz darauf heißt es: Doch das Sein, auf das hin sich die menschliche-Realität überschreitet, ist nicht ein transzendenter Gott: es ist innerhalb ihrer selbst, es ist nur sie selbst als Totalität. […] Die menschliche Realität leidet in ihrem Sein, weil sie zum Sein auftaucht als dauernd heimgesucht von einer Totalität, die sie ist, ohne sie sein zu können, […].213
Der Begriff der réalité-humaine kann als Bezeichnung des Seins im Modus des Werden-Könnens verstanden werden, womit er in etwa demjenigen des Daseins entspricht. Warum wird nun das Überschreiten des eigenen Seins auf sein ‹Noch-Nicht› von Jean-Paul Sartre so anders bewertet als etwa von Heinrich Barth? Zunächst ist daran zu erinnern, dass das Motiv der Vereinzelung, die den Menschen in den Konzeptionen von Kierkegaard und Heidegger mit existentieller Intensität trifft, bei ihm keine nennenswerte Rolle spielt. Die Not, Begründung für ein orientierungslos gewordenes Sein finden zu müssen, braucht ihn daher nicht zu kümmern. Doch ist das sicherlich nicht das ausschlaggebende Kri212 213
Das Sein und das Nichts, S.183 und S.185. Das Sein und das Nichts, S.190 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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terium, das sein Denken von Sartres Auffassungen unterscheidet, denen er übrigens nicht mit allzu großer Zustimmung begegnet.214 Entscheidend ist offenbar sein Gedanke der transzendentalen Begründung des Erkennens, sofern es existentielles Erkennen ist. Denn ihm genügt nicht der Hinweis auf einen blanken Funktionalismus, im Zuge dessen diese wirken würde. Stattdessen setzt er auf das, wodurch sich existentielle Erkenntnis von ihrem theoretischen Pendant unterscheidet.215 Im Motiv des Sich-Entwerfens beziehungsweise des Überschreitens des gegenwärtigen Seins kann eine Parallele beider Konzeptionen gesehen werden. Für Barth ist dieses jedoch immer schon, da es existentielles Entwerfen auf das ‹Noch-Nicht› ist, punktgenau auf den Gedanken des Transzendentalen ausgerichtet, wohingegen das Überschreiten im Sinne Sartres buchstäblich ins Nichts führt, insofern dieses Gegenstand der vorausgehenden Nichtung ist. Diese Deutung quittiert Barth mit deutlichen Worten: «Ein Existenzverständnis, das […] bei Sartre groteske Formen annimmt. Im Sein entsteht durch das Nichts eine Spaltung. So kommt es zum Bewußtsein und zur Existenz. Wir gelangen so zu einem Existenzbegriffe, in dem wir ‹Existenz› kaum wiedererkennen.»216 Denn dieser gründet auf einer Vorstellung vom Sein. Reicht allein dieser Umstand für Barth aus, um Sartres Theorie abzulehnen? Dessen Einführung des Motivs der Nichtung immerhin erfolgte aus gutem Grund, um an die ersten Bemerkungen in diesem Zusammenhang zu erinnern. Aus gutem Grund, so könnte mit Barth erwidert werden, der jedoch unnötig gewesen wäre, wäre Sartre nicht von ontologischer Voraussetzung ausgegangen. Dann hätte sich nicht das Bild der erdrückenden homogenen Fülle des An-sich-Seins aufgedrängt, der es mit dem Konzept des Für-sich im Zuge der Nichtung zu begegnen galt. Etwa zeitgleich zu Heinrich Barth tritt in Frankreich ein anderer vehementer Kritiker des Seins-Denkens auf: Emmanuel Lévinas. Werden nur deren Zurückweisungen dieses Denkens betrachtet, sollte man meinen, dass mit ihm heute keinerlei Erfolg mehr zu erzielen sei. Allerdings wird bei beiden nie ganz klar erkennbar, ob es ihnen wirklich nur um die Ablehnung des Seins-Begriffes geht, oder um die Tatsache, dass dessen Deutung durch die Person Martin Heidegger allzu stark belastet ist. Es gibt viele Gründe, bestimmten Theoremen zu widersprechen, zu denen das Entsetzen über mangelnde Integrität ihres Verfassers zählt. Und es gibt Gründe, an einem Gedanken festzuhalten, trotz des Entsetzens über dessen Verhalten. Die einzige Möglichkeit, Heideggers Seins-Denken heute noch zu diskutieren, besteht wohl darin, es zunächst daraufhin zu prüfen, ob es So heißt es etwa in Erkenntnis der Existenz, S.27: «Meinen wir etwa über Platon hinausgeschritten zu sein, wenn wir unserm Verständnis der Existenz eine Ontologie des ‹An sich› und des ‹Für Sich› zugrunde legen?» 215 «In theoretischer Erkenntnis wird uns einsichtig etwas, das ‹ist›. In existentieller Erkenntnis wird uns einsichtig etwas, das ‹wird›.» Erkenntnis der Existenz, S.202. 216 Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.33. 214
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dessen Positionierung während der Zeit des Nationalsozialismus bedingt haben kann oder nicht. Fällt diese Prüfung negativ aus, wird die Denkbarkeit der Frage nach dem Sein möglich, ohne von dem weiten Schatten der Heideggerschen Biographie verdunkelt zu werden. Doch zurück zu Jean-Paul Sartres Bewertung des Selbst-Entwurfes angesichts der Konzeption des Nichts, die sich als Folge der Seins-Bewegung der Nichtung ergibt. Ein Auslaufen ins Leere ist seiner Deutung nach diesem Entwurf tatsächlich nicht zu ersparen, womit diese eine grundsätzlich andere Färbung erhält als diejenige, die uns im existenzphilosophischen Denken begegnet. Dort führt der existentielle Entwurf zur Wesentlichkeit des Menschen, bei Sartre verliert er sich, aus der Charakteristik des Menschen entspringend, im Nichts. Damit fällt die Grundlage für eine positive Bewertung der existentiellen Bewegung wie auch der Existenz an sich. Denn diese wird nicht mehr als etwas betrachtet, das der Verwirklichung bedarf und dem Einzelnen eine unbefangene Einsicht in seine eigensten Möglichkeiten erlaubt, sondern als Natur des Menschen, die er Tag für Tag zu reproduzieren hat, indem er sich durch jede Entscheidung konstituiert. Größer könnte die Differenz dieser Sichtweisen nicht ausfallen. Im existenzphilosophischen Verständnis ist Existenz das Ziel der Selbst-Entwürfe, in existentialistischer Sicht der Ausgangspunkt, von dem alle Bewegung ins Nichts ihren Anfang nimmt. Angesichts dieser massiven Unterschiedlichkeit wäre es sinnvoll, beide Formen des Existenz-Denkens klar voneinander getrennt zu betrachten. Hinzu kommt schließlich der bereits angesprochene Aspekt, wonach Letztere als unmittelbare Reaktion auf Erstere aufgefasst werden kann, die versucht, deren Schwachstellen aufzudecken und zu beheben. Und das nicht etwa, um das Projekt «Existenzphilosophie» zu retten, sondern um eine Theorie zu formulieren, die den Erfordernissen ihrer Zeit gerecht zu werden vermag. Begründung von Verantwortung und Engagement sind die Themen der 1940er Jahre, die Sartre mit seismographischem Gespür aufdeckt. Der Blick zurück zu den Aussagen der Existenzphilosophie legt gerade bezüglich dieser Themen klaffende Leerstellen offen, die deren unveränderte Übernahme ausschließen mussten. Heinrich Barths Denken nimmt in diesem Szenario zweier differenter Konzeptionen von Existenz eine höchst interessante Position ein. Er geht über das Existenz-Verständnis von Heidegger und Jaspers hinaus, indem er zumindest partiell nach dessen Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext fragt, hält aber dessen ungeachtet an der grundsätzlichen Bewertung von Existenz als Ziel der Entwurfs-Bewegung des Menschen fest. Für deren Explikation greift er dann jedoch weit hinter die Darstellungen beider zurück und knüpft explizit an Aussagen der philosophischen Tradition, speziell diejenigen Immanuel Kants, an. Philosophiegeschichtlich ist die Parallelität der Entwürfe von Heinrich Barth und Jean-Paul Sartre ein seltener Glücksfall, weil sie aufzeigt, welchen Deutungsspielraum der Existenz-Begriff tatsächlich bietet. Fast wirkt es so als würden dem Leser späterer Zeit zwei Offerten entgegengebracht, die auf ihre
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Tauglichkeit innerhalb des eigenen Verständnisses dessen, was Philosophie leisten kann und sollte, getestet werden können. Im Vorgriff auf die weiteren Überlegungen kann bereits an diesem Punkt festgehalten werden, dass keine der beiden Offerten, so kostbar eine jede auch ist, unverändert übernommen wird, da es in beiden Elemente gibt, die überzeugen, und andere, die wesentliche Erwartungen der eigenen Deutung nicht erfüllen. An Heinrich Barths Konzeption besticht die positive Bewertung der existentiellen Bewegung, doch deren Anbindung an den Gedanken des Transzendentalen entspricht nicht dem hier vertretenen Ansatz. Jean-Paul Sartres Festhalten an der Prägungsfähigkeit des Seins ist auf seine weitere Verwendung zu befragen, wohingegen seine Bewertung des Entwurfes ins Nichts, der Existenz seiner Ansicht nach ist, nicht geteilt wird. Und um diese kurze vorausschauende Einschätzung auf die beiden anderen Denker ausweiten: Martin Heideggers Gedanke des Inder-Welt-Seins wird als besonders wichtig betrachtet, wohingegen der fehlende Schritt, diesen Gedanken explizit aus der formal-analysierenden Ebene in den Reflexionsraum konkreter Verwirklichung übersetzt zu haben, zumindest unter Bezug auf Sein und Zeit zu beklagen ist. Karl Jaspers’ Bemühen um die Klärung des Prozesses der Selbst-Konstituierung wäre, wenn darin das Thema der weiteren Betrachtungen bestünde, höchst aufschlussreich. Doch die starken Bezüge auf religiöse Vorstellungen, die punktuell sein Werk durchziehen, sind im Interesse einer Form von Existenzphilosophie, die sich ausschließlich als Philosophie begreift, nicht zu teilen. Natürlich handelt es sich bei diesen vier Kurzbeschreibungen um erste bewusst plakativ gehaltene Stellungnahmen, die weiter zu verfolgen sein werden. Insgesamt geben sie jedoch einen Eindruck der Spur, der zu folgen sein wird. Dabei wird es wohlgemerkt nicht darum gehen, sich das Beste aus einer jeden Konzeption auszusuchen und aus den so gewonnenen Versatzstücken ein Mosaik existenzphilosophischer Standpunkte zu konstruieren. Es geht vielmehr um Bestrebungen der Verortung des eigenen Denkens, um eine Standortbestimmung im Terrain der Existenzphilosophie aus der Sicht unserer Zeit. Doch zurück zu Sartres Darstellung der Nichtungs-Bewegung. Dass deren Bewertung ausschlaggebend für jene Stimmung ist, die existentialistischem Denken schnell attestiert werden kann, scheint nahe zu liegen. Nicht grundlos geht Sartre in seinem Vortrag auf eine Gefahr ein, die seine Kritiker angesichts der Nichtung, die als formelhafte Erklärung eines gewissen Nichtigkeitsempfinden gedeutet wird, sehen. Wenn alles Tun ins Nichts laufe, sei eine Berufung auf ethische Grundsätze letztlich sinnlos.217 Gegen die Wucht dieses Vorwurfes wirkt Sartres Beteuerung, «daß wir unter Existentialismus eine Lehre verstehen, die das
«Zunächst warf man ihm [dem Existentialismus] vor, er lade dazu ein, in einem Quietismus der Verzweiflung zu verharren: […].» Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.145. 217
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menschliche Leben möglich macht»,218 fast ein wenig zu zaghaft, basiert sie doch auf dem Hinweis, dass wir stets im Wissen um den anderen Menschen agieren. Denn ebenso wie die Freiheit unserem Sein immer schon entspricht, verhält es sich auch mit der Verantwortung, die wir dem Anderen schulden: So besteht die erste Absicht des Existentialismus darin, jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu bringen und ihm die totale Verantwortung für seine Existenz aufzubürden. Und wenn wir sagen, der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, wollen wir nicht sagen, er sei verantwortlich für seine strikte Individualität, sondern für alle Menschen.219
Es ist nicht der geeignete Moment, die Frage zu stellen, wie überzeugend die Ausweitung der Verantwortung auf das Sein des Anderen ist. Schließlich geht es noch immer um die Unterscheidung der Theorien Jean-Paul Sartres von den Ansichten der genannten Existenz-Denker, zu der sich nun ein weiteres Kriterium gesellt. Die Folgerung, aus der Verantwortlichkeit für sich selbst auf diejenige allen Menschen gegenüber zu schließen, wird allenfalls von Heinrich Barth ausführlicher thematisiert, was im Kontext seiner weitgreifenden Arbeitsweise dann allerdings immer noch etwas zögerlich anmutet. Mit einiger Vorsicht, die angesichts von Verallgemeinerungen jedweder Art angebracht ist, kann aber doch festgestellt werden, dass die Diskussion einer solchen Folgerung schlichtweg kaum im Interesse dieser Denker gelegen zu haben scheint. Dadurch mag wohl der Eindruck entstehen, dass deren Denken vornehmlich einer Philosophie im Privaten ähnelt, die am Ende genau das leistet, was Sartre für den Existentialismus in Anspruch nimmt, nämlich «jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu bringen». Mit der Vermittlung dieser Befähigung ist in den 1920er Jahren schon viel erreicht, doch ist damit dann auch zum Großteil das Ziel von Existenzphilosophie erreicht. Zu ihrer Entstehungszeit ist dieser Ertrag gewiss bemerkenswert, weil er den Wert des Einzelnen extrapoliert und – ganz so, wie es auch Sartre anführt – in die Hände des Einzelnen legt. Eine parallele oder gar überlagernde Thematisierung des Motivs des Anderen in Gesellschaft und Miteinander hätte dieses Vorhaben geradezu konterkariert. Wenn Heidegger und Jaspers kurz auf das Phänomen der Masse eingehen, ist damit schon mehr geboten, als im Grunde zu erwarten gewesen wäre. Die Verantwortung für sich selbst in die Hände des Einzelnen zu legen ! wahrlich kein leichtes Unterfangen in einer Zeit, die den Menschen angesichts der ersten Formen von Massenvernichtungswaffen im Weltkrieg, der zu dem Zeitpunkt noch nicht nummeriert zu werden brauchte, gerade die scheinbare Bedeutungslosigkeit des Einzelnen vor Augen geführt hatte. Vermutlich ist auch eine Erfahrung wie diese für das fast sprunghafte Aufkommen existenzphilosophischer Schriften verantwortlich, ohne dieses Denken damit auf die Bedeutung 218 219
Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.146. Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.150. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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einer Nachkriegs-Philosophie reduzieren zu wollen. Nur muss es ein solches Bedürfnis nach der philosophischen Darstellung des Einzelnen gegeben haben, das Rosenzweig, Heidegger und Jaspers aufgriffen und in der ihnen zur Verfügung stehenden Formensprache reflektierten. Und doch sollte über dem Versuch, sich in die Entstehungsbedingungen des Existenz-Denkens einzufühlen, der Blick auf Sartres Worte nicht vernachlässigt werden. Denn eine feine Differenz trennt das In-den-Besitz-seiner-selbst-Bringen, das er anführt, von jener Selbst-Befähigung im Zuge des existenzphilosophischen Ansatzes. Die drei genannten Denker scheuen offensichtlich den Begriff des Bewusstseins, der zwar auch in ihren Schriften vorkommt, doch nicht thematisch zielführend genutzt wird. Gleichwohl könnte darauf bestanden werden, dass sie das Ziel ihrer Arbeit in einer Art Bewusstmachung sehen, einer Erhellung, wie mit Jaspers zu formulieren wäre. Schließlich soll dem Menschen zum einen vor Augen geführt werden, dass ihm eine eigene Seins-Weise eignet, die jedoch der Verwirklichung bedarf. Zum anderen werden die Bedingungen geklärt, die als Freisetzung zur Verwirklichung unverzichtbar sind, nämlich Erschütterung und Vereinzelung. Diese Bedingungen thematisiert Sartre in Das Sein und das Nichts, nachdem er deren Notwendigkeit im Ekel rund fünf Jahre zuvor beschrieben hatte. Im ersten Schritt verweist er dann in seiner philosophischen Bestimmung auf jene Fähigkeit des Nichtens, durch die der Mensch das An-sich-Sein in Ausschnitten des Für-sich-Seins fraktalisiert. Das ist gemeint, wenn er vom «Besitz seiner selbst» spricht, in den der Mensch durch die Hilfe existentialistischer Lehre gelangen könne. Gäbe es lediglich diese ontologische Betrachtung, exakt jene, die Heinrich Barth so vehement zurückweist, würde wohl kein Grund bestehen, auf das Leiden des Menschen einzugehen. Denn die Konzeption der Nichtung dient gerade dazu, uns die Überzeugung zu vermitteln, der Fülle des An-sich-Seins nicht mit jener hilflosen Gestik begegnen zu müssen, wie sie im Roman dargestellt wird. Wann schleicht sich dann aber die negativ konnotierte Empfindung ein, in genau dieser Ermöglichungs-Kompetenz die Quelle des Leidens, konkret der Überlastung durch Verantwortung, sehen zu müssen? Die Antwort ist ebenso simpel wie ernüchtern, wenn sie im Rahmen der Entwicklungsgeschichte des existentiellen Denkens gelesen wird. Für Heidegger und Jaspers und selbst noch für Heinrich Barth gilt die existentielle Bewegung als speziell, insofern sie den Weg zur Eigentlichkeit, das heißt zur Verwirklichung des genuin menschlichen Seins ebnet. Die Frage, ob diese Bewegung auch zu Routine werden könnte und damit die Besonderheit ihrer Motivation einbüßt, stellen sie noch in den Hintergrund. Wie sollte es auch anders sinnvoll sein, hatte doch der Gedanke der existentiellen Bewegung zur Entstehungszeit der ersten großen Arbeiten von Heidegger und Jaspers noch keine Zeit und Gelegenheit, sich in der Verwirklichung zu bewähren. Hierin ist eine weitere Eigenheit der Existenzphilosophie zu sehen: Sie bringt ein Konzept auf den intellektuellen Markt, das nicht erprobt werden konnte. Diese Formulierung mag abschrecken, soll jedoch trotzdem nicht korrigiert werden. Denn in besonhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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derem Maße reagiert dieses Denken, wie bereits erwähnt wurde, auf die Bedürfnislage der Menschen jener Zeit und vielleicht speziell jener jungen Generation, die nach den Erfahrungen von Krieg und Zerstörung nach einer Begründung des selbstverantwortlichen Seins suchte. Franz Rosenzweig steht wie kein Zweiter für dieses Bedürfnis – als ehemaliger Soldat und als Intellektueller. Sein Ausspruch des leeren Lächelns, mit dem Philosophie im traditionellen Format auf die Nöte des Menschen reagiert oder besser gesagt: nicht reagiert, kann als repräsentativ für diese Suche gewertet werden. Jean-Paul Sartre steht in einer anderen Situation, blickt auf andere Erfahrungen wie die der Kriegsgefangenschaft und der deutschen Besatzung von Paris zurück, und antwortet zunächst mit einer ontologischen Betrachtung, die nicht nur aufgrund ihrer Komplexität schwer zugänglich erscheint. Doch auch er spürt das Verlangen der Menschen nach einer Rechtfertigung des Eigen-Seins nach all den Jahren, in denen es auf der einen Seite als Prüfstein individuellen Engagements so nötig wie selten war, auf der anderen Seite aber durch die Bedingungen in Gesellschaft und Politik fast vollständig unterbunden wurde. Aus diesem Grund übersetzt er die wichtigsten Motive seines philosophischen Denkens in die Bildsprache von Theater und Film, um damit existentiell Relevantes auf Bühne und Leinwand zu bringen. Darin besteht ein sehr seltenes Beispiel für das Problembewusstsein, wie Philosophie einen größtmöglichen Resonanzraum erreichen kann, um größtmögliche Wirkung erzielen zu können. Konform zu den Auffassungen von Heidegger, Jaspers und Barth betrachtet auch Sartre das existentielle Wirken zunächst als eine Verwirklichungsform eigenen Sein-Könnens, das bei ihm unter der Bezeichnung des Für-sich-Seins firmiert. Doch anders als seine Vorgänger ist seiner Auffassung nach existentielles Wirken eben auch kontinuierliches Wirken, das, wenn eine äußerst pathetische Formulierung verwendet werden darf, den Fluch der Nichtung offenbart. Diese zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie grundsätzlich dem Menschen die situativen Strukturierungen des Seins erlaubt, die philosophisch bedeutsam sind, weil sie den Umgang mit Sein darstellen. Gerade weil Nichtung immer situativ erfolgt, erfolgt sie ununterbrochen, denn menschliches Sein wäre nicht unabhängig von Situationen vorzustellen. Dieser Begriff ist genauso gemeint, wie er klingt, das heißt als momentbezogene Bedarfsstruktur des menschlichen Seins. Viel von dieser Erklärung findet sich in Sartres Formulierung réalité-humaine, die hier als Entsprechung zum Begriff des Daseins eingeführt wurde, nun aber auch ihre Nähe zum Bild der Situation zeigt, denn auch aus dieser heraus erfolgt Nichtung und zwar in doppelter Weise: Als Nichtung dessen, dem die momentane Aufmerksamkeit nicht zufällt und als Nichtung des individuellen Gewesen-Seins. Denn jeder Entwurf im Handeln distanziert den Entwerfenden weiter von seiner zuvor bestehenden SeinsKontur, die schließlich nur noch als schemenhafte Form früheren Seins erkennbar ist.
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Doch noch immer steht die Beantwortung einer Frage aus. Wann schlug nach Sartres Verständnis der Ermöglichungsgrund menschlichen Selbst-Seins als Verwirklichung im Für-sich in eine Quelle des Leidens um? Vielleicht wirkt der Begriff des Leidens an dieser Stelle zu drastisch, so dass es angemessener erscheint, von einem Gefühl der Überlastung zu sprechen. Dieses spricht Sartre in den zitierten Worten seines Vortrages an, wenn er erklärt, es sei die Absicht des Existentialismus, dem Menschen die «totale Verantwortung für seine Existenz aufzubürden», «de faire reposer sur lui la responsabilité totale de son existence».220 Für ihn ist Existenz in erster Linie nicht mehr Entwurf, wie noch für die Denker der früheren Zeit, sondern Bewährung, und zwar ohne Unterbrechung und Entlastung. Was sich so als Schattenseite einer Konzeption von Existenz erweist, die auf den Gedanken der Eigengründung menschlichen Seins setzt, schlägt sich auch in ihrer theoretischen Bewertung nieder. Um diese Wirkung nachvollziehen zu können, führt der Blick zurück in Das Sein und das Nichts und damit auf Sartres Begriff der Freiheit. Diese äußert sich, das hatte sich gezeigt, in unseren Handlungen, die wiederum in ihrer Abfolge eine Art individuelle Kontur oder Biographie erscheinen lassen. Jede neue Handlung als Entwurf bedeutet seiner Auffassung nach zwangsläufig nicht nur eine die Zukunft vorausgreifende Nichtung, insofern sie den Rahmen meines zukünftigen Seins schafft, sondern auch die Nichtung meines vergangenen Seins. Aus diesem Grund verweist Sartre darauf, dass wir, solange wir handeln, unsere eigene Kontur permanent modifizieren, so dass ein abschließendes Bild oder auch eine abschließende Bewertung erst nach unserem Tod geschaffen werden könne. Die Folgerung greift einen mittlerweile vertrauten Gedanken auf: «Ich bin verurteilt, für immer jenseits meines Wesens zu existieren; ich bin verurteilt, frei zu sein.»221 Denn jeder Entwurf nichtet das aktuelle und vergangene Sein, das in dem Moment, in dem das Bewusstsein des eigenen Wesens eigentlich entstehen sollte, bereits wieder genichtetes Sein geworden ist. Hieraus folgt, «daß diese permanente Möglichkeit, das zu nichten, was ich in Form von ‹es-gewesen-sein› bin, für den Menschen einen besonderen Existenztypus impliziert.»222Dass die Zeit, die kontinuierlich abläuft, während Entwürfe stattfinden und verworfen werden, in diesem Prozess sich selbst überholender Setzungen eine entscheidende Rolle spielt, bedarf vielleicht keiner Erklärung. Für Sartre ist sie deshalb eine zu berücksichtigende Größe, weil sie das menschliche Bewusstsein von der eigenen Existenz als seinem Gegenstand trennt. Soll es sich auf dieses Sein richten, reicht dessen entworfene Konstituierung immer schon weiter, als das Bewusstsein es erfassen kann. Doch noch ein weiterer gewichtiger Faktor kommt hinzu und verleiht existentialistischem Denken eine grundsätzlich andere Tonalität als existenzphilosophischem. 220 221 222
L’existentialisme est un humanisme, S.31. Das Sein und das Nichts, S.764. Das Sein und das Nichts, S.763. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Er taucht im Zusammenhang von Sartres Aussagen zur Angst auf, an sich also einem Element, das man nach der Darstellung von Heidegger für interpretatorisch weitgehend gesichert halten könnte. Doch dem ist nicht so, wie sich nun zeigt. Angst als Erschrecken vor der Faktizität des Daseins-Endes legt Heideggers Ansicht nach die Freiheit in der Möglichkeit offen, das Sterben-Müssen in das eigene Sterben-Können zu verwandeln. Die Übernahme des Bevorstehenden als eigenste Möglichkeit kam damit zum Ausdruck. Zwischen diesen Begriffen platziert auch Sartre seine Analyse der Angst, die jedoch einen grundsätzlich anderen Ursprung zeigt. Es ist noch immer das Erschrecken vor dem Bevorstehenden, doch liegt dieses nun nicht mehr in der Beschaffenheit des Daseins, sondern im menschlichen Vermögen selbst. Darin wird ein weiteres Beispiel dafür sichtbar, wie Sartre die Konsequenzen existenzphilosophischer Lehren bedenkt und deren Wirkungen auf den Menschen bewertet. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die vorgestellte Situation einer Bergwanderung. Neben die Angst vor dem Absturz schiebt sich das Bewusstsein, durch eigenes Verhalten diesem durch äußere Ursache bedingten Bevorstehenden entgehen zu können. «Ich entgehe der Furcht [der Angst], gerade weil ich mich auf eine Ebene stelle, wo meine eigenen Möglichkeiten sich an die Stelle transzendenter Wahrscheinlichkeiten setzen, wo die menschliche Aktivität keinen Platz hatte.»223 Auch wenn Heidegger nicht von transzendenten Wahrscheinlichkeiten, sondern von finaler Faktizität ausging, entsprechen Sartres Worte dessen Auffassung bis zu diesem Punkt. Doch dann setzt ein Vorgang ein, den Heidegger nicht kommentiert – nämlich die bewusste Reflexion dessen, was es heißt, ein solches Vermeidungsverhalten zu praktizieren. «Aber ich ängstige mich gerade deshalb, weil meine Verhaltensweisen nur mögliche sind, […]. Das besagt, daß ich, indem ich ein bestimmtes Verhalten als möglich konstituiere, und gerade weil es mein Mögliches ist, mir darüber klar werde, daß nichts mich zwingen kann, dieses Verhalten anzunehmen.»224 In diesem «nichts» zeichnet sich die hypothetische Gesamtheit möglicher Nichtungen ab, zugleich aber das Faktum, dass diese dem Bewusstsein als nicht kalkulierbare Größe erscheint. Die Möglichkeit, das Bevorstehende zur eigensten Sache zu erklären, diente Heidegger dazu, Einsicht in das eigentliche Sein-Können zu vermitteln. Die Möglichkeiten, Bevorstehendes durch eigenes Verhalten zu verhindern, erzeugen nach Sartres Deutung das Bewusstsein davon, selbst Ursache alles Bevorstehenden zu sein, und zwar exakt durch das Vermögen der Nichtung. In Heideggers Sichtweise kann der Mensch auf die Konfrontation mit den DaseinsBedingungen reagieren, wohingegen nach Sartres Auffassung eine interne Konfrontation stattfindet, die das Bewusstsein das eigene Vermögen der Nichtung erfassen lässt. Damit, so könnte gefolgert werden, reagiert Sartre auf jenen Hinweis, durch den Heidegger die Existenz-Fähigkeit des Menschen demonstrieren wollte, 223 224
Das Sein und das Nichts, S.93. Das Sein und das Nichts, S.95. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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und transponiert sie von «der Ebene» der Fähigkeit auf jene existentieller Faktizität. Dass damit nach Heideggers Verständnis ein Paradox ausgesprochen würde, ist nach den bisherigen Bemerkungen vielleicht nachvollziehbar. Existenz erscheint in seinem Denken als Indikator der Seins-Möglichkeit des Menschen, nicht als Beleg seines Seins. Ein weiteres Mal bestätigt sich die Positionierung einiger Aspekte existentialistischen Denkens in direkter Bezugnahme auf existenzphilosophische Ansichten, und das nicht in Form einer wertungsneutralen Fortsetzung oder sachbezogenen Widerlegung, sondern aus einer Haltung der Folgenabschätzung. Dabei wiederholt sich stets dasselbe Muster: Das, was für die früheren Denker als Besonderheit des menschlichen Sein-Könnens ausgelegt wurde, erweist sich nach Sartres Einschätzung als Ursprung der Belastung für den Menschen. Wird diese Entwicklung unabhängig von theoretischer Fundierung und nur nach dem Eindruck beurteilt, den sie erzeugt, wirkt es so, als hätten die Existenzphilosophen uns zu viel zugetraut und damit einhergehend zu viel zugemutet. Aus einer solchen Perspektive betrachtet demonstriert der Existentialismus in wichtigen Fragen ein Scheitern der Existenzphilosophie, und zwar nicht deshalb, weil deren Konzepte nicht funktionieren, sondern weil sie sich als kaum realisierbar erweisen. So zumindest vermitteln es Sartres Repliken, die grundsätzlich auch Heideggers Ansichten einer Prüfung unterziehen, ohne sie von Anfang an zu verwerfen. Kein Wunder, so mag es wirken, konnte er sich als Franzose vielleicht einen weitaus unbefangeneren Zugriff erlauben, als er in Deutschland nach dem Krieg vorstellbar war und noch immer ist. Ein philosophiehistorisches Detail kann diese Vermutung stützen. 1946 richtete Jean Beaufret, der als junger Student Heidegger in Freiburg kennengelernt hatte, in einem Brief an diesen die Frage, ob dem Begriff des Humanismus wieder Sinn verliehen werden könne. Der Zeitpunkt und der Adressat dieses Ansinnens sind bemerkenswert. Denn im Dezember 1945 wurde Heideggers Arbeit im Zuge einer Entscheidung über seine weitere Lehrbefugnis einer eingehenden Prüfung unterzogen. Karl Jaspers, der dabei auf Vorschlag Heideggers als Gutachter berufen worden war, schrieb: «In unserer Lage ist die Erziehung der Jugend mit größter Verantwortung zu behandeln. […] Heideggers Denkungsart, die mir ihrem Wesen nach unfrei, diktatorisch, kommunikationslos erscheint, wäre heute in der Lehrwirkung verhängnisvoll.»225 Eine vergleichbare Skepsis, die sogar zu einer deutlichen Warnung führt, scheint in Frankreich zu jenem Zeitpunkt nicht bestanden zu haben, wäre doch andernfalls die Anfrage von Beaufret nicht nachvollziehbar.
225 Karl Jaspers an Friedrich Oehlkers, Mitglied der Beratungskommission, am 22. 12. 1945. In: Martin Heidegger – Karl Jaspers. Briefwechsel 1920!1963, S.272. Im Juni 1949 verwendet sich Jaspers in einem Schreiben an den Rektor der Universität Freiburg für die mögliche Wiederaufnahme der Lehre Heideggers. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sartre geht mit Heidegger in der Beschreibung des Schauderns angesichts des Bevorstehenden zunächst konform, schwenkt dann jedoch auf eine andere Interpretation ein. Deren Tenor besteht in der Feststellung, dass die einzige Ursache für eine derart heftige affektive Regung die Einsicht in das Wirken des eigenen Denkens ist, das hier in seinem Vermögen der Nichtung beleuchtet wird. Mögen die Bedingungen des Daseins schon als solche nicht optimal für den Menschen sein, da er sich auf keine Orientierung bietenden Instanzen mehr zu berufen vermag, intensiviert das Agieren des Menschen angesichts dieser Bedingungen die existentialistische Sichtweise sogar noch. Wie diese zu beurteilen ist, hängt sicherlich von der persönlichen Einschätzung stärker ab als von der Frage exakter Verifikation des Gesagten. Denn es handelt sich um eine Philosophie, die neben ihrer argumentativen Stimmigkeit in hohem Maße selbst wertende Anteile enthält, da auch sie, wie die Existenzphilosophie, Reflektion einer Stimmungslage ist. Doch nicht nur das. Während der letzten Überlegungen wurde gleichsam an unsichtbarem Band eine Frage mitgeführt, die nun endlich zur Sprache kommen kann. Sie knüpft an die Feststellung an, dass Existenzphilosophie das Motiv des Einzelnen zwar beschreiben, aber nicht denken, das heißt zum Gegenstand allgemeingültiger Aussagen, machen könne. Wie steht es mit diesem Umstand im Existentialismus? Sartre weist auf den «besonderen Existenztypus» des Menschen hin, soviel hat sich bereits gezeigt. Im Kontext seiner Erörterung des Freiheits-Begriffes heißt es dann: Sein ist für das Für-sich das An-sich, das es ist, nichten. Unter diesen Bedingungen kann die Freiheit nichts anderes sein als diese Nichtung. Durch sie entgeht das Für-sich seinem Sein als seinem Wesen; durch sie ist es immer etwas anderes als das, was man von ihm sagen kann, denn zumindest ist es das, was eben dieser Benennung entgeht, was schon jenseits des Namens ist, den man ihm gibt, der Eigenschaft, die man ihm zuerkennt.226
Sagen, benennen, Eigenschaften zuerkennen – das sind Schritte eines Denkens, das der Klassifizierung dient. Ein Aspekt der Nichtung hatte sich bereits abgezeichnet. Er besteht darin, dass ein Mensch ständig über sich hinaus ist, weil er mit jedem Nichtungsakt nicht nur dasjenige negiert, das zukünftig für ihn nicht von Belang sein wird, sondern auch dasjenige, das er selbst gewesen ist und gegenwärtig ist. Auf die Konsequenzen dieses Gedankens von Sartre wird gleich zurückzukommen sein. Doch zunächst zu dem anderen Aspekt der Nichtung, den obige Worte zu erkennen geben. Jeder Versuch, einen Menschen in seiner momenthaften Existenz fixieren zu wollen, um ihn etwa zum Gegenstand einer Benennung, wie es heißt, zu machen, muss zwangsläufig scheitern. Denn der Einzelne, um den es hier geht, ist ständig über sich hinaus. Wie überzeugend diese Theorie im Endeffekt ist, könnte gefragt werden. Fest steht jedoch, dass sie die konsequente Folgerung jener Aussagen zum Nichtungsvermögen ist, die Sartre in 226
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den ersten Seiten von Das Sein und das Nichts vorstellt. Dort ist es sein Mittel, einen «Ausweg aus dem Sein» aufzuzeigen. Nicht zufällig wurde gerade der Titel eines frühen Textes von Emmanuel Lévinas genannt, denn auch er thematisiert bereits Mitte der 1930er Jahre das Bedürfnis des Menschen, der erdrückenden Präsenz des Faktischen entfliehen zu können. «Das Sein behauptet sich mit einer Unerbittlichkeit, die sich selbst absolut genügt, ohne sich auf etwas anderes zu beziehen.»227 Eine lohnende und noch immer erst in Ansätzen verfolgte Aufgabe besteht darin, das frühe Werk von Lévinas im Kontext existenzphilosophischen Denkens zu rezipieren. Dessen spätere Ausformung kann dann neben ihrer grundsätzlichen Würdigung auch als eine Auseinandersetzung mit diesem gelesen werden, die den Konzeptionen von Jean-Paul Sartre und Heinrich Barth eine weitere Variante hinzufügt. Das Aufsuchen dieser Fortsetzungen und Widerlegungen der Existenzphilosophie ist insofern speziell in unserem Zusammenhang höchst interessant, als sie selbst wiederum auf eine mögliche Fortsetzung geprüft werden können. Für Sartre ist es unumgänglich, das Motiv des Außer-sich-Seins als Ergebnis seiner Einführung des Begriffes der Nichtung zuzulassen, auch wenn er ihn selbst als nicht unproblematisch ansieht. Formal zeigt sich die Folgerung, dass der Einzelne, der im Für-sich erscheint, nicht Gegenstand einer Aussage sein kann. Damit bestätigt sich aus dieser Perspektive der zuvor ausgeführte Gedanke, der eine nicht unerhebliche Schwierigkeit nicht nur für existenzphilosophische, sondern wie sich nun zeigt auch existentialistische Theoriebildung darstellt. Denn beide können offensichtlich auf philosophischer Basis keine Aussagen darüber treffen, was doch ihr ausgewiesenes Thema sein sollte. In den späten Texten von Martin Heidegger waren wir dem Versuch begegnet, durch Umformung der Sprache vom wissenschaftlichen in einen eher literarischen Stil diesem Umstand Rechnung zu tragen. Denn sobald eine Ausdrucksform gewählt wird, die nicht mit dem Anspruch auf repräsentative Gültigkeit einhergeht, wird es möglich, den Einzelnen zu beschreiben. Eine Beschreibung zeigt ihn in seinem Handeln und Verhalten, Leiden und Widerstehen als situativ agierendes Individuum, das in jedem Augenblick neu in Szene gesetzt werden kann, wodurch exakt jene Variabilität der Darstellung gegeben ist, die der philosophischen Form nicht zur Verfügung steht. Sartre trägt diesem Umstand in der bereits erwähnten Weise Rechnung. In seinen Theaterstücken und Romanen sehen wir einzelne Menschen agieren, Menschen mit einem Vor- und Zunamen, wie Franz Rosenzweig die Möglichkeit nennt, vom Einzelnen sprechen zu können.228 Der formale FolgeAspekt des Gedankens der Nichtung hat sich somit gezeigt. Sartre sieht in ihm Ausweg aus dem Sein, S.7. «Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus.» Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.10. 227
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jedoch noch einen anderen Aspekt, der seine Theorie kennzeichnet, obwohl eine solche Kennzeichnung sicherlich nicht beabsichtigt gewesen ist. Wiederum fällt die Wahl auf den Humanismus-Vortrag, der deshalb in unserem Zusammenhang eine so ergiebige Quelle darstellt, weil sich Sartre dort offensiv mit den Einwürfen seiner Kritiker auseinandersetzt und Facetten seiner Lehre,229 wie er den Existentialismus bezeichnet, beleuchtet, die in anderen Schriften eher unberücksichtigt bleiben. Im Vortrag heißt es: «Aber ich kann mich nicht auf Menschen verlassen, die ich nicht kenne, und mich dabei auf die menschliche Güte oder das Interesse des Menschen für das Wohl der Gesellschaft stützen, da der Mensch frei ist und es keinerlei menschliche Natur gibt, auf die ich bauen könnte.»230 Mit dieser Formulierung ist das ultimative Extrem jenes Gedankens vom Einzelnen markiert, der so hoffnungsvoll Mitte der 1920er Jahre im philosophischen Diskurs zur Geltung gebracht wurde. Sartre stellt und beantwortet die Frage, was geschieht, wenn dieser Gedanke bis zu seinem Ende verfolgt wird, und das heißt hier: Bis zu jenem Moment, in dem der Einzelne – als Einzelner – im Kontext von Gemeinschaft und Gesellschaft reflektiert wird. Fügt er sich neu in ein Gesamt ein, nachdem er sich der Bestimmtheit im Man, wie es bei Heidegger zu lesen ist, entwunden hat? Erscheint er den Anderen in seiner existentiellen Kontur, wie Heinrich Barth es erläutert? Profitiert eine Gemeinschaft von seiner existentiellen Bewegung? Macht es einen Unterschied, ob er seine wesenhafte Möglichkeit verwirklicht hat oder nicht? Es muss wohl nicht mehr darauf hingewiesen werden, dass Sartre damit einmal mehr eine Leerstelle der Existenzphilosophie aufspürt, was selbst unter Berücksichtigung von Barths Äußerungen zu dem Thema gilt. Denn in der frühen Phase des existentiellen Denkens ist es offenbar noch nicht an der Zeit, Sartres Frage vorwegzunehmen und damit vielleicht sogar überflüssig werden zu lassen. Vielleicht regt sich mittlerweile Unmut darüber, dass von Karl Jaspers so lange nicht die Rede war. Schließlich plädiert er in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit, in den frühen 1930er Jahren entstanden, für den Beitrag, den Existenzphilosophie im intellektuellen und gesellschaftlichen Leben seiner Überzeugung nach spielen sollte. Denn eine neue Ausrichtung von Philosophie hält er für längst überfällig, wie allein schon diese kurze Charakterisierung bestätigt: «Äußerlich philologisch, innerlich rationalistisch, ohne Bezug auf das eigene Dasein des Einzelnen, führte sie ihren durch Tradition strengen Denkens verdienstlichen Betrieb der Schulen fort, […].»231 Gegen dieses Bild einer von der Denktypik der Vergangenheit dominierten Philosophie hält Jaspers folgende Worte: «Existenzphilosophie kann keine Lösung finden, sondern nur in der Vielfachheit «[…] c’est que nous entendons par existentialisme une doctrine qui rend la vie humaine possible […].» L’existentialisme est un humanisme, S.23. 230 Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.160. 231 Die geistige Situation der Zeit, S.131. 229
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des Denkens aus jeweiligem Ursprung in der Mitteilung vom Einen zum Anderen wirklich werden. […] Existenzphilosophie würde sogleich verloren sein, wenn sie wieder zu wissen glaubte, was der Mensch ist.»232 Von zentraler Bedeutung ist für Jaspers das, was er «das philosophische Leben» nennt und folgendermaßen charakterisiert: «[Es] ist überhaupt nicht das eine, das für alle identisch wäre. Es ist als das Heer der Einzelnen der Sternschnuppenfall, der unwissend woher und wohin, durch das Dasein zieht. Der Einzelne wird, wenn auch noch so gering, in ihm mitgehen durch den Aufschwung seines Selbstseins.»233 Dieses Mitgehen des Einzelnen kann doch als ein Beleg dafür verstanden werden, dass dieser die aus seinem Selbst-Sein gewonnene Perspektive auf Welt und Leben in die Gemeinschaft einbringt. Ein frühes Bekenntnis zum existentiellen Engagement, so könnte betont werden. Warum wird diesem Zeugnis also im vorliegenden Zusammenhang nicht weitaus mehr Beachtung geschenkt? Die Antwort ist bereits an anderer Stelle angeklungen. Jaspers vertritt eine Form von Existenzphilosophie mit starkem Bezug auf Vorstellungen eines Sinngebungskontextes, der sich nicht unmittelbar aus dem Sein der Menschen in der Welt erklären lässt. Die Radikalität der Konzentration auf diesen Grund, den wir in den Versuchen von Heidegger und Sartre finden, muss er daher nicht teilen. Sehr wohl müssen – und wollen – sie jedoch die hier angestellten Überlegungen teilen, weshalb der Blick eher auf jene Konzeptionen fällt, die mit deren Problemen ringen. In einem Verständnis des Seins, wie es Jean-Paul Sartre vertritt, fallen alle Orientierungsmarkierungen, die nicht diesem selbst entstammen, fort. Und da Sein, so sollte man zumindest meinen, an sich keine normative Größe sein kann, die in irgendeiner Weise Einfluss auf Entscheiden und Handeln des Menschen nehmen könnte, ruht alle Verfügungsmacht, aber auch alle Verantwortung auf diesem allein. Mit dem anderen Menschen kann ich nicht rechnen, ihm eine konstante Verhaltensweise zutrauen, weil es keinerlei Fixpunkt in Form einer Wesensbestimmung gibt, an der dieser seine Vorhaben und deren Ausführung prüfen und gegebenenfalls korrigieren könnte. An die Stelle der Vorstellung vom Wesen, das als Zielpunkt möglicher Entwicklungen des Einzelnen dienen könnte, ist das Motiv der Nichtungs-Fähigkeit des Menschen getreten. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen Ersatz, der die überkommene Idee des Wesens überflüssig erscheinen lässt? Tatsächlich wirkt doch das Nichtungs-Vermögen ganz genau so, wie es eine Wesensbestimmung getan hätte. Denn es gibt jenes Vermögen des Menschen zu erkennen, das ihn von allem übrigen Seienden unterscheidet. Sartre selbst spricht von einem «besonderen Existenztypus», der uns eignet. Formal und funktional wirkt der Nichtungs-Gedanke also nicht anders als eine traditionelle Wesensbestimmung. Er identifiziert auf dem Wege der Differenzierung. Die ersten Kapitel aus Das Sein und das Nichts lesen sich schließlich 232 233
Die geistige Situation der Zeit, S.150. Die geistige Situation der Zeit, S.182. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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wie eine einzige große ontologisch fundierte Werbung für die Notwendigkeit, eine menschliche Ausnahmestellung im Sein anzunehmen. Gäbe es diese nicht, würde der Einzelne weder zum Einzelnen werden, noch könnte er sich der beunruhigenden Präsenz des Seins durch seine Nichtungs-Akte entziehen. Man könnte sogar folgern, dass der Hinweis auf einen besonderen Existenztypus niemals in der Geschichte der modernen Philosophie dringlicher gewesen ist, da die Deutung des Seins niemals radikaler ausgefallen ist. Wenn also Sartres Einführung des Nichtungs-Vermögens eine Funktion erkennen lässt, die formal jener einer Wesensbestimmung entspricht, ist doch auf eine Unterscheidung der Bedeutung beider aufmerksam zu machen. Eine klassische Wesensbestimmung wie diejenige der Rationalität, um einmal mehr bei diesem prominentesten aller Beispiele zu bleiben, gründet sich traditionellerweise auf einen Kontext, der nicht mit dem menschlichen Erfahrungsraum deckungsgleich ist. Sei der Bestimmungskontext metaphysischer oder religiöser Natur, in beiden Fällen besteht keine Notwendigkeit, die Gültigkeit dieser Bestimmung zu erweisen, ja es besteht nicht einmal die Möglichkeit, sofern davon ausgegangen wird, dass beweisbar nur dasjenige ist, das in Korrespondenz zu diesem Erfahrungsraum gedacht werden kann. Die Erklärung des besonderen Existenztypus’, die Sartre vornimmt, ist hingegen nur aus diesem Raum zu gewinnen, denn sie beruht in letzter Konsequenz auf der Erfahrung und der Bewertung ihres Ertrages. Menschen entscheiden ununterbrochen, indem sie Optionen verfolgen und andere verwerfen. Sartre macht im Endeffekt nichts anderes, als hieraus die Grundaussage über den Menschen zu konstruieren. Denn es handelt sich letztlich um eine Aussage, die das Wesen des Menschen benennt, auch wenn Sartre hervorhebt, diesem könne kein Wesen zukommen. Nur gestaltet sich das Ziel, auf das sich das Vermögen des Menschen richtet, anders. Es ist nicht definiert, so dass mit jeder Handlung und jeder Bewegung des Denkens eine fortgesetzte Entsprechung verwirklicht wird, die den Menschen seinem Wesen näherkommen lässt. Damit liegt keine Wesensbestimmung im teleologischen Sinne vor, die neben der Benennung einer bestimmten Eigenschaft, die uns ausmacht, zugleich als normatives Element unserer existentiellen Bewegung dient. Sartre führt vielmehr, vielleicht sogar unbeabsichtigt, eine empirisch gegründete Wesensbestimmung ein, die den Vorteil hat, aus dem Erfahrungsraum des Menschen erklärt werden zu können, dafür aber keine normierende Wertigkeit zu besitzen scheint. Die Nichtungen, die uns unserer Möglichkeit im Sein entsprechen lassen, verlaufen nicht als Annäherungen an ein Ziel, das zuvor als Ziel des menschlichen Seins ausgewiesen wurde. So steht seiner Auffassung nach jede Handlung des Menschen unter dem Zeichen der selbst zu setzenden Begründung, sowie der allein zu tragenden Verantwortung. Angesichts dieser Kompetenzlast rückt die ursprüngliche Funktion, die diesen Vermögen einmal zugesprochen wurde, fast völlig in den Hintergrund. Sie sollten als Ausdruck des Nichtungs-Vermögens den Ausweg des Menschen aus dem Sein gewährleisten, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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was bei Sartre so viel heißt wie: den individuellen Aneignungsmodus als Gestaltungskriterium des An-sich-Seins ausweisen. Zwei Sichtweisen auf den Menschen stehen sich damit in Sartres Konzeption gegenüber. Auf der einen Seite der Einzelne, der durch seine individuellen Strukturierungsakte Sein konturiert, sich jedoch aufgrund eben dieser Fähigkeit in seinem Versuch, sich selbst zum Gegenstand des Bewusstseins zu machen, ständig verfehlt. Diese Auffassung veranlasst Sartre dazu, von der Unkalkulierbarkeit des Anderen im Miteinander auszugehen. Formal bedeutete dieses, dass eine Aussage über eben diesen Einzelnen nicht möglich ist. Auf der anderen Seite steht die allgemeine Bestimmung des Menschen schlechthin, gekennzeichnet durch sein Nichtungs-Vermögen, was durchaus als eine Entsprechung zur traditionellen Wesensbestimmung verstanden werden kann. Wie unverzichtbar diese Kennzeichnung des Menschen tatsächlich ist, zeigt sich im Zusammenhang einer weiteren Erklärung Sartres in seinem Humanismus-Vortrag. Auf die Folgerung aus seinen bisherigen Annahmen, wonach der Mensch nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen verantwortlich sei, wurde bereits kurz eingegangen. Den «tiefen Sinn des Existentialismus» kommentierend, schreibt Sartre: Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er unserer Ansicht nach sein soll.234
Woher stammt aber die Annahme, wir könnten überhaupt dessen Ansicht beeinflussen? Seinen gerade geäußerten Gedanken erläuternd, fährt Sartre fort: «Wenn […] die Existenz dem Wesen vorausgeht und wir zugleich existieren und das Bild von uns gestalten wollen, so gilt dieses Bild für alle und für unsere gesamte Epoche.» Im ersten Moment klingt diese Feststellung einleuchtend, da doch alle Menschen die Seins-Bedingung der Vorgängigkeit der Existenz vor der Essenz teilen. Doch wie überzeugend ist sie wirklich? Und auf welche Art der Wahl bezieht sich Sartre hier? Vielleicht bietet es sich an, von einer Wahl auszugehen, in der etwa die Option des Selbst-sein-Könnens zur Disposition steht. Die Beispiele, die zur Illustrierung des Gedankens angeführt werden, mögen auf die Zuhörerschaft zugeschnitten sein und daher ein hohes Maß an Alltäglichkeit demonstrieren. Doch wäre es eine verkürzte Sichtweise, sie allein auf diesen Zweck beschränken zu wollen. Die Entscheidung für die Heirat ziehe, so ist zu lesen, «die gesamte Menschheit auf den Weg zur Monogamie». Es handelt sich also bei den Entscheidungen um konkrete Aktionen, die unter ganz bestimmten Bedingungen in klar gekennzeichneten Situationen erfolgen. Damit steht hier die Ausweitung der durch unsere Handlungen gesetzten Werte für alle Menschen zur Diskussion, weshalb Sartre betont, in diesem Sinne sei der Wählende zugleich 234
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Gesetzgeber.235 Wenn es um diese Ebene von Einzelfallentscheidungen geht, wird die Frage umso drängender, warum wir davon überzeugt sein können, dasjenige, dessen Wert wir für uns anerkennen, müsse für alle Anderen werthaft sein, zumal wir doch diese Anderen in ihrer Individualität gar nicht einschätzen können. Auch wenn das von Sartre angeführte Beispiel dem Kontext der Handlungsmotivation entstammt, kann auf diesem Niveau die Frage letztlich nicht beantwortet werden. Es sind nicht die mit den einzelnen Handlungen gesetzten Werte, die für alle Menschen gelten sollen, sondern das Faktum, dass durch die Wahl, das heißt die Nichtung des Nicht-Gewählten, Seins-Konturierungen stattfinden, die uns unser Dasein als begründet im eigenen Handeln erkennen lassen. So zumindest hätte die Antwort ausfallen können, hätte Sartre nicht den Begriff des Gesetzgebers verwendet.236 Denn dessen Charakteristikum ist es, sich zu fragen, ob er auch derjenige sei, «der das Recht hat so zu handeln, daß die Menschheit sich nach [seinen] Taten richten kann?»237 Dass in dieser Frage der Anwendungsmodus des Kategorischen Imperativs, wie ihn Immanuel Kant formulierte, entfernt zu erkennen ist, bedarf gewiss keines Hinweises. Setzt Sartre damit aber nicht voraus, dass es eben letztendlich doch so etwas wie eine stabile Vorstellung des einzelnen Menschen gibt, die auf der Gewissheit beruht, dass er sich, wenn die Umstände seines Handelns den Umständen meines Handelns entsprechen, für genau jene Handlung wie ich entscheiden wird? Und würde er damit nicht seine Konzeption von Freiheit unterlaufen, die mich selbst erschaudern lässt, weil mich letztlich nichts vor der Unkalkulierbarkeit ihrer Entscheidungen schützt? In welchem Zusammenhang spricht Sartre die Funktion des Gesetzgebers an? Er versucht, das Phänomen der Angst zu erklären, indem er betont, sie zu empfinden sei angesichts der totalen Verantwortung, die auf uns lastet, nur allzu verständlich. Denn diese betrifft nicht nur unser eigenes Handeln, sondern auch dessen Bedeutung für die Anderen. Im weitesten Sinne dient dieser Teil seines Vortrages der Ermutigung, Angst nicht fliehen zu wollen, sondern sie als Bestimmung unseres Daseins zu akzeptieren. «Diese Art Angst ist es, die der Existentialismus beschreibt, und wir werden sehen, daß sie sich darüber hinaus erklärt aus einer unmittelbaren Verantwortung für die Menschen, die sie betrifft. Sie ist kein Vorhang, der uns vom Handeln trennt, sie ist Teil des Handelns selbst.»238 Wenn noch einmal an den Zeitpunkt erinnert wird, an dem sich Sartre mit solchen Worten an die Franzosen wendet, wird deren Bedeutung erst recht nachvollziehbar. Im Oktober 1945 fand die Veranstaltung statt, deren ursprünglich geplante Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.152. «[…] l’homme qui s’engage et qui se rend compte qu’il est non seulement celui qu’il choisit d’être, mais encore une législateur choisissant en même temps que soi l’humanité entière, […].» L’existentialisme est un humanisme, S.33. 237 Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.153. 238 Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.153.
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Diskussion im Anschluss an den Vortrag wegen des übergroßen Andranges nicht stattfinden konnte. Den Menschen dazu zu ermutigen, die Angst angesichts der eigenen Verantwortung zu übernehmen, war gewiss das Gebot der Stunde. Denn im Grunde klingt diese Begründung Sartres wie ein einziges Plädoyer für das Engagement, das seiner Auffassung nach nicht erst durch die Entscheidung für eine gezielte Aktion zustande kommt, sondern uns kraft unserer Freiheit, die unsere Verantwortung ist, immer schon eignet und daher keine Ausnahmeerscheinung menschlichen Handelns darstellt, sondern unser Sein grundsätzlich kennzeichnet, wenn wir es zulassen. Wäre es vorstellbar, dass es Sartre in seinem sehr aktuellen Bemühen, sich an seine Mitmenschen zu wenden, riskiert, ein wenig hinter seine theoretischen Ausführungen in Das Sein und das Nichts zurückzufallen? Denn andernfalls wäre es unumgänglich, von einer gewissen Unstimmigkeit in seinem Denken auszugehen. Worin würde sie bestehen? Wenn seine zugegebenermaßen sehr fragmentarische Erwähnung der Funktion des Gesetzgebers in vollem Umfang aufgefasst wird, widerspricht sie seinen Aussagen zur Freiheit, die gerade deshalb in uns Schaudern auslösen kann, weil sie uns den Nichtungs-Charakter unseres Handelns als dessen Grund vor Augen führt. Wenn ich mich hingegen an der Weisungskompetenz eines Anderen orientieren kann oder sogar orientieren muss, insofern er mir etwas als werthaft zu erkennen gibt, das er selbst wählte, bleibt zwar das Funktionsmodell der Nichtung als solches bestehen, verliert jedoch seine beunruhigende Konnotation. Denn nach wie vor partikularisiere ich die Anzahl mir zur Wahl stehender Optionen des Handelns durch negierenden Ausschluss des Nicht-Gewählten, doch weiß ich mich dabei gelenkt durch das Wertsetzende Agieren meines Nächsten. Wenn damit das letzte Wort des Existentialismus gesprochen wäre, stünde dessen Originalität an dieser Stelle infrage. Es wäre wohl als Aussage einer existentialistischen Doktrin verständlich, die nach Sartres eigener Erklärung das Leben möglich machen solle, doch könnte es kaum als Inhalt existentialistischer Theorie überzeugen, die auf phänomenologisch-ontologischer Grundlage basiert. Wie auch immer die Einschätzung an dieser Stelle ausfallen und welcher Aspekt dieses Denkens in den Vordergrund gerückt wird, ist doch eines noch einmal hervorzuheben: Dass Sartre sich überhaupt dieser Thematik des Handelns in seiner möglichen Bedingtheit annimmt, unterscheidet seinen philosophischen Anspruch eindeutig von jenem der Existenzphilosophie. Diese Tatsache mag bereits an einer Reaktion auf die letzten Seiten abzulesen sein. Denn mit Recht könnte überlegt werden, warum auf einmal über Handlung, deren Bedingung und deren Ablauf nachgedacht wird, wo es darum doch bisher nicht ging. Das auf einmal spricht Bände. Denn aus der Sicht der bisherigen Bemerkungen muss es tatsächlich wie das plötzliche Aufbrechen einer zuvor nicht in entsprechender Weise diskutierten Thematik wirken. Mit deren Aufnahme deckt Sartre eine Leerstelle existenzphilosophischen Denkens auf, und zwar deren bedeutendste. Um das aber auch noch einmal hervorzuheben: Damit wird https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nicht behauptet, dass sie in diesem Denken überhaupt keine Rolle spielt, sondern dass deren Reflexion im Vergleich zu den sonstigen Erwägungen deutlich zurückhaltender ausfällt. So bietet es sich geradezu an, Sartres Erläuterungen in Das Sein und das Nichts und seine Stellungnahmen im Humanismus-Vertrag als direkte Reaktion auf das Denken seiner Vorgänger im Kontext der Existenz-Theorie zu verstehen. Eine Reaktion, die aus den Schwächen der vorliegenden Konzeptionen entspringt und deren Ungedachtes zu artikulieren sucht.
Zwei Extreme Bereits an früherer Stelle wurde auf das besondere Faktum hingewiesen, dass uns mit den Werken von Heinrich Barth und Jean-Paul Sartre etwa zeitgleiche Demonstrationen davon vorliegen, was im Kontext des Themas «Existenz» an Theoriebildung möglich ist. Dabei hatte sich auch schon abgezeichnet, dass Barth dem Denken Sartres mehr als skeptisch gegenübersteht und es sogar bisweilen in unverhohlener Weise ablehnt. In der Zeitschrift für evangelische Kultur und Politik veröffentlichte er im Jahr 1952 einen Beitrag mit dem Titel Echter und falscher Existentialismus, in dem er erwartungsgemäß auch auf Sartres Position eingeht. Darin findet sich zunächst die folgende Feststellung, die inhaltlich auf die zuvor angestellten Überlegungen dieser Seiten bezogen werden kann: Wenn das existenzphilosophische Denken auf den Plan tritt, das des Aktes der Existenz und damit des Seins des Menschen habhaft werden möchte, kann es nicht umhin, zu einem ‹Nach-Denken› zu werden, […] dem bereits entglitten ist, was es in seinem Sein erfassen möchte. – Keine Reflexion wird die Kluft überspringen können, die zwischen ihr selbst und dem wirklichen Geschehen des menschlichen Existierens befestigt ist.239
Aus dieser Perspektive betrachtet müsste der Begriff der Leerstelle, die sich im existenzphilosophischen Denken findet, entschieden bekräftigt werden. Denn Barth macht deutlich, dass es einen Bereich gibt, den diese Philosophie nicht betreten kann, so dass es letztlich unaufrichtig wäre, diesbezüglich falsche Versprechungen vorzunehmen. Um welchen Bereich es sich handelt? Genau jenen, der Sartre dazu veranlasst, vom Existentialismus als Doktrin zu sprechen. Denn Theorie des Geschehens der Existenz ist nach Barths Auffassung nicht möglich, da sie nie zur Erklärung konkreter Geschehnis-Abläufe dienen kann. Die nächste Feststellung ist aufschlussreich: Die Existenzphilosophie vermag dem Problem der Existenz nicht frontal zu begegnen. Sie ist nicht in der Lage, die Frage der Existenz, wie sie sich dem Menschen in der Anfech-
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tung und Not seines Daseins stellt, auf sich zu nehmen und im Eintreten für den Menschen dessen Existenzkampf durchzukämpfen.240
Damit erteilt er im Grunde jenem Anspruch, den etwa Franz Rosenzweig erhob, eine klare Absage, hatte dieser doch gerade das «leere Lächeln» aller bisherigen Philosophie beklagt, die zu eben dieser Not des Daseins keinerlei Stellung bezog. Sein Konzept eines «Neuen Denkens», das auch die Forderung nach einem «neuen Begriff und Typ des Philosophen» einschließt, sollte diesen Bezug des Denkens auf das Dasein des Menschen ermöglichen.241 Denn dieser neue Denker denkt nicht nach, wie es Heinrich Barth erklärt, sondern begleitet denkend das Geschehen der Existenz, dessen Notwenigkeit ihm aus eigenem Erleben vertraut ist. Eine solche Forderung hieße, die Philosophie der Existenz auf ein Feld zu führen, auf dem sie sich nicht würde bewähren können, so argumentiert Barth, denn sie ist und bleibt Theorie und kann nicht einmal zur Doktrin werden, wie es Sartre fordert. Damit meinte er eine Lehre, «die das menschliche Leben möglich macht». Weist Heinrich Barth damit den Versuch, Nützlichkeit der Existenzphilosophie zu erweisen, grundsätzlich zurück? Schockierend wäre eine solche Zurückweisung keineswegs, hatte doch auch Martin Heidegger davor gewarnt, diese von seinem Denken, dessen Bezeichnung als existenzphilosophisch er freilich wiederholt ablehnte, zu erwarten. Der Hintergrund dieser Ablehnung hatte sich gezeigt. Seiner Ansicht nach sei nützliches Denken Denken in der Seins-Ferne und behindere daher geradezu die Denkbarkeit der Existenz. Barths Stellungnahme trifft gleichermaßen die Konzeptionen von Heidegger wie von Sartre. Folgende Passage verdeutlicht dieses Faktum: Wenn im Vorstehenden alle ‹echte› Existenzphilosophie eingeladen wird, sich vor allem einer falschen Prätention zu enthalten, […] dann werden wir umgekehrt von dem Gegenstande dieser Philosophie, der menschlichen Existenz, nicht hoch genug denken können. […] Als weiteres Kriterium eines ‹wahren› Existentialismus machen wir die Forderung geltend, daß die Existenzphilosophie die Ebene einer beschreibenden Ontologie verläßt und zu einer dem Problem der Existenz angemessenen Haltung übergeht.242
Bei aller Hochachtung vor der Leistung Heinrich Barths kann diesen Zeilen nur mit Unbehagen gefolgt werden. Wer kann das Recht für sich in Anspruch nehmen, über Echtheit und Wahrheit einer Theorie zu urteilen, ja mehr noch, zwischen «echte[m] und falsche [m] Existentialismus» zu unterscheiden. Der Nachweis, dass eine Konzeption aus darzulegenden Gründen nicht der eigenen Vorstellung entspricht, ist Inhalt philosophischer Arbeit. Doch gehen diese BeEchter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.102 f. 241 Der Stern der Erlösung, I, II, S.57. 242 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.104.
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merkungen einen deutlichen Schritt darüber hinaus. Natürlich bleibt Barth deren Erläuterung nicht schuldig. Und natürlich spricht aus ihnen sein leidenschaftliches Bemühen um das Projekt «Existenzphilosophie», das seiner Bewertung nach Gefahr läuft, sich im Zuge «falscher» Ausrichtung selbst aufzuheben. Doch wäre es nicht möglich gewesen, den Ansichten der anderen Interpreten zumindest das Recht zuzubilligen, auch für ihre Deutungen gute Gründe anführen zu können? Doch soll durch diese Frage nicht von einer Auffälligkeit der obigen Zeilen abgelenkt werden. Undifferenziert gebraucht Barth dort die Begriffe Existenzphilosophie und Existentialismus. Eine nähere Einschätzung dieses BegriffsGebrauches wird anhand folgender Hervorhebung möglich: «Wie wir einleitend erklärt haben, verstehen wir unter einem ‹falschen› Existentialismus eine Existenzphilosophie, die von der Existenz ein falsches Bild entwirft und insofern die wahre Bedeutung der ‹Existenz› verfälscht.»243 Wer heute diese Feststellung liest, hat das Privileg, es aus einiger zeitlicher Distanz zu tun und die Entwicklungsgänge beider philosophischer Theoriekomplexe überblicken zu können. 1952 ist das nicht in vergleichbarem Maße möglich, was dieser Einschätzung sicherlich zugute zu halten ist. Ein wenig Vorsicht bei deren Bewertung scheint also durchaus angebracht zu sein. Und doch stellt sich die Frage, wie eine solche Äußerung auf einen Leser gewirkt haben mag, der die Zeitschrift zur Hand nahm und sich vielleicht sogar Informationen darüber erhoffte, was aktuell in der Philosophie diskutiert werde. Muss dieser Leser nicht den Eindruck gewinnen, dass es sich beim Existentialismus insgesamt um eine Fehlentwicklung der Existenzphilosophie handelt? Die Härte der Bedenken, die gegen eine solcherart wertende, nicht bloß widerlegende Stellungnahme erhoben werden könnten, wird glücklicherweise durch Barth selbst gebrochen, der gleich zu Beginn seines Aufsatzes darauf hinweist, bei der Wahl des Titels der Anregung des Herausgebers der Zeitschrift gefolgt zu sein, nicht ohne Bedenken, wie er versichert. «Es klingt wie eine Fanfare. Man sieht eine trotzig geballte Faust und vernimmt drohende Scheltworte. Über seine eigene Ankündigung ist selbst der Verfasser fast erschrocken.»244 Und er fügt beschwichtigend hinzu: «Auch einem J.-P. Sartre möchten wir nicht in pharisäischer Überheblichkeit ein menschlich minderwertiges Philosophieren zur Last legen.» Gleichwohl gilt es seiner Auffassung nach vor diesem Philosophieren zu warnen, weil es durch ein «Verfehlen» des Gedankens der Existenz «das Selbstverständnis des Menschen» verfälsche. Wie auch immer diese Ankündigung bewertet werden mag, ist sie doch mehr als Ausdruck philosophisch sachlicher Diskussion unterschiedlicher Standpunkte. Sie dokumentiert darüber hinEchter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.107. 244 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.100. 243
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aus den unglaublichen Ernst, mit dem um eine Definition dessen, was Existenzphilosophie sein kann und soll, gerungen wird. Denn es steht kein beliebiges Theorem auf dem Spiel, dessen Auslegung Auswirkungen auf das unmittelbare Umfeld seiner Formulierung zeigen wird. Es geht vielmehr um die Bestimmung dessen, was den Menschen ausmacht, die uralte Frage der Philosophie, die hier in unerwarteter Vehemenz von Neuem aufbricht. Das Spektrum der Positionen, die im Austragen dieser Kontroverse eingenommen werden, fasst Barth selbst kurz in seiner Frage zusammen, «Warum […] wir auf die Möglichkeit dieser Diskrepanz von Denken und Leben so großes Gewicht [legen]?»245 Er selbst vertritt die Position der Bescheidung, wie er es nennt, insofern die Existenzphilosophie niemals den Anspruch erheben solle, einer Weisheitslehre vergleichbar wirken zu wollen: Der ‹Weise› ist also weit davon entfernt, sich als Philosoph bei dem Erfolge und der Zuverlässigkeit seines Nachdenkens zu bescheiden. Indem er zwischen der philosophischen Reflexion und seiner wirklichen Existenz keinen Abstand wahrzunehmen scheint, erweckt er den Anschein, es liege im Wesen der Philosophie, sich in der Persönlichkeit des Philosophen zu verkörpern.246
Bedauerlicherweise liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob Heinrich Barth Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung bekannt gewesen ist. Diese Zeilen müssen jedoch noch nicht einmal als direkte Bezugnahme gedacht gewesen sein, um dessen Sichtweise in Erinnerung zu rufen. Denn das, was Barth hier beschreibt, entspricht exakt der Auffassung Rosenzweigs, mit der einzigen Einschränkung, dass dieser sie nicht als Zeichen eines Weisheits-Anspruches versteht, sondern als Ausdruck unbedingten Interesses am Menschen, oder, um eine weitaus leidenschaftlichere Kennzeichnung zu wagen: der Liebe zum Menschen. Aus Rosenzweigs Sicht liegt darin kein verfehltes oder gar vermessenes Ansinnen, sondern Bekundung der Wahrhaftigkeit eines Denkens, das sich den Begrenzungen akademisch geprägter Philosophie zu entwinden sucht. Sichtbarstes Zeichen seiner Entschlossenheit, diesen Schritt mit aller auch persönlich zu verantwortenden Konsequenz zu vollziehen, ist sicherlich seine Ablehnung einer Dozentur an der Berliner Universität mit der folgenden Begründung: «Es [das Erkennen] ist mir zum Dienst geworden. Zum Dienst am Menschen, […].»247 Dass Rosenzweig einen neuen Typus des Philosophen fordert, wurde bereits erwähnt. Dieser zeichnet sich letztlich genau durch jene Durchdringung des eigeEchter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.103. 246 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.103. 247 Nahum Glatzer in seinem Vorwort zu Franz Rosenzweigs Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S.11. 245
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nen Denkens aus, die Heinrich Barth so entschieden zurückweist. Da er in seinem Aufsatz keinerlei Angaben macht, auf wen sich seine Ablehnung bezieht, ist vielleicht die Überlegung zulässig, dass er Franz Rosenzweigs Forderung vor Augen gehabt haben könnte. Als entfernter, aber nicht ganz von der Hand zu weisender Beleg hierfür könnte seine Erwähnung der «Diskrepanz von Denken und Leben» verstanden werden. Diese Begriffe ergeben sich nicht aus seinen vorherigen Ausführungen, reflektieren aber eine Formulierung aus dem Stern der Erlösung: «Leben und Dasein decken einander – noch nicht.»248 Rosenzweig spielt damit auf genau jenes Durchwirken des Lebens durch das Denken und des Denkens durch das Leben an, deren Eindringen in das Verständnis von Existenzphilosophie Barth wortgewaltig zu verhindern sucht. Wann hätte es zuvor schon einmal eine solche Spannweite möglicher Interpretationen des Selbstverständnisses von Philosophie gegeben? Sie soll dem Einzelnen gelten, kann dessen einzelne Existenz jedoch nicht reflektieren, darauf weist Barth in seinem Aufsatz wie bereits erwähnt hin. Was rechtfertigt dann aber ihren Anspruch, Philosophie der Existenz sein zu wollen? Schließlich gilt doch für den «wahren Existentialismus»: «Er hat es mit einer Existenz zu tun, in deren Bedeutung es liegt, daß ihr Wesentliches auf dem Spiele steht – streng genommen das Höchste, was überhaupt auf dem Spiele stehen kann.»249 Heinrich Barths Auffassung zufolge handelt es sich hierbei um die Möglichkeit, Aussagen über die Wahrheit der Existenz treffen zu können, die nicht in eine unklare Vision von Wahrhaftigkeit abdriftet, sondern sich auf dem Wege der ErkenntnisAnalyse ermitteln lässt. Damit öffnet er jenem Denken die Tür, das Franz Rosenzweig in aller Eindringlichkeit ablehnt, habe es doch seiner Überzeugung nach alle bisherige Philosophie beherrscht und sie damit dem Menschen entfremdet. Denn Kern eines Denkens, das in der Ferne operiert, sei es, sich auf die Vorstellung einer Einheit berufen zu wollen, deren Annahme alle individuellen Besonderheiten kraft ihrer Bestimmung als Einheit zwangsläufig nivellieren müsse. Auch wenn in den folgenden Worten vom Sein die Rede ist, gelten sie jeder Annahme eines vereinheitlichenden Prinzips, das zum Beispiel wie das Transzendentale im Sinne Heinrich Barths wirkt. «Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, […] dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut. […] So wurde der Mensch – nein, nicht der Mensch, sondern ein Mensch, ein ganz bestimmter Mensch, zu einer Macht über die – nein, über seine Philosophie.»250 Abgesehen von der Frage, ob Heinrich Barth mit Franz Rosenzweigs Denken vertraut gewesen ist, ist ein Vergleich beider Positionen deshalb so interessant, weil Der Stern der Erlösung, II, III, S.249. Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.105. 250 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.13 und S.9.
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er im Extrem zwei mögliche Auslegungsweisen von Existenzphilosophie kontrastiert. Sachbezogene Bestimmung der Existenz durch die Ansetzung eines Prinzips, das ihre Vielgestaltigkeit vereinheitlicht am einen Ende, Umwandlung des philosophischen Begriffes der Wahrheit in das Existenz-relevante Ideal der Wahrhaftigkeit am anderen Ende der Skala. Natürlich ist dabei zu berücksichtigen, dass Rosenzweig aus der Gewissheit des Glaubens spricht, wohingegen Barth dazu aufruft, «daß die Philosophie bewußt davon absieht, sich latent als Religion zu gebärden.»251 Aber das nimmt Rosenzweig noch nicht einmal für sein Denken in Anspruch, das er als «System der Philosophie» bezeichnet.252 Dass in den letzten Minuten ausschließlich von Franz Rosenzweig und Heinrich Barth die Rede gewesen ist, liegt daran, dass eine radikalere Kontrastierung der Bestimmung von Existenzphilosophie kaum vorstellbar ist. Die Positionen von Martin Heidegger und Karl Jaspers ordnen sich zwischen beiden Extremen ein. Ob der Grund hierfür in der von Barth geforderten Bescheidung zu sehen ist, kann bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass für keinen von beiden die Notwendigkeit für eine derartige Radikalisierung bestand, wie sie sich an den beiden Positionen ablesen lässt. Handelt es sich bei dem Blick auf deren Ausformung also um ein Verweilen bei einer philosophiehistorischen Detailansicht? Keineswegs. Die Standpunkte von Barth und Rosenzweig selbst dann zu betrachten, wenn Letzterer bisher nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ist von entscheidender Bedeutung zur Verortung des eigenen Verständnisses von Existenz und ihrer Philosophie. Wo möchten wir heute im Spektrum angebotener Möglichkeiten Stellung beziehen? Welche Definition des existentiellen Denkens entspricht am stärksten dem eigenen Verständnis und – gerade das sollte mit Blick auf die Philosophie der Existenz nicht übersehen werden – intellektuellen Bedürfnis. Über einhundert Seiten waren erforderlich, um ein Szenario dieser Philosophie zu entwerfen, das noch längst nicht den Anspruch erheben kann, alle Varianten berücksichtigt zu haben. Die Auswahl der betrachteten Konzeptionen orientierte sich an deren Unterschiedlichkeit hinsichtlich Programmatik und kontextueller Umsetzung. Wenige Konstanten wurden dabei sichtbar, wobei sich sehr schnell zeigte, dass nicht einmal die Nennung des Begriffes der Existenz, die fraglos als die einzig notwendige Konstante erschien, in kompletter Übereinstimmung erfolgt. Die letzte festzustellende inhaltliche Gemeinsamkeit der hier betrachteten Auffassungen besteht in der Überzeugung, dass es sich um den Indikator der Zeitlichkeit menschlichen Daseins handelt, wobei allerdings schon allein diese Formulierung nicht auf einhellige Zustimmung treffen würde. Schließlich entstammt der Begriff des Daseins einer ontologisch geprägten Terminologie, die speziell von Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.104. 252 Das Neue Denken, in: Zweistromland, S.140.
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Heinrich Barth abgelehnt wird. Die Vorstellung der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins gilt dessen ungeachtet, da das Entwerfen auf ein ‹Noch-Nicht› als Ausdruck existentieller Bewegung gewertet wird. Sofort wird jedoch klar, dass es wirklich bei dieser allgemeinsten Bestimmung bleiben muss, da sich die Bestimmungen dessen, was im Entwurfs-Geschehen passiert, offensichtlich unterscheiden. Das Ergreifen des eigensten Sein-Könnens führte Martin Heidegger an, den Selbst-Bezug Karl Jaspers und das Erkennen im Transzendentalen Heinrich Barth. Und Jean-Paul Sartre? Obwohl er nicht zu Riege genuiner Existenz-Denker zählt, ist die Frage nach der Natur der Nichtung für ihn nicht weniger relevant, verwirklicht der Mensch doch darin sein menschliches Sein. Von der Art dessen, was als existentielle Bewegung aufgefasst wird, hängt letztlich die Bestimmung des Einzelnen ab – und umgekehrt. Es hat sich gezeigt, dass es in diesem Denken keine Vorstellung von kausaler Bedingtheit und linearer Abfolge gibt, der zufolge etwa der Mensch erst Vereinzelung erfährt, um dann seine existentielle Bewegung vollziehen zu können. Indem er diese konkretisiert, verwirklicht er zugleich sein Selbst-sein-Können, ohne das wiederum kein Sich-Entwerfen vorstellbar wäre. Was in der knappen Aufzählung gerade kaum besonders bemerkenswert klang, erweist sich bei weiterem Bedenken als äußerst differenziert, wenn gefragt wird, was eigentlich im Vollzug dieser Bewegung geschieht, in der es, wie Barth es formuliert, um «das Höchste, [geht] was überhaupt auf dem Spiele stehen kann.» Einig sind sich die genannten Denker in der Überzeugung, dass der Begriff der Existenz das dem Menschen Mögliche bezeichne, was nicht als Kennzeichnung, sondern als Ankündigung zu verstehen ist. Die Annahme, es handele sich um eine Eigenschaft, scheidet aus, wenn darunter ein bereits bestehendes Merkmal verstanden wird, das ein Lebewesen oder einen Gegenstand unverwechselbar erscheinen lässt. So wäre eher von einem Vermögen zu sprechen, von einer Fähigkeit, die dem Menschen – und nur ihm – eignet, ohne dass damit bereits etwas über deren Verwirklichungsmodalitäten ausgesagt werden könnte. Wie ist dieses Vermögen zu umschreiben, um in möglichst großer Bandbreite die verschiedenen Deutungsansätze von Existenz einbeziehen zu können? Oder anders formuliert: Worin stimmen die vorgestellten Deutungen trotz ihrer Unterschiede letztlich überein? Wenn die Deutung als Eigenschaft nicht in Betracht kommt, besteht die nächste zu prüfende Erklärung darin, Existenz als das Vermögen des Entwerfens zu interpretieren. Klingt diese Antwort nicht enttäuschend, so dass die Frage naheliegen könnte, ob es all der Bemühungen der Existenz-Denker bedurft hätte, um auf diese Fähigkeit hinzuweisen? Eine nähere Betrachtung des Begriffes vom Entwurf wird möglicherweise das Blatt wenden und zugleich die noch ausstehende Überlegung aufgreifen, was im Zuge der existentiellen Bewegung genau geschieht. In seiner primären Funktion deutet das Vermögen des Entwurfs auf die Fähigkeit der Verwirklichung an sich. Aus dieser grundsätzlichen Umschreibung können dann die unterschiedlichen Akte abgeleitet werden, die bisher als Form https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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der existentiellen Bewegungen erkennbar wurden. Dabei ist es irrelevant, ob auch alle genannten Denker den Begriff des Entwurfes verwenden, da zählt, in welcher Weise sie das Geschehen des Sich-zur-Existenz-Bringens beschreiben. Martin Heidegger setzt vor allem auf den Akt der Negation zweckorientierten Denkens, wie es unser alltägliches Agieren dominiert. Aus dieser negativ-Bestimmung geht zunächst aber nur hervor, was Existenz nicht ist. Aus diesem Umstand schöpft sein Denken seine größte Inspiration, da mit ihm die Möglichkeit entsteht, das Freisein-Für zu thematisieren. Zugleich zeigt sich darin aber auch eine der deutlichsten Eigenheiten des existentiellen Denkens an sich. Für dieses kann in einem Konzept wie dem Heideggers lediglich der Ausgangspunkt angegeben werden, der in der Beschaffenheit des menschlichen Daseins besteht. Eine Ausrichtung der existentiellen Bewegung auf einen Gegen-Entwurf hierzu ist essentiell, ohne dass damit bereits eine Zielangabe verbunden sein müsste und könnte, wie in seinem Sinne zu ergänzen ist. Somit wird diese Bewegung als Akt der Distanzierung aus dem Funktionskomplex der Zweckgebundenheit des Handelns und Denkens bestimmbar, was jedoch keinesfalls als eine Distanzierung vom Weltbezug zu verstehen ist, wie sie Karl Jaspers darstellt. Der Hinweis auf dieses Kennzeichen der Abhebung vom zweckgebundenen Denken führt zu dem Eindruck, dass es sich um eine Bewegung des Denkens handelt, das nicht als Erkenntnis im philosophischen Sinne, sondern als Einsicht in die offene Relationalität des Seins zu verstehen ist. Denn Frei-Sein für das eigenste Sein-Können bedeutet nach Heideggers Auffassung keine solipsistische Selbst-Verschränkung des Denkens, sondern ganz im Gegenteil dessen Ausweitung auf das Sein als solches. Aus diesem Grunde wurde in den letzten Formulierungen peinlich genau darauf geachtet, den Begriff der Transzendenz und sogar jenen des Transzendierens zu vermeiden. Denn beide würden die Vermutung nahelegen, dass die existentielle Bewegung eben doch ein Minimum an Zielgebundenheit enthält, insofern die entsprechende Formulierung des Überschreitens schwerlich nur für sich bestehend zu denken wäre, ohne zugleich ein Wohin anzudeuten. Obwohl es in diesem Kapitel eher um eine Betrachtungsweise geht, die allgemeine Züge im Denken der Existenz nennt, ist ein kurzer Rückblick auf Sein und Zeit erforderlich, um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen. Denn in dem Text spricht Heidegger von Transzendenz, was dem gerade Gesagten widersprechen könnte. Dass hier kein Widerspruch vorliegt, erklärt sich dadurch, dass er diesen Begriff im Kontext seiner Zeit-Auffassung verwendet: Die Einheit der horizontalen Schemata von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart gründet in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit. Der Horizont der ganzen Zeitlichkeit bestimmt das, woraufhin das faktisch existierende Seiende wesenhaft erschlossen ist. Mit dem faktischen Da-sein ist je im Horizont der Zukunft je ein Seinkönnen entworfen, […].
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In der horizontalen Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit gründend, ist die Welt transzendent.253
Die Formulierung des Ekstatischen verweist in diesem Zusammenhang auf die Besonderheit der Zeit, sich selbst Ausstehendes sein zu können, das der Mensch als eben dieses erfährt. Alles Seiende besteht in der Zeit, da es sich nur in deren Erstreckungsdimensionierungen, die Heidegger hier anspricht, als Bestand im Sein reflektieren kann. Für die aktuellen Überlegungen sind obige Zeilen deshalb außergewöhnlich aufschlussreich, weil sie zeigen, dass die existentielle Bewegung nicht auf ein Transzendentes zielt, das, wie es bei Karl Jaspers der Fall ist, als das «andere Sein» zu bezeichnen ist, sondern dem Seienden in der Zeitlichkeit seines Seins immer schon inhäriert. Daher kann Heidegger davon sprechen, dass die Welt als das Wo des Seins transzendent ist, das heißt dass sie selbst nur zeitlich zu erfahren ist. Insofern kann dann von ihm gefolgert werden, dass Entwurf Bewegung im Sein und nicht auf ein Sein anderer Bestimmung ausgerichtet ist. Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit vermerkt Heidegger, die Bedeutung der Räumlichkeit des Seins nicht ausreichend reflektiert zu haben. Indikator der Zeitlichkeit des Daseins ist die «Sorge», das «Sich-vorweg».254 Denn sie bietet die Möglichkeit, die Konkretionen des Sich-vorweg in ihrer Struktur des Sich-vorweg-Seins erfassen zu können. Dabei denkt Heidegger, dieser Hinweis ist wahrscheinlich überflüssig, nicht an die Bekümmerung, die wir für gewöhnlich mit diesem Begriff bezeichnen, sondern an das Besorgen und die Fürsorge, denen er in Sein und Zeit eine detaillierte Untersuchung widmet. Dieser knappe Rückgriff auf die inhaltliche Darstellung des Heideggerschen Seins-Denkens war erforderlich, um die Behauptung, dieses basiere nicht auf der Annahme von Transzendenz, zu rechtfertigen. Wenn es denn trotzdem zur Verwendung des Ausdrucks vom Transzendieren kommen soll, dann nur unter einer einzigen Bedingung. Er muss strikt ontologisch verstanden werden. Das bedeutet, dass das Überschreiten, als welches das Sich-vorweg aufgefasst werden könnte, niemals als Bewegung aus dem Sein verstanden werden kann, sondern als dessen Erschließungsmoment, in dem die Möglichkeit des eigentlichen Sein-Könnens sich zu erkennen gibt. Dieses ist, um es noch einmal zu betonen, nicht als Selbstverschränkung eines sich selbst reflektierenden Individuums zu verstehen, sondern als Erfassen der Relationalität, die Sein ist und werden kann. Eine solche Einsicht «löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert sie nicht auf Sein und Zeit, § 69, S.365 f. «Für die terminologische Kennzeichnung der eigentlichen Zukunft halten wir den Ausdruck Vorlaufen fest. Er zeigt an, daß das Dasein, eigentlich existierend, sich als eigenstes Seinkönnen auf sich zukommen läßt, daß sich die Zukunft erst selbst gewinnen muß, nicht aus der Gegenwart, sondern aus der uneigentlichen Zukunft. Der formal indifferente Terminus für die Zukunft liegt in der Bezeichnung des ersten Strukturmoments der Sorge, im Sich-vorweg.» Sein und Zeit, § 68, S.336 f. 253 254
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ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch […] nichts anderes als das In-der-Welt-sein eigentlich ist.»255 Wie wäre nach dieser Kennzeichnung der Gegen-Entwurf zu einem «freischwebenden Ich» zu denken? Als eigentliches Selbst, so kann nach den bisherigen Erörterungen geantwortet werden. Dessen Besonderheit besteht nicht darin, sich selbst Inhalt der Reflexion zu sein. Vielmehr tritt ihm im Moment des Sich-vorweg-Seins das «eigentliche Miteinander» vor Augen, das Heidegger in diesem Kontext als das «Mitsein mit Anderen» bezeichnet, das jedoch auch auf das Mitsein in der Welt bezogen werden kann. Nach dieser kurzen Erläuterung fällt zumindest für Heideggers Verständnis die Option aus, Existenz als Vermögen auszuweisen. Stattdessen müsste sie als SeinsStatus gedeutet werden. Wie das? Der Begriff der Existenz verweist auf ein NichtExistentes, das durch den Akt der Selbst-Gründung realisiert werden kann. Interessant ist dabei, dass sich unter dieser Bezeichnung der Status vom ‹Noch-Nicht› zum Realisierten verändert. Damit käme diesem Terminus ein einzigartiges Bedeutungsspektrum zu, insofern er gleichermaßen zur Bezeichnung eines NichtSeienden wie eines Seienden dient. Sollte hingegen doch auf der Verwendung des Begriffes vom Vermögen bestanden werden, könnte dieses allenfalls in der Titulierung als Existieren erfolgen. Im Rückblick auf die Betrachtung der Heideggerschen Konzeption und im Vorgriff auf die weiteren Überlegungen wird die Bedeutung von Existenz zur Kennzeichnung eines Seins-Status’ präferiert, wobei der mit ihm verbundene Akt selbst-setzender Gründung im Mittelpunkt stehen wird. Im Moment spricht nichts dagegen, diesen Akt mit dem bisher schon thematisierten Ausdruck des Entwerfens zu bezeichnen. Ungeachtet der unterschiedlichen Deutungen von Transzendenz könnte diese Sichtweise im weitesten Sinne auch auf das Denken von Karl Jaspers bezogen werden, wie eine Formulierung auf der ersten Seite seiner Schrift Philosophie II belegt, wo er Existenz als «Das Sein, das – in der Erscheinung des Daseins – nicht ist, sondern sein kann und sein soll […].»256 charakterisiert. Mit dieser grundsätzlichen Bestimmung endet die Gemeinsamkeit mit Heideggers Deutung dann aber auch schon. Festzuhalten bleibt die Übereinstimmung in der Interpretation von Existenz als Noch-nicht-Sein, was für die Suche nach einer einheitlichen Verwendung dieses Begriffes im Rahmen der Existenzphilosophie wichtig ist. Doch sofort werden zwei schwerwiegende Differenzen in der Feinabstimmung der Begriffs-Bedeutung sichtbar. Die zitierte Formulierung leitete Jaspers durch die Frage ein: «[…] was gibt es dem gesamten Weltsein gegenüber?» und führt sie anschließend weiter aus, indem er konstatiert: «[…] auch Existenz ist nicht für sich allein und nicht alles; denn sie ist nur, wenn sie bezogen ist auf andere Existenz und auf Transzendenz, vor der als dem schlechthin Anderen sie
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sich bewußt wird, nicht durch sich selbst allein zu sein; […].»257 Existenz würde Martin Heidegger keinesfalls als «dem gesamten Weltsein gegenüber» begreifen, sondern als diesem selbst inhärente Seins-Option. Da sich der Mensch in seinem Dasein in-der-Welt-seiend findet, entfaltet er nach Möglichkeit Existenz aus dem Weltsein und nicht in dessen Kontrastierung. Dem ersten Teil der zitierten Passage könnte im Sinne des Heideggerschen Denkens noch zugestimmt werden, vorausgesetzt, Transzendenz würde als jene Bestimmung verstanden, die dort dem Welt-Sein zugewiesen wird. Doch dann weichen die Auffassungen beider Denker dramatisch voneinander ab. Gerade jenes «durch sich selbst» Sein, das Jaspers für Existenz ausschließt, bildet den Kern der Darstellung in Sein und Zeit. Existenz, so hatte es sich erwiesen, entsteht aus dem Sein und durch das Sein, das in der zweitgenannten Form dasjenige des Menschen ist. Aus dieser Warte betrachtet besteht keinerlei Notwendigkeit, ein «schlechthin Anderes» anzunehmen, das im Gegenteil sogar die selbst-gründende Beschaffenheit von Existenz negieren würde. Für Heidegger ist die Annahme dieses Aspektes der SelbstGründung aus dem Sein daher von extremer Wichtigkeit, weil er mit der Verwirklichung von Existenz eine Veränderung im Sein einhergehen sieht, die ihn letztlich zur Formulierung des Gedankens vom Seyn führt. Wiederholt wurde bereits auf die deutliche psychologisch akzentuierte Sichtweise von Karl Jaspers hingewiesen, der Existenz immer auch in Bezug auf die Selbstreflexion des Menschen sieht – eine Betrachtungsweise, der bei Heidegger keine vergleichbare Relevanz zukommt. Das Aufbrechen der Frage nach dem Selbst beschreibt Jaspers mit diesen Worten: In natürlicher Unbekümmertheit frage ich nicht nach mir; ich verwirkliche die mir nächsten Zwecke und denke an meine Aufgaben. […] Dann erfahre ich, daß ich fragen kann. Ich möchte wissen, was ich sei – und denke den Menschen als eine Gattung des Seins, der auch ich zugehöre – oder wer ich sei – und frage damit, was ich meine, wenn ich sage: ich selbst.258
Mit aller gebotenen Vorsicht in Anbetracht allzu plakativ gehaltener Aussagen kann mit Blick auf Heideggers Konzeption festgestellt werden, dass ein solches Fragen dort keine Rolle spielt. Dem Menschen erschließt sich vielmehr die Möglichkeit, eigentlich sein zu können, das heißt: zu existieren, womit sein eigenstes Selbst-Sein realisiert wird. Dieses Geschehen der Erschließung ist jedoch nicht als Folge eines vorausgegangenen Fragens zu verstehen, da es nach der Sichtweise, die er konsequent anwendet, in eben diesem Augenblick bereits wieder Beleg des zielorientierten Denkens wäre. Ein provisorischer Vergleich der Existenz-Deutungen bei Heidegger und Jaspers zeigt eine starke Übereinstimmung mit eklatanten Differenzierungen bei der Formulierung der Parameter des Existenz-Voll257 258
Philosophie II, S.1 f. Philosophie II, S.24. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zugs. Vielleicht ist es eine Frage der persönlichen Einschätzung, hier die Gemeinsamkeit oder die Unterschiede als vorherrschend zu beurteilen. Für den Versuch, Konstanten innerhalb existenzphilosophischer Theoriebildung nachzuweisen, genügt momentan der Hinweis auf die grundsätzliche Deutung von Existenz als «Sein, das nicht ist, sondern sein kann». Unter Ausnutzung des gesamten Deutungsspielraums kann diese Interpretation auch für das Denken von Heinrich Barth geltend gemacht werden. Warum diese Einschränkung? Weil Barth noch entschiedener als Jaspers die Bezugnahme auf ontologische Motive ablehnt und es daher befremdlich wirken könnte, ausgerechnet sein Verständnis von Existenz in dieser Weise zu charakterisieren. Der Akzent liegt dabei aber auch nicht auf dem Begriff des Seins, sondern des Werden-Könnens. Diesen Gedanken vertritt auch Barth und spitzt ihn sogar auf die Betonung des Werden-Sollens zu. Dass diese Auffassung sich bruchlos mit seiner Bestimmung der Existenz als Erkenntnis verbindet, mag im ersten Moment verwundern, denn wie sollte sich das Sollen, also die Setzung, dass werde, was werden soll, in diesem Zusammenhang auswirken? Der Begriff taucht in Barths Erläuterungen zum Thema der Entscheidung auf, wo seine Relevanz sofort einsichtig wird. Denn welchen Nutzen hätte diese, wenn sie nicht für dasjenige, das sie beschließt, dessen Konkretisierung erwarten würde? Gegen die Feststellung, dass es sich bei Existenz um das Sein des Menschen handele, wendet Barth nichts ein, im Gegenteil, er wählt sogar selbst diese Formulierung. Damit greift er aber nicht notgedrungen auf den Kontext ontologischer Begründungszusammenhänge zurück, was seiner Absicht radikal widersprechen würde. «Allein wir können bei einer ontologisch aufgezogenen Existenzphilosophie nicht stehen bleiben. Ontologie macht das Sein zu ihrem Gegenstande und versucht sich in der Darstellung der fundamentalen Strukturen des Seienden. Die Existenz kann aber wesensmäßig nicht zum Gegenstand einer Lehre vom Seienden werden.»259 Die Begründung dieser Aussage ist bereits vor kurzem angeklungen, kann hier aber noch einmal aufgegriffen werden. Grundsätzlich erklärt Barth, dass «Wahre Existenzphilosophie […] im Zeichen einer großen Bescheidung [steht]. Sie ist sich darüber völlig im klaren, daß sie über Existenz nur ‹nachdenken› kann.»260 Das Nachdenken ist in diesem Fall wörtlich gemeint, denn Reflexion der existentiellen Bewegung, die Gegenstand der Existenzphilosophie wäre, könnte diese nur als bereits Gewesene erfassen: Nehmen wir an, ein Mensch sei in der praktischen Ausführung eines Vorhabens begriffen. Dieses Vollführen ist alsdann das, was seiner Existenz, seinem Sein, sofern er Mensch ist, in einem bestimmten Zeitpunkte einen Inhalt verleiht. Wir sagen: Er existiert eben Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.104. 260 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.102. 259
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jetzt in der Realisierung dieses Vorhabens. Nun macht er sich in seiner Reflexion dieses sein Tun gegenwärtig. Ist er in Wahrheit in der Lage, es sich gegenwärtig zu machen? Was er sich gegenwärtig macht, ist genau genommen, nie der Akt dieser Realisierung als solcher, sondern wie ein Schatten dieses Aktes, in dem er, verblaßt zu einer bloßen Projektion, zum Bewußtsein kommt.261
Aus einem doppelten Grund schien es sinnvoll zu sein, diese Passage ungekürzt zu zitieren. Zum einen erklärt sie Barths Verständnis des Begriffes vom Nachdenken, das das Reflektieren eines nicht mehr aktuell Bestehenden ist. Bei der Aussage, Existenz könne nie Gegenstand einer Lehre vom Seienden werden, liegt der Schwerpunkt daher auf dem Gedanken der Lehre und erst nachgeordnet auf dem des Seienden. Zum anderen weist diese Auffassung nicht unerhebliche Nähe zur Ansicht Jean-Paul Sartres auf, was in Anbetracht der zum Teil vehementen Ablehnung seiner Konzeption verwundert. Auch Sartre vertritt den Standpunkt, dass das Bewusstsein niemals das aktuelle So-Sein des Einzelnen erfassen könne, da es sich durch das Fortlaufen der Zeit stets in einer wenn auch minimalen Distanz zu seinem Gegenstand befindet. Weil Barths Worte in Fortsetzung der gerade zitierten Zeilen an Klarheit nicht zu übertreffen sind, sollen auch sie hier zur Sprache kommen: «Die Erfüllung der Existenz durch den Reichtum ihres Erkennens, Schaffens, Betrachtens, Erlebens ist endgültig etwas anderes als das reflektorische Bewußtsein, das sich dieser Erfüllung zuwendet.» Aus einer vielleicht unerwarteten Richtung wird damit der bereits angesprochene Gedanke bestätigt, wonach Existenzphilosophie den Einzelnen zwar beschreiben, doch nicht denken kann. Woher plötzlich das Element des Einzelnen kommt? Er korrespondiert dem, was Barth als «Ausführung eines Vorhabens» bezeichnet, in der nicht der Mensch schlechthin agiert, sondern ein einzelner bestimmter Mensch in der konkreten Verwirklichung seiner Absicht. Die Konsequenz bedenkt Barth, indem er in seiner Erkenntnis der Existenz jene Form thematisiert, in der Reflexion existentiellen Geschehens möglich ist, nämlich nicht als Akt des Einzelnen, sondern als Strukturmerkmal von Existenz schlechthin. Die andere Folgerung, die sich aus seinem Verständnis des reflektorischen Bewusstseins ergibt, wurde ebenfalls bereits angesprochen: Da Existenzphilosophie sich nicht reflektierend auf das aktuelle Agieren des Menschen beziehen kann, kann sie auch nicht den Anspruch erheben, ihm Stütze und Hilfe in seiner Not und Bedrängnis zu werden. «So wie der Mensch nicht in der Existenzphilosophie, sondern in der Existenz selbst existiert, so ist andererseits diese Philosophie weder berufen noch befähigt, in der konkreten Lebenslage als wirksamer Faktor auf den Plan zu treten.»262 Für jeden Versuch, genau das zu fordern, stellt diese Feststellung die größte anzunehmende Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.102. 262 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.103. 261
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Herausforderung dar. Für Heinrich Barths Ablehnung einer ontologischen Perspektive innerhalb des existenzphilosophischen Denkens konnten die letzten Betrachtungen eine interessante Erklärung bieten. Danach trifft sein Verdikt nicht den Begriff des Seins, sondern den seiner Auffassung nach irrigen Anspruch von Ontologie, Lehre des Seienden zu sein. Ob diese Interpretation des Gegenstandsbereiches von Ontologie allerdings deren einzig mögliche Variante benennt, wird zu fragen sein. Um diesen Teil der Betrachtung abschließen zu können, steht schließlich noch der Blick auf Sartres Verwendung des Existenz-Begriffes aus. Dass seine Darstellung von Existentialismus sich in wesentlichen Punkten von den untersuchten Konzeptionen von Existenzphilosophie unterscheidet, konnte bereits angemerkt werden. Wäre es dann nicht geradezu naheliegend, dass er auch Existenz anders deutet? Die zur Verwendung kommende Bestimmung lautet in der Formulierung von Karl Jaspers, Sein, das noch nicht ist, aber werden kann. In allgemeinster Weise konnte diese Deutung für alle drei Denker in Anspruch genommen werden. Das erste, was in Erinnerung kommt, wenn von Sartres Verständnis die Rede ist, ist sicherlich seine Erklärung, die Existenz gehe der Essenz voraus. Wie bereits angedeutet greift er damit explizit auf die spätestens seit der Scholastik gebräuchliche Begrifflichkeit zurück und kehrt deren funktionelle Verweisung um. Galt früher, dass eine Definition des Wesens festlegt, wie ein Mensch beschaffen ist, um sich von allem anderen Seienden abheben zu können, wurde seine Existenz letztlich als Erfüllungsakt dieser Wesensbestimmung verstanden. Der Hinweis darauf, dass ein solches Verständnis primär vor religiösem Hintergrund funktioniert, ist im Grunde überflüssig, sei hier aber dennoch erwähnt, um die radikal veränderte Situation anzuzeigen, vor der ein Denker wie Jean-Paul Sartre steht. Denn er will und kann sich auf keine religiöse oder metaphysische Begründung für das Wesen des Menschen berufen, hat aber dessen ungeachtet Aussagen über dessen Charakteristik zu treffen. Die populärste dieser Aussagen liegt uns in seiner Aussage zur Vorgängigkeit der Existenz vor der Essenz vor. Fällt dabei aber nicht recht schnell eine Besonderheit auf? Wenn bisher Existenz als Sein im Ausstand betrachtet wurde und sogar als die existenzphilosophische Bestimmung gefasst werden kann, scheint Sartres Gebrauch des Begriffes in einem entscheidenden Zug hiervon abzuweichen. Denn für ihn liegt Existenz zunächst vor und zwar in der Weise einer Seins-Aussage, wonach etwas, wenn auch noch nicht spezifisch konturiert, da ist. Die zuletzt vorgenommene Umschreibung zieht möglicherweise die Aufmerksamkeit auf sich, da sie einen Bezug zu seiner Sichtweise des An-sich-Seins nahezulegen scheint. Einen Bezug, der tatsächlich vorliegt, so kann hinzugefügt werden. In seinem Humanismus-Vortrag erläutert er seine Formulierung der Vorgängigkeit mit diesen Worten: «Es bedeutet, daß der
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Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert.»263 Nach dieser Beschreibung wäre Existenz tatsächlich Begriff für das Faktum des Seins, nicht für dessen Werden-Können. Auf den ersten Seiten von Das Sein und das Nichts heißt es: «Das An-sich hat kein Geheimnis: es ist massiv. […] Es ist unbestimmt es selbst, und es erschöpft sich darin, es zu sein. […] Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.»264 Werden diese beiden Äußerungen verglichen, zeigen sie auffällige Übereinstimmung, was zu der ersten Folgerung führt, dass Sartre den Existenz-Begriff tatsächlich in anderer Weise benutzt als im existenzphilosophischen Sinne. Dieser Eindruck bestätigt die Umschreibung, die dann in Abgrenzung vom gerade Gesagten folgt: «Wir werden sehen, daß sich das Sein des Für-sich im Gegensatz dazu definieren läßt als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.»265 Diese Charakterisierung trifft den Kern dessen, was sich bisher als Bedeutung des ExistenzVerständnisses herausgestellt hat. Um an dieser Stelle eine unnötige Verwirrung zu verhindern, ist darauf hinzuweisen, aus welcher Perspektive sich Sartre dem Begriff von Existenz und Essenz in Das Sein und das Nichts nähert. Es ist die Frage nach dem Bewusstsein des Phänomens der Existenz, also nicht primär auf die Klärung des Problems abzielend, was Existenz sei, sondern wie sie Gegenstand des Bewusstseins werden könne. In diesem Zusammenhang spricht er, wie es vor diesem Hintergrund unerlässlich ist, von der Weise der Erscheinung. «Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es erscheint.»266 Erinnert allein schon die Nennung des Begriffes der Erscheinung an Heinrich Barths Darlegungen, wird dieser Eindruck noch um ein weiteres Element bereichert, wenn Sartre von Manifestationen als den Darstellungsmodi der Erscheinungen spricht. «Die Erscheinung verbirgt nicht das Wesen, sie enthüllt es: sie ist das Wesen. Das Wesen eines Existierenden ist nicht mehr eine im Hohlraum dieses Existierenden steckende Fähigkeit, es ist das manifeste Gesetz, das die Aufeinanderfolge seiner Erscheinungen leitet, […].»267 Mit dieser Feststellung erhebt Sartre den Anspruch, Dualismen, die seiner Auffassung nach in der Philosophie zu beobachten waren, umgehen zu können, nämlich jenen von «Sein und Erscheinen» und jenen von «Erscheinung und Wesen». Grundsätzlich ist anzumerken, dass Sartre den Begriff der Existenz nicht für die Bezeichnung des menschlichen Seins reserviert, auch wenn er dem Menschen einen «besonderen Existenztypus» Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.149. Das Sein und das Nichts, S.43 f. 265 Das Sein und das Nichts, S.42. 266 Das Sein und das Nichts, S.10. 267 Das Sein und das Nichts, S.11. Und weiter heißt es: «So manifestiert sich das phänomenale Sein, es manifestiert sein Wesen ebenso wie seine Existenz, und es ist nichts als die fest verbundene Reihe dieser Manifestationen.» 263
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attestiert.268 Dessen Besonderheit resultiert, es wurde bereits erwähnt, aus seiner Fähigkeit der Nichtung. Damit wird die exzeptionelle Stellung des Menschen in Sartres Seins-Konzept noch einmal bestätigt. Dieser ist es, der durch sein Vermögen, das ausschließlich ihm eignet, die beiden «Seinsregionen»269 des An-sich und des Für-sich dividiert und zugleich in Beziehung zueinander setzt. Denn das Wissen um das Sein in der Weise des An-sich wird konstitutiv für das Bewusstsein des eigenen Seins, das sich in Ansehung der komplexen Massivität des Seins lediglich als Mangel erfahren lässt. Für den Versuch, Sartres Verständnis von Existenz zu rekonstruieren, ist dieser Aspekt sehr wichtig, weil er die Vorstellung des essentiellen Ausstandes bedingt. Im Wissen darum, dass das eigene Sein stets als defizitär im Vergleich zur Vollständigkeit des Seins an sich zu betrachten ist, kommt ein Begriff zum Tragen, der uns bereits in den Überlegungen zur existenzphilosophischen Deutung von Existenz in Atem hielt, nun aber in gänzlich anderer Tonalität auftaucht – der Begriff der Transzendenz. Der Gedanke der Vollständigkeit des Seins, die uns als imaginierte Version eigenen Seins erscheinen kann, ist nicht neu. Bereits Martin Heidegger nutzte ihn in Sein und Zeit dazu, das Motiv des Vorlaufens zum eigenen Nicht-mehr-Sein thematisch vorbereiten zu können. Diese Bewegung, die genau diejenige der Existenz ist, ist dort mit dem Wissen um das ‹Nicht-Mehr› unauflöslich verbunden. Es könnte so wirken, als gehe das Vorlaufen, also die vorstellende Überschreitung des momentan-Gegebenen im Dasein, zeitlich und kausal voran. Allerdings wurde bereits deutlich, dass Heidegger nicht in dieser Abfolge denkt, sondern das Vorlaufen bereits als Geschehnis-Moment der existentiellen Bewegung versteht. Nicht das Vorlaufen auf das ‹Nicht-Mehr› untersucht Sartre, sondern die Frage, was die Vorstellung des Ganz-Seins für das menschliche Bewusstsein bedeutet. Als Beispiel dient ihm das Bild der Mondsichel, die, obwohl selbst nur Teil, doch das Gesamt, dessen Teil sie ist, denkbar werden lässt. Diesen Akt deutet er als Überschreiten «auf den Entwurf der realisierten Totalität», und «Das heißt es in seinem Sein von der Totalität aus realisieren, die sein Grund wird. Und in eben diesem Überschreiten wird das Mangelnde gesetzt als das, dessen synthetische Beifügung zum Existierenden die synthetische Totalität des Mangelhaften wieder herstellt.»270 Warum ist eine solche Wiederherstellung denn überhaupt erforderlich? Weil der Mensch durch sein Nichtungs-Vermögen nicht nur Partikularisierungen des Seins unter dem Gesichtspunkt des Dinglichen vornimmt, sondern auch das eigene Sein aus dem Gesamt des Seins differenziert. So besteht das Eigentümliche des menschlichen Existenztypus’ darin, sich im Zuge der Strukturierung des An-sich selbst zu partikularisieren, was einerseits erforderlich ist, um überhaupt Nichtungen vornehmen zu können, ande268 269 270
Das Sein und das Nichts, S.763. Das Sein und das Nichts, S.49. Das Sein und das Nichts, S.184 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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rerseits aber bewirkt, dass der Mensch sich seiner eigenen Existenz als defizitär bewusst wird. Entscheidend ist dabei, dass hier tatsächlich von Bewusstsein gesprochen wird, da nur so die Bewegung des Überschreitens erklärt werden kann, der Sartre die wichtigste Bedeutung überhaupt zuweist, denn «[…] es ist im Sein des Existierenden als Korrelativ einer menschlichen Transzendenz, aus sich hinauszuführen bis zu dem Sein, das es nicht ist, als zu seinem Sinn.»271 Der zuletzt vorgenommene Rückgriff auf Sartres Denken stand unter dem Motto, dessen Verwendung des Begriffes der Existenz zu eruieren. Dabei wurde sichtbar, das er diesen in beiderlei Weise nutzt – zur Bezeichnung des Faktums der Faktizität wie auch zum Hinweis auf dessen Überschreitung. Im Vergleich zu den zuvor betrachteten Deutungen wird damit eine eigene Akzentuierung erkennbar, denn Sartre begründet, woher der menschliche Existenztypus stammt. Durch das Nichtungs-Vermögen wird Sein partikularisiert, damit aber zugleich menschliches Sein differenziert. Diese Differenzierung, die auch als individuelle Konturierung im Sein verstanden werden kann, wirkt schließlich als Impetus der existentiellen Bewegung, die als Transzendieren des eigenen partikulären Seins aufzufassen ist. Transzendenz ist damit kein Anderes des Seins, sondern die Vorstellung von dessen ursprünglicher Ganzheit ohne diversifizierende NichtungsAkte des Menschen. Darin, diese Vorstellung zu setzen und sie als Impuls der existentiellen Bewegung zu begreifen, sieht Sartre das Enthüllungs-Geschehen von Sinn.
Sinn Damit hat Sartre einen Begriff angesprochen, der zwar bereits verschiedentlich in unserem Zusammenhang gestreift, doch noch nicht in annähernd erschöpfender Weise betrachtet wurde. Ihn nun zu thematisieren ist deshalb sinnvoll, weil er einen weiteren Aspekt in der Deutung des Gedankens der Existenz beleuchten kann, mit dem dieser erste Teil der Betrachtung dann zu einem Abschluss gebracht werden kann. Für Sartre besteht die Bewegung des Transzendierens, wie sich gezeigt hat, in der Überschreitung des eigenen defizitären Seins-Modus’, wobei die Ausrichtung dieser Bewegung durch die Projektion dieses Seins in den Modus der Vollständigkeit erfolgt. Aber handelt es sich dann überhaupt noch um dieses Sein? Allein die Vorstellung von Vollständigkeit zeigt an, dass es sich zwar nicht um das partikularisierte Sein des Menschen handeln kann, sehr wohl aber um dessen hypostasierte Ganzheit. Diese Setzung folgt jedoch nicht einer Einsicht, die das Gesamt zu erfassen beansprucht, sondern einem bewussten Erfassen des eigenen Seins: «Ein Sein, das das ist, was es ist, soweit es als das seiend, was es ist, angesehen wird, verlangt nichts für sich, um sich zu vervollständigen. 271
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Ein unvollständiger Kreis verlangt Vervollständigung nur, insofern er von der menschlichen Transzendenz überschritten wird. An sich ist er als offene Kurve vollständig und völlig positiv.»272 Vielleicht entsteht gerade Verwunderung darüber, warum in einem Textteil, der der Betrachtung der Deutungen von Sinn im existentiellen und existenzphilosophischen Denken gewidmet sein sollte, noch weiterhin Sartres Verständnis von Transzendenz verfolgt wird. Die Antwort ergibt sich nicht zuletzt aus den gerade zitierten Zeilen. Das, was Sartre dort anspricht, ist keine Replik auf die alte scholastische Frage, wie ein Teil Bestandteil eines Ganzen sein könne, sondern seine Erklärung des Motivs der Transzendenz. Diese interpretiert er nicht als das Schon-immer-Bestehende, sondern als hypostasierte Ganzheit des Sein-Könnens. Damit scheint er im ersten Moment durchaus grenznah zu Martin Heideggers Gedanken der Vollständigkeit zu operieren, den dieser in Sein und Zeit einführt, um die Bewegung der vorlaufenden Vergewisserung des eigenen Nicht-mehrSeins begründen zu können, durch die ein Mensch Einsicht in seine Freiheit zum eigensten Sein-Können gewinnt. Für Heidegger steht in diesem Zusammenhang die Überzeugung im Mittelpunkt, dass eine Vollständigkeit des eigenen Seins niemals selbst zu erreichen, sondern lediglich in ihrem Ausstand zu denken sei. Mit dem Gedanken der Sorge verbindet Heidegger die Auffassung, dass in der vorwegnehmenden Vergewisserung eines ‹Noch-Nicht› die Selbstbezüglichkeit unseres Daseins beschlossen ist. Was heißt das? Sorgend überschreiten wir den gegenwärtigen Moment unseres Seins und treffen, wenn eine pragmatische Perspektive eingenommen wird, Vorkehrungen für dessen zukünftige Gestaltung. Ontologisch gedeutet zeigt sich darin das «Sichvorweg», das Heidegger so erläutert: «Dasein existiert je umwillen seiner selbst. ‹Solange es ist›, bis zu seinem Ende verhält es sich zu seinem Seinkönnen.»273 Formal entspricht diese Sichtweise Sartres Verständnis, mit einem wesentlichen Unterschied in der Bedeutung des ontologischen Denkens. Heidegger schreibt: «Am Dasein ist eine ständige ‹Unganzheit›, die mit dem Tode ihr Ende findet, undurchstreichbar.»274 Damit führt er zum Begriff des Ausstandes, der etwas bezeichnet, «was zu einem Seienden zwar ‹gehört›, aber noch fehlt.” Auch er greift zur Verdeutlichung seiner Ansicht auf das Beispiel der Mondsichel zurück, die, obwohl selbst partiellen Seins, auf ein mögliches Ganzes verweist. Dessen Vorstellung ist für das Verstehen des Daseins konstitutiv, denn: «Das Dasein muß als es selbst, was es noch nicht ist, werden, das heißt sein.»275 Hier zeigt sich die Differenz zu Sartres Deutung, wodurch sich der erste Eindruck, beide Denker würden eine vergleichbare Position vertreten, nicht bestätigt. Aus Heideggers 272 273 274 275
Das Sein und das Nichts, S.185. Sein und Zeit, § 46, S.236. Sein und Zeit, § 48, S.242. Sein und Zeit, § 48, S.243. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sicht ist dasjenige, das dem Dasein noch nicht zukommt, für dessen Verwirklichung konstitutiv. Es gehört zu seiner Natur, dass es das ‹Noch-Nicht› zu irgendeinem Zeitpunkt verwirklichen wird.276 Diese Formulierung kann sogar noch zugespitzt werden, denn das Dasein muss sein ‹Noch-Nicht› werden. Darin liegt der Sinn des Seins, nach dem Heidegger im ersten Paragraphen seiner Schrift fragt.277 Auch Sartre spricht davon, dass «das, was nicht ist, […] das [bestimmt], was ist»278, gibt ihm jedoch eine andere Bedeutung, als es bei Heidegger der Fall war. Denn im Bewusstsein, eigenes Sein im Modus der Unvollständigkeit zu sein, sieht Sartre den Impuls zum Denken hypostasierter Ganzheit, der nicht die Qualität zukommt, als ‹Noch-Nicht› verstanden zu werden. Ist dieses aber nicht genau Heideggers Gedanke? Dieser betrachtet das ‹Noch-Nicht› als etwas, das das Dasein «zu sein hat», weswegen der Begriff des Ausstandes in seiner Terminologie zur Kennzeichnung dieses Faktums dient. Um es in einer anderen Form auszudrücken: Das Noch-nicht-Sein konstituiert das Sein und bestimmt dessen Sinn. Wodurch unterscheidet sich Sartres Auffassung? Diese fokussiert nicht das Sein, das der Mensch zu sein hat, sondern die Art und Weise, in der dieser es fortgesetzt verfehlt. Diese Wendung bedarf natürlich der Erklärung. Mangelndes, das Sartre im menschlichen Sein diagnostiziert, da es als unvollständig erfasst wird, kommt nicht auf dieses zu. In ihm gründet vielmehr die Vorstellung einer möglichen Überschreitung dieses menschlichen Seins, die zum Gedanken der Transzendenz führt. Dieser kommt nicht die Funktion zu, als etwas dem Menschen real Mangelndes zu wirken, das gleichwohl zur Bestimmung seines Seins erforderlich wäre, sondern einen Zustand vor dem Einsetzen der ersten Nichtung zu imaginieren. Um es noch einmal zu betonen: Transzendenz besteht nach Sartres Auffassung nicht per se, sondern als Komplementäres zum Sein, das diesem im Moment der Überschreitung, das heißt eines reflektierten Nichtungsaktes, hinzugedacht wird. «Und in eben diesem Überschreiten wird das Mangelnde gesetzt als das, dessen synthetische Beifügung zum Existierenden die synthetische Totalität des Mangelhaften wieder herstellt.»279 Denn die Ausgangssituation menschlicher Seins-Erfahrung, wie sie von Heidegger und von Sartre dargestellt wird, unterscheidet sich grundsätzlich. Im Verständnis des Ersteren ist es die Erfahrung von Sein, die im vorlaufenden Erschließen als unvollständig erfasst wer«Was am Dasein die ‹Unganzheit› ausmacht, das ständige Sichvorweg, ist weder ein Ausstand eines summativen Zusammen, noch gar ein Noch-nicht-zugänglich-geworden-sein, sondern ein Noch-nicht, das je ein Dasein als das Seiende, das es ist, zu sein hat.» Sein und Zeit, § 48, S.244. 277 «Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert.» Sein und Zeit, § 1, S.2. 278 Das Sein und das Nichts, S.185. 279 Das Sein und das Nichts, S.184 f. 276
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den kann. Im Denken des Letzteren begreift sich der Mensch als Grund seiner eigenen Unvollständigkeit im Sein, deren Gedanke in Anbetracht der Nichtungsakte, die Bewegungen des Existentiellen sind, letztlich unumgänglich ist. Die Bedeutung der Bewusstseinstätigkeit ist für Sartre daher ungleich größer als für Heidegger, da sie es dem Menschen ermöglicht, sich selbst als Grund des SeinsDefizits zu reflektieren. «Die menschliche-Realität erfaßt sich in ihrem Zur-Existenz-Kommen als unvollständiges Sein.»280, so heißt es in Das Sein und das Nichts. An diesem Modus der Selbst-Reflexion wird sich für den Menschen, so wie ihn Sartre darstellt, niemals etwas ändern, weil dieser selbst sich quasi permanent als Grund seiner ontischen Unvollständigkeit reflektiert, reflektieren muss, so kann hinzugefügt werden. Denn zu Existieren bedeutet, zu nichten. Ein Austreten aus diesem Kreislauf aus Negation und Selbst-Reflexion, der für Sartre den Gang der Existenz ausmacht, ist daher ganz und gar unmöglich. Insofern Transzendenz als Nichtungs-Geschehen zu verstehen ist, muss sie als Begriff im Kontext der Bewusstseins-Analyse, nicht im Kontext ontologischer oder gar religiösmetaphysischer Erörterungen gedeutet werden.281 Von hieraus scheint der Weg zurück zur angekündigten Thematik des Sinns nicht leicht aufzuspüren zu sein. Noch für einen kurzen Moment ist bei Sartres Deutung des Bewusstseins zu verweilen, damit sich der Blick anschließend ungehindert auf diese Thematik richten kann. Am Anfang von Das Sein und das Nichts, dort, wo es die Untersuchung auf die gewünschte Bahn zu lenken gilt, notiert Sartre: «[…] die Existierenden erscheinen gegenüber dem Bewußtsein auf der Grundlage ihres Seins. […] Dennoch kann das Bewußtsein das Existierende immer überschreiten, nicht auf sein Sein hin, aber auf den Sinn dieses Seins. […] Der Sinn des Seins des Existierenden, insofern er sich dem Bewußtsein enthüllt, ist das Seinsphänomen.»282 Damit werden die möglichen Erwartungen, die an den Begriff vom Sinn geknüpft werden könnten, vom Beginn an in Schranken gewiesen. Um welche Erwartungen hätte es sich handeln können? Vor allem gewiss die, in ihm eine Andeutung über das Woher und Wohin des eigenen Seins zu empfangen, die dieses nicht als zufälligen Bestand ohne Grund und Begründung erscheinen lässt. Mit dieser Hoffnung auf Existenz-relevante Bedeutung sind zumindest die hier genannten Denker der Existenz noch zutiefst vertraut und versuchen sie zum Teil im Rahmen ihrer argumentativen Möglichkeiten zu erfüllen. Denn nur weil kein Akt göttlicher Kausalität oder metaphysischer Ursächlichkeit mehr als Sinn-stiftend angesehen wird, heißt es noch lange nicht, dass dem Sein selbst jede Sinnhaftigkeit abgesprochen werden müsste. Dem Das Sein und das Nichts, S.189. «Doch das Sein, auf das hin sich die menschliche-Realität überschreitet, ist nicht ein transzendenter Gott: es ist innerhalb ihrer selbst, es ist nur sie selbst als Totalität.» Das Sein und das Nichts, S.190. 282 Das Sein und das Nichts, S.37 f. 280
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Nachweis dieser Tatsache dienten die vorgestellten Konzeptionen von Existenz. Nach Sartres Aussage zeigt sich im Fokus der Frage nach dem Sinn des Seins das Seinsphänomen, also in der Weise seines Erscheinens. Damit es aber überhaupt möglich ist, von diesem Phänomen sprechen zu können, muss es sich dem Bewusstsein als zugänglich erweisen, es muss dessen Gegenstand werden können. Diese Akzentuierung ist immer wieder in Erinnerung zu rufen: Es geht Sartre nicht um die Diskussion des Seins an-sich, selbst dort nicht, wo von dessen Ansich die Rede ist, sondern durchgehend um die Überlegung, wie dieses Gegenstand unseres Bewusstseins werden könne. Die Zugriffsmöglichkeit auf das Seinsphänomen wird seiner Deutung nach durch das Nichtungsvermögen geschaffen, das partikularisiertes Sein hervorbringt. Ist dieser Ausdruck nicht zu stark, da er den Eindruck erwecken könnte, hier würde tatsächlich Sein in einem zuvor nicht bestehenden Modus erzeugt? Dieser Eindruck täuscht keineswegs und er trifft auf Sartres Denken zu. Denn die Partikularisierungsformen des Seins, die im Zuge der Nichtungsakte entstehen, repräsentieren einen eigenen Seins-Modus, den des Für-sich. Wenn es nun heißt, der Sinn des Seins bestehe im Seinsphänomen, dann lenkt diese Formulierung unmittelbar zu genau dieser Einsicht über. Der Sinn besteht darin, den Charakter des Seins als Erscheinung in seiner Bedingtheit durch das menschliche Nichtungsvermögen zu erfassen. Obwohl es im ersten Moment so klingt, als wolle Sartre auf eine ontologische Betrachtung eingehen und eine Bestimmung des Seins vornehmen, ist sein Anliegen doch phänomenologischer Natur, da es erklären will, wie Sein Gegenstand unseres Bewusstseins werden kann. Es ist bemerkenswert, dass Jean-Paul Sartre nicht einmal zwanzig Jahre nach Martin Heidegger erneut die Frage nach dem Sinn des Seins stellt, offensichtlich nicht durch die Tatsache beeinträchtigt, dass inzwischen ein weiterer Krieg Frankreich und Deutschland zu feindlichen Nationen hat werden lassen. Die Antwort, die er vornehmlich in Das Sein und das Nichts formuliert, fällt jedoch gänzlich anders als bei Heidegger aus. Während, um das vorwegzunehmen, für diesen der Sinn des Seins in der Zeitlichkeit denkbar wird, konzentriert sich Sartres Darstellung auf die Untersuchung von Sein und Bewusstsein. Ihr zentraler Inhalt besteht in der bereits genannten Erkenntnis, dass der Mensch selbst Ursache jener Seins-Partikularisierung ist, die ihn sein Dasein stets als defizitär erleben lässt. Denn es fehlt ihm, wenn es in dieser sehr bildlichen Weise ausgedrückt werden kann, stets genau das Sein, das er selbst negierte. Diese Bildlichkeit ist nicht optimal, weil sie mit der Vorstellung einhergeht, es gäbe eine überschaubare Masse an Sein, die der Mensch in seinen je individuellen Nichtungsakten teilt und je einen Teil davon als sein auf Nichtung gegründetes Dasein in Anspruch nimmt. Natürlich kann dieser Vorgang nicht in Mengen-Verhältnissen gedacht werden, um die es aber auch gar nicht geht. Der Nichtungsakt als solcher steht im Mittelpunkt, da er – um auf die ursprüngliche Überlegung zurückzukommen – Aufschluss über Sartres Verständnis von Sinn gibt. Die Dihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mension dieser Frage ist nicht geringer als sie es für die Denker der Existenz gewesen ist. Denn am Anfang seiner Schrift stellt Sartre die Erwägung an, wie das menschliche Sein beschaffen sein müsse, damit durch dieses Nichtung entstehen könne. Mit der Antwort wird die Dimensionierung der Sinn-Frage erkennbar, in der es auch bei ihm um nicht weniger als die Erklärung der Natur menschlichen Seins geht. Dieses Sein muss als identisch mit jenem Aktionsmodus betrachtet werden, den wir für gewöhnlich mit dem Begriff der Freiheit bezeichnen. Denn nach Sartres Überzeugung gibt es keine vorgängige Begründung, die dem Menschen die Ausrichtung seiner Nichtungsakte diktiert. Die einzige Bedingung dieser Akte ist das Nichtungsvermögen, dessen Wirkung Sartre an einer Stelle in besonderer Klarheit beschreibt: Damit die Totalität des Seins sich um uns herum als Utensilien anordnet, damit sie sich in differenzierte Gesamtheiten aufteilt, die aufeinander verweisen und verwendbar sein können, muß die Negation auftauchen, und zwar nicht als ein Ding unter anderen Dingen, sondern als eine kategoriale Rubrik, die die Anordnung und Aufteilung der großen Seinsmassen in Dinge leitet.283
Auf die vielleicht ein wenig plakativ gehaltene Formulierung, der Mensch sei zur Freiheit verurteilt, fällt an dieser Stelle ein etwas helleres Licht, als es der Humanismus-Vortrag allein hätte entzünden können. Wir sind durch unser Vermögen der Seins-Partikularisierung zur Nichtung jener vermeintlichen Totalität des Seins verurteilt, die uns fortan unser eigenes partikularisiertes Sein, dessen Urheber wir alleine sind, als unvollständig zu Bewusstsein bringt. Diesen Seins-Verursachenden bezeichnet Sartre als existierend, wobei er diese Titulierung nicht dem Menschen vorbehält, sondern dem, das Erscheinung werden kann. «Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es erscheint. […] Die Erscheinung verbirgt nicht das Wesen, sie enthüllt es: sie ist das Wesen.»284 Fast ein wenig beiläufig wurde gerade vermerkt, dass Sartre den Begriff der Existenz nicht für den Menschen reserviert. De facto trifft diese Feststellung zu, wird aber letztlich von ihm dadurch relativiert, dass er die Weise untersucht, in der Sein Gegenstand des Bewusstseins werden könne. Und diese Weise steht vermutlich nur dem Menschen offen. Die Ebene differenzierter Einzelfallbeschreibungen verlassend fasst er die Folge, die sich aus dem Nichtungsvermögen für den Menschen ergibt, zusammen und akzentuiert dabei den bereits ausgeführten Gedanken, wonach auch das Entwerfen individuellen menschlichen Seins seiner formalen Struktur nach als Nichtungsakt aufzufassen sei: «So hängt das Ich, das ich bin, an ihm selbst von dem Ich ab, das ich noch nicht bin, […].»285 Bis hierher könnte sogar von einer Konformität zu existenzphilosophischen Ansichten ausgegangen 283 284 285
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werden, die Existenz als entworfenes Sein betrachten. Doch die Folgerung, die Sartre dann formuliert, lässt die Kluft zu diesen Ansichten ungeschützt aufbrechen. «Und der Schwindel erscheint als das Erfassen dieser Abhängigkeit.» Da sich der Mensch als einzige Ursache seines Wirkens erfasst, dessen Auswirkungen sein zukünftiges Sein bestimmen werden, sieht er sich dem Faktum der völligen Richtungslosigkeit dieses Wirkens konfrontiert. «Von diesem Augenblick an spiele ich mit meinen Möglichkeiten.» heißt es etwas später, und die Formulierung klingt fast zu harmlos als Beschreibung der totalen Orientierungslosigkeit, in der sich Nichtungsakte zunächst realisieren. In seinem Humanismus-Vortrag, drei Jahre nach dem Erscheinen von Das Sein und das Nichts gehalten, klingt es dann bereits etwas anders, wenn Sartre auf das Wissen hinweist, jede Entscheidung müsse auch für den anderen Menschen gelten können. Doch in der Funktionsanalyse seines Hauptwerkes wird die Schonungslosigkeit seines Gedankens der ursächlichen Nichtung in ihrer ganzen ungebrochenen Radikalität erkennbar. Eine Formulierung wie die, mit den Möglichkeiten zu spielen, wäre einem der Existenz-Denker vermutlich niemals in den Sinn gekommen. Doch warum nicht? Steht der Einzelne nicht vor einer ebenso erschreckenden Gleich-Wertigkeit seiner Möglichkeiten, die letztlich die eine nicht sinnvoller erscheinen lässt als die andere? Gibt es im existenzphilosophischen Kontext also doch eine Orientierung, die das Wirken des Menschen in seiner Vereinzelung plausibel erklären könnte? Wird dort die Frage nach dem Sinn des Seins anders beantwortet als die Frage nach dem Sinn der Existenz? Zur Erinnerung sei noch einmal auf Sartres Erklärung geschaut. Für ihn besteht der Sinn des Seins im Seinsphänomen, wobei der Akzent auf dem Begriff des Phänomens liegt. Denn dem Sein als solchem kann kein Sinn zugeschrieben werden, sehr wohl aber der Bedeutung, die das eigene Vermögen des Menschen auf dessen Selbst-Bewusstheit hat. Sie führt ihm seine absolute Verantwortung für eigenes Handeln und dessen Auswirkungen auf den Anderen vor Augen und das in einem Seins-Milieu, das an sich keinerlei vorgängige Orientierungen anzubieten hat. Der schöne Gedanke der Möglichkeiten, selbst Grund des Eigen-Seins sein zu können, der das existentielle Denken so reizvoll erscheinen ließ, hat längst seine erschreckenden Ausmaße enthüllt. Denn aus der Möglichkeit ist eine Verpflichtung geworden, aus dem optimistischen Können, das zur Eigentlichkeit befähigt, das schwere Müssen des ununterbrochenen Vollzuges. Beide, Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger, stellen die Frage nach dem Sinn von Sein, und es ist Letzterer, der hierfür eine eindeutige Bestimmung dessen liefert, was er unter Sinn versteht. «Wenn innerweltliches Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn. Verstanden aber ist, strenggenommen, nicht der Sinn, sondern das Seiende, bzw. das Sein.»286 Beide Denker bedienen 286
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sich zwar einer unterschiedlichen Begrifflichkeit, wenn Heidegger dort, wo Sartre vom Bewusstsein spricht, das «Verstehen» erwähnt, doch wird es sich sogleich zeigen, dass ihre Auffassungen bemerkenswerte Parallelitäten aufweisen. Sartre legt Wert auf den Nachweis, dass der Sinn nicht als bestehender Gründungszusammenhang von Sein und Erkennen aufgefasst wird, sondern als Einsicht in die menschliche Aneignungsweise des theoretischen Seins-Bezuges. Ihn führte diese zum Gedanken der Nichtung, die den «besonderen Existentypus» erst konstituiert. Für Heidegger ist die Auffassung zentral, dass Verstehen, das, wie sich eingangs gezeigt hatte, immer schon durch den Seins-Bezug des Menschen gegeben ist, Sinn erschließt. Dieser bedingt aber aufgrund seiner Bindungsstruktur im Sein nicht ein durch den Menschen gesetztes Spezifikum als Dasein, sondern führt den Blick auf die Beschaffenheit der Zeit, die in der Zeitlichkeit erfasst wird. Diese artikuliert sich im menschlichen Vermögen des Vorlaufens, wie es in der Erscheinung der Sorge fassbar wird. Handelt es sich also um zwei differente Ausführungen ein und desselben grundsätzlichen Gedankens? Dieser würde besagen, dass sich im Sinn menschliches Vermögen erschließt. Zur Beantwortung dieser Frage ist ein kurzer Blick auf Heideggers Erläuterungen unverzichtbar. In Sein und Zeit heißt es: «Das Sein des Daseins ist die Sorge. […] Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens. Ob es den Grund gleich selbst nicht gelegt hat, ruht es in seiner Schwere, die ihm die Stimmung als Last offenbar macht.»287 Im ersten Moment erinnern diese Worte, obwohl der Zeit nach früher entstanden, an Sartres Sichtweise des Nichtungsvermögens, durch das der Mensch Grund seines partikularisierten Seins wird. Für eine nähere Prüfung ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem Heidegger das Motiv des GrundSeins thematisiert. Es ist der Kontext des Selbst-Sein-Könnens, das dem Menschen schon in der Verfassung des Man eignet, aus dieser aber gleichsam zur freien Reflexion aufgerufen werden muss.288 Das Motiv des Gewissens-Rufes dient Heidegger dazu, die Möglichkeit dieser Reflexion zu erläutern. Dass es dabei nicht um dessen alltägliches Verständnis geht, sondern dieses als Form genutzt wird, um Strukturmerkmale des Seins herausarbeiten zu können, versteht sich wohl von selbst.289 Der Ruf des Gewissens, so führt Heidegger seinen Gedanken fort, spricht das Dasein «als ‹schuldig›» an, und interpretiert die «formal Sein und Zeit, § 58, S.284. «Weil es [das Selbst] aber in das Man verloren ist, muß es sich zuvor finden. Um sich überhaupt zu finden, muß es ihm selbst in seiner möglichen Eigentlichkeit ‹gezeigt› werden. Das Dasein bedarf der Bezeugung eines Selbstseinkönnens, das es der Möglichkeit nach je schon ist.» Sein und Zeit, § 54, S.268. 289 «Bisher wurde lediglich versucht, das Gewissen als Phänomen des Daseins auf die ontologische Verfassung dieses Seienden zurückzuleiten. Das diente als Vorbereitung der Aufgabe, das Gewissen als eine im Dasein selbst liegende Bezeugung seines eigensten Seinkönnens verständlich zu machen.» Sein und Zeit, § 57, S.279. 287
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existenziale Idee des ‹schuldig›» als «Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.»290 Schemenhaft ist in dieser Formulierung noch immer der alltagssprachliche Gebrauch des SchuldigSeins zu erahnen, auch wenn Heidegger diesen lediglich als Inspiration, nicht als thematisch zielführend gelten lässt. Dieser Gebrauch dient ihm also dazu, das Phänomen des Grund-Seins für einen Mangel erfassen zu können, der vorliegt, wenn ein Mensch einem anderen etwas schuldig bleibt. Allzu tief scheinen sich die Überlegungen gerade in ein Detail der Lektüre von Sein und Zeit zu verstricken, und führen doch auf direktem Wege zum Vergleich der Ansichten von Sartre und Heidegger. Das menschliche Dasein, und nur von solchem kann als Dasein gesprochen werden, kennzeichnet sich durch die Motive von Vorfindlichkeit und Existenz, oder, um zwei andere Ausdrücke zu verwenden, von Faktizität und Möglichkeit. In diesem Sinne wurde der Begriff der Existenz bisher als konstanter Bestandteil existenzphilosophischen Denkens erkennbar. Ersterer weist Heidegger den Terminus der Geworfenheit zu, letzterer jenen des Entwurfs. In beiden Bestimmungsmodalitäten unseres Seins findet sich das Element der Nichtung, das den Blick sofort zurück zu Sartres Deutung, so wie sie hier zusammengefasst wurde, lenkt. Wir sind nicht Grund unseres eigenen Seins, in das wir geworfen sind, so argumentiert Heidegger, und produzieren in unseren Entwürfen permanent Nichtungen durch Wahl und Entscheidung. «Das Selbst, das als solches [in Wahl und Entscheidung] den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen [als in das Sein Geworfenes] nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen.»291 Wie schafft Heidegger aber von hier aus den Schritt zurück zum Gedanken des Schuldig-Seins? Im Entwurf der Existenz liegt seiner Auffassung nach ebenso das Charakteristikum der Nichtigkeit, das sich als deren Möglichkeit zu denken gibt, wie in der Geworfenheit, das heißt dem Sein, dessen Grund wir nicht sein können. Gleichwohl ist es uns möglich, dieses Faktum, nicht Grund des Seins sein zu können, als Grund des Existierens zu übernehmen. «Nicht durch es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um als dieser zu sein.»292 Die nächsten Worte Heideggers legen schließlich den Zusammenhang zum Schuldig-Sein-Können offen: «In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. Und sie ist der Grund für die Möglichkeit der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins […], als welches es je schon immer faktisch ist.»293 Etliche Seiten zuvor wurde im vorliegenden Zusammenhang festgehalten, dass die existentielle Bewegung nach existenzphilosophischem Verständnis einen qualitativen Bruch im Sein des Men290 291 292 293
Sein und Zeit, § 58, S.283. Sein und Zeit, § 58, S.284. Sein und Zeit, § 58, S.284 f. Sein und Zeit, § 58, S.285. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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schen bedeute. In Anbindung an Heideggers Begrifflichkeit kann dieser als Wandel von uneigentlichem zum eigentlichen Selbst-Sein bezeichnet werden. Seine gerade in aller Kürze beleuchteten Ausführungen sprechen dafür, dass Bruch und Wandel das Sein des Menschen ausmachen, das als Seins-Weise eben dieser qualitativen Veränderung fähig ist. In Wortwahl und Ausführung des Gedankens ähneln seine Bemerkungen, die sich in den beiden Paragraphen 57 und 58 konzentrieren, jenen von Jean-Paul Sartre tatsächlich. Doch muss für eine Beurteilung, die über diesen sichtbaren Befund hinausgreift, der inhaltliche Rahmen berücksichtigt werden, in dem beide ihre Bemerkungen zu Nicht und Nichtung vornehmen. Der Rahmen in Sein und Zeit ist insofern speziell, als er, wie angedeutet, vornehmlich dem Gedanken des Aufrufes zur Eigentlichkeit gilt. Damit gibt Heidegger dem Entwurfs-Geschehen der Existenz eine qualitative Auszeichnung, die sich bei Sartre nicht in vergleichbarer Weise findet. Das uneigentliche Selbst-Sein ist von Anfang an zwar als Sein des Selbst gegeben, gibt durch seine Kennzeichnung jedoch zu erkennen, dass noch eine andere – die eigentliche – Seins-Weise vorstellbar ist. Und da sie in der Konzeption vom Selbst-Sein angelegt ist, ohne dass gesagt werden könnte, woher diese Anlage stammt, verlangt sie nach Verwirklichung. Das wesentliche Sein-Können steht für den Menschen also aus, ist aber gleichwohl bereits in der Struktur des Werden-Könnens angezeigt. Im Grunde bedient Heidegger sich hier einer sehr konventionellen Denkweise. Wollte er eine Begründung für die Aufforderung anführen, den Schritt zur Eigentlichkeit zu gehen, könnte er sich immer auf das aristotelische Modell von Vermögen und Verwirklichung berufen. Im uneigentlichen Sein liegt die Möglichkeit zum Eigentlichen, die es folglich zu realisieren gilt, ist doch nach diesem Modell die Verwirklichung stets wertvoller als das Vermögen. Teleologisch zentriert kann und soll die existentielle Bewegung stattfinden, ohne dass eine darüber hinausführende Begründung, die Ursache und Ziel erklärt, angeführt werden müsste. Seiner Auffassung nach ist menschliches Sein also von einem Zustand des ‹Noch-Nicht› gekennzeichnet, in dessen Verwirklichung, die wir in «vorlaufender Entschlossenheit» erfassen, er das Wesensmerkmal dieses Seins sieht: Das Vorlaufen macht das Dasein eigentlich zukünftig, so zwar, daß das Vorlaufen selbst nur möglich ist, sofern das Dasein als seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt, das heißt in seinem Sein überhaupt zukünftig ist. Die vorlaufende Entschlossenheit versteht das Dasein in seinem wesenhaften Schuldigsein. Dieses Verstehen besagt, das Schuldigsein existierend übernehmen, als geworfener Grund der Nichtigkeit sein.294
In zweifacher Hinsicht sind diese Zeilen aufschlussreich. Zum einen bestätigen sie, dass die Ausrichtung des menschlichen Seins auf sein Existieren-Können in der Struktur des Seins begründet ist, die als ihre Zeitlichkeit auszumachen ist. Der Begriff des Schuldigseins spielt hier offensiv mit den beiden Deutungsvarian294
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ten, die Heidegger zuvor formal getrennt hatte. Die Deutung im Sinne eines Schuldig-Seins hatte er dabei zwar ausgeklammert, lässt hier aber eine minimale Anspielung dennoch zu, da das eigentliche Sein dem Menschen möglich ist und er es infolgedessen zu ergreifen hat. Die Deutung im Sinne des Grund-Seins wird in obigen Worten präferiert, läuft aber inhaltlich letztlich auf dasselbe hinaus. Als geworfen in die Faktizität des Seins, für die der Mensch niemals Grund sein kann, hat er Grund zu sein, und zwar für die Übernahme dieser Geworfenheit in seinem existentiellen Entwurf. Der andere Aspekt, der im Zitat sehr klar zum Ausdruck kommt, führt zur Frage nach dem Sinn des Seins zurück, denn er thematisiert das Verstehen des Zusammenhanges von Sein und Zukunft. Damit liegt nun eine Grundlage dafür vor, den Begriff des Sinns näher zu beleuchten. Es geht weder Heidegger noch Sartre darum, die große Frage nach dem Woher und Wohin insgesamt zu stellen, da in ihrer ontologisch zentrierten Betrachtungsweise ohnehin keine Antwort gefunden werden könnte. Alle Erklärung der Frage nach dem Sinn von Sein, die beide artikulieren, muss aus dem Denken des Seins geschöpft werden. Dessen Struktur gilt es zu verstehen, wie gerade zu lesen war. Der Sinn des Seins liegt im Verstehen des Seins, darin stimmen beide Positionen überein. Dieses Ergebnis wird auch nicht davon beeinträchtigt, dass sich Sartre einer teleologisch ausgerichteten Deutung der Nichtungs-Bewegung, wie Heidegger sie vornimmt, nicht anschließen könnte. Für ihn gibt es nicht die Annahme einer Seins-Weise, die wir zu übernehmen haben, weil wir ihrer fähig sind. Die Einsicht in die Struktur des Seins, die seiner Auffassung nach als sinnhaft betrachtet werden kann, zeigt etwas ganz anderes. Auch er könnte nicht davon ausgehen, dass wir Grund unserer Faktizität sein würden. Doch sind wir Grund unserer eigenen Seins-Nichtung, insofern wir uns als partikuläres Sein konstituieren. Dadurch könnte mit Sartre konstatiert werden, dass wir Grund unseres Daseins sind, oder unseres Für-sich-Seins, um einen Ausdruck von ihm zu übernehmen. Diese Behauptung wiederum wäre für Heidegger inakzeptabel, da selbst das Dasein sich noch unserer Prägungskraft verschließt. Die einzige Seins-Weise, als deren Grund wir uns erkennen können, ist die Existenz. Nach dieser in groben Zügen vergleichenden Betrachtung steht nun fest, dass für Heidegger und Sartre der Sinn des Seins im Verstehen des Seins liegt. Kann dieser Befund auch mit Blick auf Heinrich Barths Deutung bestätigt werden? Bereits wiederholt wurde auf die Bedeutung des Transzendentalen im Denken Heinrich Barths hingewiesen. In ihm sieht er das Prinzip aller Einheit der Erkenntnis, deren Vollzug er als Existenz bezeichnet. In dieser Weise wird es auch für die Frage nach dem Sinn relevant: «Das Transzendentale ist nicht ein ‹an sich› Seiendes, vielmehr die sinngebende Voraussetzung der sich aktualisierenden Existenz. […] die Aktualisierung existentieller Erkenntnis wird ihrerseits
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sinnlos in der Ablösung von ihrem transzendentalen Prinzip.»295 Auch für Barth spielt sich die Frage nach dem Sinn im Kontext der Frage nach dem Verstehen des Seins ab. Noch deutlicher als Heidegger und Sartre konkretisiert er sie auf das Sein des Menschen, dem er eine exzeptionelle Qualität attestiert: «Allein ‹Mensch› ist er in seiner transzendental-transzendierenden Bezogenheit auf die existentielle Voraussetzung existentieller Erkenntnis. […] Erst darin liegt eine Erkenntnis des ‹Sinnes› der menschlichen Existenz.»296 Bis zu diesem Punkt bleibt Barth strikt im Kontext seiner Erkenntnis-basierten Deutung von Existenz und bestätigt damit grundsätzlich die bereits von den beiden Anderen vertretene Auffassung, dass uns die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zum Verstehen des Seins führt. Barth würde allerdings eine Korrektur in der Weise vornehmen, dass er nicht vom Verstehen von Sein, sondern vom Wesen der Erkenntnis sprechen würde. Dann geht er aber einen Schritt weiter und nimmt den Begriff der «Bestimmung» in seine Überlegungen auf: Diesen ‹Sinn› sprechen wir aus als die ‹Bestimmung› des Menschen. Sie ist eine Bestimmung zum ‹Guten›. Denn eine Ausrichtung der Existenz hat ihren transzendierenden Bezugspunkt im transzendental verstandenen ‹Sollen›, in dessen Erkenntnis der Mensch zu einer Sinnerfüllung seiner Existenz im Guten aufgerufen ist.297
Weder Sartre noch Heidegger formuliert eine vergleichbar offensichtliche Verknüpfung der Deutungen von «Sinn» und «Bestimmung», auch wenn Letzterer ihr grundsätzlich hätte zustimmen können. Denn eigentliches Sein verwirklicht ein Können, das auch nach seinem Dafürhalten zu einer «Existenz im Guten» führen würde. Der Hinweis, dass damit noch nicht von einer Existenz im moralisch guten Sinne die Rede ist, mag sich erübrigen. Die Formulierung «im Guten» besagt, wenn sie in eine andere Begrifflichkeit übersetzt würde, im Richtigen, das dadurch als solches erscheint, dass es der «Erfüllung» des Sinns menschlicher Existenz entspricht. Bisher wurden die Positionen von Heidegger und Barth eher kontrastierend kommentiert, da sie durch ihre Fundierung im Seins-Denken beziehungsweise im Verständnis von Erkenntnis eine grundsätzlich unterschiedliche Ausrichtung der existentiellen Bewegung implizieren. In dem Gedanken, dass der Sinn menschlicher Existenz durch das Verstehen seiner Struktur-Bezogenheit auf ein Anderes, das einmal das Sein und einmal das transzendentale Prinzip der Erkenntnis ist, bestimmt wird, ähneln sie einander nicht unerheblich. Sartres Auffassung würde hingegen, obwohl auch sie Sinn als Verstehen zeigt, deutlich abweichen, da er keinerlei Vorgängigkeit, die nicht im menschlichen Nichtungsvermögen gründet, akzeptieren könnte. Das An-sich-Sein käme hierfür deshalb nicht in Betracht, weil es erst in den Partikularisierungsakten des 295 296 297
Erkenntnis der Existenz, S.355 f. Erkenntnis der Existenz, S.356. Erkenntnis der Existenz, S.356. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Menschen überhaupt denkbar wird, anders als das Sein im Verständnis Heideggers, das zwar im Konkreten erscheint, dafür aber nicht der Nichtung bedarf. Heinrich Barth spricht nun aus, was Heidegger intendiert, doch nicht in dieser Dezidiertheit ausdrückt: Existenz ist Sein im Guten beziehungsweise im Richtigen. Aus dieser Perspektive betrachtet erübrigt sich jede weitere Spekulation über eine Motivation, die eventuell zur Existenz aufrufen könnte. Denn der Gedanke des Guten ist immer schon in ihrer Natur enthalten, und zwar als Wissen um die zu erfüllende Verwirklichung. Konnte bisher mit den am jeweils individuellen Denken orientierten Einschränkungen die Deutung von Sinn als Verstehen des Seins bestätigt werden, liegt es nahe, in einer Konzeption, die dieser Folgerung zugetan ist, auf das Verstehen eines Werden-Sollens zu schließen. Damit ist keine detaillierte Definition imperativischer Weisungen gemeint, sondern die Einsicht, dass der Mensch sein Sein-Können im Zuge existentieller Bewegung zu verwirklichen hat. Diese Folgerung gilt für das Denken von Martin Heidegger und Heinrich Barth, wohingegen ihr Jean-Paul Sartre nur in einem einzigen Moment zustimmen könnte, nämlich dann, wenn der Mensch erkennt, dass er die Konsequenzen seiner Seins-Nichtungen zu übernehmen hat. Damit erscheint der Einzelne als Grund seines Seins im Zustand des Defizitären. Das Eigentlich-Werden als Aufgabe, die aus dem Verstehen des Könnens ersichtlich wird, kann bei Heidegger nachgewiesen werden und widerspricht auch Barths Auffassung nicht. Wie steht es aber mit einer solchen Sichtweise im Denken von Karl Jaspers? Um noch einmal die deutlich geringere Aufmerksamkeit zu begründen, die seinem Werk im Vergleich zu den übrigen geschenkt wird: Sein Denken wird in wenigen Punkten berücksichtigt, um eventuelle Konstanten der Existenzphilosophie auffinden zu können. Zielführend für die weiteren Überlegungen ist es aufgrund seiner kaum zu übersehenden Affinität zum Glaubens-Verständnis nicht. Aufschlussreich im vorliegenden Zusammenhang ist der Begriff der «Unbefriedigung», den er vor allem in Philosophie II erläutert: Da die Welt sich für kein Wissen in sich schließt, keine richtige Einrichtung des Daseins als die endgültige möglich und kein absolutes Endziel in der Welt als das Eine für alle sichtbar ist, muß die Unbefriedigung um so entschiedener werden, je klarer mein Wissen […] ist. Diese Unbefriedigung […] ist der Ausdruck des Seins möglicher Existenz, die […] nicht ein Anderes versteht, sondern sich selbst.298
Auch hier steht der Gedanke des Verstehens im Mittelpunkt, und zwar mit genau jener Akzentuierung, die sich bereits abzeichnete. Wenn im philosophischen Kontext vom Verstehen gesprochen wird, drängt sich die Vermutung auf, dass es Zielpunkt eines Strebens ist, das sich als Erkenntnis-Interesse äußern kann. Eine Frage wird benannt, Mittel zu ihrer Beantwortung ausgewählt, methodische 298
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Überlegungen zur Präsentation des Ergebnisses werden bestimmt. Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass ein solches Verstehen-Wollen einem vorgängigen Verständnis-Defizit folgt, das als korrekturbedürftig ausgewiesen wird. Schon Heidegger machte in Sein und Zeit darauf aufmerksam, dass das Fragen nach dem Sinn von Sein in einem Vorverständnis gründet, das das zu Erfragende überhaupt erst als zu Befragendes kenntlich macht. In Verallgemeinerung, die sich auch auf Karl Jaspers’ Auffassung stützt, kann vermerkt werden, dass existentielles Verstehen keinesfalls Produkt eines Erkenntnis-Strebens sein kann, da dieses – nicht nur nach Heideggers Ansicht – einem Interesse-bezogenen Zusammenhang entstammt und damit nicht zweckfreies Verstehen in der Existenz sein kann. Warum ist hier nicht vom Verstehen der Existenz die Rede? Bereits an früherer Stelle wurde erwähnt, dass es im Zuge der existentiellen Bewegung nahezu unmöglich ist, eine kausale Abfolge der einzelnen Realisierungs-Momente zu rekonstruieren. So geht die Vereinzelung des Menschen aus der Allgemeinheit und deren Meinungen zwar scheinbar zeitlich der Einsicht voraus, dass eine andere Weise des Seins möglich ist. De facto ist die Vereinzelung aber schon Ausdruck des Existieren-Könnens und nicht deren Voraussetzung. Wenn es bei Jaspers heißt, dass die «Unbefriedigung […] der Ausdruck des Seins möglicher Existenz» sei, bestätigt sich diese Feststellung. Dieses Element existentiellen Denkens mag im ersten Moment eher unbedeutend erscheinen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, hängen von ihm doch gewichtige Konsequenzen für die Deutung des existentiellen Geschehens an sich ab, die im weiteren Verlauf dieser Darstellung zu bedenken sein werden. Nur so viel schon jetzt: Selbst wenn Existenz als das dem Menschen Mögliche und eigentlich Entsprechende gewertet wird, kann ihr doch nach dem gerade ermittelten Befund offenbar schwerlich eine imperativische Weisung zugeordnet werden, die Existieren als erstrebenswert bezeichnet. Zumindest nach den Auffassungen von Heidegger und Jaspers kann der Mensch nicht existieren wollen, bevor er existiert. Hier scheint noch einmal die teilweise andere Verwendung des Existenz-Begriffes bei Jean-Paul Sartre durch, für den dieser zumindest in einer Bedeutung Faktizität signalisiert. In dem Fall wäre Existenz im Sinne der Bestandes vor dem Existieren als dem Verstehen des Seins denkbar. Aus der Perspektive, die gerade eingenommen wird, fällt noch einmal Licht auf das Motiv der Erschütterung, dem in den Konzeptionen von Kierkegaard, Rosenzweig, Heidegger und Jaspers eine unterschiedlich markante Rolle zugewiesen wird. Selbst in Sartres Denken kann eine vergleichbare situative Initiation ausfindig gemacht werden, die als spontan aufbrechendes Verstehen der eigenen Daseins-Verfassung erscheint. Hier könnte an sein Beispiel der Bergwanderung erinnert werden, während der dem Menschen plötzlich vor der Beliebigkeit seiner Möglichkeiten schaudert, die ihm in diesem Augenblick bewusst wird. In der Entstehungsgeschichte des existentiellen Denkens ist schon einmal ein Gedanke formuliert worden, der an das Motiv des nicht beabsichtigten Verstehens erinnert. In seiner Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung führt Arthur https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Schopenhauer aus, dass jene Einsicht, die es dem Menschen ermöglicht, sich als reines willenloses Subjekt der Erkenntnis zu begreifen, nicht Ziel des Wollens sein könne, da sie dadurch Ausdruck des Willens und nicht dessen momenthafte Überblendung im Verstehen sei. Kann daraus gefolgert werden, dass Erkenntnis, die der Beschaffenheit des Seins gilt, generell eher als eine Art Einsicht, um nicht sogar von einer Form philosophischen Offenbar-Werdens zu sprechen, aufzufassen ist? Die Beispiele der genannten Denker legen eine solche Annahme zumindest nahe. Einsicht in die Beschaffenheit des Seins ist – um den Zusammenhang mit der zuletzt bearbeiteten Fragestellung zu zeigen – der Inhalt dessen, was unter existenzphilosophischem Blickwinkel als Sinn gedeutet wird. Für Heidegger, Barth und Sartre, dessen existentialistische Position sich an diesem Punkt kaum differenzierend artikuliert, trifft diese Bemerkung zu. Inwieweit sie auch der Auffassung von Karl Jaspers entspricht, steht aktuell zur Klärung an. Bevor diese aufgegriffen werden kann, soll allerdings noch ein kurzer Schwenk zu Heinrich Barths Denken erfolgen, der den Aspekt des nicht beabsichtigen Verstehens betrifft. In seiner Theorie der Erkenntnis der Existenz kommt dem Erleben einer Erschütterung als erster Artikulation existentiellen Werden keine hervorzuhebende Funktion zu. Daraus könnte unmittelbar geschlossen werden, dass er ein Verständnis des Verstehens, das nicht einem Wollen entspringt, nicht teilen würde. Und tatsächlich ist in seiner Schrift von qualitativer Steigerung und Verdichtung existentieller Erkenntnis die Rede, was schlichtweg keinen Sinn ergeben würde, wäre diese als durch und durch nicht beabsichtigt zu begreifen. Hinzu kommt, dass das transzendentale Prinzip von Erkenntnis, dessen Reflexion er größte Aufmerksamkeit schenkt, sich jedem Erkenntnisakt erschließt, der Folge der Entscheidung ist. Allein schon dieser letzte Begriff zeigt, dass Barth hier eine grundsätzlich andere Sichtweise vertritt. Erkenntnis erscheint in seiner Darstellung als Prozess gerichteter Aufmerksamkeit und nicht als plötzlich aufbrechendes Verstehen, das Einblick in die Struktur des Seins und des Eigen-Seins in ihm gewährt. Aufgrund dieser anderen Bewertung von Erkenntnis fällt es Barth dann aber schwer, das spezifisch Existentielle an dieser Erkenntnis herauszuarbeiten, sofern es nicht in diesem Prozess gerichteten Interesses allein aufgehen soll. Einige Belege für diese Schwierigkeit wurden bereits knapp gestreift.
Merkmale der Erkennbarkeit Es gibt wenige Elemente, die Existenzphilosophie kennzeichnen und trotz aller Divergenzen im Detail als charakteristisch angesehen werden können. Hier sind die Begriffe Existenz, Vereinzelung und Entwurf zu nennen. Bereits an der Bedeutung der Erschütterung scheiden sich die Beurteilungen, wie sich gerade bestätigt. Wird ihr keine Relevanz für den Verlauf der existentiellen Bewegung attestiert, fällt diese selbst anders aus, was sich hier in der Unterscheidung https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Merkmale der Erkennbarkeit
zwischen Verständnis und Erkenntnis zeigt. Auch umgekehrt funktioniert dieser Gedanke: Setzt ein Autor Erkenntnis an die Stelle nicht beabsichtigen Verständnisses, kann er auf Überlegungen zur Erschütterung, die Ausdruck dieses Verstehens ist, ohne Weiteres verzichten. Unhaltbar wird ihre Annahme sogar dann, wenn die Bedeutung der Entscheidung zur Existenz fokussiert wird, wie es im Werk von Heinrich Barth beobachtet werden kann. Doch zurück zu Karl Jaspers und der Frage nach dem Sinn. Auch aus seiner Warte kann dieser grundsätzlich mit dem Gedanken des Verstehens in Zusammenhang gebracht werden, der nun aber andere Form annimmt. Denn schon allein der Begriff der «Unbefriedigung» kommt nur dann sinnvoll zum Einsatz, wenn er als verfehlte Entsprechung eines Erwarteten verstanden wird. Anders als bei Heidegger und Sartre scheint Jaspers also sehr wohl davon auszugehen, dass es ein Verlangen nach existentiellem Verstehen geben könne, das sich, wie der Mensch mehr und mehr begreift, nicht mit dem Wissen in der Welt befriedigen lässt. «Wenn ich im praktischen Leben Aufgaben als objektiv vorfinde, ergreife und nach dem Sinn frage, so bricht die Unbefriedigung hindurch durch jeden in der Welt begreifbaren Sinn.»299 Wie ist diese gänzlich differente Sichtweise erklärbar? Die Antwort muss auf Jaspers’ Bewertungen von Welt und Transzendenz Bezug nehmen. Unbefriedigung bezeichnet dieser als «daseinsadäquaten Zustand»300, was so viel heißt wie Zustand eigener Begründung zu sein, die eben nicht im Sein in der Welt, sondern im Selbst-Sein-Wollen wurzelt. Dieser Zustand, der auch als Seins-Weise betrachtet werden kann, hebt sich vom Sein in der Welt ab, denn: «Existenz steht, trotz Verwirklichung ihres Wesens allein durch diese Teilnahme am Weltdasein des geschichtlichen Prozesses, im Kampf gegen den dunklen Grund ihrer sie übergreifenden Welt, in dem sie sich findet und gegen den sie sich in der Ewigkeit eigentlichen Seins, in der Welt scheiternd, behaupten will.»301 Eine krassere Polarisierung ist kaum vorstellbar. Allein die Assoziationen, die durch Ausdrücke wie «dunkler Grund» und «Ewigkeit eigentlichen Seins» hervorgerufen werden, sprechen hier Bände. Martin Heidegger legt großen Wert auf die Feststellung, dass sich Existenz als Bewegung im eigentlichen Selbst-Sein nirgends sonst als in der Welt ereigne, in der sie gründet und in der sie sich verwirklicht, eine Auffassung, die in seinen Aufzeichnungen der 1950er Jahre immer tiefere Resonanz findet. Karl Jaspers verzichtet nicht nur auf den existentiellen Welt-Bezug, sondern fordert sogar dessen temporäre Aufkündigung. Warum kann er auf diesen Grund, ob er nun dunkel sei oder nicht, scheinbar problemlos verzichten? Weil er den Blick für den anderen Grund des Selbst-Seins freilegen will, den er als Transzendenz bezeichnet. Auch Jaspers verwendet die Formulierung des eigentlichen Selbst, das er jedoch meint, nicht aus dem Bestand der 299 300 301
Philosophie II, S.7. Philosophie II, S.6. Philosophie II, S.7. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Welt-Bezüge erklären zu können.302 Das Wissen um das Selbst-sein-Können ist anderen Ursprungs, der der Deutung Heideggers jedoch nicht an Gewissheit nachsteht. Denn dort ist die Unhinterfragbarkeit des Eigentlich-sein-Könnens aus der Erfahrung des welthaften Geschehens direkt abzulesen, während sie nach Jaspers’ Auffassung im Wissen um das Transzendente gründet. Beide Denker greifen auf die Begrifflichkeit von Schuld und Gewissen zurück, um den Forderungscharakter dieses Wissens illustrieren zu können. Die Verwendung des Motivs des Schuldig-Seins bei Heidegger konnte bereits thematisiert werden. Bei Jaspers zeigt sich eine grundsätzlich ähnlich klingende Darstellung, die aber wie gesagt unter anderer Prämisse zu lesen ist. Nicht in der Welt allein, sondern in Transzendenz gründet das eigentliche Selbst-Sein. «Wenn keine Transzendenz wäre, so wäre die Frage, warum ich denn wollen solle; es wäre nur noch Willkür ohne Schuld. Ich kann in der Tat nur wollen, wenn Transzendenz ist.»303 In seinen letzten Vorlesungen, die Karl Jaspers im Sommersemester 1961 hielt, findet sich eine Formulierung, die dazu beitragen kann, die Überlegung zu seinem SinnVerständnis zu erweitern. Dort spricht er vom «Bewusstsein des Unheils» und dem «Suchen des Heils», was er selbst sogleich in den folgenden Worten paraphrasiert: […] das Bewusstsein des Nicht-eigentlich-Seins, das Suchen dessen, was das Sein selber ist, was ich selber bin. Mit diesem fragenden Bewusstsein, […] geschieht ein Sprung im Menschen. […] mit diesem Sprung meine ich das, was immer im einzelnen Menschen geschieht. […] Er will nicht in den Konventionen der Gesellschaft, in der er geboren ist, einfach so mit leben und sein Geschick an sie binden; er spürt etwas anderes, wozu er da ist.304
Eine Chronologie der existentiellen Bewegung lässt sich, wie gesagt, schwerlich erstellen, da nicht eindeutig zwischen einzelnen Phasen unterschieden werden kann, die diese durchläuft. Darin liegt zu einem Großteil ihr besonderer Reiz, da sie so der Abfolge eines Planbaren und der Vorkehrungen, die für dessen Verwirklichung erforderlich sind, entgeht. Entscheidend ist in der Weise, in der es sich bisher zeigte, das Faktum, dass sie eher über den Menschen kommt, als dass sie von diesem gewünscht werden könnte. Die Elemente des Überraschenden, Unerwarteten und damit vielleicht zunächst auch Überfordernden haften der Vorstellung dieser Bewegung an, die sinnvoll, doch nicht organisiert, stringent, doch nicht zielgerichtet verläuft. Selbst unsere Möglichkeit, ihre Dringlichkeit zu verdrängen, uns gegen sie zu entscheidet, schwindet angesichts ihrer unmittelba302 «Aber dies Selbst, das ich eigentlich bin, weil ich es sein könnte, ist nicht schon da, sondern spricht aus dem Ursprung her, mich in der Bewegung zu führen; […].» Philosophie II, S.268. 303 Philosophie II, S.198. 304 Die Chiffern der Transzendenz, S.14 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Merkmale der Erkennbarkeit
ren Gegenwärtigkeit dahin. Da sie aus dem Gedanken des Seins entspringt, gibt es keinen Fürsprecher, der sie als erstrebenswert und verdienstlich ausweisen könnte – und doch erscheint sie, ist ihre Möglichkeit erst einmal freigelegt worden, als einzig gangbarer Weg. Die existentielle Bewegung lässt uns einen vermeintlichen Freiraum des Denkens ergreifen, ohne dass wir bereits wüssten, wie dieser zu nutzen wäre. Sie stellt bisher für sinnvoll Gehaltenes radikal infrage und nimmt in ihrer absolut unbegründeten Selbstverständlichkeit den Platz alles dessen ein, was wir für wichtig hielten. Sie verändert uns, ohne dass es eine einzige Stimme geben könnte, die uns über den Wert dieser Veränderung informiert. Sie vereinzelt uns, und es würde uns keinen Augenblick lang der Gedanke erfassen, dass dieses eine Vereinzelung auf Dauer sein wird. Sie setzt uns frei, ohne dass absehbar wäre, wohin uns diese Freiheit führen wird. Und dennoch erscheint sie uns als genau das, was uns entspricht. Diese Überzeugung zählt gewiss zu den faszinierendsten Annahmen der Philosophiegeschichte, die freilich das Denken, das sie zu erklären sucht, vor nicht unerhebliche Probleme stellt. Denn es soll ein Plädoyer für diese Bewegung sein, ohne sich auf einen Maßstab berufen zu können, der zwischen Erstrebenswertem und Irreführendem zu unterscheiden hilft. Heidegger versucht, ein Kriterium der Abwägung im Motiv der Zweckfreiheit zu benennen, doch verdeutlicht das die Schwierigkeit eher, als sie zu beheben. Denn warum sollte uns die Zweckfreiheit als besser, richtiger, eigentlicher erscheinen als die konsequente Ausrichtung auf ein zu erstrebendes Ziel? Und dennoch verliert der Gedanke der Existenz seinen Reiz nicht, der die Denker in den 1920er Jahren derart ergriff, dass sie bereit waren, um seiner Darstellung willen mit bewährten Bestandteilen philosophischer Form zu brechen. Selbst Sartre, der in den 1940er Jahren mit den Folgen des neuen Denkens ringt, zweifelt nicht an der Existenz selbst. Was treibt uns an, mit solch frappierender Beharrlichkeit an ihrem Bild festzuhalten? Karl Jaspers, dessen zuletzt zitierte Zeilen noch unkommentiert sind, könnte diese Frage vermutlich leichter beantworten als Heidegger oder Sartre. Denn er könnte sich immer auf den Gedanken des Transzendenten berufen, der uns eine Ahnung davon vermittelt, freigesetzt wie es selbst existieren zu können und zu sollen. Denn der Mensch, so lesen wir, ahnt, dass es etwas gäbe, wozu er da sei. Dieses Wozu ist geeignet, jede Überlegung zum Sinn des Existentiellen mit einem Handstreich als überflüssig erscheinen zu lassen, basiert es doch auf der Gewissheit, dass es sich um eine Bewegung der Annäherung an ein Anderes handelt. Das Woher dieser Annäherung hat er bereits eindeutig kenntlich gemacht. Es besteht in der Welt, von deren Belangen und Bezügen wir uns vorübergehend zu distanzieren haben. Eine Bewegung mit einem so definierbaren Ausgangspunkt wird konsequenterweise auch auf einen ebenso definierbaren Zielpunkt ausgerichtet sein, eine Feststellung, die ihren fast banalen Charakter keineswegs verbergen will. Denn wie sieht es diesbezüglich in Heideggers Vorstellung aus? Er spricht sich zwar für das Entwinden aus dem Man aus, doch entspricht dieser https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Aspekt noch nicht Jaspers’ Auffassung, da der Gegenbegriff zum Man durch das Selbst problemlos markiert werden kann. Geht aber auch Heidegger von einem eindeutig definierbaren Ausgangspunkt der existentiellen Bewegung aus? Genau das ist nicht der Fall. Wie mehrfach betont, verbleibt diese im Kontext des WeltBezuges. Ohne Angabe des Woher würde es ihm schwerfallen, das Woraufhin der Bewegung zu bestimmen. Alles, was er zu sagen vermag, ist, dass sie zum eigensten Selbst-Sein führt, das im Übrigen latent bereits im Man zu finden war. Die existentielle Bewegung, so wie sie von Heidegger skizziert wird, geschieht um unserer selbst willen, wobei damit kein solipsistischer Zirkel entsteht. Denn Selbst-Sein heißt bei ihm Eigentlich-Sein und eigentlich sind wir nicht für uns, sondern um des Anderen willen. Dieses begegnet uns in den Formatierungen von Welt und anderem Menschen. Für Karl Jaspers wäre diese sehr vereinfacht formulierte Auffassung nicht akzeptabel, da Selbst-Sein zwar auch Eigentlich-Sein bedeutet, dieses sich jedoch im Bezugsrahmen der Transzendenz erklärt. Schließlich weist er mehr als einmal darauf hin, dass wir uns in unserem Selbst-Sein nicht uns selbst verdanken, sondern einem ganz Anderen, dem er mitunter sogar die Nennung Gottes zur Seite stellt. Die letzten Bemerkungen, das wird offensichtlich sein, orientieren sich an der Vorstellung von Existenz als Bewegung, dem Bild, das Heinrich Barth in die Diskussion einbrachte. Die Ergänzung um die Frage ihres Woher und Woraufhin erfolgt, um Unterschiedlichkeiten zwischen den einzelnen Positionen plastisch hervorheben zu können. Denn danach gibt es für Barth und Jaspers die Fokussierung auf ein Anderes, das nicht per se Bestandteil des Seins ist, wie es sich als Welt-Sein darstellt. Vermutlich würde sich Heinrich Barth mit Recht dagegen verwahren, dass sein Begriff des Transzendentalen in einem Atemzug mit Karl Jaspers Auffassung von Transzendenz genannt wird. Denn er macht wiederholt deutlich, dass er das Prinzip aller Erkenntnis zu thematisieren gedenkt und nicht einen Inhalt von Erfahrung. Die Bezugnahme auf ein Prinzip erfolgt bei ihm nicht deshalb, um auf ein Erstes der Erkenntnis zu verweisen, sondern auf die Einheit des Erkennens, das sich, würde es nicht im Gedanken des Prinzipiellen aufgefangen, in eine nicht einem verbindenden Begriff zu subsumierende Vielheit zersetzen würde. Der Gedanke des Transzendentalen ist seiner Überzeugung nach dazu geeignet, diese Zersetzung, die letztlich philosophische Aussagen über Erkenntnis verhindern würde, aufzuhalten. Unter einem einzigen Gesichtspunkt erscheint es gerechtfertigt, Karl Jaspers’ Begriff der Transzendenz dieser Auffassung von Heinrich Barth anzunähern. Es gilt, nach einer eventuellen funktionalen Entsprechung beider Begriffe zu fragen. Die Bedeutung, die Barth dem Transzendentalen zuweist, besteht, um es noch einmal zu bestätigen, in der Vereinheitlichung individueller Erkenntnisakte, wie sie gerade vor dem Hintergrund seiner Sichtweise existentieller Erkenntnis unverzichtbar ist. Wenngleich er nicht sonderlich großen argumentativen Aufwand betreibt, um die Innovation des Gedankens vom Einzelnen hervorzuheben, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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die für frühere Konzeptionen von Existenzphilosophie entscheidend war, hält er doch grundsätzlich an diesem Motiv fest. Aufgrund seiner Unterscheidung von theoretischer und existentieller Erkenntnis wird die Annahme einer Diversifizierung der Erkenntnisakte zu einer Herausforderung für sein Denken. Denn Letztere zeichnet sich durch jenes hohe Maß an individueller Beteiligung aus, das es durch den Nachweis auf die Einheitlichkeit von Erkenntnis aufzufangen gilt. So erklärt sich zumindest sein Anliegen, diese begründen zu wollen. Es könnte allerdings doch gefragt werden, wie stark die Beweislast hier tatsächlich ist. Sprechen wir von Erkenntnis im philosophischen Sinne, so könnte behauptet werden, es sei nicht von Belang, wer sie in welcher Situation und unter welchen individuellen Bedingungen betreibt, da sie sich durch ihre kognitive Funktion, nicht durch die Person des Erkenntnis-Treibenden definiert. Für den Teil theoretisch bestimmter Erkenntnis trifft diese Ansicht auch aus Heinrich Barths Sicht zu. Das Problem entsteht durch seine Einwilligung, parallel auch die Möglichkeit existentieller Erkenntnis zu reflektieren. Denn in dem Moment, in dem er deren Gedanken zulässt, verschiebt sich die Bestimmung der Erkenntnis von ihrer funktionalen auf eine personale Ebene. Auf einmal werden Fragen relevant, die unter Voraussetzung der theoretischen Erkenntnis nicht zu berücksichtigen waren. Ein kurzer Rückblick darauf, wie er deren existentielles Pendant charakterisiert, ist an dieser Stelle nützlich. «‹Existenz› ist uns als solche ein Problem der Erkenntnis. Wenn uns ‹exsistere› ein ‹Hinaustreten› bedeutet, ein Hinaustreten in die offenen Möglichkeiten zukünftigen Seins des Menschen, dann verstehen wir dieses ‹Ex-sistieren› als einen Akt der Erkenntnis.»305 Diese muss jedoch als individuell differenziert betrachtet werden, wäre doch andernfalls eine Unmöglichkeit nicht erklärbar, auf die Barth aufmerksam macht: Die Unmöglichkeit, Existenz zum Gegenstand von Erkenntnis zu erklären.306 Die Folgerung, die zu ziehen ist, liest sich in seiner Diktion folgendermaßen: «Wir haben uns bereits abgegrenzt gegen die Auffassung, Existenz sei ein an sich dunkler Gegenstand, der alsdann von der Erkenntnis ‹erhellt› wird.»307 Statt dessen muss sie sich auf anderem Wege erschließen, nämlich demjenigen existentiellen Erkennens. Hier greift nicht die sonst im Kontext der Erkenntnis gültige Differenzierung zwischen dem Subjekt und seinem Gegenstand, sondern in letzterem Fall wird sich das Subjekt, wenn an der begrifflichen Spaltung überhaupt festgehalten werden soll, selbst zum Objekt, insofern der Sinn der Existenz immer nur über den Rückgriff auf das erken-
Erkenntnis der Existenz, S.129. «Mag die ‹Theorie› noch so tiefe Möglichkeiten und Wirklichkeiten in sich schließen, so ist es doch nicht möglich, auch die Existenz als Theorie oder als Sache der Theorie zu verstehen.» Erkenntnis der Existenz, S.131. 307 Erkenntnis der Existenz, S.135. 305 306
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nende Individuum zu fassen ist.308 Denn dieses begreift sich eben nicht in Kontrastierung eines Gegenstandes der Erkenntnis, sondern in deren Vollzug, das heißt in diesem Zusammenhang, über die existentielle Entscheidung. «Darum sagen wir zu wenig, wenn wir die Entscheidung ‹auf Erkenntnis beruhen› lassen – als auf etwas, zu dem sie erst sekundär in Beziehung treten würde. Entscheidung wird zum Ereignis als aktuelle Erkenntnis.»309 Und da die Entscheidungen, die angeben, was zukünftig sein soll, so vielfältig sind wie die Individuen, die sie treffen, entsteht für Heinrich Barth die Notwendigkeit, deren Zusammenhang durch die Angabe eines einenden Prinzips der Erkenntnis zu erweisen. Besteht eine solche Notwendigkeit aber nicht bereits in Ansehung der theoretischen Erkenntnis? Diese scheint doch, soll sie nach Kantischer Vorgabe auf Erfahrung beruhen, selbst kein Einheit-bietendes Element in sich zu enthalten, weshalb sich der Rückgriff auf die Vernunft als deren vereinheitlichendes Konstituens angeboten hatte. Dieser Rückgriff reicht nach Barths eigenen Worten jedoch nicht aus, um die Einheitlichkeit existentieller Erkenntnis zu belegen.310 Um nachzuweisen, dass «alle Erkenntnis […] auf transzendentaler Voraussetzung» beruhe, muss er diese auch für die existentielle Erkenntnis aufzeigen können. Unter Bezugnahme auf den Begriff der Wahrheit, der hier jedoch nicht weiter verfolgt werden wird, schafft Barth eine Möglichkeit, diese Voraussetzung tatsächlich für «alle» Erkenntnis kenntlich zu machen. Was im Falle der theoretischen Erkenntnis gilt, dass «‹Wahr› […] das Offenbarwerden des Seienden in seinem Sein» sei, zeigt sich im Falle der existentiellen Erkenntnis in ihrer vorgreifenden Bestätigung des Sein-Sollens, die in der Entscheidung des zukünftigen Seins getroffen wird.311 Auch diesen Zusammenhang erschließt Barth über seinen Hinweis auf das Transzendentale. Diese etwas weiter ausholende Erläuterung war erforderlich, um ein Kriterium sichtbar werden zu lassen, das Ansichten, die erklärtermaßen der Explikation der Existenz gelten, unterscheidet. Im Detail geht es um die Frage, ob für die «Wie wir bereits bekannt gegeben haben, können wir uns mit einer Subjekt-Objekt-Philosophie, mag sie unter diesem oder jenem Akzente stehen, nicht abfinden. Erkenntnis der Existenz, S.158. 309 Erkenntnis der Existenz, S.138 f. 310 «Diese transzendentalphilosophischen Überlegungen, die wir im Anschluß an Kants ‹Transzendentale Deduktion der Verstandesbegriff› vollziehen, bewegen sich im Horizonte der theoretischen Vernunft und sind offenkundig nicht imstande, der Erkenntnisfrage der Existenzphilosophie gerecht zu werden.» Erkenntnis der Existenz, S.227. 311 «Die ‹Wahrheit›, ausgesprochen auch als ‹Wahrhaftigkeit›, gewinnt in weiten Lebensbereichen eine existentiell relevante Bedeutung. Sie hat nicht nur erhellenden, sondern auch verpflichten Charakter. […] Die existentiell verstandene Wahrheit ist freilich aller theoretischen Objektivierung unzugänglich. Nur in der existentiellen Entscheidung, nicht neben ihr, nur in der aktuellen Lebenslage, nicht in ihrer Betrachtung, ereignet sich die Ausrichtung auf existentielle Wahrheit.» Erkenntnis der Existenz, S.231. 308
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existentielle Bewegung in jedem Fall Ausgangspunkt und Ziel-Ausrichtung nachgewiesen werden können. Diese Überlegung ist deshalb relevant, weil sie zur Beurteilung des Gedankens der offenen Ausrichtung dieser Bewegung beiträgt. Würde sich zeigen, dass alle Denker dieser kleinen Auswahl im Sinne Heinrich Barths argumentieren, wäre dieser Gedanke auf ganzer Linie hinfällig. Denn zeigt sich das Woraufhin der Bewegung als etwas Anderes als das Sein, aus dem sie hervorgeht, wie es bei der Feststellung des Transzendentalen zutrifft, greift sofort die Vorstellung einer Priorisierung im Sinne differenzierender Wertigkeit. Warum sonst würde Heinrich Barth den Hinweis wiederholt für angezeigt halten, dass sich Existenzphilosophie mit ihrer Gründung in Ontologie keinesfalls zufriedengeben könne? Bevor der Gedankengang weiter vorangetrieben wird, ist eine Bemerkung wichtig. Wenn etwa von Priorisierung, Ausrichtung auf das Transzendentale und existentieller Wahrheit die Rede ist, gelten solche Äußerungen natürlich nicht dem konkreten Existenz-Vollzug, sondern dessen philosophischer Reflexion. Diese scheint in ihren hier betrachteten Artikulationen vornehmlich deskriptiver Natur zu sein. Allmählich wird jedoch immer deutlicher sichtbar, dass ihr darüber hinaus auch Weisungscharakter zukommt, was es im weiteren Verlauf zu bestätigen gilt. Um also auf das Motiv der Priorisierung zurückzukommen, das sich aus den Darlegungen Heinrich Barths ablesen lässt, ist weniger deren Durchführung interessant, als vielmehr ihre Konsequenzen. Was bedeutet für eine Philosophie, die menschliche Selbst-Werdungsprozesse thematisiert, die Feststellung, alle Erkenntnis beruhe auf transzendentaler Voraussetzung? Es bedeutet, dass eine solche Philosophie nur mit äußerster Mühe die Relevanz der Welt-Bezüge des Menschen als werthaft bestimmen kann. Genau das bestätigt der Blick auf Heinrich Barths Erkenntnis der Existenz, wie auch auf Karl Jaspers’ Philosophie II. Denn Existenz-Erfüllung vollzieht sich nach Auffassung beider in einem Raum relativer Welt-Ferne. Werden im Moment nicht Aspekte ganz unterschiedlicher Natur durcheinandergewirbelt? Unsere Welt-Bezüge äußern sich als Bindungen realer Beschaffenheit, indem wir beispielsweise Erfahrungen machen, die uns unsere Um-Welt erleben lassen. Hier geht es um ganz und gar konkrete Relationen zu Seiendem, das in den unterschiedlichsten Figurationen begegnen kann und gleichwohl unsere Aufmerksamkeit, unser Interesse, unsere Ängstlichkeit und unser Entzücken hervorrufen kann. Solche Erfahrungen sind stets einmalig, zeitlich begrenzt und individuell differenziert. Wenn wir hingegen von der Ausrichtung auf das Transzendentale sprechen, bewegen wir uns auf der Ebene theoretischer Erwägungen. Es handelt sich also in der Tat um zu unterscheidende Nuancen der Betrachtung und Darstellung, was der Aussage zur relativen Welt-Ferne allerdings sogar noch mehr Gewicht verleiht. Denn da im Falle Heinrich Barths das Andere des Denkens als Prinzip des Erkennens ausgewiesen wird, liegt auf ihm sofort eine Auszeichnung den Welt-Begegnungen gegenüber, die sich letztlich nicht mehr relativieren ließe, selbst wenn das beabsichtigt würde. Die existentielle Bewegung führt zur Erhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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kenntnis der Existenz und diese wurzelt in einer priorisierten Setzung, dem Transzendentalen, die sich nie und nimmer zur Gänze aus dem Sein wird ableiten lassen. Darauf weist Barth mit Nachdruck hin. Wird dieses Faktum, das es aus seiner Sicht ist, noch einen Schritt weiterverfolgt, zeigt sich eine problematische Konsequenz. Das eigentliche Sein ereignet sich jenseits der Welt. Es ist diese Folgerung, die dazu führt, die Konzeption von Heinrich Barth am Ende als Modell zu begründender Existenzphilosophie auszuschließen. Denn Grundlage der hier vertretenen Ansicht ist die Überzeugung, dass ein Geschehen, das unsere Aufmerksamkeit von unserem Sein in der Welt ablenkt, für ein Verständnis von Existenz letztlich unfruchtbar sein wird. Hierauf wird zurückzukommen sein. Wenige Seiten zuvor wurden Heinrich Barth und Karl Jaspers als Repräsentanten der entgegengesetzten Auffassung genannt. Inwieweit trifft diese Klassifizierung nun auch für das Denken der Transzendenz zu? Auf die Forderung, das Selbst müsse sich von der Welt distanzieren, um frei für die existentielle Bewegung zu werden, wurde bereits eingegangen. Daher genügt an dieser Stelle eine kurze Erinnerung. Auch mit Blick auf das Denken von Karl Jaspers gilt die Frage nach Ausgangspunkt und Zielrichtung des Existenz-Vollzugs. Der Begriff des Ausgangspunktes ist in diesem Fall bildlich zu verstehen, denn zur Erfüllung der Möglichkeit von Existenz ist ein Heraustreten aus den Welt-Bezügen unverzichtbar, womit zugleich das Woraufhin gesetzt ist. Hierbei handelt es sich nicht um eine Vorstellung bloßer Negation, in der als Ziel der Bewegung etwas anzunehmen ist, das als das andere Sein verstanden werden kann. Das Andere erscheint bei Jaspers vielmehr als das Eigentliche, das wir seiner Deutung gemäß mit der intuitiven Sicherheit des Vertrauenden anstreben. Und ein Anstreben liegt dort tatsächlich vor, wie allein die Wortwahl der Unbefriedigung mit dem Wissen um das Sein der Welt veranschaulicht. Doch wie gewinnen wir diese Sicherheit, die uns vertrauen, die uns glauben lässt? Es liegt in der Natur ihres Charakters, dass wir eine direkte Antwort kaum zu geben vermögen. Denn das würde voraussetzen, dass wir ein Anderes benennen, das nicht mit uns identisch, doch uns zugänglich ist, weshalb es, auch wenn die Formulierung irritieren mag, als das relativ Andere bezeichnet werden kann, als jenes nämlich, das uns nie vollständig offenbar wird, uns aber auch niemals für alle Zeit verschlossen bleiben kann, weil es das Denken ist, das uns uns selbst begreifen lehrt. Mit der Erwähnung dieser Sichtweise des relativ Anderen wird ein Begriff eingeführt, den Karl Jaspers vor allem in seinen Vorlesungen 1947 in Basel thematisiert – der Begriff des «Umgreifenden». Zur Erläuterung dessen, was er als philosophischen Glauben bezeichnet, schreibt er: Wenn Glaube weder nur Inhalt noch nur ein Akt des Subjekts ist, sondern seine Wurzel hat in dem, was die Erscheinungshaftigkeit trägt, dann ist er zu vergegenwärtigen nur mit dem, was weder Objekt noch Subjekt, sondern beides in Einem, das in der Spaltung von Subjekt und Objekt Erscheinende ist. Wir nennen das Sein, das weder nur Subjekt, noch
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nur Objekt ist, das vielmehr in der Subjekt-Objekt-Spaltung auf beiden Seiten ist, das Umgreifende.312
Vielleicht verwundert es, dass Karl Jaspers hier von Spaltung spricht, wo es doch im Grunde darum geht, die im Erkenntnisprozess für unverzichtbar gehaltene Trennung von Erkennendem und Erkanntem aufzuheben. Mit einer schlichten Aufhebung, die nur auf der Basis eines Aktes der Negation funktionieren würde, ist noch nicht genug erreicht, das zeigen diese Zeilen überdeutlich. Daher ist eine Spaltung zu erwägen, die die Vorstellung von Erkennendem und Erkanntem in ihrer je eigenen Beschaffenheit unangetastet lässt, die Divergenz beider jedoch in einer einzigen Vorstellung des erkennenden Erkannten zu überbrücken sucht. Warum erscheint Vermittlung in einem Kontext, den Jaspers als Glauben einführt, das geeignete Mittel zu sein, um eine allzu leicht als irrational abzustempelnde Form der Seins-Erfahrung zu erklären? Aus dem Grunde, weil es sich aller begrifflichen Vorbehalte zum Trotz um eine Erfahrung handelt, nämlich um die Erfahrung, zu sein und in einem Kontext des Erfahrbaren – dem Umgreifenden – aufgehoben zu sein. So erfährt sich das erkennende Subjekt in einem Objekt seiner Erkenntnis, das nicht das Andere seiner selbst ist, sondern es selbst im Anderen. Diese Sichtweise ist allemal dazu geeignet, der Annahme zu widersprechen, Jaspers wolle durch seinen Hinweis auf Transzendenz eine Entwertung des Welt-Seins rechtfertigen. Denn seine Charakterisierung der Weisen des Umgreifenden kann massive Zweifel an der Gültigkeit dieser Vermutung schüren: Das Umgreifende ist entweder das Sein an sich, von dem wir umfangen sind, oder es ist das Sein, das wir sind. Das Sein, das uns umfängt, heißt Welt und Transzendenz. Das Sein, das wir sind, heißt Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist, heißt Existenz. […] Dieses Sein, das ist, auch ohne daß wir sind, […] ist die Welt, das ist: das Sein, von dem eine Seite unseres Wesens doch ein winziger Teil ist, […] es ist die Transzendenz, das ist: das Sein, das das uns schlechthin andere ist, an dem wir keinen Teil haben, aber in dem wir gegründet sind, und auf das wir uns beziehen.313
Es wird gewiss nicht entgangen sein, dass Jaspers vom «schlechthin anderen» spricht, wohingegen zuvor die Formulierung des relativ Anderen zur Einführung seiner Sichtweise in diesem Zusammenhang gewählt wurde. Damit sollte die Schwierigkeit umgangen werden, die entsteht, wenn von einer Weise die Rede ist, in der wir uns auf das schlechthin Andere beziehen. Die Frage, wie dieses Paradox zu denken ist, oder ob es letztlich nur in einem Akt des Glaubens vergegenwärtigt werden kann, kann nicht im Rahmen einer philosophischen Erörterung und schon gar nicht im Zuge dieser Betrachtung diskutiert werden. Deshalb sprach Einiges für den Ausdruck des relativ Anderen, die in ihrer provisorischen Anwendung den Ort markiert, der eigentlich von der genannten Diskussion hät312 313
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te eingenommen werden müssen. Vor Kurzem wurde die Frage gestellt, was uns die Sicherheit gibt, uns auf ein relativ Anderes zu beziehen, das uns doch immer nur in der Ikonographie des eigenen Sein-Könnens erscheint? Dass es sich dabei letztendlich um die Überlegung handelt, was uns Glauben lässt, bedarf vielleicht keiner näheren Erläuterung, abgesehen von jener, die Jaspers selbst vornimmt: «Glaube ist das Leben aus dem Umgreifenden, ist die Führung und die Erfüllung durch das Umgreifende. […] Von ihm zu sprechen, erfordert die philosophische Grundoperation, sich des Umgreifenden zu vergewissern durch Überschreiten aller Gegenständlichkeit […].»314 Mit Blick auf Heideggers Konzeption wurde der Versuch zurückgewiesen, die existentielle Bewegung im Sinne einer Chronologie des Werdens zu deuten. Eine solche Zurückweisung scheint in Anbetracht der zitierten Zeilen ins Leere zu laufen. Denn Jaspers benennt «Führung» und «Erfüllung» als GeschehnisMomente des Glaubens, dessen Thematisierung zudem eine «philosophische Grundoperation» erfordere. Das deutet zumindest teilweise darauf hin, dass hinsichtlich der Thematisierbarkeit eine Bedingung geschaffen werden muss, wäre doch andernfalls die philosophische Rede vom Glauben nicht vorstellbar. Doch wie verhält es sich mit dem Geschehnis des Glaubens? Entspringt dieses aus derselben Quelle wie das existentielle Verstehen, das Jaspers in Philosophie II als Folge der Unbefriedigung genannt hatte? Wohl kaum, denn es wäre absurd, von einem Glauben-Wollen auszugehen. Hier greift weder Plan noch Vorsatz, selbst wenn sie aus dem tiefsten Wunsch hervorgehen würden, der «Gegenständlichkeit» der Welt-Bezüge und ihrem Diktat des Denkens zu entfliehen. Doch wäre es einen Gedanken wert, ob diese Feststellung nur für denjenigen Glauben zutrifft, der dem Religiösen entspringt, und nicht auch für sein Pendant, den philosophischen Glauben. Bereits 1935 äußert sich Karl Jaspers in seinen Vorlesungen Vernunft und Existenz zum Begriff des Umgreifenden und macht dort deutlich, welche Bedeutung er dem Wollen des Menschen zuweisen will: Um in das, was wahr ist und wirklich sei, den reinsten Blick zu gewinnen, der sich durch keine Fesselung an ein Besonderes festhalten und durch keine bestimmte Atmosphäre trüben lassen möchte, muß der Mensch denkend in den weitesten Umfang des Möglichen zu dringen suchen. Dabei entsteht ihm die folgende Erfahrung: Alles, was uns Gegenstand wird, und sei es das Größte, ist doch für uns stets noch in einem Anderen, ist nicht Alles.315
Immer mehr spricht dafür, dass Jaspers das Erfassen des Anderen nicht als ein Geschehen interpretiert, das uns gleichsam überkommt, ohne Gegenstand unseres intellektuellen Wünschens sein zu können. Vielmehr deuten diese Zeilen mit dem Begriff der «Erfahrung» auf eine kontinuierliche Einsicht hin, in der nach 314 315
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und nach die Begrenztheit unseres Objekt-orientierten Erkennen-Wollens zu Tage tritt. Vor diesem Hintergrund kann von einer Annäherung an das Andere gesprochen werden, das jedoch nicht als solches in absolutem Sinne zu verstehen ist, da es sich jeder objektivierenden Erkenntnis entzieht und deren Anspruch, das Gesamt des Seins erfassen zu wollen, ins Unendliche aussetzt. «Das Umgreifende, das wir sind, […] überschreiten wir mit der Frage: ob dieses Ganze das Sein selbst sei.»316 Doch woher stammt das Verlangen, diese Frage zu stellen? Die Antwort greift den Gedanken der Unbefriedigung auf, der bereits aus Philosophie II, drei Jahre vor Vernunft und Existenz entstanden, bekannt ist. Das philosophische Fragen lässt den Menschen, der «sich selbst zum eigentlichen Sein hervortreiben will», mit diesem Empfinden zurück, das Ursprung des Verstehens von Existenz werden kann, denn: «Der Mittelpunkt des Philosophierens wird erst erreicht im Bewußtsein möglicher Existenz. […] Geist ist Ganzwerdenwollen, Existenz ist Eigentlichseinwollen.»317 Die Frage, die im aktuellen Zusammenhang relevant ist, lautet nun, ob nach Jaspers das Eigentlichseinwollen vor der Einsicht in das Eigentlichseinkönnen möglich ist, oder, einfacher formuliert: Wollen wir existieren? Eine spitzfinde Abwägung, so könnte sicherlich eingewendet werden, denn was macht es für einen Unterschied, ob ich wollen kann, was ich kann, oder nicht. Der Unterschied für eine Konzeption von Existenzphilosophie ist erheblich. Denn wenn ich eigentlich sein will, muss ich eine Idee oder eine Vorstellung davon haben, dass dieses im Rahmen des mir Möglichen liegt. Damit wird die Überlegung anzustellen sein, woher mir diese Idee oder diese Vorstellung zukommt? Einiges deutet darauf hin, dass Karl Jaspers von einer solchen vorgängigen Bestimmtheit des Möglichen ausgeht, die uns überhaupt erst zwischen gegenständlichem Denken und dem Denken im Umgreifenden differenzieren und das Erstere als nicht zielführend bewerten lässt. Dem Titel seiner Vorlesung folgend kommentiert Jaspers das Verhältnis von Vernunft und Existenz und stellt dabei zunächst fest: «Aber auch Existenz ist auf Anderes angewiesen: auf die Transzendenz, durch die sie, die sich nicht selbst geschaffen hat, erst der unabhängige Ursprung in der Welt ist; ohne Transzendenz ist Existenz unfruchtbarer und liebloser dämonischer Trotz.»318 Der Gedanke, sich selbst setzender Grund eines grundlosen Seins sein zu können, ist uns bereits zweimal begegnet. Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre formulieren ihn im Kontext ihrer Reflexionen des Nichts und der Nichtung. Das Grund-sein-Wollen, das Jaspers aufgreift, ist anderer Natur. Denn letztendlich muss sich Existenz gegründet wissen, da andernfalls seine Suche nach Transzendenz nicht stattfinden könnte. Entfernt erinnert diese Sichtweise an Heideggers Vermerk, die Frage nach dem Sinn von Sein sei immer schon 316 317 318
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durch ein Vorwissen um dessen Möglichkeit geprägt. In Jaspers’ Argumentation verlangt das Selbst nach dem Anderen, dessen es sich bereits sicher sein muss, um überhaupt Verlangen nach ihm empfinden zu können. Wenngleich sich die Ansichten beider Denker für den Bruchteil einer Sekunde anzunähern scheinen, sind sie Ausdruck einer grundsätzlich differenten Bewertung der Möglichkeit des Wollens im Prozess existentieller Bewegung. Diese Bemerkung benennt keinen neuen Aspekt, sondern greift den bereits erwähnten Gedanken auf, wonach eine Entscheidung für die Existenz nach Heideggers Auffassung deshalb nicht möglich ist, weil der Einzelne sie in dem Moment, in dem sie ihm als solche erscheint, bereits zu verwirklichen beginnt. Immer wieder ist es, um sich den Hintergrund dieser Sichtweise zu veranschaulichen, hilfreich, an seine Ablehnung zielorientieren Denkens zu erinnern. Könnte ich existieren wollen, wäre dieses bereits Beleg eines solchen Denk-Aktes unter vielen anderen. Entfernt scheint Jaspers’ Bemerkung, die Überschreitung des Gegenständlichen sei unverzichtbar, um das Umgreifende denken zu können, an diese Ansicht zu erinnern. Für ihn folgt daraus aber nicht das strikte Verdikt wollenden Denkens. Stattdessen spricht er sogar von einer «philosophischen Operation», die erforderlich sei, um die Freiheit zu erlangen, die Wirkung des Umgreifenden spüren zu können. Das Aufbegehren gegen das Denken des Gegenständlichen ist seiner Überzeugung nach aber nur dann authentisch, wenn es von der Idee oder der Vorstellung dessen getragen ist, worum willen es erfolgt. In einer Weise, die der Erläuterung bedarf, wissen wir um Transzendenz als das Andere im Sein und Streben danach, ihm in unserem Denken Raum zu geben. «Existenz, angewiesen auf die Vernunft, durch deren Helle sie erst Unruhe und den Anspruch der Transzendenz erfährt, kommt unter dem Stachel des Fragens der Vernunft erst in ihre eigentliche Bewegung. Ohne Vernunft ist Existenz untätig, schlafend, wie nicht da.»319 Hier wird die grundsätzliche Relation erkennbar, in die Karl Jaspers Vernunft und Existenz setzt, von denen er sagt, sie seien «untrennbar». Danach erweckt Vernunft in der Existenz das Wissen um das Andere, wohingegen Existenz der Vernunft «Gehalt» verleiht.320 Zur Beschreibung der beiden Formen der Abhängigkeit, in der sich Existenz zum einen von Transzendenz, zum anderen von Vernunft findet, greift Jaspers zu ungewohnt bildlichen Umschreibungen. Ohne Erstere sei sie «unfruchtbarer und liebloser dämonischer Trotz»; ohne Letztere «untätig, schlafend, wie nicht da». Vielleicht sollte in diese Bildlichkeit nicht allzu große Erwartung auf Klärung der Wesenhaftigkeit von Existenz investiert werden, handelt es sich doch nur um Bilder. Was für ein unsinniger Einwand. Vernunft weist der Existenz den Weg zu ihrem eigentlichen Sein, das Sein in Transzendenz ist. Das ist der Befund, den das wiederholte Lesen dieser BeschreiVernunft und Existenz, S.49. «Vernunft ist auf Anderes angewiesen: auf den Gehalt der sie tragenden Existenz, die in ihr sich klärt und ihr die entscheidenden Antriebe gibt.» Vernunft und Existenz, S.49. 319 320
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bungen ergibt, deren Wirkung aus ihrer suggestiven Bildlichkeit resultiert. Dabei ist zu berücksichtigen, wofür Jaspers den Begriff der Vernunft in Anspruch nimmt. Wohl kaum zur Bezeichnung logisch, diskursiven Denkens, sondern als Hinweis darauf, dass sich das Denken auf mehr zu erstrecken vermag als auf das Feld wissenschaftlicher Erkenntnis, wenn es sich denn als Vermögen des Verstehens begreift. In Philosophie II heißt es: Daher unterscheidet sich mögliche Existenz von der Welt, um dann eigentlich in sie einzutreten. Sie löst sich von der Welt, um in ihrem Ergreifen mehr zu gewinnen als Welt sein kann. […] Ist also Existenz unzugänglich für den, der nach ihr im Medium des nur objektiven Verstandes fragt, […]; kann aber kein Beweis mich zur Anerkennung des Seins der Existenz zwingen, so bin ich denkend noch nicht am Ende: über die Grenzen des gegenständlich Wißbaren hinaus gelange ich durch einen nicht mehr rational einsichtig zu machenden Sprung.321
Worin die Arbeit der Vernunft besteht, wird hier ersichtlich. Sie ist das Denken, das Existenz von Welt unterscheidet, so wie sie auch über die Grenze des «Wißbaren» hinaus Gewissheit zu erschließen vermag. Diese letzten Bemerkungen gingen von der Behauptung aus, dass Karl Jaspers die existentielle Bewegung als eine gerichtete Bewegung versteht, die von Anfang an um das Ziel ihrer Verwirklichung weiß. Dabei ist mit Wissen in diesem Kontext eben nicht jenes Erfassen des Gegenständlichen gemeint, das auch Jaspers zurückweist, sondern ein Geschehen der Vergegenwärtigung dessen, was uns seiner Auffassung nach Welt nicht zu eröffnen vermag. Vor diesem Hintergrund drängt die Frage, ob es wirklich das Sein der Welt ist, das uns das «mehr» nicht erfassen lässt, oder nicht vielmehr die unangemessene Weise, in der wir es ihr zu entnehmen suchen? Jaspers’ Gedanke des Umgreifenden könnte entfernt in diese Richtung weisen, zählt er dort doch Welt neben Transzendenz zu jenen Formen des Seins, «das wir sind». Unbenommen von dieser Erwägung bleibt seine Auffassung, der Mensch verlange nach Existenz. Nach wie vor wird hierin eines jener Elemente gesehen, das seine Konzeption von Martin Heideggers Sichtweise unterscheidet, für den zielgerichtetes Verlangen dessen Sinn vom ersten Augenblick an untergraben würde. In Karl Jaspers’ Texten finden sich dagegen vereinzelte Hinweise darauf, dass wir immer schon eine Vorstellung von unserem eigentlichen Sein in uns tragen, die uns jede andere Form des Seins, in die wir verstrickt sind, als defizitär erleben lässt. Auch wenn seine Aussagen in Der philosophische Glaube und Vernunft und Existenz jene harsche Zurückweisung des Welt-Seins als möglichen Grund eigentlichen Seins ein wenig abmildern, insofern sie diesem doch wenigstens einen Platz in der Vorstellung des Umgreifenden zugestehen, bleibt die Priorisierung unvermindert gültig, durch die er Transzendenz als richtungweisend
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für den Existenz-Vollzug auszeichnet. Aber was soll an dieser Priorisierung problematisch sein? Ist es nicht völlig selbstverständlich und daher Grundzug aller hier betrachten Konzepte existenzphilosophischer und existentialistischer Prägung, dass Existenz eine qualitative Steigerung des Daseins bedeutet? Wozu sollte sonst der ganze Darstellungs-Aufwand nützen, mit dem die vorgestellten Denker die Motive von Erschütterung und Entwurf diskutieren, als dazu, die Möglichkeit aufzuzeigen, diese Steigerung durchlaufen zu können? Der Aspekt, dessen Reflexion aktuell die Überlegungen vorantreibt, ist anderer Natur. Es geht keineswegs darum, den Gedanken einer Optimierung im Sein als solchen bestreiten zu wollen, sondern darum, die Verortung des eigentlichen Seins zu überdenken. Wohin führt uns die existentielle Bewegung, deren Möglichkeit und Bedeutung letztlich keiner der hier zu Worte kommenden Autoren in Zweifel zieht? Wirklich keiner von ihnen? Was ist mit der Sichtweise Jean-Paul Sartres, der eher von einem Existieren-Müssen als von dem reinen Können ausgeht, das uns werden lässt, was wir sein können? Tatsächlich hat sich in seiner Interpretation die Bewertung verschoben, was deshalb besonders interessant ist, da er damit etwa zeitgleich zu Heinrich Barth auf der philosophischen Bühne agiert. Und dieser vertritt in ungeschmälerter Überzeugung die Ansicht, Existenz könne als das menschliche Sein und damit als das andere Sein betrachtet werden. In etwas plakativer Form kann noch einmal darauf hingewiesen werden, dass das Existieren für Sartre längst zur Routine menschlichen Daseins geworden ist, an sich damit keineswegs erstrebenswert, sondern schnöder Alltag. Seine Theorie des Existentialismus, jener Lehre, die menschliches Sein ermöglichen solle, wie er selbst sagt, erscheint in diesem Licht eher wie ein verzweifelter, wenngleich höchst engagierter Versuch, das Beste aus dem Existieren-Müssen zu machen und vielleicht sogar ein wenig des alten Feuers der Begeisterung, die das Denken der Existenz einst verbreitete, neu zu entfachen. Dazu setzt er das ultimative Mittel ein, das die Philosophie zu bieten hat, um Zusammenhänge, Prägungen und Möglichkeiten sichtbar zu machen – das Bewusstsein. Er will uns die Tatsache vor Augen führen, dass wir selbst Grund unseres defizitären Seins sind, und zugleich einen Weg zeigen, wie wir mit diesem mehr als ernüchternden Wissen umgehen können. Schonungslose Aufdeckung des Bedingungs-Zirkels aus Freiheit, Verantwortung und Negation soll dieses Wissen vermitteln, das uns, ist es einmal zu Bewusstsein gelangt, Wege aus der selbstverschuldeten Grundhaftigkeit unseres So-Seins reflektieren lässt. Denn die optimistische Botschaft, die seine Lehre der Existenz bietet, besteht in der Theorie, dass jede Situation durch Vorstellung eines sie negierenden Entwurfes grundsätzlich als veränderbar erscheint. Auch wenn ein längerer Gang der Begründung erforderlich war, finden sich Reste des Gedankens der Priorisierung der Existenz selbst noch in seiner zutiefst desillusionierten Sicht des menschlichen Seins, die Reaktion auf deren frühe Konzeptionen ist. Würde der Versuch, existenzphilosophischem Denken diesen Glauben an die Priorisierung https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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absprechen zu wollen, ihm nicht sein Fundament und seine Inspiration entziehen? Warum sollte denn überhaupt an diesem Denken festgehalten werden, wenn sein Quellgrund versiegt? Ist die Annahme, Existenz sei Sein höherer Qualität, denn wirklich ihr Grund? Und sollte es so sein, bedeutet das für alle Zeit, an dieser Vorstellung unverändert festhalten zu müssen?
Von Grund auf Es wäre gänzlich unseriös, ernsthaft bestreiten zu wollen, dass sich Existenz, so wie sie in den betrachten Konzeptionen interpretiert wird, vom übrigen Sein unterscheidet. Die Fähigkeit, die Bedingungen und Artikulationen unserer SeinsWeise reflektieren und in philosophischer Theorie abbilden zu können, eignet vermutlich nur uns. Bedeutet die Fähigkeit, über ein spezielles Vermögen zu verfügen, aber im selben Atemzug, dass es Rückschlüsse auf eine bessere Seins-Weise erlaubt? Oder verbirgt sich hier nicht vielleicht noch sehr viel, möglicherweise sogar zu viel, jener Sicht, die uns von Seiten unserer westlichen Philosophie über einen langen Zeitraum vermittelt wurde, so dass wir schon fast nicht mehr zu fragen wagen, ob auch eine andere Bewertung denkbar wäre? Die gesamten bisherigen Betrachtungen hindurch wird ersichtlich geworden sein, dass ein gedanklicher Spagat versucht wurde, der einerseits die Theorien der betrachteten Denker als solche beleuchten sollte, andererseits aber auch die InterpretationsTendenz nicht verbergen wollte, die sich parallel abzuzeichnen begann. Um das Projekt «Existenzphilosophie» in unserer Zeit verfolgen zu können, diente ein erster Schritt dazu, nach Elementen zu fragen, die für diese als repräsentativ angesehen werden können. Damit ist keineswegs der Anspruch verbunden, Anschluss an die Arbeiten von Hannah Arendt, Jean Wahl, Paul Tillich, Klaus Löwith und all derer zu suchen, die zu erklären suchten, was diese Philosophie ausmacht. Die Betrachtungen galten vielmehr der Frage, welche Motive und Begriffe in jedem Fall zu berücksichtigen sind, wenn wir über dieses Denken sprechen, das nach fast genau einhundert Jahren ein wenig an Attraktivität eingebüßt zu haben scheint. Denn wo begegnen wir ihm heute noch, außer als Gegenstand philosophiehistorischen Interesses? Dass von Seiten analytischer Philosophie bisweilen noch immer gegen die mangelnde logische Präzision des existentiellen Denkens polemisiert wird, wirkt fast wie eine stereotyp gewordene Frontstellung, deren Kontrahent längst an Einfluss verloren hat. Um ein etwas technisches Bild zu verwenden: Es ging bisher darum, den Funktionsmechanismus «Existenzphilosophie» offenzulegen, um das Ineinandergreifen seiner einzelnen Bestandteile verstehen zu können. Denn nur so ist es möglich, das Räderwerk einer Philosophie in Bewegung zu halten, die noch lange nicht ausgedient hat. Diese Überzeugung liegt zumindest diesen Überlegungen zugrunde. Ist es aber wirklich die Aufgabe von Philosophie, dienlich zu sein? Wird ihr damit nicht ein Maßstab https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zugemutet, den sie angesichts ihrer methodischen Vorgehensweise und strukturellen Bestimmung von vornherein verfehlen muss? Als Reaktion auf diesen Einwand kann an die Intention der hier zur Worte kommenden Existenz-Denker erinnert werden, die trotz zum Teil massiver Differenzen unisono in das Credo einstimmen könnten, Existenzphilosophie sei ermöglichendes Denken. Dasjenige, das sie ermöglicht, ist keine Fertigkeit, die der Ermittlung auf Abstraktion basierender Erkenntnis gilt, sondern ein Verstehen, das die Verortung der eigenen Position im Sein erschließt. Um jedoch in fundierter Weise von Verortung sprechen zu können, wäre eine Voraussetzung zu erfüllen, die nicht von allen Autoren gleichermaßen anerkannt wird, was, scheinbar paradox, die gemeinsame Vorstellung des ermöglichenden Denkens nicht beeinträchtigt. In ganz bildlichem Sinne soll der Begriff der Verortung, für dessen Verwendung diese Zeilen plädieren, das Sich-Einfinden in einen Bezugs-Kontext bezeichnen, eine Bewegung also, die nicht nur darauf abzielt, Strategie der Selbst-Werdung zu sein. Hierin stimmen die dargestellten Auffassungen grundsätzlich überein, was sogar für Jean-Paul Sartre zutrifft, der doch einige Grundmuster existenzphilosophischer Konzeptionen nicht nur infrage stellt, sondern einer eingehenden Revision unterzieht. Dieses Faktum veranschaulicht ein bisher angeklungenes, doch noch nicht eigens zur Sprache gebrachtes Charakteristikum des Denkens der Existenz. Es reagiert mit seismographischem Gespür auf die Stimmung seiner Zeit, die, und darauf wurde hingewiesen, durch die beiden Weltkriege geprägt ist. Es ist eine plakative Kennzeichnung, doch trotzdem zutreffend: Existenzphilosophie kann in ihren bestehenden Formen als Nachkriegsphilosophie verstanden werden. Widerspricht dieser Etikettierung aber nicht die Erinnerung an Denker wie Søren Kierkegaard oder Arthur Schopenhauer, die in ihrer Zeit maßgebliche Weichen für die Entwicklung dieses Denkens stellten? Sie bereiteten ihm ohne Frage den Weg, vielleicht sogar ohne ahnen zu können, welch explosive Artikulation es in den 1920er Jahren im deutschsprachigen und in den 1940er Jahren auch im französischsprachigen Raum finden würde. Doch wären ihre vereinzelten Stimmen, von den Zeitgenossen überhört und von möglichen Rezipienten zum Großteil beflissentlich ignoriert, noch nicht an sich als existenzphilosophisch zu bezeichnen, weil es für sie noch nicht um die Erfüllung einer eigens kreierten Terminologie zu ringen galt. Für die modernen Existenz-Denker trifft diese Bedingung zu, sogar und gerade dann, wenn sie ihre Anschauungen nicht durch die Bezeichnung Existenzphilosophie vertreten wissen wollten. Auf Martin Heideggers wiederholte Interventionen wurde hingewiesen, so wie auch auf Heinrich Barths Werben für die Begründung einer seiner Ansicht nach angemessenen Auslegung eines Denkens, das dem Sein des Menschen gilt. Wenn gerade von der Sensibilität gesprochen wurde, mit der die hier in den Dialog geführten Autoren auf die Stimmung ihrer Zeit reagierten, mag gefragt werden, ob darin nicht seit jeher das Selbstverständnis von Philosophie bestanden habe? Grundsätzlich trifft sicherhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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lich zu, dass ihre Repräsentanten auf Notwendigkeiten reagieren, die aus der Operabilität des jeweiligen Diskurses resultieren. Tauchen in seinem Kontext Theoreme oder methodische Komponenten auf, die dem Argumentationsziel nicht mehr entsprechen, ist deren neue Formulierung angezeigt. Doch mit einem solchen Ersatz einzelner Elemente begnügt sich Existenzphilosophie eben nicht mehr, wie niemand eindringlicher zum Ausdruck bringt als Franz Rosenzweig mit seiner Forderung nach «des Denkens vollständiger Erneuerung». Die Herausforderung, vor der das neue Denken steht, unterscheidet sich deshalb von früheren Erneuerungstendenzen innerhalb der Philosophie, weil es nun darum geht, die Stimmung der Menschen aufzufangen und zu reflektieren. Und da diese sich nicht durch den Blick auf den Menschen schlechthin aufnehmen lässt, stellt die Frage nach dem Einzelnen das Gebot der Stunde dar. Schließlich ist er es, der von Angst und Verzweiflung umgetrieben wird und mit allem Recht von Philosophie erwartet, dass sie seine Situation bedenke. Martin Heidegger thematisiert das Motiv der Befindlichkeit in Sein und Zeit zu dem Zweck, die «existenziale Konstitution des Da» eruieren zu können. Dabei beabsichtigt er, aus dem faktischen Charakter einer Stimmung das Strukturelement der Daseins-Analyse zu extrahieren, wonach gilt: «Seiendes vom Charakter des Daseins ist sein Da in der Weise, daß es sich, ob ausdrücklich oder nicht, in seiner Geworfenheit befindet. In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes Sichbefinden.»322 Dass es sich bei seiner Nennung des Begriffes der Befindlichkeit nicht um eine konkrete psychische Regung handelt, bedarf gewiss keiner weiteren Betrachtung.323 Mit ihm führt er vielmehr einen Erschließungs-Modus des In-der-Welt-Seins ein, in der wir uns vorfinden. Von dem Aufspüren tatsächlicher Stimmungen der Menschen in ihrer Zeit ist in dieser strukturellen Extraktion kaum noch etwas zu erkennen, sehr wohl aber von der grundsätzlichen Gewichtung, die dem ontologischen Wert der Gestimmtheit nun beigemessen wird. Heideggers Absicht besteht darin, Modi der Auffindbarkeit im Sein zu benennen, die es uns erlauben, uns im Dasein, das nicht anders als In-der-Welt-Sein zu denken ist, zu reflektieren. Denn der Weg zum eigensten Selbst-Sein führt seiner Überzeugung nach durch dieses Sein. Warum war dieser Hinweis offenbar notwendig? Es sollte dadurch auf eine Besonderheit von Existenzphilosophie aufmerksam gemacht werden, die nicht nur ihre Entstehung in den 1920er Jahren prägte, sondern noch immer als eine ihrer wichtigsten Eigenschaften verstanden werden kann. Durch einen relativ kleinen Bestand für ihre Artikulation unverzichtbarer Elemente kann sie, wenn es denn ihr Anspruch ist, relativ schnell auf Erfordernisse reagieren, die aus der Situation Sein und Zeit, § 29, S.135. «Schon hieran wird sichtbar, daß die Befindlichkeit weit entfernt ist von so etwas wie dem Vorfinden eines seelischen Zustandes.» Sein und Zeit, § 29, S.136.
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ihrer Zeit hervorgehen. Solche Erfordernisse bestehen auch in unseren Tagen, und zwar in einer Dringlichkeit, die für frühere Konzeptionen in der Weise nicht gegeben war. Es ist das Eine, diesen Gedanken zu verfolgen, das Andere, die Variabilität existenzphilosophischen Denkens dahingehend auf die Probe zu stellen, wie flexibel es tatsächlich ist, um auf gewandelte situative Bedingungen der Zeit zu reagieren. Die Begriffe der Existenz, der Vereinzelung und des Entwurfes stellen den Funktions-Kern dieses Denkens dar, der je nach Bedarf um die Motive der Erschütterung und der Entscheidung erweitert werden kann. Für die drei erstgenannten Vorstellungen konnte ein weitgehend einheitliches Verständnis nachgewiesen werden, mit der einen genannten Einschränkung. Jean-Paul Sartre deutet Existenz nicht mehr als Ausstehendes, das der Verwirklichung bedarf, sondern als Routine menschlicher Seins-Verwirklichung, der es im Zuge einer dezidierten Bewusstmachung ein wenig von der ursprünglichen Bewertung in existenzphilosophischem Sinne zurückzugeben gilt. Damit würde dem unausweichlichen Existieren-Müssen zumindest partiell wieder der Möglichkeits-Charakter verliehen, der das Existieren-Können zu einer nahezu Wesens-adäquaten Bestimmung des Menschen machte. Denn darin stimmen die Auffassungen der übrigen Autoren überein: Existierend verwirklicht der Mensch sein Sein-Können. An diesen drei Parametern existentiellen Denkens ist somit unbedingt festzuhalten, wenn dessen Variabilität zur Diskussion steht. Damit ist freilich nicht gesagt, dass auch deren Bedeutungen in unveränderter Form zu übernehmen sind. Tatsächlich ist diese für zwei der drei Basis-Begriffe neu zu justieren. Als Ermöglichung des eigensten Selbst-Seins wurde Existenz bisher verstanden, womit sich der Gebrauch dieses Begriffes maßgeblich von einer Verwendung im Sinne einer Seins-Aussage unterscheidet. Denn er verwies in den betrachteten Konzeptionen stets auf ein noch nicht verwirklichtes Sein des einzelnen Menschen. In der Gründungsphase der Existenzphilosophie war damit gewiss ein bemerkenswerter Anspruch auf dieses Selbst-sein-Können verbunden, der dort in Form philosophischer Programmatik eingelöst werden sollte. Doch kann das auch unser Anspruch sein? Die Vorstellung vom Selbst, das sich aus dominierenden Einflüssen und gesellschaftlichen Reglementierungen, ja sogar aus dem Anwendungsbereich philosophischer Ethik löst, kann nicht genug gewürdigt werden. Auch wenn ihm damit eine schier erdrückende Last der absoluten Verantwortung aufgebürdet wird, deren zu schweres Gewicht Jean-Paul Sartre thematisiert, ist seine Akzentuierung ein notwendiger Schritt gewesen, um Ausmaß und Verbindlichkeit des Gedankens der Verantwortlichkeit ausloten zu können. Die elementare Infragestellung einiger zentraler Gedanken der Philosophie, die damit einherging, stellte eine wahrscheinlich längst überfällige Maßnahme dar, um den inneren Antrieb derartiger Vorstellungen, die unser Denken über Jahrhunderte geleitet haben, ans Licht zu bringen. Natürlich ist uns klar, was wir zum Beispiel unter Verantwortung verstehen, doch hat es eine ungemein bereichernde Dimension, deren Position innerhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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halb einer Konzeption existentieller Ausrichtung zu reflektieren. Denn dadurch wird es leichter zu überprüfen, welche Begriffe und Vorstellungen in jedem Fall gegeben sein müssen, um sie erklären und vielleicht sogar für ihren Wert im Ethischen plädieren zu können. Auf den Ermöglichungs-Gedanken, der mit dem Begriff der Existenz verbunden und durch dessen Verwendung angezeigt ist, kann sich jede Skizze existentiellen Denkens uneingeschränkt berufen. Denn er verweist auf ein Faktum, das für ein Verständnis des menschlichen Seins von unschätzbarem Wert ist. Wenn hier, noch bevor der Begriff des Seins eigens zur Sprache kam, vom menschlichen Sein die Rede ist, ist sofort eine Präzisierung erforderlich, um das Abgleiten in eine nicht intendierte Richtung der Gedankenführung zu verhindern. Die Formulierung könnte den Eindruck vermitteln, dass damit ein Herausstellen unseres Seins anderen Formen gegenüber, die sich vornehmlich durch Faktizität ausweisen, angedeutet werden soll. In diesem Sinne argumentierten letztlich alle Autoren, was insofern nicht verwundert, als ein nachvollziehbarer Einwand gegen diese Auffassung kaum zu formulieren wäre. Die Frage, auf die sich nun die Aufmerksamkeit richtet, lautet nicht, ob dem Menschen ein SeinsModus zugesprochen werden kann, der nur ihm zukommt, sondern welche Folgerungen aus dieser scheinbar selbsterklärenden Tatsache gezogen werden. Ist unser Sein-Können eine Möglichkeit oder eine Bestimmung, ein Wesensmerkmal, das uns von allem übrigen Seienden unterscheidet, oder unser Eigenstes, das uns erst wirklich mit dem Sein verbindet, dem wir angehören, ohne diese Verwiesenheit immer schon in der bestmöglichen Weise zur Geltung gebracht zu haben? Allein diese Formulierung gibt zu erkennen, in welchem Sinne hier und im weiteren Verlauf von Ermöglichung zu sprechen ist. Im Vorgriff auf die speziell dem Begriff des Seins gewidmeten Überlegungen kann an dieser Stelle bereits vermerkt werden, auf welche Deutung die Argumentation hinauslaufen wird. Der Begriff des Seins wird nicht nur zur Bezeichnung des Faktums der Vorhandenheit verwendet, sondern in seiner grundlegendsten Bedeutung bereits als Anzeige eines elementaren Bestandteils der Performativität. Damit wird, so wird sofort erkennbar sein, ein Aspekt auf den Seins-Begriff ausgedehnt, der bisher dem Existenz-Begriff vorbehalten war. An diesem Punkt wird im Verlauf der Darstellung einzusetzen sein. Existenz als das Eigenste – wird diese Auffassung nicht durch das gerade Angedeutete konterkariert? Wenn es tatsächlich darum geht, die Begriffe «Sein» und «Existenz» in einem noch zu bestimmenden Umfang anzunähern, müsste doch zwangsläufig die Vorstellung, Letztere sei nur dem Menschen zugänglich, zumindest teilweise aufgegeben werden. Macht es dann aber überhaupt noch Sinn, von Existenz als der menschlichen Seins-Weise zu sprechen? Es macht Sinn, denn die Engführung der beiden Begriffe wird nicht zu einer vollständigen Deckungsgleichheit ihrer Bedeutung führen. Warum wird dann aber überhaupt die Möglichkeit einer Annäherung beider erwogen? Es geht um nicht weniger als https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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darum, die Spitze des Existenz-Verständnisses, wie es bisher für das existentielle Denken repräsentativ gewesen ist, zu brechen. Worin besteht sie? Wenn die Korrelation der Begriffe von Existenz und Ermöglichung bis in ihr Extrem verfolgt wird, kann sie sehr leicht dazu führen, eine Abhebung menschlichen Seins im Sinne qualitativer Exzeptionalität zu begründen. Eine solche Sichtweise wirkt durchaus unscheinbar und keiner näheren Reflexion bedürftig, da sie in weitgefasster Perspektive der Vorstellung der Wesensbestimmung des Menschen entsprechen kann. Um es noch einmal in plakativer Form zusammenzufassen: Nach herkömmlicher Ansicht, der aus existenzphilosophischer Warte nicht grundsätzlich widersprochen wurde, ist unser Wesen das, was uns von allem Seienden unterscheidet. Im Sinne der hier vertretenen Auffassung wäre Wesen, wenn an diesem Begriff festgehalten werden sollte, dasjenige, das uns mit allem Anderen verbindet. Aber ist es möglich und überhaupt statthaft, eine bestehende Auffassung, die unser philosophisches Denken im Grunde seit der Antike begleitet, einfach umzukehren? Einfach erfolgt es mit Sicherheit nicht, wie allein die umfangreiche Vorbereitung belegt, die hier für die Re-Formulierung des Wesensbegriffes geleistet werden musste. Die zum Teil weitgreifenden Ausführungen zu den Konzeptionen von Martin Heidegger, Karl Jaspers, Heinrich Barth und Jean-Paul Sartre waren erforderlich, um zeigen zu können, welche Konsequenzen sich aus einem mehr oder minder unveränderten Gebrauch der Wesensvorstellung ergeben, auch wenn der Terminus als solcher nahezu unerwähnt blieb. Dabei zeigte sich etwas philosophiehistorisch äußerst Interessantes. Obwohl diese Autoren erklärtermaßen den Gedanken des Menschen durch denjenigen des Einzelnen ersetzen wollen, halten sie paradoxerweise an der Vorstellung des Wesens in seiner klassischen Deutung fest. Danach folgte genau das, was gerade angesprochen wurde: Wir sind, was wir sind, durch das, was uns von allem Anderen unterscheidet. Es bedarf keiner tiefgreifenden philosophiehistorischen Kenntnisse, um das Potential dieser Auffassung sowohl im positiven Sinne als auch im kritischen Ausmaß erfassen zu können. Dass die Benennung wesenseigener Merkmale erforderlich ist, um einzelne Objekte zu Klassen wesensgleicher Beschaffenheit zusammenzufassen und diese von anderen Gruppierungen unterscheiden zu können, stellt letztlich eine der Voraussetzungen abstrahierenden Denkens dar. Dieses ist für die Formulierung allgemeiner Sätze über die Beschaffenheit der Wirklichkeit und logischer Urteile erforderlich. Der Philosophie-interne Nutzen von Wesensbestimmungen steht damit außer Frage, solange dieser auf das Arbeitsfeld von Logik und Erkenntnistheorie begrenzt bleibt. Anders verhält es sich, wenn er auch in den Bereichen von Ethik und Handlungstheorie zur Geltung gebracht werden soll. Denn nun kann in der Wesensbestimmung des Menschen sehr leicht eine Begründung und Legitimation seiner Sonderstellung im Sein abgeleitet werden, die auf dem Faktum basiert, dass kein anderes Lebewesen dessen essentielle Kennzeichnung teilt. Aus einer solchen essentiellen Exzeptionalität kann relativ problemlos moralische Priorität gefolgert https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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werden, da einem Wesen, das solcherart unvergleichlich ist, konsequenterweise auch besondere Rechte innerhalb seines Handlungsspektrums zuerkannt werden können. Auch diese Folgerung beinhaltet positive Aspekte und solche, die zur Vorsicht mahnen. So kann etwa vom Recht des Menschen, und zwar des Menschen schlechthin, auf einen dominierenden Status innerhalb des Seins gesprochen werden, der ihn das dort Vorfindliche nach Maßgabe des eigenen Nutzungsanspruches beurteilen lässt. Zugleich könnte hieraus auf die Verantwortung dem subordinierten Sein gegenüber geschlossen werden, insofern eine exzeptionelle Position innerhalb des Gesamts des Seienden das Bewusstsein der Verpflichtung ihm gegenüber impliziert. Wie allein schon der Blick in die Relation des Menschen zur Umwelt zeigt, haben sich beide Aspekte nicht in gleicher Intensität ausgeprägt. Für die Betrachtung des Existenz-Begriffes scheint diese Feststellung zunächst belanglos zu sein. Nach und nach wird jedoch ersichtlich, in wie starkem Maße sie auch auf dessen Auslegung zutrifft. Keiner der hier zitierten Autoren verzichtet darauf, das Faktum der menschlichen Exzeptionalität zu erwähnen, und zwar nicht als eine Bemerkung unter anderen, sondern als zentrale Aussage des jeweiligen Seins-Verständnisses. Es wurde bereits auf die unterschiedlichen Auswirkungen dieses Gedankens hingewiesen, der bei Martin Heidegger zur Formulierung führt, Existenz sei die menschliche Seins-Weise, bei Heinrich Barth sogar dazu, sie als das Sein des Menschen zu bezeichnen. Für Jean-Paul Sartre steht von Anfang an fest, dass der Mensch kraft seines Nichtungsvermögens das An-sich des Seins zu strukturieren vermag. Werden allein die Auffassungen von Heidegger und Sartre in Erinnerung gerufen, gehen beide sehr dezidiert auf Modi des Zugriffs ein, in denen der Mensch Seiendes in Anspruch nimmt. Heidegger führt zur Erläuterung dieser Modi eigens die Begriffe des «Vorhandenen» und «Zuhandenen» ein, präsentiert sie aber in Sein und Zeit noch als allgemeine Bestimmungen menschlicher Seins-Verhaltung. Eine Warnung vor dem einseitig motivierten Zugriff, der Seiendes den eigenen Verfügungsinteressen entsprechend beurteilt, findet erst später in seinen Texten Niederschlag, reift dann aber zu einem Plädoyer für das «schonende Denken» heran. Dessen Tenor liegt im Bewahren des Anderen, womit die Tatsache, dass der Mensch immer Seiendes in Anspruch nehmen wird, keineswegs geleugnet wird. Dessen Anforderungen an das Seiende, die aus der gerade erwähnten Perspektive sogar als Anrecht verstanden werden könnten, gilt es mit einer Vorstellung der Eigenheit des Anderen in Einklang zu bringen, wobei natürlich sofort gefragt werden kann, ob eine solche Vorstellung nicht zwangsläufig menschliche Projektion ist, hinter der letzten Endes doch wieder Eigeninteressen stehen. Es könnte versucht werden, einem solchen Einwand durch Einführung des Gedankens der essentiellen Unverfügbarkeit zu begegnen. Damit könnte an das traditionelle Verständnis einer Wesensbestimmung angeknüpft werden, dem dann allerdings eine andere und zum Teil neue Interpretation hinzugefügt wird. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Denn es könnte davon ausgegangen werden, dass allem, das sich nicht zur Gänze mit der eigenen Wesenskennzeichnung deckt, per se essentielle Unverfügbarkeit zuerkannt wird. Dieser Ausdruck greift die Assoziation an Heideggers Vorstellung der Eigenheit des Seienden auf, bietet im Vergleich zu ihr aber den Vorzug, dem Projektions-Einwand zu entgehen. Denn es muss keine Aussage darüber getroffen werden, was eventuell genau diese Eigenheit ausmacht, wobei wir zwangsläufig nur aus dem Repertoire eigener Erfahrungen schöpfen könnten. Das Faktum der Alleinstellung des Menschen im Sein wird positiv gedeutet, wodurch ohne die Notwendigkeit der Begründung diese Unverfügbarkeit des Anderen vorausgesetzt wird. Der Vorzug dieser Sichtweise besteht auch darin, dass sie sowohl auf Dingliches als auch auf den anderen Menschen bezogen werden kann. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Das Faktum der Unverfügbarkeit an sich leugnet keineswegs die Möglichkeit, im Horizont menschlichen Nutzungsinteresses aufzutauchen und dessen Entwürfen entsprechend betrachtet zu werden. Da es sich jedoch um essentielle Unverfügbarkeit handelt, bleibt der Grund-Status des Anderen, der auch als ontologischer Status bezeichnet werden könnte, unberührt und garantiert diesem den Anspruch auf uneingeschränkte Achtung. Dieser Gedanke wird später aufzugreifen sein. Aktuell steht noch immer die Betrachtung der Begriffe «Existenz» und «Wesen» an, die innerhalb einer Bestimmung, wie sie zum Beispiel in der Scholastik ausschlaggebend war, keiner gesonderten Diskussion bedurft hätte. Denn dort wäre es mehr oder minder konsensfähige Ansicht gewesen, mit dem Begriff der Existenz die Tatsache der Vorhandenheit eines Seienden zu bezeichnen, mit dem des Wesens hingegen die Weise seiner Kennzeichnung. Diese relative Klarheit der Terminologie geht in dem Moment verloren, in dem Existenz nicht mehr das Sein, sondern das Sein-Können meint. Dieser Deutung stimmten, um diesen Ertrag der vorangegangenen Betrachtung noch einmal zu benennen, alle Autoren mit unterschiedlicher thematischer Konnotation zu. Der scheinbar offene Raum der Möglichkeit, der durch die Idee des Werden-Könnens anvisiert wird, erweist sich allerdings bei näherer Untersuchung als weitaus weniger offen, als vermutet. Hier schwenken die Überlegungen auf die aktuelle Fragestellung ein, die der Untersuchung gilt, inwieweit der existenzphilosophische Gebrauch des Existenz-Begriffes schließlich doch ein unter anderer Denomination geführter Gebrauch des Wesensbegriffes ist? Doch was wäre daran problematisch? Die Antwort greift auf den Kerngedanken von Existenzphilosophie zurück, wonach nicht vom Menschen schlechthin, sondern vom Einzelnen die Rede sein sollte. Neben den Motiven von Existenz und Entwurf zählt dieser Terminus, wie sich gezeigt hat, zu ihren Elementar-Konzepten, auf den keinesfalls verzichtet werden kann, soll sich diese Philosophie als existentiell ausweisen. Mit diesem Hinweis könnte die Frage, warum sie nicht unter der Signatur einer Wesenstheorie operieren sollte, noch längst nicht als beantwortet gelten. Der nächste Aspekt wird vermutlich die gewünschte Klarheit bringen. Wenn tatsächlich die Thematisierung des Einzelhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nen die Kernkompetenz der Existenzphilosophie darstellen soll, würde sich die weitere Verwendung des Wesensbegriffes im Grunde verbieten. Denn vom Einzelnen gibt es kein Wesen.
Selbst-Sein Die immanente Schwierigkeit, die darin liegt, den Einzelnen philosophisch reflektieren zu wollen, hat sich bereits zu erkennen gegeben. Um die Fortführung der Gedanken zu erleichtern, sei noch einmal gezeigt, worin sich Existenz-Denken als Wesensdenken erweist. Sie geht vom besonderen Sein oder zumindest der speziellen Seins-Weise des Menschen aus, die sich diesem als sein Sein-Können zu verstehen gibt. In der Verwirklichung dieses Könnens realisiert der Mensch sein eigenstes Selbst-Sein. Um diesen Realisierungsprozess in Gang setzen zu können, ist mitunter eine Distanzierung aus den Welt-Bezügen Voraussetzung, die der Mensch jedoch kritiklos in Kauf nimmt, weil es für ihn vollkommen einsichtig ist, dass Selbst-Werdung das Ziel der existentiellen Bewegung ist, also, wie es sogar heißt, dasjenige, das er zu sein habe. Zudem ist in diesem Zusammenhang von Bestimmung die Rede, als von demjenigen, wozu wir da sind. Mit der Kennzeichnung des Wozu und des Wie liegen zwei Kriterien vor, die auch in der Vorstellung von der Wesenhaftigkeit von Bedeutung sind. Bei der Erwähnung des Wozu, die freilich äußerst selten in den untersuchten Texten zu finden ist, wird sogar noch über die philosophische Wesensvorstellung hinausgegriffen, da damit auf die Auffassung des Um-eines-Zweckes-Willen angespielt wird. Könnte dieser Zweck in der Selbst-Werdung des Menschen bestehen, wäre die Vereinbarkeit dieses Gedankens mit existenzphilosophischer Theorie teilweise geklärt. Gleichwohl bliebe dabei unklar, woher diese Zweckbestimmung ihre Legitimierung bezieht. Im Grunde kommen dafür nur zwei Alternativen in Betracht: Aus dem religiösen Glauben, der hier so benannt wird, um ihn von Karl Jaspers Idee des «philosophischen Glaubens» zu unterscheiden, oder aus dem Seins-Denken. Interessant ist, dass Jaspers, von dem die Formulierung des «wozu» stammt, deren Ursprung im Seins-Verständnis strikt zurückweist und sich auf den religiösen Glauben nicht uneingeschränkt bezieht. Über diesem Punkt sollte ein möglicher Einwand gegen das gerade Gesagte nicht verschwiegen werden. Kann die Bestimmung des Menschen, Selbst zu werden, tatsächlich als eine Form von Wesensbestimmung aufgefasst werden? Deutet der Begriff des Selbst nicht vielmehr auf jenen Aspekt unveräußerlicher Eigenheit, der nur dem einzelnen Menschen in der Erfüllung seines Sein-Könnens zukommt? Ohne Bedenken kann der Gedanke vom Selbst-Sein als Indikator jenes eigenen Seins verstanden werden, das mit Heidegger als das eigentliche Sein zu bezeichnen ist. Dieses kann nur vom Einzelnen realisiert werden, darin waren sich die zitierten Denker einig. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass die Selbst-Werdung auch als Prozess aufzufassen ist, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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der in sich als individuell differenziert zu betrachten wäre. Seiner formalen Struktur nach besagt der Ausdruck «Selbst» in diesem Zusammenhang lediglich, dass der dem Menschen entsprechende Seins-Modus des eigen-gegründeten Seins realisiert wurde. Von Eigen-Gründung ist in diesem Kontext deshalb zu sprechen, da es natürlich nicht um das Hervorbringen von etwas gehen kann, sondern lediglich um die Gründung des Selbst-Seins, das im Zuge der existentiellen Bewegung denkbar wird. Und genau diese letzte Formulierung gibt Aufschluss über die infrage gestellte Sachlage. Das Selbst im existentiellen Verständnis ist zu denken, doch, so wie es sich bereits für den Begriff des Einzelnen gezeigt hatte, nicht als individuiertes Spezifikum zu vermitteln. Insofern geht die Vorstellung vom Selbst bruchlos in jener der Wesensbestimmung des Menschen auf. Als Beleg für diese Feststellung kann an die nicht unerheblichen Schwierigkeiten erinnert werden, vor der die genannten Autoren standen, wenn es die Frage nach der Individualität des Einzelnen im existentiellen Sinne zu beantworten galt. So symbolisiert die Vorstellung des eigensten Selbst-Seins für Martin Heidegger den formal zu verstehenden Erfüllungs-Modus verwirklichter Möglichkeit. Die Überlegung, ob und wie sich eventuell zwei Formen erfüllten Seins unterscheiden lassen, spielte für ihn darüber hinaus keine nennenswerte Rolle. Heideggers verbale Differenzierung zwischen Selbst und Man-Selbst wurde bereits angesprochen. Zur Klärung der Frage, ob seiner Vorstellung vom Selbst notwendig das Element der Individualität zukommt, ist noch einmal auf diesen Gedanken zurückzukommen. «Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.»324 Diese knappe Formulierung in für Heideggers sonstigen Sprachgestus bemerkenswerter Schlichtheit ist ein immens wichtiges Zeugnis im anstehenden Zusammenhang. Zunächst hilft sie dabei, seine Auffassung dessen, was er mit dem Begriff der Eigentlichkeit bezeichnet, zu verstehen. Dieser bedeutet letztlich nichts anderes als: eigens ergriffen. Und dasjenige, das es eigens zu ergreifen gilt, ist das Selbst. Dessen Bedeutung kann somit über den Weg der Negation erschlossen werden. Denn Selbst heißt Grund des eigenen Seins zu sein, eine Möglichkeit, die sich der Mensch nicht länger durch die Vorherrschaft des Man dominieren und damit abnehmen lässt. Nicht die Anderen, mit denen ich gleichwohl in jedem Augenblick das Sein teile, bestimmen mein So-Sein und fungieren damit als dessen Gründer, sondern ich selbst, ich als Selbst: Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von ‹Welt› und Er-
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Sein und Zeit, § 27, S.129. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Selbst-Sein
schließen von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunklungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt.325
Rückt mit der Vorstellung des freigelegten Daseins in seiner Ermöglichungsstruktur nun auch der Begriff des Ich in den Fokus der Aufmerksamkeit, macht Heidegger sofort deutlich, dass ihm nicht an dessen Theoretisierung gelegen ist. Dem formal-analysierenden Anspruch von Sein und Zeit gemäß geht es ihm vielmehr um die Aufdeckung der Modi gegründeten Seins, nicht um die Explikation ihrer individuellen Erfüllungsakte: Wenn schon das Sein des alltäglichen Miteinanderseins, das sich scheinbar ontologisch der puren Vorhandenheit nähert, von dieser grundsätzlich verschieden ist, dann wird das Sein des eigentlichen Selbst noch weniger als Vorhandenheit begriffen werden können. Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.326
Zumindest mit Blick auf Sein und Zeit kann damit schon einmal dieses festgehalten werden: Der Begriff des Selbst wird nicht als ein Residuum der Individualität gedeutet, die mit einiger Aussicht auf Erfolg gegen die Bemerkung hätte ins Feld geführt werden können, existenzphilosophische Nennungen des Selbst widersprächen dem Wesensbegriff. Entsprechend erklärt Heidegger: «Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber dann ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.»327 Mag man hierin insofern eine zugespitzte Position sehen, als Heidegger den Terminus des Selbst lediglich unter formaler Perspektive betrachtet und ihm dabei die Verweisungsfunktion existentieller Anzeige der Eigenheit zuweist, bieten die Ausführungen von Heinrich Barth eine andere Ausrichtung. Denn er stellt grundsätzlich fest: Wir reflektieren in der Philosophie der Existenz auf den Akt des ‹existere›. Doch wir dürfen den Konnex der Beziehungen, in denen sich diese Aktualisierung vollzieht, nicht außer Acht lassen. Wir treten heran an das Thema jener individuellen Einheit, die wir irgendwie als Voraussetzung des je einmaligen individuellen Existierens anzusehen geneigt sind.328
Dass Barth engagiert um den Nachweis dieser «individuellen Einheit» ringt, hat sich bereits gezeigt. Dabei wurde seine Argumentation auf das Feld ästhetischer Betrachtung geführt, da dort, so legen es seine Bemerkungen nahe, die unverwechselbare Natur des Individuums am deutlichsten zum Ausdruck kommen 325 326 327 328
Sein und Zeit, § 27. S.129. Sein und Zeit, § 27, S.130. Sein und Zeit, § 27, S.130. Erkenntnis der Existenz, S.297. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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kann, vorausgesetzt, der Betrachter ist in der Lage, sie zu erfassen. Der Beschreibung des Momentes, in dem Individualität in Erscheinung tritt, stellt Barth seine Überlegungen über den Prozess ihrer Bildung zur Seite, denn: «Was dem Individuum einen Inhalt seiner Existenz verleiht, ist die Einheit der Aktualisierung sich bildender menschlicher Bildung, sofern sie sich in der Zeit, also in einer Geschichte der Existenz, aktualisiert.»329 Mit dem Begriff der Bildung wird hier nicht auf intellektuelle Belehrung angespielt, wie sie sich innerhalb einer Kultur nachweisen lässt. Er stellt vielmehr Bezug zu einer Vorstellung der Gestaltwerdung her, in deren Verlauf ein Mensch jene Einheit zu erkennen gibt, die ihn als Individuum ausweist. Auf die Überlegung, wodurch eine solche Einheit gewährleistet werden kann, reagiert Barth selbst und erklärt, diese liege für den Menschen in der «Kontinuität seiner Existenzgeschichte».330 Eine Frage, die jedoch in diesem Rahmen nicht weiter verfolgt werden kann, könnte der Auswirkung des Gedankens transzendental begründeter Erkenntnis auf diese Vorstellung individueller Gestaltwerdung gelten. Sie wurde bereits an früherer Stelle gestreift. Im Augenblick steht nicht das Problem der Individualität im Vordergrund, sondern Heinrich Barths Ansichten zum Begriff des Selbst. Würde dieser deutliche Anteile individueller Bildungsgeschichte zu erkennen geben, könnte die Feststellung, Existenzphilosophie sei Wesenstheorie und als solche unfähig, Aussagen über den Einzelnen zu treffen, ins Wanken geraten. In der Erkenntnis der Existenz heißt es: Unter dem ‹Selbst› eines Menschen verstehen wir seine Existenz, sofern wir sie uns in ihrer Tiefe und in ihrem wesenhaften Gehalte vor Augen stellen. Darum ist an der Erkenntnis des ‹Selbst› oder des ‹Wesens› eines Menschen sehr viel gelegen, […]. Das ‹Selbst› weist zurück auf die Existenz, sofern sie in der qualitativen Verdichtung ihres Seins, in ihrem Grundgehalte, in ihrer Wesenhaftigkeit existiert.331
Der letzte Teil dieser Formulierung wurde bereits angeführt und unter dem Aspekt der «qualitativen Verdichtung» betrachtet. Für die aktuelle Fragestellung sind diese Zeilen von außerordentlicher Bedeutung, da sie die Entsprechung der beiden Begriffe «Selbst» und «Wesen» ausdrücken. Danach bedeutet die Aktualisierung des Existieren-Könnens im Zuge der Erkenntnis die Verwirklichung des «Grundgehaltes» menschlichen Seins, was für jeden Menschen gleichermaßen zutreffen kann. Inwieweit dieser «Wesenhaftigkeit» als dem möglichen SelbstSein entsprochen wird, zeigt sich in der Erscheinung des Menschen, wobei Barth einräumt, dass «es eines besonderen Ingeniums bedarf, den Menschen in seinem Erkenntnis der Existenz, S.331. Und auf S.330 heißt es: «Die ‹Bildung› des je einzelnen Menschen vollzieht sich in jener Fülle der Intentionen, die seiner Existenz ihren unerschöpflichen Reichtum menschlicher Bedeutsamkeit verleiht […].» 330 Erkenntnis der Existenz, S.331. 331 Erkenntnis der Existenz, S.339. 329
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Selbst-Sein
Selbst-Sein zu erblicken.»332 In dieser Sichtweise verschränken sich die beiden Ebenen der Betrachtung, die in diesem Kontext zu differenzieren sind, in der vielleicht einzig sinnvollen Möglichkeit, ohne die argumentative Not, der ihre Zusammenführung entspringt, verbergen zu können. Die formale Konzeption von Existenzphilosophie erfordert generelle Aussagen über das dem Menschen Eigentümliche. Die Berücksichtigung des Einzelnen, der von Barth in den Bemerkungen zum Individuum thematisiert wird, erfolgt anhand der Kennzeichen jeweils differenzierender Umsetzung. Für die anstehende Frage ist der Befund ausschlaggebend, dass Heinrich Barth die Begriffe von Selbst und Wesen nahezu synonym verwendet, weshalb von seiner Seite vermutlich kein Einwand gegen die Charakterisierung von Existenzphilosophie als Wesenstheorie erhoben würde. Mit einer letzten Formulierung von ihm wird der Blick auf die Auffassung von Karl Jaspers gelenkt. «Das ‹Selbst› des Menschen hat für uns nicht nur psychologische, sondern philosophische Bedeutung. Wir gewinnen in ihm für die Erkenntnis der konkreten Existenz eine Orientierung, die uns erlaubt, in diesem Felde überhaupt Fuß zu fassen.»333 Wie schwierig es ist, «in diesem Felde», das heißt im Denken der verwirklichten Existenz, «Fuß zu fassen», bestätigt sich im Laufe dieser Überlegungen immer wieder. Denn, um die Gedanken noch einmal zu fokussieren, es soll Gegenstand der Existenzphilosophie sein, ohne doch Thema von Philosophie überhaupt sein zu können. Generelle Aussagen über das Wesen und, wie sich allmählich abzuzeichnen beginnt, das Selbst des Menschen, verlieren ihre allgemeine Gültigkeit, sobald sie auf das Wirken des Einzelnen bezogen werden. Dessen Besonderheit büßt auf der anderen Seite ihre Einmaligkeit ein, wenn sie Inhalt philosophischer Bestimmungen wird. Vor diesem Hintergrund wirkt Heinrich Barths Schritt, zwei Ebenen der Betrachtung zu unterscheiden, als naheliegend. Es gibt die Ebene, auf der die Natur des Wesensbegriffes diskutiert werden kann, und es gibt eine andere Ebene, auf der über die individuelle Existenzgeschichte des Menschen gesprochen werden kann, in deren Verlauf er als existierendes Wesen Gestalt gewinnt. Im Rahmen seiner Reflexionen über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Thematisierung der Existenz spricht Karl Jaspers einen Gedanken aus, dessen Ähnlichkeit zu dem gerade Gesagten offensichtlich ist. Dass er den Weg des Wissen-Wollens hierfür ausschließt, hat sich bereits gezeigt. So klingt es nachvollziehbar, wenn er schreibt: «Die Denkmittel zur Erhellung der Existenz müssen einen eigentümlichen Charakter haben, wenn Existenz nicht ein Objekt in der Welt und kein gültiger idealer Gegenstand ist.»334 Auf der Grundlage «gegenständlichen Denkens», so ist weiter zu lesen, transzendiert das Denken, das sich der Existenz zuwendet, die Möglichkeit ihrer Denkbarkeit und gewinnt da332 333 334
Erkenntnis der Existenz, S.341. Erkenntnis der Existenz, S.340. Philosophie II, S.9. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mit die Transzendenz des Denk-Möglichen schlechthin, das Existenz erhellt. Die folgenden Ausführungen lassen die Problematik philosophischer Rede vom Einzelnen, hier in der Gewandung des Existierenden, anklingen, die sich mehr und mehr in den Vordergrund der Betrachtung drängt und die Frage aufwirft, wie letztlich mit diesem Paradox umzugehen ist. «Mögliche Existenz, welche so im Denken sich erfaßt, hält wohl das Allgemeine ihres Denkens für gültig, weil dieses Allgemeine durch sie schon erfüllt ist; aber sie weiß zugleich, daß das schlechthin Allgemeine, das für jedermann identisch wißbar ist, einen anderen Charakter von Einsichtigkeit hat.»335 Existenz-Vollzug ist das eine, dessen Reflexion im Denken, das sich seiner selbst vergewissert, das andere. Sehr viel schöner klingt es, wenn Jaspers in diesem Zusammenhang vom «Denken, in dem gleichsam zwei Flügel schlagen» spricht und damit die gültige Metapher für existentielles Denken formuliert. In seiner Interpretation hat dieses sich beständig der eigenen Begrenztheit bewusst zu sein, um diese überschreiten zu können. Damit ist freilich keine Aufhebung ihrer limitierenden Wirkung gemeint, sondern der Hinweis, dass Transzendieren das Transzendieren von etwas ist. Zu berücksichtigen ist, dass er die beiden Flügel als «die mögliche Existenz» und «das Denken des Allgemeinen» identifiziert. Doch worin unterscheiden sich beide? Stoßen wir hier am Ende etwa auf jene altbewährte Differenzierung von Praxis und Theorie? Wohl kaum, denn immerhin rechnet Jaspers beide Seiten einem Denken zu, das sich freilich nicht mit dem Erkennen der Philosophie gleichsetzen lässt. Denken möglicher Existenz hätte also Denken in Konkretion zu sein, was letztlich nur in Form des Bildhaften beziehungsweise des Symbolischen operieren könnte. Denn beide Weisen, etwas zu vergegenwärtigen, sind dazu geeignet, der Besonderheit des Konkreten Rechnung zu tragen und es doch in eine Sprache der Stellvertretung zu übersetzen. Dieser Begriff, der nicht von Jaspers stammt, wird verwendet, um die formelhafte Repräsentation bezeichnen zu können, in die wir uns seiner Auffassung nach einfinden, um das Konkrete im Allgemeinen denken zu können.336 Diese knappen Anmerkungen, die in keiner Weise dem Gegenstand gerecht werden können, dienten dazu, Karl Jaspers’ Begriff des Selbst einzuführen. Das Ineinandergreifen beider Möglichkeiten, von Existenz zu sprechen, wird in seiner Konzeption besonders deutlich akzentuiert: So spricht Existenzerhellung vom Selbst zwar wie von einem Allgemeinen, dessen Strukturen sie aufweist, aber sie kann nur mich selbst treffen wollen, der ich unvertretbar bin: ich bin nicht das Ich, sondern ich selbst. Ich suche zwar das Selbst, aber um mich selbst zu finden, und mich selbst, um des Selbsts willen.337
Philosophie II, S.11. «Im Denken der Existenz durch signa wird ein formales Schema der Existenz konstruiert.» Philosophie II, S.16. 337 Philosophie II, S.16. 335 336
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Es ist wohl nicht unberechtigt, in diesen Zeilen in aller Unmissverständlichkeit ausgedrückt zu finden, was Martin Heidegger und Heinrich Barth intendierten, doch niemals so entschlossen formulierten. Woher stammt dann die Sicherheit, von ihren Intentionen sprechen zu können. Ist es nicht vermessen, wissen zu wollen, was sie beabsichtigten, obwohl sie es nicht eigens benannten? Es sind ihre uns vorliegenden Aussagen, die nicht nur erschließen, was thematisiert wurde, sondern darüber hinaus erahnen lassen, was hätte ausgesprochen werden können, ja vielleicht ausgesprochen werden müssen, da es ihr Denken forderte. Es handelt sich um die Tatsache, dass wir zwar von der Existenz als der Seins-Weise des Menschen ausgehen und deren Natur in grundsätzlich gültigen Metaphern bezeichnen können, dass Existenz aber nur je und je von jedem von uns verwirklicht werden kann. Hier kommen Heideggers Bemerkungen zur notwendigen Vereinzelung in Erinnerung, die den Menschen seine Freiheit zur Existenz erst eigentlich erfahren lässt. Der Blick fällt aber auch auf den Begriff der «Jemeinigkeit», der bisher nicht berücksichtigt wurde. Dass Heidegger die Schwierigkeit, die Karl Jaspers formuliert, durchaus kannte, wird gleich im dritten Paragraphen von Sein und Zeit ersichtlich, wenn er unter Bezugnahme auf die Seinsfrage notiert: «Man kann aber zu wissen verlangen, wozu diese Frage dienen soll. Bleibt sie lediglich oder ist sie überhaupt nur das Geschäft einer freischwebenden Spekulation über allgemeinste Angelegenheiten – oder ist sie die prinzipiellste und konkreteste Frage zugleich?»338 Sie ist tatsächlich beides, von grundsätzlicher Bedeutung und nur in der Verwirklichung zu beantworten. Denn das Wissen um die Seins-Möglichkeit der Existenz verlangt nach Umsetzung in unserem Denken und, diese Ergänzung ging den genannten Autoren zunächst noch zu weit, unserem Handeln. Es ist kein selbstverständliches Kriterium philosophischer Konzeptionen, dass eine solche Differenzierung, die in Wirklichkeit keine Trennung, sondern intrinsische Forderung ist, bedacht wird. Der Zweifel daran, hier auf die traditionelle Unterscheidung in Theorie und Praxis zu treffen, klang bereits an. Vor dem Hintergrund der Feststellungen von Jaspers und Heidegger gewinnt er vollends Oberhand. Es geht schließlich im existentiellen Denken nicht darum, Theorien zu formulieren, die dann im konkreten Dasein anzuwenden sind. Hier steht etwas anderes auf dem Spiel, nämlich die Einsicht, dass das Sprechen über Existenz nur im Existieren verifiziert werden kann. Und dafür ist der Einsatz des Einzelnen erforderlich, da nur er realisieren kann, was als Sinn der Existenz zu benennen ist. Darum schreibt Martin Heidegger: Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhan-
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denem. […] Das Ansprechen von Dasein muß gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen:‹ich bin›, ‹du bist›.339
Was Heidegger hier für das Dasein in Anspruch nimmt, ließe sich ohne Weiteres auch auf die Existenz übertragen, denn diese ist als Möglichkeit dem Dasein stets inhärent. Die theoretische Rede und der Existenz-Vollzug – damit liegen die beiden Parameter existentiellen Denkens vor uns. Vielleicht verwundert es, dass auch die Verwirklichung der existentiellen Bewegung dem Denken zugeordnet wird. Solches Erstaunen wäre ohne Frage berechtigt, wenn von philosophischem Denken in traditioneller Form ausgegangen würde, denn danach könnte uns Theorie, wie sie etwa in der Artikulation eines Imperativs ihren Ausdruck findet, immer nur zur theoretischen Erwägung anleiten, ob wir ihm gemäß agieren wollen oder nicht. In unserem Handeln könnte sich wohl seine Anwendbarkeit bestätigen, doch nicht seine Gültigkeit an sich, da diese keiner Verifikation im Konkreten bedarf. Anders verhält es sich, wie nach und nach immer deutlicher wird, im Falle des existentiellen Denkens. Der Begriff der Existenz kann keinen Aufschluss über die Weise geben, in der der Einzelne sie verwirklicht. Doch diese Weise bestätigt die Denkbarkeit von Existenz. Ist die Frage nach dem Selbst über diesen letzten Bemerkungen gänzlich in Vergessenheit geraten? Keineswegs, wie der Schwenk zu einem weiteren Gedanken von Karl Jaspers zeigt. «Was ich bin, wird mir […] nicht zur Totalität. […] Es entsteht ein indirektes Wissen um mich, das nicht ein Wissen von mir ist. Das Selbst ist mehr als alles Wißbare.»340 Eine solche Feststellung, die eine allgemeine Aussage über den Begriff des Selbst trifft, kann Inhalt philosophischer Erörterung sein. Eine Beschreibung jener Akte, die sich nicht zur «Totalität» zusammenfassen lassen, fiele hingegen aus ihrem Kompetenzbereich heraus und verlangte nach anderer Darstellung und Reflexion. Halten wir uns an diesen Gedanken, wird der Begriff «das Selbst» in der bisher vorherrschenden Weise erkennbar, wohingegen der Ausruf «ich selbst» von keiner Theorie einzufangen und zu verallgemeinern ist. Mit dieser Doppelung ihres Sujets muss Existenzphilosophie sich auseinandersetzen und einen Weg finden, sie produktiv zu nutzen. Mit Blick auf die Positionen der Existenzphilosophie, die betrachtet wurden, ergibt sich, dass der Gedanke des Selbst ihrer Bezeichnung als Wesenstheorie nicht im Wege steht, selbst wenn er das Element situativer Bildung des Individuums beinhaltet. Seine hauptsächliche Bedeutung besteht darin, auf einen Erfüllungs-Modus möglichen Seins hinzuweisen, das Heidegger als das eigenste Selbst-Sein bezeichnet. Insofern rückt der Begriff des Selbst zeitweise sehr nahe an den des Wesens, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein. Der zum Teil synonyme Gebrauch, der beobachtet werden konnte, verschleiert diesen Umstand nur für einen kurzen Mo339 340
Sein und Zeit, § 9, S.42. Philosophie II, S.34. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ment. Beide können durch den Aspekt der Potentialität unterschieden werden. Wenn im existentiellen Kontext von Wesenhaftigkeit die Rede ist, deutet dieses das Faktum an, dass der Mensch über Sein eigener Art verfügt, nämlich Sein im Werden. Wenn hingegen vom Selbst gesprochen wird, wird dadurch die ergriffene Möglichkeit, im Sein zu werden, angezeigt. Wie Jaspers zeigt, ist diese Konkretion erforderlich, um die Bewegung des Transzendierens zu schaffen. Als Erfüllungs-Modus möglichen Seins impliziert der Begriff des Selbst damit zwar die grundsätzliche Vorstellung der individuellen Verwirklichung, dient jedoch nicht primär zu deren Bezeichnung. In einer sehr knappen Form könnte dieser Sachverhalt so ausgedrückt werden, dass das Wesen des Menschen darin besteht, Selbst zu werden. Dass sich an dieser Auffassung die seltenen Erwähnungen von menschlicher Bestimmung anlagern können, die die untersuchten Texte enthalten, verwundert vor diesem Hintergrund nicht mehr. Wenn dort zu lesen ist, dass es etwas gäbe, wofür der Mensch da sei, das er zu sein habe, das ausstehe, dann spiegeln diese vereinzelt auftauchenden Bemerkungen exakt jene Auffassung von Wesen und Selbst. Diese, und damit knüpfen die Überlegungen an ihren Ausgangspunkt an, ist weitaus mehr als nur von formaler Bedeutung, indem sie zwei Zustandsweise des Seins zu unterscheiden hilft. Sie transportiert genau jene Idee einer teleologischen Dimension der Existenz, die man wahrscheinlich nicht sofort mit ihr assoziieren würde. Denn zunächst scheint die Interpretation ihres Begriffes in eine völlig andere Richtung zu weisen. Allein das Bild des Entwurfes kann die Vorstellung hervorrufen, die existentielle Bewegung sei als ein Prozess freier Selbstgründung zu verstehen. Untermauert wird diese Annahme durch die Erwähnungen der Erschütterung, der Vereinzelung, die für den Menschen einen Bindungsverlust bedeuten, dessen Dauer und Ausmaß er selbst noch gar nicht zu überblicken vermag. Bindungen an die Gemeinschaft und deren wertsetzende Funktion lösen sich im Zuge der Vereinzelung, die von den Autoren in unterschiedlicher Intensität beschrieben wird. Nichts ist mehr, wie es war, nichts erscheint vertraut, nichts bietet Schutz und Orientierung. Läge die Vermutung nicht nahe, dass sich ein Mensch, der sich so entwurzelt fühlt, in einen Taumel beliebiger Aktionen stürzt, deren jede ganz genau so viel wert ist, wie die andere? Vielleicht wäre eine solche Reaktion wahrscheinlich, doch wäre sie nicht als existentiell zu bezeichnen, denn bei der Reflexion der Möglichkeit zur Existenz geht es nicht um die Begründung einer Handlungstheorie. Noch nicht, so ist in Anbetracht der weiteren Überlegungen hinzuzufügen. Der Sinn einer solchen Reflexion besteht darin, die Aufmerksamkeit von den Erwägungen konkreten Handelns zu lösen und frei auf das Faktum des reinen Sein-Könnens zu richten. Unter Berücksichtigung der erwähnten Differenzen in der Auslegung einzelner Aspekte der Theorie kann Existenz als Einsicht in dieses Faktum reinen Sein-Könnens bezeichnet werden. Heinrich Barth artikuliert diese Auffassung in der größten Klarheit, indem er erklärt, die Existenz-Frage sei eine Erkenntnis-Frage. Doch auch für Martin Heihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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deggers und Karl Jaspers’ Position könnte diese Feststellung gelten. Nicht zufällig erscheinen die Begriffe des Seins-Verständnisses und der Existenz-Erhellung in ihren Texten. Bisweilen wird nicht zu Unrecht kritisiert, dass Philosophie der Existenz letztlich keine Aussagen zur Ethik treffe. Wird diese aber in der eben skizzierten Weise verstanden, könnte darauf bestanden werden, dass solche Aussagen schlichtweg nicht in deren Kompetenz fallen. Doch kann eine solche Bemerkung jemals zufriedenstellen? Kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass es Philosophie gibt, die nicht an irgendeinem Punkt ihrer Theoriebildung auch die Frage nach dem Guten zu thematisieren hat? Aus Sicht der hier vertretenen Position ist eine solche Annahme strikt abzulehnen. Denn wohin führt die Reflexion des menschlichen Könnens, wenn nicht dazu, dieses auch unter ethischem Aspekt zu betrachten? Wenn Existenzphilosophie sich mit weniger, vielleicht auch einfach mit anderem zufriedengibt, dann wären die Gedanken, die sich hier allmählich aufzubauen beginnen, letztlich unsinnig. Sie würden ihr Denken an einem Maßstab messen, den sie selbst nicht akzeptieren würde, und von ihr Auskunft über Fragen erwarten, die sie nicht stellen wollte. Aber kann in so undifferenzierter Weise davon ausgegangen werden, dass ihre Repräsentanten nicht an Problemen ethischer Natur interessiert gewesen sind? An diesem Punkt, der bereits weit in das noch zu Zeigende vorgreift, kommt der Gedanke der Wesenhaftigkeit des Menschen in ganzem Umfang zum Tragen. Da Existenzphilosophie trotz ihres Innovations-Anspruches in einzelnen Bereichen, besonders in Hinblick auf die Thematisierung des Einzelnen, ein zutiefst traditionelles Verständnis vom Wesen zeigt, scheint ihr die Frage nach dem Guten aus einer grundsätzlichen Perspektive vertraut und sogar essentiell zu sein. Wie hängen beide Begriffe zusammen? Bedeutet die Verwirklichung der wesenhaften Möglichkeit automatisch, Entwicklung zum Guten zu sein? Bereits an früherer Stelle wurde der Gedanke des Guten durch denjenigen des Richtigen ersetzt, woran nun anzuschließen ist. Treten wir einen Schritt zurück und fragen, woher die Annahme der Wesenhaftigkeit ihre Begründung und Legitimation erfährt? Warum ist es angemessen, Vernunft in allen Lebensbereichen zur Geltung kommen zu lassen, wenn unser Wesen darin besteht, animal rationale zu sein? Eine höchst unnötige Frage, so kann erwidert werden, ist es doch gerade Kennzeichen einer Wesensbestimmung, weder gerechtfertigt werden zu sollen noch zu können. Damit steht sie jenseits des Kontextes argumentativer Natur und beruft sich ausschließlich auf das Element vergleichender Beobachtung. Weil wir als Menschen die vermutlich einzigen Lebewesen sind, die über Rationalität verfügen, ist dieses unser Wesensmerkmal. Der Gedanke wurde bereits angesprochen. Die Folgerung, die sich aus dieser Feststellung ergibt, ist wohl dazu geeignet, weitere Fragen nach der Begründung dieser Wesensbestimmung zum Schweigen zu bringen. Weil wir über diese Fähigkeit verfügen, kann es nur angemessen sein, sie zu verwirklichen, denn sie entspricht unserer Natur. Was uns entspricht, kann https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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schließlich nur als richtig betrachtet werden, da jede andere Bestimmung unseres Wesens dieser Natur nicht entsprechen würde. Verhalten der Wesensbestimmung gemäß kann somit in jedem Fall als richtig angesehen werden. Und da es richtig für jeden Menschen ist, ist es auch als gut für alle Menschen zu betrachten. Wird dieses stark vereinfachte Modell auf unsere Fragestellung übertragen, ergibt sich, dass Agieren der Wesensbestimmung der Existenz gemäß als richtig an sich und gut für alle Menschen zu bezeichnen ist. Es ist vielleicht nicht übertrieben, davon auszugehen, dass diese Herleitung, obwohl sie eine gewisse Folgerichtigkeit zu zeigen scheint, der Überprüfung bedarf. Im Moment kann der Bezug auf die Formulierung der teleologischen Dimension existentieller Bewegung hergestellt werden. Aus einem von den hier zitierten Autoren nicht näher erläuterten Grund ist uns das Wissen stets zu eigen, dass der Weg in die Existenz, das heißt zur reinen Einsicht in die Möglichkeit des Sein-Könnens, der richtige Weg sei, richtig, weil er unserem Vermögen entspricht. Es ist immer wieder überraschend und faszinierend, sich zu vergegenwärtigen, in welchem Umfang Elemente des aristotelischen Denkens unsere Auffassungen prägen. Der theoretische Aspekt, der gerade hier auftaucht, entstammt seinen Aussagen zur Physik und besagt, dass jeder Organismus von sich aus danach strebe, seinen natürlichen Ort zu erreichen, wovon ihn letztlich nur die Einwirkung einer äußeren Ursache abhalten könne. Verbunden mit der Feststellung aus metaphysischem Kontext, wonach Verwirklichung stets besser sei als ihr Vermögen, ergibt sich der perfekte Begründungszusammenhang zur Bezeichnung des Möglichen als richtig. Existenzphilosophische Theorie könnte sich noch immer auf diese Auffassung berufen, sollte ihr jemals die Frage nach der frappierenden Selbstverständlichkeit gestellt werden, mit der sie die existentielle Bewegung als richtig betrachtet. Erstaunlicherweise wurde sie mit dieser Frage allerdings bisher kaum konfrontiert. Dabei wäre sie in ausgezeichneter Weise dazu geeignet, einen Selbstprüfungsprozess in Gang zu setzen, der dazu beitragen könnte, die Übereinstimmung von Ziel und eingesetzten Mitteln solcher Theoriebildung zu reflektieren. Bisweilen wird darauf hingewiesen, dass sich Existenzphilosophie in den 1920er Jahren zum Teil als korrespondierender Entwurf zu religiösen Konzeptionen etablieren wollte, da diese scheinbar die Menschen nicht mehr in der gewohnten Intensität anzusprechen vermochten, oder da die Menschen nicht mehr in der Lage waren, ihrer Ansprache Gehör und Vertrauen zu schenken. Damit hätte das existentielle Denken vor der Herausforderung gestanden, Begründungszusammenhänge, die durch den Verlust religiös gegründeter Gewissheit unbesetzt blieben, zu erkennen und durch Angebote aus dem eigenen argumentativen Repertoire zu erschließen. Die Frage nach der Natur des Menschen hätte in diesem Kontext besondere Relevanz gezeigt, da gerade in der Zeit nach dem Weltkrieg ein gesteigertes Bedürfnis nach Klärung der eigenen Sinnhaftigkeit spürbar wurhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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de. Das bedeutete für eine Theorie, die nach Kräften Fragen aufzugreifen hatte, die vormals von theologischer Seite diskutiert wurden, jene Antworten kritisch zu prüfen, die von philosophischer Seite angeboten werden konnten. Angesichts dieser drängenden Lage erscheint es überraschend und zum Teil auch unverständlich, dass eine solche Prüfung nicht in weitaus größerem Umfang stattgefunden hat. Es ist das Verdienst von Karl Jaspers, hier zumindest teilweise Rede und Antwort gestanden zu haben, auch wenn das mitunter erschwert, den genuin philosophischen Charakter seines Denkens ausmachen zu können. Heinrich Barth polemisiert in den 1960er Jahren gegen eine unklare Trennung von Religion und Philosophie, wobei er letztlich die Erklärung dessen, was er unter Religion versteht, in Erkenntnis der Existenz schuldig bleibt. Wenn seine diesbezüglichen Andeutungen aufgegriffen werden, ergibt sich das Bild einer Lehre, die in philosophisch nicht verifizierbarer Weise beansprucht, Weisheit zu vermitteln. Diese wäre seiner Auffassung nach keinesfalls mit transzendental begründender Erkenntnis zu vereinbaren. Die Frage steht noch immer vor uns, wie Existenzphilosophie das WerdenKönnen, das von ihr mehr oder weniger stillschweigend mit dem Werden-Sollen gleichgesetzt wird, begründet. Der einzige Weg, hier überhaupt von einer Erklärung, wenn schon nicht von einer Legitimierung ausgehen zu können, führte zum Rückgriff auf traditionell philosophisches Denken auf der Grundlage aristotelischer Ansichten. Ist es eine vereinzelte Meinung, das Ausbleiben einer explizit geführten Begründung als problematisch anzusehen? Denn das sei noch einmal hervorgehoben: Der Rückgriff auf eine mögliche Erklärung, die sich auf die Theorien des Aristoteles stützt, wurde nicht von den Autoren vorgenommen, sondern diente in dieser Betrachtung dazu, einen Weg der Erläuterung zu konstruieren, der auf dem Fundament philosophischer Theoreme hätte gegangen werden können. Eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Umstand der teleologischen Dimension des Existenz-Begriffes aus einer anderen Warte zu beleuchten, liegt im Vergleich zu Jean-Paul Sartres Auffassung. Wie sich bereits zeigte, betrachtet er Existenz keineswegs als Entwicklungsoption des Menschen, die ihn zum Ergreifen wesenhafter Möglichkeit führt, sondern als Standardform menschlichen Seins, der insofern keinerlei positive Konnotation zugesprochen werden kann, ganz im Gegenteil. Der Mensch empfindet das Existieren-Müssen, für dessen Notwendigkeit er selbst durch seine Nichtungsakte verantwortlich ist, als Last und Bürde. Der Sinn der Lehre des Existentialismus besteht nach Sartres Auffassung darin, uns trotz dieser scheinbar ausweglosen Situation, ausweglos, weil wir ihr ständig neue Bestätigungen hinzufügen, Vertrauen in unsere Freiheit zu vermitteln. Diese ist zwar unauflöslich mit dem Gedanken der Nichtung verknüpft, kann aber dessen ungeachtet unserer Verfügung überantwortet werden. Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Sichtweise für Sartres Verständnis vom Selbst? Im Unterschied zu den drei angedeuteten Positionen akzentuiert er den Bildungsgedanken, wonach das Selbst eines Menschen Inbegriff seiner Enthttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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wicklungsgeschichte ist, die ihn, bedingt durch die permanente Aktivität der Selbst-Entwürfe, individualisiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Formulierung «ich selbst» für ihn weitaus mehr Gewicht, als es bisher zu registrieren war: Darunter [dem ich-selbst] ist nicht zu verstehen, daß ein Ich unser Bewußtsein bewohnt, sondern daß sich die Selbstheit verstärkt, wenn sie als Negation einer anderen Selbstheit auftaucht, und daß diese Verstärkung positiv erfaßt wird als die fortgesetzte Wahl der Selbstheit durch sie selbst als dieselbe Selbstheit und als diese Selbstheit selbst.341
Die Besonderheit dieser Sichtweise ist insofern gegeben, als sie den Begriff der Selbstheit unter Respektierung des Nichtungsgeschehens interpretiert. Ein solches Geschehen liegt auch bereits in der Abgrenzung gegen ein anderes Individuum vor, die Gegenstand unserer Reflexion werden kann. Die folgende Formulierung könnte als Annäherung an die vorgestellten Deutungen aufgefasst werden, die sich allerdings als nicht intendiert erweist: «Ich erfasse mich ja nie abstrakt als reine Möglichkeit, ich selbst zu sein, sondern ich lebe meine Selbstheit in ihrem konkreten Entwurf auf diesen oder jenen Zweck hin: ich existiere nur als engagiert, und ich gewinne nur als solcher Bewußtsein (davon), zu sein.»342 Sartre meint mit seiner Formulierung des Engagements, die zu den zentralen Elementen seiner Lehre zählt, nicht ein punktuelles Sich-Einsetzen für einen gewählten Zweck, der als erstrebenswert erachtet wird, sondern die grundsätzliche Bezogenheit auf das Worumwillen unseres Tuns, die uns wie die Freiheit und die Verantwortung immer schon eignet. Daher würde die korrekte Formulierung nicht ‹ich engagiere mich› lauten, sondern ‹ich bin engagiert›. Beinhaltet der Gedanke des Engagements aber das Element der Zweck-Orientierung, könnte dieses doch in Bezug zur teleologischen Dimension des Existenz-Begriffes, wie sie sich bisher zeigte, gesetzt werden. Der Hinweis darauf, dass in beiden Fällen eine Ausrichtung auf ein Ziel angeführt werden könnte, reicht jedoch nicht aus, um hier Gemeinsamkeit nachweisen zu wollen. Denn im Falle der existenzphilosophischen Vorstellung der Ausrichtung handelt es sich um eine Justierung, die das gesamte Sein des Menschen bestimmt und ihn seiner Wesensbestimmung entsprechen lässt. Im Falle eines konkreten Entwurfs «auf diesen oder jenen Zweck» geht es hingegen um Einzelfallentscheidungen, die Sartres Ansicht nach ein je individuelles Profil des Menschen bilden können. Zwischen diesen beiden Alternativen der Wesensbestimmung und der Einzelfallentscheidung ist eine Positionierung des Begriffes vom Selbst in beiden philosophischen Ausrichtungen möglich. Keine der hier betrachteten Positionen gleicht in der Abwägung der exakten Platzierung einer anderen vollständig. Heidegger ordnet die Überlegungen zum einzelnen Akt des Selbst-Bezugs seiner generellen Seins-Analyse unter; Jaspers akzentuiert vor allem die Entsprechung der Vorstellungen von Selbst und Wesen; 341 342
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Barth versucht, das individuelle Element existentieller Erkenntnis unter Hinweis auf die je eigene Bildungsgeschichte des Einzelnen zu berücksichtigen und Sartre subordiniert eine generelle Deutung des Selbst als Eigentümlichkeit des Menschen vollends dem Nachweis individueller Selbstsetzungs-Momente. Um es schließlich noch einmal zu betonen: Die Annahme eines Selbst, das dem Menschen als ihm eigentümliche Form eigensten Seins zuerkannt wird, stellt die Bezeichnung von Existenzphilosophie als Wesenstheorie nicht grundsätzlich infrage. Für das existentialistische Denken wäre diese Feststellung ohnehin nicht zutreffend, so dass es unproblematisch ist, wenn dort eine allgemeingültige Version des Selbst nicht relevant wird. Ein letzter Einwand könnte erhoben werden, bevor zu jener Überlegung zurückgekehrt werden kann, die den Rahmen der Frage nach dem Selbst bildete. Es könnte auf Martin Heideggers Formulierung des eigensten Selbst-Seins Bezug genommen werden, die doch sehr wohl eine stärkere individuelle Komponente enthält, als gerade für diesen Denker eingeräumt wurde. Dieser Hinweis, der zunächst sehr plausibel klingt, kann mit dem Blick auf die Bedeutung des Begriffes vom Eigensten entkräftet werden. Denn diese besagt nicht, das mein Eigenes sich von dem eines anderen Menschen unterscheidet, sondern dass sein und mein Eigenstes uns als Menschen gleichermaßen kennzeichnet.
Im Sinne einer Erweiterung Etliche Seiten früher wurde vermerkt, dass an Kernbegriffen existentiellen Denkens eine geringfügige Modifikation vorzunehmen sei, um dieses für eine aktuelle Version von Existenzphilosophie aufstellen zu können. Es handelt sich um die Begriffe «Existenz», der «Einzelne» und «Entwurf», die, soviel konnte gezeigt werden, als konstante Parameter dieses Denkens angesehen werden können, die ausreichend interpretativen Spielraum bieten, um Variationen in der jeweiligen Ausformulierung zuzulassen. Der erste Begriff, der nun zur kritischen Prüfung herangezogen wird, ist jener der Existenz. Der weitgreifende Exkurs über die Betrachtung der Vorstellungen von Wesen und Selbst des Menschen war erforderlich, um zu zeigen, wie stark dessen existenzphilosophische Deutung von traditionellem Wesensverständnis geprägt ist. Die existentielle Bewegung wird in überraschender Einhelligkeit als Annäherung an das Telos dieser Wesensvorstellung gesehen, an dessen Gültigkeit keiner der Autoren prinzipiell zweifelt. JeanPaul Sartre ist aus dieser Beurteilung auszuklammern, da seine existentialistische Sicht des Menschen gerade eine solche Ausrichtung des Existierens nicht beinhaltet. Was könnte sich nun aber an der Auffassung, Existenz sei gerichtete Bewegung auf das dem Menschen Entsprechende, als problematisch erweisen? Schließlich handelt es sich um eine Ansicht, die unter anderen Denominationen sehr lange das philosophische Denken inspirierte. Gerade die parallele Betrachhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Im Sinne einer Erweiterung
tung der Begriffe «Wesen» und «Selbst» kann als Vorbereitung der Antwort gute Dienste leisten. Denn für Martin Heidegger, Karl Jaspers und Heinrich Barth, die in diesem Fall tatsächlich in einem Atemzug genannt werden können, liegt das Ziel menschlichen Seins in der Verwirklichung seines ihm wesentlichen SeinKönnens. Bis zu diesem Punkt ist uneingeschränkte Zustimmung möglich. Die kritische Reflexion setzt in dem Moment ein, in dem danach gefragt wird, wie das verwirklichte Können definiert wird. Es erschließt die Einsicht in die Möglichkeit eigensten Seins, womit es nicht nur von Heinrich Barth letztendlich als Erkenntnis-Geschehen verstanden wird. Inhalt dieser Einsicht ist das Wissen um das dem Menschen Mögliche, das heißt darum, was uns die vollgültige Version unseres Selbst ergreifen lässt. Vollgültig deshalb, weil in ihr kein potentieller Aspekt unseres Vermögens mehr als unrealisiert anzusehen ist. Jeder Einzelne kann diese Erkenntnis gewinnen und jeder muss sie als Einzelner erschließen. Der größte Teil existenzphilosophischer Erwägungen, wie sie hier als repräsentativ vorgestellt wurden, endet an diesem Punkt, nicht aus Desinteresse oder Selbstbeschränkung, sondern weil die Aufgabe einer Philosophie der Existenz damit erfüllt zu sein schien. Vielleicht war sie es in den 1920er Jahren tatsächlich, was womöglich die Frage aufwirft, ob damit das innovative Potential dieses Denkens nicht allzu knapp bemessen wird? Mit Sicherheit ist zum Beispiel an Karl Jaspers’ Aussagen zum Begriff der Kommunikation zu erinnern, in denen sich eine Ausweitung der ausschließlich auf die Selbst-Bewegung des Einzelnen konzentrierten Überlegungen abzeichnet. Es ist an seine und Martin Heideggers Auseinandersetzungen mit dem noch relativ neuen Thema der Technik zu erinnern, die jedoch nicht mehr in die Gründungsphase des Existenz-Denkens fallen, sondern in den 1950er Jahren erfolgten. Karl Jaspers Diskussion der Schuldfrage unmittelbar nach Kriegsende hat längst schon nichts mehr mit der offensichtlichen Selbst-Verschränkung der frühen Existenzphilosophie zu tun, es sei denn im allerbesten Sinne, da an den Einzelnen und seine Verantwortlichkeit appelliert wird. Heinrich Barths Überlegungen zur Koexistenz sind schließlich ebenso zu nennen, auch wenn diese aus den 1960er Jahren stammen. Es gibt also durchaus Belege dafür, dass mit den Mitteln des existentiellen Denkens Themen reflektiert wurden, die über die Beschreibung der Konstitutionsbedingungen des Selbst-Seins hinausweisen. Wird der Fokus aber auf jene ersten ereignisreichen Jahre gerichtet, in denen in schneller Folge die ersten zentralen Werke der Existenzphilosophie publiziert wurden, liegt deren Schwerpunkt auf der Erörterung genau dieser Bedingungen. Die Konstitution des Selbst-Seins wurde hier als Erfüllung der Wesensbestimmung des Menschen bezeichnet, womit abermals die Frage nach dem genuinen Beitrag entsteht, den das existentielle Denken im philosophischen Diskurs seiner Zeit leistete. Dieser Beitrag ist, obwohl er im Moment fast ein wenig marginal wirken könnte, auf keinen Fall zu unterschätzen. Existenzphilosophie muss nicht mehr begründen, warum sie eine Vorstellung von der Wesensbestimmung des Menschen thematisiert, sondern warum der https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Mensch diese als seine eigene Bestimmung erkennt und wie er ihre Verwirklichung vollzieht. Immer wieder auf dem innovativen Charakter dieser Philosophie zu beharren, mag allzu plakativ wirken, so, als sei das Neue bereits deshalb sinnvoll zu denken, weil es neu ist. Es geht um nicht weniger als um eine Akzentverschiebung, die einen Aspekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, der bislang nicht in vergleichbarer Weise reflektiert wurde. Warum also erkennt der Mensch ! und zwar dieser Einzelne – Existieren-Können als seine Wesensbestimmung an? Warum finden wir uns in der Vorstellung eines performativen Selbst-Seins ein, womit exakt dasselbe formuliert wird? Warum muss diese Frage überhaupt artikuliert werden, hat doch die philosophische Definition des animal rationale über einen langen Zeitraum funktioniert und kann dieses zum Teil noch immer für sich in Anspruch nehmen? Der Funktionsmechanismus dieser Wesensbestimmung gibt Aufschluss. Der Mensch wird als vernunftbegabtes Lebewesen gekennzeichnet und auf dem Wege rationaler Begründung von der Stimmigkeit dieser Definition überzeugt, die sein Handeln und Verhalten entsprechend motiviert. Greift genau dieser Mechanismus auch im existentiellen Denken? Erstaunlicherweise ist es nicht so. Denn hier wird nicht eine Fähigkeit als bestimmendes Kriterium angesetzt, die in der gleichen Weise angewendet, wie als erstrebenswert ausgewiesen wird. Für die traditionelle Wesensdefinition trifft dieses insofern zu, als der Mensch durch rationale Darlegung über seine Wesenskennzeichnung informiert wird. Das Verstehen dieser Information und die Ausübung der essentiellen Fähigkeit greifen Hand in Hand. Im Falle existentiellen Denkens, so könnte man meinen, wird ebenfalls auf eine Fähigkeit verwiesen, wenn das Existieren-Können angesprochen wird. Bis zu einem gewissen Grad decken sich auch hier die theoretische Darstellung und die Wesenserfüllung, was dadurch bestätigt werden kann, dass die genannten Autoren Existenz mit dem Verstehen der Seins-Möglichkeit des Menschen gleichsetzen. Diese Möglichkeit wird jedoch nicht in einer Art argumentativem Vorgriff, der sogar die Form eines Imperativs annehmen kann, dargelegt, sondern jeder Einzelne hat sie durch seine Erfahrung, zumeist durch die spezifische existentielle Erschütterung indiziert, zu erschließen. Keiner der Denker erhebt seine Stimme zu der Forderung ‹Du sollst existieren›. Allein diese Formulierung zum Zweck der Veranschaulichung klingt ebenso absurd, wie die Proklamation selbst es wäre. Natürlich bleibt kein Zweifel daran, dass das Ziel menschlichen Seins in der Existenz besteht, doch ist es offensichtlich nicht die Aufgabe ihrer Philosophie, es als solches zu deklarieren. Sie kann lediglich die Prozesse beschreiben, in denen die Ahnung dieser ungenutzten Möglichkeit des Seins aufkeimt, diese Vorgänge selbst aber nicht als erstrebenswert definieren. Hierin liegt der innovative Anteil existenzphilosophischen Denkens. Es führt vor, wie der Einzelne Existieren-Können als seine Wesensbestimmung erfährt und anerkennt. Und da nicht jeder Prozess als solcher dargestellt werden kann, werden Formeln des Denkens benannt, die genutzt werden können, um das generelle https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Ablaufen dieser Prozesse thematisieren zu können. Diese Formeln sind die fünf genannten Grundelemente existenzphilosophischer Theoriebildung Existenz, Vereinzelung und Entwurf in primärer Funktion, Erschütterung und Entscheidung als nachgeordnete Elemente. Wenngleich Existenzphilosophie der 1920er Jahre sich als Wesenstheorie präsentiert, hebt sie sich doch in deutlicher Weise von deren rationalistischer Form, wie sie das Denken größtenteils dominierte, ab. Die Einsicht in die Richtigkeit der existentiellen Bewegung kann nicht zum Zweck des Nachvollzugs vermittelt werden, sondern muss in individueller Erfahrung erschlossen werden. Wenn eine recht grobe Differenzierung sinnvoll ist, kann folgendes festgehalten werden: Traditionelle Wesenstheorie wirkt präskriptiv, da sie dem Menschen das zu Erstrebende so nahebringt, dass Einsicht, Zustimmung und Umsetzung folgen. Die Frage, auf welchem Wege überhaupt erstmals der Schluss zustande kam, Rationalität als Wesensmerkmal zu klassifizieren, wird im Moment ausgeklammert. Existenzphilosophie operiert deskriptiv, indem sie die konkreten Prozesse der Existenz-Findung in allgemeinen Formen abzubilden sucht. Dass sie dabei auch allgemeine Aussagen zur Existenz trifft, beeinträchtigt diese Beobachtung nicht. Denn wie sonst sollte sie, wenn sie sich nicht in literarischer Form ausdrücken will, ihre Gedanken fixieren? Den Weg in die literarische Darstellung wählen Jean-Paul Sartre und Albert Camus und stellen die so entstandenen Werke ihren theoretischen Texten zur Seite, was wörtlich gemeint ist. In enger Relation artikulieren Schriften beiderlei Kategorie existentialistisches Denken und wenden sich dabei an jeweils spezifische Leser und Zuschauer. Der innovative Ansatz existenzphilosophischen Denkens liegt somit darin, dass es zum ersten Mal in größerem Umfang versucht, eine Erklärung dafür zu bieten, wie wir des zu Erstrebenden – der Existenz – gewahr werden. Es ist ja kein Zufall, dass das Motiv der Erschütterung wenn auch nicht zu den Grund-Elementen dieser Philosophie, so doch zu ihren nachgeordneten Elementen zählt. Søren Kierkegaard präformierte deren Vorstellung durch seine Darstellung der Verzweiflung, die ebenso Psychogramm des Verlustes wie Darlegung religiöser Bewusstheit ist. Der Bruch, der durch eine existentielle Erschütterung in der mentalen Biographie eines Menschen entsteht, trennt die Zustandsweisen der Ahnungslosigkeit, in der wir sehr wohl unseren Verpflichtungen nachkommen und in jeder Hinsicht funktionieren, von Bewusstheit, dass dieses nicht unsere eigentliche, das heißt uns eigentümliche Seins-Form ist. Sie trennt aber auch das zirkuläre Wirken, das Vorsatz und Erfüllung zu Kennzeichen jeder beliebigen Handlung macht, von jener einen zielgerichteten existentiellen Bewegung, die uns werden lässt, was wir sein können – und sein sollen. Liegt damit aber nicht ein höchst zufriedenstellender Gedanke vor, dessen Akzentuierung unseres spezifischen Entwicklungspotentials allen Grund zur Zustimmung bietet? Im Prinzip trifft es zu, doch bleibt der Eindruck erhalten, dass damit erst der eine Schritt zur Verwirklichung menschlichen Könnens thematihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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siert wird. Dieser führt, um es noch einmal abschließend zusammenzufassen, zu der Einsicht in unser Vermögen des Selbst-Seins. Der zweite Schritt, der die existentielle Bewegung erst zu einem wirklich wert-vollen Prozess macht, besteht in der Erkenntnis, selbst mit Anderem sein zu können – und sein zu sollen. So faszinierend existenzphilosophisches Denken auch ist, krankt es doch an seiner extremen Fokussierung jenes Veränderungsprozesses, den der Einzelne durchläuft, um sein eigenstes Selbst-Sein zu erfassen. Hier ist er nicht auf Hilfe oder Unterstützung angewiesen, um seine Seins-Möglichkeit reflektieren zu können, ganz anders als im existentialistischen Verständnis. Sartre weist darauf hin, dass aufgrund der Beschaffenheit unseres Bewusstseins, das immer nur eine rückblickende Reflexion des vermeintlich gegenwärtigen Seins-Standes sein kann, der «Blick» des Anderen unverzichtbar für unsere Selbstreflexion ist. In den Texten von Heidegger, Jaspers und Barth findet sich keinerlei Indiz dafür, dass sie dem Anderen Bedeutung innerhalb der existentiellen Bewegung des Einzelnen zuweisen. Die Aussagen zu Kommunikation und Koexistenz von Jaspers und Barth, die hier als gegensätzlicher Beleg angeführt werden könnten, zeigen den Menschen bereits als Existierenden. Heidegger thematisiert zwar das Mitsein, belässt dessen Bedeutung aber im Rang einer seins-analytischen Aussage. Wird der Rahmen der Betrachtung noch ein wenig ausgeweitet und um den Blick auf das dingliche Sein ergänzt, fällt der Befund sogar noch deutlicher aus. Karl Jaspers und Heinrich Barth erklären unmissverständlich, dass eine Distanzierung oder zumindest Zurückhaltung von den Welt-Bezügen unverzichtbares Kriterium der existentiellen Bewegung sei. Auch in dieser Hinsicht gilt für Martin Heideggers Konzept das gerade Gesagte: Er thematisiert zwar das Sein der Dinge und erklärt das In-der-Welt-Sein sogar zur Form des Daseins, doch darüber hinausgreifende Überlegungen sind in der Architektur von Sein und Zeit nicht vorgesehen. Erst seine fragmentarischen Texte der 1950er Jahre zeigen einen anderen Aspekt seines Denkens, der daher im Rahmen dieser Betrachtung bereits angesprochen wurde. Seyn, also das sich selbst erfüllende Sein-Können, ereignet sich in Relation zu Welt und Ding. Die wahrscheinlich nie zu klärende Frage entsteht angesichts dieser Ausführungen, warum er Vergleichbares nicht auch für die Relation der Menschen in Anspruch nimmt? Die Voraussetzung der weiteren Überlegungen kann nun benannt werden, indem die Feststellungen der letzten beiden Eigenheiten von Existenzphilosophie zusammengefasst werden. Sie ist Theorie des menschlichen Wesens und dient zugleich der Erklärung des Weges, auf dem der Einzelne dieses erkennt und ergreift. Damit ist sie Ausdruck eines innovativen Denkens in den 1920er Jahren, lässt uns einhundert Jahre später jedoch mit der Vermutung zurück, dass über diesen ohne Frage wertvollen Ertrag hinaus gedacht werden kann. Es ist Franz Rosenzweig, der im Schutze seines religiösen Denkens, das seine philosophische Seins-Auffassung stets begleitet, den erforderlichen Schritt beschreibt, der uns nicht als Muster, aber als Inspiration dienen kann. Nicht ohne Grund wurde gehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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rade die Formulierung des Schutzes gewählt. Denn seine Erklärung, dass wir mehr zu sein vermögen als wir selbst, ruht in der Sicherheit, dass der notwendige Schritt, den er uns zutraut und von uns fordert, im Angesicht Gottes erfolge, also niemals ein Schritt in die unkalkulierbare Zone menschlichen Miteinanders sei. Das Selbst, das Rosenzweig als Bewusstheit des identischen Seins des Einzelnen betrachtet, stellt in seiner Deutung nicht die Erfüllung möglichen Seins dar, sondern eine Erscheinung im Übergang. Es ist wohl konzentriert auf sich, doch hat sich ihm noch nicht die Bedeutung der Anderen erschlossen. Noch ruht es im «Starrschlaf»,343 befindet sich in jenem Zustand der inneren Verschränkung, der zwar ein Gespür der Eigenheit erlaubt, aber in ihm auch seine Erfüllung findet. Für Rosenzweig ist es offensichtlich, dass die Verschränkung gelöst werden muss, weil das Selbst sonst ständig im Zirkel seiner Reflexion verharren würde, die nichts zu erfassen vermag, als sich selbst. «Das Selbst mußte aus seiner Stummheit zum redenden Selbst werden.»344, so heißt es im Stern der Erlösung. Mit der Bildlichkeit aus Schweigen und Sprache schafft Rosenzweig eine Metaphorik der Relationalität, die, wenn die Formulierung nicht allzu manieriert klingt, eigentlicher ist als die Eigentlichkeit des Selbst-Seins. Auch wenn seine Worte, wie bereits angedeutet, in eine partiell andere Richtung weisen, als sie hier vertreten wird, ist es doch sinnvoll, ihnen für einen Augenblick zuzuhören, da sie illustrieren, was er unter dem «ganzen Menschen» versteht: «Es war also eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.»345 Selbst-Sein als Erscheinung im Übergang – dieses Motiv wird die folgenden Seiten tragen. Eine entscheidende Differenz zu Franz Rosenzweigs Verständnis besteht dabei jedoch. Seiner Überzeugung nach gewinnt der Einzelne in der Liebe zu Gott die Fähigkeit, aus der «edel-stummen Einsamkeit»346 des Selbst-Seins zur Liebe zum Nächsten aufzubrechen, der nicht dieser Bestimmte ist, sondern der Andere schlechthin.347 Mehr als bemerkenswert ist seine Auffassung, dass die Bewegung des Selbst nicht einmal in der Liebe zu Gott ihre Erfüllung finde, sondern um eine weitere Ausweitung auszudehnen sei, die zur Liebe zum Nächsten führt:
Der Stern der Erlösung, II, III, S.229: «Sie [die Seele] schläft nicht mehr den Starrschlaf des Selbst, […].» 344 Der Stern der Erlösung, II, III, S.232. 345 Der Stern der Erlösung, II, II, S.200. 346 «Das Selbst in seiner gebirgshaft ‹edel-stummen› Einsamkeit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst […].» Der Stern der Erlösung, I, S.79. 347 «Die absolute Tatsächlichkeit, die für die Welt der Erlösung daraus hervorwächst, daß hier jeder grade mir Nächste mir vollgültig alle Welt vertritt.» Der Stern der Erlösung, II, III, S.263. 343
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Wie also sollen wir diese aus den Tiefen der eigenen Seele immer neu ins Außen brechende nicht schicksalhafte, sondern willensgetragene Kraft nennen? Die Antwort kann nicht schwer fallen, wenn wir uns erinnern, daß diese Kraft die in dem Gebot der Liebe zu Gott geforderte Hingegebenheit ergänzen soll. Es kann nichts anderes sein als die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zum Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit in jedem Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt.348
Der Gedanke, dass die Hingegebenheit zu «ergänzen» sei, ist sowohl theologisch als auch philosophisch durchaus brisant. Die von Søren Kierkegaard vorgenommene Stufenfolge, die er im Zuge seiner Stadienlehre beschreibt, kehrt Rosenzweig zum Beispiel in einem einzigen kühnen Entwurf um. Dort wird die Hinwendung zum Anderen, die als das ethische Stadium dem ästhetischen folgt und dessen extreme Zeitbezogenheit im Begriff der Endlichkeit überformt, als Schritt vor dem Sprung ins Religiöse dargestellt. Die zeitlichen Dimensionen beider Stadien illustriert Kierkegaard an der Bindungsfähigkeit des Menschen, der sich zunächst von einer Beziehung zur nächsten bewegt und erst mit der Entscheidung für den einen anderen Menschen seine Fähigkeit unter Beweis stellt, im Gegenüber des Anderen die Zeitlichkeit des Daseins zu verunendlichen. Die eigentliche Zentrierung findet dieses Sein im Wandel dann allerdings erst im Bekenntnis zu Gott, in dem alle Zeitlichkeit in der einen Bewegung der Hinwendung aufgehoben wird. Für Rosenzweig ist die Vorstellung entscheidend, dass kein Ein-fürAllemal Kennzeichen unserer existentiellen Entwicklung sei, selbst dann nicht, wenn es in der Hingegebenheit zum Göttlichen gedacht wird. Stattdessen vollendet sich seiner Auffassung nach diese Entwicklung in dem Immer-wieder-vonNeuem, jener Verzeitlichungs-Dimension, die die Einmaligkeit der Relation zum anderen Menschen in ihrer als unbegrenzt zu begreifenden Wiederholbarkeit als Zeichen der Unendlichkeit erscheinen lässt. Um hier nicht den Fehler einer zu kurz greifenden Deutung zu begehren, ist zu berücksichtigen, dass der Augenblick, der so in alle Zeit von Neuem zu erzeugen ist, nicht jene Zeitspanne der konkreten Bindung an den Anderen ist, deren Tiefe nicht ausreichen würde, um diese Interpretation zu rechtfertigen, sondern die Erfahrung der Liebe zu Gott, die sich in der Hinwendung zum anderen Menschen spiegelt. Damit könnte es so aussehen, als sei diese Hinwendung am Ende doch nur Mittel zum Zweck, um der geforderten Hingegebenheit als Seins-Status die Lebendigkeit sich stets erneuernder Zu-Neigung zu verleihen. Selbst in Anbetracht einer solchen Auslegung bleibt das Faktum bestehen, dass die Liebe zu Gott einer sie gleichermaßen überwindenden und sie voraussetzenden Fort-Setzung bedarf. Unversehens hat eine Motivik in diesen Seiten Einzug gehalten, deren Verbindung zu den bisherigen Gedanken schwer ersichtlich sein wird. Der kurze Moment der Aufmerksamkeit, der dem so bedeutsamen Werk von Franz Rosenzweig geschenkt wurde, diente dazu, eine Perspektive vorzustellen, in der das 348
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Selbst-Sein nicht als Ziel, sondern als Erscheinung im Übergang der existentiellen Bewegung betrachtet wird. Diese Sichtweise wird auch hier vertreten, ohne jedoch den Gedanken des Religiösen einbeziehen zu wollen. Auch wenn sich die Konzeptionen von Kierkegaard und Rosenzweig in ihrer Interpretation der Zeitlichkeit unterscheiden, stimmen sie in einem in unserem Kontext entscheidenden Aspekt überein. Sie betrachten die Relation des Menschen zu seinem Gegenüber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie in der einen oder anderen Weise erforderlich zu sein scheint, um die Hinwendung zu Gott begreifen zu können, ja mehr noch, um sie vollziehen zu können. Würde der Mensch im Sinne Kierkegaards in seiner Bindung an diesen einen anderen Menschen nicht seine Befähigung bezeugen, Dauerhaftigkeit zu leben, wäre er kaum in der Lage, Ewigkeit zu glauben. Würde sich nach Rosenzweigs Auffassung die Einmaligkeit der Liebe zu Gott nicht in der Liebe zum Anderen wieder und wieder ereignen, würde der absolute Augenblick der Bindung an das Göttliche in letztlich vom Menschen nicht zu lebender Unveränderbarkeit erstarren.349 In beiden Fällen, wenn sie denn als zwei Fälle ein und derselben Problematik bezeichnet werden können, erscheint die Bindung an den anderen Menschen trotz aller immensen Bedeutung, die ihr zugewiesen wird, als Mittel zum Zweck. Eine philosophisch zentrierte Konzeption der Existenzphilosophie sollte den Menschen jedoch unter keiner Bedingung als Mittel betrachten, wie exzeptionell der Zweck, dem er dient, auch sei. Dass gegen diese Feststellung von verschiedenen Seiten aus Sturm gelaufen werden kann, liegt auf der Hand. Aus theologischer Warte wäre etwa zu kritisieren, dass das Sein und der Wert des Menschen höher bewertet werden als Sein und Würde Gottes. Denn wäre es nicht so, wäre der gerade vorgetragene Widerstand gegen eine Inanspruchnahme des Menschen nicht erklärlich. Aus philosophischer Sicht wiederum könnte eingewendet werden, dass der Mensch nicht als Zweck allen Strebens betrachtet wird, wenn dieser letztlich in der Hinwendung zu einem ganz Anderen, dem Göttlichen, besteht. Die hier zu vertretende Position ist eindeutig: Eine existenzphilosophische Konzeption, die sich tatsächlich nur auf das Repertoire des ihr Denkmöglichen stützt, kann sich nicht auf eine solche Vorstellung des ganz Anderen berufen, sondern muss versuchen, sämtliche Fragen, die die Existenz und das Sein des Menschen betreffen, auf der Grundlage des ihr Zugänglichen zu stellen und zu beantworten. Wie definiert sich aber, was ihr denkmöglich und zugänglich ist? Beides wird dadurch bestimmt, dass es Gegenstand der Reflexion sein kann, ohne jenen Kategorienwechsel vorzunehmen, der in den Glauben führt. Im Moment geht es um die Frage, ob die existenzphilosophische Deutung der menschlichen Wesenhaftigkeit, die in seinem Sein-Können besteht, eine wei«Jetzt bleibt die Willensrichtung Willensrichtung; aber sie ist nun nicht mehr einfürallemal festgelegt, sondern in jedem Augenblick stirbt sie und wird erneut. […] Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten.» Der Stern der Erlösung, II, III, S.238 f. 349
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ter gefasste Interpretation zulässt. Der Grund dafür, überhaupt eine derartige Möglichkeit zu erwägen, wurde bereits angesprochen. Für eine aktuelle Version dieses Denkens kann diese Wesensbestimmung nicht mehr als ausreichend betrachtet werden, wenn sie tatsächlich das Ziel ihrer Bewegung im Selbst-Sein sieht. Der kurze Blick auf die Position Franz Rosenzweigs konnte zeigen, dass eine ähnliche Frage bereits in der Gründungsphase der Existenzphilosophie gestellt worden ist, dort allerdings vor religiösem Hintergrund diskutiert wurde. Insofern kann die Artikulation der Frage diese Überlegungen stützen, nicht jedoch Rosenzweigs Antwort. Denn hier geht es darum, auszuloten, wie weit Philosophie der Existenz trägt, die sich ausschließlich auf die Mittel ihrer eigenen Denkmöglichkeit beschränkt. Selbst-Sein ist nicht genug – so plakativ wie diese Formulierung auch klingt, fasst sie doch den Gedanken, der gerade im Fokus steht, zusammen. Warum ist es nicht genug und wer entscheidet über das Ausreichen? Zur Begründung kommt letztlich derselbe Ansatz zum Tragen, der bereits im existentiellen Denken in Anspruch genommen wurde. Denn auch dort hätte überlegt werden können, warum das weltbezogene Sein nicht genug ist. Mit Ausnahme Martin Heideggers brachte keiner der genannten Autoren diese Erwägung zur Sprache. Was trieb denn den Einzelnen voran in jener Bewegung, die ihn in den meisten Beschreibungen vom Weltbezug distanzierte? Zwar fanden sich einige Hinweise darauf, dass dieser Bezug als nicht ausreichend betrachtet wurde, doch allein ein Ausdruck wie der der Unbefriedigung, den Karl Jaspers prägte, besagt, dass dem Menschen Mehr, dass ihm Anderes möglich sei. Die Bestimmung dieses Anderen, das von allen als Existenz bezeichnet wird, las sich schließlich wie ein einziges Plädoyer für die Einsicht in die Struktur des Seins. Dabei lag, es wurde bereits erwähnt, der Schwerpunkt auf der Beschreibung der erkennenden Person, jenes berühmten Einzelnen der Existenzphilosophie, dessen Reflexion die Faszination an ihren frühen Artikulationen noch immer spürbar werden lässt. Der Mensch strebt danach, sich aus den Sachbezügen seines Daseins zu lösen, um frei für die Erkenntnis der Seins-Struktur zu werden, die er in seinem Selbst-Sein zum Ausdruck bringt. Denn dieses ist letztlich nichts anderes als erkennende Vereinzelung. Hier wird sichtbar, dass der Interpretationsrahmen dieses Gedankens noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die mögliche Ausweitung weist in folgende Richtung: Selbst-Sein ist erkennende Vereinzelung, die ihre Verwirklichung nicht in der Konzentration auf das Selbst des Seins, sondern auf dessen Sein findet. Eine marginale Modifikation? Es mag so wirken, doch wird die Prüfung gewiss einen anderen Eindruck hinterlassen. Im Grunde geschieht im Moment etwas der Existenzphilosophie höchst Vertrautes: Es wird auf ein Ungenügen hingewiesen. Dieses basiert allerdings nicht mehr auf dem zunächst noch unausgesprochenen Wissen, dass Erkenntnis der Seins-Struktur sich nicht aus den Weltbezügen abstrahieren lässt. Sie gründet vielmehr in der Überzeugung, dass der im Existentiellen gewonnene Selbst-Bezug nur die Vorbereitung des ihn ergänzenden Seinshttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Bezuges ist. Denn Ersterer kann so lange nicht Verwirklichungsmodus der existentiellen Bewegung sein, solange der Mensch als Wesen in Relation zu denken ist, und zwar nicht nur in Relation zum anderen Menschen, sondern ebenso in Relation zur Welt. Die erkennende Vereinzelung, die mit Existenz einhergeht und bisher als deren Inhalt reflektiert wurde, führte zu einer Einsicht, soviel hat sich gezeigt. Und worin besteht diese? Was heißt es, sie als Einsicht in die SeinsStruktur zu bezeichnen? In den betrachteten Konzeptionen ergibt sich ein einigermaßen einheitliches Bild, das uns unser Vermögen vor Augen führt, Sein denken zu können. Dabei wird eine interessante Fokussierung sichtbar. Der Blick ruht eher auf dem Denkenden, als auf dem Gedachten. Heidegger konzentriert in seiner Formulierung des eigensten Selbst-Seins die Aufmerksamkeit eher auf den Aspekt des Eigensten, als auf den des Seins-Bezuges – zumindest nach der Darstellung in Sein und Zeit. Würde stattdessen von der Möglichkeit zum eigensten Sein gesprochen, würde der Akzent automatisch auf dem Sein, also der Bezeichnung des Faktums relationaler Vorhandenheit, liegen. Die Häufigkeit, mit der bisher der Begriff des Seins verwendet wurde, ist nicht mehr zu ermessen. Allen Vorbehalten zum Trotz, die zum Teil von den zitierten Denkern vertreten wurden, wird an diesem Begriff festgehalten, der nun für den weiteren Gebrauch bestimmt werden kann. Seine Bedeutung wird im zweiten Teil der Darstellung reflektiert werden. Der Begriff des Seins bezeichnet das Faktum der Vorhandenheit des Seienden, mit dieser Definition wird im Folgenden zu arbeiten sein. Für die aktuelle Fragestellung, was über das Selbst-Sein hinaus als Verwirklichungs-Modus existentieller Bewegung vorgestellt werden kann, bietet sie einen ersten Ausblick. Das als existentiell ausgemachte Verstehen der Seins-Struktur sollte nicht bei der Einsicht in das Selbst als dessen Träger zur Ruhe kommen. Unberücksichtigt blieb bislang die spezifische Form dieser Einsicht. Der Verstehende begreift sich selbst als den Denkenden jenes Seins, das ihn überhaupt erst zum Verstehenden werden lässt. Die Zirkularität dieser Denk-Bewegung ist insofern aufschlussreich, als sie das Gefühl der Unzufriedenheit, das diese Seiten durchzieht, spiegelt. Im Entwicklungsgang philosophischen Denkens war es an der Zeit, jene Umstände zu betrachten, die den Menschen zur Einsicht in seine essentielle Natur führten. Denn es zeichnete sich mehr und mehr ab, dass es nicht mehr ausreichte, ihn über die Beschaffenheit dieser Natur zu informieren – er musste sie quasi am eigenen Leibe erfahren haben, um ihr vertrauen zu können. Und welche Erfahrung wäre hierfür besser geeignet, als die der Vereinzelung. Doch es wirkt fast so, als hätten die Instrumente der Existenzphilosophie mit dem Nachweis dieses Erschließungsprozesses der Eigentlichkeit ihre Schärfe verloren. Greifen wir sie noch einmal auf und wenden sie in der bewährten Weise an. Das, was hier geschieht, unterscheidet sich hinsichtlich der Gedankenführung in nichts von den Entwürfen der 1920er und 1930er Jahre. Die Möglichkeit eines Darüber-HinausDenkens rechtfertigt den weiterführenden Gedanken. Der Begründungsweg, der https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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innerhalb des existentiellen Denkens beschritten wird, verläuft exakt in dieser Bahn, die hier zur besseren Nachvollziehbarkeit in extrem stark reduzierter Weise benannt wurde. Diese Begründung eines Weiterfragens über den Befund des Selbst-Seins hinaus mag enttäuschen. Doch es ist die einzige Erklärung, die in Betracht kommt, um eine Rechtfertigung für einen so massiven Eingriff in die Beschaffenheit existentiellen Denkens vorzunehmen. Um den Quellgrund dieses Fragens über das Selbst hinaus zu verdeutlichen, bieten sich noch einmal die Worte von Karl Jaspers an: Die Unbefriedigung, die mich befällt, wenn ich theoretisch oder praktisch das Weltdasein Alles sein lasse, ist ein negativer Ursprung, der mich im Abheben der Existenz vom Weltdasein die Wahrheit dieses Abhebens fühlen läßt. […] Diese Unbefriedigung ist nicht zureichend begründbar. Sie ist der Ausdruck des Seins möglicher Existenz, die, wenn sie ihre Unbefriedigung ausspricht, nicht ein Anderes versteht, sondern sich selbst.350
Für Jaspers steht fest, dass es ein Anderes des Weltdaseins gibt. Dieser Gedanke ist dahingehend zu erweitern, dass es ein Anderes des Selbst-Seins gibt. Für diese Weiterführung gilt ebenso, dass sie «nicht zureichend begründbar» ist, denn ganz gleich, welche Zielsetzung der existentiellen Bewegung wir denken, nie kann diese definiert werden, bevor sie verwirklicht wurde. Existentieller Entwurf ist die Bewegung in ein ‹Noch-Nicht›, was sowohl für dessen zeitliche Dimension als auch dessen Seins-Status zutrifft. Das Selbst-Sein charakterisiert Jaspers als «Abhebung», die auf dem Wege der Negation dessen, von dem es sich unterscheiden soll, vollzogen wird. Das existentielle Sein kann analog als Abhebung vom SelbstSein aufgefasst werden, die folglich dessen wesentliche Merkmale negiert. Zu ihnen zählen die Deckungsgleichheit von Reflektierendem und Reflektiertem ebenso, wie die Bedeutung finaler Situierung, die aus der Vorstellung resultiert, hier tatsächlich den End- und Zielpunkt der existentiellen Bewegung vor Augen zu haben. Ein Denken über das Wesen hinaus gilt es nun zu fordern, wobei dieses Denken nicht im Bild eines Transzendenten münden wird. Daher wäre vielleicht eine andere Formulierung vorzuziehen, um noch der kleinsten Ansatzmöglichkeit der Annahme von Transzendenz das Fundament zu entziehen. Wesen anders denken käme als alternative Formulierung in Betracht, so mühelos ausgesprochen und doch die ganze Last unserer philosophischen Tradition auf sich nehmend. Denn eine Last wird ein Gedanke in dem Moment, in dem er als einzig mögliche Option aufgefasst wird. Der exklusive Aspekt unseres Wesensbegriffes westlicher Rationalität wurde bereits benannt. Er besteht in der Feststellung, unser Wesen sei dasjenige, das uns von allem Anderen unterscheidet. Wesen anders zu denken heißt, diese Prämisse zu überprüfen, was im Verlaufe dieser Überlegungen unausgesprochen in jedem Moment erfolgte. Das Ergebnis fällt aus, wie 350
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es zu erwarten ist. Nicht dasjenige, das uns von allem Anderen trennt, kennzeichnet uns essentiell, sondern dasjenige, das uns mit allem Anderen verbindet. Damit fällt die Möglichkeit, die essentielle Bestimmung unter Hinweis auf eine einzelne Fähigkeit vornehmen zu wollen, im ersten Schritt aus und wird erst in zweiter Position erneut relevant. Das einzige Merkmal, das Seiendem undifferenziert zugesprochen werden kann und es in grundsätzlicher Weise verbindet, ist dessen Vorfindlichkeit. Somit rückt der Begriff des Seins, der diese bezeichnet, in die Position wesentlicher Kennzeichnung, was nicht nur im Sinne scholastischer Interpretationen als Unding hätte betrachtet werden müssen. Auch aus existenzphilosophischer Perspektive spricht im ersten Moment einiges dagegen, die Vorstellungen von Vorfindlichkeit und Wesen und die ihnen korrespondierenden Begriffe von Sein und Existenz derart ungeschützt einander anzunähern. Denn im Denken der Existenz, die vornehmlich als verstehendes Sich-Entwerfen gedeutet wird, soll dem Menschen letztlich jene Selbst-Verfügung in Aussicht gestellt werden, die ihm durch die Geworfenheit in ein nicht gewähltes Sein gänzlich abhanden zu kommen schien. Selbstverfügung, der Ausdruck, der gewählt wurde, um nicht von Selbstermächtigung sprechen zu müssen, führt im existentiellen Denken zu der Freiheit, Sein verstehen und damit anders denken zu können als unter dem Diktat der Zweckorientiertheit. In sich selbst ruhendes Denken, das nicht gezwungen wird, sich auf Erfordernisse des Daseins einzulassen und dadurch im weitesten Sinne sich selbst denkendes Denken wird – wer würde sich hierbei nicht an jene Konzeption erinnert fühlen, die Aristoteles entwarf, um reines Denken thematisieren zu können, das nicht der Gesetzlichkeit von Kausalität unterworfen ist. Diese würde dort greifen, wo zwischen Subjekt und Objekt des Denkens oder vielmehr der Erkenntnis unterschieden wird. Das Modell der Selbst-Bezogenheit nach existenzphilosophischem Verständnis ist nicht mit dieser Vorstellung identisch, da de facto immer noch zwischen dem Selbst und seiner Reflexion differenziert werden kann, kommt der aristotelischen Vorstellung in seinem Aspekt der Zweckfreiheit aber bemerkenswert nahe. Diese Annahme der Selbstverfügung, die eine der größten Auszeichnungen existentiellen Denkens ist, scheint an Brillanz zu verlieren, wenn die Vorstellungen von Sein und Wesen tatsächlich ungebremst aufeinander zubewegt werden. Manchmal stellen Formulierungen in groben Konturen ein durchaus sinnvolles Mittel zur schnellen und eingängigen Veranschaulichung eines Gedankens dar. Jean-Paul Sartres Aussage, die Existenz gehe der Essenz voraus, zählt zu diesen Formeln, die länger in Erinnerung bleiben als die Argumentation, die sie hervorbrachte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Existenz von Sartre im Sinne von Sein verstanden wird, kann nun festgehalten werden: Die Essenz liegt in der Existenz. Unsere Wesensbestimmung besteht in unserem Sein, also letztlich gerade in jenem Aspekt, der nach traditioneller Auffassung am wenigsten dazu geeignet erschien, als unser Alleinstellungsmerkmal zu dienen, wie wir heute vielleicht sagen würden. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Eine nicht unerhebliche Präzisierung ist dergestalt erforderlich, dass hier nicht vom Sein als Faktum der Vorfindlichkeit die Rede ist, sondern von dessen Reflexion. Denn natürlich wäre es völlig unsinnig behaupten zu wollen, das Sein wäre jenes Über-das-Selbst-Hinaus, so wie es auch unzutreffend wäre, in diesem Kontext vom konkreten Selbst sprechen zu wollen. In beiden Fällen geht es um die Reflexion von Selbst und Sein als Vergewisserungs-Momenten der Existenz, also darum, was allein Gegenstand philosophischer Betrachtung sein kann. Denn das hatte speziell der Blick in Karl Jaspers’ Texte gezeigt: Das existentielle Verstehen der Struktur des Seins ereignet sich in Form der Selbst-Reflexion. Wiederholt wurde auf die Seins-Struktur hingewiesen, ohne dass die Bedeutung dieser Formulierung erläutert worden wäre. Dieses wird im zweiten Teil der Betrachtungen erfolgen. Hier kann vorausgreifend Struktur als Gesamt der Möglichkeiten bezeichnet werden, die aus dem Denken des Seins ersichtlich werden. Nur so kann die Auffassung gestützt werden, Existenz sei Struktur-Verständnis des Seins. Wir verstehen die Möglichkeit des Seins, das wir sind, in Zweckfreiheit zu denken und interpretieren dieses als Denken des Seins. Wir verstehen die Möglichkeit, denkend zum eigensten Selbst zu finden und interpretieren dieses als Denken des Selbst-Seins. Wir verstehen die Möglichkeit, denkend über das Selbst-Sein hinauszugreifen und interpretieren dieses als Denken des essentiellen Seins. Damit schließen unsere Reflexions-Momente an ihren Ausgangspunkt an, insofern sie letztlich nichts anderes ins Augen fassen, als ihnen überhaupt nur möglich ist. Der Irrtum, wenn dieser harte Ausdruck nicht vermessen klingt, mancher existenzphilosophischer Betrachtungsweisen liegt darin, dass im besten Glauben der Eindruck vermittelt wurde, es gäbe eine Möglichkeit, anderes als das Sein zu denken. So schien für Augenblicke die Fokussierung des Selbst eine Reflexion zu erlauben, die sich tatsächlich von ihren Weltbezügen gelöst hatte und uns nichts anderes zu denken gab als eben dieses Selbst in der Konditionierung seines Werdens. Wenn gerade der Ausdruck des essentiellen Seins verwendet wurde, hätte ebenso gut vom existentiellen Sein gesprochen werden können. Denn die vorausgegangenen Betrachtungen zeigten eindeutig, dass die Vorstellung der Existenz im Denken der genannten Autoren den Rang einer Wesensbestimmung einnimmt. Nicht an dieser Identifizierung als solcher wird hier gezweifelt, sondern an der Bestimmung dessen, was unter dem Wesen des Menschen verstanden wird. Welchen Sinn macht es, hier eine Modifizierung vornehmen zu wollen, und zwar nicht nur eine beliebige, sondern eine solche, die das genaue Gegenteil der bisherigen Auffassung formuliert? Eine überaus einfache, doch in ihrer Schlichtheit elementare Überzeugung liegt diesem Ansinnen zugrunde. Philosophie – und vor allem eine Philosophie der Existenz – die nicht die Relation des Einzelnen zu allem Anderen reflektiert, ist in sich eine noch unvollständige Konzeption. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich Ansätze einer gedanklichen Fortführung der Betrachtung des Selbst-Werdens etwa in den Äußerungen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Im Sinne einer Erweiterung
von Karl Jaspers zur Kommunikation und von Heinrich Barth zur Koexistenz finden. Beide berücksichtigen den Austausch von Mensch zu Mensch, lassen jedoch die Relation des Einzelnen zur Welt, nachdem die existentielle Bewegung vollzogen wurde, eher unbedacht. Bei Martin Heidegger ist genau das umgekehrte Verhältnis zu beobachten. Er thematisiert in seinen späten Texten mit zunehmender Intensität die Beziehung des Menschen zum Dinglichen der Welt, berücksichtigt die Relation des Einzelnen zu seinem Gegenüber hingegen nicht. Ist es in Anbetracht dieses Ergebnisses der vorbereitenden Betrachtung nicht geradezu vermessen, den Anspruch zu erheben, beide Kreise der Relationalität beleuchten zu wollen? Die Erwartungen sollten bereits an diesem Punkt in die entsprechende Bahn gelenkt werden. Es kann nicht Inhalt dieser Seiten sein, konkrete Bezugsformen zu beschreiben, sondern auf der Basis theoretischer Aussagen die Denkmöglichkeit existentiellen Seins zu erweisen. Zeigt sich hier nicht ein Widerspruch, zumindest aber eine Unvereinbarkeit hinsichtlich des gerade Geforderten, wonach Philosophie, die nicht den Relationen des Einzelnen gelte, eine unvollständige Konzeption sei? Keineswegs, denn die Reflexion der Relationalität stellt die Grundlage möglicher Konkretisierungsmetaphern im Sein dar. Fast ein wenig einfallslos klingt der weitere Vermerk, dass existenzphilosophisches Denken per se nicht dazu in der Lage sei, die tatsächlichen Verwirklichungsmomente im Entwurf des Einzelnen zu thematisieren, solange sie sich nicht von der präskriptiven auf die deskriptive Ebene der Darstellungen begibt. Die Fokussierung auf die Vorstellung vom Selbst-Sein gilt es also zu lösen und auf die Vorstellungen vom Anderen auszuweiten, wobei damit immer nur Bezug auf das relational Andere, nicht das absolut Andere genommen wird, wie es im Bild des Göttlichen oder sogar in der Annahme von Transzendenz zu finden wäre. Diese Ausweitung erfordert es, den Gedanken der Exzeptionalität des menschlichen Wesens in seiner gewohnten Form aufzugeben, was nicht bedeutet, ihn vollends zu negieren. Der Mensch kann und sollte als dasjenige Wesen betrachtet werden, das über die größte Anzahl potentieller Relationen zu anderem Seienden verfügt, deren Potentialität nicht in deren Faktizität, sondern in ihrer Reflexion beruht. Als Menschen sind wir dadurch erkennbar, dass wir über die meisten Berührungsflächen mit Anderem verfügen, was keineswegs als Minderung unserer Eigenheit zu verstehen ist, sondern als deren Auszeichnung. Denn potentiell können wir zu nahezu allem in Verbindung treten, ganz gleich, ob es sich dabei um das dingliche, tierische oder menschliche Seiende handelt. Die Auffassung, uns als Menschen von allem anderen Seienden abzuheben, hat so tiefe Furchen der Zustimmung in unserem Denken hinterlassen, dass eine Umkehrung dieser Sichtweise fast zwangsläufig unbefriedigend wirken muss. Doch wird das Bild der Berührungsflächen geprüft, kann es seine Vorzüge zu erkennen geben. Ein Schritt zurück führt noch einmal zur Betrachtung des Exzeptionalitäts-Gedankens. Wird das Besondere des Menschen in seiner Rationalität gesehen, hat diese Auffassung mitunter schwerwiegende Konsequenzen. Hebt er sich https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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von allem Anderen ab, kann diese Differenzierung ohne großen Argumentationsaufwand dazu genutzt werden, Rechte oder zumindest Berechtigungen abzuleiten, die dem Menschen allein aufgrund seiner exponierten Stellung im Sein zustehen. Hierzu zählt im Zusammenhang dinglicher Seins-Bezüge die problemlose Legitimierung eines nahezu uneingeschränkten Nutzungsanspruches, der es uns erlaubt, Gebrauch von Ressourcen der Natur zu machen, der sich vornehmlich am eigenen Bedarfsdenken orientiert. Dazu zählt ebenso unsere vermeintliche Berechtigung etwa der Nutztierhaltung unter oftmals dramatischer Missachtung ethischer Grundsätze. Dazu zählt aber auch unsere Einstellung dem anderen Menschen gegenüber, dem der Anspruch auf Eigenheit mitunter nicht in dem Umfang zugestanden wird, den wir für uns geltend machen. Die Enteignung des Anderen in der Vielfalt möglicher Artikulationsformen kann aus einer Sicht des Menschen entspringen, die ihn dem Anderen entgegensetzt, anstatt ihn in dessen Gesamt zu integrieren. Im Jahr 1951 hielt Martin Heidegger einen Vortrag mit dem Titel Bauen. Wohnen. Denken. Gewiss mag eingewendet werden, dass er sich dort bemühte, die Präsentation seines Denkens in besonderer Weise der Zuhörerschaft, einer Versammlung von Architekten, angepasst zu haben. Nicht unberechtigt wäre die Frage, ob die zum Teil weit ausholenden etymologischen Herleitungen, die er seiner jeweiligen Begriffsverwendung voranschickt, fachkundiger Prüfung standhalten würden. Doch darauf kommt es im Moment nicht an. Dieser Vortrag stellt den Versuch dar, das Bild des Gevierts, diese Versichtbarungsfigur relationalen Seins, einer Anwendung in der Praxis anzunähern. Zu dieser Zeit thematisiert Heidegger mit wachsender Intensität das Motiv des «schonenden Denkens», das er dem «vorstellenden Denken», das heißt demjenigen Denken, das sich seiner Auffassung nach am Nutzungsanspruch orientiert, entgegensetzt. Seinen Zuhörern begegnet er mit diesen Worten: Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, […]. Die Erde retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.351
Um Heidegger keine allzu offensichtliche ökologische Position zu unterstellen, ist darauf hinzuweisen, dass die Formulierung «die Erde retten» noch nicht jene voll entfaltete Konnotation beinhaltet, die wir heute mit ihr verbinden. Der Begriff des Rettens spiegelt vielmehr eine Bildlichkeit der Dichtung Friedrich Hölderlins, die auch in weiteren Motiven der Darstellung vom Geviert als Inspiration diente. Gleichwohl bleibt die bemerkenswerte Tatsache bestehen, dass Heidegger zu einem recht frühen Zeitpunkt das Problem unseres Umgehens mit der Natur the351
Bauen. Wohnen. Denken, in: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), S.151 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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matisiert. Auffallend ist aber die bereits erwähnte Beobachtung, dass er sich zu einer vergleichbaren Befürwortung respektvollen Verhaltens dem anderen Menschen gegenüber nicht hat entschließen können. Vermutungen über die Ursache müssen unweigerlich zu Mutmaßungen werden. Fast wirkt es so, als hätte ihn eine unerklärliche Scheu zeit seines Lebens davon abgehalten, allein schon den Begriff des Menschen auszusprechen. So ist in Sein und Zeit fast ausnahmslos vom «Dasein» die Rede, wenn es vom menschlichen Sein zu sprechen gilt. In seinen späteren Texten schreckt Heidegger keineswegs davor zurück, auch in Konkretion zu denken, doch kommt diese der Reflexion «der Dinge» und nicht des Menschen zugute. In der intellektuellen Landschaft der 1950er Jahre markiert sein Plädoyer für das schonende Denken eine extrem wichtige Erweiterung des Gegenstandsbereiches von Philosophie, wie sie in ähnlicher Weise allenfalls von Karl Jaspers’ Überlegungen zur Technik und von Hans Jonas’ Versuch gezeigt wird, einen «ökologischen Imperativ» zu formulieren.352 Dass an dieser Stelle auf Martin Heideggers Vortrag eingegangen wird, geschieht aus gutem Grund. Trotz aller Vorbehalte gegen sein persönliches Verhalten und aller Kritik an seinem Denken stellt dieses einen der raren Belege für die Beobachtung dar, welche Folgen ein unreflektierter Nutzungsanspruch des Menschen nach sich ziehen kann. Nicht um einen Nutzungsanspruch, sondern um das scheinbare Recht der Vereinnahmung des anderen Menschen geht es in den Schriften des Emmanuel Lévinas, dessen zumindest frühes Werk dem existentiellen Denken zugerechnet werden kann. Zeitgleich zu Heinrich Barths Arbeit an seinem großen Systementwurf Erkenntnis der Existenz entstand Totalité et Infini – Totalität und Unendlichkeit, jener Text, mit dem eine bis dahin ungekannte Tonalität in den philosophischen Diskurs der 1960er Jahre Einzug hielt. Wortgebrauch und Argumentationsstil ähneln kaum noch der gewohnten Form philosophischer Abhandlungen, da Lévinas ein Ziel verfolgt, das letztlich als subversiv im allerbesten Sinne bezeichnet werden kann. Er setzt nicht auf die Kraft von Begründung und Beweis, sondern auf den die Regeln der Rationalität unterlaufenden Eindruck der Darstellung selbst. Dieses Vorgehen ist, wie sollte es auch anders sein, einem Ansinnen geschuldet, dessen Grundlage seinesgleichen sucht. Denn zum ersten Mal in der Geschichte sah sich Philosophie vor die Herausforderung gestellt, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in bis dahin nicht für möglich gehaltenem Ausmaß zu reflektieren. Für Emmanuel Lévinas als Denker jüdischen Glaubens war es mehr als nur ein intellektuelles Anliegen, die Gründe zu reflektieren, die den Holocaust vorbereitet oder zumindest nicht verhindert haben. Mit beiden Aspekten rückt Philosophie in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit, was vielleicht für Verwunderung sorgen mag. Denn wird ihr nicht zu viel Einfluss und sogar Verantwortung in beiderlei Hinsicht zugesprochen, wenn Eine ausführliche Kommentierung zu Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung findet sich in den Neuen Überlegungen zur Existenzphilosophie, so dass hier darauf verzichtet wird. 352
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sie in diesem Zusammenhang betrachtet wird? Lévinas vertritt in dieser Frage eine Position, die sich von derjenigen unterscheidet, die etwa von Theodor W. Adorno eingenommen wurde. Dieser richtete seinen Blick weniger auf die Suche nach Erklärung, sondern auf die Überlegung, wie ein alles Vorstellungsvermögen übersteigendes Ereignis in Zukunft verhindert werden könne. Ausgangspunkt dieses kurzen Einschubs ist der Gedanke, dass ein inakzeptabler Nutzungs- beziehungsweise Vereinnahmungsanspruch aus der Auffassung resultieren kann, der Mensch unterscheide sich essentiell von allem übrigen Seienden und, was nun zur Sprache kommt, von allem Seienden schlechthin, das heißt auch von seinem personalen Gegenüber. Gewiss stellt diese Folgerung einen Extremfall möglicher Konsequenzen einer so benannten Wesensdifferenz dar. Doch für Lévinas besteht hierin die größte Gefahr, die aus unserer philosophischen Tradition entstehen kann und vor der es daher mit höchster Dringlichkeit zu warnen gilt. Der Terminus, dem er sich in kritischer Haltung vor allem zuwendet, ist derjenige des Subjekts, das er als autonomes Zentrum sich selbst setzender Identität des Ich versteht. Die Bedingung dafür, diese Identifizierung durchzuführen und in allen situativen Gegebenheiten aufrecht zu erhalten, besteht darin, das Andere, das bei ihm auch unter der Denomination des Fremden erscheint, seiner Eigenheit zu berauben und es auf jenes Repertoire des Bekannten zurückzuführen, das aus der Selbst-Erfahrung resultiert. In erster Linie bezieht er sich dabei auf die Frage, wie der Andere zum Gegenstand der Erkenntnis werden kann. Dass hieraus aber auch entscheidende Konsequenzen für die Möglichkeit von Ethik folgen, liegt auf der Hand. Denn wird der Andere nicht in jener ihm eigenen Besonderheit, sondern als Projektion der subjektiven Eigenheit wahrgenommen, besteht, so brutal es auch klingt, keinerlei Veranlassung, ihn als Wesen mit eigenem Anspruch auf ethische Anerkennung zu betrachten. Genau diesen Befund diagnostiziert Lévinas menschlichem Handeln der jüngsten Vergangenheit. Für unsere Überlegungen zeigt sich hierin die Frage, ob die Eigenheit eines Menschen und eines Seienden als Begründung dafür ausreicht, ihm moralische Achtung entgegenzubringen. Wie zu belegen sein wird, reicht sie hierfür nicht zwangsläufig aus. Bereits hier kann auf den Zusammenhang hingewiesen werden, den Lévinas aufdeckt. In einer auf der Vorstellung der Exzeptionalität des Menschen gegründeten Philosophie ist es beinahe unvermeidbar, dass die auf ihr basierenden Nutzungs- und Vereinnahmungsansprüche alle anderen ethischen Forderungen überlagern. Dieser an sich ungeheuerliche Schritt ist insofern relativ problemlos möglich, als beide Ansprüche essentiell legitimiert sind und folglich keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen. Da sich Lévinas keinesfalls mit der Diagnose dieses durch das Wirken der Vernunft sanktionierten Aussetzens einer am Gedanken des Anderen orientierten Ethik zufriedengeben kann, versucht er, einen Weg der Vermeidung einer solchen Sichtweise zu beschreiben, die letztlich in keinem verbindlichen Regulativ mehr Maß und Begrenzung finden würde, würde sie nicht auf einen unüberwindlichen Widerstand stoßen. Diesen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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meint er im Antlitz des anderen Menschen ausfindig zu machen, das durch seine pure physische Präsenz ein stummes Übergriffs-Verbot artikuliert. «Das Antlitz ist gegenwärtig in seiner Weigerung, enthalten zu sein. In diesem Sinne kann es nicht begriffen, d. h. umfaßt werden.»353 Genau das würde das Subjekt, das sich erkennend dem Anderen nähert, seiner Auffassung nach versuchen. Es würde das mit ihm nicht Identische zu umfassen suchen, wodurch es seiner Fremdheit, die das Selbe als Bedrohung und Infragestellung der Eigenheit empfinden könnte, beraubt wird. Es wird im Erleben des sich seiner selbst vergewissernden Einheit des Ego neutralisiert. Dagegen hält Lévinas: Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann, deren Virtualitäten implizit in unserer Natur enthalten sind und die wir ebenso durch unsere Existenz entfalten [s’inscrivent dans notre nature et que nous développons aussi par notre existence].354
Die Sprachfindung, derer sich Lévinas hier und konstant in all seinen Schriften bedient, verdeutlicht einen Anspruch, den er mit seinem Denken verfolgt, ohne ihn explizit als solchen auszuweisen. Denn die Begriffe Antlitz – visage ! und Epiphanie entstammen nicht dem Regelwortschatz philosophischer Terminologie. In ihrer unüberhörbaren Konnotation rekurrieren sie auf die Vorstellung des absolut Anderen, das in der Signatur des Göttlichen zu denken ist. Durch diesen Bezug gewinnt die Weigerung des Fremden, sich der Vereinnahmungstendenz des Selben widerstandslos zu fügen, ihre eigentliche Dimension, die Lévinas als Uneinnehmbarkeit begreift. Die Begrenzung unseres Strebens, das Nicht-Identische auf das Eigene zurückzuführen, würde somit als absolut, das heißt nicht überwindbar gedacht. Voraussetzung für diese Weigerung ist es jedoch, dass der Andere seine Gemeinsamkeit mit mir aufkündigt, sei es diejenige der gemeinsamen Natur oder der Existenz. Da sich die Überlegungen allmählich auf den Übergang zum Thema des Seins verdichten, ist ein weiterer Blick auf das Denken von Emmanuel Lévinas unverzichtbar. Denn er weist in mehreren seiner Texte diesen Begriff mit großer Entschlossenheit zurück und verfolgt damit dasselbe Ziel wie auch Heinrich Barth. Dass beide es aus denselben Gründen verfolgen, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Anders als Barth, der sich mit der Nennung jener Kontrahenten, deren Position er kritisch reflektiert, zurückhält, nennt Lévinas wiederholt Martin Heidegger, bei dem er in frühen Jahren in Freiburg studierte. Ob die Tatsache, dass sich dieser niemals öffentlich von seinem Verhalten in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft distanzierte, die Bewertung des Seins-Denkens insgesamt beeinflusst hat, kann nicht eindeutig entschieden werden, nachvollzieh353 354
Totalität und Unendlichkeit, S.277. Totalität und Unendlichkeit, S.278 und Totalité et Infini, S.212. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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bar wäre es aus Lévinas’ Sicht allemal. Im Zuge dieser Überlegungen, die sich in aller Klarheit für die Vorzüge des Seins-Denkens, das hier bewusst nicht als Ontologie bezeichnet wird, aussprechen werden, ist es elementar, den Eindruck zu vermeiden, dabei den Heidegger‘schen Vorgaben zu folgen. Diese bieten in ihrer Akzentuierung des Welt-Begriffes eine wichtige historische Quelle existentiellen Denkens, sind aber nicht dessen einziger Ausdruck. Auf Lévinas’ Ablehnung der Seins-Vorstellung zurückkommend kann vermerkt werden, dass sie in der Architektur seines Denkens relativ einfach durchzuführen ist, da er sich in jedem Augenblick auf die Präsenz des Göttlichen in der Erscheinung des Anderen berufen kann. Vor diesem Hintergrund kann er sogar auf die Annahme jener Gemeinsamkeiten verzichten, die er als Natur und Existenz bezeichnet. Wie begegnet mir aber der Andere, mit dem mich keine Gemeinsamkeit verbindet? In der Sprache, so lautet Lévinas’ Antwort: Die absolute Differenz, die in Ausdrücken der formalen Logik unbegreifbar ist, wird nur durch die Sprache gestiftet. Die Sprache realisiert eine Beziehung zwischen Termini, die die Einheit der Gattung aufbrechen. […] Das Wort wird gesagt, und sei es auch nur durch die Bewahrung des Schweigens; indem das Schweigen lastet, erkennt es die Flucht des Anderen an. […] Dadurch kündigt die formale Struktur der Sprache die ethische Unverletzlichkeit des Anderen an, in ihr meldet sich […] seine ‹Heiligkeit› [sa sainteté].355
Bedauerlicherweise besteht hier nicht die Gelegenheit, auf dieses Sprach-Verständnis einzugehen.356 Nur so viel sei angemerkt, um zumindest eine minimale Basis des Verstehens zu schaffen: Sprache erscheint als Verlautbarung des Anderen, das für sich die Absolutheit jener Differenz in Anspruch zu nehmen vermag, die üblicherweise nur zwischen dem Menschen und Gott zu denken ist. In dem Wort, das wir an den Anderen richten, und speziell in jener Hinwendung, die nicht explizit vollzogen wird, artikuliert sich nicht dieser oder jener bestimmte Andere, sondern das Prinzip der Andersheit. Daher verwundert es nicht im mindesten, dass Lévinas von der «Heiligkeit» spricht, die als Sprachbild zweierlei in sich vereint: Die Transzendenz der Andersheit und zugleich die Bezogenheit des Anwesenden. Denn es geht nicht darum, die «Flucht», von der oben die Rede ist, als dauerhaftes Ausweichen zu deuten, das jede Beziehung für alle Zeit unmöglich erscheinen lässt. Statt dessen gilt es zu zeigen, dass die Beziehung zum Anderen derart ist, dass sie sich selbst flieht, was Lévinas als unendliches Geschehen begreift, das sich immer fortsetzen kann, ohne jemals zu einem Abschluss zu gelangen. Denn dieser könnte nur als Moment der Vereinnahmung vorgestellt werden. Der vermittelnde Akt zwischen dem Erleben des Religiösen, das durch Begriffe wie Epiphanie oder Offenbarung indiziert wird, und der Erfahrung des Zwischenmenschlichen kennzeichnet das Denken von Emmanuel Lévinas, das 355 356
Totalität und Unendlichkeit, S.279. Es erfolgt in einiger Ausführlichkeit in Ethik der Existenz. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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seiner Bedeutung nach Denken von Ethik ist, was bei ihm bedeutet, ethisches Denken zu sein: Das Antlitz, in dem sich der – absolut – Andere präsentiert, verneint den Selben nicht, tut ihm keine Gewalt wie die Meinung oder die Autorität oder das thaumaturgische Übernatürliche. Es bleibt nach dem Maß dessen, der es empfängt, es bleibt irdisch. Die Präsentation ist die Gewaltlosigkeit schlechthin; denn statt meine Freiheit zu verletzen, ruft sie sie zur Verantwortung und stiftet sie.357
Verwundert es vielleicht, dass mit Aussagen wie dieser unversehens das Feld ethischer Betrachtungen betreten wurde, wo es doch im Grunde noch immer um die Frage der Erweiterung des Existenz-Begriffes geht? Wozu sonst sollte diese dienen als dazu, ihm endlich in größerem Umfang jene Bedeutung zuzuweisen, die ihm zweifelsohne eignet. Die Vorstellung der Existenz muss sich nicht darin genügen, das Bild des Selbst-Seins zu entwerfen, das ein Mensch zu erreichen vermag. Sie kann ihre Möglichkeit ersichtlich werden lassen, ethische Existenz zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit, die durch eine Modifikation in der Begriffs-Bedeutung erreicht werden kann, wird das Ungenügen einer bloßen Ausrichtung auf die Verwirklichung eigensten Selbst-Seins in ganzem Umfang ablesbar. Bereits an früherer Stelle wurde eingeräumt, dass sich vereinzelte Erwägungen einiger Autoren finden, wie ein sich als Selbst begreifender Mensch sich in der Begegnung mit Anderen zu erkennen gibt. Jedoch kommen solche Überlegungen über den Rang nachgeordneter Gedanken nicht hinaus. Zentrum und Kernkompetenz existentiellen Denkens ist und bleibt die Thematisierung jener Bewegung, die zum Selbst-Sein führt. Dabei liegt es so nahe, den existentiell erfahrenen Menschen auch unter ethischem Gesichtspunkt in die Pflicht zu nehmen. Denn wenn er nicht in seinem verstehenden Blick auf das Sein dazu geeignet wäre, von wem könnte man ein Engagement für das Andere im Sein dann erwarten? Es ist das besondere Verdienst existentialistischer Philosophie, hier zumindest grundsätzlich weiter gedacht zu haben. Die argumentative Konstellation, von der dabei ausgegangen wird, entspricht jedoch noch nicht der hier vertretenen Ansicht. Denn für Jean-Paul Sartre sind wir, die Formulierung wird noch im Gedächtnis nachklingen, zur Freiheit und damit zur Verantwortung verurteilt, wodurch beiden eine unübersehbar problematische Konnotation zugewiesen wird. Beide könnten in ihrer radikalen Forderungsnatur die Leistungsfähigkeit und Bereitschaft des Menschen, Engagement zu übernehmen, zu sehr belasten, was am Ende gar zu einer Reaktion der Zurückweisung führen könnte. Sartre versucht zwar, die Last unserer Verantwortung dadurch zu verringern, dass er uns die Möglichkeit einräumt, uns zu ihr bekennen zu können, doch kann diese Maßnahme den Ursprung, der sie hervorbrachte, nicht ganz verbergen. Dem Unabänderlichen können wir uns nur in der Geste des Einverständnisses fügen, zu 357
Totalität und Unendlichkeit, S.292. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mehr sind wir nicht in der Lage. Hierauf hinzuweisen macht den Reiz existentialistischen Denkens aus, weil das trotzige dennoch uns die Illusion der Widerständigkeit erleben lässt. Was drückt Albert Camus mit seiner heroischen Darstellung des Sisyphos letztlich anderes aus, als das Sich-Einfinden in das, was wir nicht zu beeinflussen vermögen? Ein grundsätzliches Umdenken ist an diesem Punkt vorzunehmen, das im Konzept der Möglichkeitsstruktur menschlichen Seins nicht unrealistisch ist. Verantwortung als Verpflichtung zu begreifen, ist ein Weg, diese zu reflektieren. Dabei geht Sartre, durchaus ähnlich wie Emmanuel Lévinas, davon aus, dass sie keine Fähigkeit ist, über die wir verfügen und die wir nach Bedarf aktualisieren können, sofern sie sich als ethisch sinnvoll erweist. Nach der Auffassung beider Denker sind wir verantwortlich durch unser Sein. Damit fällt jeder Versuch, eine Begründung für entsprechendes Verhalten finden zu wollen, ebenso wie jeder Ansatz aus, dieses als erstrebenswert auszuweisen. Verantwortlichkeit ist eine Erscheinungsform unseres Seins, nicht gewählt, nicht zu negieren, sich selbst begründend. Eine solche Deutung bietet unübersehbare Vorteile, hat jedoch auch mit einem nicht unerheblichen Problem zu kämpfen. Der besondere Vorzug besteht in der Möglichkeit der Universalisierbarkeit von Verantwortung, da diese auf dem Faktum Seins-gegründeter Verantwortlichkeit beruht. Erläuterungen, warum es als gut zu betrachten ist, die Bedürfnisse Anderer in die eigenen Entscheidungsfindungen zu integrieren, werden überflüssig, weil das Warum in jedem Einzelfall bereits durch die Tatsache der Seins-getragenen Begründung beantwortet ist. Damit verlieren eventuelle Partikular-Interessen, die Verantwortung nur in bestimmten Situationen oder bestimmten Personengruppen gegenüber fordern, ihre Rechtfertigung. Für den Versuch, eine universalisierbare Version von Ethik zu formulieren, stellt dieser Umstand einen unschätzbaren Vorzug dar, da letztlich ein und dasselbe Verhalten in Verantwortlichkeit jedem Seienden – tatsächlichem jedem Seienden ! entgegenzubringen ist. Durch denselben Aspekt, der hier zum Tragen kommt, kann aber auch eine Abwehrreaktion im Menschen ausgelöst werden. Denn dasjenige, das uns nicht erklärt und begründet wird, kann allzu leicht als eine Art Zwang empfunden werden, dem wir uns nahezu ohnmächtig zu beugen haben. In einem Kontext, in dem wir von dem Sinn einer geforderten Verhaltensweise durch nachvollziehbare Erläuterungen überzeugt werden, sind wir womöglich motivierter, sie anzuerkennen, als in einem Zusammenhang, der durch das bloße Faktum des Seins geschaffen wird. Psychologisch ist es interessant, dass uns die Möglichkeit, über die Annahme einer Forderung entscheiden zu können, ihr letztlich leichter folgen lässt. Philosophisch stellt dieser Umstand eine Herausforderung an solche Theorien dar, die wie die von Sartre und, mit einer Einschränkung, von Lévinas auf die Einräumung einer solchen Entscheidungsmöglichkeit verzichten. Dort kann die Einwilligung immer nur im Nachhinein erfolgen und die Zustimmung zu einem Faktum erteilen, das auch unabhängig davon für uns verbindlich ist. Vielhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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leicht rührt daher der Eindruck einer Selbsttäuschung, den die Beschäftigung mit existentialistischem Denken leicht hinterlassen kann. So mitreißend die Schilderung von Sisyphos auch ist, der sein Schicksal zu seiner Sache macht, bleibt doch das Empfinden, dass es sich bei dessen Annahme um eine Wahl innerhalb eines äußerst begrenzten Entscheidungsrahmens handelt. Eine Alternative könnte in Resignation oder Verzweiflung bestehen, doch sind alle drei Optionen immer Reaktionen auf Daseins-Bedingungen, an deren Bestand nicht zu rütteln ist. Im weiteren Verlauf werden sich diese Überlegungen in eine grenznahe Region bewegen und Verantwortlichkeit als Bestandteil ethischer Existenz vorstellen. Ihre Annahme basiert auf der Grundlage des Seins, das jedoch primär als ein SeinKönnen, wie es der Gedanke der Existenz impliziert, verstanden wird. Damit ist der thematische Übergang von der Betrachtung des Begriffes der Existenz zu jener des Begriffes vom Sein erreicht.
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III. Sein
Zwei Kritiken des Seins-Begriffes sind für die weiteren Überlegungen von besonderem Interesse, denn sie artikulieren ihre Ablehnung aus demselben Kontext, aus dem auch dessen Akzentuierung erfolgt. Es würde an dieser Stelle keinen Sinn ergeben, auf eine Diskussion außerhalb des Begründungszusammenhanges des existentiellen Denkens zu verweisen, da nur dort, wo sich Befürwortung und Zurückweisung gleichermaßen situieren, das Potential des Seins-Denkens auszuloten ist. Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas sind zu nennen, wobei die Zugehörigkeit des Ersteren keiner Erklärung bedarf, bestätigt er sie doch selbst. Die Rezeption Lévinas‘scher Aussagen im Zusammenhang der Existenz-Diskussion zählt hingegen noch immer zu den Ausnahmen, was sich möglicherweise mit Blick auf seine eigenen Äußerungen ändern wird. Drei seiner Schriften werden nun zugrunde gelegt, und zwar De l’évasion – Ausweg aus dem Sein von 1935, De l’existence à l’existant – Vom Sein zum Seienden von 1947 und Autrement qu’être ou au-delà de l’essence – Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht aus dem Jahr 1974. Der relativ weit gespannte Zeitraum, aus dem Veröffentlichungen ausgewählt wurden, erlaubt nicht nur einen groben Überblick über das Denken des Emmanuel Lévinas, sondern auch, nach einer eventuellen Entwicklung seiner Seins-Kritik zu fragen. Das früheste Zeugnis, das hier zur Sprache kommt, stellt eine der ersten größeren Arbeiten von Lévinas dar und ist deshalb besonders aufschlussreich, da es einige Jahre vor den Publikationen von Jean-Paul Sartre Motive benennt, die auch dieser darstellen wird. Entscheidend ist dabei, dass Lévinas mit Ausweg aus dem Sein keine ontologische Untersuchung des Begriffes vom Sein vorlegt, sondern, was keineswegs eine qualitative Minderung bedeutet, eine Beschreibung menschlicher Reaktion auf das Bewusstsein, zu sein. Diese deckt sich seiner Bestimmung nach mit dem Anliegen der Philosophie. «Das Aufbegehren der traditionellen Philosophie gegen die Idee des Seins entspringt dem Widerspruch zwischen der menschlichen Freiheit und der Unerbittlichkeit des Seins [le fait brutal de l’être], das diese verletzt.»358 Der Ausdruck der Unerbittlichkeit ist nur eine
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Ausweg aus dem Sein, S.3 und De l’évasion, S.2. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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von mehreren Kennzeichnungen des Seins, die Lévinas in diesem Text vornimmt.359 Ihr Ursprung liegt in der Tatsache, dass Sein ist: Das harmlose Spiel des Lebens büßt seinen Spielcharakter ein. Nicht, weil die Leiden, die es bedrohen, das Leben unangenehm werden lassen, sondern weil die Unmöglichkeit, diese Leiden zu unterbrechen, und das quälende Gefühl des Angekettet-Seins den Grund dieser Leiden bilden. […] Was also in dieser ganzen Erfahrung des Seins zählt, ist nicht die Entdeckung eines neuen Charakters unserer Existenz, sondern ihre Faktizität selbst, die Entdeckung der Unwiderruflichkeit unserer Präsenz.360
Diese Entdeckung, die einer existentiellen Erschütterung gleichkommt, erfüllt uns mit dem Gefühl des Ekels.361 Stärker als Jean-Paul Sartre es drei Jahre später in seinem gleichnamigen Roman tun wird, fokussiert Lévinas die «uns widerwärtige Gegenwart unser selbst» ! «Cette présence révoltante de nous-même à nous-même», also nicht das Empfinden des «Zuviel» des Seins, das seine philosophische Reflexion in Das Sein und das Nichts finden wird. Die Notwendigkeit, die Sartre in diesem Erleben aufkeimen sieht, besteht darin, Strategien zu benennen, wie wir des Zuviel des Seins habhaft werden können. Seine berühmte Differenzierung in An-sich und Für-sich-Sein ist das Resultat dieser Suche. Denn Sartre beabsichtigt anders als Lévinas nicht, einen «Ausweg aus dem Sein» zu finden, sondern das Verbleiben im Sein zu einem für den Menschen handhabbaren Zustand zu erklären. Lévinas hingegen konstatiert: «Im Ekel verspürt man eine Weigerung, darin zu verbleiben, eine Anstrengung, um aus diesem Zustand herauszukommen.»362 Das Fatale an diesem besteht darin, dass er von Empfinden und Bewusstsein gleichermaßen Besitz ergreift. Denn es geht nicht nur um die Beschreibung eines Sich-Wahrnehmens im Sein, sondern darüber hinaus zugleich um das Reflektieren dieses Sich-Wahrnehmens, wie der Hinweis auf die «uns widerwärtige Gegenwart unser selbst» belegt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Lévinas in seiner nächsten größeren Abhandlung zum Seins-Begriff Phänomene wie den Schlaf thematisiert, Formen eines Aussetzens der reflektierenden Hellsichtigkeit, die diese Kettung an das Sein, das letztlich eine Kettung an unser Bewusstsein, zu sein, ist, momenthaft überblenden. Eine kurze, aber extrem interessante Erwähnung zeigt schließlich den direkten Bezug seiner frühen Arbeit zum existenzphilosophischen Denken – und zwar tatsächlich zu diesem, da sich dessen existentialistisches Pendant erst allmählich zu forSo etwa: «Das Sein behauptet sich mit einer Unerbittlichkeit, die sich absolut selbst genügt, ohne sich auf etwas anderes zu beziehen.» Ausweg aus dem Sein, S.7. 360 Ausweg aus dem Sein, S.9 ff. 361 «Analysieren wir also einen Fall, in dem die Natur des Unwohlseins uns in seiner ganzen Reinheit begegnet und auf den das Wort Unwohlsein ausgezeichnet paßt – den Ekel.» Ausweg aus dem Sein, S.47. 362 Ausweg aus dem Sein, S.47. 359
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mieren beginnt. Den Gedanken der Geworfenheit – l’homme est engagé ! aufgreifend, den bereits Martin Heidegger in Sein und Zeit hatte anklingen lassen, notiert Lévinas: Es handelt sich bei dem Beginn der Existenz keineswegs um eine Fatalität, die offenbar bereits die Existenz voraussetzen würde. […] Dennoch ist das Gefühl der Unerbittlichkeit der Existenz nicht einfach eine Illusion eines endlichen Wesens, das, auf sich selbst zurückkommend, seine Existenz an seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die es als bereits existierend besitzt, mißt.363
Es ist immer wieder faszinierend, wie sich eine Genealogie der existentiellen Bewegung rekonstruieren lässt, die mit einer grundsätzlichen Umwertung der Möglichkeit des eigensten Selbst-Seins einhergeht. Für Heidegger und Jaspers liegt darin noch ein positiv konnotierter Seins-Status, was aus ihrer Warte nachvollziehbar ist, da sich ihr Denken, wie erwähnt, noch stark am traditionellen Begriff des Wesens orientiert. Die Frage, was geschieht, wenn das Selbst sich selbst reflektiert, hat damit für sie noch keine unmittelbare Relevanz. Ganz anders verhält es sich in Sartres Auffassung, da dort die Not des Einzelnen, der sich zur Freiheit verurteilt weiß, letztlich erst aus diesem Geschehen der Selbst-Reflexion resultiert, das auch, wie sich überraschend zeigt, von Lévinas zur Sprache gebracht wird. Bei Heinrich Barth, dessen Erkenntnis der Existenz Mitte der 1960er Jahre erschien, erscheint die Vorstellung vom Selbst als neutrales Thema, das weder die essentielle Dominanz der frühen Texte zeigt noch die affektive Widerständigkeit der Schriften der 1930er und 1940er Jahre. Lévinas spricht vom «Verdammtsein dazu, ich selbst zu sein»364 und setzt damit die Ermöglichungs-Struktur der Existenz, wie sie im existenzphilosophischen Kontext noch vorstellbar gewesen ist, außer Kraft. Denn letzten Endes ist es völlig gleichgültig, ob wir meinen, in unserem Vermögen des Entwerfens über ein Mittel der Aneignung eines uns nicht als selbst spiegelnden Seins zu verfügen. Die Faktizität, zu sein, ebnet alle Versuche, ein besonderes Sein für uns Menschen in Anspruch nehmen zu wollen, ein. Hier scheint noch einmal die Vorstellung der Unerbittlichkeit hindurch, die Lévinas’ Seins-Verständnis Mitte der 1930er Jahre kennzeichnet. Gleich schwer lasten die Gedanken des Seins und des Selbst-Seins auf uns, diesen Eindruck erweckt zumindest seine kleine Schrift Ausweg aus dem Sein. Diese Bewegung des Ausbrechens aus dem Sein ist bereits gänzlich anderer Natur als die existentielle Bewegung, deren Darstellung so weiten Raum in diesen Überlegungen eingenommen hat. Diese sollte nach der Idee ihrer Fürsprecher in den Besitz des Selbst-Seins bringen, die Evasion, die Lévinas anspricht, soll darüber hinausführen:
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Zur Evasion regt nicht die Tatsache an, daß das Leben Wahl bedeutet […]. Das Bedürfnis nach einer universellen oder unendlichen Existenz, die die Verwirklichung der Kompossiblen zuläßt, setzt voraus, daß das Ich im Grunde mit sich Frieden geschlossen hat, d. h. die Hinnahme des Seins. Im Gegensatz dazu stellt die Evasion gerade diesen vorgeblichen Frieden mit sich in Frage, da sie danach strebt, die Verkettung des Ich mit sich selbst zu durchbrechen. Sie flieht das Sein selbst, das Selbst-Sein und nicht sein Begrenzt-Sein.365
Unüberhörbar klingt in diesen Zeilen bereits jenes Motiv an, das die Schriften des Emmanuel Lévinas in Zukunft wie eine starke Konstante durchziehen wird – das Motiv des Anderen. Denn ihm wird in der Bewegung des Fliehens, in dem das Selbst dem Bewusstsein seiner selbst zu entkommen sucht, die entscheidende Rolle zufallen. Was sich in dieser Formulierung wie ein vom Gedanken der Inanspruchnahme geprägtes Ansinnen anhört, mag diesen Aspekt selbst noch in Totalität und Unendlichkeit nicht vollends überwunden haben. Doch wird sich die Akzentuierung mit den Jahren mehr und mehr in Richtung jener Beschränkung verlagern, die das erkennende Subjekt sich selbst auferlegt, um das einzige Verhalten zu praktizieren, das dem Menschen nach Lévinas’ Überzeugung angemessen ist: Dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Für eine kurze Rekonstruktion der Entwicklung seiner Seins-Kritik stellt der Blick auf den Gedanken der Evasion den ersten Bestandteil dar. Noch bewegen sich seine Überlegungen in einem Kontext, der sich aus psychologischen und philosophischen Quellen speist, denn noch hatten sie nicht dem Grauen der bald einsetzenden Geschehnisse zu widerstehen. Theodor W. Adorno formulierte die mittlerweile fast zum Slogan gewordene Frage, ob nach Auschwitz überhaupt noch zu philosophieren sei und markierte damit eine Zäsur innerhalb der Philosophie, die dazu geeignet gewesen wäre, ethische Konzepte und die Bewertung von Ethik insgesamt einer Überprüfung in noch nie dagewesenem Umfang zu unterziehen. Es ist erstaunlich, wie kurze Zeit diese Zäsur nur von Bestand gewesen ist. Wo lassen sich im aktuellen philosophischen Diskurs noch deren Spuren ausmachen? Und es ist gar nicht erforderlich, so weit zu greifen. Wo lassen sich diese Spuren im existenzphilosophischen Denken erkennen? Wie bereits mehrfach erwähnt liegt uns die Schrift von Karl Jaspers über die Schuldfrage des deutschen Volkes vor. Hannah Arendt, deren Werk sich so schwer in Verbindung zum existentiellen Denken lesen lässt, diskutierte anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann, der 1961 in Jerusalem stattfand und von ihr als Kommentatorin begleitet wurde, das Phänomen des Bösen. Doch sind solche extrem wichtigen Zeugnisse als Belege dafür zu verstehen, dass sich in Existenzphilosophie und Existentialismus die philosophischen Erwägungen spürbar neu justiert hätten? Ein höchst spekulativer Gedanke mag hier zulässig sein. Vielleicht ist Heinrich Barths Bestreben, das Existenz-Problem nach eigenen Worten zu einem Erkenntnis-Problem zu erheben, als Versuch zu werten, einen 365
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radikalen Neuanfang innerhalb des existentiellen Denkens zu wagen, der auf die Einheit und Verbindlichkeit versprechende Kraft des Transzendentalen setzt. Die Verbindung des Seins-Begriffes mit den Motiven von Gewalt und Ungerechtigkeit, die seine Schriften nach 1945 kennzeichnet, hat Lévinas in seinem frühen Text noch nicht hergestellt. Seine äußerst skeptische Haltung der Vorstellung vom Selbst-Sein gegenüber zeichnet sich hier bereits ab, allerdings in einer anderen Gewichtung, als es im weiteren Verlauf seines Denkens der Fall sein wird. Der Wunsch, einen «Ausweg aus dem Sein» zu finden, spiegelt das Leiden des Selbst an sich selbst, das sich als Sein erfahrend reflektiert. Die Frage nach den Konsequenzen, die diese Suche nach einem Ausweg für den anderen Menschen hat, der diesem mit seinem Selbst-Sein ringenden Ich begegnet, wird noch nicht gestellt. Der Schritt, Philosophie als Ethik zu verstehen, ist zu diesem Zeitpunkt vielleicht bereits intendiert, doch noch nicht vollzogen. In Anbetracht seiner zu diesem Zeitpunkt vorgenommenen Kritik könnte festgehalten werden, dass das Problem, auf das er sich bezieht, eher dasjenige des Selbst als dasjenige des Seins ist. Zwar sind beide derart miteinander verwoben, dass das Selbst nicht an sich leiden würde, wenn es sich nicht im Sein erfassen müsste, doch wäre die Überlegung nicht unberechtigt, ob das Faktum des Seins als solches bereits Lévinas’ Ablehnung hervorgerufen hätte. Für die weiteren Überlegungen zeichnet sich hier eine höchst bedeutsame Denk-Möglichkeit ab. Denn wenn es nicht das Faktum der Vorhandenheit ist, das dem Menschen in negativer Weise zu denken gibt, sondern dessen Denken des Seins, kann dieses Gegenstand einer modifizierten Interpretation werden. Rutscht diese Ankündigung aber nicht unversehens in jene Falle des Denkens, die gerade noch unter Hinweis auf den existentialistischen Ansatz benannt wurde, nämlich sich durch Einfinden in das Unabänderliche der Illusion von Entscheidungsfreiheit hinzugeben? Die Vermutung könnte naheliegen, trifft jedoch nicht zu. Denn in der Änderung unserer Einstellung der Beschaffenheit unseres Daseins gegenüber, wie sie von Jean-Paul Sartre, aber stärker noch von Albert Camus vertreten wird, erfolgt tatsächlich nur deren Überdenken und keine grundsätzlich veränderte Bewertung des Faktums der Vorhandenheit an sich. Aus diesen knappen Bemerkungen, die einen Ausblick auf das zu Zeigende erlauben, wird bereits erkennbar, dass schon diese Stellungnahme von Emmanuel Lévinas nicht geteilt werden kann. Bevor dieser Umstand erläutert wird, ist die Entwicklung seines Seins-Verständnisses anhand zweier weiterer Beispiele aus seinem umfangreichen Werk zu verfolgen. Die 1947 erschienene Schrift Vom Sein zum Seienden, deren Titel bereits einschlägige Bedeutung in unserem Zusammenhang verspricht, kommt hierfür als nächste in Betracht. Auf den ersten Seiten bezieht sich Lévinas auf Heideggers Vorstellung, Existenz sei als Ekstase, das heißt Zulaufen auf das Ende und ihr eigener Ausstand zu verstehen. Das daraus entstehende Motiv der Angst um das Sein nutzt er, um zu zeigen, dass es jedoch nicht die Tatsache des Nicht-mehr-Seins sei, die uns ängstige, sondern die https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Tatsache des Seins als solche. «Hat das Sein keine anderen Fehler als seine Begrenztheit und das Nichts? Liegt nicht gerade in seiner Positivität ein grundlegendes Übel? Die Angst vor dem Sein – das Entsetzen vor dem Sein – sind sie nicht genauso ursprünglich wie die Angst vor dem Tod?»366 Und etwas später heißt es: «Das Sein ist wesentlich fremd und schockiert uns. Wir erleiden seine Umarmung, die uns erstickt wie die Nacht, aber das Sein antwortet nicht. Es ist das Übel, zu sein.»367 Die Frage drängt sich angesichts solcher Worte auf, woher die abgrundtiefe Skepsis dem Sein gegenüber stammt? Und welche Bedeutung verleiht Lévinas überhaupt diesem Begriff? Die Kennzeichnungen, die er diesem zuweist, können in begrenztem Umfang Aufschluss geben. Seine Fremdheit, seine erstickende Präsenz sind bereits genannt. Auf sein «anonymes Rauschen» ist als nächstes zu verweisen,368 dessen Verständnis sich durch die Abgrenzung erschließt, die Lévinas vornimmt. «Die Unterscheidung zwischen der Aufmerksamkeit, die sich auf die Gegenstände richtet ! […] und dem Wachen, das sich im Rauschen des unvermeidbaren Seins verliert, geht weiter. Das Ich wird von der Fatalität des Seins mitgerissen.»369 Diese Zeilen erinnern an Sartres Auffassung vom An-sich-Sein, das dem Menschen als solches keinerlei Möglichkeit bietet, sich auf es zu beziehen. Erst die Partikularisierung in Seins-Fraktale, die durch den Akt der Nichtung erfolgt, gibt uns die Chance eines Zugriffs auf das Sein, wobei diese Formulierung wörtlich zu verstehen ist. Wir greifen auf verdinglichtes Sein zu und begreifen anhand seiner Zugänglichkeit unser Dasein. Das Rauschen des Seins, von dem Lévinas spricht, ähnelt in seiner kompakten Unzugänglichkeit der Artikulation des An-sich-Seins, die gleichwohl gegeben sein muss, wäre doch andernfalls das Wissen, seiner habhaft werden zu können, nicht erklärbar. Die Umschreibungen der Anonymität und Unzugänglichkeit charakterisieren das Sein als solches, darin sind sich Sartre und Lévinas durchaus einig, deren für die Einschätzung zugrunde gelegten Schriften gerade einmal vier Jahre trennen. Damit wird klar, dass beide nicht von dem Begriff des Seins als Zeichen ausgehen, das das Faktum der Vorhandenheit benennt und als solches Inhalt logischer Untersuchung werden könnte, sondern von eben diesem Faktum selbst. Da sich dieses jedoch ihrer Auffassung nach weder in zustimmender noch in ablehnender Weise beurteilen lässt, da es Tatsache jenseits der Bewertbarkeit ist, fokussieren beide die menschliche Reaktion auf das Sein. Damit rückt die Frage nach dem Bewusstsein in den Vordergrund, das Bewusstsein des Seins ist:
Vom Sein zum Seienden, S.21. Vom Sein zum Seienden, S.24. 368 «Die Unmöglichkeit, das hereinstürzende, unvermeidbare und anonyme Rauschen des Seins zu unterbrechen, äußert sich besonders in gewissen Momenten, in denen sich der Schlaf unserem Appell entzieht.» Vom Sein zum Seienden, S.79. 369 Vom Sein zum Seienden, S.79. 366
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Dank der Setzung im anonymen ‹es gibt› bestätigt sich ein Subjekt. Bestätigung im etymologischen Sinne des Worts, Setzung auf einem festen Stück Erde, auf einer Grundlage, Gründung, Grundlegung. Das Subjekt, das sich dem anonymen Wachen des ‹es gibt› entreißt, wurde nicht als Denken, als Bewußtsein oder als Geist untersucht. […] Es handelt sich darum, die Bedeutung einer viel allgemeineren Tatsache zu bestimmen: des Erscheinens selber eines Seienden, eines Substantivs inmitten jenes unpersönlichen Seins.370
Könnte diese Einschätzung auch auf Jean-Paul Sartres Verständnis vom Sein übertragen werden? Die Zurückweisung des Umstandes, dass das Entreißen aus dem Sein als Wirken des Bewusstseins zu deuten wäre, würde gegen eine solche Möglichkeit sprechen. Denn Sartres Darstellung zielt darauf ab, zu zeigen, wie das Faktum des Seins uns durch unser Erfassen unserer selbst als nichtende Seiende gegenwärtig wird. Doch was unterscheidet nach Lévinas’ Auffassung die Vorstellungen von Subjekt und Substantiv, auf der offensichtlich seine Theorie des Seins-Entzuges basiert? Subjekt wäre jenes, dem Bewusstsein zugeschrieben werden kann. Ihm kommt keinerlei darüber hinausweisende Bedeutung in Bezug auf das Sein zu. Das Subjekt in dieser Deutung setzt sich dem Sein nicht entgegen, sondern reflektiert es. Anders verhält es sich beim Substantiv, jenem der Grammatik entstammenden Terminus, dem hier eine unvergleichliche Funktion attestiert wird. Warum greift Lévinas auf das Feld der Sprachgestaltung zurück, um jene letztgültige Möglichkeit aufzuzeigen, der Anonymität des Seins zu entgehen? Weil sich seiner Deutung nach das Verb «sein» dann in das Substantiv «Sein» verwandelt, wenn es jemandes Sein wird. «[…] das Erscheinen des Substantivs, ist nicht nur das Erscheinen einer neuen grammatischen Kategorie; sie bedeutet die Aufhebung des anonymen ‹es gibt›, das Erscheinen eines privaten Bereichs, eines Namens. Vor dem Hintergrund des ‹es gibt› taucht ein Seiendes auf.»371 Letztlich geht es auch hier um die Frage nach dem Aneignungsmodus, der die individuelle Einschreibung in das Faktum der Vorhandenheit erlaubt. Hierin eine Parallele zu Sartres Erklärung des Nichtungsgeschehens zu sehen, ist nicht ausgeschlossen. Es ist hier nicht der Ort, um über die Überzeugungskraft beider Auffassungen zu entscheiden, sondern um einen anderen Aspekt zu betonen: Warum halten Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas es überhaupt für geboten, Strategien der Aneignung zu benennen? Oder, anders formuliert: Befinden wir uns tatsächlich jemals in der Lage, Sein anders als bereits im individuellen Erleben strukturiert zu erfassen? Was hat es mit der beschworenen Anonymität des Seins auf sich, die Lévinas hier so offensiv thematisiert, und was mit dem An-sich-Sein, jenem ontologischen Terminus, der in Sartres philosophischer Reflexion an die Stelle des Erlebens des Zuviel tritt, das er im Roman Der Ekel beschreibt? Dort heißt es:
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Vom Sein zum Seienden, S.101. Vom Sein zum Seienden, S.102. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Und dann, plötzlich: auf einmal war es da, es war klar wie das Licht: die Existenz hatte sich plötzlich enthüllt. Sie hatte ihre Harmlosigkeit einer abstrakten Kategorie verloren: sie war der eigentliche Teig der Dinge, […] die Vielfalt der Dinge, ihre Individualität waren nur Schein, Firnis. Dieser Firnis war geschmolzen, zurück blieben monströse […] Massen, ungeordnet – nackt, von einer erschreckenden und obszönen Nacktheit.372
Was sich hier enthüllt, ist dem anonymen Sein in der Interpretation von Lévinas nicht unähnlich. Um von einer Parallelität sprechen zu können, muss ein weiterer Schritt erfolgen, den Sartre auch tatsächlich vollzieht. Zunächst erscheint das Sein, das er in seiner berühmten Park-Szene beschreibt, in differenzierten Formen der Gegenstände, die uns vertraut sind, mit denen wir seit jeher hantieren. Hier liegt also im Grunde bereits jenes durch Nichtungsakte differenzierte Seiende vor, das es auch dem Menschen erlaubt, sich als Individuum zu begreifen. Damit handelt es sich um jene Form des strukturierten Seins, das laut der Analyse in Das Sein und das Nichts bereits als Sein jenseits des An-sich verstanden werden könnte. Und doch bricht die Fassade der Differenziertheit auf und gibt den Blick auf das Sein als solches frei. Ist diese Formulierung präzise genug? Kann der Blick jemals auf dem Sein ruhen? Gewiss nicht, denn dessen Beschaffenheit wird von beiden Denkern in Worten des Erkenntnis-Entzugs beschrieben. Anonymität, Nacktheit, das sind Formeln dieser Weigerung, Gegenstand der Erkenntnis zu sein. Woher wissen wir dann aber um das Sein in seiner Nacktheit? Wir wissen nicht, sondern erleben am eigenen Leib, wie in Anbetracht der drastischen Darstellungen festgestellt werden kann. Und da wir am eigenen Leibe erfahren, erleben wir auch uns in ihm: Wir waren ein Häufchen Existierender, die sich selber im Wege standen, sich behinderten, wir hatten nicht den geringsten Grund, dazusein, weder die einen noch die anderen, jeder Existierende, verwirrt, irgendwie unruhig, fühlte sich in bezug auf die anderen zuviel. Zuviel: das war der einzige Bezug, den ich zwischen diesen Bäumen, diesen Gittern, diesen Kieseln herstellen konnte. […] Und ich […] auch ich war zuviel.373
Die Frage, woher wir um das Sein wissen, solange es noch nicht unser Wissen geworden ist und in der einen oder anderen Weise Spuren in unserem Erleben und Bewusstsein hinterlässt, ist damit freilich noch nicht beantwortet. Eine Anmerkung, die sich sowohl auf Sartres Sicht als auch auf diejenige von Emmanuel Lévinas bezieht, könnte es als zweifelhaft erscheinen lassen, dass wir überhaupt eine Vorstellung vom Sein gewinnen können, bevor wir es als unser Sein reflektieren können. Das Seins-Problem beginnt erst in unserem Denken Form anzunehmen und von uns als Problem beurteilt zu werden. In dem Augenblick, in dem es uns allerdings als solches erscheint, ist es das im Grunde bereits nicht
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Der Ekel, S.145. Der Ekel, S.146. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mehr, da selbst das Empfinden des Zuviel, das Sartre beschreibt, bereits individualisiertes Empfinden aller ist. In Das Sein und das Nichts schreibt er: Dennoch ist es das Merkmal des Seins eines Existierenden, sich dem Bewußtsein nicht selbst, leibhaftig, zu enthüllen; man kann ein Existierendes nicht seines Seins berauben, das Sein ist die immer anwesende Grundlage des Existierenden, es ist überall in ihm und nirgendwo, es gibt kein Sein, das nicht Sein einer Seinsweise wäre und das man nicht über die Seinsweise erfaßte, die es gleichzeitig manifestiert und verhüllt.374
Wenn Sartre diese Sachlage in solcher Eindeutigkeit benennt, wirkt die Frage umso drängender, wie es dann zu Charakterisierungen wie der Nacktheit oder der Anonymität des Seins kommt, Kennzeichnungen, die vorgeben, sich auf eben jene Zustandsweise des Seins zu beziehen, die wir als solche schlichtweg nicht beurteilen können. Eine Vermutung bietet sich an, die erstaunlicherweise für die Auffassungen beider Denker zutreffen könnte. Es ist nicht das Faktum der Vorhandenheit des Seins, die hier in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, sondern die Grundlosigkeit unseres Seins. Zur Verdeutlichung dieser Annahme muss daran erinnert werden, dass in den Konzeptionen beider die Frage nach dem Ursprung des Seins ausgeblendet wird, ein Umstand, der sich in Sartres Werk selbst erklärt, in demjenigen von Lévinas hingegen für einige Verwunderung sorgen wird. Denn wird berücksichtigt, dass er nicht nur ein philosophischer, sondern auch ein religiöser Denker ist, sollte eine solche Bewertung des Seins kaum möglich sein, wäre es doch, aller philosophischen Sprachlosigkeit zum Trotz, immer als von Gott geschaffenes Sein vorstellbar. Wie kann vor einem solchen Hintergrund überhaupt der Gedanke formuliert werden, dass es das Verlangen des Menschen sei, dem Sein zu entfliehen? Allein schon die Rede von der brutalen Unerbittlichkeit des Seins, die uns in Ausweg aus dem Sein begegnete, konnte für Unverständnis sorgen. Denn wäre dieses Werk göttlicher Schöpfung, müsste sich eine solche Titulierung von selbst aufheben. Sie würde schließlich bedeuten, dass Sein nicht die bestmögliche Tat Gottes sei. Für Sartre hätten diese zuletzt angesprochenen Aspekte keinerlei Bedeutung, da er der Vorstellung Gottes keinen Raum in seinem Denken gibt. Kann es also sein, dass Lévinas in seinen nicht explizit als religiös titulierten Schriften auf dem blanken Boden ontologischer Erwägungen operiert? Ein solcher Erklärungsversuch wäre zumindest höchst verwunderlich, da Lévinas vor allem in Totalität und Unendlichkeit dem Göttlichen als dem absolut Anderen in seinen Aussagen zur gewaltfreien Relation des Ethischen sehr wohl Bedeutung zuspricht. Würde das einem anderen Erklärungsversuch dienen, der von einer Entwicklung in Lévinas’ Denken ausgeht? Wenige Anzeichen deuten hierauf hin. Eine strikte Trennung philosophischer und theologischer Schriften im Oeuvre des Emmanuel Lévinas ist nahezu unmöglich, auch wenn seine Lectures talmudiques ! Talmud-Lesungen eine ein374
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deutige Zuordnung zu erlauben scheinen. Die Konzeption des Anderen, die Gegenstand nahezu aller Texte ist, beinhaltet stets den Gedanken des Göttlichen, ganz gleich, ob er ausgesprochen wird oder nicht. Denn in letzter Konsequenz ist die Figuration des Anderen nur als Antlitz des Göttlichen zu verstehen, das in der Konfrontation mit dem Selben in Erscheinung tritt. Rede über Ethik, die dieses Gegeneinander zu reflektieren und zugleich zu stiften sucht, artikuliert sich insofern stets in Bezug zum Begriff des Göttlichen. Rede von diesem Göttlichen zu sein, verbietet sich, da ein Aussprechen selbst seines Namens nach alter religiöser Überzeugung allenfalls in Form des Tetragramms YHWE vorstellbar wäre. Wird nun etwa die Textsammlung herangezogen, die 1982 unter dem Titel De Dieu qui vient à l’idée – Wenn Gott ins Denken einfällt erschien, könnte in einer so getitelten Arbeit eine Antwort auf die Frage nach der Relation der Vorstellungen von Schöpfung und Sein vermutet werden. Das Ergebnis der Lektüre bestätigt den bisher bestehenden Eindruck, wonach der Gedanke des Göttlichen in der Reflexion der ethischen Situation, die sich zwischen dem Selben und dem Anderen ereignet, aufgehoben ist. Für eine Rekonstruktion des Seins-Verständnisses ist diese Schrift aus anderem Grund besonders aufschlussreich. Denn sie bietet eine der markantesten Formulierungen jener Auffassung von Lévinas, wonach die Relation von Sein und Gewalt letztlich als untrennbar zu begreifen sei: Wir fragen uns, ob das Menschliche, sofern es von der Ontologie her als Freiheit gedacht wird, […] ob dieses Menschliche sich noch im Maßstab dessen bewegt, was den neuzeitlichen Intellekt am menschlichen Versagen betroffen macht. Jenen neuzeitlichen Intellekt, der in Auschwitz mitansah, wie das Gesetz und der Gehorsam ! […] in den faschistischen und nichtfaschistischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts endeten.375
Wird das Menschliche vor dem Hintergrund des Seins gedacht, verliert es seine Denkbarkeit im ethischen Kontext. Darauf weisen diese Zeilen hin und legen eine Sicht des Seins nahe, die schon längst nicht mehr nur durch das Bedürfnis des Einzelnen gekennzeichnet ist, seiner brutalen Unerbittlichkeit zu entfliehen. Es ist nicht mehr die am Leiden dieses Einzelnen orientierte Perspektive, aus der Lévinas das Thema des Seins beleuchtet, sondern jener radikal aufgerissene Blick, mit dem nach Auschwitz nur noch über westliche Philosophie zu sprechen sei. Das Versagen dieses auf dem Primat der Rationalität gründenden Denkens ist nicht als ein punktuelles Scheitern zu begreifen, das durch eine ambitionierte Innenrevision zu beheben sei, sondern es ist vollständig und nicht mit solchen Mitteln zu korrigieren, die diesem Denken zur Verfügung stehen. In plakativer Weise erläutert Lévinas die Notwendigkeit, nach neuen, unverbrauchten und unbelasteten Mitteln Ausschau zu halten, durch die Kontrastierung zweier Stereotypen des Denkens, die er dem Rahmen von Mythologie und Religion entnimmt. Repräsentant des alten, auf griechischen Wurzeln ruhenden Denkens sei 375
Wenn Gott ins Denken einfällt, S.87. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Odysseus, jener Irrfahrende, dessen Verlangen die Rückkehr zum heimatlichen Gestade gilt, wohingegen er als Denker im neuen Verständnis Abraham präsentiert, der im Vertrauen auf die göttliche Unterweisung bereit zum Verzicht auf vermeintliches Heimatrecht ist und den Aufbruch ins Unbekannte wagt. So wenig differenziert die Darstellung dieser Gegenüberstellung auch ist, weist sie doch auf ein tief in die Struktur unseres philosophischen Denkens einschneidendes Merkmal hin, nämlich das Beharren auf einem einmal für gültig erklärten Grund, womit gleichermaßen Ursprung und Rechtfertigung gemeint sind. Dieser Grund ist nach der Auffassung des Emmanuel Lévinas das ontologische Seins-Denken. Seine Forderung muss daher lauten, anders vom Sein zu sprechen, womit auf den Titel seiner späten Schrift Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht verwiesen wird. Um die kurze Betrachtung seiner Texte in chronologischer Folge einzuhalten, ist zunächst auf Totalität und Unendlichkeit zurückzukommen, das bereits in anderem Zusammenhang erwähnt wurde. Die Verlagerung der Akzentuierung innerhalb der Kritik am Sein hat den Fokus vom Erleben des Einzelnen hin zu jenem grundsätzlichen Zweifel gerichtet, den Lévinas nun mit dem Gedanken des Seins schlechthin verbindet. War es noch in Ausweg aus dem Sein das Faktum, zu sein, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog und buchstäblich nach Reflexion verlangte, so ist es seit der Erfahrung des Holocaust eher die Deutung des Seins, wie sie in der Ontologie vorgenommen wird. Die Grundzüge dieser Deutung enthüllt er gleich im Vorwort dieser Schrift in radikaler Weise, eine Selbstverständlichkeit ansprechend, die in der Form im westlichen Diskurs nicht zwangsläufig bestanden hat, als er 1961 darauf hinwies: Daß sich dem philosophischen Denken das Sein als Krieg zeigt: daß der Krieg als die offenkundigste Tatsache nicht nur mit dem Sein zu tun hat, sondern die eigentliche Offenbarkeit des Wirklichen – oder seine Wahrheit – ausmacht, dazu bedarf es keines Beweises anhand dunkler Heraklitischer Fragmente.»376
Dass es tatsächlich das ontologische Denken ist, das sich in einer Einseitigkeit der Sichtweise verfängt und dadurch der fundamentalen Forderung allen Denkens, Ethik sein zu sollen, nicht mehr entsprechen kann, mag zunächst verwundern. Wodurch macht sich die Lehre vom Sein dieses Versagens schuldig? Diese Wortwahl dient keineswegs einer Dramatisierung des Gesagten, sondern nimmt auf Lévinas’ eigenen Sprachgestus Bezug, der bei der Diskussion der Seins-Frage eben diese Tonalität anschlägt. Was leistet Ontologie nicht, beziehungsweise was leistet sie in fatalem Übermaß? «Die Ontologie bringt das Andere auf das Selbe zurück; sie fördert die Freiheit, die Freiheit ist die Identifikation des Selben, sie läßt sich nicht durch das Andere entfremden.»377 Vor diesem Hintergrund wird 376 377
Totalität und Unendlichkeit, S.19. Totalität und Unendlichkeit, S.50. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Odysseus als der fragwürdige Held des ontologischen Denkens erkennbar, der das Unbekannte nicht um seiner selbst willen zu erfassen vermag, sondern es immer nur als Negation des Vertraut-Gesuchten erscheinen lässt. Dem griechischphilosophischen Denken setzt Lévinas das jüdisch-religiöse Denken entgegen, was zu der Frage führt, was dieses als heilsame Neuerung bedeuten kann? «Die Totalität und das Umgreifen des Seins oder die Ontologie – besitzen nicht das letzte Geheimnis des Seins. Die äußerste Struktur ist die Religion; in ihr bleibt die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen – die Idee des Unendlichen – trotz der Unmöglichkeit des Ganzen bestehen.»378 So erscheint Abraham als der Held des neuen Denkens, weil er niemals Heimatrecht im Bekannten beansprucht, sondern sich auf dem Weg der niemals einen Abschluss findenden Begegnung mit dem Fremden befindet. Dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, heißt, es in seiner Andersheit zu respektieren und auf Versuche zu verzichten, es in die Kartographie des Vertrauten, die immer nur eine Reproduktion des Selben sein kann, einzuzeichnen. Die territoriale Metaphorik, die sich hier andeutet, ist mit Bedacht gewählt, um zu zeigen, wie eng in Lévinas’ Sichtweise die Vorstellungen von Vertrautem und Besitzanspruch miteinander verwoben sind. Wird das Bild des Abraham noch um eine Facette erweitert, dann ist es die Anmerkung, dass in seinem Erleben nicht zwischen Vertrautem und Fremden zu unterscheiden ist, da es sich bei der Begegnung mit dem Anderen um das unendliche Aussetzen jener Vereinnahmungsbestrebung handelt, die dieses überhaupt erst als das Fremde erscheinen lässt. Für die Frage nach der Schuldhaftigkeit der Ontologie ergibt sich hieraus eine entscheidende Erklärung. Ihr Irrtum besteht nicht im Gedanken des Seins, sondern in dessen Deutung, die es dem Seienden überordnet und zu dessen Totalität erklärt. Wenn der Gedanke des Primats des Seins vor dem Seienden geteilt wird, könnte der Kritik von Lévinas zugestimmt werden. Das Interessante ist, dass Heidegger in den ersten Seiten von Sein und Zeit eine Kritik am traditionellen Denken des Seins formuliert, die Lévinas nicht als Ausdruck der Ablehnung, sondern als Bekräftigung dieses Denkens verstehen konnte. Denn die Betonung des «Sinns von Sein», nach dem es Heidegger zufolge zu fragen gilt, könnte seiner Auffassung nach gerade in die angedeutete Richtung weisen und auf den Vorrang des Seins vor dem Seienden zielen: Wer die Priorität des Seins im Verhältnis zum Seienden behauptet, spricht sich schon über das Wesen der Philosophie aus; er ordnet die Beziehung zu jemandem, der ein Seiendes ist […], der Beziehung mit dem Sein des Seienden […] unter; das unpersönliche Sein des Seienden gestattet den Zugriff auf das Seiende, die Herrschaft über es; die Gerechtigkeit wird der Freiheit untergeordnet.379
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Totalität und Unendlichkeit, S.111. Totalität und Unendlichkeit, S.54. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Es ist die Auflösung des Seienden im Begriff der Seins-Totalität, die Lévinas kritisiert. Denn durch diese zunächst harmlos wirkende Geste der Vereinheitlichung schleicht sich nach und nach die Nivellierung des Besonderen unter dem Diktat des Vorherrschenden ein, die, auf die Ebene menschlicher Relationen übertragen, ihren infernalen Ausdruck im Geschehen des Holocaust fand. Anders vom Sein zu sprechen, das ist somit die Forderung, die zu erheben ist. «Die Idee eines Seins, das die Geschichte überschreitet, macht Seiende möglich, die dem Sein angehören und zugleich persönlich sind; […].»380 Seiende, die persönlich sind und es unter dem Schutz ihrer letztgültigen Uneinnehmbarkeit bleiben, so könnte ergänzt werden. Um diesen Schutz zu gewähren, ist die Annahme abzulehnen, die Begriffe solcher Seienden könnten jemals zu einer Totalität – der Vorstellung des Seins – zusammengefasst werden. Stattdessen plädiert Lévinas für die Unendlichkeit der Begegnung zwischen Seienden, die einander nicht verletzen und einander nicht berühren, sondern sich in unerreichbarer Nähe erscheinen. Mit Blick auf Sein und Zeit mögen diese Worte des Widerstandes zutreffen, die Lévinas explizit an Heidegger richtet. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, ob sie in Kenntnis der in den letzten Jahren veröffentlichten Denktagebücher unvermindertes Gewicht beanspruchen könnten. Dort geht Heidegger zumindest auf das Sein der Dinge ein, die er in ihrer Differenziertheit erfasst. Dass der Übergang zu einer entsprechenden Thematisierung der Menschen in ihrer letztlich notwendig vereinzelten Existenz ausbleibt, wurde an früherer Stelle bereits erwähnt, mit dem Bedauern, das diese unterlassene Ausweitung letztlich nur hervorrufen kann. Wird der Bezug zu Heideggers Konzeption ausgeblendet, ist zu überlegen, ob diese Sichtweise des Seins, die Lévinas kritisiert, tatsächlich die einzig mögliche ist? Welche Beschaffenheit hat der Begriff des Seins, dass er nicht anders als im Gestus der Vereinnahmung konkretisiert werden kann? Und anders gefragt: Wie könnte auf eine Vorstellung des Seins Bezug genommen werden, die sich nicht jener Vereinheitlichung schuldig macht, die ausschließlich auf Kosten des Einzelnen durchzusetzen ist? Wollen wir eine philosophische Konzeption der existentiellen Bewegung bedenken, können wir, davon gehen diese Überlegungen aus, auf den Gedanken des Seins nicht verzichten. Wird dieser jenem Bild des anderen Denkens entsprechen, das Emmanuel Lévinas zeichnet? Es wird nicht so sein. Doch zunächst mögen die Gedanken bei jener Zurückweisung des Seins-Begriffes verweilen, die in Totalität und Unendlichkeit ihre erste umfassende Artikulation in Lévinas’ Werk erfährt. Das generelle Ansinnen, das dort verfolgt wird, besteht also darin, Einzelne in ihrer je eigenen Besonderheit zu schützen. Dieser Anspruch zeichnet sich durch eine solche ethische Grundsätzlichkeit aus, dass ihm nur uneingeschränkt zuzustimmen ist. Allein die Begründung, die Lévinas dafür anführt, dass dieser Schutz in der Vergangenheit nicht in ausreichen380
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dem Maße gewährt wurde, will nicht recht überzeugen. Wofür steht der Begriff des Seins innerhalb seiner Argumentation? Er repräsentiert den Gedanken der Totalität, jener konstruierten Einheit, der alles Individuelle subordiniert wird und damit seine Individuierungsmerkmale verliert. Es ist gewissermaßen die Umkehrung des Anspruches existentiellen Denkens, die hier diagnostiziert wird, so dass dieses bereits als eine andere Reaktion auf die Vereinheitlichungstendenz philosophischer Reflexion betrachtet werden kann, die Lévinas in ihrem Einsatz für den Einzelnen freilich nicht entschieden genug vorgeht. Denn, so kann nach den vorangegangenen Erwägungen hinzugefügt werden, sie hält noch immer prinzipiell an der Vorstellung vom menschlichen Wesen fest, das Inbegriff vereinheitlichenden Denkens ist. Eine Frage drängt sich auf, die zu stellen nur mit äußerster Vorsicht möglich ist. Könnte es sein, dass es eher die Vorstellung des Wesens ist, die sich in der philosophischen Betrachtung als Grund der Ent-Eignung des Anderen etabliert hat? Eine Gegenüberstellung zweier Überlegungen mag hier hilfreich sein. Was gewinnen wir wirklich, wenn wir den Begriff des Seins umdeuten? Und was gewinnen wir, wenn wir auf den Begriff des Wesens soweit irgend möglich verzichten? In diesem Zusammenhang von Gewinn zu sprechen, klingt berechnend und am möglichen Nutzen orientiert, was in diesem Fall durchaus beabsichtigt ist. Denn es geht für Lévinas um eine Maßnahme, die eine Wiederholung des Geschehenen für alle Zeit ausschließt. Folglich gilt es dessen Ursache innerhalb des philosophischen Denkens ausfindig zu machen und nach Mitteln zu deren Auflösung zu suchen. Ob er dabei dem Einfluss dieses Denkens im Zeitgeschehen nicht allzu viel Gewicht beimisst, könnte gefragt werden. Doch ist ja nicht von der unmittelbaren Verursachung von Krieg und Gewalt die Rede, sondern davon, welche generellen Tendenzen menschlichen Miteinanders sich in der Philosophie westlicher Ausprägung ausdrücken und dort durch theoretische Rechtfertigungen bestätigt werden. Vereinheitlichung durch den Begriff des Seins – das ist der Befund, den Lévinas’ Spurensuche ergibt. Wie schwer innerhalb dieser Auffassung der Gedanke der Totalität wiegt, wird an der Weise erkennbar, in der dessen Aufhebung reflektiert wird. Hierzu greift Lévinas auf den Begriff der Eschatologie zurück. «Das eschatologische Sehen zielt nicht ab auf das Ende der Geschichte im Sein – Sein als Totalität verstanden !, sondern stellt eine Beziehung zum Unendlichen des Seins her, das die Totalität überschreitet.»381 Indem er die Dimension des Unendlichen öffnet, setzt er das Erreichen einer Totalität im Sein aus, insofern dieses allenfalls als unbegrenzte Addition von Beziehungen unter Seienden verstanden werden kann, nicht jedoch als Ganzes in der Abgeschlossenheit seiner Ermöglichung. Indem er die Korrektur, fast liegt es nahe, von Heilung zu sprechen, des Seins-Begriffes in dessen Zeitlichkeit ausmacht, vertagt er den Moment des Abschlusses im Sein auf unbegrenzte Zukunft. Aber
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was wird hier aufgeschoben, um die Vereinheitlichung der Seienden unter dem Gedanken des Seins zu verhindern? Und würde es Sinn machen, in diesem Kontext an die in diesen Überlegungen vertretende Deutung des Seins-Begriffes zu erinnern, wonach er der Bezeichnung des Faktums der Vorfindlichkeit dient? Sicherlich nicht, denn dieses Faktum wäre nicht durch die Forderung einer Aussetzung in der Zeit zu revidieren. Insofern eignet dieser Auffassung des Seins eine Grundsätzlichkeit, deren Vorstellung sowohl positiv als auch kritisch bewertet werden kann. Der Vorzug besteht darin, dass mit dem Verweis auf das Faktum der Vorfindlichkeit eine Aussage zum Vorfindlichen getroffen wird, die es in vollständiger Gleichwertigkeit erkennt. Wird dieses Faktum benannt, fallen im selben Moment jegliche Möglichkeiten einer differenzierenden und damit letztlich auch Wertungen zulassenden Betrachtung. Kritisch könnte angemerkt werden, dass doch damit genau jener Vereinheitlichung entsprochen würde, vor der Lévinas warnt. An diesem Punkt wird deutlich, warum in unserem Verständnis der Ausdruck der Vorfindlichkeit gewählt wird, um von Sein sprechen zu können. Dasjenige, dem wir begegnen und in philosophischer Reflexion das Testat der Vorfindlichkeit zuweisen, ist je schon konkret und in seiner Konkretion präsent. Wir erfahren Vorfindliches ausschließlich deshalb, weil es uns in der Faktizität seiner Auffindbarkeit als dieses oder jenes, diese oder jener begegnet. Mit diesem Gedanken weicht die Deutung von einer Sichtweise ab, die nach der Möglichkeit einer Partikularisierung des Seins etwa im Sinne der Nichtungsakte fragt. Wir gehen nicht von der Vorstellung des Seins aus, das anonym und in seiner Massivität erdrückend auf uns wirken könnte und in uns das elementare Verlangen auslöst, seiner in irgendeiner Weise habhaft zu werden, damit es uns zuhanden sei. Wir fragen nicht wie Franz Rosenzweig danach, wie die Dinge im Sein zu diesen bestimmten Dingen werden, weil wir immer nur Einzelnem begegnen können. Damit keine Verunsicherung entsteht, ist auf den Ausdruck der Begegnung zu verweisen, der sinnliche Konfrontation bedeutet. Der Begriff der Vorfindlickeit scheint daher im ersten Moment eine Eingrenzung der Möglichkeit, von Sein zu sprechen, mit sich zu bringen, da er ausschließlich auf sinnlich Erfahrbares Anwendung findet. Die Frage, wie es sich darüber hinaus etwa mit Ideellem und Vorgestelltem verhält, wird aus dem engsten Rahmen der sinnlichen Erfahrung des Vorfindlichen ausgeklammert. Die Erweiterung des Gedankens der Erfahrung wird ihren Einzug in das Denken des Vorfindlichen jedoch gewährleisten. Wird also diese Betrachtungsweise, die hier in einem ersten Ansatz sichtbar wird, zugrunde gelegt, würde sich die Folgerung, aus ihr könne der Gedanke einer Totalität des Vorfindlichen entstehen, nicht ergeben, da dieses als solches potentiell unendlich ist. Zu keinem Zeitpunkt kann behauptet werden, die Gesamtheit des Vorfindlichen erfahren zu haben. Diese Absicherung funktioniert jedoch nur so lange, wie tatsächlich von der Form der sinnlichen Begegnung, der Erfahrung, ausgegangen wird. Sobald versucht wird, das Gemeinsame des Vorfindlihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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chen zu benennen, greift der Mechanismus, der der Suche nach dem Wesen von etwas oder jemandem dient. Und dieser Mechanismus der abstrahierenden Verallgemeinerung ist es, gegen den sich Emmanuel Lévinas wendet. Schließlich spricht er nicht zufällig wiederholt die Ontologie an, die sich, soviel kann ergänzt werden, exakt dieser Technik der abstrahierenden Verallgemeinerung bedient. Hätte es aber dann nicht ausgereicht, den ontologischen Begriff des Seins abzulehnen? Seine über den Gedanken der Eschatologie geführte Argumentation basiert auf der Vorstellung realer Begegnung Seiender, die sich niemals zu einer Totalität, also der vereinheitlichten Begrifflichkeit konkret realisierter Möglichkeiten der Begegnung, zusammenfassen lassen. Um das Problem, das sich in der Gedankenführung abzuzeichnen scheint, erläutern zu können, ist ein etwas weiterer Blick erforderlich. Dieser richtet sich nicht nur auf die Argumentation als solche, sondern auf die Frage, welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben. Vielleicht hätte es ausgereicht, vor der Einseitigkeit der philosophischen Begriffsbildung zu warnen, die, um Allgemeingültigkeit erreichen zu können, fast ausnahmslos auf der Technik der abstrahierenden Verallgemeinerung beruht. Auch der ontologische Terminus des Seins entstand auf diesem Wege, was nicht mit der philosophischen Rede vom Sein zu verwechseln ist. Darauf wird einzugehen sein. Um die Gefahr der Vereinheitlichung des Seienden auszuschließen, verlässt sich Lévinas nicht auf diesen Hinweis, der als Kritik philosophischer Begriffsbildung ernst zu nehmen wäre, sondern greift die Natur der Begegnung von Seienden selbst auf. Hier kommt seine Deutung des Bildes vom «Antlitz» zum Tragen, auf die bereits kurz geschaut wurde. «Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. […] In jedem Augenblick zerstört und überflutet das Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß […] ist […].»382 Auf unsere Frage nach dem Sein bezogen folgt daraus: «Das Seiende durchschlägt alle Hüllen und Allgemeinheiten des Seins, […].» Konsequent wäre der Vorsatz, jede Rede vom Sein zu unterlassen, da sie, zumindest dann, wenn sie im philosophischen Kontext zur Geltung kommen sollte, notwendigerweise Rede in Abstraktion wäre. Die Schwierigkeit, die sich gerade abzeichnet, begegnete uns bereits anlässlich der Überlegung, wie philosophisch vom Einzelnen zu sprechen sei. Das Ergebnis der Untersuchung bestand in der Feststellung, dass dieses im Grunde sich selbst verhinderndes Denken ist, insofern Aussagen über den Einzelnen lediglich deskriptiven, nicht theoretischen Charakter annehmen könnten. Warum ist Lévinas daran interessiert, Seiende als Einzelne vorstellen zu können? Denn darin besteht der Sinn seiner Zurückweisung des ontologischen Gedankens vom Sein. «Das Eschatologische, […] läßt die Seienden zu ihrer vollen Verantwortung entstehen, es ruft sie zur vollen Verantwortung auf. […] Die 382
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Idee eines Seins, das die Geschichte überschreitet, macht Seiende möglich, die dem Sein angehören und zugleich persönlich sind; […]»383 Seiende werden als ethisch kompetente Individuen benötigt, um die scheinbare Diktatur des SeinsBegriffes Lügen zu strafen. Denn nicht der Eindruck, den dieser vom Sein erweckt, stellt die tatsächliche Weise menschlichen Seins dar, sondern das je individuelle Erscheinen vor dem Antlitz des Anderen. «Historisch geschieht das in dem Augenblick, in dem die Eschatologie des messianischen Friedens sich über die Ontologie des Krieges legt. Die Philosophen mißtrauen der Eschatologie.»384 Misstrauen sie ihr, oder entstammt sie einer anderen Tonalität des Denkens, auf die sich nur im Augenblick höchster Sprachlosigkeit im Gestus der Demut zu beziehen wäre? Die plakative Kontrastierung, in der Lévinas Eschatologie und Ontologie betrachtet, vermag eher zu polarisieren, als zu überzeugen. Denn zumindest hinsichtlich Letzterer legt er damit eine verallgemeinernde Deutung vor, die ihrerseits Widerspruch hervorrufen könnte, zumal dann, wenn sie als Denken des Krieges vorgestellt wird. Doch welche Differenzierung verbirgt sich hinter dieser Formulierung, die gewiss nicht ohne Grund in gröbster Pauschalierung vorgenommen wurde? Der Rückgriff auf die Vorstellung der Zeitlichkeit zeigt, dass sich Eschatologie und Ontologie nach Lévinas‘scher Auffassung in ihrer Bewertung des Ausstehenden unterscheiden. Denken im Zeitbewusstsein von Eschatologie fokussiert das ‹Noch-Nicht›, das sich aus dem gegenwärtigen Augenblick in das Über-diesen-Augenblick-Hinaus erstreckt. Es im Sinne reiner Zukünftigkeit zu denken, würde die Deutung in diesem Zusammenhang verfehlen, da Lévinas es nicht als das Andere des Augenblicks, sondern als dessen Verunendlichung begreift. Doch welcher Art sind die Begegnungen, die sich im Sinne ihrer radikalen Vereinzelung vollziehen sollen? Hier zeigt sich eine Schwierigkeit, die dem Lévinas‘schen Verständnis des Anderen inhäriert. Noch einmal rückt die Begegnung mit dem Anderen in den Fokus, oder besser gesagt: Nicht diese Begegnung selbst, sondern die Weise, in der sie kommentiert wird: «Die Fremdheit des Anderen, der Umstand, daß er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen Besitz zurückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als Infragestellung meiner Spontaneität, als Ethik.»385 Der Forderung nach, die sich inzwischen abgezeichnet hat, müsste es der bestimmte Einzelne sein, der in dieser ethischen Situation par excellence zum widerständigen Kontrahenten meines Erlebens wird. Ist es aber tatsächlich seine Individualität, unverwechselbare Kennzeichnung eines Menschen, der nicht anders als in Differenz zu mir gedacht werden darf, die mich zur Einschränkung meiner Spontaneität, meiner Freiheit, wie es auch heißt, bringt? In der konkreten Begegnung wird es dieses kompakte Sich-Behaupten seiner Prä383 384 385
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senz sein, die mich zur Aufgabe meines Vermögens, ihn auf Bekanntes zurückzuführen, zwingt. Oder ist es die Tatsache seiner Andersheit? Diese Unterscheidung klingt relativ belanglos, erweist sich aber als sehr folgenreich. Denn wäre es die Andersheit, die sich mir im Antlitz des Fremden zeigt, würden wir uns argumentativ auf der Ebene philosophischer Reflexions-Formen bewegen. Der Andere repräsentiert in seiner physischen Anwesenheit das Prinzip der Alterität, soviel kann in jedem Fall festgehalten werden. Zu fragen wäre nun, wie Ethik im Sinne von Lévinas funktioniert? Muss ich um die Tatsache der Alterität wissen, um mich dem Anderen in der Haltung des nicht-vereinnahmenden Denkens zu nähern? Philosophische Theorie analysiert das Geschehen der Gerechtigkeit, das sich zwischen mir und dem Anderen ereignet. Sie ist daher nicht präskriptiver Natur, bedarf nicht der Einwilligung durch die Vernunft. Nun findet sich in Totalität und Unendlichkeit allerdings ein Gedanke, den es aufzugreifen gilt: Der Andere ist nicht anders im Sinne einer relativen Andersheit, […] Die Andersheit des Anderen hängt nicht von irgendeiner Qualität ab, die ihn von mir unterschiede; denn eine Unterscheidung dieser Art würde zwischen uns gerade jene Gemeinsamkeit der Gattung voraussetzen, die die Andersheit schon vernichtet. Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann, […]386
Auf Teile dieser Passage wurde bereits hingewiesen, da sie zu den zentralen Partien des gesamten Werkes zählt. Für die aktuelle Frage ist sie relevant, weil es ihrem Wortlaut gemäß tatsächlich so wirkt, als würde es nicht mehr der Einzelne sein, der mich anspricht, sondern seine Fremdheit an sich. Dieser Befund wäre insofern erstaunlich, als Lévinas die Begrifflichkeit des Seins als Denomination der Vorstellung von Totalität zurückgewiesen hatte, um Seiendes als solches in die Verantwortung nehmen zu können. Dafür vollständig auf die Annahme einer Gemeinsamkeit oder zumindest eines verbindenden Elementes verzichten zu wollen, ist womöglich ein Schritt im Denken, der sich nicht problemlos gehen lässt. Es wäre möglich gewesen, auf die sinnlich zu erfassende Andersheit des Anderen aufmerksam zu machen. Doch genau dieser Möglichkeit wird in den zitierten Zeilen das Fundament entzogen. Die Andersheit bedarf hingegen keiner Seienden, um sich in deren individuellen Unterschieden zu zeigen, zumindest nicht nach philosophischer Auffassung. Aber wie verhält es sich im Sinne religiösen Denkens? Lévinas verwendet den so bedeutsamen Begriff der Epiphanie, für den im vorliegenden Kontext das gerade Verneinte zu fordern sein könnte: Damit das absolut Andere erscheinen kann, bedarf es der Form, durch die es sich offenbart. Diese Form wäre das Seiende. Die Frage, wie wir um die Andersheit des Anderen wissen, ist nicht nur falsch formuliert, sie verläuft buchstäblich ins Leere. Denn 386
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wir wissen nicht darum, sondern werden ihrer gewahr, in dem einzigen Geschehen der Erschließung, das der sinnlichen Form bedarf, um sie zu übersteigen. Der Gedanke der Rettung der Seienden, die noch vor wenigen Augenblicken als das Ziel des Lévinas‘schen Denkens bezeichnet werden konnte, hat urplötzlich eine andere Konnotation angenommen. Es gilt sie nicht um ihrer selbst willen zu schützen, sondern da sie im höchsten Sinne gebraucht werden. Aus philosophischer Perspektive werden sie gebraucht, um das Geschehen der Ethik stattfinden zu lassen; aus religiöser Perspektive, um das Geschehen der Ethik als Erscheinung des absolut Anderen zu begreifen: Entgegen den Thesen der Philosophie der Existenz lebt dieser Kontakt [des Selben zum Anderen] nicht von einer vorherigen Verwurzelung im Sein. Die Suche der Wahrheit entfaltet sich in der Erscheinung der Formen. Das Merkmal, das die Formen als solche unterscheidet, ist nichts anderes als ihr Erscheinen auf Abstand. Die Verwurzelung, eine ursprüngliche vorausgehende Bindung, würde die Teilhabe als eine der herrschenden Kategorien des Seins aufrechterhalten; […].387
Der Begriff der Teilhabe, uralte Metaphorik im Gedanken des vorgängigen Seins, das die Zugehörigkeit seiner Teile erst noch zu erweisen hat, verweist allerdings auf eine andere Deutung des Seins-Begriffes. Denn nun steht er nicht mehr vorrangig als ontologischer Terminus für das Verfahren abstrahierender Verallgemeinerung, sondern für die metaphysische Vorstellung eines Seins zum Grunde. Weit davon entfernt, Partizipation als Gewährleistung schützender Geborgenheit in einem Sein zu verstehen, das Grund und Begründung des Seienden zu sein vermag, steht für Lévinas der Aspekt der Abhängigkeit des Seienden im Vordergrund. «Teilhaben ist eine Weise, sich auf das Andere zu beziehen: sein Sein so zu haben, daß in keinem Augenblick und nirgends die Berührung mit ihm verloren geht.» Die Einwände, die gegen den Seins-Begriff als ontologisches Vehikel zur Etablierung allgemeiner Aussagbarkeit erhoben wurden, sind gewiss nachvollziehbar. Doch wie steht es mit der Restriktion gegen den Gedanken der Partizipation, die nun zum Ausdruck kommt? «Die Teilhabe unterbrechen, das heißt, die Berührung zwar aufrechterhalten, ohne aber länger sein Sein aus dieser Berührung zu ziehen; […].» In unverhohlener Naivität könnte gefragt werden, ob damit nicht dem Denken und vor allem dem Geschehen der Ethik das Fundament entzogen wird. Würde allein der Bezug zum Sein aufgekündigt, wäre beides noch zu bewahren, doch scheint diese Möglichkeit in Anbetracht der nächsten Äußerung schwer zu fallen: Dazu ist gefordert, daß ein Seiendes, […] sein Sein aus sich selber hat und nicht von seinen Grenzen – nicht aus seiner Definition !; es muß unabhängig existieren, es darf weder von den Relationen, die seinen Platz im Sein anzeigen, noch von der Anerkennung,
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die ihm ein anderer zollt, abhängen. […] Die Wahrheit setzt ein Seiendes voraus, das in der Trennung autonom ist […].388
In einer Sichtweise, in der Relation als Abhängigkeit und damit potentielle Gefährdung der Enteignung des Anderen verstanden wird, mag diese Erklärung konsequent sein. In einem Denken, das in der Relationalität die einzige Gewährleistung ethischer Verbindlichkeit sieht, erscheint sie als Aufkündigung eben dieses allein denkmöglichen Fundaments. Zur weiteren Diskussion der Facetten des Seins-Verständnisses, die die Werke des Emmanuel Lévinas durchziehen, bietet sich schließlich jener Text aus dem Jahr 1974 an, der bereits durch seinen Titel Programm ist: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Was werden dessen Ausführungen für uns bereithalten – Bestätigung des bisher Gefundenen oder dessen Erweiterung? Bereits die ersten Zeilen des ersten Kapitels ziehen uns in den Bann dieses Denkens, das trotz all seiner Faszination doch nicht geteilt werden kann: «Wenn die Transzendenz einen Sinn hat, so kann sie für das Ereignis des Seins […] nur bedeuten: Übergehen zum Anderen des Seins.»389 Die weitreichende Dimension dieser Feststellung reflektierend, fragt Lévinas einige Seiten später: «Es heißt, die Möglichkeit einer – schmerzlichen – Trennung vom Sein denken. Um wohin zu gehen? Um sich welchem Bereich zuzuwenden? Um sich auf welcher ontologischen Ebene anzusiedeln? Die Trennung vom Sein bestreitet indessen das unbedingte Vorrecht der Frage: wo.»390 Nach den bisherigen Bemerkungen, die jeweils nur in gerade noch zulässigem perspektivischem Weitwinkel die verschiedenen Aspekte betrachten konnten, liegt die einzig denkbare Richtung, in die Lévinas seine Argumentation führen wird, fast schon auf der Hand. Es ist die Begegnung mit dem Anderen, die hier abermals ihr gedankliches Potential auszuspielen hat. «Inszenieren nicht die Seienden, wo sie sich gedulden und auf die gegen den Anderen gerichtete Intoleranz ihres Beharrens im Sein verzichten, das Anders-als-sein?»391 Die Frage ist rhetorischer Natur. Denn wie sonst sollte der Bewegung konstanter Identifizierung, in der sich das Selbst seiner selbst im Sein vergewissert, Einhalt geboten werden, als in dem Bruch der Verbindlichkeit, die der Begriff des Seins zu evozieren scheint? Eine intensive Betrachtung des Lévinas‘schen Sprach-Denkens müsste sich an dieser Stelle anschließen, kann jedoch um der Stringenz der Überlegungen willen nicht geleistet werden. Nur so viel mag angeführt werden, um die hier aufklaffende Leerstelle notdürftig zu überbrücken: Sprache dient keinem Zweck, und sei es auch der der Mitteilung und Unterweisung, sondern ist selbst Geschehen der Konfrontation im Sinne der Erfahrung des Anderen. Fast erübrigt Totalität und Unendlichkeit, S.79 f. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.23. 390 Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.35. 391 Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.27. Auf S.52 heißt es: «Das Anders-alssein differiert in absoluter Weise vom sein, auch wenn es im Sein sich vernehmen läßt.»
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sich in Anbetracht dieser Bemerkung der Hinweis, dass sie nicht ausschließlich verbaler Natur ist, sondern eher als Gestus des Sich-Zeigens verstanden werden kann. Der Begriff des Sagens trägt diesem Umstand Rechnung, wobei speziell in diesem Zusammenhang jene kühne Entschlossenheit berücksichtigt werden muss, der sich die Übertragung dieser Texte ins Deutsche verdankt. Sagen ist inErscheinung-Treten, oder besser noch, um eine voreilige Assoziation an Heinrich Barths Interpretation des Erscheinens zu verhindern, zur-Erscheinung-kommenLassen des Anderen. In dieser Formulierung klingt bereits jener Aspekt an, dessen Reflexion in dieser späten Schrift den größten Raum einnimmt. Zur-Erscheinung-kommen-Lassen bedeutet in diesem Text die Bereitschaft, um des Anderen willen der eigenen Identifizierung im Anderen zu entsagen, womit die ethische Dimension des Sagens angedeutet wird. Im Vergleich zur Darstellung in Totalität und Unendlichkeit wird nun eine Steigerung in der Sicht jener Forderung erkennbar, die vom Anderen an den Selben ergeht. Von dessen ethischer Dominanz war bereits in den 1960er Jahren die Rede, die sich etwa in jener «Unterweisung» zu erkennen gibt, die von ihm an mich ergeht. Sie reduziert meine Möglichkeit, vereinnahmend die Fremdheit des Anderen auf mein Selbst zurückzuführen, führt mich aber zugleich in das Verstehen der Beziehung ein, die sich zwischen mir und dem Fremden ereignet. Daher wird dieser auch als der «Meister» bezeichnet, denn er nimmt mir nicht nur meine Freiheit, sondern setzt mich im selben Augenblick zur Wahrung des Wissens um die Form der Begegnung ein. Der Klang der Schrift von 1974 hat sich unüberhörbar gewandelt, ist weniger philosophische Analyse als vielmehr den formalen Schritt zum mythischen Sprechen nicht scheuende Proklamation des sinnhaften «Jenseits des Seins». Der Begriff der Verantwortung nimmt motivisch die zentrale Stellung im Text ein. In ihr geschieht das Lossagen vom Sein, das heißt der Verzicht auf jene Selbst-Identifikation im Gleichen, die Lévinas als charakteristisch für ein Verständnis von Sein ansieht. «Das erstaunliche Sagen der Verantwortung für den Anderen ist allen Widerständen des Seins zum Trotz eine Unterbrechung des Seins, ein aus guter Gewalt auferlegtes Sich-vom-Sein-Lösen.»392 Die Distanz zwischen mir und dem Anderen, auf die Lévinas in Totalität und Unendlichkeit als absolut unverzichtbares Kriterium der Begegnung hingewiesen hatte, scheint ein wenig an Trennschärfe zu verlieren, wenn nun von einem Bürgen für den Anderen die Rede ist. «Wer behauptet, daß die Beziehung mit dem Nächsten, […] eine Verantwortung für diesen Nächsten bedeutet, daß Sagen für den Anderen Bürgen heißt, der behauptet damit zugleich, daß für eine solche Verantwortung weder Grenze noch Maß mehr angebbar ist, […].»393 Mit dem Begriff des Sagens, oder vielleicht sogar besser der Sage, greift Lévinas auf eine Vorstellung grundsätzlicher Ursprünglichkeit zurück, in der sich die Begegnung von mir zum Anderen 392 393
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in einer elementaren Ausgewogenheit vollzieht, die noch unberührt von Bestrebungen wie der Identifizierung oder der Vereinnahmung, ja sogar noch der Unterweisung unbedüftig ist.394 Beinahe unbemerkt wandelt sich der Andere vor diesem Hintergrund zum Nächsten, und fast ist man versucht, zu ergänzen, «der mir vollgültig alle Welt vertritt». Diese Worte stammen aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und werden dort in exakt dem Augenblick ausgesprochen, in dem beschrieben wird, wie sich das Selbst dem Nächsten zuwendet.395 Initiationsmoment ethischer Beziehung, so könnte man meinen, doch scheint irgendetwas an dieser Bewertung nicht zu passen. Das, was Lévinas nun erläutert, ist nicht mehr eine Reaktion, zu der mich der Andere durch sein Antlitz und dessen allzeit präsente Widerständigkeit auffordert, sondern eine Relation weitaus grundsätzlicherer Art. Diese kann zwar in der logischen Sprache unseres Denkens in der Weise thematisiert werden, in der sie uns erkennbar wird. Doch das Geschehen, das sich nun abspielt, weist weit zurück in ein Denken jenseits der Differenzierung von Phänomen und Begründung, ein Denken, das wir wohl nur als religiös bezeichnen können. In Totalität und Unendlichkeit gab Lévinas über seine Deutung des Begriffes der Religion Aufschluss: «Das Band, das zwischen dem Selben und dem Anderen entsteht, ohne eine Totalität auszumachen, schlagen wir vor, Religion zu nennen.»396 Etwas später im Text erfolgt eine der Form nach ähnliche, doch der Bedeutung nach noch pointiertere Bestimmung: «Für die Beziehung, zwischen dem Seienden im Diesseits und dem transzendenten Seienden, die zu keiner begrifflichen Gemeinsamkeit und zu keiner Ganzheit führt – Beziehung ohne Beziehung !, halten wir den Ausdruck Religion fest.»397 Beide Benennungen zu zitieren ist deshalb erforderlich, um das Gewicht des Gedankens der Verantwortung in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht ermessen zu können. Dort geht es letztlich nicht um eine Aufforderung zur Tat, die die Interessen des Anderen wahrt und schützt, sondern um eine Aufhebung der realen Relation in der Denkbarkeit absoluter Verweisung. Die Erinnerung an Rosenzweigs Worte drängte sich nicht zufällig auf. Sie markieren in seiner Argumentation jenen Übergang vom Selbst-Sein zum Sein mit dem Anderen, ein Gedanke, den Lévinas nun um eine entscheidende Wendung erweitert. Nicht das 394 «Von der Doppeldeutigkeit von Sein und Seiendem im Gesagten gilt es zurückzugehen auf das Sagen, das vor dem sein bedeutet, vor der Identifizierung […]; auf das Sagen, das das Gesagte ausdrückt und thematisiert, aber es dem Anderen, dem Nächsten, bedeutet, und zwar in einer Bedeutung, die zu unterscheiden ist von der Bedeutung, die die Worte im Gesagten haben.» Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.110 f. 395 Im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit betont Lévinas, der Einfluss der Rosenzweigschen Ablehnung des Gedankens der Totalität sei zu präsent in seinem Text, um explizit nachgewiesen zu werden, S.31. 396 Totalität und Unendlichkeit, S.46. 397 Totalität und Unendlichkeit, S.110. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sein mit dem Anderen gilt es seiner Auffassung nach zu belegen, da dieses immer noch Sein wäre, sondern Sein an des Anderen statt. Diese Formulierung mag zunächst unverständlich klingen. Sie beinhaltet nicht die pragmatische Aufforderung, anstelle des Anderen zu agieren, nicht die ethische Forderung, die Interessen des Anderen zu respektieren, sondern die religiöse Vorstellung, so viel wie der Andere zu sein. Mit diesem zu sein gelingt Lévinas die Einlösung seiner angekündigten Zielsetzung, das Anders-als-Sein erweisen zu wollen. Deswegen war gerade die Rede davon, dass die Trennung zwischen mir und dem Anderen in dieser Schrift fast überflüssig wird. Denn ist der Andere so viel wie ich und bin ich so viel wie er, wird es nahezu belanglos, ob von ihm oder von mir die Rede ist. Es ist ein Sein vorstellbar, das nicht mehr auf dem Postulat der Identifizierung des Selben beruht, weil sich die Einstellungen auf den Einen und den Anderen in einem Moment der Überblendung fast bis zur Deckungsgleichheit übereinander legen. Verzicht auf das Selbst-Sein-Können, das Kernstück existenzphilosophischen Denkens, ist Voraussetzung und Bestandteil dieser optischen Überlagerung, die niemals zu einem Verschwinden der Konturen der beiden führt, sondern sie als gemeinsame Form des Zwei-in-Eins erkennbar bleiben lässt. Die Worte, die Lévinas wählt, um diesen Gedanken auszudrücken, lassen die gerade gewählte Formulierung blass und kraftlos erscheinen: Das Für-den-Anderen (oder der Sinn) geht bis zum Durch-den-Anderen, bis zum Leiden durch den Splitter, der im Fleisch brennt, und zwar vergebens. Nur so bleibt das Für-denAnderen – Passivität, passiver als alle Passivität, Emphase von Sinn – vor dem Für-Sich bewahrt. […] Entbindung, die das Sein umkehrt: nicht Seinsverneinung, sondern Sichvom-Sein-Lösen, ein Anders-als-sein, das übergeht zum Für-den-Anderen, […].398
Stehen diese Zeilen aber nicht im Widerspruch zu der zu früherem Zeitpunkt von Lévinas erhobenen Forderung nach der Notwendigkeit, Seiende als solche denken zu können, um sie zu Trägern der Verantwortung berufen zu können? Diese Maßnahme hatte ihre Gültigkeit im Kontext des Denkens des Seins; was nun zur Sprache kommt, überschreitet dieses Denken. Denn es besteht keine Notwendigkeit für die Vorstellung vom Einzelnen mehr, wenn jenseits des Seins gedacht wird. Hier scheint noch einmal die Vorstellung vom Sein als Begriff der Ontologie auf, der nur Sinn innerhalb eines Ganzen macht. Zu diesem zählt das gerade mehrfach angeklungene Motiv der Identifikation, aber auch die Konstruktionen des Ich, des Selbst, der Differenz und der Subjektivität.399 Wie weit die Bedeutung des Sich-vom-Sein-Lösens greift, wird aus wenigen Zeilen vom Ende der Schrift ersichtlich: «Die Bedeutung – der-Eine-für-den-Anderen – die Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.122. «Die vorliegende Untersuchung stellt diese Bezogenheit der Subjektivität auf das Sein, […] in Frage. Sie fragt, ob aller Sinn aus dem Sein hervorgeht.» Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.378. 398
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Beziehung zur Andersheit – ist in der vorliegenden Arbeit als Nähe analysiert worden, die Nähe als Verantwortung für die Anderen und die Verantwortung für die Anderen – als Stellvertretung.»400 Die Seins-Deutung des Emmanuel Lévinas hat zwischen Ausweg aus dem Sein von 1935 und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht aus dem Jahr 1974 eine markante Entwicklung durchlaufen, die hier in groben Zügen rekonstruiert werden konnte. Beginnend mit dem Empfinden des Einzelnen, das sich mit dem Gefühl des Menschen im Sein deckt, doch vom Einzelnen erlebt und durchlitten wird, weitet sich diese Deutung über eine explizite Kritik am Wesen der Ontologie bis hin zum ethischen Denken in extremis. Diese letzte Formulierung ist gewiss nicht negativ gemeint, scheint aber in Anbetracht der Tatsache berechtigt zu sein, dass eine höhere Forderung an den Menschen nicht vorstellbar ist als jene, sich des Selbst-sein-Wollens zu enthalten, die unter formalem Gesichtspunkt die Frage nach dem Einzelnen erübrigt. Assoziationen an Selbst-Negation mögen sich aufdrängen, im selben Moment jedoch den Zweifel aufwerfen, ob sie dem Verständnis wirklich gerecht werden, wie es sich speziell in obigen Zeilen ausdrückt. Bei dem Begriff der Stellvertretung ist zu berücksichtigen, dass er nicht primär auf das tatsächliche Einspringen für den Anderen in einer konkreten Situation verweist, sondern auf eine Haltung, die im Deutschen mit dem Ausdruck der Stellvertreterschaft bezeichnet werden könnte. Darin liegt nicht einmal die Bereitschaft, dieser zu entsprechen, sondern eine zutiefst essentielle Beschreibung menschlicher Bezogenheit. Lévinas’ Feststellung, sie sei seit jeher gegeben und bestünde vor aller Begründung, ist deshalb besonders interessant, da sie zugleich besagt, sie bestünde vor aller Missachtung durch das Denken des Seins, das jüngeren Datums ist als religiöses Denken in dem Sinne, in dem es skizziert wurde. Die Kontrastierung der Stereotypen des griechischen und des mosaischen Denkens fällt hier vielleicht noch einmal ein, die trotz all ihrer im Detail möglicherweise nicht vorteilhaften strukturellen Großflächigkeit doch eine Konnotation der Hoffnung erahnen lässt. Es gibt ihn, den gesuchten «Ausweg aus dem Sein», zumindest ist Emmanuel Lévinas davon überzeugt. Aus Sicht der in unserem Verständnis zu diskutierenden Position stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich überzeugen und daher als Alternative zum SeinsDenken angesehen werden kann, nicht, da nichts weniger angestrebt wird als ein solcher Ausweg. Ganz im Gegenteil, auf das Denken des Seins zu verzichten, erscheint als eine der schwerwiegendsten Fehl-Entscheidungen, die wir begehen können. Dass für Lévinas mehrfache Gründe bestanden, der ontologischen Fixierung des Seins-Begriffes zu misstrauen, hat sich gezeigt. Und dieses Misstrauen wird geteilt. Doch zwingt letztlich nichts dazu, eine Vorstellung aufzugeben, weil sie in der Geschichte ihrer philosophischen Interpretation eine einseitige Auslegung erfahren hat. Dass der Primat des Seins vor dem Seienden kritisch zu bewerten ist, wenn dieses dazu führt, Seiendes als solches nicht mehr reflektieren zu 400
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.392 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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können beziehungsweise nicht einmal mehr berücksichtigen zu wollen, kann ebenfalls nur bekräftigt werden. Im Jahr 1987 erschien Lévinas’ Schrift Hors sujet – Ausser sich. Es war dieser Text, der mir Anfang der 1990er Jahre zufällig in die Hände fiel und dafür sorgte, dass mich das Werk dieses Ausnahme-Denkers bis heute nicht mehr loslassen sollte. Dort heißt es: «Sind die Fäden des Ethischen nicht schon vor dem Wissen gespannt? Ist der Denkende angesichts des anderen Menschen ! […] nicht der wehrlosen Nacktheit des Antlitzes ausgesetzt, dem wahren Gesicht, dem Elend des Menschseins?»401 Von diesem Moment an wird es schwierig, dem Denken des Emmanuel Lévinas nicht nur in der Haltung tiefster Verneigung, sondern auch uneingeschränkter Zustimmung folgen zu können. Dabei ist es nicht der Aspekt eines elementar Ethischen, das nicht der philosophischen Erörterung bedarf, der eine geringfügige Bewegung der Abkehr auslöst, sondern der sich anschließende Wortlaut: «Wort Gottes in diesem Elend, das zu unabweisbarer Verantwortung ernennt. Die Einzigkeit des Unersetzlichen, Auserwählten. Von Einzigem zu Einzigem, über alle Verwandtschaft und vorherige Gemeinsamkeit des Genus hinaus, Nähe und Transzendenz ganz außer sich, außerhalb jeder vermittelnden Synthese.» In diesem Augenblick sind es Gott und Mensch, die sich als Einzelne gegenüberstehen und ein Gemeinsames, welcher Art es auch sein könnte, fast unmöglich erscheinen lassen. Fast unmöglich, doch nicht gänzlich ausgeschlossen, denn noch immer gibt es die Sprache, den Appell, die Ernennung, in deren fragiler Medialität sich beide nicht ähneln, aber doch erfahren können. Die Vorstellung einer Synthese wäre bereits zu viel in dieser Begegnung ohne Berührung, dieser Unterweisung ohne Gefolgschaft und dieser Erwähltheit ohne Einwilligung. Kein Widerspruch, keine Zurückweisung, ja nicht einmal Freude und Dankbarkeit scheinen in dieser Geste der Überantwortung stattzufinden, da es eine Erfahrung unaufhebbarer Asymmetrie ist, in der sich Gott und der Mensch begegnen – nein, in der Gott den Menschen erwählt. Selbst die Formulierung ‚Gott und der Mensch’ würde schon zu viel der Gemeinsamkeit versprechen, da sich die Addition nur als Zusammenführung Vergleichbarer denken lässt. In dem Text Außer sich wird deutlicher als in den anderen bisher betrachteten Schriften dieser Gedanke der Erwählung ausgesprochen, der vor allem auch der Vorstellung des Für-den-Anderen zugrunde lag, mit der Lévinas die Lösung vom Sein erklären wollte. Ist diese aber als Problem auch innerhalb eines philosophischen Kontextes erforderlich geworden, ist es fraglich, wie aussagekräftig eine Lösung, im doppelten Wortsinn verstanden, sein kann, die auf das religiöse Denken zurückgreift. Sollten Probleme nicht nach Möglichkeit in demselben Medium gelöst werden, in dem sie entstanden? Die beiden Definitionen dessen, was Lévinas mit dem Begriff der Religion bezeichnet wissen möchte, setzten vor allem auf den Moment der Bezogenheit, der durch ihn bezeichnet werden sollte. Das ganze Ge401
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wicht einer Vorstellung des Jenseits-des-Seins, was gleichbedeutend mit dem Außer-Sich ist, kann erst jetzt ermessen werden. Hier drängt sich der grundsätzliche Zweifel an der Konzeption auf, die Begegnung nicht ausgewogen denkt, sondern in der Weise dissonanter Kontrastierung. Wie hätte Lévinas auch von Gott und Mensch sprechen können, ohne den absoluten Abstand, der beide für alle Zeit auf Distanz voneinander hält, zu gefährden. Diese Distanz setzt er als Maßstab jener ethischen Relation an, in der sich das Selbst und der Andere begegnen. Das Bild der Tangente aus Totalität und Unendlichkeit, der Linie, die ihren Kreis nur ein einziges Mal berührt, ist eine Metapher, die gerade in ihrer mathematischen Gültigkeit eher erschüttert, als den Sachverhalt zu illustrieren. Es ist die Bildlichkeit einer ethisch vollkommenen Existenz in der nahezu unvermittelten Distanz zum Anderen. «Die Sprache berührt den Anderen nicht, auch nicht bloß wie eine Tangente; sie erreicht ihn, indem sie ihn anruft, ihm befiehlt, oder indem sie ihm in der ganzen Geradheit dieser Beziehung gehorcht.»402 In dem fast verzweifelten Bemühen, Vereinnahmung und Entfremdung des Anderen zu verhindern, setzt Lévinas die sich Begegnenden in eine Ferne, deren Vor-Bild die Ferne des Menschen zu Gott ist. «Von Einzigem zu Einzigem», so heißt es in Außer sich, und allmählich wird erkennbar, dass damit eben nicht die Vorstellung ‹von Einzelnem zu Einzelnem› vereinbar wäre. Es wird nicht dieser Eine erwählt und zur Verantwortung ernannt, sondern der Mensch in der Gestalt des Einen. Noch einmal klingt die Erinnerung an Lévinas’ Erklärung an, er wolle Seiende um ihrer selbst willen denken können, um diese in die Verantwortung nehmen zu können. Nun wird sichtbar, dass es letztlich nicht um die Verantwortung des Einzelnen geht, sondern um die Verantwortlichkeit des Einzigen, der im Angesicht Gottes in dieser Bestimmung erscheinen kann. Damit rückt die Vision des Menschen in den Vordergrund und lässt das Bild dieses einen bestimmten Menschen in die Unschärfe des Hintergrunds gleiten. In fast das Maß des Denkmöglichen übersteigender Intensität bemüht sich Emmanuel Lévinas um den Schutz des Anderen in seiner Andersheit, schöpft deren Konturen jedoch, wie er gezeigt hatte, nicht aus der realen Kontur des Einzelnen. So wird der Mensch zum Stellvertreter eines Anderen, wobei sich in der Gestalt des Fremden die absolute Alterität Gottes zu erkennen gibt. In dieser Konstellation verbietet sich jeder Versuch der Vereinnahmung von selbst, wobei dieser Gedanke bereits zu viel vermeintlicher Gemeinsamkeit, oder besser: Vergleichbarkeit, suggeriert. Die Absage an den Seins-Begriff ontologischer Deutung erweist sich am Ende fast als Abgesang an die Philosophie der westlichen Kultur. In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht fragt Lévinas: «Muß man nicht mit ebenso großer Behutsamkeit an die Möglichkeit denken, den philosophischen Diskurs zu beenden oder abzuschließen?»403 402 403
Totalität und Unendlichkeit, S.81 f. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.60. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Dass es nicht unbedingt üblich ist, sein Denken im Kontext der Existenzphilosophie zu betrachten, wurde erwähnt. Wenn es hier dennoch geschieht, dann um zu zeigen, dass die Problemkonstellation, derer sich Emmanuel Lévinas annimmt, derjenigen vergleichbar ist, vor der Jean-Paul Sartre stand. Beide ringen, vom phänomenologischen Denken Edmund Husserls ausgehend, mit der Konzeption des Selbst-Seins, die als eine der wesentlichen Artikulationsformeln der Existenzphilosophie gelten kann. Beide reagieren auf die Erfahrung des Seins, hier als kompakte Masse des Seienden verstanden, suchen jedoch grundsätzlich unterschiedliche Weisen, sie zu reflektieren. Für Sartre entsteht die Frage der Aneignung des Seins, für Lévinas seiner Flucht. Ist dieses Bedürfnis in den 1930er Jahren noch individuell geprägt, insofern es ein nahezu physisches Erleben des Menschen spiegelt, nimmt es in späteren Schriften immer deutlicheren ethischen Forderungscharakter an, bis es in den 1970ern zum Ausdruck religiösen Bewusstseins wird. Schritt für Schritt verliert der Mensch dabei seine Konturen, die ihm Besonderheit und Unverwechselbarkeit verleihen, und wird zum einzigen Gegenüber Gottes. Die Lösung vom Sein, die immer entschiedener gefordert wird, geht mit der Lösung vom Selbst-Sein einher. Der Bezug zum existenzphilosophischen Denken besteht also nicht nur in dem genannten Faktum, dass Lévinas in seiner frühen Schrift Ausweg aus dem Sein Motive wie den Ekel und die Scham anspricht und damit einer Begrifflichkeit ihren Einzug in die philosophische Terminologie ebnet, bevor sie von Sartre dort in weitaus größerem Umfang installiert wird. Er zeigt sich auch darin, dass er die Unabgeschlossenheit einer Konzeption des Selbst-Seins registriert und in dieser sogar den Grund des eklatanten Versagens der Ethik in der jüngsten Vergangenheit sieht. Denken, das sich der Herausforderung stellt, Schwachstellen der Existenzphilosophie aufzudecken und neu zu reflektieren, muss entscheiden, wie es sich zu dem Begriff des Selbst in seiner essentiellen Bestimmtheit verhalten kann. Lévinas Entscheidung ist radikal, enthüllt in ihrer Radikalität aber umso schonungsloser die Folgen, die ein Verständnis des Selbst nach sich ziehen kann, das in ihm das Eigentliche des Menschen sieht. Eine vergleichbare Bewertung findet sich im Werk von Jean-Paul Sartre nicht, auch wenn er nicht minder ambitioniert die Schattenseite des Begriffes vom Selbst aufdeckt. Diese zeigt sich seiner Überzeugung nach im Wirken des Bewusstseins, das den Menschen dazu zwingt, unablässig der Existenz in einem grund- und sinnlosen Sein gewahr zu sein, deren Grund- und Sinnlosigkeit aus dem eigenen Tun, der Nichtung, resultiert. Da seiner Auffassung nach Existieren zu nichten bedeutet, reproduziert der Mensch ständig die Bedingung seines eigenen Leidens. Da in seiner Interpretation dem Begriff des Seins materiale Bedeutung zukommt, insofern er die Tatsache anzeigt, dass etwas ist, besteht für Sartre keine Notwendigkeit, sich in annähernd vergleichbarer Weise mit der ontologischen Prägung dieses Begriffes auseinander zu setzen, wie für Lévinas. Jean-Paul Sartre führt seine Kritik des Selbst-Seins zu einer starken Akzentuierung des Für-den-Anderen-Seins, die allerdings in keihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nem Moment zu einem Plädoyer für die Selbstaufgabe wird. Gleichwohl gewinnt der Gedanke der Verantwortlichkeit durch das Faktum des Seins in seinem Denken eine Relevanz, die, wie bereits angesprochen, weit über existenzphilosophische Andeutungen hinausgeht. So ist es konsequent, dass Sartre sich zu diversen Themen des tagespolitischen Geschehens geäußert und zum Teil in einer Weise Stellung bezogen hat, die ihm nicht nur Zustimmung einbrachte. Denn die Verantwortlichkeit im Sein führt unmittelbar zum Gedanken der Verantwortung für den Anderen, selbst wenn dieses Faktum als Verurteilung bezeichnet wird. Wie verhält es sich diesbezüglich im Denken des Emmanuel Lévinas? Eine spontane Reaktion könnte darin bestehen, seine Konzeption für schwer vereinbar mit dem Aufruf zur Tat zu halten. Mit jedem Schritt seines Denkens, so könnte gemutmaßt werden, begibt er sich weiter in das Herkunftsland des Religiösen, aus dem eine zur Verantwortung mahnende Stimme nicht selbstverständlich zu vernehmen ist. Diese Stimme auch in der philosophischen Rede von Ethik erklingen zu lassen, kann als Ziel des Lévinas‘schen Werkes betrachtet werden. So wäre es denn eine einseitige Lesart, wollte man ihm aktuellen Bezug und Bedeutung im situativen Geschehen des menschlichen Miteinanders absprechen. Zwei seins-kritische Positionen sind im aktuellen Zusammenhang von besonderem Interesse. Die von Emmanuel Lévinas vertretene konnte in ihren Grundzügen nachvollzogen werden. Die zweite Position, die hier zu berücksichtigen ist, ist diejenige von Heinrich Barth, der in seinem Werk Erkenntnis der Existenz ein eigenes Kapitel mit dem Titel «Existenz und Sein» gewidmet ist. Vereinzelt wurde in den zurückliegenden Überlegungen bereits auf die Ablehnung des Seins-Gedankens geschaut, die nun in ihrer kontextuellen Begründung greifbar wird. Gleich zu Beginn des Kapitels erklärt Barth in offensiver Klarheit: Für die hier vorgetragene Systematik kann von einem Primate der Ontologie vor der Existenzphilosophie freilich nicht die Rede sein. Dies ist eine Feststellung, die nicht überraschen kann. Wie sollten wir in die Lage kommen, die in den vorstehenden Untersuchungen vertretenen philosophischen Bestimmungen der Existenz auf eine ontologische Substruktur zurückzubeziehen?404
Die Zurückhaltung, mit der von akademischer Seite der Existenzphilosophie gefolgt wird, hält Barth als Charakteristik des gegenwärtigen Diskurses fest, nicht, ohne nach deren Begründung zu fragen. Diese sieht er darin, dass es der akademische Philosoph vorziehe, sich «über» die Welt und den Menschen Gedanken zu machen, was ihm die Möglichkeit verschaffe, «‹über› der Welt und dem Menschen, die zum Gegenstande seiner Erkenntnis werden, seine Stellung zu beziehen.»405 Mit dieser Auffassung, dass es der Existenzphilosophie «um etwas» gehe, greift Heinrich Barth eines ihrer wichtigsten Merkmale auf, das sie seit den ersten 404 405
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Weg bahnenden Schritte durch Søren Kierkegaard vom traditionell betriebenen Philosophieren unterscheidet. Vielleicht mochten in den vorausgegangenen Bemerkungen zu seinem Verständnis von Existenzphilosophie mitunter deren markante Elemente hinter den allzeit präsenten Verweisen auf die transzendentale Begründung der Erkenntnis zurückfallen. Hier, wo es sein Denken gegen den Einfluss der Ontologie zu wahren gilt, werden diese Elemente sichtbar. So ist es die Überzeugung, dass dieses Denken, das in den 1920er Jahren als Novität betrachtet werden konnte und in den 1960er Jahren sein Potential, neue Akzente in den philosophischen Diskurs einzubringen, noch keineswegs verloren hat, eine eigene Relevanz beanspruchen kann. Diese zeigt sich in der Möglichkeit, auf «die aktuelle Lage» Bezug zu nehmen, womit nicht das Gesamt soziologischer, politischer und kultureller Umstände gemeint ist, sondern die Lage der Existenz im Dasein. Ontologie erhebe hingegen nicht den Anspruch, dieser nachzuforschen, sondern verliere sich in Betrachtungen realitätsferner Allgemeingültigkeit. Die Tendenz seiner Zeit, sich der Herausforderung existentiellen Denkens, das immer Denken sein sollte, dem es um etwas geht, nicht zu stellen, fasst Barth folgendermaßen zusammen: «Es mag nun einleuchtend werden, inwiefern in diesem Zusammenhange von einem ‹Ausweichen› die Rede sein kann – von einem Ausweichen aus der aktuellen Lage der Existenz in eine Ontologie der Urgründe.»406 Die Folgerung, die er aus dieser Beobachtung zieht, markiert eine seiner deutlichsten Erklärungen zum Projekt «Existenzphilosophie»: «Es ist uns daran gelegen, daß [diese] nicht in eine Ontologie umgebogen wird. Denn es könnte darin ein Ausweichen vor der aktuellen Lage verborgen sein.»407 Die Überschrift des Kapitels «Existenz und Sein» könnte den Eindruck erwecken, als zielten die sich anschließenden Betrachtungen darauf, beide Begriffe in Relation zueinander zu reflektieren. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Für Barth scheint keinerlei Möglichkeit vorstellbar zu sein, beide anders als in Kontrastierung zu denken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass er von einem ontologisch geprägten Seins-Verständnis ausgeht, dessen Merkmale vor allem durch den Aspekt statischen Gleich-Bleibens bestimmt werden. Da Existenz, soviel hat sich bereits gezeigt, seiner Auffassung nach hingegen das Sich-Entwerfen in die Zukunft ist, womit zugleich gesetzt wird, was sein soll, kann er den Gedanken der Zeitlichkeit als Unterscheidungskriterium von Existenz und Sein nutzen: ‹Antezipation der Zukunft› bedeutet uns die vorziehende Vorwegnahme dessen, was ‹vorzüglich› ist, oder dessen, ‹was uns zukommt›. […] Dieses ‹Zukommen› der Zukunft, das alle Philosophie der Existenz im Blickpunkte behalten sollte, ist aber der Ontologie unzugänglich. Wie sollte sie je in die Lage kommen, in der zukommenden Zukunft einen Modus des Seienden aufzudecken?408 406 407 408
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Dass es Barth hierbei nicht nur um die Aufweisung der Zeitlichkeit der Existenz geht, sondern vor allem auch ihrer das Sein-Sollen bestimmenden Funktion, verleiht seiner Replik gegen ontologisches Seins-Verständnis außergewöhnliches Gewicht. Fraglich bleibt indes, ob die strikte Zurückweisung des Zeitlichkeits-Gedankens in Bezug auf Sein zwingend ist. Seiendes besteht im Prozess der Veränderung. Da auch der Mensch, der Sein denkt, hierzu zählt, kann Sein, insofern es als Vorhandenheit verstanden wird, nicht anders als in der Zeit begriffen werden. Handelt es sich hingegen um den Begriff des Seins als ontologischen Terminus, gäbe es im Grunde keine Veranlassung, die Vorstellung der Zeitlichkeit aus ihm auszuschließen. Barth argumentiert an diesem Punkt jedoch anders. Wenn Seiendes unter dem Begriff des Seins vorgestellt werde, «stellen wir uns aber […] etwas gewissermaßen Zeitloses vor».409 Als begriffliche Repräsentation von Seiendem beinhaltet der Terminus des Seins keine Zeitlichkeit, soviel mag einleuchten. Doch trifft dieser Umstand nicht notwendig auch für das Repräsentierte, das er bezeichnet und unter seinem allgemeinen Kennzeichen fixiert, zu. Seiendes ist keinesfalls mit der statischen Vorstellung seines Seins identisch, diese Tatsache könnte sich zunutze machen, wer für eine punktuelle Rehabilitierung des Seins-Denkens eintreten will. Der zweite Einwand, den Heinrich Barth gegen dieses Denken erhebt, basiert auf dem Motiv des Sein-Sollens, das, wie sich gezeigt hat, einer der wichtigsten Bestandteile seiner Konzeption von Existenzphilosophie ist. Der Mensch, der kraft seiner Entscheidung einen Entwurf in die Zukunft vornimmt, setzt damit zugleich das Sein-Sollen des Entwurfes. Entsprechend konzentriert sich die Kritik am Sein in der Frage: «Kann das ‹Sollen› je als Exponent des ‹Seienden› nachgewiesen werden?» Die Antwort fällt erwartungsgemäß eindeutig aus: « Wir halten dafür, daß diese Möglichkeit nicht in Frage kommt.»410 Die Begründung dieser klaren Ablehnung beschränkt sich auf den Hinweis, dass «Sein» und «Sollen», wenn sie in Verbindung oder gar Vermittlung gedacht werden sollten, «ihre Deutlichkeit» einbüßten. «Indem es in ontologischer Bedeutung nicht zu erfassen ist, wird es vielmehr erkennbar in seiner Zugehörigkeit zu jenem Erkenntniszusammenhange, in dem die Bedeutung des ‹Seins in der Zeit› und der ‹Existenz› zur Erfüllung ihres Sinnes gelangt.»411 Die Anordnung von Voraussetzung und Folge in dieser Formulierung ist interessant. Vorausgesetzt wird die Unmöglichkeit, Zeit in ontologischem Kontext zu begreifen. Aus dieser folgt, so geben es diese Zeilen an, dass sie im Zusammenhang des Existenz-Denkens zu erkennen sei. Doch immerhin bewegen wir uns momentan auf einem Feld, auf dem Bedeutungen und Sinnzuweisungen Ergebnis der Übereinkunft und der historischen Bewährung sind. Begriffe können diskutiert und ihre Bedeutung im Zuge einer 409 410 411
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korrigierenden Justierung notfalls sogar neu festgesetzt werden. Die Feststellung, das Sollen sei «in ontologischer Bedeutung nicht zu erfassen», hätte möglicherweise einer solchen Prüfung und modifizierten Auslegung unterworfen werden können, wenn denn Interesse daran bestanden hätte. Dieses scheint ganz offensichtlich nicht der Fall gewesen zu sein, wie Barths weiteres Vorgehen zeigt. Dieses dient dem Zweck, Existenz als Sein des Menschen zu kennzeichnen, ein Gedanke, der bereits bekannt ist, nun aber im Rahmen der Zurückweisung des Seins-Denkens angewendet wird. In Erscheinung tretend gibt sich der Einzelne durchaus in sinnlicher Weise zu erkennen, an dieser grundsätzlichen Auffassung wird festgehalten. Wie sollte auf sie auch verzichtet werden? Auf der Grundlage dieser Erscheinungsweise gibt es noch keinen Anhaltspunkt, den Menschen in seiner Existenz zu denken, da er zunächst als Seiendes unter Seiendem zu betrachten ist. Was unterscheidet ihn nun also von dem übrigen Seienden? Barth schreibt: Wenn wir diese Existenz als ‹In-die-Erscheinung-Treten› des Menschen erläutern, dann überbieten wir sein bloßes ‹Phänomen› durch jenes Moment der Bewegtheit, das uns im ‹existere› der Existenz gegenwärtig ist. Seine Erscheinung bedeutet uns dann mehr als ein bloßes ‹factum›. Es wird uns als ein ‹fieri› erkennbar, als ein Ereignis des ‹Er-scheinens› […]. Erst in der Bewegtheit des Eintretens in seine Zukunft wird der Mensch aus dem Naturwesen zum Menschen.412
Wie deutlich sich die Intention, die in diesen Zeilen erkennbar wird, von der Zielsetzung der vorliegenden Überlegungen unterscheidet, beginnt sich allmählich abzuzeichnen. Für Heinrich Barth besteht das argumentative Ziel, dem letztlich auch seine Kritik am ontologischen Seins-Begriff dient, darin, die Exzeptionalität des Menschen zu erweisen, da auf deren Gedanken seine Erklärung von Existenz ruht. Anspruch der vorliegenden Betrachtung ist es, genau diese Vorstellung der Besonderheit des Menschen zu prüfen und in dem Rahmen, der hierfür zur Verfügung steht, zu revidieren. Denn natürlich kann es nicht darum gehen, die Tatsache zu leugnen, dass der Mensch über Vermögen verfügt, die aller Wahrscheinlichkeit nach nur ihm eignen. Im Vordergrund steht vielmehr die Überzeugung, dass es innerhalb der «aktuellen Lage», in der wir uns befinden, nicht mehr angemessen ist, diese Exzeptionalität zum Kriterium gelingender Existenz zu erklären. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Relationalität und Besonderheit scheint stattdessen als gedankliches Modell, auf dessen Basis sich Fragen unserer Zeit diskutieren lassen, besser geeignet zu sein. Damit wird die Möglichkeit, menschliche Verantwortlichkeit zu akzentuieren, keineswegs verringert, sondern im Gegenteil auf breitestem Fundament begründet, was erforderlich ist, um unsere Verantwortung auch für Natur und Um-Welt zu betonen. Doch zunächst zurück zu Heinrich Barths Position. Aus seiner Feststellung, 412
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menschliches Sein könne nicht auf das bloße Sein reduziert werden, geht die Differenzierung zwischen Mensch und «Naturwesen» hervor, deren Gedanke gerade sichtbar geworden ist. Die Vorstellungen von Faktizität und Werden stehen sich damit gegenüber, womit die Differenzierung zwischen Sein und Existenz gesetzt ist. Werden und Existenz bestimmen das Sein des Menschen, ein Ausdruck, den Barth nicht grundsätzlich meidet. «Vielmehr wird der Mensch, wie er ‹ist›, überholt von dem Menschen, der in seinem Sein in der Zeit einen Raum offener Möglichkeiten und damit einen Raum zur Erfüllung des Sinnes seiner Existenz gewinnt.»413 Diese Formulierung führt zu der Feststellung, dass es Heinrich Barth nicht primär um die Ablehnung des Seins-Begriffes schlechthin geht, sondern um dessen ontologische Interpretation. Wird er hingegen existenzphilosophisch gedeutet, orientiert er sich an der Weise menschlichen Seins, das, wie gerade zu lesen war, «Sein in der Zeit» ist. Es könnte der Eindruck entstehen, dass dieses Sein selbstgründender Natur sei, insofern es sich erst im Zuge der existentiellen Bewegung aktualisiere. Wo Aktualisierung möglich ist, muss jedoch, zumindest nach philosophischer Übereinkunft, Potentialität gegeben sein. Wo könnte diese sonst vermutet werden als im Sein? So könnte gefolgert werden, dass der Mensch durch seine Fähigkeit, sich die Zeitlichkeit des Seins zu Nutze zu machen und sie in seinen Entwürfen in die Zukunft selbst zur Erscheinung zu bringen, eine individuelle Adaptierung der generellen Struktur des Seins, das in jedem Moment Sein in der Zeit ist, vornimmt. Diese Sichtweise entspricht allerdings nicht der Auffassung Heinrich Barths, der eine unverkennbare Differenzierung von menschlichem Sein im Existieren-Können und dem Faktum, zu sein, sucht. Bereits an früherer Stelle wurde dessen Aufsatz Echter und falscher Existentialismus aus dem Jahr 1952 in die Betrachtung einbezogen. Wie zu erwarten, erfolgt dort auch eine kurze, aber pointierte Auseinandersetzung mit dem Begriff des Seins. Dabei tritt ein Aspekt in dem Mittelpunkt, der nun die Ausführungen in Erkenntnis der Existenz erweitern kann. Der eventuellen erneuten Verwunderung über den Titel des Aufsatzes vorgreifend, sei darauf hingewiesen, dass Barth mit der Beurteilung eines ‹wahren Existentialismus› nicht ein Denken klassifiziert, das an sich Kriterien der Wahrheit erfüllt, sondern das dazu befähigt, Wahrheit zu denken. Hierin sieht er die Berufung des Menschen. «An dieser Stelle werden wir der Existenzphilosophie eine andere Richtung geben, in deren Verfolgung sie dem Banne der Ontologie enthoben wird. Die Existenzfrage, mit der sich auseinanderzusetzen der Mensch berufen ist, bedeutet uns die Frage, ob er in der Wahrheit oder in der Verblendung existiert.»414 Es bedarf gewiss keiner gesteigerten Aufmerksamkeit, um den erweiterten Begründungszusammenhang zu erfassen, der sich in diesen Worten zu erkennen gibt. Denn mit den Begriffen Erkenntnis der Existenz, S.634. Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und christliche Hermeneutik, S.105. 413 414
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von Wahrheit und Verblendung entsteht nicht nur eine Verbindung zu DenkFormen, die in ihrem jeweiligen Kontext zutreffen oder versagen, sondern zur einzig vorstellbaren Existenz-Form, die Barth als Sein in der Wahrhaftigkeit versteht. Die Frage, die in Anbetracht dieser Auffassung entsteht, gilt der Überlegung, ob die Gültigkeit dieses Begriffes aus dem Legitimierungs-Anspruch philosophischen Denkens, ja sogar existentiellen Denkens überhaupt noch erwiesen werden kann? Barth konstatiert: «Doch wir können in diesem Zusammenhang nicht hinausgehen über den Hinweis, daß eine wahrhaft persönliche Existenz des Menschen nur aus dem Horizonte einer übergreifenden, transzendierenden Sicht menschlichen Seins einsichtig werden kann.»415 Damit gewinnt das ExistenzDenken eine außerordentliche Bedeutung, die im buchstäblichen Sinne außerordentlich ist, wenn damit die Überschreitung philosophischer Betrachtungsweise assoziiert wird. Schon an anderen Stellen hatten sich Formulierungen im Zusammenhang mit der Vorstellung von Existenz gezeigt, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Von Bestimmung war etwa die Rede und davon, dass es etwas gäbe, wozu wir da seien. Zwar ergab die Prüfung des Begriffes vom Sinn, dass damit in den untersuchten Texten nicht zwangsläufig auf die Sinnhaftigkeit der Existenz verwiesen wurde, doch begleitete die Überzeugung, im Existieren die besondere Seins-Weise des Menschen zu sehen, letztlich jeden Schritt, der bisher getan wurde. Heinrich Barth greift nun also die Idee der Wahrhaftigkeit auf und rührt damit nicht zufällig an den Grenzen des philosophisch Reflektierbaren. In seinem Aufsatz Grundzüge einer Philosophie der Existenz in ihrer Beziehung zur Glaubenswahrheit, der 1953 in der Theologischen Zeitschrift erschien, bekennt er sich zu diesen Grenzen, die den Gegenstandsbereich von Existenzphilosophie umschließen, indem sie eine Art des Fragens ausklammern, die gleichwohl von höchster existentieller Bedeutung ist: Die Philosophie, auch diejenige der Existenz, läßt Fragen offen, die für eben diese Existenz von einer durchgreifenden Bedeutung und Tragweite sind. Sie wirft de facto gewisse höchst relevante Fragen nicht auf – Fragen, die aber an einem andern Ort der Geschichte nicht nur aufgeworfen, sondern auch beantwortet werden. […] Die von uns umschriebene Philosophie vergewissert sich eines Sinnes der Existenz.416
Auch vor diesem Hintergrund wird seine Ablehnung einer ontologischen Definition des Begriffes vom Sein noch einmal verständlich. Denn seiner Auffassung nach ließe sich der Sinn der Existenz aus einer vorgängigen Konzeption des Seins, das als starres und jeder Entwicklung unzugängliches Beharren im FaktiEchter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und christliche Hermeneutik, S.107. Der darauf folgende Satz lautet: «Solche Einsicht möchten wir als ein Wahrzeichen einer ‹echten› Existenzphilosophie hinzustellen uns getrauen.» 416 Grundzüge einer Philosophie der Existenz in ihrer Beziehung zur Glaubenswahrheit, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.121. 415
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schen anzusehen wäre, nicht ermitteln. Wird Existenz tatsächlich in der sich gerade andeutenden Weise als Bestimmung des Menschen interpretiert, spielt die Berücksichtigung ihrer Zeitlichkeit eine eminente Rolle. In ihr, ausgerichtet auf das ‹Noch-Nicht› der Zukunft, hat sich diese Bestimmung zu realisieren. Zu überlegen wäre, ob sich die Sichtweise des ständigen Beharrens nicht in die Vorstellung des Seins umdeuten ließe, die als Gegenwärtigkeit des ‹es gibt› zu begreifen wäre. Abgesehen davon könnte noch einmal festgestellt werden, dass Sein in dem Moment, in dem es als Gemeinsames des Seienden verstanden wird, gar nicht unabhängig von dessen Veränderungen in der Zeit zu erfassen wäre. Eine Formulierung, derer sich Heinrich Barth bedient, ist bislang unberücksichtigt geblieben: «Eine solche Verfälschung wird unseres Erachtens dort vollzogen, wo, in Verkennung der Grenzen der menschlichen Existenz, ihre philosophische Auslegung zu einer falschen Erhöhung oder Vertiefung des Seins des Menschen führt.»417 Zwischen diesen beiden Indikatoren eines Verfehlens der «wahren Bedeutung von Existenz» hat sich deren Bestimmung zu halten. Nicht zu rechtfertigende Erhöhung der Existenz oder Hinabsenken in einen imaginierten Urgrund sind die beiden Formen der Verfehlung. Für unsere Überlegungen ist vor allem der Typus der Vertiefung interessant, von dem es heißt: Demgegenüber gibt es aber auch eine Vertiefung der menschlichen Existenz in das Sein des Urgrundes, die den Menschen seines konkreten Daseins beraubt. Seine Wirklichkeit droht alsdann in unsäglich tiefen Grundbeziehungen zwischen Sein, Dasein und nichtendem Nichts unterzugehen, vor allem auch seine wirkliche Verantwortung! Denn angesichts der Urschuld, die in den Abgründen des Seins aufgedeckt wird, darf übersehen werden, daß sich der Mensch in seiner geschichtlichen Existenz mit Schuld belastet.418
Die Erwähnung des Motivs der «Urschuld» wird nicht nur dem Medium geschuldet sein, in dem sich Heinrich Barth äußert, der Zeitschrift für evangelische Kultur und Politik, obwohl sich dessen Berücksichtigung in seinen Texten sonst nicht in hervortretender Plastizität findet. Die Wortwahl, die Begriffe wie Dasein und Nichts einschließt, rekurriert auf genuin philosophisches Denken, jedoch unter ontologischem Primat. Zwei Zugangsmöglichkeiten legen diese Annahme nahe. Zum einen spricht Barth an anderer Stelle von «Sinn und Gehalt der Existenz», die er in deren «Ausrichtung auf Wahrheit und Güte» erkennt.419 Zum anderen hatte er als maßgebliches Kriterium der Existenz die Entscheidung des Menschen angesetzt. Beide Aspekte wären seiner Überzeugung nach nicht aufEchter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.107. 418 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.108. 419 Echter und falscher Existentialismus, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.106. 417
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recht zu erhalten, würde Sein in den gedanklichen Dimensionen bloßer Faktizität des ‹es gibt› verhandelt. Eine motivische Überblendung philosophischen und theologischen Denkens findet hier statt. Die Übernahme eines Seins, in das der Mensch grund- und sinnlos geworfen wurde, kann existenzphilosophisch als Einwilligung in die nicht verhandelbaren Bedingungen des Daseins gedeutet werden. In dieser Einwilligung in nicht verursachte Konditionierung des Seins kann ein Äquivalent zur Übernahme einer «Urschuld» gesehen werden, wie sie das religiöse Bewusstsein des Menschen kennzeichnet. Daher ist es einleuchtend, dass Barth sich von existenzphilosophischem Denken distanziert, das eine solche Entsprechung gelten lässt, beziehungsweise ihr nicht offen widerspricht. Weitaus stärker als in seiner systematischen Darstellung lässt Heinrich Barth in den Aufsätzen, die er in den 1950er Jahren in den verschiedensten zumeist theologischen Zeitschriften publiziert, die Frage nach dem Berührungsmoment existentiellen und religiösen Denkens zu. Festzuhalten ist dabei vor allem seine bereits zitierte Aussage, Existenzphilosophie würde bestimmte Fragen nicht thematisieren, die in anderer Form gestellt und beantwortet würden. Die Frage nach dem Sinn der Existenz zählt ganz offensichtlich nicht dazu, denn ihrer Klärung verschreibt sich seine Konzeption dieser Philosophie, wodurch sie sich grundlegend von anderen, nicht dem Gedanken der Existenz gewidmeten Artikulationsformen unterscheidet. Aufgrund ihrer Ausrichtung auf dasjenige, das uns angeht, wie es auch heißt, könnte Existenzphilosophie in diesem Verständnis eine mittlere Position zwischen wissenschaftlichem und religiösem Denken einnehmen. In Situationen, in denen Fragen von höchster Bedeutung, wie Barth schreibt, drängende Relevanz gewinnen, würde ihr damit ein Zuständigkeitsbereich zufallen, der traditionell eher Religion beziehungsweise Theologie gemäß ist – die Sorge um den Menschen. Vielleicht verwundert die Kontrastierung von existentiellem und wissenschaftlichem Denken, die gerade eher beiläufig vorgenommen wurde. Heißt es denn, dass Ersteres keinerlei Ambitionen beinhalte, sich dem Wissenschafts-Gedanken des philosophischen Diskurses anzunähern? Eine Diskussion dieser Thematik würde an dieser Stelle in eine andere als die aktuell verfolgte Richtung führen, die zweifellos außerordentlich bedenkenswert wäre.
Jenseits der Ontologie Speziell unter dem Gesichtspunkt der einleitenden Überlegungen, die der Suche nach verbindenden und damit verbindlichen Elementen von Existenzphilosophie dienten, würde sich in dieser Hinsicht ein weites Spannungsfeld der Positionen zeigen. Einzubeziehen wären dabei auch Äußerungen der jeweiligen Denker zu der Frage, ob ein Verbleiben im Regelgefüge der traditionellen Philosophie möglich und erstrebenswert sei. Martin Heidegger stellt diese Frage in seinen späteren Schriften ebenso wie Emmanuel Lévinas. Karl Jaspers präsentiert mit seinem https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Konzept der Existenzerhellung ein Modell des Denkens, das sich keineswegs bruchlos dem Korpus philosophischer Methodik integrieren ließe. Jean-Paul Sartre und Heinrich Barth sind diejenigen Autoren im weit gespannten Kreis der Existenz-Denker, deren Theorien die größte Nähe zu Geschichte und Gegenwart der Philosophie erkennen lassen, was allein schon die Vielzahl der Bezugnahmen auf Positionen und Argumentationsstrategien der Vorgänger belegt. Ein äußerliches Kriterium ohne wirkliche Aussagekraft, so könnte gekontert werden. Der Widerspruch folgt sofort unter Betonung der Tatsache, dass daraus ersichtlich wird, dass beide ihre Konzeptionen in einer gewissen Kontinuität zur Tradition sehen, und zwar nicht, um das eigene Denken als traditionell auszuweisen, sondern um es innerhalb dieser Kontinuität, die auch immer die Geschichte von Fortführung und Ablehnung einzelner Theoreme ist, zu positionieren. Die Frage nach der Zeitlichkeit des Seins etwa zählt durchaus zu den klassischen Themen der Philosophie, diejenige nach dem Sinn des Daseins hingegen nicht. Um an diesem Punkt eine sich zweifellos anbietende, doch in die Irre führende Assoziation aufzuhalten, ist daran zu erinnern, dass Heidegger zwar auf den ersten Seiten von Sein und Zeit erklärt, den Sinn von Sein aufweisen zu wollen, damit aber nicht jenes Verständnis von Sinnhaftigkeit verfolgt, wie es Heinrich Barth in seinen zuletzt angesprochenen Äußerungen vor Augen hatte. Die Ausführungen in Sein und Zeit gelten der formalen Analyse der Seins-Struktur. Diese hat zwar Relevanz für eine spätere Interpretation von Existenz, in die auch Elemente normativen Denkens einfließen, hat aber zunächst vorbereitenden Charakter. So wäre es zu schnell gefolgert, wollte man etwa aus Heideggers Aussagen zur Sorge die Direktive ableiten, es sei ein ethisch wertvolles Verhalten, dem Nächsten Sorge zuteilwerden zu lassen. Aus diesem Grunde kann es fatale Konsequenzen haben, wenn, wie es leider noch immer vereinzelt zu beobachten ist, Heideggers Denken auf seine Verlautbarungen dieser einen Schrift begrenzt wird. Eine Sorgfalt, die, um nur ein Beispiel zu nennen, für das Denken Ludwig Wittgensteins in Anspruch genommen wird, wenn es zwischen seinen Ansichten des Tactatus logicophilosophicus und jenen der Philosophischen Untersuchungen abzuwägen gilt, wäre mit Blick auf Heideggers Ansichten nicht minder sinnvoll. Die Frage nach dem Sinn des Daseins – an deren Artikulation stehen wir und richten unser Augenmerk nicht ohne Grund auf die Äußerungen Heinrich Barths aus den 1950er Jahren. Denn mit ihnen wird eine Facette des Themas Existenzphilosophie berührt, in deren Betrachtung diese Überlegungen nun allmählich übergehen. Es geht um deren Interpretation als ein Denken, das sich ausschließlich der Mittel philosophischer Argumentation bedient, doch die Ausrichtung auf den Gedanken der Sorge um den Anderen erkennen lässt. Gibt es in diesem Vorhaben aber überhaupt noch Bedenkenswertes, das nicht durch die Darstellung Heinrich Barths längst besser, intensiver und fundierter erwiesen worden wäre? Die bisherigen Kommentare haben es gezeigt: In der Bewertung des Begriffes vom Sein und der damit einhergehenden punktuellen Zurückweihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sung der Vorstellung menschlicher Exzeptionalität weichen diese Betrachtungen in entschiedener Weise von dessen Konzeption ab. Die Berufung auf die transzendentale Begründung von Erkenntnis wäre als ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu nennen, auf dessen Erläuterung jedoch im Rahmen dieser Arbeit mit dem Titel Gelingendes Sein nicht der Fokus der Aufmerksamkeit liegt. Dass der Weise, in der Karl Jaspers Existenzphilosophie interpretiert, nicht uneingeschränkt zugestimmt werden kann, hat sich ebenfalls gezeigt. Denn im letzten Moment, jenem Augenblick, da es den Sinn des Daseins zu erweisen gilt, öffnet sich sein Denken der Motivik religiösen Bewusstseins. Zu unvermittelt erscheinen die Anspielungen auf das, wozu wir da sind, oder auf dasjenige, das wir zu sein haben. Jaspers hat die Frage, wie trennscharf existenzphilosophisches und religiöses Denken zu unterscheiden sind, auf seine Weise beantwortet, die jedoch nicht die Weise dieses Entwurfes ist. Die Vorbehalte gegen die Konzeption des Emmanuel Lévinas, die, um es noch einmal zu betonen, wie diejenige von JeanPaul Sartre als eine Reaktion auf die Existenzphilosophie der 1920er und 1930er Jahre verstanden werden kann, haben sich gleichfalls gezeigt. Sie basieren auf seiner Ablehnung des Seins-Begriffes und dem Eindruck, der noch einmal zu benennen ist. Sein so engagiertes und leidenschaftliches Werk, das ein einziger Ausdruck der Bemühung ist, philosophische Rechtfertigungen der Formen von Ungerechtigkeit und Gewalt, die im Zwischenmenschlichen zu beobachten sind, zu verhindern, scheint den Anderen als den konkreten Nächsten, der der Zuwendung bedarf, ein wenig aus dem Blick zu verlieren. So wirkt es mitunter so, als würde sein Denken in seiner Ausrichtung auf die Unerreichbarkeit unendlicher Nähe im Fernen zu einer faszinierenden Hymne auf eben diese Ferne werden, die doch einmal die Ferne des anderen Menschen werden sollte. Vor allem in den Augenblicken, in denen der Gedanke der Unerreichbarkeit am deutlichsten zum Ausdruck kommt, offenbart sich die Verwurzelung des Lévinas‘schen Denkens im Glauben. Als tragender Gedanke dieser Überlegungen wurde gerade die Sorge um den Anderen genannt. Damit ist jedoch erst die eine Hälfte des Anspruches gekennzeichnet. Die zweite Hälfte wird aus einer etwas anderen Perspektive erklären, warum die Darstellungen von Karl Jaspers, Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas zwar als höchst inspirierend gewertschätzt werden, hier aber um eine Komponente zu ergänzen sind, die zwar partiell in ihren Texten anklingt, doch nicht den Kern ihrer Argumentationen darstellt. In vollständiger Form ausgedrückt gilt das hier praktizierte Denken der Sorge um das Andere, das heißt den anderen Menschen und die Welt. Gehört deren Reflexion aber wirklich in den genuin existenzphilosophischen Problem-Horizont? Gibt nicht der Begriff der Existenz von Anfang an in schönster Eindeutigkeit zu verstehen, was von einer Philosophie zu erwarten ist, die sich seiner Erörterung verschreibt? Genau hier liegt die Notwendigkeit einer Erweiterung, die das Denken der Existenz erfahren sollte. Es geht nicht darum, Existenz als Sein des Menschen außerhalb der Welt vorzustelhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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len, sondern als menschliches Sein im Relationskontext der Welt. Jene Erträge, die die Durchführung der existentiellen Bewegung erbringt, sind zu bedeutsam, um lediglich der Selbst-Erfahrung des Einzelnen zugute zu kommen. Sie werden mit größter Dringlichkeit in einer Situation benötigt, in der uns Natur und UmWelt immer mehr zu entgleiten scheinen, nicht, weil wir sie nicht bedenken, sondern weil wir sie noch immer in einseitiger Weise als verfügbar betrachten. Der Ruf nach ökologischem Bewusstsein durchdringt die Gesellschaft in einer Intensität, die nicht zu überhören ist. Doch im Kontext philosophischer Betrachtung wird diese Notwendigkeit noch immer nicht entschieden genug reflektiert. Dabei stellt nicht das Beschreiben der Folgen unkontrollierten Nutzungsanspruches das Ziel dar, sondern der Versuch, eine Begründung dafür zu liefern, warum Verantwortlichkeit des Menschen sich nicht nur auf seinesgleichen konzentrieren kann. Vielleicht fällt auf, dass gerade vom konzentrieren Können und nicht vom Sollen die Rede war. Wir bewegen uns in einem ethischen Dilemma, denn jede Begründung, die dafür angeführt werden könnte, sich der gesamten Um-Welt gegenüber verantwortungsbewusst zu verhalten, müsste zwangsläufig auf dem Gedanken menschlicher Positionierung in ihr basieren. Erklärungen, die auf Hinweisen beruhen, warum wir uns in der einen oder anderen Weise verhalten sollten, können, da sie dem Maßstab unseres Denkens folgen, letztlich stets nur subjektive Verweise auf ein Sollen sein, das sich durch unsere Existenz, um diesen Begriff in diesem Zusammenhang zu verwenden, begründet. Wenn es darauf ankommt, eine Form absoluter Verantwortung zu reflektieren, die allem Seienden ohne Unterschied gebührt, können wir auf eine Deutung des Seins-Begriffes nicht verzichten. Diese ersten Anmerkungen mögen an dieser Stelle genügen, da der zuletzt aufgegriffene Gedanke noch nicht zu Ende geführt wurde. Wir können auf eine Deutung des Seins-Begriffes nicht verzichten – daher bieten die Konzeptionen von Jaspers, Barth und Lévinas keine Vorbilder voll entwickelten existentiellen Denkens. Dass sie zu ihrer Zeit und vor dem Horizont ihrer intellektuellen Biographie an einer Weiterführung ihrer Existenz-Deutung nicht interessiert waren, wurde immer wieder erkennbar. Heute ist eine solche Weiterführung von existentieller Bedeutung und erstmals in der Geschichte der Existenzphilosophie gewinnt dieser Ausdruck eine bisher nicht im Mittelpunkt stehende Dimension. Wurde von den zu Worte kommenden Autoren in relativer Einhelligkeit Existenz als Seins-Weise des Menschen interpretiert, so fällt nun der Akzent auf den Moment des Seins und zwar nicht dergestalt, dass nach dem ‹Wie› dieser SeinsWeise gefragt wird, sondern so, dass das ‹Ob› für uns ein Thema philosophischer Aufmerksamkeit wird. In den Chor jener Stimmen einzufallen, die vor den Folgen von Klimawandel und Energiekrise warnen, gilt noch immer nicht als selbstverständlich. Wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen der weiteren Entwicklung werden von anderer Seite vorgenommen. Hier kann es lediglich darum gehen, einen philosophisch relevanten Schritt zu beschreiben, der angesichts der Situation unserer Zeit notwendig zu sein scheint. Dass er im Kontext der Exishttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tenzphilosophie vollzogen wird, mag nicht sofort einleuchten, da es in ihren vorliegenden Artikulationen, wie eingangs dargestellt, um das Sein-Können des Menschen als Existenz geht. Doch genau aus diesem Grund setzt das existentielle Denken nun einen erweiterten Akzent: Es reflektiert das Sein-Können des Menschen als Sein. Inwieweit die Vorstellung vom Wesen dazu beigetragen hat, das existentielle Können auf die Vorstellung des Selbst-Werdens zu beschränken, hat sich gezeigt. Gleiches gilt für die Notwendigkeit, die Bestimmung dessen, was wir unter dem Wesen des Menschen verstehen, zu überdenken. Hier wird dafür plädiert, dessen Deutung als Alleinstellungsmerkmal zu revidieren. Nicht dasjenige, das uns von allem Übrigen unterscheidet, sollte unser Charakteristikum sein, sondern das Faktum, dass wir diejenigen Wesen mit der größtmöglichen Berührungsfläche zu Anderem sind. Der Ausdruck der Berührungs-Fläche ist genauso bildlich plakativ gemeint, wie er klingt. Wir grenzen in jedem Augenblick unseres Seins an Anderes, welcher Art es auch sei. Diese Berührungen sind oftmals physischer Natur und werden von uns sinnlich erlebt, können aber ebenso gut intellektuell bestehen. Die Vielfalt dieser möglichen taktilen Vergegenwärtigungserlebnisse des Anderen zeichnen uns in gänzlich anderer Weise aus, als unser Vermögen der Distanzierung. Denn wir gewahren in jedem Augenblick die Präsenz des Anderen im Sein, das uns nur deshalb überhaupt als solches erfahrbar wird, weil wir uns seiner Ko-Präsenz gewiss sein können. Berührungen mit Ko-Präsentem können das gesamte Spektrum möglicher Affizierbarkeit durchlaufen. Sie können von uns als schlichte Hinweise, dass dort Anderes ist, verstanden werden oder unsere Aufmerksamkeit in positiver Weise auf sich ziehen. Sie können uns ebenso faszinieren, inspirieren oder mit Freude erfüllen, wie sie dazu geeignet sind, Furcht auszulösen. Das Streichen über das Fell einer Katze kann eine solche Berührung im Sein ebenso sein, wie das schöne Gewicht der Teeschale in der Hand. Es kann der Gedanke an Freunde sein, die, obwohl kilometerweit entfernt, das tiefe Gefühl der Dankbarkeit auslösen. Es kann der Blick in die weite Landschaft sein, der zu Ruhe kommen lässt, oder der Blick in die zerstörten Landstriche des Krieges, der mit Sorge um die dort Lebenden erfüllt. All das können Formen der Berührung sein, womit nicht in jedem Fall emotionale Ansprache gemeint ist, sondern zunächst tatsächlich nur die taktile Vergegenwärtigungs-Erfahrung. Die kleine Auswahl, so beliebig sie auch wirken mag, verdeutlicht bereits in ihrer rudimentären Zusammenstellung eines: Wenn wir tatsächlich das Faktum als essentiell bestimmend für den Menschen annehmen, dass er die größte Möglichkeit derartiger Berührungs-Erfahrungen hat, ist der Natur dieser Erfahrungen keine Grenze gesetzt. Daher ist es unbedingt erforderlich, die Frage nach der spezifischen Möglichkeitsstruktur menschlichen Seins auf diejenige nach der Erfahrungsstruktur des Seins schlechthin auszuweiten. Keine Differenzierung und keine daraus abzuleitende Ausschließlichkeit bestimmter Erfahrungs-relevanter Kontextualisierungserlebnisse kann überzeugend vermittelt werden. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Ein kleiner Ausblick auf die hier vertretene Position hat die aktuellen Bemerkungen unterbrochen, was insofern sogar sinnvoll gewesen ist, als dadurch das besondere Interesse an einer Vorstellung des Seins nachvollziehbar werden könnte. Hinsichtlich der Konzeptionen von Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas wurde gerade das Fehlen eines positiven Bezuges hierzu kritisch vermerkt, was nun natürlich den Blick mit umso gespannterer Erwartung noch einmal auf die Aussagen von Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre fallen lässt. Die Tatsache, dass es sich bei Letzterem nicht um einen existenzphilosophischen, sondern um einen existentialistischen Denker handelt, kann für den Moment, in dem nach der Auffassung vom Sein zu fragen ist, hintangestellt werden. Wie sich gerade am Beispiel von Sartres Interpretation des Seins zeigt, genügt es aus der hier eingenommenen Perspektive nicht, vom Sein zu sprechen, wenn es in der dort zu findenden Weise geschieht. Zwei Kriterien sind für diese Skepsis seiner Konzeption gegenüber ausschlaggebend. Zunächst sei noch einmal an seine Einführung des Gedankens des An-Sich-Seins erinnert. Die Annahme eines elementaren ‹es gibt›, das jedoch aufgrund seiner vollständigen Homogenität weder erfahren noch im eigentlichen Sinne gedacht werden kann, ist vielleicht ontologisch reizvoll, doch existentiell zunächst nichtssagend. Denn aus ihr kann weder auf den Grund noch die vermeintliche Besonderheit menschlichen Seins geschlossen werden. So wirkt der Gedanke wie ein leere Bezugsgröße, der letztlich nur in einer einzigen Hinsicht Bedeutung zukommt, die darin besteht, die Nichtungsakte des Menschen zu erklären und als existentiell sinnvoll auszugeben. Dieser Aspekt verkehrt sich jedoch allzu schnell in sein Gegenteil. Was bei erster Betrachtung tatsächlich als sinnvoll erscheint, da wir durch unsere individuellen Kontextualisierungsschritte einer Seins-Vorstellung Konturen verleihen, die sie ohne diese nicht annehmen könnte, erweist sich beim weiteren Betrachten als Grund unseres Leidens im Sein. Denn wir begreifen allmählich, dass wir selbst jene Freiheit und Verantwortung gesetzt haben, an deren übermächtigem Druck wir bisweilen zu scheitern drohen. In einem seiner Aufsätze geht Heinrich Barth auf das Bild ein, das Sartre vom Einzelnen, der sich der Ursächlichkeit seiner eigenen Daseinsverfassung bewusst wird, zeichnet. Da diese kurze Schilderung in ihrer Pointiertheit die Atmosphäre sehr gut einfängt, die Sartres Texte vermitteln können, ist es in jedem Fall lohnend, sie an dieser Stelle zu zitieren: Nach Kierkegaard hat der Mensch als Einzelner ungeschützt die Konfrontation mit dem Glauben auszuhalten. Nach Jean-Paul Sartre ist er auf seine völlige Einsamkeit zurückgeworfen. Als Einzelner existiert er wie ein Skelett in einer grauenhaften Wüste. Wir stehen bei Sartre vor dem schreckhaften Ergebnis einer radikalen Säkularisierung des menschlichen Selbstbewußtseins.420
420 Autonomie, Theonomie und Existenz, in: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, S.177. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Die Frage, ob Sein an sich denkmöglich ist, spielt für die weiteren Überlegungen keinerlei Rolle. Denn diese verstehen sich, so widersinnig das auch klingen mag, nicht als ontologisch, sondern als existentiell motiviert. Jede Spekulation über ein Sein reiner Begrifflichkeit scheidet damit in diesem Zusammenhang aus, da nur dasjenige Vorfindliche mit dem Namen des Seins versehen wird, dessen wir potentiell und aktuell gewärtig sein können. Fällt damit aber nicht auch die Thematisierbarkeit vergangenen und zukünftigen Seins? Um diese Folgerung, die im Grunde naheliegen würde, zu verhindern, wurde gerade auf aktuellen und potentiellen Bezug verwiesen. Schließlich wäre es sinnlos, die Seins-Erfahrung auf einzelne Momente begrenzen zu wollen, in denen Berührung realiter stattfindet. Nur ist die Möglichkeit der Berührbarkeit Kriterium der Möglichkeit, vom Sein zu sprechen, die sich unter Bezug auf die potentielle Erweiterung auch beispielsweise auf Objekte der Kunst, des Handwerks oder der Technik ausdehnen lässt. Heinrich Barth polemisiert mit großer Entschlossenheit gegen seiner Darstellung nach existenzphilosophische Entwürfe, in denen Existenz der Ontologie untergeordnet werde. Dieser Kritik kann nur beigepflichtet werden, soweit es wirklich um eine ontologische Interpretation des Seins-Begriffes geht, die sich auf den Nachweis seiner formalen Aussagbarkeit konzentriert. Jedoch muss das Seins-Denken nicht zwangsläufig mit ontologischem Denken identisch sein. Dieser Feststellung mag vielleicht am schwersten zuzustimmen sein. Klassischerweise ist die Ontologie seit jeher diejenige philosophische Disziplin, die sich der Thematisierung des Seins-Begriffes angenommen und über die Jahre in diesem Verständnis Höhen und Tiefen der Zustimmung und Zurückweisung erfahren hat. Macht es nun also Sinn, ja ist es überhaupt legitim, für Seins-Denken jenseits der Ontologie zu werben? Und wie soll ein solches Denken beschaffen sein? Die Frage nach der Legitimität würde das Denken auf das Format des bisher Gedachten begrenzen, was an sich nicht praktikabel sein kann, wenn die Arbeit der Philosophie als ein Arbeiten an ihrer Entwicklung verstanden wird. Die Frage nach dem Sinn einer Forderung des Seins-Denkens jenseits der Ontologie erweist sich als Grundfrage existentiellen Denkens. Dass Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas sie nicht stellten, liegt vor allem daran, dass sie bestimmte Merkmale des tradierten Seins-Verständnisses als so wirkmächtig einschätzten, dass sie sie als repräsentativ für das Seins-Denken insgesamt ansahen. Nach Barths Auffassung handelt es sich um die vermeintliche Unmöglichkeit, die Zeitlichkeit der Existenz auf eine Vorstellung vom Sein zurückzuführen; nach Lévinas’ Ansicht um die Tendenz des Seins-Begriffes, das Denken des Seienden zu vereiteln. Beide Begründungen der jeweiligen Einwände sind zweifellos gewichtig, stellen aber keine unüberwindlichen Hindernisse für den Versuch dar, Sein jenseits der Ontologie oder aber anders in der Ontologie zu denken. Die Andersartigkeit dieses Denkens oder dessen Eigenständigkeit gründet im existentiellen Verständnis des Seins. Der Begriff bezeichnet das Faktum der Vorfindlichkeit. Dieses ist jedoch nicht als starres So-und-nicht-anders https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zu begreifen, sondern in der unendlichen Variabilität taktilen Berührens. Damit ist es je schon immer Berührung in der Zeit, insofern beide Vorfindliche, die aneinandergrenzen und sich dieser Tatsache, sofern es sich um Menschen handelt, bewusst werden, in diesem Prozess eine Veränderung ihres Vergewisserungsmodus durchlaufen. Schlägt hier nicht mit ganzer Wucht jenes Argument für die Besonderheit menschlichen Seins durch, das es doch eigentlich zu relativieren gilt? Denn gerade wurde eingestanden, dass eine solche Modifizierung der Bewusstheit nur für den Menschen anzunehmen sei. Wozu also dessen Exzeptionalität leugnen wollen, wenn sie sich bei erstbester Gelegenheit wieder in den Vordergrund drängt? Die Leugnung menschlicher Besonderheit ist niemals zum Ziel dieser Seiten erklärt worden, sehr wohl aber der Schritt, aus ihr auf das Wesen des Menschen schließen zu wollen. Diese Unterscheidung ist außerordentlich wichtig, würden doch andernfalls tatsächlich dem soeben erhobenen Einwand sämtliche Türen geöffnet. Die argumentative Entlastung mag für wenige Sekunden greifen, dann jedoch bereits durch die nächste Erwiderung hinfällig werden. Diese bezieht sich auf die Umdeutung der Wesensvorstellung, wonach diese nicht durch dasjenige, das uns von allem Anderen unterscheidet, geprägt ist, sondern durch die größte Berührungsfläche, die wir mit allem Anderen teilen. Handelt es sich denn nicht auch bei diesem Kriterium um ein Alleinstellungsmerkmal? Dieser Ausdruck zählt nicht zur klassischen philosophischen Terminologie, eignet sich zur Angabe des Gedachten jedoch vorzüglich. Hier liegt eine Differenzierung in Übereinstimmung vor, so könnte festgehalten werden. Eine Erinnerung an das aristotelische Seelen-Verständnis mag hilfreich sein. Danach teilen wir mit allen anderen Organismen die Vermögen der Ernährung und Bewegung, verfügen zusätzlich aber noch über Rationalität. Natürlich kann dieses Modell nur als ergänzende Illustration des Gedankens der Berühungsflächen dienen. In erster Linie erklärt sich deren Eigenheit dadurch, dass wir als körperliche und vernunftbegabte Wesen in der denkbar vielfältigsten Weise durch Anderes affiziert werden können. Unter Berufung auf eine Formulierung von Martin Heidegger anlässlich seiner Darstellung des Gevierts könnte es auch so ausgedrückt werden, dass wir «in der Kreuzungsmitte des Seienden» stehen. Diese Positionierung könnte gewiss als Alleinstellungsmerkmal gedeutet werden. Wenn überhaupt vom Wesen des Menschen zu sprechen ist, handelt es sich, wie gerade erwähnt, um Differenzierung in Übereinstimmung, das heißt als das Besondere erscheint hier das Verbindende. Eine solche Sichtweise wäre mit der Konzeption Jean-Paul Sartres unvereinbar. Denn er setzt gezielt auf die Herausstellung seines Interesses am menschlichen Bewusstsein, das die Verhaltensweisen im Sein bestimmt. Einen Versuch, Welt darüber hinaus anders als in «Utensilitätskomplexe» partikularisiertes Sein zu betrachten, ist in Das Sein und das Nichts nicht zu erkennen. Sehr wohl spielt ihre Vorstellung indirekt eine wichtige Rolle als Ort menschlichen Handelns, doch eine Eigenwertigkeit des Seienden scheint für ihn keine bedenkenswerte https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Thematik darzustellen. Bisher hat sich als erstes Unterscheidungsmerkmal zum Denken Jean-Paul Sartres gezeigt, dass die Annahme eines An-Sich des Seins unter existentiellem Gesichtspunkt irrelevant ist. Die Bewertung des Seins im Sinne seiner Faktizität, auf der letztlich die gesamte Lehre des Existentialismus ruht, ist hingegen äußerst aufschlussreich, da sie auf die zweite Ebene der Differenzierung der hier vertretenen Einschätzung führt. Deren Erläuterung folgt später, nur so viel bereits an dieser Stelle: Das Motiv der Geworfenheit stellt nicht die einzige Möglichkeit dar, die menschliche Reaktion auf das Faktum seines Seins zu interpretieren. Scheidet damit auch das Seins-Verständnis Jean-Paul Sartres als Beispiel im Sinne der vorliegenden Deutung aus, bleibt nur noch dasjenige Martin Heideggers, ein Befund, der keineswegs als unproblematisch zu bewerten ist. Denn aufgrund der Tatsache, dass er sich niemals öffentlich von seinen Verlautbarungen während der Kriegsjahre distanzierte, bleibt bei jedem interpretativen Ansatz eine grundsätzliche Unsicherheit bestehen. Hierbei gilt es nicht primär sein Verhalten in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu berücksichtigen, dessen Beurteilung ein eigenes Thema darstellen würde, sondern seine Aussagen zur geschichtlichen Notwendigkeit des Untergangs, um dem Neuen seinen Weg zu ebnen. Endzeitliche Phantasien verschmelzen nahezu bruchlos mit ideologischen Ansichten. Für uns, die wir uns heute mit Heideggers späteren Theoremen auseinandersetzen, wird vermutlich niemals mit völliger Sicherheit auszuschließen sein, dass eine solche nationalistisch-heilsgeschichtliche Konnotation in seiner Charakterisierung des Seyns mitschwingt. So stehen letzten Endes nur zwei Möglichkeiten des Umgangs mit seinen Texten nach 1945 zur Verfügung: Diese generell als philosophisch nicht mehr akzeptabel zu beurteilen und entsprechende Deutungsversuche einzustellen oder sich an die sprachlichen Indikatoren seines Denkens zu halten und diese als sich selbst aussagende Mitteilungen zu lesen, stets eingedenk der erwähnten Problematik. Dass speziell der Begriff des Seyns anfällig für den Verdacht weiterführender Bedeutung ist, erklärt sich gewiss selbst. Denn er wird von Heidegger bereits Mitte der 1940er Jahre vermehrt kommentiert und mitunter sogar mit dem Gedanken des Eschatologischen in Verbindung gebracht.421 Zweifellos kommt diesem Begriff eine besondere Funktion innerhalb Heideggers Terminologie zu, denn er signalisiert die Abwendung von einem zweckorientierten Denken, das auch als «vorstellend» bezeichnet wird. Es stellt sich dem Gedachten als seinem Gegenstand gegenüber, anstatt sich vom zu Denkenden ansprechen zu lassen.422 Das Denken um eines Zweckes wil421 «Die Eschatologie des Seyns ereignet sich als die Jähe der Kehr; diese ist Ankehr der Vergessenheit selber; ist die Unter-Brechung der Machenschaft inmitten der vollendeten Verwahrlosung.» Anmerkungen I-V, Anmerkungen III, S.290. 422 «Solange wir das Sein denken, indem wir das Seiende als solches vorstellen, was Anderes kann vor uns stehen als ein Seiendes hinter dem Seienden […]?» Anmerkungen I-V, Anmerkungen III, S.316 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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len verhindert Heideggers Auffassung nach dieses Sich-angehen-Lassen vom Sein, dessen Verwirklichung als eines der wenigen benennbaren Kennzeichen des Seyns angesehen werden kann. Deutlich wird damit bereits, in wie starkem Maße dieser Begriff auf ein Zu-Verwirklichendes verweist, in dem die eigentliche SeinsWeise des Menschen in seiner Verhaltung zum Sein zu erkennen ist. Der Ausdruck der Verhaltung, der nicht Heideggerscher Begrifflichkeit entstammt, wurde gewählt, um eine Dimension der sich einlassenden Bezogenheit anzeigen zu können, die grundsätzlicherer Natur als ein konkretes Verhalten ist. Zu verwirklichen, ausstehend, auf uns zukommend – zwischen solchen Beschreibungsfragmenten bewegen sich Heideggers Hinweise auf das Seyn, das hier in der bereits angekündigten Weise zu interpretieren ist. Dass es sich dabei um eine mögliche Lesart handelt, bedarf wohl keines ausdrücklichen Vermerks. Doch stützt diese sich auf die Rekonstruktion jener Deutungsgeschichte, die sich in den Texten nach 1945 ausmachen lässt. Dass von einer Geschichte der Deutung gesprochen werden kann, wird an der sich wandelnden Weise erkennbar, in der Heidegger vom Seyn spricht, beziehungsweise das Seyn sprechen lässt, wie es seiner Ansicht nach heißen müsste. Die Verknüpfung mit dem Gedanken der Eschatologie kennzeichnet dieses Sprechen Mitte der 1940er Jahre. Mit jeder weiteren Thematisierung verlagert sich die Akzentuierung des Seyns-Verständnisses vom zeitlichen auf den räumlichen Kontext. Denn immer plastischer zeichnet sich ab, dass sich Seyn nicht anders als im Denken des Weltlichen ereignen kann. Der Mensch rückt als der Denkende damit in die relevante Position. «Das Verhältnis des Menschen zum Seyn ist, wenn es überhaupt eins ist, nur so zu denken, daß es innerhalb des Seyns west, dergestalt, daß der Mensch das Seyn ‹ist›, […].»423 Indem der Mensch als der Denkende im Seyn ausgewiesen wird, fällt die Aufmerksamkeit auf die Bildlichkeit des Zu-Leistenden, insofern es am Menschen ist, sein Denken zu korrigieren. Der sich hieraus ergebende Wandel führt vom vorstellenden zum schonenden Denken. Die Vorstellung eines zu verwirklichenden Wandels prägt in dieser Zeit noch stark das Verständnis des Seyns, das erst zu werden hat. Aus existenzphilosophischer Perspektive betrachtet fügt sich eine solche Sichtweise der Beauftragung des Menschen perfekt in das Bild existentiellen Werdens. Denn in beiden Bewegungen, die nach Heideggers Auffassung in Wahrheit als ein und dieselbe zu begreifen sind, geschieht die Wendung zur Eigentlichkeit. Im Vergleich zu den Interpretationen von Existenz, wie sie beispielsweise Karl Jaspers und Heinrich Barth vornehmen, liegt hier deutlich weniger Akzent auf der Vorstellung des Selbst-Seins, auch wenn Heidegger es noch in Sein und Zeit als unser eigentliches Sein-Können bezeichnet. In späteren Schriften kommt immer stärker zum Ausdruck, dass das gewandelte Seins-Verhältnis im Selbst der eigentlichen Verhaltung im Seyn entspricht. So wirkt es letztlich konsequent, 423
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dass in diesen Texten, zu denen vor allem die Denktagebücher, die als die Schwarzen Hefte in jüngster Zeit nach und nach veröffentlicht werden, zählen, die Motivik von Welt und Ding in den Vordergrund rückt und die zeitliche Ausrichtung des Seyns zugunsten seiner räumlichen, oder besser gesagt: ortschaftlichen Relevanz modifiziert wird.424 Seyn geschieht im Sinne der verwiesenen Bezogenheit aller im Sein, doch nur dann, wenn sich das Denken des Denken-Wollens enthält. «Das Denken darf keinen Auftrag kennen, wenn es ist.»425 Unverkennbar zeichnet sich die Schwierigkeit ab, vor der damit jedes Sprechen-Wollen vom Seyn steht. Wird es als beabsichtigte Form der Mitteilung verstanden, verfolgt es zwangsläufig einen Zweck. Entsprechend notiert Heidegger 1947: «Im Denken des Seyns ist kein Aussagen, nicht weil das Seyn unsagbar ist oder gar irrational, sondern weil das Aussagen aus dem Gegenüber des Vorstellens spricht, statt aus dem Gespräch des Unterschieds […].»426 Und bereits im Winter 1948 heißt es: «Es gilt das Eine: den geschichtlichen Augenblick der Kehre der Wahrheit des Seienden als solchen in die Wahrheit des Seyns immer deutlicher zu erfahren […].»427 Mit dem Begriff der Kehre taucht einer der meist-diskutierten Ausdrücke der späteren Philosophie Martin Heideggers auf. Im Kontext seiner Besprechung des Seyns, die eher dessen Bezeugung als seiner Erklärung gleichkommt, versteht er darunter die Hinwendung des Denkens zum Seienden, an dessen Sein sich im schonenden Denken das Seyn verwirklichen kann. «Der einfache Schritt vom Seienden als Seiendem […] zum Seyn. […] Der einfache Schritt im Seyn: daß zu seinem Wesen, […] gehört das Wesen des Menschen […]. Der Schritt in das Seyn zurück, in die Nähe […] ist das Erfahren der Welt […].»428 Der Grund dafür, an dieser Stelle etwas näher nach dem Begriff des Seyns zu schauen, besteht darin, dass dieses wahrlich nicht Vorbild aktuellen Denkens ist, aber eine Möglichkeit anzeigt, Seins-Wandel zu konzeptualisieren. Denn Seyn, soviel sei noch einmal erinnert, meint gewandeltes Sein, das zu sich selbst befreit ist. Befreit wovon? Von den Überlagerungen und Überschattungen durch das vorstellende Denken, das sich am Ziel des Wünschens orientiert und Seiendes für dessen Erfüllung in Anspruch nimmt, anstatt sich vom Sein in Anspruch nehmen zu lassen. Dieses geschieht in einer Form der Ansprache, durch die sich der Mensch auffordern lässt, sein eigentliches Selbst-Sein zu wollen. Dass hierdurch kein Wi«Die Sage des Brauches erbringt die Nähe (Welt/Ding). Aus der Nähe, in sich verdingt, ist Jegliches je weilig in der Ortschaft des Ereignisses.» Anmerkungen I-V, Anmerkungen IV, S.328. 425 Anmerkungen I-V, Anmerkungen IV, S.328. 426 Anmerkungen I-V, Anmerkungen IV, S.344. Das Wort «Seyn» ist im Original durchkreuzt. 427 Anmerkungen VI-IX, Anmerkungen VI, S.86. Das Wort «Seyn» ist im Original durchkreuzt. 428 Anmerkungen VI-IX, Anmerkungen VI, S.58. Das Wort «Seyn» ist im Original durchkreuzt. 424
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derspruch zu der gerade getroffenen Feststellung entsteht, das Denken des Seyns sei vom Wollen befreites Sein zu sich selbst, wird daraus ersichtlich, dass der Schritt zur Eigentlichkeit als solcher keinem Wollen in üblichem Sinn entspricht. Er ist vielmehr als ein Sein zum Sein-Können zu verstehen, das nicht gewählt werden kann, ja nicht gewählt werden darf, wäre es doch dann nach Heideggers Überzeugung selbst Beleg zielorientierten Denkens. Der Wandel vom Selbst zum eigensten Selbst-Sein korrespondiert dem Wandel zum Seyn, so kann es formuliert werden. In den Vigilae aus dem Jahr 1954 notiert Heidegger: «[…] daß das Menschenwesen, in das Seyn gebraucht, dessen Wesen mitausmacht.»429 Es ist von außerordentlicher Bedeutung, einer Auslegung zuvorzukommen, die Seyn etwa als eine abstrakte Weise begreift, Sein zu denken. Die Wandlung zum Seyn stellt sich vielmehr als eine Einsenkung des Seins-Denkens in die Ortschaftlichkeit ihrer Denkbarkeit dar. Der Ausdruck der Ortschaftlichkeit mag sperrig klingen, erfüllt in diesem Zusammenhang aber eine erklärbare Funktion. Es wurde bereits angedeutet, dass Heidegger die Auffassung des Seins als Zeitlichkeit in späteren Texten zugunsten einer gewissen Räumlichkeitsansicht erweitert. In diesem Zuge fallen etwa Eintragungen in sein Denktagebuch wie diese auf: «Die unscheinbare Ortschaft des Gevierts – W.[elt] […] Erörterung des Ereignisses auf dieser Erde – […].» oder «Noch sind wir weit entfernt von der Ortschaft der Verwandlung, kaum unterwegs in diese Ferne […].»430 Das Geviert als Versichtbarungsgestalt des Faktums der Bezogenheit im Sein stellt ein Modell dar, in dessen Vierung sich die Denkbarkeits-Parameter des Seyns gegenüberstehen. Um die Struktur der Bezogenheit jedoch in einem Verhältnis der Erfahrung austragen zu können, bedarf es der Ortschaft, jener noch immer viel zu selten reflektierten Metapher Heideggerscher Seins-Dynamik. Da Selbst-Wandel und Seins-Wandel nach Heideggers Auffassung Hand in Hand gehen, kann die Ortschaft als Stätte der Bezogenheit auch als existentieller Raum bezeichnet werden. Hier findet Sein, wie es eigentlich sein kann und soll, statt. Mit diesem Gedanken wird ein Aspekt aufgegriffen, der sich bereits anlässlich der Frage nach Existenz gezeigt hatte. Woher wissen wir, welche Wesensbestimmung uns eigentlich eignet? Die vermutlich ernüchternde Antwort konnte nur aus dem Hinweis auf unser Können gewonnen werden. Wir vermögen anders als sachbezogen zu denken, wodurch dieses andere Denken zu jenem Können wird, das uns wie kein zweites entspricht. Mit Bezug auf die Seins-Frage wiederholt sich auch diese Überlegung, denn woher wissen wir, wie Sein eigentlich beschaffen sein soll? In fast stereotypischer Einförmigkeit stützt sich die Antwort auf denselben Gedanken. Wir wissen es, weil wir – durch unsere Existenz – dazu in der Lage sind, anders zu sein. Wohl nirgends sonst wird die Verschränkung von Selbst- und Seins-Wandel deutlicher erkennbar. Von den betrachteten exis429 430
Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.154. Das Wort «Seyn» ist im Original durchkreuzt. Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.108 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tenzphilosophischen Konzeptionen und ihrem existentialistischen Pendant blieb hinsichtlich der Frage nach dem Sein lediglich Heideggers Deutung übrig, um weiterführende Reflexionen des Seins-Begriffes anstellen zu können. Denn nur er hält Seins-Wandel nicht nur für möglich, sondern für unverzichtbar, um den Gedanken der Bezogenheit zum Ausdruck bringen zu können. Doch kann es nicht bei seiner Auslegung bleiben. Sie bietet einen entscheidenden Vorzug, soviel hat sich gezeigt. Von den vorgestellten Autoren ist er der Einzige, der dem WeltBezug des Menschen explizit Beachtung schenkt, was ihn dazu befähigt, die Bedeutung des Dinglichen für das Seins-Verständnis in ungewohnter Weise zu akzentuieren. Ungewohnt ist seine Sichtweise, doch nicht voraussetzungslos. Bereits in anderem Zusammenhang wurde auf die außergewöhnliche Bedeutung hingewiesen, die das Denken Franz Rosenzweigs für die Entwicklung der Existenzphilosophie hat. Ob auch von dessen Einfluss gesprochen werden kann, ist hingegen noch nicht mit Sicherheit zu behaupten, da die Auswirkung jener Lehren, die er in seinem Stern der Erlösung vertritt, auf die Genese des existentiellen Denkens noch nicht eingehend erforscht ist. Eine höchst bemerkenswerte Parallelität sowohl hinsichtlich der Komposition der Darstellung als auch ihrer Thesen kann zu Martin Heideggers Sein und Zeit, sechs Jahre nach dem Stern veröffentlicht, aufgezeigt werden.431 Dass damit eine philosophiegeschichtlich äußerst brisante Feststellung getroffen wird, versteht sich von selbst. Denn dass sich ausgerechnet Heidegger auf das Werk eines jüdischen Denkers bezieht und sich bei der Formulierung seiner fundamentalontologischen Analyse auf das Konzept des Sterns der Erlösung stützt, klingt zunächst mehr als unwahrscheinlich. Ein genauer Vergleich zeigt indes, dass der Aufbau von Sein und Zeit Schritt für Schritt jenem des rosenzweigschen Textes entspricht. Was dort exemplarisch ausgeführt wird, fasst Heidegger in seiner Strukturierung zusammen und formalisiert es in der uns vorliegenden Weise. Damit ist ohne Frage ein Schritt über die Ausführungen von Rosenzweig hinaus getan, doch dieser ist als solcher noch immer deutlich erkennbar. Im aktuellen Kontext geht es nun nicht um die Frage der Nachwirkung oder Beeinflussung und deren philosophiegeschichtliche Bewertung, sondern darum, einige Aspekte zu benennen, in denen das Werk dieses so massiv unterschätzten Denkers existenzphilosophische Motive vorbereitet hat. Der Zusammenhang, der nun zu berücksichtigen ist, erschließt sich über eine kurze Einführung in seine Konzeption des Seins, das er, außergewöhnlich genug für einen Denker des Religiösen, mit dem Gedanken der Schöpfung verknüpft. Drei Gestaltkreise sind seiner Auffassung nach in ihrer je eigenen Gültigkeit zu reflektieren: Gott, Welt und Mensch. Das absolut Faszinierende seiner Konzeption besteht darin, dass er diese nicht in einem Ableitungsverhältnis vorstellt, sondern jede ihm zur Verfügung stehende Argumentation nutzt, um deren EiEine detaillierte Analyse findet sich in Sternschatten. Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs. 431
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genständigkeit zu erweisen. Aus theologischer Perspektive mag es nicht überraschen, dass er auch das Welt-Sein anspricht, sollte man doch vermuten, dass er es im Sinne des Schöpfungswerkes interpretiert. Von dieser Deutung geht Rosenzweig tatsächlich aus, formuliert dann jedoch eine Sichtweise, die zum einen als Beleg seines sehr eigenwilligen Denkens und zum anderen in ihrem Bezug zur aktuellen Überlegung gelesen werden kann: Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einiger Gegenstand, sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben die Dinge. Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit, seiner Individualität ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. […] Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen.432
Im Folgenden schließen sich seine Betrachtungen darüber an, wie das Erfassen der «Einzelheit» stattfinden kann, wobei dem Gedanken des Zeigens besondere Bedeutung zufällt. Dieses versteht Rosenzweig als Voraussetzung für die Gestaltung der Welt, die erst nach dem Geschehen der Schöpfung einsetzt. «Das Dasein in seiner Allgemeinheit und allerfassenden Formhaftigkeit bleibt der unmittelbar geschaffene Grund, der ‹Anfang›, aus dem die immerneuen Geburten der Fülle hervorschießen. Die Welt kann Fülle sein, weil sie da ist, […].»433 Der Aspekt der Gestaltungs-Möglichkeit des «Da-seins», wie Rosenzweig in charakteristischer Manier notiert, verweist unmittelbar auf dessen Gestaltungs-Bedürftigkeit. Denn nur in der gestalteten Form kann seiner Auffassung nach von Welt, jenem dritten Element des Seins neben Gott und Mensch, gesprochen werden. Auf Rosenzweigs Deutung des Selbst-Seins, das keinesfalls als Erfüllungsmoment der existentiellen Bewegung, sondern als eine ihrer Entwicklungsphasen anzusehen ist, konnte bereits hingewiesen werden. Auch ihr lag die Vorstellung einer strikten Performativität von Existenz zugrunde, die sich nun in Ansehung des Welt-Seins wiederholt. Da-sein versteht er als Voraussetzung und Bedingung des Welt-Seins, von dem erst ab dem Augenblick der Interaktion zwischen Seiendem zu sprechen ist. Interaktion ist geschehnishafter Ausdruck der Bezogenheit, in der alle drei Elemente im Sein ! Gott, Welt und Mensch ! seiner Auffassung nach zu begreifen sind. Auf deren theologische Implikationen kann hier leider nicht eingegangen werden, da es die Seins-Frage neu zu stellen gilt. Im Gegensatz zu Rosenzweigs Überzeugung lässt diese sich nicht einmal partiell im Rahmen theologischer Betrachtung platzieren, wenn das Ziel die Formulierung eines philosophischen Konzeptes der Existenz sein soll. Denn das ist das Einzigartige am Stern der Erlösung: Er enthält ontologische Aussagen im Bezugsgeflecht religiöser Glaubenswahrheiten und kombiniert beide, ohne dass je der Eindruck einer erzwungenen Allianz zwischen ihnen bestünde. So stellt es in diesem selten kostba432 433
Der Stern der Erlösung, II, I, S.148. Der Stern der Erlösung, II, I, S.148. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ren Text keinen gedanklichen oder argumentativen Bruch dar, wenn von Gottes Schöpfung die Rede ist und im nächsten Moment auf die ontologische Terminologie der Zeit zurückgegriffen wird. Ob die Gewichtung, die beiden Kontexten damit zuteilwird, für jede Leserin und jeden Leser zufriedenstellend sein mag, hängt von der Ausrichtung des eigenen Denkens ab, wie auch von der Erwartung, die an diese Schrift, die in der deutschsprachigen philosophischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht, gerichtet wird. Wenn sie zur Hand genommen wird, um das Sein in der Welt mit Bezug zum Göttlichen erörtert zu finden, wird kein Wunsch unerfüllt bleiben. Denn sie beschreibt das Sein vom Augenblick der Schöpfung an und stellt es ganz in den Wirkungszusammenhang göttlichen und menschlichen Agierens. Kennzeichnend ist dabei die begriffliche Unterscheidung zwischen Da-sein und Welt. Ersteres bezeichnet die Tatsache, dass Seiendes da ist, Letztere dessen Gestaltung und relationale Bindung durch den Menschen. Hier ist Rosenzweigs Blick auf die Dinge entscheidend. Doch was soll daran so bemerkenswert sein, dass er sogar im Rahmen dieser Überlegungen zum Sein angesprochen wird? Hat sich Philosophie nicht seit jeher auf die Erkenntnis konzentriert, die aus materiellen Gegebenheiten zu gewinnen ist? Genau hierin liegt das Besondere des Rosenzweigschen Ansatzes: Es geht nicht um Erkenntnis, die aus der Betrachtung sinnlich vermittelter Objekte zu abstrahieren ist, sondern um den Versuch, diese in einer ihnen entsprechenden Eigenwertigkeit zu erfassen und derart spezifiziert in das Konzept des Seins aufzunehmen, als vollgültige Indikatoren des Seins-Verständnisses. Zeitlich wäre es möglich gewesen, dass Franz Rosenzweig mit Gedanken der Phänomenologie hätte Bekanntschaft machen können. Darüber, ob er tatsächlich über Kenntnisse auf diesem Gebiet verfügte, lässt sich jedoch höchstens spekulieren. Interessant wäre Gewissheit in diesem Punkt deshalb, weil seine Sichtweise des dinglichen und damit welt-relevanten Seins dann in Korrespondenz zur phänomenologischen Hinwendung zum Gegenständlichen gesehen werden könnte. Ohne ein gesichertes Fundament kann höchstens festgehalten werden, dass sich seine Konzentration auf die Dinglichkeit im Sein zu einem gewissen Anteil mit einer Tendenz der Philosophie jener Zeit deckt, die letztlich in deutlichem Maße das Denken Martin Heideggers geprägt hat – wie im Übrigen auch dasjenige von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas. Inwieweit neben den bekannten Quellen existenzphilosophischen Denkens auch dem Werk Edmund Husserls eine eindeutig nachweisbare Motivation für dieses Denken des Einzelnen im ganzen Umfang seiner Bedeutung zugeschrieben werden kann, wird eine in der Zukunft verstärkt zu thematisierende Fragestellung darstellen. Die Dinge haben kein Wesen für sich, sie sind, was sie sind, nur in Beziehung, so schreibt Franz Rosenzweig. Ist es die Tragik unserer Zeit, dass wir beim Lesen solcher Worte sofort an den Nutzungsanspruch des Menschen denken, der diese Beziehung zwischen den Dingen seines Gebrauches nach dem Maß eigener Verfügungsansprüche festlegt? Vielleicht sind wir aufgrund der Entwicklung der https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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letzten einhundert Jahre, die ein Ausmaß der Ver-Nutzung an den Tag gelegt haben, das für Rosenzweig wohl kaum vorstellbar gewesen ist, sensibilisierter für mögliche Botschaften, die Zeilen wie diese enthalten können. Eine solche Schärfung des Blicks wäre ohne Frage dringend notwendig und sogar längst überfällig, sollte uns jedoch nicht daran hindern, in einem Fall wie diesem genau zu lesen. Wenn Rosenzweig von «Beziehung» spricht, meint er damit vor allem jene durch das Zeigen hervorgerufene Aufmerksamkeit auf das Andere. Der Ausruf oder auch die stille Geste, die uns ‹dieses da› zeigen, mögen den vielfältigsten Voraussetzungen folgen: Es muss in jedem Fall an ‹diesem da› etwas sein, dass uns aufhorchen und dieses mit anderen teilen lässt. Denn das Zeigen auf dieses kennzeichnet es in einer Unmittelbarkeit als unverwechselbar und einzig, die durch keine logische Definition zu erbringen wäre. Das Entscheidende an Rosenzweigs Auffassung ist, dass es für uns im Anschluss an das Auf-das-Andere-aufmerksam-Machen gerade nicht darum geht, es mittels Abstraktion seiner Einzigkeit zu entledigen, um es auf allgemeine Merkmale und Eigenschaften festlegen zu können, die dessen Archivierung im Fundus unseres Wissens erlauben. Hier repräsentiert das Einzelne seine Gattung.434 Zwei Perspektiven der Betrachtung kreuzen sich in diesem Moment des Rosenzweigschen Werkes. Das Denken des Seins, denn alles Dasein ist Sein, und die Erscheinung des Dinglichen, die in der Geste hinweisenden Deutens geschaffen wird ! mit dieser Verbindung gelingt Rosenzweig, was er so leidenschaftlich zu erweisen sucht: Die Rehabilitierung der Welt im Kontrast zur Vorstellung des Logos, wie sie seiner Diagnose nach ihren prägnantesten Ausdruck in der Philosophie des deutschen Idealismus fand. Dass er, obwohl er sich im Stern der Erlösung nicht um Beweise bemüht, sondern die Aussagekraft des Plakativen in ganzem Umfang in Anspruch nimmt, mit ihr sehr vertraut gewesen ist, geht aus zwei biographischen Details hervor: 1917 veröffentlichte er Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus und drei Jahre später promovierte er zu dem Thema Hegel und der Staat. Wie klingt nun die Rehabilitierung der Welt in der sprachlichen Intonation Franz Rosenzweigs? «Aber das Bestürzende der Welt ist ja, daß sie nicht Geist ist. Es ist etwas andres noch in ihr, etwas immer Neues, Drängendes, Überwältigendes. […] Stein und Pflanze, Staat und Kunst – unaufhörlich erneut sich das Gebild.»435 Vor diesem Hintergrund wirkt seine Zurückweisung des Gedankens vom «reinen Sein» noch immer provokativ, wird jedoch für uns, die wir es vielleicht noch nicht wagen, ihn aufzugeben, nachvollziehbar:
«Das Dasein in seiner Allgemeinheit und allerfassenden Formhaftigkeit bleibt der unmittelbar geschaffene Grund, der ‹Anfang›, aus dem die immerneuen Geburten der Fülle hervorschießen. Die Welt kann Fülle sein, weil sie ist; das Dasein ist sie selbst, die Fülle ist ihre Erscheinung, die erste aller Aussagen über das Dasein.» Der Stern der Erlösung, II, I, S.148. 435 Der Stern der Erlösung, I, I, S.48. 434
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Daß das leere Sein, das Sein vor dem Denken, in dem kurzen kaum greifbaren Augenblick, ehe es Sein für das Denken wird, dem Nichts gleich sei, das gehört ebenfalls zu den Erkenntnissen, die die ganze Geschichte der Philosophie von ihren ersten Anfängen in Jonien bis zu ihrem Ausgang in Hegel begleitet. Dies Nichts blieb ebenso unfruchtbar wie das reine Sein. Die Philosophie hub erst an, wo sich das Denken dem Sein vermählte. Eben ihr versagen wir, und eben hier, unsre Gefolgschaft.436
Die entschiedene Ablehnung des Gedankens vom reinen Sein, die Rosenzweig sogar zur Distanzierung jener Form von Philosophie veranlasst, die auf dessen Denken beruht, könnte für Verwirrung sorgen. Ähnelt dieser Gedanke nicht allzu deutlich seiner Deutung vom Da-sein, jenes Grundes, aus dem Welt gestaltet wird? Dass das keineswegs der Fall ist, wird aus dem Satz ersichtlich, der auf die zitierten Zeilen folgt: «Wir suchen nach Immerwährendem, das nicht des Denkens bedarf, um zu sein.» Dieses Immerwährende ist nichts anderes als das Dasein, das auch als Vorfindlichkeit im Sein bezeichnet werden kann. Es ist nicht Produkt logischer Begründung, sondern, nach Rosenzweigs Auffassung, Werk göttlicher Schöpfung, in sich unabgeschlossen und daher der Gestaltung bedürftig, deren Formung als infiniter Prozess zu verstehen ist. Dass hierfür das entwerfende Denken erforderlich ist, beeinträchtigt nicht Rosenzweigs Zurückweisung der Identifizierung von Denken und Sein, die er der Philosophie vorwirft. Denn dort wird seiner Interpretation nach Sein im Denken fassbar, wohingegen es in Wahrheit, jener sich bewährenden Wahrheit, für die er eintritt, in Erscheinung tritt. Es ist keineswegs Zufall, dass nun schon zum wiederholten Male im Kontext der Überlegungen zur Existenzphilosophie der Begriff der Erscheinung zum Tragen kommt. Die wohl detaillierteste Darlegung hierzu findet sich in Heinrich Barths Erkenntnis der Existenz, wo sie als Ausdruck der Individuen in der Existenz vorgestellt wurde. Das Motiv des von Angesicht zu Angesicht, dem im Werk des Emmanuel Lévinas zentrale Bedeutung zukommt, wäre letztlich undenkbar, wenn in der physischen Präsentation des Anderen, die sich in diesem Augenblick der Konfrontation ereignet, nicht Alterität als solche in Erscheinung treten würde. Das Außerordentliche, das in diesem Geschehnis-Moment stattfindet, betont Lévinas durch den Ausdruck der Epiphanie, der ursprünglich – und auch in seiner Deutung – auf die Anwesenheit des absolut Anderen in der Erscheinung des Göttlichen verweist. Im Gegensatz zur Auffassung Heinrich Barths ist hier allerdings keine vorgängige Entscheidung zur Existenz erforderlich, da sie letztlich die Erscheinung des Anderen eher beeinträchtigen würde. Der Entscheidung läge das Kriterium individuellen Abwägens des Sein-Sollens zugrunde, das auf eine willentlich gefasste Vorstellung des zukünftigen Seins abzielt. Die Präsentation der Andersheit, die Lévinas auch mit dem Begriff der Nacktheit umschreibt, geschieht unabhängig von jeder Planung, sie ereignet sich mit der unmittelbaren 436
Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S.22. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Kraft der Offenbarung. Gerade deshalb kann davon ausgegangen werden, dass das Angesicht den Anderen in seiner unverstellten Anwesenheit in Erscheinung treten lässt, einer Weise, die dem existenzphilosophischen Gedanken der Eigentlichkeit noch vorausgeht. Diese Anwesenheit ist elementarer Natur, nicht korrigierbar und doch in jedem Augenblick reinste Erscheinung der Alterität. Und gerade weil nicht dieser oder jener Andere in Erscheinung tritt, sondern tatsächlich die Vorstellung von Andersheit in ihrer absoluten Dimension, kann die existenzphilosophische Suche nach der Eigentlichkeit fast nur als Gefährdung dieser puren Erscheinung aufgefasst werden. Denn dort geht es, wie sich gezeigt hat, darum, dass der Einzelne zu sich selbst findet. Auch wenn sich der Gedanke des Selbst als essentiell stereotyp erwiesen hat, ist doch der Weg, der zu dessen Verwirklichung führt, individuell zu gehen. Ein vergleichbarer Gedanke findet sich in den Schriften des Emmanuel Lévinas nicht. Festzuhalten bleibt jedoch, dass das In-Erscheinung-Treten auch in seiner Konzeption Gewähr für ethisches Geschehen ist. Der Hinweis, den diese Erwähnungen des Erscheinens geben, ist besonders aufschlussreich. Denn er gibt zu verstehen, dass sich im Zuge der existentiellen Bewegung etwas im Menschen verändert, oder anders formuliert: dass sich der Mensch verändert. Entscheidend ist, dass diese Veränderung sich nur in Momenten unmittelbarer Begegnung erschließt. Dieses sind Momente des Erscheinens. Es wird zu fragen sein, ob diese nicht in dem Augenblick, in dem sie nicht mehr vor religiösem Hintergrund betrachtet werden, den größten Teil ihres Erschließungscharakters einbüßen und zu Formen bloßen Verständnisses verkümmern, die auch durch andere Erfahrungen ausgelöst werden könnten? Bevor dieser Frage nachgegangen werden kann, ist als Befund des Rückblickens auf die betrachteten Formen des Seins-Denkens beziehungsweise seiner Kritik festzuhalten: Nur die Konzeption Martin Heideggers gibt einen bedenkenswerten Anhaltspunkt für die weiteren Überlegungen. Grundlage dafür ist zweierlei: zum einen seine Vorstellung des veränderbaren Seins, wie es in der ikonischen Schreibweise des Seyns zum Ausdruck kommt, und zum anderen der Blick auf die Dinglichkeit im Sein. Beide Gedanken können bereits im Werk des Franz Rosenzweig nachgewiesen werden, was eventuell zu Vermutungen Anlass gibt, warum sein Denken nicht in weitaus umfangreicherem Maß berücksichtigt wurde. Es gilt, das Phänomen «Existenzphilosophie» so zu betrachten, wie es bisher auch in den uns vorliegenden Interpretationen präsentiert wird. Die Suche nach verbindenden Elementen stand dabei im Mittelpunkt, um eine möglichst tragfähige Deutung des Begriffes der Existenz herausarbeiten zu können. Franz Rosenzweigs Denken ist, wie vielleicht bereits die wenigen hier vorgenommenen Bezüge zeigen, für das Verständnis der Entwicklung des existentiellen Denkens unverzichtbar, steht jedoch nicht als voll entfaltetes System der Existenz vor uns. Denn trotz aller Konzentration auf die Thematik des Seins ist es, Rosenzweigs eigenen Worten zum Trotz, als Zeugnis religiösen Denkens zu lesen. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
In Erscheinung
In Erscheinung In seine Darlegungen zum Begriff der Erscheinung einführend notiert Heinrich Barth: «In der Existenzphilosophie wird aber die uralte Erkenntnis lebendig, daß es mit dem Menschen im Vergleich zu den kosmischen Realitäten eine besondere Bewandtnis hat.»437 Das Lebendig-Werden dieser Erkenntnis ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen, denn genau diese Vorstellung liegt seiner Auffassung von Existenz zugrunde: «Die Philosophie der Existenz bezieht sich auf Erscheinung, sofern sie, in Korrespondenz mit ‹exsistere›, in einer Bewegtheit gedacht wird. Nicht in einer beliebigen Bewegtheit, also etwa in derjenigen des bloßen ‹Vorgangs›!»438 Die Auffassung der existentiellen Bewegung ist uns bereits mehrfach begegnet. Der Grund dafür, dass Barth dem Gedanken der Bewegtheit so große Aufmerksamkeit schenkt, liegt darin, dass er das Existieren vom Sein unterscheiden und ihm dementsprechend Aussagekraft zur Kennzeichnung menschlichen Seins verleihen will. Denn mit der Bewegung des Existierens gehen zwei seiner Auffassung nach wesentliche Kriterien zur Bestimmung dieses Seins einher: das Faktum, das in ihr der «Schritt in die Zukunft» erfolge, der das Sollen des dann Eintretenden bedingt, und die Überzeugung, dass dieser Schritt Folge menschlichen Entscheidens sei. Hier kommt dem Begriff der Erscheinung seine Bedeutung zu, insofern «Der Akt der Existenz als solcher […] ein Eintreten von dem, was ‹nicht ist› in das, ‹was ist›, eben als ein Eintreten in die Erscheinung [bedeutet].»439 Deren Besonderheit charakterisiert er wie folgt: ‹Erscheinung› ist nicht ein ‹Zum-Vorschein-Kommen›, nämlich von etwas, das bisher hinter der Oberfläche des Phänomenalen verborgen war. Wohl aber läßt sie Sinn und Bedeutung erscheinen, darin, daß sie als eidetisch bestimmte Erscheinung erscheint. Nicht steht der Mensch irgendwie hinter dem, worin er in die Erscheinung tritt. Wohl aber ist dieses In-die-Erscheinung-Treten sinn-und bedeutungsvolle Erscheinung, als die durch den Begriff des ‹Menschen› primär bestimmt ist.440
Aus einem ganz bestimmten Grund wird an dieser Stelle der Blick auf den Begriff der Erscheinung gelenkt, was auch das nochmalige Nachschlagen in Heinrich Barths Erkenntnis der Existenz verlangt. Die Beobachtung, dass dieser Terminus nicht nur dort reflektiert wird, sondern offenbar im Kontext des existentiellen Denkens relevant ist, wirft die Frage auf, was an ihm zu erkennen ist. Die zitierten Zeilen verweisen in großer Klarheit darauf, dass zumindest nach Barths Auffassung nicht eine beliebige Personhaftigkeit in Erscheinung tritt, sondern die Weise, in der der Mensch seiner Wesensbestimmung gerecht wird. Warum ist 437 438 439 440
Erkenntnis der Existenz, S.83. Erkenntnis der Existenz, S.117. Erkenntnis der Existenz, S.118. Erkenntnis der Existenz, S.114. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nicht die Rede davon, dass diese Wesensbestimmung schlechthin erscheine? Weil sie der Umsetzung durch den Menschen bedarf, um erkennbar werden zu können. So könnte in einer Doppelung der Bedeutung davon gesprochen werden, dass dieser die Erfüllung seiner essentiellen Bestimmtheit zum Ausdruck bringt. Denn, so notiert Barth: «In der Philosophie der Existenz geht es ! streng genommen – nicht um ‹Existenz›, sondern um ‹Existieren›.»441 In uns als Erscheinendem muss sich also etwas ausdrücken, was auf dieses Existieren schließen lässt. Denn das stellt sich unseren Überlegungen sofort äußerst sperrig in den Weg: Mit dem Hinweis auf das In-Erscheinung-Treten des Existierens ist noch in keiner Weise geklärt, wie dieses zu verstehen sei. Auch für Heinrich Barth stellt es offensichtlich eine nicht unerhebliche argumentative Hürde dar, das In-Erscheinung-Tretende zu erläutern. Denn dass es nicht primär das Phänomen «Mensch» ist, das in der momenthaften Präsentation seines Seins hierfür in Frage kommt, geht aus seiner Bemerkung hervor, dass die Erscheinung nicht Eidos sei, aber «die Frage nach der eidetischen Bestimmung» in sich trage.442 Dasjenige, das erscheint, und seine Bedeutung weichen mithin voneinander ab. Wird diese Auffassung in den ursprünglich relevanten Kontext übertragen, in dem es überhaupt Sinn macht, nach dem In-ErscheinungTreten zu fragen, verschiebt sich die Perspektive von der Fokussierung des ‹Was› zum ‹Wie› des Erscheinens. In welcher Weise wird erfassbar, dass es sich bei dem In-Erscheinung-Tretenden um einen Menschen im Vollzug seines Existierens handelt? Unverzichtbar ist für Barth an diesem Punkt der Hinweis auf die Geschehnishaftigkeit des Existierens. Denn: «Indem auf solchem Akte [des Eintretens eines zuvor nicht Gewesenen] alle Existenz in ihrem ‹ex-sistere› beruht, unterscheidet sie sich von einem bloßen ‹Vorhanden-Sein›.»443Diese erneute Feststellung ist für Barth deshalb wichtig, weil es das menschliche Sein von eben dieser Vorstellung bloßen Vorhandenseins zu unterscheiden gilt. Dieses mag sich in Vorgängen der Veränderung befinden, die jedoch niemals Barths Erwartung an die existentielle Bewegung erfüllen könnten. Anhand der Differenzierung der Begriffe «Verlauf» und «Ereignis» versucht er, Klarheit in der Sicht auf diese Bewegung zu schaffen. Mit dem ‹Verlaufe› ist gemeint eine Veränderung von etwas in seiner räumlichen und in seiner zeitlichen Bestimmung, während unter einem ‹Ereignis› ein Geschehen von ‹existentieller› Bedeutung verstanden wird. […] Der Akt oder das Ereignis der Existenz oder des In-die-Erscheinung-Tretens beruht auf einer ‹Antezendenz›, die für die Existenz zur Sache einer ›Antezipation› wird.444
441 442 443 444
Erkenntnis der Existenz, S.117. Erkenntnis der Existenz, S.93. Erkenntnis der Existenz, S.118. Erkenntnis der Existenz, S.118. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
In Erscheinung
Bereits in anderem Zusammenhang wurde auf die Bedeutung jenes Sein-Sollens geschaut, die Barth dem Entwerfen in das ‹Noch-Nicht› der Zukunft zuschreibt. Hierin geht die existentielle Bewegung über jede andere Form bloßer Bewegtheit hinaus, weshalb auch vom «Geschehen der Existenz» die Rede ist.445 In ihm unterscheiden sich das Stattfinden als solches und dessen Bedeutung, deren Berücksichtigung für die Klärung des Begriffes der Erscheinung von besonderer Relevanz ist. Denn in ihr findet sich Aufschluss über das Wesentliche des Menschen, das in der Erscheinung seiner Existenz greifbar wird. Wenn Barth in diesem Sinne von Erscheinung spricht, dann ist es im Grunde nicht der Mensch als dieses Individuum, sondern seine Wesensbestimmung.446 Fraglich könnte vor diesem Hintergrund möglicherweise bleiben, worin sich das antizipierende Existieren von solchen Planungen abhebt, die wir in pragmatischer Ausrichtung andauernd treffen? Stellen nicht auch sie Entscheidungen dar, die über das zukünftig Vorzustellende befinden? Stellt der Gedanke der Bewegung, der für Barth in so engem Zusammenhang zum Gedanken des Existierens steht, denn tatsächlich ein eindeutig von nicht-existentiell bedeutsamen Formen der Veränderung zu differenzierendes Kriterium dar? Im Text heißt es: Der Mensch begegnet seinerseits als ‹phainomenon›. Nur liegt es nicht in der Dimension des kosmischen Seins. Er ‹tritt in die Erscheinung› als biologisches Wesen, als individuelle, soziale, politische, geschichtliche, kulturelle Existenz. In Handlung und Haltung, in Tun und Leiden werden die Weisen der Aktualisierung menschlicher Existenz der sinnlichen Erfahrung gegenwärtig.447
Der letzte Satz ist bereits an früherer Stelle zitiert worden. Das wirft vielleicht die Frage auf, warum in diesem Teil der Darstellung, die der Reflexion des SeinsDenkens gewidmet ist, noch einmal auf einen Aspekt zurückgeblickt wird, der ursprünglich im Kontext der Existenz-Deutung hätte thematisiert werden müssen. Der Grund ist schnell benannt, so dass zur aktuellen Überlegung zurückgekehrt werden kann: Da der Gedanke des Seins-Wandels die folgenden Seiten durchziehen wird, ist die Frage relevant, wie dieser sich ausdrückt. Hier kommt das Motiv der Erscheinung ins Spiel. Nur über das In-Erscheinung-Treten der Existenz können Rückschlüsse auf den Seins-Status getroffen werden. Denn, und damit schwenken die Erwägungen zur zitierten Textpassage, «Handlung und Haltung» können nicht als folgenlose Indikatoren existentiellen Geschehens ver«Es [das Existere] ‹ist› nicht in demselben Sinne, wie ein Sachverhalt ‹ist›. Die Ist-Aussage kann sich wohl auf die Aktualisierung menschlicher Existenz beziehen. Aber dieses ‹ist› zeigt nicht in einem integralen Sinne die aktuelle Bedeutung des Geschehens an, von dem die Rede ist: des Geschehens der Existenz.» Erkenntnis der Existenz, S.86. 446 «Eben darum, weil die Erscheinung eindeutig nicht Eidos ist, aber die Frage nach der eidetischen Bestimmung in sich schließt, […].» Erkenntnis der Existenz, S.93. 447 Erkenntnis der Existenz, S.106. 445
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standen werden, auch wenn es in obigen Zeilen vielleicht ein wenig so wirken mag. Dort geht es um die Klärung der Weise, in der wir der Existenz beziehungsweise nach Barths Präzisierung des Existierens gewahr werden. Die Bedeutung von Handlung und Haltung für diesen Nachweis steht daher im Mittelpunkt. Deren Auswirkungen auf die Verfassung im Sein rückt in diesem Moment in den Hintergrund. Doch die gerade angesprochene Frage nach der tatsächlichen Unterscheidung von «Ereignis» und «Vorgang», auf die Barth seine Erklärung der existentiellen Bewegung aufbaut, steht noch vor uns. Wir handeln zweckgerichtet zur Verwirklichung von Planung und Wunsch und wir handeln im Sinne existentieller Bedeutung. In beiden Fällen folgt ein zuvor nicht Bestehendes auf vorauslaufende Beschlüsse des Menschen, denen im einen Fall unter dem Begriff der Entscheidung eidetische Bedeutung zukommen soll. Genau hier bietet sich die Möglichkeit der Beantwortung. Es können unmöglich Handlung und Haltung als solche sein, an denen sich die beiden Relevanzbereiche unterscheiden lassen. Genau genommen kann es nicht einmal der entscheidende und wählende Mensch selbst sein, der diese Differenzierung wissentlich und willentlich vollzieht. Auf das Vorweg-Nehmen eines noch nicht Bestehenden hat Heinrich Barth hingewiesen, um das Funktionieren existentieller Entscheidung zu erläutern. Bereits an diesem Punkt würde die gerade formulierte Frage ansetzen und nach der Besonderheit dieses in die Zukunft vorgreifenden Aktes suchen. Im Kontext seiner Diskussion des Erscheinungs-Gedankens geht Barth nun aber in derselben argumentativen Richtung einen Schritt weiter und erklärt das Sich-Zeigen eines Noch-Nicht-Erkennbaren als Wesen existentiellen In-Erscheinung-Tretens. Im Vollziehen der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, vollzieht sich die Möglichkeit des Menschen, Entscheidungen treffen zu können. Diese Formulierung klingt vermutlich wenig originell. Ihre Aussage ist jedoch eindeutig: Indem wir Sein-Können in Sein-Sollen verwandeln, bestätigen wir unser menschliches Sein. Dieses besteht nach Auffassung Heinrich Barths darin, existierend die Statik des bloßen Vorhanden-Seins in die Bewegtheit des Seins-Vollzuges zu transponieren. Es ist dieses Faktum, dass sich im Erscheinen erschließt. Der Begriff des «Antezedenz», des Vorausgehenden, scheint freilich in eine gedankliche Sackgasse zu führen. Müsste nicht auch nach dem Grund des Grundes gefragt werden, also danach, warum dem Menschen eine Seins-Weise eignet, die nur ihm zukommt? Doch an diesem Punkt laufen die Überlegungen zwangsläufig ins Leere, will man sich nicht auf Suche nach Ursache und Bestimmung des Seins begeben. Für die aktuell anstehende Frage, worin sich «Ereignis» und «Verlauf» unterscheiden, zeigt sich nun die Erklärung. Sie unterscheiden sich nicht an sich, sondern in der Bedeutung, die ihnen vom Menschen zugewiesen wird. Denn dieser beschließt, im Ereignis ausgezeichnetes Merkmal menschlichen Seins erkennen zu wollen, und zwar dergestalt, dass sich der Mensch sein macht. Hierin liegt die Besonderheit des Existenz-Gedankens, an der nicht nur Heinrich Barth, sondern auch Martin Heidegger und Karl Jaspers in relativer Einmütigkeit festhalten. Sich sein https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
In Erscheinung
machen besagt, dass ein Entwurf bestimmten Seins eigener Gültigkeit und eigener Verantwortung möglich ist, der als Wesensbestimmung des Menschen deklariert werden kann: Die entwerfende Vorwegnahme eines Sein-Sollenden ist das entscheidende Merkmal der existentiellen Bewegung. So ergibt sich nun: In-die-Erscheinung-Treten der Existenz ist Gegenwärtig-Werden der im Entwurfe antezipierten Erscheinung ! der in diesem Sinne ‹zukünftigen› Erscheinung. Akt und Ereignis ist das Eintreten entworfenen, und insofern sein-sollenden zukünftigen Seins in die phänomenale Gegenwart.448
In diesem Sinne kann auf der Grundlage des Denkens Heinrich Barths von einem Seins-Wandel gesprochen werden, da sich Existenz als menschlich geprägtes Sein zu erkennen gibt, so sollte man meinen, doch zeigt sich sofort, dass diese Wortwahl bereits einen Schritt zu weit geht. Denn es ist nicht exakt geprägtes Sein, das so in Erscheinung tritt, sondern das menschliche Vermögen, sich existierend in der Weise je eigener Ursächlichkeit sein zu machen. Bei dieser Umdeutung handelt es sich nicht um begriffliche Spitzfindigkeit, sondern um eine unverzichtbare Differenzierung. Für Barth steht tatsächlich der Gedanke im Vordergrund, das im Erscheinen ein Erfassen der Wesensbestimmung des Menschen erfolgen kann, dessen Sein er von Anfang an allem übrigen Sein kontrastiert hatte. Eine darüber hinausgreifende Relevanz besteht für ihn in diesem Moment nicht. Damit bestätigt sich der bereits erwähnte Eindruck, dass existentielles Denken, und in diesem Fall das Denken Heinrich Barths, vorrangig an der Explikation menschlichen Sein-Könnens interessiert ist. Der Schritt über diesen Anspruch hinaus, wonach sich im Erscheinen menschlich geprägtes Sein zu erkennen gibt, stellt die Auffassung der vorliegenden Überlegungen dar. Er bedeutet jedoch tatsächlich eine grundsätzliche Erweiterung der Perspektive, in der nach Existenz zu fragen ist. Bereits mehrfach wurde diese Ausweitung angesprochen: Existenzphilosophie heute kann sich nicht mehr mit dem Ertrag begnügen, den frühere Konzeptionen erbracht haben, indem sie auf diese zweifellos einzigartige Selbst-Bildungs-Fähigkeit des Menschen hinwiesen. Der zu seiner Zeit innovative Ansatz bleibt als herausragender Moment philosophischer Selbst-Korrektur unerreicht. Heute gilt es allerdings zu fragen, wozu diese Fähigkeit führt und führen kann, wenn sie nicht nur im Fokus des Existenz-Verständnisses, sondern des Seins-Denkens reflektiert wird. An der Diskussion des Gedankens des In-Erscheinung-Tretens, die Heinrich Barth in der seinen Texten eigenen Bedachtheit vornimmt, ist die grundsätzliche Schwierigkeit buchstäblich abzulesen, wie wir zum Verstehen der existentiellen Bewegung gelangen. Als Geschehnis der Selbst-Reflexion ist sie gewiss leichter zu fassen als in jener Form, die aus einer äußeren Perspektive zu erkennen ist. Für ihn stellt dieser Aspekt, wie bereits mehrfach betont wurde, nicht das vorrangige 448
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Thema dar, so dass seine Aussagen hierzu umso mehr von einem seltenen Weitblick innerhalb der Existenzphilosophie Zeugnis ablegen. Eine annähernd vergleichbare Bereitschaft, zumindest partiell die Selbst-Reflexion auf ihre Folgen zu befragen, findet sich allenfalls noch im Denken von Karl Jaspers. Martin Heidegger stellt zwar das große Thema des Seins-Wandels in den Mittelpunkt seiner Erörterungen, bewegt sich dabei aber selbst in seinen späteren Verlautbarungen auf theoretisierender Ebene, die leider – und dieses Bedauern ist immens – allzu selten den Übergang in eine Beschreibung des tatsächlichen Geschehens des Wandels findet. Damit wird wohlgemerkt nicht auf eine vielleicht wünschenswerte Berücksichtigung des Aspektes der Umsetzung in «Handeln und Haltung» angespielt, wie sie Grundlage einer präskriptiven Aussagestruktur sein könnte, sondern auf die Ermöglichung, auch nur für wenige Augenblicke der suggestiven Kraft seiner Texte zu entkommen, um über deren tatsächliche Bedeutung befinden zu können. Denn das sollte nach den hier vorgestellten interpretativen Ansätzen deutlich geworden sein: Sie schöpfen das Maß des Interpretierbaren, das seine Schriften überhaupt nur zulassen, bis zum äußersten Rahmen aus. Sie plädieren schließlich für die Identifizierung von Selbst-Wandel und Seins-Wandel in der Entschlossenheit, diesem Letzteren existentielle Bedeutung zu attestieren. Eine solche wäre jedoch nur dann erreichbar, wenn glaubhaft vermittelt werden könnte, dass Heideggers Denken in späteren Jahren tatsächlich jene Hinwendung zu Welt und Dinghaftigkeit als Anzeige aktuellen Verhaltens vollzogen hat. Ein Beleg, dass es sich nicht um eine allzu wohlwollende, doch letzten Endes zu einseitige Deutung seiner Aussagen handelt, konnte bereits unter Hinweis auf das Strukturmodell des Gevierts ausgemacht werden. Das stärkste Indiz dafür, diese Interpretation wirklich vertreten zu können, findet sich in seinem Denktagebuch mit dem Titel Vigiliae und Notturno aus den Jahren 1952 bis 1957. Dass es für diesen relativ späten Moment der Darstellung aufgespart wurde, hat guten Grund. Denn nun, da der Blick in unverstellter Weise auf den Gedanken einer Veränderbarkeit des Seins-Denkens gerichtet wird, ist jede Hilfe willkommen, die den bisherigen Gedanken rechtfertigt. Wie in keinem anderen seiner Texte fokussiert Heidegger dort den Gedanken des Verhältnisses, oftmals auch als «Ver-hältnis» oder sogar nur noch in emblematischer Form als «V.-H.» notiert. Darin vereinen sich die Bilder von Bezug und Haltung, die in ihrer Kombination auf jene Aufgabe verweisen, die dem Menschen als demjenigen Wesen zufällt, das selbst eines Wandels fähig ist. Die Veränderung im Denken ist bereits angesprochen worden, die in der Abkehr vom vorstellenden und der Hinwendung zum schonenden Denken gesehen wird. Letzteres bezeichnet Heidegger auch als das «ent-sagende» Denken. Auch in diesem Ausdruck vereinen sich zwei Bedeutungen unterschiedlicher Provenienz: das Verzicht-Üben und die Sage. Verzicht-Üben erscheint als Enthaltung des vorstellenden Denkens und in der Sage wird die einzig angemessene Form des Ausdrucks von Seyn gesehen, da sie keine Mitteilung ist, sondern, als das Sagen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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schlechthin, reine Artikulation des Seins-Denkens. Nur fast beiläufig kann an dieser Stelle auf die Nähe zur Verwendung des Motivs der Sage hingewiesen, die die Schriften des Emmanuel Lévinas zeigen. Unter Heideggers Notizen aus dem Jahr 1954 findet sich auch diese: «Das ent-sagende Denken lehrt kein neues Prinzip, denn es lehrt überhaupt kein Prinzip. […] Es ist Weg – ist: Bauen der Be-wegung des Ereignisses – in dessen Vereignung.»449 Aus der Ferne erinnert diese Formulierung an die Auffassung von Heinrich Barth, wonach die existentielle Bewegung Wesensbestimmung des Menschen sei. Dass den Motiven des Weges und des Unterwegs-Seins im Heideggerschen Denken eine besondere Stellung zukommt, stellt wohl eine der offensichtlichen Tatsachen dar, für deren Beleg nur an seine kleine, doch so bedeutsame Schrift vom Feldweg erinnert zu werden braucht. In den Vigiliae heißt es auch: «Solches Ent-sagen ist das bereitende Bauen der Wege in das Wohnen der Sterblichen im Gebirg des Ver-Hältnisses. Die aus dem Denken Sagenden sind Wegebauer.»450 Allein die Metaphorik des Wohnens würde eine eigene Untersuchung erfordern. Für den aktuellen Kontext genügt die Übertragung in das Verstehen des Seins im Verhältnis, da das Wohnen das sich Einrichten im Seyn, also dem relationalen Sein, meint. Die mit dem Bild des Wege-Bauens illustrierte Bestimmung des Menschen ereignet sich im Denken. Wichtig ist dabei, dass diesem dadurch eine neue Wesensbestimmung zugewiesen wird, die ihm nicht seit jeher eignet. Sie wird erforderlich, da wir Heideggers Überzeugung nach das ursprüngliche Denken des Seins verlernten: «Die Verwandlung des Menschenwesens bedeutet keine vereinzelnde Herausstellung des Menschen auf irgendeine Art von Humanismus. Die Verwandlung des Menschenwesens ereignet sich im Ereignis als ereignendem Brauch. Demgemäß ist das Menschenwesen benötigter denn je zuvor, […].»451 In der Geschichte der philosophischen Wesensvorstellung ist dieses der wahrscheinlich einzige Fall, in dem das Wesen des Menschen neu bestimmt wird. Die Notwendigkeit hierfür resultiert aus dem Versäumnis der Seins-Verhaltung. Diese wenigen Bemerkungen mögen ausreichen, um an dieser Stelle zu bestätigen, dass der Gedanke des Seins-Wandels, der nun als Wandel des Menschen-Wesens erkennbar wird, Heideggers Seins-Denken doch die Möglichkeit der Relevanz im Konkreten attestiert. Ausgangspunkt dieser Detailansicht war die Frage, ob der Vollzug der existentiellen Bewegung erkennbar ist und zwar nicht für denjenigen, der sie erlebt, sondern denjenigen, der nach ihren Anzeichen sucht. Sie tritt in Erscheinung, so konstatierte Heinrich Barth, doch noch immer lastet Zweifel auf diesem Gedanken. Ist das Entwerfen eines Sein-Sollens ihr Merkmal, kann noch immer bestritten werden, dass darin tatsächlich eine spezifisch existentielle Bewegung zu sehen 449 450 451
Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.179. Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.136. Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.136. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sei. Über die bereits formulierte Lösung dieser Schwierigkeit wird kaum hinaus zu denken sein. Nicht die Bewegung als solche weist sich nach Barths Verständnis als existentiell aus, sondern sie erscheint dem Betrachter als solche. Doch wirklich befriedigend ist dieser Erklärungsversuch nicht. Es braucht einen Maßstab, an dem sich ablesen lässt, wann wir bereit sind, Handlung und Haltung als existentiell anzuerkennen. Martin Heideggers Auffassung vom Wandel des Menschenwesens bietet in dieser Hinsicht zumindest den Vorteil einer solchen Ablesbarkeit in der Unterscheidung vorstellenden und schonenden Denkens, zwei Formen des Denkens, die sich an den aus ihnen entstehenden Folgen differenzieren lassen. Das im Grunde einzige wirkliche Beispiel, das seinen Namen erfüllt und Veranschaulichung des Gedachten ist, findet sich in dem bereits erwähnten Vortrag Bauen. Wohnen. Denken aus dem Jahr 1951. Dort heißt es: «Die Brücke schwingt sich ‹leicht und kräftig› über den Strom. Sie verbindet nicht nur schon vorhandene Ufer. Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor. […] Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich.»452 Mit den letzten Worten wird das Strukturmodell des Gevierts an– und ausgesprochen, das Heideggers Gedanken des Verweisungscharakters des Seins in der typographischen Form der Vierung darstellt. Existentielles Denken läge demnach dann vor, wenn wir dieses Bauwerk nicht nur unter dem Aspekt seines praktischen Nutzens wahrnehmen, sondern als Ding, das die Bezogenheit aller im Sein spiegelt. Stärker als in der Trennung der Vorstellungen von theoretischer und praktischer Vernunft begegnet uns in der Differenzierung von existentieller Bewegung und deren Folgen die Frage nach der Relevanz des Verwirklichungsaspektes. Diese Feststellung mag insofern widersinnig anmuten, da doch bisher die Bewegung der Existenz selbst als Verwirklichungsmoment des menschlichen Sein-Könnens angesehen wurde. Und nun tritt die Überlegung verstärkt in den Vordergrund, ob nicht auch dieser Moment seinerseits auf seine Folgen befragt und, was noch sehr viel wichtiger ist, an ihnen gemessen werden kann. Damit werden wir für einen kurzen Augenblick auf die Frage zurückgeworfen, wie sich der Einzelne seines erfüllten Selbst-Seins vergewissern kann. Oder zeugt bereits diese Erwägung von einer zu stark Nutzen-orientierten Sichtweise? Um den Nutzen der existentiellen Bewegung geht es bei dieser Überlegung noch nicht, sehr wohl aber um ein nach dem gegenwärtigen Stand der Betrachtung unverzichtbares Anliegen. Wenn diese Bewegung der Verwirklichung der menschlichen Seins-Weise, die ihm kraft seiner Wesensbestimmung eignet, der Erfüllung dieser essentiellen Bestimmung dient oder sogar mit ihr identisch ist, müsste von einem Maß ihrer Erfüllung auszugehen sein. Ein Blick auf die klassische Wesensbestimmung, wie sie von der Philosophie unserer Tradition vorgenommen wurde, kann diesen Gedanken nachvollziehbarer erscheinen lassen. Als animal rationale steht dem 452
Bauen. Wohnen. Denken, in: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), S.155. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Menschen stets vor Augen, in der Betätigung welchen Vermögens er dieser Definition am klarsten entspricht. In Situationen, die eine Stellungnahme oder eine Entscheidung erfordern, oder auch in Momenten, in denen die emotionale Betroffenheit den Menschen zu überwältigen droht, kann die Erinnerung daran helfen, dass Verhalten gemäß den Vorgaben der Vernunft uns entspricht. Das Spektrum möglicher Geltungsfelder, in denen diese Erinnerung sich als vorteilhaft erweist, ist erstaunlich vielfältig, wie allein die beiden angesprochenen Bereiche belegen. Entscheidender Vorzug einer Wesensbestimmung unter Hinweis auf die dem Menschen allein verfügbaren Fähigkeit der Vernunft ist es, dass damit sofort ein Ausschluss solcher Vermögen einhergeht, deren Nutzung dieser Bestimmung nicht entspricht oder zumindest nur in dem Umfang, in dem sie einer Prüfung durch die Vernunft standhalten könnten. Der Übergang von Fähigkeiten zu Eigenschaften ist in diesem Rahmen der zurückgesetzten Vermögen fließend. So könnte die Betätigung von Kreativität oder Empathie, Intuition oder Phantasie, Verantwortungsbewusstsein oder Nächstenliebe zwar als an sich wünschenswert beurteilt werden, womit nach der Definition der Vernunftbegabtheit jedoch nicht zwangsläufig eine Entsprechung der Wesensbestimmung einhergehen würde. Zweifellos handelt es sich bei allen sechs genannten Merkmalen um exquisite Kennzeichnungen des Menschen, die grundsätzlich ebenso gut zur Akzentuierung seiner Besonderheit hätte taugen können. Dass die Wahl gerade auf die Vernunft fiel, mag an ihren eben erwähnten vielfältigen Einsatzmöglichkeiten liegen. Diese wären bei jeder der anderen potentiellen Bestimmungen nicht einmal ansatzweise vergleichbar gegeben. So charmant die Vorstellung eines Menschenbildes auch ist, das etwa auf seiner Fähigkeit der Kreativität beruht, muss diese sich doch sehr schnell der harten Realität anpassen. Denn wie sollte diese zum Beispiel in Fragen der Gesellschaft oder der Politik als Normen diktierend wirken? Mit dem Gedanken der Existenz tritt ihre Philosophie an, um diese Wesensbestimmung zu modifizieren. Die Fähigkeit selbst verursachenden Seins in Form der Existenz wird als essentiell kennzeichnend betrachtet, womit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten Einlass in das Denken gewährt wird. Einige wurden im ersten Teil dieser Überlegungen erwähnt. Hier ist eine weitere zu benennen, für deren Lösung ein Seins-Begriff von zentraler Bedeutung sein wird. Daher die Thematisierung an dieser Stelle. Wenn von einem Seins-Begriff die Rede ist, kündigt sich darin bereits an, dass keine Erörterung im Konzeptualisierungsrahmen klassischer Ontologie zu erwarten ist. Die Schwierigkeit, die nun angesichts der Vorstellung von Existenz hervortritt, besteht in der Frage nach der Ausrichtung ihrer Bewegung. Partiell klang diese Überlegung bereits an, wird aber nun, da sie im Kontext der Folgenabschätzung existentieller Bewegung thematisiert wird, noch sehr viel plastischer sichtbar. Zur Verdeutlichung des Problemzusammenhanges sei daran erinnert, dass es noch um den Gedanken der Erscheinung als Ausdrucksweise gelingender Existenz geht. Warum wird diese Präzisierung vorgenommen, wird dadurch doch der Eindruck erweckt, es könne auch Existenz im https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Scheitern geben? Die Frage nach ‹richtigem› oder ‹falschem› Existieren hat sich bisher mit Recht nicht gestellt. Dieses rechtfertigt sich allein dadurch, dass es als charakteristische Aktionsform des Menschen angesehen wird. Jede Bewegung, die in ihrem Sinne erfolgt, muss damit zwangsläufig als angemessen angesehen werden, so wäre zu folgern. Und genau hier bricht die angekündigte Schwierigkeit in ganzer Stärke auf, denn bislang konnte kein einziges Kriterium ausfindig gemacht werden, das diese Auffassung bestätigt. Wenn es eine Möglichkeit gibt, den Existenz-Vollzug überhaupt zu erkennen, dann müsste sie sich in-Erscheinung-tretend zu erkennen geben. Der Rückgriff auf Heinrich Barths Formulierung ist deshalb sinnvoll, weil er von den zu Worte gekommenen Denkern derjenige ist, der diese Thematik überhaupt anspricht. Es mag, so kann an dieser Stelle vermerkt werden, vielfältige Gründe dafür geben, dass das existentielle Denken innerhalb unseres aktuellen philosophischen Bewusstseins im Grunde keine Rolle mehr spielt. Der Hinweis auf terminologische Unschärfe und die Artikulation nicht eindeutig zu beantwortender Fragen ist von Seiten analytischer Philosophie bekannt. In diesem Moment wird nun eine andere mögliche Erklärung sichtbar. Es gibt schlichtweg kein Kriterium, an dem das Gelingen der existentiellen Bewegung erkennbar ist. Diese Feststellung bezieht sich wohlgemerkt auf existenzphilosophisches, nicht existentialistisches Denken. Denn Letzteres bietet durchaus eine Möglichkeit, etwa auf das Maß übernommener Verantwortung zu verweisen, um über das Maß des Seins-Verstehens Auskunft zu geben. Dieses führt uns, um bei diesem Beispiel zu bleiben, unsere Verantwortlichkeit als Seins-Bestimmung vor Augen, der wir im Sinne der Anerkennung unserer Verantwortung für den Anderen zu entsprechen vermögen. Ein vergleichbares Merkmal besteht im Kontext existenzphilosophischer Aussagen nicht. Damit soll gewiss nicht der Eindruck vermittelt werden, dass sich jedes Denken am Grad seiner Konkretisierung beurteilen lässt. Es soll aber sehr wohl behauptet werden, dass es einem Denken, das nur in den seltensten Momenten hierüber Rechenschaft abzulegen vermag, schwerfallen dürfte, dauerhaft seine Relevanz zu behaupten. Auf diese seltensten Momente wurde bereits hingewiesen – es sind die Stellungnahmen von Karl Jaspers und, sehr viel seltener, Martin Heidegger etwa zu Fragen der Technik. Der vielfach besprochene Seins-Wandel, für den Letzterer eintritt, verbleibt letzten Endes zu deutlich im Kontext theoretischer Erörterung, um in dieser Hinsicht als Beleg in Anspruch genommen zu werden. Selbst wenn darauf hingewiesen würde, dass für Heidegger Erörterung und Vollzug Hand in Hand gehen, insofern das Aussprechen des Begriffes vom Seyn bereits dessen Verwirklichung signalisiert, fehlt der Nachweis, worin dieser Wandel tatsächlich erkennbar sein soll. Wird seine Interpretierbarkeit bis zum Äußersten ausgedehnt und ökologisches Bewusstsein angeführt, bleibt die Crux, dass nach Heideggers Auffassung hierfür nicht willentlich zu agieren wäre. Denn das hatte sich am Anfang dieser Überlegungen gezeigt: Die existentielle Bewegung kann im Grunde nicht https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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als eine gewollte Bewegung gedeutet werden. Im Sinne Heideggers allemal nicht, da sie damit umgehend dem Manko zweckorientierten Agierens anheimfallen würde. Im Denken Heinrich Barths spielt zwar der Gedanke der Entscheidung die zentrale Rolle, doch diese bezieht sich auf das Sein-Sollen als Entwurf in die Zukunft. Inwieweit darunter auch ein Entschluss des Menschen fallen könnte, existieren zu wollen, bleibt der weiteren Deutung überlassen. Und wie steht es bei Karl Jaspers? Immerhin stellt der Gedanke der Unbefriedigung in seiner Konzeption ein wichtiges Impuls-gebendes Motiv dar. Der Wunsch, ihm entgegenzuwirken, bezieht sich allerdings eher auf das Verstehen-Wollen des Daseins, als auf den Wunsch, zu existieren. Kann daraus gefolgert werden, dass es dem Menschen, der die existentielle Bewegung vollführt, zunächst gar nicht bewusst ist, was er ! eigentlich ! tut? Eine solche Folgerung wäre allerdings ein absolutes Faszinosum, vor allem im aktuell anstehenden Zusammenhang der Frage nach gelingender Existenz. Denn damit würde dem Menschen eher etwas geschehen, als dass er es tatsächlich wollen könnte. In Anbetracht der besonderen Bedeutung, die dem Gedanken der Erschütterung im existentiellen Denken zukommt, könnte sogar fast davon gesprochen werden, dass ihm etwas zustößt, dem er sich allenfalls fügen kann. Selbst die Möglichkeit, der Erschütterung gezielt nicht Einlass in das eigene Denken zu gewähren, muss als äußerst unwahrscheinlich betrachtet werden. Was sagt das über das Projekt «Existenzphilosophie» und die mit ihm einhergehende Forderung nach einer neuen Wesensbestimmung des Menschen aus? Im entscheidenden Moment, in dem die Bewegung der Veränderung ansetzt, fügen wir uns in ein Geschick, das wir nicht haben wollen können. Nicht grundlos verwendet Heidegger in diesem Zusammenhang den Begriff des Unheimlichen, womit das Nicht-Heimatliche gemeint ist.453 Dass existenzphilosophisches und religiöses Denken mitunter in erstaunlicher Nähe operieren, da sich beide der Artikulation existentieller Fragen zuwenden, ist offensichtlich. In diesem Moment wird nun eine höchst interessante Parallelität erkennbar, auf die unbedingt einzugehen ist, auch wenn sie den laufenden Gedankengang kurz unterbricht. Der Blick auf das Nicht-wollen-Können der existentiellen Bewegung lässt die Überlegung entstehen, ob dieses nicht exakt den Augenblick kennzeichnet, in dem nach theologischer Deutung ein Akt der Erwählung des Menschen stattfinden würde. Denn zur Eigentlichkeit gelangen wir scheinbar nicht aus eigener Kraft. Für die bisherigen Aussagen stellt diese Erwägung einen schwerwiegenden Bruch dar, da stets darauf bestanden wurde, dass der Einzelne selbst-gründend sein So-Sein zu entwerfen vermag. Damit jedoch keine Verunsicherung entsteht, kann sogleich darauf hingewiesen werden, dass diese Ansicht nach wie vor gültig ist. Der Einzelne «In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen. […] Sofern es dem Dasein – als Sorge – um sein Sein geht, ruft es aus der Unheimlichkeit sich selbst als faktisch-verfallendes Man auf zu seinem Seinkönnen.» Sein und Zeit, § 58, S.287.
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vollzieht die existentielle Bewegung aus eigener Kraft, weil er sich auf keinen externen Impuls berufen kann. Nur kann er sich nicht vornehmen, sie vollziehen zu wollen. Daher greift das Motiv der Erschütterung so tief, weil es gleichsam jenen Raum des Nicht-Verfügbaren schafft, der auch zur Erklärung göttlichen Wirkens auf menschliches Werden genutzt werden könnte. Für eine Philosophie, die daran gewöhnt ist, den Menschen als autonomes Wesen zu betrachten, muss diese Situation nicht nur eine Erschütterung innerhalb der individuellen Biographie eines Menschen bedeuten, sondern darüber hinaus den Einbruch eines unkalkulierbaren Faktors in dessen Denken. Die Konsequenzen, die sich für den Versuch ergeben, existenzphilosophische Ethik zu formulieren, konnten bereits an anderer Stelle reflektiert werden.454 Dort ging es jedoch vorrangig um die Frage, welche Optionen das Denken der Existenz bietet, um Aufschluss über Möglichkeiten moralisch werthaften Handelns zu erlangen. Hier wird nun eine andere Perspektive eingenommen. Es wird nicht mehr von dem Korpus der Existenzphilosophie, wie sie uns in den verschiedensten Schriften vorliegt, ausgegangen, um diese Möglichkeiten aufzuzeigen, sondern von der Feststellung, dass über deren Ziel, das Selbst-Sein-Können, hinauszugehen ist, um eine aktuelle Version dieses Denkens formulieren zu können. Unter diesem Gesichtspunkt kommt der Betrachtung des Seins-Denkens entscheidende Bedeutung zu. Wie die letzten Seiten gezeigt haben, hat die spezielle Konzeption von Existenz als Sich-Entwerfen in die Zukunft schwerwiegendere Folgen, als zunächst zu erwarten gewesen wäre. Sie bietet dem Menschen weder die Möglichkeit, über das Existieren-Wollen zu befinden, noch eine Orientierung, wie es zu realisieren sei. Wie nur immer wieder betont werden kann, ist das Denken Martin Heideggers der offensichtlichste Beleg für dieses Dilemma: Existenz entspricht der Wesensbestimmung des Menschen, kann jedoch keinesfalls erstrebt oder durch entsprechende Vorkehrungen vorbereitet werden, da sie im selben Moment unter das Verdikt des zweckorientierten Denkens fallen würde. Auf der Spitze philosophischer Erörterungen des Selbst-Werdens zeichnet sich ein Geschehen der Ent-Mächtigung ab, insofern der Mensch nur hinnehmen, doch nicht wollen kann, was ihn als Menschen kennzeichnen soll. Die Frage, die sich an eine erweiterte Konzeption von Existenzphilosophie stellt, resultiert aus einer sachbezogenen und einer formalen Notwendigkeit. Erstere ist bereits skizziert worden. Der Erwerb des Selbst-Seins kann nicht als Ziel der existentiellen Bewegung betrachtet werden, sondern als deren Entwicklungsstufe. Das Erfordernis, über diese hinaus nach den Möglichkeiten des existentiellen Denkens zu suchen, stützt sich auf die Feststellung, dass es darüber hinaus nach der Möglichkeit ethischer Existenz zu fragen gilt. Damit hebt sich diese Betrachtung von der zuletzt gestellten Frage nach einer Ethik der Existenz ab, die aus dem formalen Repertoire des Existenz-Denkens Kriterien für die Konzeption einer philosophischen 454
Siehe hierzu Ethik der Existenz aus dem Jahr 2022. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Ethik schöpfen wollte. Nun steht die Zielsetzung im Vordergrund, Existenz selbst als ethisches Geschehen zu interpretieren, wofür im Grunde beiderlei erforderlich wäre: die Möglichkeit der Einwilligung und die Orientierung an einem Minimum an Parametern, die das Existieren normativen Bestimmungen zuordnet. Die zweite Notwendigkeit, auf die der Versuch einer erweiterten Konzeption von Existenzphilosophie reagiert, besteht in eben dieser Suche nach Orientierungs-Kriterien der existentiellen Bewegung. In aller philosophische Terminologie ausblendenden Grundsätzlichkeit lautet die zu stellende Frage, woher wir die Sicherheit gewinnen, diese Bewegung als richtig einzuschätzen. Dass der Begriff des Guten in diesem Zusammenhang eine noch weitaus größere Herausforderung an das Denken darstellen würde, hat sich bereits angedeutet. Was richtig ist, kann aus dem Verweis auf die menschliche Wesensbestimmung gefolgert werden. Was als gut zu bezeichnen wäre, ist hiermit nicht zwangsläufig identisch. Denn dieses lässt sich nicht immer mit Sicherheit aus der essentiellen Bestimmung allein ableiten, da es die situativen Bedingungen zu berücksichtigen hat, die seine Formulierung prägen. Selbst dann, wenn ein absolut gültiger Begriff des Guten erwiesen werden sollte, kann die Frage nach der Möglichkeit seiner Konkretisierung nicht gänzlich ausgeklammert werden. Richtig kann ein Verhalten sein, dass einen Einzelnen Menschen seiner Vorstellung des Sein-Könnens näherbringt, wohingegen als gut Handlungen zu betrachten wären, die dieses Verhalten unter Berücksichtigung des Anderen zu reflektieren hätten. Insofern erweist sich eine erste Beschränkung auf den Gedanken der Richtigkeit als sinnvoll, da er auf das solitäre Geschehen der existentiellen Bewegung zu beschränken ist. Die Ausweitung auf die Frage danach, ob dieses auch unter dem Aspekt der Anverwandtheit als gut bezeichnet werden kann, wird an anderer Stelle aufzugreifen sein. Der Begriff der Anverwandtheit wird hier verwendet, um auf die Vorstellung des Miteinanders im Sein hinzuweisen. Der Terminus des «Mitseins», der an dieser Stelle vielleicht zu vermuten wäre, ist ontologischer Natur, wie dessen Einführung in Sein und Zeit belegt. «Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das InSein ist Mitsein mit Anderen.»455 In Erweiterung dieser Bedeutung beinhaltet der Begriff der Anverwandtheit eine stärkere Akzentuierung der Bezogenheit im Sein, die sich nicht als dessen Merkmal an sich, sondern als Modus der Realtionalität denken lässt. Dadurch wird ein Aufweisungskriterium wie dasjenige der Relationalität zu einer Zustandsbeschreibung des aufeinander Verweisenden im Sein. Wenn von gelingender Existenz die Rede ist, wird dabei also zunächst auf jene Gewissheit angespielt, die im Kontext ihrer Philosophie nie wirklich hinterfragt wurde: die Gewissheit, dass die existentielle Bewegung sich selbst rechtfertigt, da sie als die dem Menschen allein mögliche Form der Bewegtheit verstanden wird. Wie heikel eine solche unterlassende Begründung ist, bedarf wohl 455
Sein und Zeit, § 26, S.118. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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keiner Hervorhebung. Zwar könnte immer darauf verwiesen werden, dass es sich beim Existieren nicht um eine beliebige Eigenschaft des Menschen handelt, sondern um das vermeintlich ultimative Kriterium der Differenzierung von allem Anderen, doch währt die vorübergehende Entspannung in dieser Hinsicht nicht lange. Denn letztlich funktioniert diese Auffassung nur dann, wenn etwas allein dadurch als gerechtfertigt angesehen wird, dass es möglich ist. Die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens könnte durch eine Aufzählung sie widerlegender Beispiele aus der Geschichte erwiesen werden, die erschreckend umfangreich ausfallen würde. Der Hinweis auf die Rechtfertigung des eigenschaftlich Möglichen gibt in diesem Moment seine ganze Absurdität zu erkennen. Nun ist es natürlich äußerst gewagt, die Befähigung zur Existenz und die Befähigung zu konkreter Planung des moralisch nicht zu Rechtfertigenden in einem Atemzug zu nennen. Doch wenn für einen Moment die Brisanz dieses Vergleiches außer Acht gelassen wird, zeigt sich, wie moralisch anfällig eine unreflektierte Rechtfertigung der Existenz tatsächlich ist. Soll versucht werden, sie über den Weg der Negation zu erreichen, indem Existenz als Bewegung jeder planenden Organisation entgegengesetzt wird, steht es um die Glaubwürdigkeit einer solchen Begründung nicht viel besser. Nur dadurch, dass sich die existentielle Bewegung durch ihre Orientierungslosigkeit auszeichnet, eignet ihr damit noch lange keine Wertigkeit. Ganz im Gegenteil – ihre Ziellosigkeit erweist sich als äußerst anfällig für Infiltrierungen jedweder Art, da es keine Kriterien zur Überprüfung ihrer Richtigkeit in der Aktualisierung gibt. Es ist klar, dass gerade ein zugespitztes Szenario entworfen wird, das sogar als unrealistisch bezeichnet werden könnte. Denn zum Glück sind keine Fälle bekannt, in denen sich die existentielle Orientierungslosigkeit de facto als nachteilig herausgestellt hätte. Es erscheint aber dessen ungeachtet als sinnvoll, auf solche Gefahr hinzuweisen, um den besonderen Optimismus der Existenz-Denker hervorzuheben. Wie der Mangel an verwertbaren Begründungsansätzen nahelegt, gehen sie tatsächlich davon aus, dass wir alle aus irgendeinem Grund wissen, wann wir uns unserer essentiellen Bestimmung entsprechend verhalten. Es ist wiederum das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst von Heinrich Barth, zumindest in einer fast wie eine Randnotiz wirkenden Bemerkung auf die Frage der Existenzlage des Menschen seiner Zeit einzugehen, wobei sich die Erinnerung an Karl Jaspers’ Schrift Zur geistigen Situation der Zeit, rund zwanzig Jahre früher entstanden, unverzüglich einstellt. Barth schreibt in seiner Vorlesung Grundriß einer Philosophie der Existenz Mitte der 1950er Jahre: «Im Blick auf das Ganze der menschlichen Existenz fragt er [Pestalozzi] nach den Grundlagen menschlicher Bildung. Sie sollte dadurch gekennzeichnet sein, daß sich die Gaben des Verstandes, des Herzens, der Hand ‹im Gleichgewichte› auswirken.»456 Und bei Karl Jaspers heißt es:
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Grundriß einer Philosophie der Existenz, S.175. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Der Mensch bedarf, um selbst zu sein, einer positiv erfüllten Welt. Wenn diese verfallen ist, die Ideen gestorben scheinen, so ist der Mensch so lange sich verborgen, als er nicht wieder im eigenen Hervorbringen die in der Welt ihm entgegenkommende Idee findet. Aber beim Selbstsein des Einzelnen beginnt, was erst dann zur Welt sich verwirklicht. […] Fragt man heute verzweifelt, was in dieser Welt denn noch übrigbleibe, so ist für jeden die Antwort: was du bist, weil du kannst.457
Beide Passagen sind weit davon entfernt, als Teile einer ausgeführten Theorie der Folgenabschätzung von Existenz angesehen werden zu können. Doch gerade in ihrem fragmentarischen Charakter haben sie die Funktion, Wegweisungen in die zukünftige Arbeit der Existenz sein zu können. Denn sie weisen auf den leider allzu selten reflektierten Anspruch hin, die Bedingungen, die Aktualisierung und die Auswirkungen der existentiellen Bewegung im Zusammenhang zu bedenken. Würden diese drei Betrachtungsperspektiven als Maßstab an die hier betrachteten Texte angelegt, würde das Ergebnis ernüchtern, denn es könnten lediglich Reflexionen des ersten Aspektes der Bedingung gefunden werden. Die Dramaturgie der hier vorliegenden Überlegungen dürfte offensichtlich sein. Vor dem Übergang in den letzten Akt wird das Problempotential existentiellen Denkens noch einmal in kantigen Zügen skizziert, um das Bedürfnis nach einer Diskussion möglicher Lösungen nach all den vorangegangenen Erwägungen erneut zu wecken. Ausgangspunkt der nun folgenden Betrachtung wird die Überzeugung sein, dass es unmöglich als philosophisch fundiert angesehen werden kann, sich auf eine Art intuitiver Sicherheit zu verlassen, wenn es nach der Anerkennung der Existenz als Wesensbestimmung zu fragen gilt. Genau so funktioniert jedoch der Großteil der hier zugrunde gelegten Darstellungen – es wird davon ausgegangen, dass das Existieren als uns gemäße Seins-Form selbst-erklärend wirkt. Eine solche Erklärung kann sich aber im Diskurs mit traditionellen Vorstellungen der Philosophie nicht über einen langen Zeitraum als ausreichend ausgeben, wie letztlich auch unsere Erfahrung mit Existenzphilosophie in unseren Tagen beweist. Sie hat sich sozusagen selbst aus dem Spiel gebracht. So wird zu überlegen sein, warum mir Existenz, die ich noch nicht einmal erstreben kann, gleichwohl als angemessene Form meines Seins erscheint? Die zweite Frage ist nicht weniger gewichtig, hängt sie doch unmittelbar mit der ersten zusammen. Sie richtet sich auf die Begründung der Gewissheit, existierend das Richtige zu tun. In beiden Ansätzen spielt der Gedanke eines Anderen die entscheidende Rolle, dass mir als Motivation und Orientierung dienen kann, wenn es für mich um die Klärung der wichtigsten Aufgabe geht. Diese besteht nicht mehr nur darin, Selbst zu sein, sondern Selbst in Ansehung des Anderen zu werden. Die Fragestellungen, die von nun an gelten, lauten in reduziertester Form: Warum soll ich Existenz wollen? Und: Woran orientiert sich meine existentielle Bewegung? Es wird sicher457
Die geistige Situation der Zeit, S.165. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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lich sofort erkennbar, dass beide klar über das bisher in der Existenzphilosophie zur Diskussion Stehende hinausgreifen, es verwässern, könnte vielleicht auch angemerkt werden. Denn droht ihr einzigartiges und kostbares Denken nicht in dem Moment nachhaltig beschädigt zu werden, in dem das Selbst-sein-Können nicht mehr als solitäres Geschehen mit finaler Wertigkeit verstanden wird, sondern als Geschehen des Übergangs? Diese Vorstellung des Übergehenden ist deshalb explizit hervorzuheben, weil sie verdeutlicht, dass es keinesfalls darum geht, den Wert des Selbst-Seins zu leugnen. Er kann lediglich nicht mehr als Erfüllungsgrad unseres menschlichen Seins betrachtet werden. Der Ertrag und die unfassbare Innovation, die durch Existenzphilosophie dadurch in den Diskurs eingebracht wurden, dass der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Einzelnen gerichtet wurde, bleibt somit in vollem Umfang erhalten. Wie könnte es auch beabsichtigt werden, einen der wichtigsten Gedanken der modernen Philosophie leichtfertig aufs Spiel zu setzen? Es kann jedoch festgestellt werden, dass unser Vermögen damit noch keineswegs ausgeschöpft ist. Es bleibt etwas zu Verwirklichendes bestehen, das unser Sein-Können in ebenso eindeutiger Weise kennzeichnen kann, wie unser Selbst-Sein-Können. Die Möglichkeit der Selbst-Reflexion, die mit dem Aufkommen existentiellen Denkens in ihrer charakteristischen Form greifbar wurde, ist, um das noch einmal mit allem Nachdruck zu betonen, eine außerordentliche Errungenschaft dieses Denkens. Nicht seine Erfindung, so könnte erwidert werden, ist doch die Gewissheit des «ego intelligo» spätestens seit den Tagen Wilhelms von Ockham fester Bestandteil der philosophischen Bemühungen um Vergewisserung des Eigensten in seinem Tun. Und genau hier zeichnet sich die Unterscheidung zum existentiellen Verständnis der Selbst-Reflexion ab. Hier findet keine Vergewisserung über das Tun statt, zu dem auch das Denken zählt, sondern über die Erfahrung. An diesem Punkt noch einmal an das existenzphilosophische Grundmotiv der Erschütterung zu erinnern, bietet sich deshalb an, da in den Momenten, die von Kierkegaard, Rosenzweig und Jaspers in ihrer je eigenen Intonation beschrieben werden, der Einbruch affektiven Selbst-Erlebens in die traditionell über die Rationalität bestimmte Selbst-Sicht stattfindet. Der Ausdruck des Stattfindens zählt wohl zu den am offensichtlichsten unterschätzten Bestandteilen philosophischer Terminologie. Statt-Finden bedeutet nicht nur, dass etwas vor sich geht, sondern dass dieses beginnt, sich in der Weite existentieller Erfahrung auszuwirken. Eine Erfahrung ergreift im Moment der Erschütterung von uns Besitz und findet in unserer intellektuellen Biographie ihre Stätte, das heißt den Raum, innerhalb dessen sie erhalten bleibt und zu wirken vermag. Es klingt vermutlich allzu simpel, hierauf hinzuweisen, zu simpel jedenfalls für ernsthafte philosophische Bemühungen. Ein Blick darauf, was sich durch diese Sichtweise des existentiellen Denkens im philosophischen Verständnis verändert, mag diesen Eindruck relativieren.
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In Erscheinung
In einem auf dem Streben nach Erkenntnis basierenden Denken ist die Geltungsdauer von Affizierungen und der durch sie hervorgerufenen Erfahrungen äußerst begrenzt. Zwar bilden sie die Initiierung der meisten Erkenntnisvorgänge, verlieren darin jedoch sehr schnell Kontur und Bedeutung. Nicht so im existenzphilosophischen Verständnis. Hier sind sie nicht nur Auslöser eines Prozesses des Verstehens, sondern bleiben dessen integraler Bestandteil. Der Mensch erfährt damit nicht nur die Affektion also solche, sondern er erlebt sich selbst als den Affizierten, ein Status, dem, wenn hier in gröbster Verallgemeinerung gesprochen werden darf, in der traditionellen Wertigkeitsskala der Philosophie eine untergeordnete Position zugewiesen wurde. Denn als Affizierte sind wir differenziert vorstellbar, wohingegen das Bestreben der Philosophie auf Begriffe einheitlicher Bedeutung gerichtet war. Hier setzt das existentielle Denken an und entfaltet seine subversive Kraft, insofern es das traditionelle Selbst-Verständnis von Philosophie zu unterlaufen beginnt. Obwohl diese Feststellung den eigentlichen Gedankengang aufzuhalten scheint, ist sie für diesen doch unverzichtbar. Denn sie führt uns in der plakativen Vereinfachung ihrer Aussage noch einmal vor Augen, wodurch sich das existentielle Verständnis des Selbst auszeichnet: Es ist dasjenige, das sich als das Affizierte erlebt. Wenn wir diese Deutung, die hier anstelle einer Definition vorgestellt wird, betrachten, wird sie ihre Bedeutung sofort zu erkennen geben. Es sind zwei philosophische Gedanken, die im Moment der Erschütterung aufeinanderprallen. Auf der Seite bisheriger Auffassung steht die normierte Selbst-Sicht nach dem Modus gesellschaftlicher Übereinstimmung, worunter auch die philosophische Bestimmung des menschlichen Wesens fällt. Auf der anderen Seite erhebt sich eine mit der Konvention brechende, radikal vereinzelnde Sicht des Menschen im Erleben seiner Affiziertheit. Dieser Begriff wird im Moment synonym zu jenem der Erschütterung verwendet. Bedenkenswert an dieser Sichtweise ist es, dass sich dem Menschen damit eine neue, mit keiner bisherigen Erfahrung vergleichbare Erlebnismodalität erschließt. Denn das, was dieser im Moment der Erschütterung erlebt, erlaubt ihm einen gänzlich ungekannten Blick auf das vermeintlich für konstant gehaltene Zentrum individueller Erfahrungsstrukturen. Die Radikalität, mit der sich der Bruch mit der bisherigen Sichtweise der eigenen Person vollzieht, stellt alle zuvor möglichen Erlebensformen infrage, wie aus solchen Darstellungen hervorgeht, die der Erschütterung und ihren Folgen gelten. Wäre es nicht so, wäre diese wohl kaum als Initiationsmoment der existentiellen Bewegung vorstellbar, denn auch in ihr spielt sich etwas ab, mit dem der Mensch zuvor keine Erfahrung machen konnte. Wirkt es so, als würde gerade ein unnötiger Rückblick auf längst Erörtertes erfolgen? Hier liegt kein Rückblick, sondern Ausblick auf zu Denkendes vor. Dieses ist bisher nicht darstellbar gewesen, weil der Begriff der Affizierung beziehungsweise der Affizierbarkeit argumentativ noch nicht benötigt wurde. Nun ist der Augenblick gekommen, da dieser sein ganzes bemerkenswertes Potential zu erkennen gibt. Denn er ist es, der den Übergang zum Gedanken des Seins schafft. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Drei Motive werden nun miteinander zu verknüpfen sein: Selbst-Reflexion, Affizierung und das Andere. In deren Verbindung erschließt sich eine aus psychologischer Perspektive mehr als nachvollziehbare, wenngleich in philosophischer Sicht fatale Fehleinschätzung. In rasant ablaufender Vereinzelung findet sich ein Mensch mit den Trümmern seines bisherigen Daseins konfrontiert. Normen verlieren ihren Weisungscharakter, Werte erscheinen beliebig und das Erstrebenswerte büßt seinen vormaligen Reiz ein. Nicht wissend, was an die Stelle dieser Verluste treten wird und sich zugleich nicht mehr auf gültig Wirkendes verlassend, klammert der Einzelne, der er nun ist, sich an das einzig Stabile in diesem atemberaubenden Prozess der Freisetzung aus bisherigen Bindungen: die Reflexion, dass all dieses ihm geschieht. Wer wollte dem zutiefst Verunsicherten diesen Griff nach verbleibend Bekanntem verübeln oder ihn gar kritisieren? Es liegt schließlich so nahe, auf Vertrautes zurückzugreifen. Und Philosophie lehrt seit jeher, dass die Reflexion unseres Eigen-Seins uns ein Bild unserer selbst als rationales Wesen präsentiert. Nahezu bruchlos greifen hier das Beharren im wenigen Bekannten, das den Einbruch der Erschütterung relativ unbeschadet überstanden hat, und dessen philosophische Bestimmung als essentiell ineinander. Zwar ist es nicht mehr exakt die Überzeugung des «ego intelligo», die sich nun einstellt, da auch das Erkennen für Momente seine Fundierung in einem definierten Kontext theoretischer Erwägungen einbüßt, aber doch diejenige Rückbesinnung, die den größten Bestand an Bewährt-Verlässlichem zu versprechen scheint. So reflektiert sich der Mensch in der wünschenswerten Kontinuität des Seins, die er als Selbst-Sein zu erfassen beginnt. Und da dieses sich ihm als die einzig vertraute Konstante zeigt, ist sein Bestreben in dem Moment erfüllt, in dem er sich in der Weise retardierender Bezugnahme auf seine bisherige SelbstSicht meint, verwirklicht zu haben. Diese kurze Rekonstruktion eines möglichen Hergangs soll als Erklärungsversuch dafür dienen, warum sich der Mensch im Status der Vereinzelung mit dem Erreichen selbst-reflexiven Denkens begnügt. Er kennt ja nichts anderes und braucht letztlich nicht mehr als das, um sich im Zustand der umfassenden Verunsicherung selbst zu fokussieren. Warum sollte in ihm der Gedanke aufkeimen, dass damit eben noch nicht das Ziel seiner existentiellen Bewegung erreicht ist? Weil er sich eingesteht, sich nicht mehr als essentiell bestimmt, sondern als existentiell affiziert zu erleben. Die Verunsicherung ist damit weitaus umfangreicher und tiefgreifender, als zu vermuten war. Sie greift nicht nur die externen Bezüge des Menschen zu Gesellschaft und Gemeinschaft an, sondern auch das Erleben seiner Binnenstruktur, die ihm eine Sichtweise seiner selbst eröffnet. Was gerade formuliert wurde, ist der Versuch, eine Erklärung dafür zu finden, warum der Einzelne sich so bereitwillig mit dem Erreichen seiner Selbst-Reflexion zufriedengibt. Es ist aber zugleich der Versuch, zu verstehen, warum sich die Denker der Existenz zum größten Teil auf eine Erklärung der existentiellen Bewegung konzentrierten, die im Erreichen der Selbst-Reflexion Erfüllung und Abschluss finhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
In Erscheinung
det. Der Blick auf ihre Beschreibungen dessen, was auf den Moment der Erschütterung folgt, zeigt, dass sich diese doch recht konventioneller Begrifflichkeit und Motivik bedienen. Vom Seins-Wandel ist etwa die Rede, von der Ausrichtung auf das Transzendentale, vom Transzendieren – das alles sind Vorstellungen und Bildlichkeiten, die sich bereits im philosophischen Gebrauch bewährt haben. Ob sie damit dem tatsächlichen Empfinden des Menschen Rechnung tragen und dieses in Theorie übersetzen, oder einen zunächst ungeschützten Entwurf der existentiellen Bewegung skizzieren, der sich noch nicht auf Beobachtung stützen kann, ist letztlich kaum zu entscheiden. Es spielt im vorliegenden Kontext aber auch keine Rolle, da nicht die Entstehung ihrer Beschreibungen, sondern deren frühzeitiger Endpunkt im Mittelpunkt steht. Heinrich Barth und Martin Heidegger greifen in relativ großem Umfang auf Versatzstücke philosophischen Denkens zurück, die entweder dem Kontext erkenntnistheoretischer oder ontologischer Argumentationen entstammen. Karl Jaspers mag seine Ausbildung zum Psychiater zugutekommen und es ihm erlauben, eine stärker an psychischen Konstitutionsmomenten der Selbst-Reflexion orientierte Darstellung vorzunehmen. Zu erwähnen sei hier allein das Motiv der Unbefriedigung, das einen gänzlich anderen Akzent als sein philosophisches Pendant, das Streben, setzt. Ersteres folgt der Feststellung eines Ungenügens, das ein Mensch in Anbetracht der ihm von der Wissenschaft angebotenen DaseinsErklärung empfindet. Das Streben zum Beispiel nach Erkenntnis motiviert die Aktionen eines Menschen, weil er das als erstrebenswert Ausgewiesene zu erreichen sucht. Klar hebt sich hiervon die Deutung des Begehrens ab, die Emmanuel Lévinas vornimmt, der an dieser Stelle nun nicht mehr als Denker im Umkreis der Existenzphilosophie vorgestellt zu werden braucht. Das Begehren richtet sich auf Unendliches und trägt daher das Kennzeichen seiner Unerfüllbarkeit in sich. Was würde nun geschehen, wenn versucht würde, den ganzen Umfang jenes Freistellungspotentials abzuschätzen, der dem Gedanken der Erschütterung eignet? Es wäre dann das Eingeständnis erforderlich, dass die bekannten Theoreme der Philosophie womöglich nicht ausreichen, um ihm gebührend Rechnung zu tragen. Um es noch einmal zu benennen: Der Mensch im Moment der Erschütterung, die die geschehnishafte Entsprechung zur Vereinzelung ist, empfindet nicht nur sein Umfeld als grundsätzlich nicht mehr definiert und damit nicht mehr in bekannter Form strukturiert, sondern er erlebt auch sich selbst in einer Weise, die ihm fremd erscheinen muss. Natürlich ist ihm etwa das Gefühl der Angst bekannt, doch musste er sich diesem bisher noch nie in einer derart fundamentalen Intensität stellen. Besonders anhand der Beschreibungen von Angst und Furcht, die Søren Kierkegaard und Martin Heidegger uns hinterließen, kann verfolgt werden, wie ein psychisches Phänomen Einzug in den Korpus philosophischer Theorien hält. Dabei verliert es seine situationsabhängige Spezifizierung, die uns vielleicht nach seiner Ursache fragen ließe, und wird zu einem Erleben, das die Weite des Existenz-Begriffes zu erkennen gibt. Denn dieser spiegelt https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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keine partielle Korrektur einer möglicherweise in der Konvention erstarrten Denkweise, sondern das Zurücksetzen der Erfahrung auf einen Grad der Empfänglichkeit, bevor sie Gegenstand philosophischer Reflexion wurde. Es ist vor diesem Hintergrund nicht übertrieben zu behaupten, dass das Aufkommen der Existenzphilosophie auch als Anzeichen einer RenaturierungsBestrebung verstanden werden kann, die in gewisser Weise die Dominanz der Rationalität in der Sicht des Menschen zu unterlaufen sucht. Warum legen denn sonst einige ihrer Vertreter so großen Wert auf die Elemente von Erschütterung und Vereinzelung, als darum, den Menschen aus seinen Bindungen verschiedenster Natur herauszulösen, um ihn gleichsam bar jeder Geschichte und kulturellen Prägung zu seinem Selbst-Sein aufrufen zu können. Der Einzelne ist die pure Vorstellung des ungewordenen Seienden, das sich seiner Vermögen zur Gestaltung seines Seins bedienen kann. Es wäre mehr als verwunderlich, würden sich an dieser Stelle nicht heftige Widerstände regen. Denn im Grunde wurde soeben dem großen gedanklichen Ertrag unserer philosophischen Tradition, der Selbst-Verantwortlichkeit, wie sie etwa im Zuge der Aufklärung verstanden und propagiert wurde, eine wenig stichhaltige Absage erklärt. Schließlich besteht deren Ziel in der Ermutigung des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, also kritisch zu reflektieren, was an Doktrinen und Wertsetzungen als vermeintlich uneingeschränkt gültig vorgegeben wird. Der Sache nach ähneln sich diese Aufforderung und die existenzphilosophische Ermutigung zum SelbstSein durchaus. In beiden geht es um die Übernahme der eigensten Verantwortung für die Verhaltung im Sein, auch wenn dieser Begriff nicht unbedingt dem terminologischen Repertoire des Aufklärungs-Denkens entspricht. Die Ursache des eigenen Seins zu werden, das heißt in erweiterter Perspektive betrachtet: Ursache des eigentlichen Seins zu werden, haben sich Vertreter beiderlei Denk-Formen auf ihre Fahnen geschrieben. Dass ihre Ansichten darüber, wie sich dieses im Konkreten zu bewähren habe, nicht zwangsläufig übereinstimmen, tut diesem vergleichenden Blick im Moment keinen Abbruch. Sehr wohl sind hingegen die unterschiedlichen Wege zu berücksichtigen, die gewählt werden, um für das Eigenste zu plädieren. Zum Selbst-Denken aufzufordern ist über Ansprache der Vernunft möglich, doch würde dieses Verfahren am Aufruf zum Selbst-Sein scheitern. Dieser Gedanke liegt der existenzphilosophischen Akzentuierung des Elementes der Vereinzelung zugrunde. Denn es muss schließlich einen Grund dafür geben, dass sich Theoretiker der Existenz nicht einfach auf das Erbe des Aufklärungs-Denkens berufen und für dessen Erneuerung im 20. Jahrhundert werben. Am deutlichsten kann das Faktum, dass eine solche Berufung auf das Motiv des Selbst-Denkens in existentiellem Verständnis nicht zum Ziel führen würde, mit Blick auf das Werk von Heinrich Barth illustriert werden. Dass sich die Gedanken im Moment in Kreisen gröbster Verallgemeinerung bewegen und Selbst-Denken als eine der Forderungen der Aufklärung herausstellen, ohne auf deren Begründung und historische Bedingtheit einzugehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
In Erscheinung
hen, ist dem Bemühen geschuldet, den Argumentationsgang nicht über Gebühr durch die Hinzunahme eines weiteren Problemkontextes zu komplizieren. Denn es geht momentan darum, die Bedeutung der Affizierbarkeit des Menschen für das existenzphilosophische Denken zu erweisen. Heinrich Barth stützt sich, wie er selbst immer wieder betont, auf Elemente des philosophischen Diskurses, deren Wert er für die Konzeption existentiellen Denkens nicht grundsätzlich infrage stellt. So greift er zur Erklärung seiner Vorstellung der Einheitlichkeit der Erkenntnis auf den Begriff des Transzendentalen zurück, den er in Anlehnung an die Deutung Immanuel Kants interpretiert. Wenn es in seiner umfassenden Systematik der Existenzphilosophie dann jedoch Kriterien der Vereinzelung des Menschen zu diskutieren gilt, die erforderlich sind, um den Begriff des Einzelnen erklären zu können, werden, wie angedeutet, Schwierigkeiten sichtbar. Wie soll dessen Besonderheit in einem Erkenntnisvollzug einheitlicher Funktionsweise nachgewiesen werden, wenn doch in der Vorstellung des Einzelnen letztlich das Kernstück existenzphilosophischen Denkens besteht? Barths Lösung besteht im Wesentlichen darin, auf die individuelle Biographie des Menschen und dessen ästhetische Erscheinung zu verweisen, zwei Möglichkeiten, in denen er die Akzentuierung des Besonderen im Kontrast zur Einheitlichkeit des Erkennens für denkbar hält. Ob dieser Versuch, traditionell inspiriertes Denken des Transzendentalen und Denken der Existenz in Einklang zu bringen, am Ende die Mängel der bestehenden existenzphilosophischen Entwürfe beheben kann, wäre an anderer Stelle zu fragen. Für die aktuellen Überlegungen ist sein Beispiel insofern interessant, als er, anders als Rosenzweig, Heidegger und Jaspers, verstärkt im Diskursrahmen der bestehenden Philosophie operiert und dadurch vor einem Problem zu stehen scheint, sobald der genuin existentielle Gedanke des Einzelnen aufzugreifen ist. Im Diskursrahmen der Philosophie zu agieren, bedeutet letztlich auch, sich der Argumentationsformen zu bedienen, die dort vorherrschen. Die Deutung der Existenzfrage als Erkenntnisfrage fordert nicht nur der Sache nach, sondern auch im Zuge ihrer Artikulation eine stärkere Bindung an ein Denken, das eher als Verstehen denn als Erfahrung gedeutet wird, wie es bei den drei genannten Autoren der Fall ist. Karl Jaspers widmet der Relation von Vernunft und Existenz seine berühmte Vorlesung, wohingegen Franz Rosenzweig und Martin Heidegger sehr viel offensiver über die Notwendigkeit nachdenken, den diskursiven Kontext der Philosophie einer grundsätzlichen Erneuerung zu unterziehen. Bestandteil dieses Erneuerungsprogrammes ist es, soviel hat sich bereits gezeigt, der Erfahrung im Denken unbedingtes Heimatrecht einzuräumen, was uns zum Gedanken der Affizierbarkeit des Menschen zurückführt. Wenn es gilt, den Menschen zu dem ihm Entsprechenden aufzufordern, taugt die Ansprache auf dem Weg rationaler Begründung, um ihm den Wert des Selbst-Denkens zu vermitteln. Gilt es hingegen, uns zum Vertrauen in unsere Affizierbarkeit zu ermutigen, bedarf es einer Ansprache auf dem Wege der Affektion. Diese sehr schlicht anmutende Feststellung bildet den Hintergrund der exishttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tenzphilosophischen Motivik der Erschütterung. Denn es konnte noch immer gefragt werden, wie es möglich ist, dass ihm in verschiedenen Werken aus unterschiedlichen Zeiten eine im Detail vergleichbare, doch in ihrer Funktion identische Bedeutung zugewiesen wurde. Dass es sich dabei um weitaus mehr als eine philosophiehistorisch bemerkenswerte Parallelität handelt, zeichnet sich immer klarer ab. Die Motive von Erschütterung und Vereinzelung erweisen sich als die entscheidenden Elemente, um die Neubewertung der menschlichen Wesensbestimmung denkbar werden zu lassen. Hier von Denkbarkeit zu sprechen ist alles andere als beliebig. Bei dem Entwurf existenzphilosophischer Konzeptionen stellt sich offensichtlicher als in manch anderer Konzeptualisierungs-Bestrebung die Herausforderung, Aussagen von allgemeiner Gültigkeit über individuelle Erfahrungsweisen zu treffen. Dieser Aspekt wurde relativ ausführlich beleuchtet. Nun kehrt der Blick zu ihm zurück, da jetzt der Rahmen bereitet ist, um seinen gedanklichen Ertrag in die Überlegungen aufnehmen zu können. Es hat sich gezeigt, dass existenzphilosophische Theorie über den Prozess der Vereinzelung letztlich nur in deskriptiver Weise Auskunft geben kann. Denn er entzieht den Menschen der Definierbarkeit im klassischen Sinne und damit, was aktuell sehr viel interessanter ist, der normierenden Gültigkeit eines auf dem Gedanken der Rationalität gründenden Menschen-Bildes. Fragen wir uns als Lesende, wie wir den Schilderungen von Erschütterung und Vereinzelung folgen, zeigt sich ein Spezifikum, das keinesfalls unterschlagen werden darf. Verstehen wir diese Passagen, in denen von der Unheimlichkeit die Rede ist, davon, dass das bisherige Leben ein Ende gefunden hat, weil sie uns argumentativ überzeugen? Oder sind wir dazu in Lage, uns von der Not und Orientierungslosigkeit des Einzelnen ansprechen zu lassen? Teilen wir am Ende gar seine Hilflosigkeit, die ihn unversehens überfällt und ihn uns als reines Wesen vor der Bestimmung seiner Vermögen erscheinen lässt? Eine allgemeingültige Antwort wird an dieser Stelle nicht greifen, doch spricht einiges dafür, dass hier eine Art der Einfühlung angenommen werden kann. Die Beschreibungen dieser Situationen der Erschütterung berühren uns, oder sie erscheinen uns unverständlich und sogar nicht einmal nachvollziehbar. Zustimmung aufgrund eines korrekt durchgeführten Beweisverfahrens ist an dieser Stelle kaum zu erwarten. Vielleicht stellt sich sogar eine gewisse Ablehnung ein, weil das dort Beschriebene als exaltiert und nicht Lebens-relevant bewertet wird. Angesichts drängender existentieller Probleme mag eine solche Reaktion noch nicht einmal überraschen. Unsere Sprache müsste unterschiedliche Begriffe anbieten, um die Weisen zu ermöglichen, von existentieller Dringlichkeit zu sprechen. Denn demjenigen, der ein Verstehen seiner selbst sucht, kann dieses Ringen dem Kampf um die Sicherung des Lebensnotwendigen vergleichbar erscheinen. Die Frage, ob der Existenz-Erwerb tatsächlich als lebensnotwendig bezeichnet werden kann, wird an dieser Stelle ausdrücklich nicht gestellt. Denn mit ihr würde ein grundsätzlicher Zweifel an dessen Relevanz vermittelt, der hier nicht zur Diskussion steht. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Die Affizierbaren
Die Affizierbaren Im Gegensatz zu philosophischen Theorien, die durch Argument und Beweis zu überzeugen wissen, wird Existenzphilosophie wohl immer polarisieren. Darin ist jedoch kein Nachteil, sondern eine ihrer Qualitäten zu sehen, da so erkennbar wird, dass ihr Konzept aufgeht. Denn zum Teil praktiziert sie, was sie fordert: dass wir uns als affizierbar erleben. Aus einer sehr weit in das Gegenstandsfeld der Artikulierbarkeit existentiellen Denkens greifenden Perspektive erleben wir hier, was Existenzphilosophie neben aller Theoriebildung auch sein kann, nämlich Ansprache in einer die rationale Möglichkeit ergänzenden Weise. Die Neubewertung der menschlichen Wesenhaftigkeit setzt ein, bevor wir ihr intellektuell unsere Zustimmung oder Ablehnung attestieren. Wir sind schon längst als Einzelne von diesen Texten affiziert – oder können es zumindest sein, wenn wir dazu bereit sind, uns von ihnen ansprechen zu lassen. Vielleicht ist aufgefallen, dass mehrfach die Begriffe von Affizierung und Ansprache so verwendet wurden, als seien sie synonym zu gebrauchen. Genau das ist der Fall, denn in der einen oder anderen Weise erreicht uns etwas, das uns in der gleichförmigen Selbstverständlichkeit unseres Denkens und Tuns für einen Moment innehalten lässt. Nicht zufällig spielt die Metaphorik von Sprechen und Hören, vom Vernehmen des Rufes und der Stimme des Gewissens eine herausragende Rolle in den Texten von Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und Karl Jaspers und nimmt dort mitunter sogar die Funktion ein, eine Selbst-Affizierung des Menschen zu veranschaulichen. Existentielle Ansprache erfolgt auf affektivem Wege, soviel kann inzwischen festgehalten werden. Anders wäre der Initiationsprozess der Bewegung zum Selbst-Sein nicht zu erklären und anders wird deren Fortsetzung zum existentiellen Sein nicht zu erklären sein. Die Möglichkeit, diese Feststellung so scheinbar problemlos, beinahe beiläufig treffen zu können, ist das Produkt der zuletzt angestellten Überlegungen, denn selbstverständlich ist sie keineswegs. Es bedurfte einer längeren Reflexion des Gedankens der Affizierung, um sie als Impuls für jene Bewegung ansehen zu können, die in Erschütterung und Vereinzelung ihren Anfang nimmt, über den Moment des Selbst-Werdens führt und das Feld gelingender Existenz eröffnet. Das hiervon erst im letzten Verlaufsmoment und nicht bereits anlässlich des Selbst-Seins gesprochen wird, bedeutet nicht dessen generelle Entwertung als nicht-gelingend, sondern dessen Bewertung als Übergangsphänomen, dessen abschließende Beurteilung noch aussetzt. Ob Existenz als gelingend betrachtet werden kann oder nicht, lässt sich erst dann beurteilen, wenn sie tatsächlich ihre Möglichkeiten vollumfänglich realisiert. Eine vorausgehende Entwicklungsphase wie die Konkretisierung des Selbst-Seins kann an sich als realisiert angesehen werden, ohne damit schon den weiteren Verlauf der existentiellen Bewegung im Voraus zu bestimmen. Liegt damit ein Bild der gesamten Bewegung vor uns, fällt der Blick erneut auf die erste der beiden nun zu beantwortenden Fragen, die lautet: Was vermittelt https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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uns die Gewissheit, dass diese Bewegung die uns gemäße ist? Präzisierend kann an dieser Stelle nun hinzugefügt werden: Was trägt die kurze Betrachtung des Gedankens der Affizierung zu ihrer Beantwortung bei? Das Geschehen der Erschütterung affiziert uns und spricht uns als affizierbar an. Damit fällt der Fokus auf eine philosophisch zuvor bereits berücksichtigte Kompetenz des Menschen, die darin besteht, ihn als den Affizierbaren zu reflektieren, der zudem die Chance erhält, sich selbst in genau dieser Weise zu erleben. Diese Inanspruchnahme des Begriffes der Affizierung weicht von Immanuel Kants Interpretation, die gewiss zu den folgenreichsten Deutungen zählt, ab.458 Denn ihr geht es weniger um ihre Erkenntnis-vermittelnde Funktion, sondern um die Frage, welche Erfahrungs-vermittelte Erschließung aus ihr folgen kann. Kaum eine andere Vorstellung sprengt den Zirkel solipsistischer Selbst-Verschränkung so weitgreifend, wie die der Affizierung, der Berührung. Was in früheren philosophischen Auslegungen mitunter als deren deutlichster Makel betrachtet wurde, erweist sich jetzt als ihr offensichtlicher Vorzug. Wenn es möglich ist, eine verallgemeinernde Charakterisierung jener Bewertung vorzunehmen, die ihrem Geschehen zugeschrieben wurde, dann besteht sie darin, diese als eine Beeinträchtigung menschlicher Selbstbestimmung im Denken und Handeln anzusehen. Denn eine Affektion erfolgt, den seltenen Fall der Selbst-Affizierung für den Moment ausgeklammert, stets aus dem situativen Umfeld des Menschen und veranlasst ihn zu einer Reaktion. Maßnahmen werden erforderlich, die nicht dem gerade vorgesehenen Aktionsplan entsprechen mögen. Das stets als positiv bewertete Bild des autonomen Subjekts wird in den Augenblicken überschattet, in denen es sich einer Einwirkung seiner Außen-Realität zu stellen hat. Aus der Perspektive eines Denkens betrachtet, dem es vorrangig um die Behauptung einer Vorstellung von Autonomie geht, die weitgehend selbstbestimmtes Handeln zu garantieren scheint, ist es tatsächlich angebracht, hier von einer Überschattung zu sprechen. Natürlich muss nicht jede Affizierung derart massiver Natur sein, dass sie wirklich ein Abweichen von sonstigem Vorhaben erzwingt. Es besteht immer die Möglichkeit, sie zu ignorieren und das eigene Agieren unbeeinträchtigt fortzusetzen. Wird aber die generelle Beschaffenheit einer Affizierung untersucht, handelt es sich um eine nur in seltenen Fällen aus dem Repertoire eigenen Erlebens entstehende Berührung, die unsere Aufmerksamkeit zumindest vorübergehend in Anspruch nimmt. Ob diese sich in der Bereitschaft, auf sie zu reagieren, in einem spontanen Reagieren oder auch im Ignorieren äußert, ist im aktuellen Zusammenhang zunächst von nachgeordneter Bedeutung. 458 Zu Beginn der «Transzendentalen Elementarlehre» heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: «Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gesamt auf gewisse Weise affiziere.» § 1, A19, S.80. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Die Affizierbaren
Denn nun steht ein Aspekt im Vordergrund, der den ersten Moment der Konfrontation von Affizierendem und Affiziertem betrifft. Der Begriff der Konfrontation zeigt an, worauf hierbei die Betonung liegt, denn wird Affiziert-Werden in seiner allgemeinen Struktur berücksichtigt, handelt es sich um den wahrnehmbaren Ausdruck einer aktualisierten Relation. Gerade der Gedanke, der das Phänomen der Affizierung philosophisch in Verruf brachte, da sie eine Auseinandersetzung mit der äußeren Realität situativer Bedingtheit erfordert, kann nun sein positives Potential in vollem Umfang ausspielen. Im Affiziert-Werden erleben wir in unmittelbarer Weise die Relationalität des Seins, die uns mit einem potentiell unbegrenzten Feld des nicht identischen Seienden in Verbindung setzt. Eine Affizierung ist das Vergegenwärtigungs-Geschehen des Anderen. In dieser Funktion ist es unverzichtbar, um jenen Vorgang voranzutreiben, der als Fortsetzung der existentiellen Bewegung angekündigt wurde. Offensichtlich ist gewiss, dass sich Affizierungen auf den Vollzug des Selbst-Seins eher hinderlich auswirken würden. Die gewisse Skepsis, mit der diesem begegnet wird, liegt nicht an seinem Vollzug als solchem, sondern an dessen Bewertung innerhalb des existentiellen Denkens. Sein Wert an sich steht außer Frage, doch hinsichtlich seiner Beurteilung als absolut gültig sind Zweifel angebracht. Denn nichts kann als allein erstrebenswert angesehen werden, dass uns auch nur für Augenblicke vom Anderen distanziert. Wenn vom Anderen die Rede ist, kündigt dieser Begriff die weitest mögliche Bedeutung an, insofern er jedwede Form dessen bezeichnet, mit dem im Geschehen der Affizierung und des Affiziert-Werdens Relation erfahrbar werden kann. Traditionell würde sich hierfür der Begriff des Seienden anbieten, der jedoch eine starke gegenständliche Konnotation zeigt, weswegen hier bisweilen auch vom Vorfindlichen gesprochen wurde. Die Formulierung das Andere beschränkt sich ausdrücklich nicht auf den anderen Menschen, sondern wird auf das gesamte vorstellbare Spektrum des Gegenständlichen, Emotionalen und Intellektuellen, das uns affizieren kann, ausgeweitet. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würde damit der traditionell gesetzte Bedeutungsrahmen des Begriffes der Affizierung über Gebühr strapaziert. Doch spricht letztlich nichts dagegen, ihn in größtmöglicher Variationsweite zu verwenden. Denn in dieser Weise kommt ihm die außerordentliche Funktion zu, das Vergegenwärtigungsgeschehen des Anderen zu bezeichnen. Dass innerhalb existenzphilosophischer Theoriebildung, die auf die Proklamation des SelbstSeins zielt, kaum nennenswertes Interesse an dieser Art von Geschehen bestand, ist bereits aus den wenigen einleitenden Betrachtungen ersichtlich geworden. Teilweise konnte sogar auf das Bestreben hingewiesen werden, Einflüsse von außen, welcher Art sie auch seien mochten, kategorisch auszuschließen. Paradigmatisch wird dieses an der Weise ablesbar, in der die genannten Autoren auf das Sein der Welt eingingen ! oder eben auch nicht eingingen. Denn von deren Sein überzeugen wir uns ausschließlich auf dem Wege der Affizierung.
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Aus einem interessanten Blickwinkel fällt erneut Licht auf den Gedanken der Vereinzelung, der bisher eher unter dem Aspekt der Isolation aus Bezügen gemeinschaftlich oder kulturell determinierenden Daseins betrachtet wurde. Jetzt wird die ganze Dimension der erforderlichen Vereinzelung erkennbar, die unverzichtbar war, solange Selbst-Sein als Erfüllung der existentiellen Bewegung verstanden wurde. Wenn es wirklich darum geht, eine weitgehend störungsfreie Konzentration auf das Geschehen der Selbst-Reflexion theoretisch zu begründen, wirkt es im Grunde unerlässlich, Einflüsse von außen so weit wie irgend möglich auszuklammern. Dass damit zum Teil nur ein vorübergehendes Ausblenden gemeint ist, wurde etwa an den wenigen, aber daher umso wertvolleren Überlegungen von Karl Jaspers und Heinrich Barth erkennbar, wie ein existentielles Selbst in Erscheinung zu treten vermag. Doch schwerer wog deren zuvor artikulierte Diskreditierung des welthaften Seins, da dieses ihrer Auffassung nach nicht als Fundament existentiellen Verstehens ausreichen könnte. Eine kurze Vergewisserung des Inhaltes dieses Verstehens ruft in Erinnerung, worin genau dieses nach der bisherigen Quellenlage besteht: Es eröffnet die Einsicht in das Denken des Menschen, das sich jenseits zweckorientierter Bindungen an welthaftes Seiendes dadurch zu artikulieren vermag, dass es sich selbst reflektiert. In diesem Sinne decken sich die Vorstellungen von Selbst-Reflexion und Denken des Denkens weitgehend. Entscheidend ist dabei, dass es sich bei diesem Denken tatsächlich um ein extern gegenstandsloses Reflektieren handelt, sofern sich das Selbst als das Denkende seiner selbst erfasst. Schon aus diesem Grunde entspricht es der Logik dieses Gedankens, Erfordernisse eines Denkens von Anderem in größtmöglichem Umfang auszuschließen, denn das Selbst soll sich, um eigenstes Selbst werden zu können, ganz auf seine eigene Tätigkeit im Zustand objektloser Aktualisierung konzentrieren. In dieser Phase der existentiellen Bewegung wären für den Menschen Affizierungen grundsätzlich hinderlich, weshalb ihnen in der entsprechenden Theorie per se keine Beachtung geschenkt wird. Immer wieder ist jedoch darauf aufmerksam zu machen, dass es sich hierbei nur um eine Phase und nicht den Erfüllungsraum der existentiellen Bewegung handelt. In den Konzeptionen, die sich ihrer Erörterung verschrieben, ging es – der Stimmigkeit ihrer Argumentation entsprechend – völlig zu Recht zunächst darum, den Fokus auf die Selbst-Reflexion des Einzelnen zu richten, der als isoliert von seinen WeltBezügen vorgestellt wurde. Der nun anstehende Schritt ist offensichtlich. Mit neuer Objektiveinstellung weitet sich der Blick vom isolierten Selbst auf das Selbst in Relation. Wie kann diese Ausweitung aber nach der starken Konzentration auf den Beleg des Selbst-sein-Könnens nun gelingen? Es gilt, die Isolierung aus dem Welt-Bezug aufzuheben und eine Möglichkeit philosophisch darstellbarer Beziehung aufzuzeigen. Philosophisch darstellbar wird sie in dem Moment, in dem es nicht mehr um die Beschreibung von Einzelfall-Bezügen geht, sondern um ein Strukturmuster der Bezogenheit. Dieses wird uns im Gedanken der Affizierbarhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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keit greifbar. Da es um die Diskussion dieses Musters geht, ist es an dieser Stelle nicht erforderlich, Beispiele für konkrete Affizierungen anzuführen. Es genügt der Hinweis auf den entscheidenden Wandel, der sich jetzt im Bild des Menschen als Thema der Existenzphilosophie ankündigt, indem er vom Selbst zum Berührbaren transformiert. Irreführend wäre die Annahme, dass mit dieser Ausweitung des Sein-Könnens, das eindeutig als So-sein-Können ausgelegt wird, die Aufgabe selbst-reflexiven Denkens verbunden wäre. Ganz im Gegenteil ist die Existenz des Selbst-erfahrenen Menschen als Erfahrender des Anderen unverzichtbar. Ist diese Feststellung nicht im Grunde überflüssig? In einer Zeit wie der unseren, in der wir fast verlernt haben, angesichts der inflationären Thematisierung von Variationen des Selbst-Seins dessen Wert zu schätzen, wird uns ein philosophisches Plädoyer für dessen Bedeutung kaum noch überraschen. Das Thema als solches scheint längst aus den Händen der Philosophie in diejenigen von Psychologie und massenmedialer Marktführung übergegangen zu sein. Vielleicht besteht auch darin eine mögliche Ursache für die erschreckend geringe Aufmerksamkeit, die in den letzten Jahren existenzphilosophischem Denken zuteilwurde. Ihr Kern-Gedanke scheint in das kulturelle Bewusstsein unserer Gesellschaft eingegangen zu sein. Bedeutet das, dass Existenzphilosophie gegenstandslos geworden ist? Keinesfalls, denn der Beitrag, den sie nun zur philosophischen Diskussion leisten kann, ist erst noch zu beschreiben. Um keinen unzulässigen Anspruch zu erheben ist der Hinweis wichtig, dass er kein gänzlich unbekanntes Terrain vorstellen wird. Keiner der Gedanken, die im Zuge dieses Beitrages angesprochen werden, kann für sich das Merkmal völliger Innovation in Anspruch nehmen. Sein, Raum, Relation – hierbei handelt es sich natürlich um bekannte Werkzeuge aus dem Fundus philosophischer Instrumentarien. Es kann jedoch mit gleichem Nachdruck festgestellt werden, dass diese Begriffe nicht in gleicher Intensität reflektiert wurden, was allein der Vergleich der Termini «Sein» und «Raum» belegt. Und es muss vermerkt werden, dass es einen spezifischen Anwendungsrahmen für diese Begriffe gibt, da sie Bestandteile existenzphilosophischen Denkens sind und werden. Dessen zum Teil enge Verknüpfung mit dem Seins-Denken beklagte Heinrich Barth, wohingegen sie für Martin Heidegger nicht verhandelbares Paradigma des Denkens schlechthin war. Die nähere Betrachtung der Argumente, die Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas gegen die Integration des Seins-Denkens in den Kontext der Philosophie anführten, zeigte jedoch eine Besonderheit. Denn beide orientierten ihre Kritik vornehmlich an einem ontologisch fundierten Begriff des Seins, der sich ihren Anforderungen an eine philosophische Reflexion keinesfalls einfügen ließ. Zur Erinnerung: Für Barth lag der wichtigste Grund seiner Ablehnung des Seins-Begriffes in dem Umstand, dass er es ihm nicht erlaubte, den Menschen als Einzelnen zu begreifen. Genau diese Voraussetzung wollte aber auch er nutzen, um die existentielle Bewegung erklären zu können. Emmanuel Lévinas ging davon aus, dass es der Gedanke des Seins verhindere, den Einzelnen als verantwortliches Inhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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dividuum in die Pflicht zu nehmen. Seine Forderung, Sein anders zu denken, führte ihn dazu, das Seins-Geschehen zu fokussieren und als Ereignis zwischen dem Selben und dem Anderen unendlich prozessual zu begreifen. Der erste Teil des Titels einer seiner bekanntesten Schriften ist in diesem Sinne Programm: Jenseits des Seins. Einer solchen Forderung kann nicht zugestimmt werden. Sollte auch von diesen Zeilen eine programmatische Erklärung erwartet werden, so würde sie ‹Sein jenseits der Ontologie› lauten. Ein Widerspruch? Eine Unmöglichkeit? Keines von beidem, sondern Aufforderung zu einer eindeutigen Standortbestimmung, die nur über die Klärung der beiden Begriffe zu erreichen ist. Der Begriff des Seins bezeichnet in der Weise, in der er hier verwendet wird, das Faktum der Vorfindlichkeit, in etwas gebräuchlicherer Manier die Tatsache, dass etwas ist. Warum wird es an dieser Stelle ganz offensichtlich vermieden, von Seiendem zu sprechen? Seiendes ist, Vorfindlichkeit wird attestiert. So grob die Striche auch sind, mit denen der Unterschied nachgezeichnet wird, ist er selbst doch recht filigran. Denn hängt die Feststellung, wonach Seiendes ist, nicht auch immer von jemandem ab, der sie trifft? Diese Frage ist nicht die entscheidende, da sie letztlich in beiden Fällen bestätigend beantwortet werden müsste. Zentral ist die Überlegung, in welcher Weise auf Seiendes gedeutet oder Vorfindlichkeit bestätigt wird. Trotz der Bemühungen Martin Heideggers, die phänomenologischen Gegebenheitsweisen von Seiendem aufzuzeigen und zum Gegenstand seiner fundamentalontologischen Analyse zu machen, ist der Verweisungsgestus auf Seiendes durch die ontische Gemeinsamkeit der Faktizität gekennzeichnet. Taucht im Zuge der Frage nach dem Sinn von Sein der Begriff der Sorge auf, verweist er auf die ontologisch relevante Möglichkeit einer Bezugnahme auf Seiendes, die von keinem anderen als einem Seienden in Anspruch genommen werden kann. Der Begriff der Vorfindlichkeit setzt diese Sichtweise insofern fort, als er die Vorstellung der Bezogenheitsstruktur des Seins nutzt und intensiviert. Gerade wurde betont, dass es um das Denken des Seins jenseits der Ontologie gehen werde. Welches Terrain betreten wir damit? Es ist das Terrain des Existentiellen, das hier, sofern es als gelingend bezeichnet werden kann, den Entfaltungsmodus der Bezogenheit kennzeichnet. Daher signalisiert der Ausdruck des Vorfindlichen stärker als derjenige des Seienden das Strukturmoment der Verwiesenheit, das zum tragenden Element der weiteren Überlegungen wird. Denn es gilt das Band aufzuzeigen, das es erlaubt, Vorfindliches als das uns potentiell Affizierende zu denken, wofür eine starke grundsätzliche Bezogenheit anzunehmen ist. Bezeichnen wir das uns Umgebende als das Seiende, sind wir diesem in der Verweisung des Seins ähnlich; benennen wir es als das Vorfindliche, sind wir ihm gleich. In ersterem Fall benötigen wir die Annahme des Seins zur Kennzeichnung des Faktums der Ähnlichkeit, eine Notwendigkeit, auf die im zweiten Fall verzichtet werden kann. Daher war vom Sein jenseits der Ontologie die Rede. Denn deren Konzentration, wenn sie denn auf einen minimalen gemeinsamen Nenner https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Die Affizierbaren
zurückgeführt werden kann, richtet sich auf die Eruierung eben dieses Faktums der Ähnlichkeit von Seiendem. Vorfindlichkeit ist in Abhebung davon zwar als Begriff auch der Klasse allgemeiner Bestimmungen zuzuordnen, bedarf jedoch zu seiner Bereitstellung nicht einer abstrahierenden Verallgemeinerung, wie es für den Terminus des Seins zutrifft. Vorfindlich bin ich ebenso wie alles Andere, doch uns kommt Sein zu. Mag die Differenzierung beider Begriffe auch marginal wirken, beruht sie doch auf einem nicht unerheblichen Detail der Begriffsbestimmung. Um vom Sein des Seienden sprechen zu können, ist immer der Akt der vereinheitlichen Kennzeichnung in der einen Denkrichtung und die Beantwortung der Frage, wie Seiendes Sein repräsentiert, in der anderen Denkrichtung erforderlich. Ist hingegen von der Vorfindlichkeit des Vorfindlichen die Rede, liegt die allgemein kennzeichnende Begrifflichkeit unmittelbar in der Erfahrung des Vorfindlichen. Erfahrung und theoretisches Testat gehen in diesem Fall Hand in Hand. Das Wort vom Sein jenseits der Ontologie, als Pendant zum Titel von Emmanuel Lévinas berühmter Schrift, hält noch für einen Moment an der gängigen Terminologie fest, die auch in weiten Teilen dieser Darstellung zur Anwendung kommt. Die Aufmerksamkeit würde sonst zu stark durch die Beachtung der begrifflichen Differenz in Anspruch genommen und könnte sich nur mühsamer auf den eigentlichen Gedankengang richten. Vorfindlich ist dasjenige, zu dem die Verweisung wechselseitiger Affizierbarkeit besteht. Diese Aussage klingt schlicht und unproblematisch und birgt doch eine der größten Herausforderungen an das Denken. Warum? Weil sie ohne zuvor darauf explizit eingegangen zu sein eine grundsätzliche Gleichwertigkeit alles Vorfindlichen ausdrückt, die nur durch ein einziges Faktum gewährleistet ist: die Möglichkeit der Affizierbarkeit. Spätestens an dieser Stelle dürfte erkennbar werden, warum diese in die Überlegungen aufzunehmen war. Die eminente Funktion, die ihr dabei zukommt, kann gewiss nicht überschätzt werden. Als emotional affiziert erlebt sich der Mensch im Augenblick seiner Vereinzelung, wenn Angst und Verunsicherung von ihm Besitz zu ergreifen drohen. Er meint gar, seine Bindungen an das Bekannte verloren zu haben, ein Gedanke, der durch existenzphilosophische Auslegung sogar noch unterstrichen wird. Nicht selten gibt diese es als unverzichtbar aus, sich der Bindungen an die Welt zu entledigen, um frei für die Reflexion des Selbst-Sein-Könnens zu werden. Was dabei teilweise aus dem Blick gerät oder vielleicht auch gezielt ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass keine Vereinzelung als vollständig vorzustellen ist. Denn immer wird Bezogenheit im Vorfindlichen bestehen, selbst dann, wenn aus ihm mehr oder minder gewaltsam der Teilbereich des Welthaften ausgeschlossen werden soll. Wenige Seiten zuvor wurde bestätigt, dass das Geschehen der Vereinzelung als plausibel erscheinen kann, wodurch jede aktuelle Affizierung für gewisse Zeit auszuschließen ist. Das Selbst, das sich zu reflektieren sucht, muss die Gelegenheit haben, sich ganz auf sich selbst konzentrieren zu können. Damit war freilich nicht in einem Atemzug auch eingeräumt, dass ein faktisches Aussetzen der Struktur der Verwiesenheit jemals vorstellbar sein https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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könnte. Selbst wenn uns der Verlust des Vertrauten in tiefe Orientierungslosigkeit stürzt, handelt es sich höchstens um dessen Verlust, so schmerzlich er uns auch erscheinen mag. Unsere Einbindung in den Kontext des Vorfindlichen ist von diesem Geschehen nicht betroffen – wie sollte es auch möglich sein. Diese Bindung ist auf gar keinen Fall zu unterschätzen, denn selbst in Momenten größter Verzweiflung kann uns Anderes berühren, wenn wir es zulassen.
Angesichts der Seins-Lage Wir sind nicht zuletzt durch Existenzphilosophie und Existentialismus daran gewöhnt, den Begriff des Seins als kritikanfällig und unser eigenes Dasein eher als leidvoll zu betrachten. Das philosophische Wort der Kontingenz schlägt mit unverminderter Härte dort zu Buche, wo versucht wird, Sein unabhängig vom Gedanken göttlicher Schöpfung zu begreifen. An die Stelle geplanter und gewollter Erschaffung der Welt tritt das Bild eines Seins, das durch Zufälligkeit und Grundlosigkeit geprägt ist. Das Motiv der Geworfenheit trägt seinen Teil dazu bei, Dasein als höchst problematisch zu empfinden. Auf die Darstellungen von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas konnte bereits hingewiesen werden, die von einem «Zuviel» des Seins sprechen und damit die Komplexität einer nicht strukturierten Präsenz des Seienden bezeichnen. Beide greifen auf ein Bild physischer Reaktion auf die Erkenntnis dieses Zustandes zurück, wenn sie den Ekel nennen, jenes letztlich nicht kontrollierbare Bestreben, sich dessen zu entledigen, was uns quält. Lévinas fragt im Rahmen seiner philosophischen Theorie nach einem «Ausweg aus dem Sein» und Sartre sucht Strategien, sich der homogenen Fülle des Seins zu bemächtigen. Vermeidung der Seins-Konfrontation ist die eine Antwort auf das Erleben des Seins, Partikularisierung seiner kompakten Fülle die andere. In beiden Fällen kommt dem menschlichen Nichtungsvermögen die entscheidende Bedeutung zu. Denn wenn es schon nicht das Faktum des Seins als solches verändern kann, kann es doch den Anschein erwecken, die Erkenntnis des Seins zu verwandeln. Beide Wege, die vorgeschlagen werden, scheinen dazu geeignet zu sein, das Empfinden der eigenen Machtlosigkeit dem Sein gegenüber in dem Gefühl zu relativieren, zwar nicht das Sein, aber doch das Handeln im Sein beeinflussen zu können. Denn was sich – in Gänze oder partiell – nichten lässt, kann unserem erkennenden Zugriff nicht völlig verschlossen sein. Mitunter ist von der Last am Sein die Rede, die den Menschen derart beschwert, dass er beinahe handlungsunfähig zu werden droht. Dabei ist sein Handeln in Verantwortung gerade innerhalb einer Weltsicht unverzichtbar, in der kaum noch auf vorgegebene Richtlinien und Maßstäbe des Wollens und Wirkens zurückgegriffen werden kann. Gerade im existentialistischen Denken wird die hieraus resultierende Verpflichtung, aus eigener Kraft zu entscheiden, was zu wollen und was zu bewirken sei, nicht selten als eine Überforderung dargestellt, unter deren Bürhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Angesichts der Seins-Lage
de wir leiden. Was könnte diese Sichtweise dramatischer zum Ausdruck bringen als das Wort, wir seien zur Freiheit verurteilt. Das Perfide an dieser Verurteilung besteht darin, dass sie uns trifft, ohne dass wir uns eines Fehlverhaltens schuldig gemacht hätten. Einzig die Tatsache, zu sein, könnte als Grund angeführt werden, wobei es letztlich unsinnig ist, hier zwischen Ursache und Effekt unterscheiden zu wollen. Denn bereits das Faktum des Seins könnte als Form der Verdammnis empfunden werden. Nicht zufällig war in diesen letzten Zeilen des Öfteren vom Empfinden die Rede. An dieser Wortwahl spiegelt sich ein Novum des existenzphilosophischen Denkens, das eher selten thematisiert wird, obwohl es keinesfalls zu unterschätzen ist. Aus der philosophischen Literatur und Lyrik der Renaissance und des Barocks sind uns höchst ergreifende Zeugnisse jenes Leidens bekannt, dass die Autoren angesichts der Situation ihres Daseins, um diesen modernen Begriff zu verwenden, befällt. Frühes Zeugnis dieser Literatur, die trotz ihrer Unterschiede im Detail doch Übereinstimmungen in der angeschlagenen Tonalität zeigt, ist die Schrift Consolatio philosophiae – Trost der Philosophie des Boethius aus der Mitte des 6. Jahrhunderts. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Situation, die den Verfasser zu seiner Klage veranlasst, eine gänzlich andere als in späteren Beschreibungen ist. Denn hier kann ein nach damaliger herrschender Rechtsauffassung geltendes Fehlverhalten angeführt werden, dass zu Verurteilung und Kerkerhaft führte. Eine solch eindeutige Zuordnung des ursächlichen Ereignisses und der sich anschließenden Artikulation von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ist bereits in den Quellen aus dem 15. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich. Dort steht die Klage über die menschliche Situation insgesamt im Vordergrund, wie sie durch politische Konflikte und die Not der damit zusammenhängenden desolaten Lebensverhältnisse geprägt ist. Die Sonette Francesco Petrarcas können hier angeführt werden, oder auch seine Abhandlung De remediis utriusque fortunae ! Heilmittel gegen Glück und Unglück, um 1350 entstanden. In der Lyrik des Barocks nimmt das Motiv der «Vanitas», der Vergeblichkeit menschlichen Strebens, eine herausragende Stellung ein. Mit diesen Darstellungen liegen uns Artikulationen tiefsten menschlichen Empfindens vor, die an Intensität der Beschreibung der Verzweiflung, wie sie sich etwa in einem Text von Søren Kierkegaard findet, in nichts nachstehen. Mit der Großzügigkeit, die ein gattungsübergreifender Vergleich erfordert, kann die Stimmung, die dort wortgewandt und wirkmächtig zum Ausdruck gebracht wird, in Parallelität zu jener Stimmung betrachtet werden, die in der Existenzphilosophie teils beschrieben, teils reflektiert wird. Es ist in beiden Fällen ein vergleichbarer Wille zum Ausdruck des Empfindens, das die Gültigkeit bestehender Wertsysteme zu untergraben beginnt, weil diese kaum noch dazu geeignet zu sein scheinen, der Intensität menschlichen Leidens als Korrektiv zu dienen. In der Zeit des Barocks ist dieses Ausbrechen der Emotionalität aus dem Regelgeflecht kirchlicher und staatlicher Normierungen umso bemerkenswerter, als zu jener Zeit Trost im Evangelium https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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hätte gefunden werden können. Eine solche Gewissheit besteht in den 1920er Jahren, als sich existenzphilosophische Gedanken mehr und mehr ihren Weg suchen, nicht mehr ungebrochen. Die Variationsweite entsprechender Theorien, die sich entweder gänzlich einer Bezugnahme auf religiöses Denken enthalten oder diesem eine bestimmte Funktion innerhalb der Konzeptionen zuweisen, ist bereits in Ansätzen sichtbar geworden. Das Motiv der Geworfenheit ist der wahrscheinlich markanteste Ausdruck jener Erfahrung, sich in einem Sein vorzufinden, dem weder Grund noch Sinn attestiert werden kann. Als Reflexionsgrund des Empfindens der Belastung im Sein spielt es dementsprechend nicht in allen Konzeptionen eine vergleichbare Rolle. Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas gehen auf das Bild der Geworfenheit und das Empfinden der Last im Sein ein, wohingegen es für Karl Jaspers und Heinrich Barth von deutlich geringerer Bedeutung ist. Vom Gefühl der Überforderung, das einen Menschen überkommen kann, der sich seiner Situation im Sein bewusst wird, ist in ihren Schriften kaum die Rede. Trotzdem kann es als ein Merkmal existenzphilosophischer Texte angesehen werden, dass sie im Rahmen der unterschiedlichen Akzentuierungen der Artikulation jenes Empfindens Raum geben, das als Leiden am Sein bezeichnet werden kann. Dieses Kriterium unterscheidet sie vom Großteil philosophischer Literatur, zumal dann, wenn sie der Thematisierung ontologischer Fragen dient. Relativ selten wird die Möglichkeit eingeräumt, auf eine Analyse des Seins oder eine Betrachtung des Daseins durch eine Empfindung zu reagieren. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass dort, wo eine solche Reaktion stattfinden könnte, die philosophischen Theorien, die sie auslösen, einer Überprüfung unterzogen werden müssten. Denn diese sind auf Zustimmung oder Widerspruch, nicht jedoch auf affektive Resonanz angelegt. Existenzphilosophie bricht in atemberaubender Entschlossenheit mit dieser ungeschriebenen Regel. Sie integriert das Stilmittel der Deskription in das Portfolio ihrer Artikulationsmöglichkeiten, indem sie beschreibt, wie wir auf die Erfahrung des Seins reagieren. Die so entstehenden Bilder emotionaler Resonanz sind nicht mit jenen Beschreibungen der affektiven Reaktion auf existentielle Erschütterung und Vereinzelung identisch.459 Bei diesen handelt es sich um punktuell einsetzende Affizierungen in konkreter Bedingtheit, bei den Beschreibungen des Leidens am Sein um Anklänge umfassender Natur. Die begriffliche Unterscheidung in Reaktionen im ersten und Resonanz im zweiten Fall bietet sich in diesem Zusammenhang als sehr sinnvoll an. Wir reagieren auf partielle Erlebnismomente, wobei Art und Intensität der Reaktion durchaus variieren können. Wenn das Leiden am Sein hingegen als emotionale Resonanz bezeichnet wird, drückt sich darin eine andere Form der Affiziertheit aus, in der unsere Stimmung die von uns erfasste Seins-Lage aufnimmt und ihrerseits zur Produktion eben dieses Szenarios beiträgt. Das Empfinden des Leidens am Sein setzt Leidhaftigkeit als 459
Eine Bezugnahme auf Hartmut Rosas Theorie der «Resonanzen» liegt hier nicht vor. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Angesichts der Seins-Lage
Merkmal jener vermeintlichen Grund- und Sinnlosigkeit, die philosophisch reflexiv als Folgen der Geworfenheit benannt werden. Damit tragen wir unbeabsichtigt zur Etablierung einer Stimmung bei, die nicht an sich vom Sein ausgeht, sondern die von Anfang an Teil unserer projizierenden Empfindung ist. Für eine möglichst umfassende Beleuchtung des Phänomens Existenzphilosophie ist es besonders interessant, den Blick noch für einige Minuten auf dieser komplexen Lage verweilen zu lassen, die deshalb nicht als Situation bezeichnet werden kann, weil sie umfassenderer und unspezifischer Natur ist. Die Seins-Lage wirkt sich in konkreter situativer Konstellation aus, entbehrt aber selbst jener zeitlichen und ursächlichen Bedingtheit, die einzelne Situationen kennzeichnet. In ihr erscheint die gesamte Vorstellung des Seins als geprägt durch das Empfinden des Zuviel, dem es durch die Maßnahmen der Verweigerung oder Partikularisierung zu begegnen gilt. Dieses sind zumindest die beiden Formen möglicher Reaktion, die sich bereits abzeichneten. Das Verharren an diesem Punkt ist deshalb nützlich, weil es den Fokus auf einen nicht immer selbstverständlich erscheinenden Aspekt lenkt. Lesen wir etwa die Schilderungen von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas, könnte sehr leicht der Eindruck entstehen, dass es sich dabei um Beschreibungen faktisch unveränderlicher Gegebenheiten handelt. Die Tatsache, dass Sartres Denken dem Existentialismus zuzurechnen ist und Lévinas nur in sekundärer Hinsicht als Denker der Existenz betrachtet werden kann, war für die vorausgegangen Überlegungen entscheidend, spielt in diesem Zusammenhang hingegen keine vorrangige Rolle mehr. Denn momentan geht es um die Einstellung des Menschen zum vermeintlichen Faktum eines so und nicht anders beschaffenen Seins und nicht um die Frage spezieller Klassifizierungsmerkmale von Theorien. Um die Erinnerung an inzwischen weit zurückliegende Bemerkungen zu erleichtern, bietet sich der neuerliche Blick in die beiden Texte an, die die aussagekräftigsten Bilder des Empfindens des Zuviel enthalten. In Der Ekel heißt es: Alles war voll, alles war tätig, es gab keine schwache Phase, alles, selbst das unmerklichste Zucken, bestand aus Existenz. Und all dieses Existierende, […] kam nirgendwoher und ging nirgendwohin. Mit einem Schlag existierte es […]. Die Existenz überall, bis ins Unendliche, zuviel, immer und überall, […]. Ich ließ mich auf die Bank sinken, benommen, betäubt von dieser verschwenderische Fülle von Seiendem ohne Anfang; […]460
Und Emmanuel Lévinas notiert: «Was also in dieser ganzen Erfahrung des Seins zählt, ist nicht die Entdeckung eines neuen Charakters unserer Existenz, sondern ihre Faktizität selbst, die Entdeckung der Unwiderrufbarkeit unserer Präsenz.»461 Dass beide den Begriff der Existenz in anderer Weise verwenden, als sie für Existenzphilosophie charakteristisch ist, bedarf an dieser Stelle gewiss keines Hinweises mehr. Der Begriff der «Exzendenz» erscheint in Lévinas Darstellung zur Be460 461
Der Ekel, S.151. Ausweg aus dem Sein, S.11. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zeichnung einer Tendenz, die er dem Existieren kontrastiert. Denn während dieses sich letztlich immer weiter in das Sein einschreibt, spiegelt das Verlangen nach Exzendenz ! excendance den Wunsch, diesem zu entkommen. «Dem Bedürfnis nach Evasion erscheint das Sein nicht nur als Hindernis, das ein freies Denken zu überwinden hätte, noch als Starrheit, die zur Routine einlädt und nach einer Anstrengung der Originalität verlangt, sondern als Gefängnis, dem es zu entkommen gilt.»462 «Hindernis» ! l’obstacle, «Starrheit» ! rigidité, «Gefängnis» ! emprisonnement – die Ausdrücke, die Lévinas wählt, lassen keinen Zweifel an seiner abgrundtiefen Skepsis dem Sein gegenüber. Doch kaum sind diese Worte geschrieben, drängt sich die Einsicht auf, dass sie zwar zur Charakterisierung des Lévinasischen Denkens taugen, damit aber keinesfalls zur Kennzeichnung des Seins an sich geeignet sein müssen. Denn jede Aussage über dieses ist Ausdruck einer Interpretation. Dass diese im Grunde sehr banale Feststellung auch für die hier vertretene Sichtweise zutrifft, versteht sich von selbst. Im ersten Moment mag es als Nachteil erscheinen, dass eine verbindliche Definition des Seins nicht möglich ist, sondern immer nur Kontext-abhängige Auslegungen einer Beobachtung, die uns Anderes erfassen lässt. Doch sehr schnell erweist dieser Umstand sich als großer Vorzug. Denn wenn jede Aussage Interpretation des Seins ist, steht deren neuer Formulierung nichts im Weg. Schauen wir noch einmal auf jene Vorbehalte gegen eine Vorstellung vom Sein, die etwas näher betrachtet werden konnten, bestätigt sich der Mechanismus aus Interpretation und Distanzierung, der hier gemeint ist. Denker wie Heinrich Barth oder Emmanuel Lévinas setzen jeweils bestimmte Deutungen des Seins in vermeintlicher Gültigkeit voraus und distanzieren sich von ihnen. Eine Umdeutung des Seins-Begriffes findet dabei nicht statt. Werden die kritisierten Merkmale des Seins in komprimierter Form reflektiert, ergibt sich letztlich ein einziges Merkmal, das von beiden fokussiert wurde: ein Übermaß an Homogenität. Es ist das eine, eine derartige Beobachtung zu benennen, das andere, sie zu interpretieren.
Homogenität Was bedeutet der Gedanke der Homogenität des Seins, wenn er nicht als Indikator eines Problems, das dem Sein anzuhaften scheint, sondern als Anzeichen einer besonderen Deutungsmöglichkeit gewertet wird? Undifferenziertheit wäre vielleicht das erste Synonym, das sich anbietet, den Kern des Gedankens der Homogenität jedoch nicht trifft. Denn dieser besteht in der Vorstellung eines gleichförmig aus Verschiedenem Aufgebauten. Selbst die Beschreibungen von Sartre und Lévinas würden dieser Annahme nicht widersprechen, sondern sie, wenn vermutlich auch alles andere als beabsichtigt, unterstützen. Denn ist vom Zuviel 462
Ausweg aus dem Sein, S.15. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Homogenität
die Rede, ist es nicht das Übermaß des Ununterscheidbaren, das den Betrachter im Ekel erschüttert, sondern die Fülle des differenziert Gleichartigen, was sich gerade deshalb als eine so fatale Vorstellung erweist, da sie offenbar keine Chance zu wertender oder Sinn-setzender Unterscheidung gibt. Alles im Sein ist gleich viel, gleich viel wert und gleich viel unwertig. Hiermit wird nicht auf die Idee einer Wertlosigkeit angespielt, sondern auf einen Bestand im Sein vor wertender Differenzierung. Denn hieraus resultiert schließlich erst das Gefühl, mit einer erdrückenden Gleichförmigkeit konfrontiert zu sein, die mir nicht die geringste Möglichkeit einräumt, zwischen Relevantem und für mich Unbedeutendem zu unterscheiden und damit meine Perspektive wertender Differenzierung auf das Seiende zu projizieren. Ich fühle mich unbedeutend angesichts der Fülle des Anderen, weil es mir keine Berechtigung gibt, mich selbst als ihm gegenüber anders, das heißt Seins-relevant zu empfinden. Denn mein Sein, so legen es die wohl allzu berechtigten Überlegungen nahe, wird erst dadurch als mein Sein gerechtfertigt, dass es sich vom Übrigen abheben lässt. Eine solche Abhebung ist in der Philosophie zumeist nur in einer einzigen Form gedacht worden, nämlich als qualitative Differenzierung. Woher bezieht das Subjekt, das sich autonom wähnt, denn sonst seinen Anspruch, perspektivisches Zentrum der Erkenntnis des Anderen zu sein? Nur mit äußerstem formal-logischen Argumentationsaufwand hat das Nicht-Ich dem Ich entgegengesetzt werden können, um dessen Bedeutung als Ausgangspunkt des Setzungsaktes zu bestätigen. Nach den bisherigen Betrachtungen müsste sich der Gedanke eines autonomen Subjekts der Erkenntnis selbst ausschließen, ebenso wie die Annahme einer qualitativen Hervorhebung des Selben in Konfrontation mit dem Anderen. Anderes ist anders, genauso wie das Selbe das Andere für alles außer ihm ist. Es gibt Formulierungen, die eher nach Wortspielerei als nach ernsthafter philosophischer Feststellung klingen. Und sicherlich gehört der letzte Satz in diese Kategorie, was seinen Aussagegehalt allerdings nicht beeinträchtigen sollte. Gerade die fast zu simpel anmutende Reziprozität weist auf das im Grunde selbstverständliche, doch nicht selbstverständlich bedachte Faktum hin, dass es letztlich nicht den geringsten Anlass für die erkennende Besonderung des Selben gibt, zumindest dann nicht, wenn es unter dem Aspekt seiner Vorfindlichkeit betrachtet wird. Gleiches grenzt an Gleiches – hierin liegt die spektakuläre Botschaft des Gedankens der Vorfindlichkeit, der nun sein ganzes Potential zu erkennen gibt. Der Grund dafür, einen anderen Begriff zur Rede vom Seienden zu verwenden, bestand in der Feststellung, dass Seiendes stets eines ihm nicht zur Gänze Entsprechenden bedarf, um als solches tituliert werden zu können. Denn mit dieser Benennung geht bereits die Beurteilung eines seiner Merkmale einher, das hier darin besteht, zu sein. Ich muss, um diese Beurteilung vornehmen zu können, jedoch schon einen Begriff davon haben, worin das Verbindende des Seienden besteht, das heißt ich attestiere ihm Sein, dessen umfassende Zuständigkeit ich bereits als gemeinsames Kennzeichen aus der Begegnung mit Seiendem extrahttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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hiert habe. Nicht das Sein, doch die Rede vom Sein bedarf des Seienden, das sich aus dem Verbund des Gleichförmigen bereits distanziert hat. Der Begriff der Vorfindlichkeit verlangt im Gegensatz keine derartige Distanzierung desjenigen, der ihn zu verwenden gedenkt. Als vorfindlich wird erlebt, was erfahrbar ist, oder, um ein kürzlich aufgenommenes Motiv anklingen zu lassen, was uns affiziert. Sicherlich könnte eingewendet werden, dass sich der Begriff der Vorfindlichkeit kategorial in nichts von jenem des Seins unterscheidet, bezeichnen doch beide ein und dasselbe Faktum. Dennoch entsprechen sich beide Ausdrücke nicht. Verstehen wir den Terminus des Seins in seiner ontologisch verifizierten Bedeutung als Angabe der Eigenschaft des Seins, die dem Seienden zuerkennt werden kann, dann wird die Eigenschaft, zu sein, als dessen Bedeutetes gesetzt. Eine vergleichbare Setzung der Eigenschaft der Vorfindlichkeit scheint formal nicht ausgeschlossen zu sein. Dass eine Übertragung vom Gedanken des Seienden auf diesen Bereich jedoch nicht ohne Weiteres zu funktionieren scheint, wird sichtbar, wenn versucht wird, Vorfindlichkeit als Eigenschaft zu denken, die allem gleichermaßen zukommt. Die Möglichkeit, hier einen durch ontologische Diskussionen und vor allem die Seins-Kritik unbelasteten Weg zu gehen, resultiert daraus, dass im Falle des Vorfindlichkeits-Testats kein Vorfindliches anzunehmen ist, das sich aus dem potentiellen Gesamt differenzierend abhebt. Die Feststellung, dass Anderes ist, so wie ich bin, ist in diesem Fall nicht als das Ergebnis eines Urteilsaktes anzusehen, sondern als unmittelbare Folge der Erfahrung. Der argumentative Gewinn einer solchen Auffassung ist immens. Im Moment geht es darum, die proklamierte Homogenität des Seins, die in den beiden Bewertungen durch Sartre und Lévinas Grund der Ablehnung des Seins-Gedankens war, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Noch einmal ist es hilfreich sich zu vergegenwärtigen, dass damit keine veränderte Aussage über das Andere im Sein getroffen wird, sondern über unsere Einstellung ihm gegenüber. In beiden vorgestellten Beispielen plädieren die Autoren dafür, Ablehnung in Distanzierung auszudrücken, die in der Sichtweise des Emmanuel Lévinas zu einer Ausblendung des Bewusstseins, zu sein, führen könnte. Der von ihm gesuchte «Ausweg aus dem Sein» kann jedoch nur von einem Subjekt überhaupt als erstrebenswert erachtet werden, das mehr an dem Faktum seiner eigenen Bewusstheit, als an der Dichte des Seins zu leiden scheint. Insofern ist es nur folgerichtig, etwa den Zustand des Schlafes daraufhin zu prüfen, ob er als ein solcher Ausweg geeignet sein könnte. Wird Sartres Beschreibung des Ekels in seinem Roman mit den philosophischen Aussagen in Das Sein und das Nichts verglichen, lässt sich in beiden ein ähnlicher Wunsch sehen, die Einstellung dem Sein gegenüber zu verändern. Das Gefühl der Machtlosigkeit in Anbetracht des Zuviel, das keinen individuellen Zugriff zu erlauben scheint, soll in Aktionsbereitschaft verwandelt werden, wozu der Gedanke des Nichtungs-Vermögens genutzt wird. Durch beide Maßnahmen, die sich nicht im Detail gleichen, doch hinsichtlich ihrer Intention verglichen werden können, führt die Ablehnung des Seins https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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automatisch zu einer Kompetenzsteigerung des Menschen. Denn ihm werden Möglichkeiten aufgezeigt, sich der «Unerbittlichkeit» des Seins zu entziehen und sich dessen undifferenzierter Dichte als Agitator der Verweigerung entgegenzustellen. Fast scheinen die Überlegungen in diesem Moment der Kritik des Emmanuel Lévinas recht zu geben, wonach aus der ontologischen Konzeption des Seins zwangsläufig die Rechtfertigung eines autonom handelnden Subjekts resultiere. Die Zustimmung, die sich hier andeuten könnte, ist jedoch nicht wirklich gegeben. Denn es ist nicht der Gedanke des Seins, der zu dieser Folgerung führt, sondern die Einstellung des Menschen, der das Faktum des Seins mit dessen ontologischer Klassifizierung gleichsetzt. Das Sein als Begriff beinhaltet weder die Vorstellung noch die Notwendigkeit der Differenzierung, da es Ausdruck der extrahierten Tatsache des Bestandes von etwas ist. Meinen wir, Sein in der Weise dieses Extraktes zu erleben, ist der Eindruck von Dichte fast unausweichlich, da es letztlich genau diesen im Begriff des Seins festzuhalten galt. Der Mensch erfasst sich selbst als den Denkenden des Seins so, wie er als Erkennender des Seins agiert, nämlich exakt in der Weise mangelnder Zugehörigkeit, die von ihm aber auch niemals angestrebt wurde. Um Sein beurteilen und unter dem Begriff des Seins fassen zu können, ist die Annahme eines Denkens erforderlich, das sich zumindest partiell aus der Bestandhaftigkeit des Seins zu distanzieren vermag, um beurteilen zu können, was er nicht als sein Eigenstes akzeptiert. Ich gehöre dem Sein an, gehe jedoch nicht in ihm auf, da ich das Recht für mich in Anspruch nehme, es auf dem Wege der Abstraktion begrifflich fassen zu können. Natürlich laufen gerade zwei unterschiedliche gedankliche Ansätze parallel. Auf der einen Seite das Bestreben des Menschen, begrifflich zu fixieren, was er als Gegenstand seiner Erkenntnis begreift und auf der anderen Seite die Weise der Selbst-Reflexion im Sein. Eine der Ursachen für die Skepsis dem Seins-Denken gegenüber, wie sie sich in zwei Beispielen gezeigt hat, könnte nun darin bestehen, dass zwischen beiden Ansätzen nicht offensiv genug differenziert wird. So könnte es passieren, dass die Selbst-Reflexion sich in jenem Bild des Seins abspielt, das letztlich Produkt der erkennenden Abstraktion ist. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich eine Erfahrung im Dasein abspielen könnte, die dem Menschen den Eindruck vermittelt, unbedeutender Teil in einem Ganzen zu sein. Philosophisch relevant wird jedoch vor allem die Verquickung von Seins-Aussage und Seins-Erfahrung, womit die Frage aufgeworfen wird, ob es überhaupt Aussicht darauf geben kann, dieser Vermischung zu entgehen. Ein Versuch liegt in dem Vorschlag, anstatt von Sein von Vorfindlichkeit zu sprechen. Denn um es noch einmal hervorzuheben: Die Notwendigkeit eines extern Denkenden, der zur Titulierung des Seins antritt, indem er die Unmittelbarkeit der Seins-Erfahrung zum Teil aufgibt und sich damit selbst einen direkten SeinsBezug verschließt, besteht hier nicht in vergleichbarer Weise. Die Seins-Aussage artikuliert, was die Seins-Erfahrung zeigt, oder in der neuen Begrifflichkeit: Jede
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Aussage über Vorfindlichkeit spiegelt die Erfahrung dessen, der sich selbst als vorfindlich inmitten des Anderen reflektiert. Unter Anwendung dieses Begriffes und der ihm korrespondierenden Sichtweise wird es möglich, die Homogenität des Seins in positivem Sinne zu erfahren. Denn die erste Voraussetzung, die hierfür unabdingbar ist, wird erfüllt, indem die Vorstellung eines extern agierenden Subjekts weitgehend aufgegeben werden kann. Es ist nicht mehr zwingend erforderlich, eine hypostasierte Gemeinsamkeit im abstrahierenden Testat des Seins zu produzieren, um der faktischen Gemeinschaft im Sein zum Zwecke philosophischer Theoriebildung habhaft zu werden. Wir müssen nicht abstrahieren, um über dasjenige sprechen zu können, das uns verbindet. Denn selbst der Gedanke der Verbindung projiziert bereits eine artifizielle Annahme auf die Vorstellung des Seins, indem sie nach der Verbindung des Heterogenen sucht. Das Seins-Testat drückt letztlich nichts anderes als eine solche Verbindung des Heterogenen aus, das es jedoch nicht umfassen könnte, wäre es nicht zuvor aus dessen Vielfalt extrahiert worden. Die Bildung eines Seins-Begriffes, der auf dem Wege der Abstraktion ermittelt wird, krankt daran, dass er noch immer auf ein faktisch Seiendes verweist, dessen ontologischer Status damit als problematisch erscheint. Ist es Teil eines Seins, das seine Gemeinsamkeit garantiert, oder Fundament eines Seins-Begriffes, der diese kennzeichnet? Der Gedanke der Teilhabe bietet sich der Erinnerung hier an, dessen Klärung für Denker der Scholastik nicht unerhebliche Herausforderung bedeutete. Nimmt das Seiende an einem umfassenden Sein teil, das zu der Zeit noch im Kontext des Schöpfungsgedankens vorgestellt werden konnte, oder benennt der Begriff des Seins dessen Verbindendes, so wäre heute zu ergänzen? Auch in dieser Hinsicht kann der Schwenk zum Begriff der Vorfindlichkeit einige argumentative Erleichterung bieten. Denn die Vorstellung eines Vorfindlichen, das für sich besteht und den Menschen dazu veranlasst, seinen Status innerhalb seines Bestandes zu reflektieren, erweist sich letztlich als unnötig und, vorsichtig formuliert, als unsinnig. In jedem Moment kann sich der Reflektierende nur als ebenso vorfindlich wie das Andere erfassen, da Erfahrung im Prozess der Reflexion und sogar im Prozess philosophischer Erkenntnis eine ungleich größere Rolle spielt, als im ontologischen Verständnis des Seins. Vielleicht ist es offensichtlich, dass an diesem Punkt ein Aspekt zum Tragen kommt, der zu Beginn thematisiert wurde. Dort war von der notwendig erforderlichen Umdeutung der Wesensbestimmung des Menschen die Rede, wonach ihn nicht dasjenige kennzeichnen solle, das ihn von allem Übrigen unterscheidet, sondern die umfassendste Möglichkeit der Verbindung zum Anderen. Diese Verbindung konnte mittlerweile über den Gedanken der Affizierung näher beleuchtet werden. Nach allem, was derzeit wissenschaftlich zu belegen ist, sind wir die Wesen mit der vielfältigsten Affizierbarkeit. Diese gewährleistet uns die unmittelbare Erfahrung des uns Affizierenden, das nun, da es nach dem Begriff des Seins zu fragen gilt, als das Vorfindliche aufgefasst werden kann. Wenn es also zutrifft, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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dass durch die Verwendung des Begriffes der Vorfindlichkeit ein schwerwiegendes Problem des Seins-Denkens umgangen werden kann, dann besteht dieses in der zuvor für unverzichtbar gehaltenen Annahme eines Subjekts, das über Sein spricht, als würde es diesem nicht selbst zugehören. Der gedankliche Gewinn, der so zu erzielen ist, lässt die Homogenität des Vorfindlichen in ungebrochener Gleichförmigkeit denkbar werden, einer Gleichheit des Vorfindlichen, die nicht mehr dadurch gespalten wird, dass das aussagende Subjekt sich aufgrund seiner Besonderung der Seins-Bezeichnung zwangsläufig separieren muss. Noch immer stehen sich die beiden erwähnten Aspekte der Seins-Betrachtung gegenüber: deren erkenntnis-gewinnende Durchführung und deren erfahrungs-getragener Vollzug. Das Entscheidende am Gedanken der Vorfindlichkeit, das in diesem Moment sichtbar wird, lässt sich so zusammenfassen, dass in einem Denken, das auf ihm basiert, Erfahrung und Erkenntnis nicht grundsätzlich zu differenzieren sind. Denn in der Erfahrung wird reflektierbar, was auch Inhalt der Erkenntnis sein und bleiben wird – die vielgestaltige Präsenz des Vorfindlichen. Gibt der Mensch aber nicht durch den Verzicht auf eine exponierte Stellung im Sein, die ihm als dem Sein-Aussagenden vermeintlich zusteht, seine einzige Möglichkeit preis, sich dem Sein gegenüber reflektierend verhalten zu können? Es ist tatsächlich so, doch muss dieser Umstand nicht Besorgnis erregen, sondern kann Vertrauen in das Zusammenwirken des Vorfindlichen vermitteln. Wenn es gilt, mit dem Gedanken der Homogenität ernst zu machen und ihn als das wichtigste positiv zu bewertende Kennzeichen des Seins zu deuten, dann ist gerade jetzt die letzte massiv wirkende Hürde gefallen. Sie bestand in der Annahme des reflektierenden Subjekts. Denn diese konnte und könnte auch weiterhin immer dann angeführt werden, wenn es darum geht, Gleichförmigkeit im Sein zu denken. Dieses bedeutet nicht das Gleichförmige außerhalb von mir, sondern jene Gleichförmigkeit, die ich selbst nur bestätigen kann. Hier könnte sich die Annahme des Subjekts als hartnäckiger Widerstand erweisen. Denn immer würde sich die Bezeichnung des Seins, die über Seiendes und sein Sein ausgesagt wird, als Differenzierungsmerkmal ausweisen, wozu sie letztlich auch eingeführt worden war. Damit kein Missverständnis aufkommt: Es handelt sich bei der Bezeichnung des Seins nicht um eine Benennung der Art, dass etwa einem Ding ein Name zugewiesen wird, der dessen sichere Identifizierung in jeder zukünftigen Situation garantieren sollte. Von Bezeichnung im ontologischen Kontext ist dann zu sprechen, wenn gerade jede Identifizierungsbestrebung ausgesetzt wird, da es nicht um die Aufzeigbarkeit des Besonderen, sondern um die Ausrufung dessen allgemeinster Übereinstimmung geht, die im Faktum des Seins kenntlich gemacht wird. Um es noch einmal zu betonen: Für eine solche Kennzeichnung bedarf es stets eines Subjekts, das zwar einerseits dem Seienden und dessen Sein zugehört, andererseits jedoch darüber zu befinden hat, wann vom Sein gesprochen werden kann. Für einen kurzen Moment könnte es daher so wirken, als würde das Subjekt mit der Seins-Aussage über ein es nicht betreffendes Allgemeihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nes urteilen, dessen Verifikation nicht vom Bestand des Seienden abhängt, sondern von der Einschätzung desjenigen, der Sein aussagt. Dem äußeren Anschein nach müsste diese Doppelung aus Zugehörigkeit und Distanz auch auf den Begriff der Vorfindlichkeit zutreffen. Tatsächlich kommt sie hier jedoch nicht zur Geltung, da die Aussage über den Bestand des Anderen immer nur auf der Grundlage jener Erfahrung erfolgen kann, in der sich der Mensch selbst als so und nicht anders bestehend erfasst. Dem Versuch, Homogenität des Seins möglichst unbeeinträchtigt durch logische Erfordernisse zu denken, scheint damit nichts mehr im Wege zu stehen. Der Blick wird damit für die Frage danach freigesetzt, was genau in diesem Zusammenhang der Begriff der Homogenität bedeutet. Ist es die gleichförmige Anordnung des Vielen? Diese Frage wäre von Anfang an falsch formuliert, denn der Ausdruck der Anordnung könnte die Idee einer Struktur hervorrufen, die dann hinsichtlich Ursprung und Formation zu untersuchen wäre. Ist es der Zusammenhang des Gleichen? Wenn wirklich von Gleichem ausgegangen werden sollte, würde sich die Suche nach dessen Zusammenhalt erübrigen. Denn Gleiches bedarf keiner Verbindung. Oder wird hier zu schnell eine Formulierung zurückgewiesen, die letzten Endes mehr Wahres andeutet, als vermutet? Gleiche können, solange von ihnen in der Mehrzahl gesprochen wird, immer nur in einem einzigen Aspekt als gleich vorgestellt werden, in einem anderen hingegen als differenzierbar, wäre doch andernfalls der Singular für die ihm zugewiesene Begrifflichkeit zu wählen. Was könnte also als dieser Aspekt angenommen werden, der es erlaubt, tatsächlich von Gleichem zu sprechen? Eine Erklärung bietet sich an: das Sein. Unter dessen Schirmherrschaft könnte sich das Besondere in unendlicher Vielfalt präsentieren und würde, da ihm gleichermaßen Sein attestiert werden könnte, doch nicht endlos diversifiziert, sondern als Gleiches erscheinen. Die Schwierigkeit, die diese Erklärung mit sich bringt, liegt allerdings auf der Hand. Denn sofort würde wiederum der Ruf nach jemandem laut, der die konkrete Vielfalt vor dem Zerfallen in einem Bild der Verschiedenheit bewahrt und sie dem einen Begriff des Gleichen qua Sein subsumiert. Da die Bestrebung offensichtlich ist, die Annahme eines solchen ‹Jemand› nach Möglichkeit zu vermeiden, muss eine andere Erklärung für die Vorstellung der Homogenität ausfindig gemacht werden. In einem Moment wie diesem bietet es sich an, nach Zeugnissen der philosophischen Tradition zu suchen, die der eigenen Auffassung möglichst nahe kommen, beziehungsweise dazu geeignet erscheinen, diese zu fundieren. Die Wahl fällt in diesem Fall auf das für gewöhnlich als ältestes Zeugnis ontologischen Denkens angesehene Schriftstück, das uns nur noch als Konvolut einzelner eher hymnischer als analytischer Fragmente vorliegt. Die Rede ist von Parmenides’ Gedicht ΠΑΡΜΕΠΙΔΟΥ ΠΕΡΙ ΦΥΣΕΩΣ ! Vom Wesen des Seienden, als dessen Entstehungsdatum ein Zeitraum ab 520 v. Chr. anzunehmen ist. Das Denken des Parmenides ist im Laufe der Geschichte für unterschiedliche argumentative Zwecke in Anspruch genommen worden, wobei nicht immer mit völliger https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sicherheit zu entscheiden ist, ob diese seiner ursprünglichen Intention entsprechen. Allein die Feststellung, er sei «Schöpfer der Ontologie», lässt aufhorchen.463 Und schon die Entscheidung, den Text des Parmenides hier als Gedicht einzuführen, ist weitaus mehr als eine vielversprechende Ankündigung, denn ihr liegt eine Abwägung darüber zugrunde, wie dessen Aussagen zu lesen sein können. In der Forschung begegnet immer wieder die Bezeichnung als Lehrgedicht, die hier jedoch nicht vollständig übernommen wird. Denn auch dann, wenn diese Titulierung eine andere Spur des Denkens nahelegen sollte, ist die Intention, die Parmenides zur Formulierung seiner Verse veranlasste, uns nur noch als Gegenstand der Interpretation, ja vielleicht sogar nur als Tenor unserer Spekulation zugänglich. Wie immer die Einschätzung, in ihnen läge die Begründung der Ontologie vor, aufgenommen wird, deutet sie den großen Vorzug an, den der Blick in die Zeilen des Textes vermittelt, nämlich den Vorzug, Denken vor der Etablierung der Ontologie zu sein. Zwei motivische Zentren geben die Verse zu erkennen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Konzentration auf eines von ihnen, die sich als durchgängig in der Rezeptionsgeschichte ausmachen lässt, hat die Sichtweise auf Parmenides, der uns nur in diesen wenigen Aussagen begegnet, massiv geprägt. Hierbei handelt es sich um die Aufnahme seiner Feststellung, «[…] daß (etwas) ist, und daß nicht zu sein unmöglich ist, […]».464 In maßgeblicher Weise hat Platons Auslegung dieser Worte dazu beigetragen, sie als die entscheidende Aussage des Parmenides zu betrachten. Dass es nicht dieser Aspekt ist, der die Parmenideischen Aussagen in unserem Kontext reizvoll erscheinen lässt, wird mittlerweile verständlich sein. Denn hier wird der Gedanke des Seins in anderem Zusammenhang aufgenommen, weswegen auch wiederholt die Ablehnung seiner Deutung in ontologischem Sinne zum Ausdruck kam. Natürlich ist es brisant, diese Zurückweisung auf eine gesamte philosophische Disziplin zu beziehen, gerade dann, wenn sie im Laufe ihrer Geschichte Ziel interpretativer Korrekturen gewesen ist. Hart an der Grenze des Legitimen erfolgt hier also die Disqualifizierung der Ontologie, um letztlich auf einen einzigen Punkt aufmerksam machen zu können. Das Seins-Denken, um das es in diesem Kontext geht, verweigert sich einer Auslegung in formal-logischem Sinn, da es sich eher im Rahmen einer Erfahrungsanalyse thematisieren lässt. Eine nicht unbedeutende Unterstützung erhält dieses Verständnis durch die skizzierte Seins-Kritik von Emmanuel Lévinas und Heinrich Barth, für die gezeigt werden konnte, dass sie sich auf einen ontologisch fundierten Begriff des Seins beziehen. Es kann und muss also zwischen einem solchen Begriff und einem prä-ontologischen Verständnis unterschieden werden, das sich nicht grundsätzlich einer Reflexion in logisch-zentrierter Weise Vom Wesen des Seienden, S.52. Mit dieser Erklärung Uvo Hölschers beginnt das Nachwort, das der auf dessen Edition basierenden Ausgabe nebst Übersetzung folgt. 464 Vom Wesen des Seienden, Fr.2, S.9.
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verweigert, jedoch auch nicht zwangsläufig zu ihm führen muss. Dieser zuletzt genannte Aspekt des prä-ontologischen Denkens ist für unsere Argumentation bedeutsam, in der es um die Denkbarbarkeit der Homogenität des Seins geht. Diese hat sich in der Geschehnis-Struktur konkreter Begegnung zu bewähren, zu deren Verständnis eine ontologische Analyse der Begriffs-Struktur nicht wirklich etwas beizutragen vermag. Aus diesem Grunde ist der andere Schwerpunkt der Worte des Parmenides zu betrachten, da er die Möglichkeit des Denkens homogenen Seins demonstriert: So ist werden ausgelöscht und verschollen der Untergang. Auch geteilt ist es nicht, da es als ganzes gleichmäßig ist und nicht an einer Stelle irgend etwas mehr, was es hindern würde zusammenzuhängen, noch irgendetwas weniger, sondern im ganzen voll ist von Seiendem. Darum ist es als ganzes zusammenhängend: Seiendes stößt an Seiendes.465
Wie hätte sich die Geschichte unseres Seins-Denkens entwickelt, wenn dieser Gedanke als Kernaussage des Parmenides gewertet worden wäre und jene Auffassung von Ontologie, als deren Urheber er verstanden wird, geprägt hätte? Höchst spekulativ, aber doch nicht unberechtigt, ist die Feststellung, dass Lévinas keine oder eine zumindest deutlich anders fokussierte Seins-Kritik hätte vornehmen können. Denn in seiner Sichtweise rechtfertigt die gängige Auffassung des Seins auch eine Vorstellung von Macht und Gewalt, deren fatale Konsequenzen er zu verhindern sucht. Der Zusammenhang von Seins-Denken und den beiden Begriffen mag sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Wird jedoch die angesprochene Notwendigkeit berücksichtigt, dass zur Formulierung des Seins-Begriffes ein Subjekt erforderlich ist, das sich dem Gesamt des Seienden nicht vollständig integriert, insofern es über Sein oder Nicht-Sein zu befinden beansprucht, wird die Verbindung nachvollziehbar. Das Subjekt ist nach Lévinas’ Ansicht auch dadurch gekennzeichnet, dass es mit sich identisch ist und sogar sein muss, um seine erkennende Distanz dem Sein gegenüber beanspruchen zu können. Diese Identität des Selben verhindert die unvoreingenommene – das heißt in seiner Terminologie: gewaltfreie – Begegnung mit dem Anderen, dessen Alterität philosophisch als Infragestellung der Selbstheit des Eigenen aufgefasst wird. Das eklatante Versagen der westlichen Philosophie besteht demnach für Lévinas darin, diese Ent-Wertung des Anderen ontologisch gerechtfertigt zu haben. Ein Seins-Denken, das sich nicht auf die Etablierung des Seins-denkenden Subjekts kapriziert, könnte nicht zur Rechtfertigung einer solchen wertenden Demontage seiner Homogenität genutzt werden, da nicht über Sein oder Nicht-Sein geurteilt wird. Hier kommt mit großem Gewicht die Tatsache zum Tragen, dass Sein als Vorfindliches verstanden überhaupt nicht Explikation von Erkenntnis, sondern Bestätigung von Erfahrung ist. Immer wieder begegnet uns im Kontext der Existenzphilosophie dieses Eintreten des Erfahrungs-Begriffes für den tradi465
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tionellen Erkenntnis-Begriff. Es verwundert daher nicht im Mindesten, dass es auch im Zusammenhang der Seins-Vorstellung sichtbar wird. Die Einführung des Ausdrucks der Vorfindlichkeit diente letztlich auch dazu, ihm hier den Weg zu bereiten. Denn soviel wird sichtbar geworden sein: Die Möglichkeit, eine Aussage über Vorfindliches zu treffen, beruht auf Erfahrung. Und diese, das kann nun hinzugefügt werden, wertet nicht, zumindest nicht, solange sie sich auf die Feststellung des Faktums der Vorfindlichkeit beschränkt. Die Worte des Parmenides können als die wohl eindringlichste Beschreibung der Seins-Homogenität gelesen werden, wobei die kürzlich aufgeworfene Frage, was hierunter exakt zu verstehen sei, mit Blick auf das von ihm skizzierte Szenario beantwortet werden kann. Es handelt sich um den Zusammenhang des Verschiedenen, das in seinem Zusammenschluss den Eindruck von Gleichförmigkeit vermittelt. Um diese Sichtweise auszudrücken, wären keine passenderen Worte vorstellbar als die, die sich im achten Fragment seines Gedichtes finden: «Seiendes stößt an Seiendes.» Sie antizipieren in vollendeter Weise das Bild des Seins, das hier mit dem Begriff der Vorfindlichkeit umschrieben wird. Es ist der Versuch, Gleichförmigkeit zu denken, der hier auf dem Spiel steht, doch nicht aus bloßem Interesse an einer Vorstellung des Seins, sondern aus weitreichenderem Grund. Wenn Gleichförmigkeit denkbar wird, ist Gleichwertigkeit keine Illusion mehr. Der Gedanke der Gleichwertigkeit des Vorfindlichen bildet das Fundament jenes Entwurfes des berührbaren Selbst, der als Fortführung der existenzphilosophischen Konzeption des eigensten Selbst-Seins anzusehen ist. Dessen defizitäre Natur hat sich gezeigt und das Bedürfnis umso dringlicher erscheinen lassen, jenen einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen, der den Menschen in eigentlicher Wesenhaftigkeit vorstellt. Den Begriff des Eigentlichen verwendet wohl niemand im Kontext des existentiellen Denkens unbedacht. Dass er gerade dort erneut zum Einsatz kommt, wo es um die Erweiterung des Selbst-Seins geht, das bisher als Erfüllungsmoment des eigentlichen Sein-Könnens betrachtet wurde, soll den Anspruch bekräftigen, der mit diesen Seiten erhoben wird: Selbst-Sein wird als Erscheinung der Entwicklung innerhalb der existentiellen Bewegung verstanden, nicht als deren Vollendung. Ausdrücke wie Vollendung oder Erfüllung sind generell sehr schlecht dafür geeignet, das Telos dieser Bewegung zu bezeichnen, erwecken sie doch allzu leicht den Eindruck, es gäbe tatsächlich einen finalen Zustand der Unveränderbarkeit. Einer solchen Vorstellung wird durch Äußerungen etwa des Aristoteles Vorschub geleistet, wonach es möglich sei, einen Moment der Erfüllung zu erreichen, der keiner weiteren Anstrengungen bedarf. Inwieweit ein derartiges Verständnis seiner Konzeption der Glückseligkeit gerecht wird, könnte mit Recht gefragt werden. Seiner dem Bereich der Physik zuzurechnenden Auffassung, jeder Körper strebe nach dem ihm gemäßen Ort, entspricht es hingegen exakt. Denn dort herrscht die Ansicht vor, dass es solche Orte gäbe und jeder Zustand, der einen Körper in Distanz zu ihnen zeigt, nur als ein vorübergehender Status aufzufassen sei, dem kraft der Naturgesetzmäßigkeit https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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entgegengewirkt wird. Im Gegensatz zu seinen Aussagen im Rahmen der Ethik, die der argumentativen Absicherung bedürfen, kann sich Aristoteles im Hinblick auf physikalische Prozesse der finalen Ausrichtung gewiss sein, weil deren Gültigkeit – zumindest nach dem damaligen Verständnis – durch Empirie zweifelsfrei bestätigt wird. Wie stark letztlich das Nachwirken einer solchen unverbrüchlichen Seins-Gewissheit, die sich über den Gedanken der natürlichen Bestimmung eines Seienden erhält, noch im existenzphilosophischen Bild der Existenz erscheint, konnte verdeutlicht werden. Wenn eine solche Fundierung des Verständnisses der Berechtigung von Existenz als eigentlichem Sein des Menschen als sinnvoll erachtet wird, spricht nichts dagegen, sie auch unter Bezugnahme auf einen erweiterten Begriff von Existenz beizubehalten. Nur betrifft sie dann nicht mehr die Vorstellung des Selbst-Seins, sondern der gelingenden Existenz. Auch sie ist als das dem Menschen Gemäße zu betrachten und kann durch eine Auffassung wie die des Aristoteles eine philosophiehistorisch relevante Bestätigung erhalten. Vielleicht wäre es sogar angezeigt, ihr weitaus größere Beachtung auch in nicht-physikalischen Bereichen zu schenken. Denn auf die Frage, was uns darauf vertrauen lässt, dass es das uns Gemäße gibt, das noch nicht einmal unserem Tun, sondern unserem Sein eine funktionale Ausrichtung gibt, ist bislang noch keine überzeugendere Antwort gefunden worden. Der Hinweis darauf, dass es unserem Können entspricht, mag zunächst sinnvoll erscheinen, disqualifiziert sich jedoch sofort, sobald er auf Überlegungen zur Ethik bezogen wird. Denn dann würde folgen, dass alles, was getan oder existentiell realisiert werden kann, automatisch als gerechtfertigt zu betrachten sei. Kann hingegen Beobachtung angeführt werden, die bestätigt, dass sich Körper immer wieder so und nicht anders verhalten, könnte mit der erforderlichen Feststellung, dass es sich hierbei letzten Endes nur um eine adaptierte Erklärung handelt, zumindest von der Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass es sich im Falle menschlichen Seins nicht anders verhalten wird. Damit rückt der Gedanke der exemplarischen Existenz in den Vordergrund, insofern wir uns auf solche Bewegungen berufen können, die uns als Beispiele gelingender Existenz erscheinen. Der Beleg hierfür würde dann nicht mehr unter Bezugnahme auf den Hinweis erfolgen, dass wir ihrer fähig seien, sondern darauf, dass es Menschen gibt, deren Verhalten, Denken und Tun als Bestätigung angesehen werden können. Vielleicht wirkt der Übergang zu diesem Gedanken recht unvermittelt, da er den Überlegungen zum Begriff der Homogenität des Seins entspringt. Tatsächlich ist es an der Zeit, ihn zu vollziehen, da alle erforderlichen argumentativen Voraussetzungen mittlerweile bereitgestellt wurden. Homogenität des Seins zu denken erlaubt es, die größtmögliche Vorstellung der Gleichförmigkeit und Gleichwertigkeit des Seienden anzunehmen. Diese wird folglich nicht als Testat eines Urteilsaktes verstanden, womit ein immens wichtiger Vorzug verbunden ist. Wird Gleichwertigkeit behauptet, liegt einer solchen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Feststellung stets die Möglichkeit zugrunde, dass es sich auch anders hätte verhalten können. Es muss daher eine Begründung dafür gefunden werden, warum und unter welchen Bedingungen tatsächlich von gleichem Wert des Verschiedenen gesprochen werden kann. Kriterien sind zu benennen, die die Werthaftigkeit als solche und deren Bezug auf Konkretes kennzeichnen, wobei immer zu berücksichtigen ist, dass jedes dieser Kriterien im Zuge gesellschaftlicher und kultureller Übereinkunft ermittelt wird. Von absoluter Gültigkeit ist in diesem Zusammenhang schlichtweg nicht auszugehen. Solange die Definition von Wert in dieser Weise bedingt ist, bedarf es wiederum der Denkenden, die sie vornehmen. Im Grunde ist damit die Möglichkeit, allumfassende Gleichwertigkeit anzunehmen, von vornherein ausgeschlossen. Zu viele Faktoren spezifizierender Sichtweise und womöglich interessegeleiteter Beurteilungen stehen ihr nahezu unüberwindlich im Wege. Hinzu kommt der vielleicht sogar wichtigste Aspekt, dass Definitionen von Wertigkeit und damit auch ein Postulat der Gleichwertigkeit des Seienden mittels rationaler Fallentscheidung getroffen werden, die wiederum übergreifenden Weisungsmomenten etwa im Rahmen eines philosophischen Diskurses unterliegen. Es ergibt sich damit eine paradoxe Situation: Selbst unter Voraussetzung der besten Absichten, auf argumentative Weise für den Gedanken der Gleichwertigkeit zu werben, ist diese letztlich zum Scheitern verurteilt, da das Medium, dessen sie sich zur Bekräftigung ihres Anspruches bedient, den Gedanken des Gleichen als solchen vereitelt. Wie sollte diesem dann erst gleiche Wertigkeit attestiert werden? Welchen Vorzug bietet in dieser nur als tragisch zu bezeichnenden Lage dann aber die Annahme der Gleichwertigkeit, die der Beobachtung der Gleichförmigkeit des Seins entspricht? Wie gelangen wir zu dem Eindruck von Gleichförmigkeit, den die Zeilen des Parmenides in solch berührender Schlichtheit ausdrücken? Die Antwort wurde bereits formuliert und kann nun wiederholt werden: auf dem Wege der Affizierungen. Der argumentative Gewinn ihrer Akzentuierung spielt sich auf einem Feld ab, das nicht unbedingt der vorherrschenden Betrachtungsweise der Philosophie entspricht. Wird etwa an die Erläuterungen Immanuel Kants gedacht, die ihnen eine unverzichtbare Funktion zuweisen, so gelten diese im Rahmen erkenntnistheoretischen Fragens. Durch Affizierungen werden Anschauungen vermittelt. Nicht der Überlegung, wie Erkenntnis zustande kommt, gilt ihre Berücksichtigung an dieser Stelle, sondern der Frage, wie wir uns der Vorfindlichkeit des Seienden vergewissern. Der äußerst simpel anmutende Hinweis auf die Tatsache, dass wir von Anderem affizierbar sind, setzt dieses mit dem Vorfindlichen gleich, wobei die Art des Anderen in den Hintergrund tritt. Nach Jahrhunderten, in denen die westliche Philosophie um die Denkbarkeit des autonomen Subjekts rang, muss diese Einsenkung des Menschen in das Bezugsgeflecht gleichförmigen Seins ernüchtert, enttäuschend oder gar naiv wirken. Vielleicht ist es aber gerade die kritisch zu vermerkende Naivität, die hier ihren gedanklichen Freiraum auszuspielen beginnt. Noch immer gilt https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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der Tenor der ersten Seiten dieser Darstellung, in denen von einer erforderlichen Neubewertung der Wesensbestimmung des Menschen die Rede war. Nicht das, was uns vom Anderen unterscheidet, sollte uns kennzeichnen, sondern die Vielfalt der Berührungsflächen, die uns mit diesem verbindet. Damit war der Anschluss an den Gedanken der Affizierungen bereits vorbereitet, ohne zum damaligen Zeitpunkt bereits vollständig genutzt werden zu können. Denn der Nutzen bemisst sich in diesem Zusammenhang an dem Gewinn, den ein Motiv für die anstehende Gedankenführung bedeuten kann. Natürlich entstammen die Ausdrücke Nutzen und Gewinn einem zweckorientierten Denken, das, wie vielleicht noch in Erinnerung ist, im Zuge existenzphilosophischer Bestrebungen besonders von Martin Heidegger entschieden zurückgewiesen wurde. Hier liegt jedoch ein anderer Zusammenhang vor, in dem es eine Argumentation zu führen gilt. In diesem Fall von Nutzen oder Gewinn zu sprechen, deutet auf Funktion und Bedeutung einzelner Motive hin. Der Nutzen des Bildes der Affizierungen besteht darin, Erfahrung gleichförmigen Seins zu ermöglichen, worin die Voraussetzung dafür besteht, dieses als gleichwertig zu betrachten. Hierbei kommt der Aspekt zum Tragen, dass es von uns letztlich nur in sehr begrenztem Maße zu beeinflussen ist, wann wir in welcher Weise affiziert werden. Kein Wunder, dass gegenüber dieser Tatsache von Seiten der Philosophie lange eine gewisse Skepsis bestand, stellt sie doch eine der folgenreichsten Infragestellungen menschlicher Autonomie dar. Kants Entscheidung, sie im Kontext seiner Erläuterungen zur Erkenntnisweise zu behandeln, erweist sich insofern hinsichtlich der Darstellungs-Ökonomie als äußerst sinnvoll, da ihnen damit im Rahmen etwa der Überlegungen zur Handlungsfähigkeit des Menschen weitaus weniger Aufmerksamkeit gewidmet werden musste. Die Vorstellung, weder Zeitpunkt noch Art einer Affizierung in jedem Fall bestimmen zu können, stellt das wichtigste Fundament dafür dar, den Gedanken der Gleichwertigkeit des Vorfindlichen zulassen zu können. Denn hierin besteht für unser auktoriales Denken eine Herausforderung, deren Schwere nicht zu unterschätzen ist. Befragen wir uns für einen kurzen Augenblick, ob wir wirklich dazu in der Lage sind, das uns Umgebende frei von Klassifizierungen, Wertschätzungen, Präferenzen oder sogar frei von Gefallen und Sympathie zu denken, wäre es vermutlich eine verständliche, aber letztlich unvermeidbare Selbsttäuschung, es behaupten zu wollen. Zu stark wirken sich doch unsere kulturellen und intellektuellen Prägungen, die Bedingungen unserer Sozialisierung und sogar der Einfluss charakterlicher Eigenschaften auf unser Denken aus, als dass wir mit Fug und Recht für uns in Anspruch nehmen zu können, allem Vorfindlichen gegenüber gleich offen zu begegnen. Die Tatsache, dass es sich hierbei vielleicht um eine schöne Illusion handelt, die aber in der Praxis unseres Lebens und unserer Selbsterhaltung nicht einmal punktuell umzusetzen ist, wird dabei keineswegs unterschätzt, kann jedoch in diesem Rahmen vorübergehend ausgeklammert
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werden. Denn es geht um die Reflexion der Möglichkeit der Seins-Erfahrung und noch nicht um die Frage, wie diese sich im konkreten Daseins-Vollzug auswirkt. Stellt sich die Vorstellung größtmöglicher Unvoreingenommenheit also als äußerst schwierig dar, solange sie in Hinblick auf unsere Konfrontation im Denken bezogen werden soll, zeigt sich ein etwas anderes Bild, sobald sie unter dem Gesichtspunkt der Affizierbarkeit thematisiert wird. Denn hier gibt es keine Unterscheidungsmerkmale dessen, das dazu geeignet ist, uns zu affizieren. Kein Seiendes, nicht einmal eine Empfindung oder ein Gedanke ist vorstellbar, der uns nicht affizieren könnte, solange von deren aktuellem Bestand auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund macht die Beschreibung des Menschen als Wesen mit der größten anzunehmenden Berührbarkeit Sinn. Denn liegen keine situativen oder physiologischen Einschränkungen vor, kann diese Sichtweise als repräsentativ für unser Selbst-Verständnis angesehen werden. Sich in einem Bezugsfeld des Vorfindlichen zu finden und diese Positionierung als ausschlaggebend für das eigene Seins-Verständnis zu betrachten, stellt die optimale Voraussetzung für ein Denken des Seins unter dem Primat der Gleichwertigkeit dar. Angesichts dieses Vorzugs, der sich besonders im Rahmen der Überlegungen zur Ethik auswirken könnte, könnte es höchst interessant wirken, dass ähnlichen Vorstellungen in der Philosophie äußerst selten Ausdruck verliehen wurde. Doch verwunderlich ist dieser Umstand keineswegs, ganz im Gegenteil. Denn nach gängiger Sicht des Menschen müssen Auffassungen, die ihn einerseits seiner autonomen Subjektivität zu berauben scheinen und ihm andererseits seine Sonderstellung im Sein absprechen, geradezu wie Kränkungen wirken. Schließlich verliert der Mensch dadurch seinen angestammten Platz im Gesamt des Seins, den er meinte, nach Belieben selbst wählen und definieren zu können. Niemand beschreibt die psychische Reaktion auf die Einsicht in einen solchen Standort-Verlust intensiver als Arthur Schopenhauer in seinem 1819 erschienenen Werk Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Erkenntnis, Teil in einem gleichförmigen Gefüge des Seins zu sein, mag als Trost oder Desillusionierung empfunden werden, zwei Mustern der Reaktion, die in Schopenhauers Interpretation daher noch umso schwerer wiegen, als sie den Blick auf die eigene Kontingenz im Dasein einschließen. «Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen, […].»466 Eine sehr prägnante Schilderung des Motivs der Geworfenheit liegt uns damit vor, rund einhundert Jahre vor dessen gezielter Aufbereitung durch die Denker der Existenz. Erst allmählich wird die Bedeutung Schopenhauers für die Vorbereitung der Existenzphilosophie Gegenstand der Forschung, längst überfällig und eine Vielzahl neuer Einblicke versprechend. Die Behauptung, im Werk dieses in seiner und unserer Zeit äußerst unbequemen Denkers bereits eine vollständig entfaltete Version 466
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existentieller Philosophie finden zu können, würde freilich zu weit greifen. Denn obwohl er Aspekte benennt, die später zum Kanon existenzphilosophischer Theorieelemente zählen werden, stimmt seine Sicht des Daseins in einem entscheidenden Punkt ganz und gar nicht mit diesen überein. Es handelt sich um seine Überzeugung, dass als Reaktion auf die Einsicht in die Beschaffenheit des Seins nur der Wunsch entstehen könne, von diesem erlöst zu werden. Über die «ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt […]», notiert er: «Von solcher Erkenntniß geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus, ja, […] auch diejenige Stimmung des Gemüthes, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt.»467 Doch ist uns diese Sichtweise tatsächlich unbekannt? Begegneten uns im Zuge dieser Überlegungen nicht bereits zwei wortgewaltige Artikulationen einer Ablehnung des Seins und der ihr vorausgehenden «Stimmung des Gemüthes»? Es waren die Stimmen von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas, die sich in diesem Zusammenhang Gehör verschafften und den Zweifel an der Möglichkeit schürten, im Sein etwas anderes zu sehen als eine unstrukturierte Fülle des Seienden. Keiner von beiden geht so weit, «Erlösung von der Welt» zu erwägen, doch beide suchen das, was Lévinas als Evasion, als «Ausweg aus dem Sein» bezeichnet. Liegt beiden Bestrebungen derselbe Wunsch zugrunde? Die «Verneinung des Willens zum Leben», die nach Schopenhauers Auffassung die einzig vorstellbare Aktion ist, die dem Menschen letztlich möglich erscheint, würde keiner der beiden fordern oder auch nur für wünschenswert halten. Eine Positionierung im Sein ist das Ziel ihrer Reflexionen, womit sich eine Parallele zu einer anderen Schilderung Schopenhauers zu ergeben scheint: «Jener aber, der, […] das Wesen der Dinge an sich und dadurch das Ganze erkennt, […] sieht sich an allen Stellen zugleich, und tritt heraus.»468Dieses Heraustreten ist gewaltiger, gewalttätiger gegen sich selbst, als es Sartre oder Lévinas in ihren Schriften reflektieren: Sein Wille wendet sich, bejaht nicht mehr sein eigenes, sich in der Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern verneint es. Das Phänomen, wodurch dieses sich kund giebt, ist der Uebergang von der Tugend zur Askesis. Nämlich genügt es ihm nicht mehr, Andere sich selbst gleich zu lieben und für sie soviel zu thun, wie für sich; sondern es entsteht in ihm ein Abscheu vor dem Wesen, dessen Ausdruck seine eigene Erscheinung ist, dem Willen zum Leben, dem Kern und Wesen jener als jammervoll erkannten Welt.469
Sollte sich die Frage stellen, wozu an dieser Stelle ein Rückblick auf das Denken Arthur Schopenhauers für sinnvoll gehalten wird, kann die Antwort unter Hinweis auf die Vorstellung der Homogenität des Seins gefunden werden. Denn in 467 468 469
Die Welt als Wille und Vorstellung, § 53, S.361. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 68, S.489. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 68, S.489. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Homogenität
den Ausführungen, die dem Leidensbericht oftmals so viel näher stehen als der Analyse rational zu bewertender Sachverhalte, liegt uns die im Grunde einzige Reaktion dieser Intensität auf eben diesen Gedanken vor. Den Verlust der Sonderstellung des Menschen drückt Schopenhauer in der plastischsten Weise, die überhaupt nur vorstellbar ist, aus, indem er diesen als «Fabrikwaare der Natur“ bezeichnet.470 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass jenes Seins-Szenario, das Schopenhauer unter Zuhilfenahme der Begriffe «Leben», «Welt» und «Dasein» zeichnet, durch seine Auffassung vom Willen gekennzeichnet ist, der als permanente Triebkraft in der unendlichen Reproduktion seiner Objektivationen wirkt und von jedem Seienden, somit auch vom Menschen, die Erhaltung jener Selbstartikulation verlangt, die mit dem Begriff des «Willens zum Leben» bezeichnet wird. Ohne an dieser Stelle auf die tiefe Bedrängnis eingehen zu können, in die gerät, wer den Willen durch seine Funktion der Seins-Erhaltung gekennzeichnet sieht, ist ein hiermit zusammenhängender Aspekt des Schopenhauerschen Denkens zu betrachten. Doch zunächst gilt es noch für wenige Augenblicke bei der angedeuteten Frage zu verweilen, ob die Suche nach der Erlösung von der Welt dem Motiv des Auswegs aus dem Sein bei Emmanuel Lévinas zu vergleichen ist. Eine vollständige Entsprechung beider Ansichten anzunehmen, wäre nicht zu begründen, auch nicht zu der Sichtweise Jean-Paul Sartres, der nicht explizit Flucht und Ausweg fordert, doch in seiner Theorie des Seins eine Handhabe präsentiert, wie mit dessen erdrückender Faktizität umzugehen sei. Im Gegensatz zu Schopenhauer sprechen Sartre und Lévinas jedoch vornehmlich über das Leiden am Sein, nicht über das Leiden am Dasein, wie es in der Welt als Wille und Vorstellung exemplarisch zum Ausdruck kommt. Die Vorstellungen von Leben und Sein decken sich in den Auffassungen der beiden Jüngeren nicht zwangsläufig, wie es Schopenhauers Darstellung jedoch nahelegt. In dem Anspruch, im philosophischen Verständnis eine emotionale Reaktion auf das Dasein und seine Beschaffenheit artikulieren zu wollen, berühren sich seine Ansichten auch mit jenen der hier zu Worte kommenden existentiellen Denker, die bislang hier noch nicht zu Rate gezogen wurden, weil ihr Glaube an die Existenz ihre Theorien eindeutig von denen Schopenhauers unterscheidet. An dieser Stelle vom Glauben an die Existenz zu sprechen, mag übertrieben erscheinen, kann jedoch durch den Hinweis auf die exzeptionelle Bedeutung, die ihr zugewiesen wird, gerechtfertigt werden. Denn eine der Impulskräfte des existentiellen Denkens besteht in dessen ungebrochenem Optimismus, der aus der Feststellung resultiert, dass kontingentes Sein vom Einzelnen in selbst-verursachtes Existieren verwandelt werden kann. Vielleicht ist es neben der Herausarbeitung all der Schwierigkeiten, mit denen das Denken der Existenz zu kämpfen hat, hilfreich, sich diese Tatsache immer wieder vor Augen zu führen. Denn fast könnte es sonst zu der Frage kommen, «Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt, […].» Die Welt als Wille und Vorstellung, § 36, S.255. 470
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warum all diese Bemühungen angestellt werden, um ein philosophisches Modell zu erneuern, das im Grunde nur für einen relativ begrenzten Zeitraum bestand. Die Mühe der Überlegungen und die nicht geringere Anstrengung, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, lohnen in jedem Fall, wenn dieser Optimismus als einer der Hauptbestandteile der Existenzphilosophie verstanden wird. Es ist alles andere als resignatives Denken, das sich mit dem Faktum der Geworfenheit ins Dasein zu arrangieren sucht. Es ist ein Denken, das es noch immer verstanden hat, der Unveränderbarkeit faktischer Gegebenheit die Veränderungen menschlichen Wirkens entgegenzusetzen. Man mag es als Nachteil bewerten, dass es dabei nur in sehr geringem Umfang zur kritischen Reflexion der Wirkungen kommt und stattdessen der Argumentationsrahmen eher im existentiell-analysierenden Sinne gefasst wird. Selbst wenn diese Überlegungen dem Nachweis gelten, dass bisheriges existentielles Denken die Wirkmacht des Menschen zu einseitig auf die Selbst-Gestaltung begrenzt hat, darf das nahezu unerschütterliche Vertrauen in unsere Fähigkeit, in der Bewegung der gelingenden Existenz zu sein, nicht für einen einzigen Augenblick übersehen werden. Hierin liegt der deutliche Unterschied zur Sichtweise Arthur Schopenhauers, für den das Leid in der Welt in dieser Welt irreparabel ist. Angesichts seiner Interpretation des Willens, der mit übermächtigem Drang nach Verwirklichung strebt und dabei die Grenzen individuellen Wollens weit übersteigt, stellen Aussagen über dessen vermeintliche Freiheit für Schopenhauer erhebliche Schwierigkeiten dar. Denn wie kann der Einzelne wollen, was ihm der ewige Wille diktiert, und, wichtiger noch, wie kann er dessen Diktat nicht entsprechen? Im finalen Augenblick des Leidens räumt er eine solche Möglichkeit schließlich ein, wie die zitierten Zeilen belegen. Erlösung ist seiner Auffassung nach nicht in der Welt möglich, sondern kann uns nur von ihr lösen, indem wir dem Willen endgültig den Dienst verweigern. Eine dramatischere Artikulation des eigenen Wollens als diejenige, sich gegen sich selbst zu richten, ist freilich kaum vorstellbar und hinterlässt daher leicht den Eindruck, nur eine Lösung im Extremfall sein zu können. Der Grund dafür, auf diesen Aspekt an dieser Stelle einzugehen, liegt in jenen Gedanken, die Schopenhauer seinen kargen Bemerkungen zu Erlösung voranstellt. Dort geht es um die Frage, ob eine Vorbereitung, eine Ankündigung vorstellbar sei. In unseren Überlegungen sind wir mittlerweile weit auf dem Weg zur Reflexion des Motivs gelingender Existenz vorangekommen. Mit den Bemerkungen zur Existenz konnte auf unsere Befähigung geschaut werden, selbst-setzende Ursache eines So-Seins zu sein, das nun nicht mehr im Bild des Selbst-Seins, sondern in der Vorstellung des existentiellen Seins gipfelt. Die Anmerkungen zum Begriff des Seins zeigten, dass dieses unter Ausschöpfung seines Deutungsrahmens als Vorfindliches bezeichnet werden kann, das in nahezu ungebrochener Gleichförmigkeit zu denken ist. Gleichwertigkeit des Vorfindlichen wird vor diesem Hintergrund denkbar, womit ein wichtiger Schritt getan ist, um die Zusammenführung der Motive von Existenz und Sein einzuleiten. Denn die existentielle https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Homogenität
Bewegung ist kein isoliertes Geschehen, das uns von dem Anderen trennt, auch wenn frühere Konzeptionen gerade hierin eine ihrer Voraussetzungen sahen. Existentielle Bewegung ist Bewegung im Sein und damit potentielle Veränderung der qualitativen Beschaffenheit des uns erfahrbaren Anderen. Es liegt also auf der Hand, besonders dann, wenn gar von gelingender Existenz die Rede ist, nach den Merkmalen dieser Bewegung zu fragen, die sich nun nicht mehr von der Welt und der Präsenz des Anderen separiert, sondern sich nur in deren Gegenwart zu vollziehen vermag. In diesem Moment gleitet der Blick zurück zur Position Arthur Schopenhauers, deren Bedeutung für den Kontext des Ethischen in verblüffender Weise unterschätzt wird, nicht nur von seinen Zeitgenossen, sondern mitunter sogar noch in unseren Tagen. Es ist das große Verdienst neuester Forschungsarbeit, hier eine längst überfällige Würdigung zu leisten. Im Zuge einer über den Zeitraum von fast zweihundert Jahren äußerst spärlichen Rezeption im philosophischen Kontext ist besonders einem Gedanken erstaunlich geringe Beachtung geschenkt worden. Oder wurde schlichtweg befolgt, dass das Ignorieren einer anderen Meinung oftmals ein wirkungsvolleres Mittel zu deren Aufhebung ist als offene Kritik? Es handelt sich um die ersten Sätze des Paragraphen 53, mit dem das vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung eingeleitet wird. Dort heißt es: Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen, sind alte Ansprüche, die sie [die Philosophie] bei gereifter Einsicht, endlich aufgeben sollte. Denn hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das innerste Wesen des Menschen selbst, […]. Wir würden daher eben so töricht seyn, zu erwarten, daß unsere Moralsysteme und Ethiken Tugendhafte, Edle und Heilige […] erweckten.471
Ist eine entschiedenere Absage an die Wirkungsmöglichkeit philosophischer Aussagen zur Ethik vorstellbar? Verständlich wäre es schon, dass die Leser zu seiner Zeit dieser Feststellung eher mit Unverständnis begegneten, zumal Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft genau das Gegenteil dessen demonstriert hatte, was Schopenhauer nun verkündet. Für die Entwicklung des existentiellen Denkens sind obige Zeilen deshalb von unschätzbarer Bedeutung, weil sie ein Grundproblem ansprechen, mit dem dieses sich konfrontiert sehen könnte. Welche Relevanz kommt Aussagen theoretischer Ausrichtung zu, wenn sie nicht in Aussagen praktischen Werts übersetzt werden können? Dabei geht es nicht um ein Gegeneinander-Aufrechnen von Sinn und Nutzen, sondern um die tiefe Überzeugung, dass philosophisches Denken dem Menschen in jeder Situation seines Daseins gelten sollte. Für Schopenhauer liegt hierin die Entscheidung über dessen «Werth und Unwerth», eine Abwägung, deren Erfordernis verständlich ist, auch wenn die Antwort, die er findet, nicht geteilt werden kann. Denn letzt471
Die Welt als Wille und Vorstellung, § 53, S.357 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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lich siegt in seiner Wahrnehmung der Unwert über den Wert des Daseins, weshalb die einzig konsequente Reaktion für ihn darin besteht, diesem Befund in aller Radikalität Rechnung zu tragen. Dass philosophische Systeme, die ihm bekannt waren, weder in der Phase der Entscheidung noch in der Entscheidung zur Abkehr von der Welt hilfreich zur Seite stehen konnten, verwundert in einer Zeit, in der das existentielle Denken sich noch nicht in den Diskurs eingeschrieben hatte, kaum. Denn sie gaben der Empfindsamkeit des Menschen keinen annähernd ausreichenden Raum, um Einzug in die Artikulationen des Denkens zu halten. Zu ihnen hätte die Thematisierung des Leidens an der Welt gezählt, mit deren Ausdrucksmöglichkeit Schopenhauer durch die Übersetzung der Veden Bekanntschaft machte, die eine bis dahin zumindest in der westlichen Kultur unbekannte Perspektive eröffneten, das Dasein zu betrachten.472Schopenhauer antizipiert die in der späteren Existenzphilosophie zu findende Bereitschaft, nicht nur zu reflektieren, wie der Mensch die Welt erkennt, sondern auch wie er sie erlebt. Am Denken eines Menschen, der es wagt, sich seiner Empfindungen bewusst zu werden und diesem Bewusstsein Ausdruck zu verleihen, mussten die Lehren der Moralphilosophie mit vorhersehbarer Sicherheit scheitern. Denn hier bestätigt sich eine ebenso schlichte wie fundamental gültige Wahrheit, wonach eine Empfindung eher durch eine andere Empfindung zu beeinflussen sei als durch Weisungen und Argumente, die von Seiten der Philosophie angeboten werden können. Deren Natur beschreibt Schopenhauer so: «Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektirtes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie.»473 Kein Wort davon, dass sie angetreten sein könnte, dem Menschen einen Weg aus dem Empfinden des Leidens zu zeigen, der nicht als zielführend und gangbar erwiesen würde, sondern dem zu vertrauen sei. Wie hätte ein solches Vertrauen auch vermittelt werden können, da die Instrumente hierfür in der Philosophie jener Zeit nicht gebräuchlich waren. Um welche Instrumente es sich handelt? Um das Denken des Einzelnen und darum, die Möglichkeit gelingender Existenz zu beschreiben. Ersteres ist Gegenstand der bisherigen Konzepte der Existenzphilosophie, Letzteres wird aktuell verstärkt Beachtung finden. Schopenhauers Darstellung der Welt als Wille und Vorstellung ist deshalb eines der bedeutendsten Zeugnisse prä-existentiellen Denkens, weil es die Notwendigkeit des Bruches, den es innerhalb der Regelhaftigkeit des philosophischen Diskurses zu vollziehen galt, unmittelbar spürbar werden lässt. Dass es im Zuge dieses Bruches möglich wird, die «In Indien fassen unsre Religionen nie und nimmermehr Wurzel: die Urweisheit des Menschengeschlechts wird nicht von den Begebenheiten in Galiläa verdrängt werden. Hingegen strömt Indische Weisheit nach Europa zurück und wird eine Grundveränderung in unserm Wissen und Denken hervorbringen.» Die Welt als Wille und Vorstellung, § 63, S.462. 473 Die Welt als Wille und Vorstellung, § 68, S.494. 472
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Homogenität
Befindlichkeit des Menschen zu thematisieren, ist ein Gewinn, der nicht hoch genug geschätzt werden kann, wenn diese Möglichkeit als wichtig erachtet wird. Aus anderer Perspektive mag sie als eine unnötige Verwässerung philosophischer Präzision in Zielsetzung und Ausdruck erscheinen, eine Beurteilung, die sich als erstaunlich langlebig erweist. Doch sollte es im Themenspektrum der Existenzphilosophie nicht bei der Darstellung menschlichen Empfindens im Dasein bleiben, so wichtig dieser Ertrag auch ist. Entscheidend ist die Frage, was aus ihr folgt. In seinen Beschreibungen des Leidens am Dasein sprengt Schopenhauer die im philosophischen Stil üblichen Beschränkungen und fasst in Worte, was seiner Überzeugung nach endlich auszudrücken ist. «So ist [das] Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stetes Sterben. […] Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. […] Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag.»474 und: «In gleichem Maaße also, wie die Erkenntniß zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, wächst auch die Quaal, […].»475 Gewiss könnte eingewendet werden, dass Schopenhauer hier lediglich seine ganz persönliche Daseins-Erfahrung beschreibt und diese vermutlich ungerechtfertigt als Stimmung der Menschen seiner Zeit ausgibt. Der Blick in die Quellen der indischen Weisheitslehre belehrt jedoch eines Besseren, denn dort findet sich eine von geringfügigen Differenzen abgesehen entsprechende Sichtweise auf das Dasein als Wandel aus Entstehen und Vergehen, der nur den einen Wunsch erzeugt, diesem ewigen Kreislauf zu entkommen. Die Überzeugung, dass sein Erleben des Daseins nicht nur individuelle Wahrnehmung sei, sondern das Verstehen der Daseins-Verfassung schlechthin, wird für Schopenhauer Grundlage jenes Gedankens, der bereits gestreift, doch nicht verfolgt wurde. Ein einziges Mal tauchte er bisher im Zusammenhang möglicher Vorbereitung der Erlösung auf. Es handelt sich um den Gedanken des Mitleids. Über den im Leid erfahrenen Menschen heißt es: «Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem Leidenden.»476Die Ausgewogenheit in diesem Moment der Einfühlung ist bemerkenswert. Denn Schopenhauer spricht hier nicht von einer Beurteilung der Verfassung Anderer, sondern von einer Erfahrung, die deren Leiden dem eigenen Leiden entsprechen lässt. Derjenige, der sich selbst «in jedem Wesen» erkennt, lässt sich von deren Gestimmtheit affizieren, die er als solche zu erfassen vermag, weil sie ihm aus dem eigenen Erleben vertraut ist. Oder liegt lediglich ein Akt der Projektion vor, der das Eigene im Anderen spiegelt? Hier kommt zum Tragen, dass es nicht um eine Übertragung 474 475 476
Die Welt als Wille und Vorstellung, § 57, S.406 f. und S.369. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 56, S.404. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 66, S.481. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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eigenen Empfindens auf das Bild des Anderen geht, sondern um die Einsicht, dass dessen Dasein ebenso wie das eigene vom Willen zum Leben beherrscht ist. So wie im eigenen Erleben daraus der Wunsch resultiert, diesen nicht fortdauernd zu objektivieren, sondern ihn im entscheidenden Augenblick zu negieren, erwächst das Bestreben, das Leiden des Anderen nicht durch eigenes Tun zu intensivieren. Die Haltung «des Edlen» beschreibt Schopenhauer folgendermaßen: «[…] das Leiden, welches er an Anderen sieht, geht ihn fast so nahe an, wie sein eigenes: er sucht daher das Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen, versagt sich Genüsse, übernimmt Entbehrungen, um fremde Leiden zu mildern.»477 «Uneigennützigste Liebe» und «großmüthigste Selbstaufopferung für Andere» sind Folgen dieser Identifikation, die Schopenhauer für möglich hält.478 Denn wer zu ihr fähig ist, setzt «das fremde Individuum und sein Schicksal dem eigenen völlig gleich».479 Und wer sich in dieser Weise dem Anderen gleichsetzt und diesen als sich gleich erkennt, befinde sich, so gibt uns Schopenhauer zu verstehen, auf dem Wege zur Erlösung. Grenznah verlaufen seine Äußerungen zu diesem Geschehen der Aufhebung des Willens zum Leben und zur Empfindung reiner Liebe zum Anderen, die seiner Überzeugung nach immer nur als Erscheinung des Mitleids vorstellbar sei. Es muss einem Beben in der philosophischen Landschaft des 19. Jahrhunderts gleichgekommen sein, wenn Schopenhauer daraufhin erklärt: Wir werden daher keinen Anstand nehmen, im geraden Widerspruch mit Kant, der alles wahrhaft Gute und alle Tugend allein für solche anerkennen will, wenn sie aus der abstrakten Reflexion und zwar dem Begriffe der Pflicht und des kategorischen Imperativs hervorgegangen ist, und der gefühltes Mitleid für Schwäche, keineswegs für Tugend hält […].480
Dass ein Verhalten, das der «Güte der Gesinnung» entspringt, von Schopenhauer mit dem philosophischen Begriff der Tugend bezeichnet wird, ist im Grunde fast überflüssig. Denn wie seine offene Distanzierung von Kants Auffassung zeigt, handelt es sich seiner Auffassung nach um einen historisch nicht unbelasteten Terminus, der dem widerspricht, was er selbst zu verkünden hat. Hier klingt seine Feststellung nach, der zufolge Philosophie ungeeignet sei, im Rahmen praktischer Überlegungen Gehör zu beanspruchen. Denn, so bestätigen es obige Zeilen, sie kann spontane Akte der Einfühlung weder nahelegen noch nach dem MaßDie Welt als Wille und Vorstellung, § 66, S.480. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 68, S.487. 479 Die Welt als Wille und Vorstellung, § 67, S.483. Auf S.484 heißt es: «Was daher auch Güte, Liebe und Edelmuth für Andere thun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist was sie bewegen kann zu guten Thaten und Werken der Liebe, immer nur die Erkenntniß des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt.» 480 Die Welt als Wille und Vorstellung, § 67, S.484. 477
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stab ihrer Denktypik als moralisch wertvoll erachten. Der moralische Wert solcher Akte ist von derartigen Klassifizierungsbestrebungen nicht betroffen. «[…] alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht. Selbstsucht ist der ερως, Mitleid ist die αγαπη.»481 Wird diese Erklärung zusätzlich berücksichtigt, ergibt sich eine für die Bewertung philosophischer Bemühungen um die Ethik verheerende Einschätzung. Denn sie kann Tugend, die deren Ziel dienen sollte, nicht lehren, und bewirkt zudem höchstens Verhaltensweisen, die dem hohen Ideal der Güte der Gesinnung, wie sie sich im Mitleid äußert, nicht entsprechen. In diesem Moment geht es jedoch weniger um die moralische Werthaftigkeit des Mitleids, sondern um die Voraussetzung, aus der dessen Gedanke überhaupt erst möglich wird. Es handelt sich um die Vorstellung der Gleichförmigkeit des Seins, die aus Schopenhauers Bild der Natur hervorgeht. Damit ist ein Aspekt angesprochen worden, der in jedem Fall zu berücksichtigen ist, wenn eine Vorwegnahme existenzphilosophischer Ansichten in seinem Denken thematisiert wird. Indem er den Willen als vitales Prinzip der Natur betrachtet,482 fokussiert er die Bedingung der Geworfenheit ins Dasein, die für spätere Autoren keine Rolle spielen wird. Herrschen die Gesetzmäßigkeiten der Natur auch in unveränderlicher Weise,483 so muss es dem Menschen doch als unvorhersehbar erscheinen, in welchen Objektivationen sich der Wille manifestiert. Strenge Regelhaftigkeit der Abläufe innerhalb der Natur und der Eindruck der Zufälligkeit ihrer Phänomene korrelieren in Schopenhauers Sicht, wobei es zumeist dieser Eindruck ist, der den Menschen trifft. Auf der einen Seite ist von der «Zweckmässigkeit aller organischen Naturprodukte» die Rede,484 auf der anderen Seite bezeichnet Schopenhauer den Willen als «einen blinden Drang, ein finsteres dumpfes Treiben».485 Da dem Menschen vornehmlich die Wahrnehmung einzelner Phänomene zugänglich ist und sich die Erkenntnis nur in seltenen Momenten bis zur Einsicht in die Struktur des Willens erheben kann, ist es die Auffassung kontingenten Seins, die uns erscheint. Vielleicht sorgt die Bemerkung, dass Schopenhauers Natur-Verständnis als Zeichen der Gleichförmigkeit betrachtet werden könne, für Verwunderung, beschreibt er doch eine sehr klar strukturierte Staffelung der Organismen, der ein hierarchischer Aufbau zu entnehmen ist. Der Mensch ist in höchster Position vorzustellen, wobei sich bereits angedeutet hat, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 67, S.485. «Bisher subsumirte man den Begriffe Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen.» Die Welt als Wille und Vorstellung, § 22, S.165. 483 «Die Unfehlbarkeit der Naturgesetze hat, wenn man von der Erkenntniß des Einzelnen, […] ausgeht, etwas Ueberraschendes, ja, bisweilen fast Schaudererregendes.» Die Welt als Wille und Vorstellung, § 26, S.191. 484 Die Welt als Wille und Vorstellung, § 28, S.217. 485 Die Welt als Wille und Vorstellung, § 27, S.211. 481
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dass diese Stellung keineswegs als Auszeichnung, sondern eher als Belastung dargestellt wird, denn «Der Mensch allein trägt in abstrakten Begriffen die Gewißheit seines Todes mit sich herum: […].»486 Dieser Gedanke kann als Beleg für die Vorstellung gleichförmigen Seins in Anspruch genommen werden. Denn erscheint es auch in sich hierarchisch differenziert, ist der Mensch doch als eine Objektivation unter anderen zu betrachten. Weit entfernt ist diese Auffassung von solchen Bestrebungen, ihm eine Sonderstellung im Gesamt des Seins zuzuweisen, was speziell dann geschieht, wenn Sein als Schöpfung und die Erschaffung des Menschen als deren Vollendung betrachtet wird. Für uns ist es nach Schopenhauers Überzeugung schlichtweg nicht ersichtlich, warum sich der Wille gerade in dieser und nicht in jener Form objektiviert, denn nur um einen Unterschied der Gestalten handelt es sich tatsächlich, bleibt die Materie, aus der diese hervorgehen, doch stets ein und dieselbe. Das existenzphilosophische Bild der Geworfenheit erhält vor diesem Hintergrund eine noch schärfere Konturierung, als sie ihr ohnehin schon zu eigen ist. Mag das Wirken des Willens sich durch Zweckmäßigkeit auszeichnen, beherrscht in der Regel nicht deren Erkenntnis unsere Sicht des Daseins, sondern das Gefühl der vollständigen Beliebigkeit im Sein. In dieser Situation gewinnen die Aussagen zum Mitleid äußerste Brisanz. Diesen Begriff wählt Schopenhauer nicht zur Bezeichnung unseres Bedauerns, wenn unseren Nächsten ein schweres Unglück trifft, sondern zur Kennzeichnung eines Geschehens der Identifikation, die das Schicksal des Anderen dem meinen gleich setzt. Es liegt hier also nicht eine bisweilen im Empfinden des Mitleids mitschwingende Haltung der Differenzierung vor, die mich aus der Distanz der Nicht-Betroffenen verfolgen lässt, was meinen Nächsten widerfährt, sondern das exakte Gegenteil. Die Gleich-Setzung ebnet mögliche Distanzierungsbestrebungen ein. Die eine Reaktion auf die Einsicht der Gleichheit im Sein, die Schopenhauer beschreibt, besteht in dem Wunsch, so weit wie irgend möglich jede Intensivierung des Leidens Anderer zu vermeiden. Die zweite Reaktion erschließt sich in ihrer psychologischen Logik nicht unmittelbar. Der Anfang der entsprechenden Passage der Welt als Wille und Vorstellung wurde bereits zitiert. Dort war von dem Bemühen die Rede, das Gleichgewicht zwischen dem einen und dem Anderen dadurch herzustellen, dass dieser sich Entbehrungen unterwirft. Weiter heißt es über denjenigen, der zu diesem Schritt bereit ist: Er wird inne, daß der Unterschied zwischen ihm und dem Anderen, […] nur einer vergänglichen täuschenden Erscheinung angehört: er erkennt, unmittelbar und ohne Schlüsse, daß das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in Allem lebt; ja, daß dieses sich sogar auf die Thiere und die ganze Natur erstreckt: daher wird er auch kein Thier quälen.487 486 487
Die Welt als Wille und Vorstellung, § 54, S.369. Die Welt als Wille und Vorstellung, § 66, S.480 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Gerade war von Gleich-Setzung und Identifizierung die Rede, Ausdrücken, die nun ihre Bedeutung zu erkennen geben. Würden wir uns im Rahmen klassischer Überlegungen zur Ethik bewegen, wäre von einem Urteilsakt zu sprechen, der alle Wesen als Erscheinungen ein und desselben Grundes begreift, der in diesem Fall der «Wille zum Leben» ist. Schopenhauer, der zuvor erklärt hatte, dass Philosophie nicht dazu geeignet sei, «praktisch» zu werden, verweist hingegen auf Erkenntnis, die «unmittelbar und ohne Schlüsse» entstehe. Seinem Verständnis nach handelt es sich dabei um ein Phänomen im Kontext «ächter philosophischer Gesinnung», das er als Erfassen der Daseins-Struktur versteht. Ob damit eine Bezugnahme auf den Begriff der Intuition gerechtfertigt ist, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist aber die Tatsache, dass die Erkenntnis der Gemeinsamkeit aller Wesen in einem Akt projizierender Selbst-Reflexion erfolgt, der die Grenzen zwischen der Erfahrung des Anderen und des Eigenen aufhebt. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass die Reflexion des Willens zum Leben vor allem dadurch zustande kommt, dass dieser als wirkmächtig im Anderen erkannt wird. Was Schopenhauer hier thematisiert, ist weitaus mehr als eine Beschreibung von Solidarität, wie sie bisweilen unter Hinweis auf jenes biographische Detail behauptet wird, bei dem ihn das Leid der Galeerensklaven, mit dem er während einer Reise in Marseille konfrontiert wurde, zutiefst berührte. Natürlich spielt das Erkennen, dass alle demselben Willen zum Leben unterworfen sind, eine nicht unwichtige Rolle im Prozess der Selbst-Reflexion. Doch wichtiger ist der seltenste Moment der Freiheit, der sich als Folge dieser Erkenntnis einstellt und dem Einzelnen für Augenblicke die Möglichkeit eröffnet, auf diese zu reagieren. Denn dieser Aspekt ist im Schopenhauerschen Denken von zentraler Bedeutung: Erst die Einsicht, dass das eigene Schicksal dem der Anderen gleicht, befähigt dazu, «herauszutreten», wie es im Text heißt. Gemeint ist damit die Verweigerung, den vitalen Bedürfnissen den notwendigen Tribut zu zollen, um jenes Band, das ans Dasein kettet, zu durchtrennen. Die Verneinung des Willens zum Leben erscheint in dem Moment als Option, in dem die Bedeutung des eigenen Leidens im Leid der Anderen gespiegelt wird. Wichtig ist hierbei, dass die Verneinung des Willens zum Leben nicht als Akt des Eigennutzes zu verstehen ist, sondern um des Anderen willen entsteht. Denn dadurch versucht der Mitleidende, wie Schopenhauer es darstellt, das Bestehen von Ungerechtigkeit auszugleichen, insofern dem Selbst Befriedigungen zuzustehen scheinen, die dem Anderen aufgrund seiner Situation verwehrt sind. Ob hierin die grundsätzliche Ermöglichung dafür anzusehen ist, dass sich der Wille gegen das eigene Wollen wendet, oder ob selbstauferlegte Beschränkungen vielmehr nur in einzelnen Momenten des Mitleids zustande kommen, lässt sich nicht mit völliger Sicherheit entscheiden. Sinnvoll wäre es, hier von der Bedingung der Ermöglichung zu sprechen, die immer gegeben sein muss, da so die Schwierigkeit, das Nicht-Wollen zu wollen, zum Teil umgangen werden kann. Das Nicht-Wollen würde in dem Fall nicht dem eigenen Streben gelten, sondern dem Leiden des https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Anderen. Ob die Konstruktion dieses Augenblicks der Handlungsfähigkeit aus eigenem Wollen letztlich überzeugen kann, wäre zu fragen. Doch ist diese Frage aktuell, da keine tiefe Betrachtung der Schopenhauerschen Auffassung möglich ist, eher von nachgeordnetem Interesse. Denn wenn überlegt wird, warum in diesem Zusammenhang überhaupt die Aufmerksamkeit auf einen Denker gelenkt wird, der als Wegbereiter der Existenzphilosophie angesehen werden kann, ergibt sich eine Antwort, die in eine andere Richtung weist. Arthur Schopenhauer ist einer der wenigen Autoren, die ein Bild gleichförmigen Seins präsentieren, gleichförmig in zweifacher Hinsicht. An sich teilen alle Wesen das Merkmal, beliebige Objektivationen des Willens zu sein. Und aus der Perspektive des so objektivierten Wesens «Mensch» ist allen das Leiden am Dasein gemeinsam. Ausgangspunkt der Einbeziehung seines Denkens in den Gang der Überlegungen war die Frage, welche Folgerungen sich aus der Vorstellung homogenen Seins ergeben. Denn dessen Annahme wurde als Bedingung für die Möglichkeit gelingender Existenz ausgewiesen.
Vergegenwärtigungsmetaphern Das Ziel dieser Seiten besteht darin, eine Konzeption von Existenzphilosophie zu erwägen, die ausschließlich unter Bezugnahme auf philosophisch Denkbares funktioniert und damit auf alle Möglichkeiten verzichtet, im Religiösen Orientierung zu finden. Damit fällt der Vorstellung des Seins die Aufgabe zu, alleinige Quelle jener Bedingungen zu sein, die gelingende Existenz stattfinden lassen. Als gelingend kann Existenz dann bezeichnet werden, wenn sie sich nicht im SelbstSein erschöpft, sondern sich in Gestaltung des Seins-Vollzuges zu etablieren beginnt. Dass die Überlegungen damit im Kontext des Ethischen angelangt sind, ist offensichtlich. Welche Indikatoren gelingender Existenz sind nun aber zu nennen? Kehren die Gedanken nicht unweigerlich zu jener Konzeption der Verantwortlichkeit zurück, die vor allem von Jean-Paul Sartre längst formuliert wurde? Er spricht von Verantwortlichkeit, die uns nicht von religiöser oder gesetzgeberischer Autorität auferlegt wird, sondern die uns kraft unseres Seins eignet. Oder läuft die Betrachtung, wenn sie sich diese Richtung nicht versagen würde, nicht auf das Bild der Liebe zum Nächsten hinaus, von dem Franz Rosenzweig sagte, dieser vertrete vollgültig alle Welt? Die Vorstellung des Anderen, mir gleich in Nähe und Werthaftigkeit, ist schließlich ein Gedanke, der, in philosophische Terminologie übersetzt, die Annahme homogenen Seins bekräftigt. Möglicherweise werden die Erwartungen, die an diese Zeilen gestellt werden, enttäuscht, wenn es nun festzuhalten gilt, was sie leisten können und was nicht. Sie können keine Empfehlungen moralischen Verhaltens präsentieren, die nicht in irgendeiner Weise bereits thematisiert worden wären. Aber ihre erklärte Absicht besteht darin, mit den Mitteln der Philosophie eine Begründung von Moralität vorzunehhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Vergegenwärtigungsmetaphern
men, die sich konsequent nur auf deren Einsatz beschränkt. Denn zwei Aspekte scheinen vorrangig dafür verantwortlich zu sein, dass Existenzphilosophie im aktuellen Diskurs eine verschwindend geringe Rolle spielt: zum einen ihr selbstgewähltes Anliegen, Theorie der Selbst-Werdung zu sein, und zum anderen eine mitunter deutlich erkennbare Affinität zum Denken des Religiösen, die sich besonders dann bemerkbar macht, wenn es um die Frage von Transzendenz geht. Deren Thematisierung ist dann im existentiellen Denken von zentraler Bedeutung, wenn über Sinn und Motivation der existentiellen Bewegung zu urteilen ist. Kann beides nicht allein innerhalb der Welt gefunden werden, ist der Ausblick auf Transzendenz die naheliegende Entscheidung. Nun wäre es naiv, den Begriff der Transzendenz selbstverständlich mit religiösen Konnotationen zu versehen, wodurch etwa das Motiv des Glaubens Einzug in existentielles Denken halten würde. Doch ob die Ausweitung auf das Religiöse tatsächlich vorgenommen wird oder nicht ! es reicht bereits der Begriff des Transzendierens als Synonym der existentiellen Bewegung aus, um die eingangs erörterte Distanzierung vom WeltSein einzuleiten. Denn er beinhaltet die Auffassung, dass das wahre Sein sich jenseits der Welt ereigne. Dieser Ansicht ist mit allem Nachdruck zu widersprechen. In der Engführung existenzphilosophischer Theoriebildung auf die Möglichkeit des Selbst-Werdens kann daher nicht deren letztes Wort bestehen, sondern ein Wort, das das Denken des Anderen ermöglicht. Die Bewegungen der Selbst-Verschränkung und der expliziten Hinwendung zum Anderen, worunter alles Andere, das uns zu affizieren vermag, verstanden wird, stehen sich nicht gegensätzlich gegenüber, sondern können als zwei einander bedingende Momente der einen Bewegung gelingender Existenz gedeutet werden. Die einzige Möglichkeit, das Andere in dieser weitesten Auslegung denken zu können, besteht darin, es als Vorfindliches im Sein zu begreifen. Dessen Manko, als undifferenziertes Zuviel zu erscheinen, das etwa von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas in literarisch-reflexiver Form artikuliert wurde, kann nun in den größten Vorzug umgedeutet werden. Denn die Fülle des Vorfindlichen muss nicht zwangsläufig als bedrohlich empfunden werden. Sie kann ein Gefühl tiefer Verwurzelung im Sein hervorrufen, das den Einzelnen gerade nicht als Verlorenen in einem anonymen Da-Sein zeigt, sondern als umgeben von Gleich-Förmigem und Gleich-Wertigem. An dem Bild der Geworfenheit wird auch eine solche Sichtweise nichts ändern können, da sich weder Grund noch Bestimmung menschlichen Da-Seins benennen lassen, wenn nicht auf Aussagen über die Schöpfung zurückgegriffen wird. Doch wenn wir in ein Sein geworfen sind, das uns in einer solchen Vielfalt an inspirierenden, beglückenden, herausfordernden, auch beunruhigen und schmerzlichen Affizierungen gegenwärtig wird, ist der Grund unseres Seins letztlich bedeutungslos. Denn alle Sinngebung ereignet sich im ununterbrochenen Wechsel-Wirken der Affizierungen, die unabhängig von ihrer jeweiligen Art und Intensität in jedem Fall eines sind: Vergegenwärtigungsmetaphern des Anderen im Sein. Da dieses mir als Vorfindliches gleicht, könnte mein https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Da-Sein als beliebig und sinnlos empfunden werden. Da dieses mir als Vorfindliches gleicht, kann mein Da-Sein jedoch ebenso als umfangen von mir Erkennbarem verstanden werden. Der Begriff der Umfangenheit signalisiert nicht ein bloßes zeitgleiches Sein des Anderen, sondern die aller Vergegenwärtigung vorgängige Verwiesenheit im Sein. Das eigene Sein ist niemals grundlos, weil das Sein des Anderen ihm Grund gibt. Damit diese Formulierung nicht nach einer pathetischen Proklamation klingt, ist zu fragen, was hier unter dem Grund-Sein verstanden wird. Der Begriff verweist nicht auf Ursächlichkeit in der Weise, Grund von etwas zu sein, sondern auf Bedingtheit in der Art, Grund für etwas zu sein. Wir sind einander Grund dafür, uns selbst und das Andere zu erfahren. Wird nach der Möglichkeit gefragt, derart aufeinander zu wirken, kann der Gedanke der Affizierungen an seiner wichtigsten Position innerhalb des Gedankenganges zum Tragen kommen. Wir sind einander Grund, uns und das Andere als affiziert zu vergegenwärtigen. Es wäre allzu optimistisch, sollte dadurch das Bild der Geworfenheit in ein kontingentes Sein bereits für überwunden gehalten werden. Der Aspekt der Zufälligkeit wird sich auch aus dem Verständnis der Affizierungen nicht eliminieren lassen. Doch stehen im Moment nicht diese in ihrem ‹Wann› und ‹Wie› im Vordergrund, sondern das Geschehen, das sich durch ihr Eintreten zu entwickeln beginnt. Das Selbst erlebt sich als affizierbar. Diese knappe und fast unscheinbare Formulierung zeigt die exakte Gegenposition zu solchen existenzphilosophischen Konzeptionen an, die von einer – und sei sie auch nur temporären ! Abkehr von Welt und Anderem ausgehen. Nicht dadurch, dass eine Distanzierung erfolgt, wird die existentielle Bewegung initiiert, sondern dadurch, dass sich der Mensch als denjenigen erlebt, der die Affizierung durch Anderes als Konstituens seines Selbst-Seins begreift. Der Begriff des Einzelnen, dieses im Grunde einzige gemeinsame Motiv existenzphilosophischer Theorien, gewinnt vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Dimension. Vereinzelung bedeutet nicht mehr Distanzierung vom Nicht-Identischen, sondern das Einfinden in die Wechsel-Wirkung der Vergegenwärtigung. Jeder und Jedes gibt sich als dieser und dieses Eine zu erkennen, das dem Anderen Grund dafür ist, sich als affizierbar zu erfahren. Sollte sich der Eindruck einstellen, als würde hierbei nur an physisch Vorhandenes in seiner materiellen Präsenz gedacht, kann diesem mit der Erinnerung daran begegnet werden, dass Affizierungen nicht nur von konkreten Objekten dieser Art ausgehen können, sondern auch durch Gedanken, Ideen, Empfindungen hervorgerufen werden können. Es sind multifunktionale Ereignismomente, die unsere Verbindungen zu Anderem spürbar werden lassen. Der deutliche Vorzug des Bildes der Gleichwertigkeit im Sein, das heißt der Gleichwertigkeit des Vorfindlichen, liegt darin, dass auf seiner Grundlage keine qualitative Differenzierung zwischen einzelnen Affizierungen vorgenommen werden muss. Jedes ist potentiell geeignet, mich zu affizieren, so wie ich potentiell dazu befähigt bin, an Anderes zu rühren. Das Motiv der Gleichwertigkeit erhält noch aus einer andehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ren Richtung Unterstützung. Es wurde erwähnt, dass es sich bei Berührungen um nicht vollständig kontrollier- und planbare Geschehnismomente handelt. In gewissem Rahmen kann ein Mensch natürlich die Weise beeinflussen, in der er auf Andere wirken möchte. Er kann sein Auftreten in gewünschter Manier inszenieren. Doch wird niemals ein Punkt erreichbar sein, an dem alle Affizierungen, die von uns ausgehen, ausnahmslos der willentlichen Bestimmung unterliegen. Unbeabsichtigtes, Ungewolltes, situativ Bedingtes werden immer zu den gezielten Weisen des Wirken-Wollens hinzutreten, wodurch hier ein Phänomen greifbar wird, das sonst eher schwer zu fassen ist: das Phänomen der Authentizität oder der Wahrhaftigkeit. Vielleicht wirken diese Begriffe in einer Zeit, in der wir erfahren in Strategien der Selbst-Optimierung und Coaching-Techniken sind, etwas in Vergessenheit geraten. Vielleicht betrachten wir diese Eigenschaften, die eher Wirkungen sind als nicht mehr erstrebenswert, weil sie ökonomischen Interessen oder gesellschaftlicher Dynamik nicht kompatibel zu sein scheinen. Wie oft erleben wir es, dass für Verhaltensweisen geworben wird, die der Werbende letztlich selbst nicht praktiziert. Macht es dann überhaupt Sinn, auf das fast altmodisch anmutende Phänomen der Wahrhaftigkeit hinzuweisen? Für die Formulierung der Möglichkeit gelingender Existenz ist es unverzichtbar. Es zeigt sich in den kostbarsten Augenblicken im Ereignis der Affizierung, wenn uns das Andere, ganz gleich, welcher Art es sei, als pur, unverstellt, ungeschützt begegnet und wir in der ethisch wertvollsten Weise darauf reagieren. Diese erfordert erstaunlich geringen Aufwand, setzt keinen Urteilsakt voraus, der bestimmt, was als gut zu gelten habe. Sie kann durch kein Gebot und keinen Imperativ, durch keine Gesetzgebung gefordert werden, sondern ist im Grunde tatsächlich nur Reaktion. Doch signalisiert die Rede davon, dass sie nur Reaktion sei, unsere jahrhundertelang eingeübte Gewöhnung daran, dass werthaft nur jenes Verhalten sein könne, das dem freien Willen entspringt. Auf das Bild der Reaktion, der Weise, wie wir uns der ungeschützten Präsentation des Anderen gegenüber verhalten, trifft diese Maßgabe ganz gewiss nicht zu. Affizierung und Reaktion stellen die beiden Momente der Begegnung in Wahrhaftigkeit dar, oder sollten es zumindest, wie leider zu ergänzen ist. Vielleicht regt sich Unwillen angesichts einer derart simpel anmutenden Feststellung. Ein einziger Blick auf das tagesaktuelle Geschehen in Politik und Wirtschaft, Beruf und Familie zeigt doch mehr als offensichtlich, dass man sich den Wert der Wahrhaftigkeit muss leisten können. Doch hat dieser Einwand, der zweifellos seine Berechtigung hat, noch nie davon abgehalten, philosophische Aussagen zum Werthaften an sich und zum Ethischen in Verhalten und Denken zu formulieren. Mag diese Erwiderung, so wenig originell sie auch ist, kurzfristig für Beruhigung gesorgt haben, könnte sofort eine andere Kritik erhoben werden. Hinsichtlich des Begriffes der Wahrhaftigkeit wurde ohne Differenzierung von einer Eigenschaft, einer Wirkung und einem Wert gesprochen. Wäre hier nicht ein Mindestmaß an Präzision zu erwarten? Der Anspruch ist https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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nachvollziehbar, kann in diesem Fall allerdings nicht erfüllt werden, wenn Präzision als Unterscheidung verstanden wird. Denn das Bemerkenswerte am Begriff der Wahrhaftigkeit besteht darin, dass er zur Bezeichnung aller drei Inhalte dient. Wahrhaftigkeit kann als Eigenschaft aufgefasst werden, die einem Wesen zuerkannt wird, weil von ihm eine bestimmte Wirkung ausgeht, die empfangen und verstanden werden kann. Denn letztlich sind es die Eigenschaften eines Wesens, die uns affizieren. Die Bestimmung einer Wirkung als Wert erfolgt hingegen nicht auf unmittelbarem Wege, sondern im Zuge ihrer Reflexion als wünschens-wert. Die Weise, in der mich etwas unmittelbar affiziert, möchte ich immer und immer wieder erleben und erkläre sie, explizit oder nicht, zum Maßstab meiner Unterscheidung zwischen inszenierter Berührung und Berührung in Wahrhaftigkeit. Gehe ich noch einen Schritt weiter und setze diese Unterscheidung als gültig für alle Menschen, entspricht mein Vorgehen jenem Wert-setzenden Verfahren, das Jean-Paul Sartre in seinem Humanismus-Vortrag anspricht: Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er unserer Ansicht nach sein soll.488
Mit diesen Worten leitet Sartre die spannendste Aussage seines Vortrages ein, die zugleich als eine der umstrittensten betrachtet werden kann: «Wählen, dies oder das zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir wählen, zu bejahen, denn wir können niemals das Schlechte wählen; was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann gut für uns sein, ohne es für alle zu sein.» Der vergleichende Blick in den französischen Text, der sich in diesem Fall aufgrund der Brisanz der Ausdrücke unbedingt empfiehlt, zeigt, dass tatsächlich von «le mal» und «le bien» die Rede ist. Also nicht von etwas, das gut ist, sondern vom Guten und Schlechten an sich.489 Wird berücksichtigt, wie Sartre sonst auf den Akt des Wählens und die damit einhergehende Normierung des Gewählten schaut, bleibt festzuhalten, dass die Annahme eines vorgängig zu denkenden Guten von ihm nicht vertreten wird. Denn seine Auffassung vom Wählen zeichnet sich gerade durch situative Bedingtheit und individuellen Vollzug aus. Es wäre folglich unsinnig, Sartre unterstellen zu wollen, er würde die Verallgemeinerung des spezifisch Gewählten intendieren. Stattdessen geht es um die Beschaffenheit des Aktes der Wahl, die stets im Bewusstsein der Tatsache erfolgen sollte, dass sie Auswirkungen auf das Miteinander der Menschen haben wird. Dieses Faktum zu vergegenDer Existentialismus ist ein Humanismus, S.150 f. «Choisir d’être ceci ou cela, c’est affirmer en même temps la valeur de ce que nous choisissons, car nous ne pouvons jamais choisir le mal; ce que nous choisissons, c’est toujours le bien, et rien ne put être bon pour nous sans l’être pour tous.» L’existentialisme est un humanisme, S.32. 488 489
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wärtigen, kann als das Gute im Sinne Sartres betrachtet werden, nicht die Verallgemeinerung bestimmter Einzelfallentscheidungen. Dieser Aspekt bietet sich für eine Übertragung auf den aktuellen Gedanken der Wahrhaftigkeit an, wenn diese denn als Wert ausgewiesen werden soll. Bis jetzt konnte festgehalten werden, dass ihr Begriff zur Bezeichnung jener als unmittelbar empfundenen Affizierungen verwendet werden kann. Dass sich hieraus Schwierigkeiten ergeben, die der Reflexion bedürfen, ist nicht zu übersehen. An dieser Stelle gilt es zu erwägen, dass bislang kein Kriterium benannt werden konnte, das heranzuziehen ist, um Affizierungen in Wahrhaftigkeit von solchen manipulierter Natur zu unterscheiden. Diese Tatsache ist deshalb umso problematischer, als damit die Feststellung vermeintlicher Wahrhaftigkeit vollständig dem subjektiven Erleben des Einzelnen überlassen wird. Fehleinschätzungen und letztlich doch von individuellen Interessen geprägtem Für-Wahr-halten-Wollen wird so auf breiter Front Einlass gewährt. Hier ein eindeutig funktionierendes Unterscheidungsmerkmal anzuführen, das es erlaubt, Artikulationen von Wahrhaftigkeit zweifelsfrei zu identifizieren, erweist sich als nahezu illusorisch. Was auf der einen Seite nachteilig ist, kann auf der anderen Seite aber auch einen nicht zu unterschätzenden Vorzug zu erkennen geben. Denn jeder Versuch, ein uneingeschränkt gültiges Kriterium einzuführen, würde letztlich auf subjektiver Setzung beruhen. So bleibt denn nur die Möglichkeit, jede Affizierung als erstund einmaliges Geschehen zu begreifen, das für sich selbst zu sprechen hat. Das Empfinden, dass es sich womöglich um eine authentische Selbst-Mitteilung handelt, die nicht gewollt, sondern unbeabsichtigt erfolgt und dem Anderen in genau dieser Art zugänglich wird, kann nur als Moment außergewöhnlicher Aufrichtigkeit gedeutet werden, der unverzichtbarer Bestandteil gelingender Existenz wird. Dem Gedanken nach drängt sich gerade jetzt eventuell die Erinnerung an Martin Heideggers Vorstellung zweckunbedürftigen Denkens auf. Dieses charakterisierte er, wie der Name bereits zeigt, als nicht dem Pragmatischen verpflichtetes Denken, das dadurch in dem Freiraum zu wirken vermag, der so entsteht. Wenn hier vom Wirken gesprochen wird, deutet dieser Ausdruck nicht auf ein gezieltes Agieren hin, denn dadurch würde der eben erst eröffnete Raum, in dem das Denken um seiner selbst und des Anderen willen zu bestehen vermag, sofort wieder verschlossen. Das zweckfreie Denken kann im Gegensatz dazu beitragen, diesen Raum kontinuierlich zu erweitern, um so dem Denken des Seyns Grund und Anlass zu bieten. Soweit Heidegger. Was er allerdings nicht ausreichend thematisiert, ist die Frage, wie wir um das Andere, das er primär im Dinglichen findet, wissen. Ginge es ausschließlich nach seinen Äußerungen in Sein und Zeit, könnte auf den Zugriff hingewiesen werden, der «Vorhandenes» zu «Zuhandenem» werden lässt. Schnell wird jedoch sichtbar, dass hierin ein Beispiel extrem zweckorientierten Denkens zu sehen ist. Kein Begriff könnte diesem Umstand plastischer zum Ausdruck bringen als der des «Zeuges», das sich einzig durch seine Nützlichkeit als etwas und Nutzbarkeit für etwas definiert. Selbst im Vortrag Der https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Ursprung des Kunstwerkes aus dem Jahr 1935 artikuliert Heidegger diesen Aspekt der Geschichte der Dienlichkeit unter Bezugnahme auf das Gemälde Vincent van Goghs, das ein Paar Bauernschuhe darstellt: Das Zeugsein des Zeugs besteht in seiner Dienlichkeit. […] Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsam der Arbeitsschritte. […] Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. […] Im Werk ist, wenn hier eine Eröffnung des Seienden geschieht in das, was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk.490
Damit der Schwerpunkt in Heideggers Gedanken nicht übersehen wird, ist das Ins-Werk-Setzen, von dem die Rede ist, eigens zu fokussieren. Denn in ihm geschieht weitaus mehr als die Einsicht in die Nützlichkeit von etwas, nämlich das Verstehen der Relation, in die Mensch und Welt durch die Dienlichkeit des Zeuges treten. Diese Relation bestätigt einen Aspekt der Verweisungsstruktur, die Heidegger im Bild des Gevierts darstellt. Dessen Aussage lautet, um sie an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung zu rufen: Jedes ist auf Anderes verwiesen. Die Betrachtung der Bauernschuhe kann zu der Einsicht in diese fast allzu simpel anmutende Feststellung verhelfen, ohne sie direkt auszudrücken. Denn das Kunstwerk, davon ist Heidegger überzeugt, ist dadurch ausgezeichnet, dass es keine Botschaft artikuliert, die letzter Beleg des zweckorientierten Denkens wäre, sondern frei von jedem um zu einen Augenblick der zweckfreien Erfahrung schafft. Gleichwohl ist das Werk, selbst wenn es als Kunst-Werk verstanden wird, kraft seiner Dinglichkeit nie völlig losgelöst von der Frage seiner Dienlichkeit zu betrachten. Anders verhält es sich mit dem berühmten Schlehdornzweig, dessen Anblick eine Wirkung hervorruft, die im Sinne der aktuellen Überlegungen als Affizierung betrachtet werden könnte, und zwar genau als ein Ausdruck der Wahrhaftigkeit. Denn weder ist der Zweig platziert worden, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen, noch wird er vom Betrachter in heimischem Raum zur Schau gestellt, um seine Schönheit so lange wie möglich genießen zu können. Die kunstvollste Inszenierung im erlesenen Gefäß könnte die Unmittelbarkeit des Eindrucks am Wege nicht konservieren. Gerade in dem ungeplanten, spontanen Gewahrwerden liegt ein Indikator für die Wahrhaftigkeit, die in der Affizierung des Betrachters waltet. Wie stark diese Deutung des Heideggerschen Bildes vom Kunstverständnis Arthur Schopenhauers geprägt ist, kann hier leider nicht ausgeführt werden. Entscheidend für eine Parallele, die hinsichtlich der Erfahrung von Wahrhaftigkeit vermerkt werden kann, ist der Gedanke ihrer Spontaneität. Denn genau diese charakterisiert jene Erfahrung, die Schopenhauer so beschreibt:
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Der Ursprung des Kunstwerkes, S.29 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Sehen wir nun im strengen Winter, bei der allgemeinen Erstarrung der Natur, die Strahlen der niedrig stehenden Sonne von den steinernen Massen zurückgeworfen, wo sie erleuchten, ohne zu wärmen, […] so versetzt die Betrachtung der schönen Wirkung des Lichtes auf diese Massen, uns, wie alle Schönheit, in den Zustand des reinen Erkennens, […].491
Zweckfreie Erkenntnis ausgelöst durch spontane Affizierung, so kann das, was Schopenhauer hier als erste Form der Erfahrung von Schönheit beschreibt, verstanden werden. Wäre es nun aussichtsreich, mit Blick auf den Lichtstrahl auf dem Mauerwerk oder den Schlehdornzweig die Frage zu wiederholen, anhand welcher Kriterien wir authentische von manipulierter Wirkung, an die im wörtlichen Sinne Hand angelegt wurde, zu unterscheiden vermögen? Es ist ja gerade die Tatsache, dass hier kein Regelwerk zu Hilfe genommen werden kann, um akkurat die eine Affizierung von der anderen zu unterscheiden. Damit bleibt allerdings ein Bereich des Nicht-Kalkulierbaren bestehen, der vielleicht verunsichernd wirken könnte, gerade weil wir seiner nicht habhaft werden können. Dem durchaus nachvollziehbaren Wunsch nach klaren Distinktionen, eindeutigen Definitionen und verlässlichen Bewertungsmaßstäben wird hier eine Absage erteilt, auf die ganz unterschiedliche Reaktionen vorstellbar sind. Für die einen liegt hier der offensichtliche Beweis der Unwissenschaftlichkeit einer Argumentation vor, die sich auf die Erwähnung, sogar auf die Forderung eines solchen unbesetzten Areals des Denkens beruft. Für die anderen besteht in der beharrlichen Uneinnehmbarkeit dieses Terrains das zentrale Motiv freien Denkens, in dem von Wahrhaftigkeit gesprochen werden kann, ohne dass Strategien zu benennen wären, sie in Erscheinung treten zu lassen. Als unmittelbar empfundene Affizierungen stellen eine der wesentlichen Momente gelingender Existenz dar ! diesen Gedanken gilt es nun aufzugreifen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht Selbst-Reflexion als ihre Erfüllung ansieht, sondern die perspektivische Ausweitung auf das Sein des Anderen. Um diese leisten zu können, muss es Vergewisserungsmomente geben, die die Vergegenwärtigung des Anderen – und zwar alles welthaft zu erfassenden Anderen – gewährleisten. Die theoretische Voraussetzung hierfür konnte im Gedanken der Homogenität des Seins, begrifflich gefasst unter der Bezeichnung der Vorfindlichkeit, aufgezeigt werden. Gleichförmigkeit soll als Gleichwertigkeit jedoch nicht nur denkbar, sondern vor allem erfahrbar werden. Denn Erfahrung ist ganz im existenzphilosophischen Sinne stets die Erfahrung des Einzelnen. Wie erfährt dieser nun aber die Gleichförmigkeit des Vorfindlichen, die ihn davon überzeugt, dieses nur als gleichwertig verstehen zu können? Mittels der Affizierungen, die ihn als spontan erfolgende Vegegenwärtigungs-Signaturen des Anderen betreffen. Die Bereitschaft, ihnen den entscheidenden Wert im Prozess der Bewegung
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Die Welt als Wille und Vorstellung, § 39, S.274. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gelingender Existenz zuzuerkennen, zeichnet diese aus. Was einfach klingt, scheint uns mitunter mehr abzuverlangen, als wir zu leisten bereit sind. Denn es erfordert die Sicherheit im Sein, sich dessen Artikulationen grundsätzlich zu öffnen. Es soll schließlich nicht Verunsicherung oder Desorientierung erzeugt werden, wenn für die Öffnung für das Nicht-Planbare geworben wird, ganz im Gegenteil. Ein solcher Schritt, der noch nicht einmal als willentlich zu vollziehende Bewegung gedeutet werden kann, setzt auf das tiefste Vertrauen, das wir dem Anderen gegenüber aufbringen können. Ein solches Vertrauen ist nur dort möglich, wo keine grundsätzliche Befürchtung der Gefährdung besteht, das heißt dort, wo wir uns unter Gleichem fühlen. Allmählich beginnt der Gedanke der Gleichförmigkeit des Seins, der alles andere als eine ontologische Spekulation ist, seine Bedeutung zu entfalten. Diese zeigt sich nicht darin, dass den bereits bestehenden Aussagen über das Sein eine weitere hinzugefügt wird, die noch nicht einmal außergewöhnliche Originalität für sich in Anspruch nehmen kann. Sie wird stattdessen dort erkennbar, wo es nach der Begründung jenes Vertrauens des Menschen zu fragen gilt, das ihn über sein Selbst-Sein hinaus existentiell bewegt sein lässt. An diesem Punkt besteht zweifellos das Risiko, dass der Gedanke der Gefahrlosigkeit im Sein in eine unrealistische Vorstellung umschlagen könnte. Diese würde dann vorliegen, wenn behauptet würde, alle nur denkbaren Affizierungen wären stets als positiv aufzufassen. Es wurde bereits vermerkt, dass sie natürlich auch als verletzend, schmerzhaft oder enttäuschend empfunden werden können. Der Gedanke des Vertrauens im Vorfindlichen mag nach der Verklärung eines de facto nicht gegebenen Zustandes klingen, in dem das Bewusstsein nicht nur der tatsächlich bestehenden Differenzen, sondern auch möglicher Gefährdungen ausgeblendet wird. Kein Bild des Vorfindlichen und kein Begriff des Seins könnte diese Illusion rechtfertigen. Die Prozesshaftigkeit im Dasein, die beispielsweise durch ökonomische Erfordernisse, politische Aktionen und gesellschaftliche Bedingungen geprägt ist, wird niemals in einer Theorie der Gleichförmigkeit zu ignorieren sein. Diese muss sich stets der Tatsache bewusst sein, als Theorie nur einen allgemeinen Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit von Gleichwertigkeit des Vorfindlichen werfen und damit deren grundsätzliche Denkbarkeit belegen zu können. In welcher Weise diese sich dann im konkreten Geschehen auswirken kann, kann nicht ihr Bestandteil sein. Auch diese Betrachtungen gelten daher primär der Frage der Bedingung des Denkmöglichen und nicht dessen Integration in das Vollzugsgeschehen der Seins-Verwirklichung. So richtet sich die aktuelle Überlegung auf die Fragestellung, warum Gleichwertigkeit denkbar sein kann. Die Antwortet lautet: Weil sie als Erfahrung der Gleichförmigkeit des Seienden in den Momenten der Affizierung erfahren wird.
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Das doppelte Sein
Das doppelte Sein Wie stark sich diese Deutung von existentialistischem und zum Teil sogar existenzphilosophischem Denken unterscheidet, ist klar erkennbar. Die homogene Fülle des Seienden wurde dort als Grund dafür benannt, dass sich der Mensch zunächst nicht zu distanzieren vermag. Eben das wäre jedoch erforderlich, um einen Prozess der Selbstreflexion einleiten zu können. Hinzu kommt die Vorstellung der Geworfenheit in ein grund- und sinnloses Dasein, die zu einer kritischen Haltung dem Dasein gegenüber führt. In existenzphilosophischen Schriften wird dieser Aspekt nicht in der Radikalität thematisiert, wenngleich das Motiv der Distanzierung von der Welt sich selbst dort findet. In beiden Auslegungsformen kommt es dazu, dass dem Sein als solchen eine grundsätzlich minder-wertige Natur zugewiesen wird. Für das Seins-Verständnis Martin Heideggers trifft diese Feststellung nicht zu. In der Reihe der vorgestellten Autoren nimmt er in dieser Hinsicht daher eine Sonderstellung ein, auf die er selbst, wenn es um die Frage der Zugehörigkeit seines Denkens zur Existenzphilosophie ging, nachdrücklich und zum Teil äußerst plakativ hingewiesen hat.492 Seine Distanzierung sollte jedoch nicht daran zweifeln lassen, dass auch er dem Gedanken des Existierens höchste Aufmerksamkeit schenkt, stelle dieses doch in seiner speziellen Deutung die Form eigentlichen Seins dar: Nicht alles, was ‹ist›, existiert. (Sein ¼ 6 existentia). Nicht alles, was existiert, ek-sistiert. (existentia ¼ 6 Ek-sistenz). Die Beziehung zwischen Ek-sistenz und Sein ist jedoch nicht diejenige eines Besonderen zum Allgemeinen, einer Art zur obersten Gattung. […] Eksistenz läßt sich niemals aus ‹Sein› qua Anwesen bestimmen. Mit dem Denken, das Eksistenz denkt, ist ‹Sein› fragwürdig geworden. Ek-sistenz verweist in das Ereignis und dessen Brauch in der Vierung.493
Der Begriff der «Vierung» bezeichnet Heideggers Auffassung der Verwiesenheit aller im Sein, das explizit auch Welt und Erde einschließt. Verschiedene Begriffe kursieren mittlerweile in diesen Seiten, die zur Klärung noch einmal kurz zu benennen sind. Sein bezeichnet als Abstraktionsformel das Faktum, dass etwas ist; Vorfindlichkeit das Faktum, dass etwas ist, das durch Erfahrbarkeit gekennzeichnet ist; Welt die Gesamtheit des situativ und temporär zugänglichen Seienden beziehungsweise Vorfindlichen und Dasein die Reflexionsgestalt menschlichen Seins. In allen vier Variationen kommt letztlich ein und dasselbe zum Ausdruck: die Erwähnung des aus der Perspektive des Menschen betrachteten Anderen. 492 «Der ‹Existenzialismus› (Sartre) reicht so wenig auch nur in die Vorräume meines Denkens wie die ‹Existenzphilosophie› (Jaspers). Daß die genannten Terminologien aus meinen Schriften und in halb verstandenen Vorstellungsbereichen von Sein und Zeit sich bewegen, ist ebenso ‹natürlich›, wie es unvermeidlich bleibt, daß alles als ‹Heutiges› in ein trübes Getränk zusammengeschüttet und angeboten wird.» Vigiliae und Notturno, Vigilia I, S.63. 493 Vigiliae und Notturno, Vigilia II, S.174 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Dieser Hinweis ist in seiner Verallgemeinerungstendenz deshalb an dieser Stelle noch einmal wichtig, weil er ein Merkmal existentiellen Denkens in den Vordergrund rückt. Es handelt sich um die Bedeutung, die dem Anderen im Prozess der existentiellen Bewegung zuerkannt wird. Wird es eher als hinderlich oder als konstitutiv betrachtet? Wie sich gezeigt hat, wird es eher in ersterem Sinne verstanden, was allein schon aus der Ablehnung des Seins-Denkens und der WeltBezüge ersichtlich wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff des Anderen, der hier zur Bezeichnung alles Anderen verwendet wird, noch nicht zur Terminologie der Existenzphilosophie zählt. Wenn etwa bei Karl Jaspers von der notwendigen Distanzierung von der Welt die Rede ist, da sie nicht dazu geeignet sei, das Bedürfnis der Existenz zu befriedigen, richtet sich diese Auffassung gegen ein allgemeines Kennzeichen des Seins des Anderen schlechthin, das als dessen zeitliche Geschehnishaftigkeit verstanden werden kann. Gleichwohl ist die Verwirklichung der existentiellen Bewegung nicht unabhängig hiervon möglich. Seine Aufforderung, von der Welt Abstand zu nehmen, trifft auf deren Initialisierung, nicht ihren Vollzug zu: «In dem möglicherweise leerwerdenden Zirkel von Selbstsein und überwindender Selbstreflexion gibt mir Stützpunkte des Aufschwungs mein Dasein in der Welt; ich durchbreche aber den Zirkel nur angesichts der Transzendenz. […] Wie ich nicht da bin ohne Welt, so bin ich nicht ich selbst ohne Transzendenz.»494 Von dieser Vorstellung ist jene der Geschehnisstruktur der Existenz in der Zeit zu unterscheiden. Im ersten Fall liegt der Akzent auf der Feststellung, dass alle Prozesse in der Welt von begrenzter Dauer sind, womit deren stets nur vorübergehende existentielle Bedeutung assoziiert werden kann. Solche Aktionen können laut Jaspers aufgrund ihrer temporären Natur keine Vorstellung jener Bewegung in der Zeit hervorrufen, die für seine Deutung von Existenz ausschlaggebend ist. Denn obwohl diese sich ebenfalls in der Zeit vollzieht, demonstriert sie die Möglichkeit, Geschehnishaftigkeit der Existenz in zweifacher Hinsicht zu charakterisieren: als Selbst-verursachtes Sein und als Indikator von Transzendenz. Auf den ersten Gedanken wurde bereits intensiver geschaut, als es darum ging, die Besonderheit menschlichen Seins in der Sichtweise von Karl Jaspers und Heinrich Barth zu erläutern. Dieses hebt sich gerade dadurch vom Sein des Anderen ab, dass es als Produkt selbst-verantwortlicher Setzung eine Form der ursächlichen Rechtfertigung zu erkennen gibt, die nur ihm eignet. Damit kommt dem selbst-verursachten Sein, das Existenz ist, die Möglichkeit zu, sich in einer die Zeitlichkeit welthaften Geschehens überformenden Darstellung existentieller Zeit zu ergreifen, auf die der Gedanke der Transzendenz verweist. «Dasein ist empirisch da, Existenz nur als Freiheit. Dasein ist schlechthin zeitlich, Existenz ist in der Zeit mehr als Zeit.»495 Eine in dieser Hinsicht sehr aufschlussreiche Pas494 495
Philosophie II, S.48. Philosophie II, S.2. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Das doppelte Sein
sage aus seiner Schrift Philosophie II kann diesen Sachverhalt, der sich möglicherweise nicht von selbst erschließt, verdeutlichen: Würde ich antizipierend mich mir im Zeitdasein zum Ganzen in einem Bilde machen, in dem ich durch das, was ich bin, wüßte, wer ich bin, so würde ich mich täuschen. Nur in meinem metaphysischen Transzendieren, […] wende ich mich wohl zu meinem Sein in der Vollendung des Zeitdaseins, als ob mein Wissen in der Ewigkeit sei. Angesichts jeder Vollendung eines Bildes von mir wird mir aber die faktische Unvollendbarkeit in der Zeit geradezu gewiß.496
Damit kennzeichnet Jaspers die grundsätzliche Offenheit und Unabgeschlossenheit der existentiellen Bewegung, die Bewegung in die Unvollendung ist. Indem Existenz sich in die Zeitlichkeit des ‹Noch-Nicht› entwirft, korrespondiert ihre Vorstellung jener von Transzendenz als des Zeitlichkeit integrierenden Anderen der Welt. Die Akzentuierung der Entwurfs-Bewegung als Setzung des zukünftig Sein-Sollenden stellt den Kern der Existenz-Deutung von Heinrich Barth dar, wobei er sich jedoch unmissverständlich vom Transzendenz-Verständnis seines Vorgängers distanziert. In noch deutlicherer Weise wird die sich hier abzeichnende Kontrastierung zweier Seins-Formate, deren Definition durch den Begriff der Zeitlichkeit bedingt ist, in den Schriften von Søren Kierkegaard erkennbar. So unterscheidet er etwa, um die gerade genutzten Ausdrücke anzuwenden, die zeitliche Geschehnishaftigkeit des ästhetischen Stadiums von der Geschehnishaftigkeit in der Zeit, die er dem ethischen Daseins-Stadium attestiert. Denn dort erfolgt im Gegensatz zu der steten Wechselfolge der Aktionen, die jeweils nur von vorübergehender Dauer sind, das Bekenntnis zur Dauerhaftigkeit in der Bindung an den Anderen, die als Verunendlichung in der Zeit gedeutet wird. «Darin liegt nämlich die ewige Würde des Menschen, daß er eine Geschichte bekommen kann, darin liegt das Göttliche an ihm, daß er selbst, wenn er will, dieser Geschichte Kontinuität verleihen kann; […] Das ist das Beneidenswerte an einem Menschen, daß man der Gottheit zu Hilfe kommen, sie verstehen kann, […].»497 In besonderer Weise wird hier ein Moment der Deutungsweise existentieller Bewegung sichtbar, das bisher nicht berücksichtigt wurde. Denn nun wird diese Bewegung nicht mehr nur danach beurteilt, wie sie sich möglichweise vollziehen mag, sondern was sie für das Verständnis des Seins bedeutet. Bislang wurde auf solche Verlautbarungen der Blick gerichtet, die dem Menschen ein eigenes Sein beziehungsweise eine eigene Seins-Art zuweisen. Damit lag der Schwerpunkt auf der Betrachtung der Ermöglichung der existentiellen Bewegung. Wie deren Bewertung als Bewegung im Sein, die sie ja in jedem Fall bleibt, ausfallen kann, wird nun zu bedenken sein. Ein Motiv, das sich maßgeblich im Bild der Geworfenheit ausdrückt, besteht in der Vorstellung der Zeitlichkeit des Daseins, die es vereitelt, 496 497
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jedem konkreten Tun und in Summe dem Tun des Menschen Bedeutung zu verleihen. Denn alles Agieren wirkt höchstens für begrenzte Dauer und fällt dadurch, wenn diese Auffassung zu Ende gedacht wird, letztlich der Bedeutungslosigkeit anheim. Gegen diese Sichtweise, als deren wortgewandter Verkünder in neuerer Zeit Arthur Schopenhauer auftritt, stemmen sich nun Denker der Existenz, indem sie auf die Möglichkeit des Menschen verweisen, Zeitlichkeit in Dauer zu verwandeln. In der Welt als Wille und Vorstellung heißt es: Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endlich, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wann und Wo seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen.498
Diese Sichtweise kommt nicht erst mit dem existentiellen Denken auf, war sie doch als tragende Gestimmtheit Grundlage der «Vanitas»-Literatur, die besonders in Mittelalter und Barock zu vielfältigen Artikulationen führte. Doch Denkern wie Arthur Schopenhauer kommt das Verdienst zu, das Motiv der existentiellen Nichtigkeit in das Bild der Bedeutungslosigkeit umgewandelt zu haben. Beide unterscheiden sich dadurch, dass Erstere lediglich festgestellt werden kann, wohingegen Letztere eine Möglichkeit der Umdeutung beinhaltet, die von modernen Existenzphilosophen wie Karl Jaspers genutzt wird. Dass er und Søren Kierkegaard hierbei über einen anderen Ausdrucks-Spielraum verfügen als Schopenhauer, erklärt sich dadurch, dass für beide die Denkbarkeit des Anderen als des Göttlichen besteht, für die neben der Darstellung des allgegenwärtigen Willens kein Raum mehr verbleibt. Hat der Mensch zwar nach wie vor nicht die Fähigkeit, den bedingenden Faktoren seines Daseins, zu denen auch dessen Zeitlichkeit gehört, zu entkommen, wird ihm in einzelnen existenzphilosophischen Konzeptionen, zu denen auch diejenige des Franz Rosenzweig zählt, die Möglichkeit zugesprochen, den Aspekt der Unvergänglichkeit im Vergänglichen sichtbar werden zu lassen. Mehr ist es in der Tat nicht, was dem Bild endlichen Daseins entgegengehalten werden kann, doch es allein rechtfertigt es aus der Perspektive sich hier zu Worte meldender Denker, von einer Differenzierung des Seins auszugehen. Zeitliches und in der Zeit unendliches Sein stehen sich gegenüber. Fast überflüssig ist die Bemerkung, dass sich diese Kontrastierung nicht auf eine neutrale Feststellung beschränkt, sondern mit einer zum Teil massiven qualitativen Unterscheidung verbunden ist, die keine Erfindung der neueren Philosophie darstellt. Hier wird sie jedoch zu einem tragenden Element solcher Konzeptionen, die sich der Affinität zum religiösen Denken nicht verweigern. Denn wird endliches von unendlichem Sein unterschieden, geraten die Betrachtungen fast zwangsläufig in ein Terrain, das sich argumentativer Diskussion zu verschließen 498
Die Welt als Wille und Vorstellung, § 57, S.405. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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scheint, einer Betrachtung unter Anerkennung des Göttlichen jedoch reichen Boden bietet. Zur Verdeutlichung einer so entstehenden kontrastiven Betrachtung des Seins wird auf ein Werk zurückgegriffen, das nicht unmittelbar im Kontext der Existenzphilosophie rezipiert wird, obwohl beide einem gemeinsamen Denken entspringen. Es handelt sich um Edith Steins Schrift Endliches und ewiges Sein, deren Veröffentlichung sie selbst nicht mehr erleben konnte. In der Zeit zwischen 1935 und 1938 entstanden, wurde eine geplante Publikation aufgrund der jüdischen Herkunft Steins vereitelt, so dass erst 1947 mit einer erneuten Sichtung des Text-Materials begonnen werden konnte. Edith Stein wurde im August 1942 in Auschwitz ermordet. Wenn gerade vom gemeinsamen Denken gesprochen wurde, wird damit auf die Phänomenologie hingewiesen, in der sowohl Martin Heidegger als auch Emmanuel Lévinas ihre ersten Erfahrungen im Denken machten. Edith Stein war bis 1918 Assistentin Edmund Husserls in Freiburg. Im Anhang ihrer Schrift findet sich eine kürzere Abhandlung mit dem Titel Martin Heideggers Existenzphilosophie, die mit folgenden Worten eingeleitet wird: «Es ist nicht möglich, auf wenigen Seiten ein Bild vom Reichtum und der Kraft der oft wahrhaft erleuchtenden Untersuchungen zu geben, die in Heideggers großem Torso Sein und Zeit enthalten sind. Vielleicht hat kein anderes Buch in den letzten zehn Jahren das philosophische Denken der Gegenwart so stark beeinflußt wie dieses, […].»499 Dieser Ausdruck hoher Wertschätzung, die keineswegs mit blinder Zustimmung einhergeht, wurde als Beleg dafür zitiert, dass Edith Stein nicht nur mit existenzphilosophischem Denken vertraut gewesen ist, sondern es auch in die philosophische Landschaft einzuordnen wusste. Deren Abmessungen reichen in ihrer Auslegung weit in das Mittelalter zurück, weshalb ihre Seins-Deutung immer wieder von Bezügen zum Denken des Thomas von Aquin inspiriert wird. So greift sie dessen auf aristotelisches Verständnis zurückgehende Unterscheidung von Akt und Potenz, hier bisher als Verwirklichung und Vermögen bezeichnet, auf, um das Merkmal vergänglichen Seins fixieren zu können. Dessen Gedanken leitet sie wie folgt ein: «[…] mein Sein ist ständig in Bewegung, ein flüchtiges, im strengsten Sinn vergängliches Sein und der äußerste Gegensatz zum ewigen, wandellos-gegenwärtigen.»500 Die Erwähnung der Bewegung bezieht sich hier nicht auf jene existentieller Art, sondern auf das alltägliche Tun und Wirken, in dessen Realisierung sich jedes Mal ein Mögliches in ein Wirkliches verwandelt. Die Verwurzelung von Steins Denken in der Phänomenologie wird spätestens dann erkennbar, wenn sie jenen «Erlebnisstrom» anspricht, in dessen Konstituierung sich das Identitäts-Bewusstsein des Ich bildet. So findet sich dieses «als gegenwärtig seiendes und zugleich als aus einer Vergangenheit kommendes und in eine Zukunft hineinlebendes vor – es selbst und sein Sein sind unent499 500
Martin Heideggers Existenzphilosophie, in: Endliches und ewiges Sein, S.445. Endliches und ewiges Sein, S.49. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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rinnbar da, es ist ein ‹ins Dasein geworfenes›.»501 Die letzten Worte zitiert Stein aus Sein und Zeit, dessen Bedeutung für das Denken der neueren Zeit sie explizit gewürdigt hat. Die Folgerung, die sie aus den Konstitutionsbedingungen der IchBewusstheit zieht, weichen jedoch merklich vom gedanklichen Repertoire dieser Schrift ab. Denn wenn es ein Sein gibt, das sich als ins Dasein geworfenes reflektieren lässt, bedeutet dieses, dass es sich unmöglich um ein sich selbst gründendes Sein handeln könne.502 Hieraus schließt Stein: «Darum sind wir genötigt, das Sein des Ich, diese beständig wechselnde lebendige Gegenwart, als ein empfangenes zu bezeichnen. Es ist ins Dasein gesetzt und wird von Augenblick zu Augenblick darin erhalten.»503 Vermag diese Folgerung, die sie in zwei Schritten vollzieht, zu überzeugen? Dass ein veränderbares Sein in der Zeit nicht als selbst-gründend betrachtet werden kann und daher als geworfenes zu bewerten sei, mag einleuchten. Doch wie steht es mit dem zweiten Schritt, demzufolge ein solches Sein als «empfangenes» und ins Dasein gesetztes anzusehen sei? Bestand nicht die Intention, die etwa bei Schopenhauer und Heidegger mit dem Begriff der Geworfenheit verbunden war, darin, dass damit die Frage nach einer möglichen Bedingung des Seins auszuklammern sei? Für ein Verständnis Edith Steins ist die Deutung zu berücksichtigen, die sie mit dem Begriff des «empfangenen» verbindet, wobei noch einmal darauf hinzuweisen ist, dass sie in ihrer Darstellung vom Sein des Ich spricht. Es geht also nicht primär um die Faktizität des ‹es gibt› schlechthin, sondern um die Faktizität des sich reflektierenden Bewusstseins. Dass ihre Gedanken trotzdem im vorliegenden Kontext relevant sind, kann mit Blick auf die folgende Feststellung bestätigt werden: Ist das Ich Quelle des Lebens? Da das Leben das Sein des Ich ist, würde das zugleich heißen, daß es sein Sein aus sich selbst hätte. Das stimmt aber offenbar nicht zu den festgestellten merkwürdigen Eigentümlichkeiten dieses Seins: zu der Rätselhaftigkeit seines Woher und Wohin, den unausgefüllten Lücken in der ihm zugehörigen Vergangenheit, der Unmöglichkeit, das, was zu diesem Sein gehört, aus eigener Macht ins Sein zu rufen und darin zu erhalten, […].504
Zwei Aspekte stehen für Stein im Vordergrund: die Möglichkeit, Sein und Bewusstsein selbst zu gründen und sie zu erhalten. Mit dem Motiv der Erhaltung im Sein nimmt sie vermutlich Bezug auf die scholastische Vorstellung einer UrsaEndliches und ewiges Sein, S.56. «Das ist aber der äußerste Gegensatz zur Selbstherrlichkeit und Selbstverständlichkeit eines Seins aus sich selbst. Und sein Sein ist ein von Augenblick zu Augenblick auflebendes. Es kann nicht ‹halten›, weil es ‹unaufhaltsam› entflieht. So gelangt es niemals wahrhaft in seinen Besitz.» Endliches und ewiges Sein, S.56 f. 503 Endliches und ewiges Sein, S.57. 504 Endliches und ewiges Sein, S.56. 501 502
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che, die nicht nur bewirkt, dass etwas ist, sondern auch nach dessen Schaffung in diesem wirksam bleibt. Durch diese Anknüpfung an den Gedanken der causa conservans verstärkt sie die Bedeutung, die sie dem Bild des setzenden Seins gibt, erheblich. Denn diese erschöpft sich nicht darin, das Ich ins Dasein zu setzen, sondern bleibt diesem fortdauernd als Bezugsquelle des Denkens erhalten. Aus theologischer Perspektive war diese Erweiterung der aristotelischen Bestimmungen der Kausalität insofern interessant, als sie die fortgesetzte Wirkmächtigkeit Gottes im Werk seiner Schöpfung als dessen Erhaltungs-Grund sollte erklären können. Dass Stein hier auf den Aspekt der Erhaltung im Sein verweist, ist deshalb aktuell aufschlussreich, weil auf dieser Vorstellung ihre Unterscheidung zweier Seins-Formen basiert, die sie durch Zuweisung bestimmter Kriterien illustriert. Wichtig ist dabei, dass dasjenige Sein, das ein anderes «von Augenblick zu Augenblick» erhält, nicht selbst der Veränderung werdenden Seins unterworfen sein kann und daher als «ewiges Sein» zu denken sei. Für Edith Stein scheint damit eine ausreichende Begründung der Denk-Notwendigkeit eines solchen Seins gegeben zu sein. «Dagegen ist ein Empfangen des Seins unabhängig vom ewigen Sein undenkbar, weil es außer diesem nichts gibt, was wahrhaft im Besitz des Seins wäre.»505 Der zuletzt angesprochene Gedanke, bevor auf die Schrift von Edith Stein übergelenkt wurde, galt der Frage der Zeitlichkeit des Seins. Diese war deshalb zu stellen, weil der existentiellen Bewegung mitunter die Bedeutung zugesprochen wurde, wechselhafte Abläufe in der Zeit unter dem Aspekt der Unendlichkeit vorzustellen. Vor diesem Hintergrund konnte Existenz als selbst-gründende Seins-Weise gedeutet werden, insofern das Mehr-als-Zeit-Sein, von dem etwa Karl Jaspers spricht, als eines ihrer Merkmale ausgemacht werden konnte. Um den Gedankengang in diesem Moment nicht unnötig zu unterbrechen, kann nur darauf hingewiesen werden, dass es die Annahme eines ‹mehr als› auch im Denken Martin Heideggers gibt. Nur äußert er sie in Bezug auf die Vorstellungen von Zeitlichkeit und Raum. Was versteht Stein nun unter dem ewigen Sein und wie ist jenes Empfangen zu denken, das endliches Sein ihrer Deutung nach kennzeichnet? Zur Erklärung des Gedankens vom ewigen Sein greift sie auf die bereits angesprochene Unterscheidung von Potentialität und Aktualität zurück. Das endliche Sein, in dem sich ihrer Auffassung nach das Ich reflektiert, ohne es zu dem Zeitpunkt bereits als «endlich» dem «ewigen Sein» entgegensetzen zu können, erscheint als steter Wandel. Aus dieser Erfahrung der permanenten Veränderung entspringe «die Idee des ewigen Seins», so ist zu lesen, «einem Sein, das seinen gesamten Gehalt in wandelloser Gegenwart umfassen könnte». «So kommt es zur Idee der Fülle, indem es an seinem eigenen Sein das durchstreicht, was ihm als Mangel bewußt ist.»506 Die Folgerung aus diesem halb philosophi505 506
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schen, halb psychologischen Erklärungsversuch bleibt Stein nicht schuldig: «Mein Sein, so wie ich es vorfinde und mich darin finde, ist ein nichtiges Sein; ich bin nicht aus mir selbst und bin aus mir selbst nichts, […].»507 Der Gedanke der «Idee der Fülle» erinnert entfernt an jene Überlegungen, die Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre hinsichtlich des Ganz-Sein-Könnens des Daseins anstellen. Bei Ersterem verbleiben sie jedoch strikt Daseins-bezogen, indem er dessen Endlichkeit als Einschränkung eines als erfahrene Ganzheit zu deutenden Bildes menschlichen Seins ausweist. Sartre akzentuiert hingegen den Aspekt einer Teilhabe am Sein, den er durch das Beispiel der Mondsichel zu veranschaulichen sucht, deren Sichel-Gestalt immer nur in Kenntnis der grundsätzlich möglichen Ganzheit des Mondes erkannt werden kann. In ähnlicher Weise könnte auf Edith Steins Worte reagiert werden. Ist die Auffassung des Mangels, der das eigene Sein kennzeichnet, nicht letztlich nur deshalb möglich, weil bereits ein Begriff der Fülle entsteht, als dessen defizitärer Modus das Mangelhafte erscheint? Als Begründung dafür, wie die «Idee der Fülle» entsteht, wirkt Steins Äußerung letztlich zu fragmentarisch, um Gegenstand der Zustimmung oder Kritik werden zu können. Vielleicht ist aus ihrer Warte die Notwendigkeit, eine Begründung der Annahme ewigen Seins zu liefern, weniger drängend, da diese für sie so oder so gedankliche Realität ist, die keiner Verifikation bedarf. Für unsere Überlegungen ist die Tatsache relevant, dass es überhaupt in der Geschichte philosophischer Bestimmungen des Seins zu einer qualitativen Differenzierung kommen konnte. Edith Steins Schrift stellt daher ein höchst interessantes Zeugnis dieser Sichtweise dar, die den großen Vorzug aufweist, zeitgleich zur Entstehung existenzphilosophischer Konzepte entstanden zu sein. In der expliziten Kontrastierung ewigen und endlichen Seins spiegelt ihr Denken eine Wertung, deren Spuren aus diesen Konzepten noch nicht vollständig verschwunden sind, wie die kurze Erinnerung an die Auffassungen von Kierkegaard und Jaspers andeuten konnte. Ein Versuch, existenzphilosophisches Denken ohne Bezug auf die Annahme eines kontrastierenden Seins zu formulieren, steht notwendig in der Verpflichtung, deren vermeintliches Erfordernis zu widerlegen. Dafür ist es unvermeidlich, die beiden Schritte der Folgerung, die Edith Stein vornimmt, zu hinterfragen. Im Anschluss daran wird der Begriff des Empfangens, der in ihrem Seins-Verständnis eine zentrale Rolle spielt, aufzugreifen sein. Im Prozess der Veränderung befindliches Sein könne sich nichts selbst gründen, so erklärt Stein zunächst. Eine solche Feststellung ist nur dann relevant, wenn der Akzent der Seins-Beurteilung auf dem Moment seiner Gründung liegt. Wird hingegen die Veränderbarkeit als Indiz dafür angesehen, dass sich Sein immer wieder neu formiert und aufgrund seiner Wandelbarkeit eine Form von performativer Kontinuität zeigt, kann die Frage nach dem Grund des eigenen Seins in den Hintergrund gerückt werden. Denn welche Erkenntnis fügt das Wissen um den 507
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Grund der Seins-Kenntnis hinzu, wenn nicht von vornherein davon ausgegangen wird, dass es sich immer nur komparativ denken lässt? Es könnte ebenso gut argumentiert werden, dass sich Veränderliches punktuell im Wandel selbst gründet und sogar erhält, insofern jede Formung Form einer Seins-Darstellung ist. Für den Freiraum solcher Erwägungen ist es wohl erforderlich, die außergewöhnlich starke Nachwirkung aristotelischen Denkens in Grenzen zu halten. Denn wird dieser gefolgt, wie es im Text Edith Steins der Fall ist, beherrscht die Vorstellung, dass reine Aktualität das Vorzüglichste sei, das Denken. Wird dieser Maßstab an veränderliches Sein angelegt, an dem ein permanenter Verwirklichungsgang des Möglichen stattfindet, kann dieses von Anfang an nur als «nichtig» angesehen werden. Doch wie viel unüberwindliche gedankliche Dominanz kann dem Wort des Aristoteles tatsächlich zukommen? Ist es selbstverständlich, dass es ungebrochen unser Denken prägt? An sich wäre ihm noch nicht einmal zu widersprechen. Doch in dem Moment, in dem Wertungen auf seiner Grundlage formuliert werden, ist es möglicherweise an der Zeit, dessen AbsolutheitsAnspruch zu diskutieren. Steins Argumentation beruht auf der Auffassung, dass Aktualität grundsätzlich von höherer Wertigkeit sei als Veränderung. Vor diesem Hintergrund erscheint die folgende Feststellung konsequent, wenn auch nicht zwangsläufig überzeugend. Das gegenwärtige Leben des Ich, das sie mit dessen Erlebnisstrom gleichsetzt, sei zwar als aktuell zu betrachten, nicht jedoch dessen Artikulationen in Vergangenheit und Zukunft. Daher sei das Ich nicht als Form «reinen Aktes» zu betrachten.508In Abgrenzung hiervon erklärt sie dann: «[…] Gottes wesenhaftes Sein ist das wirkliche, ja das allerwirklichste Sein: der reine Akt.»509 Mit dem Begriff des reinen Aktes benennt Edith Stein nicht nur die Tatsache vollständigen Verwirklicht-Seins, sondern auch das Faktum, dass ein Sein, dem dieses zugedacht werden kann, von keiner Ursache abhängig aufzufassen sei, die es gründet und erhält. Unverkennbar schlägt auch hier ein aristotelisches Motiv durch, bei dem es sich dieses Mal um die Vorstellung des sich selbst denkenden Denkens aus der Metaphysik handelt. Dieses bedarf keines Anderen, das ihm Gegenstand des Denkens sein könnte, noch eines Anderen, das ursächlich auf es wirkt. Legt Stein diese Sichtweise zugrunde, steht die Differenzierung zweier Seins-Formen für sie fest. Zu klären ist nun, wie beide zusammenhängen. Zunächst sei jedoch noch einmal kurz innegehalten. Wir können ihren Erläuterungen folgen, doch stimmen wir ihnen auch zu? Letzteres ist im Kontext dieser Überlegungen abzulehnen. Denn die Begründung einer unterschiedlichen Wertung der Seins-Formen aufgrund ihres unterschiedlichen Gehaltes aktualisierter Möglichkeiten trägt nur dann, wenn von einem Vorrang der Aktualisierung gegenüber der Potentialität ausgegangen wird. Hiergegen könnte eingewendet werden, dass Aktualisierungen nur dann überhaupt sinnvoll gedacht werden 508 509
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können, wenn sie in Bezug zu den von ihnen verwirklichten Möglichkeiten betrachtet werden. Sprechen wir vom reinen Akt, bedeutet dieses, dass es kein zu Verwirklichendes mehr gibt. Damit verliert der Gedanke der Aktualisierung seine Rechtfertigung. Eine andere Stellungnahme könnte so aussehen: Solange NichtVerwirklichtes gegeben ist, kann von einer Veränderung zum Guten gesprochen werden, die durch die Aktualisierung bestimmter Möglichkeiten erreicht wird. Das Bild reinen Aktes würde dementsprechend als vollendetes Gutes gelten, was jedoch mit Blick auf das konkrete Sein nur als Idealisierung zu betrachten ist. Welchen Aussage-Wert hat eine Vorstellung idealisierten Seins, wenn von Anfang an feststeht, dass das wandelbare Sein ihr nie gerecht werden kann? Welche Motivation zur Verantwortung im Sein kann aus dessen Auffassung als defizitär und nichtig folgen? Gerade weil es in dieser Weise zu charakterisieren ist, besteht eine ständige Orientierung am Optimum, so könnte erwidert werden. Doch mit eben so viel Berechtigung könnte konstatiert werden, dass die Motivation für ein Ziel, das niemals zu erreichen sein wird, letzten Endes scheitert. Denn jedes Bemühen trägt in sich den Makel der Bedeutungslosigkeit. Edith Stein hält Erwägungen dieser Art aus ihrer Schrift fern und konzentriert sich auf die Gegenüberstellung endlichen und ewigen Seins. Da deren Kontrastierung jedoch Auswirkungen im genannten Bereich haben werden, mag es legitim sein, diese zu benennen. Doch wie stellt sie sich nun die Verbindung der beiden Seins-Formen vor? Die mögliche Antwort wird zu ihrem Bild des Empfanges führen, mit dem sie endliches Sein belegt. Als Einleitung in die entsprechende Betrachtung dient ihr diese Frage: «Die Idee des reinen Aktes oder des ewigen Seins wird für das Ich, das sie einmal erfaßt hat, zum Maß seines eigenen Seins. Wie kommt es aber dazu, darin auch die Quelle oder den Urheber seines eigenen Seins zu sehen?»510 Dass sie in besonderer Weise an den Entstehungsbedingungen psychischer und mentaler Akte interessiert ist, hat Edith Stein bereits in ihrer 1916 entstandenen Dissertation Zum Problem der Einfühlung bewiesen. Hier wendet sie nun den forschenden Blick auf die Frage des Ursprungs-Denkens an sich an und erklärt: «Die Nichtigkeit und Flüchtigkeit seines eigenen Seins wird dem Ich klar, wenn es sich denkend seines eigenen Seins bemächtigt und ihm auf den Grund zu kommen sucht.» In diesem Moment reflexiver Seins-Vergewisserung spielt ihrer Auffassung nach die Angst vor dem eigenen Nicht-Sein eine entscheidende Rolle. Eine Feststellung, deren Gültigkeit zu diskutieren wäre, setzt den bisher angeklungenen Gedanken fort: Denn der unleugbaren Tatsache, daß mein Sein ein flüchtiges, von Augenblick zu Augenblick gefristetes und der Möglichkeit des Nichtseins ausgesetztes ist, entspricht die andere ebenso unleugbare Tatsache, daß ich trotz dieser Flüchtigkeit bin und von Augenblick zu
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Augenblick im Sein erhalten werde und in meinem flüchtigen Sein ein dauerndes umfasse.511
Was Edith Stein hier als Entsprechung ausweist, ist letztlich weitaus mehr als das. Denn unter einer Entsprechung ist das Bestehen zweier paralleler Erscheinungen zu verstehen, die in keinem bedingenden Verhältnis zueinanderstehen. Kann sie eine solche Parallelität aber wirklich für ihren Gedanken in Anspruch nehmen? Erscheint das defizitäre Sein nicht nur deshalb als unvollständig, weil es an der Vorstellung eines Seins gemessen wird, dem keinerlei Defizite zugesprochen werden? Vielleicht wäre es von ihr als zutiefst religiöser Denkerin zu viel erwartet, nicht die ganze Zeit über dieser Vorstellung des Maß-gebenden Seins zu folgen. Die Schrift Endliches und ewiges Sein entstand in einer Zeit, als Edith Stein, die Denkerin jüdischer Herkunft, bereits dem Karmel Maria vom Frieden in Köln beigetreten war. Möglicherweise galten ihr Annahmen, deren Begründung aus philosophischer Sicht nicht unbedingt stichhaltig ist, in einem Maße als selbsterklärend, dass sie deren Gültigkeit nie wirklich in Zweifel gezogen hat. Zu diesen Annahmen zählt diejenige der Nichtigkeit endlichen Seins, die die Frage nach dessen Ursache aufwirft. Die Feststellung zweier «unleugbarer Tatsachen» in der hier angedeuteten komplementären Position vermag nur dann zu überzeugen, wenn ein komparatives Seins-Verständnis zugrunde gelegt wird. Defizitäres Sein ist nichtig, weil es an einem Bild des Seins in vollendeter Aktualität gemessen wird. Die Einsicht in die Nichtigkeit des endlichen Seins, das sich nicht selbst Grund zu sein vermag, geht für Stein in größter Gewissheit mit der Annahme ewigen Seins einher. Weil dieses im Reflexionsgeschehen des eigenen Seins gefunden wird, ist dessen Bestand ihrer Überzeugung nach belegt. «Ich stoße also in meinem Sein auf ein anderes, das nicht meines ist, sondern Halt und Grund meines in sich haltlosen und grundlosen Seins.»512 Ist es Zufall, dass diese Worte, wenn sie ohne Herkunftsangabe zitiert würden, auch einer Schrift von Karl Jaspers zugeordnet werden könnten? Im introspektiven Geschehen der Selbst-Reflexion, an dem beide aus psychologischer Sicht interessiert sind, erscheint der Bestand des Anderen als ewiges Sein oder Transzendenz als Tatsache. Was würde passieren, wenn exakt diese Formulierung Edith Steins ohne das Wissen darum gelesen würde, dass sie sie zum Beleg ewigen Seins nutzt? «Ich stoße also in meinem Sein auf ein anderes», bis zu diesem Punkt könnte es die Auffassung vorfindlichen Seins stützen, wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass dieses nicht Steins Intention entspricht. Wir stehen permanent mit anderem Seienden – diese begriffliche Differenzierung ist erforderlich – in Berührung, die nicht in jedem Augenblick als solche erfahren zu werden braucht. Da Sein jedoch niemals als ein starres So-und-nicht-Anders betrachtet werden kann, 511 512
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werden Berührungen zeitgleichen Seins zu Affizierungen des einander bedingenden Vorfindlichen. Es wäre eine Illusion zu denken, dass wir dieses auch nur für einen Moment im Zustand der Unveränderlichkeit erfahren könnten. Das Denken nimmt die Möglichkeit hierzu für sich in Anspruch, müsste aber eingestehen, dass es ihm nicht um die Frage der Erfahrbarkeit des Vorfindlichen, sondern der Denkbarkeit des Seienden geht. Abstraktionen erfahren keine Veränderungen. Es versteht sich von selbst, dass Affizierungen nicht ausschließlich positiver Natur sein können. So lässt es sich nicht vermeiden, dass wir einander beeinträchtigen, beschädigen und vielleicht auch verletzen. Doch ebenso wenig lässt es sich verhindern, dass wir einander ermutigen, stärken und vielleicht sogar dort heilen, wo Verwundung entstand. Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich die Vielfalt möglicher Berührungsformen nicht auf menschliches Sein beschränkt, sondern auf das gesamte Spektrum des Vorfindlichen auszuweiten ist. Wird vor diesem Hintergrund der zweite Teil der Formulierung Edith Steins hinzugezogen, ergibt sich ein erstaunlicher Befund. «das nicht meines ist, sondern Halt und Grund meines in sich haltlosen und grundlosen Seins.» Für sie liegt diesen Worten die Gewissheit des ewigen Seins zugrunde. Werden sie nun aber gelesen, ohne auf dieses Bezug zu nehmen, fallen die Vermögen, «Halt und Grund» zu sein, dem Vorfindlichen in seiner performativen Verwiesenheit zu. Dass dabei nicht von einem Grund-Sein in schöpferischer Dimension die Rede sein kann, ist offensichtlich. Doch konnte bereits auf eine andere Möglichkeit geschaut werden, Grund zu sein, nämlich als Grund für etwas. So ist Vorfindliches einander in permanentem Wandel Grund für die Veränderungen, die es überhaupt erst als solches kennzeichnen. Jedes ist in jedem Augenblick Grund für das aktuelle Bestehen des Anderen. Eine solche Sichtweise setzt jedoch die Bereitschaft voraus, das Vorfindliche um seiner selbst willen und nicht ausschließlich in komparativer Weise zu betrachten. Wird es in Vergleich zum ewigen Sein gesetzt, kann es von Anfang an nur als defizitär erscheinen. Edith Stein bemüht sich sehr darum, jenen psychischen Mechanismus kenntlich zu machen, der uns zur Annahme des ganz und gar anderen Seins führt. Doch ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass auch ein anderes Konstitutionsmuster des Seins-Denkens vorstellbar sein könnte. Wir erleben uns, wenn wir uns selbst Gegenstand der Reflexion sind, als seiend in der Zeit, was bedeutet, dass wir uns als werdend in der Zeit erfahren. Die Unterscheidung zwischen beiden Ausdrücken ist sachlich relevanter, als es vielleicht im ersten Moment wirken mag. Die Vorstellung, in der Zeit zu sein, kann, wie die Deutung Edith Steins zeigt, sehr leicht dazu führen, das menschliche Sein als nichtig zu empfinden. Noch einmal kann hier auch an Arthur Schopenhauers Bild erinnert werden, wonach Dasein ein beständiges Sterben sei. Dabei wird alles Tun und Wirken am Maßstab der Zeitlichkeit, nicht seiner Bedeutung im Konkreten, gemessen und erscheint damit zwangsläufig als bedeutungslos. Wird hingegen davon ausgegangen, dass wir uns als werdend in der Zeit erleben, ist eine andere https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Deutung möglich. Denn dann tritt nicht der Aspekt der Linearität der Zeit in den Vordergrund, woraus die Vorstellung der kontinuierlichen Annäherung an das Ende unseres Daseins entstehen kann. Stattdessen ist unser Tun und Wirken in permanenter Prozessualität zu denken, die nicht final, sondern performativ aufzufassen ist. In der Sichtweise, in der Zeit zu sein, wird das Sein der Zeit-Vorstellung untergeordnet, da es nur als deren marginale Erscheinung wirkt. Sein ist dem Wandel unterworfen, der aber de facto als Indikator der Vergänglichkeit gewertet wird. Fassen wir dagegen Sein als Werden in der Zeit, wird Zeitlichkeit zum Indikator unseres Werdens, das sich als Wandel des Gleichförmigen darstellt. Sein ist dann nicht mehr Erscheinung in der Zeit, sondern Zeitlichkeit Medium der Performativität unseres Werdens, als dessen deutlichster Ausdruck der Begriff der Existenz verstanden werden kann. Diese Auffassung betrachtet Performativität nicht als ein stetes Zulaufen auf ein unvermeidlich bevorstehendes Ende des Daseins, womit es schwer würde, ihm Sinn und Bedeutung zuzusprechen. Sie integriert vielmehr die Vorstellung abzuschließender Phasen der Veränderung in ihr Verständnis unseres Seins, das damit als ein immer-wieder-vonneuem Einsetzendes aufgefasst werden kann. Dass dieses nicht linear auf seine finale Erfüllung hinausläuft, ist der wohl wichtigste Aspekt des Gedankens. Ihm korrespondiert eine weitere fast ebenso nützliche Feststellung. Wird der Schwerpunkt in der Beurteilung des Seins nicht auf seine Erstreckung in der Zeit, sondern seine Entfaltung im Werden gelegt, verliert die Notwendigkeit, Aussagen über Ursprung und Ziel der Seins-Bewegung und der existentiellen Bewegung im Besonderen treffen zu müssen, an Relevanz. Für Edith Stein resultierte speziell aus der Frage nach dem «Woher und Wohin» unseres Seins die Veranlassung, dieses in Bezug auf ein Anderes, das ewige Sein, zu setzen, das sie dann als «Grund und Halt» bezeichnete. Dass sich aus ihrer Sicht die Rechtfertigung, ein solches Sein anzunehmen, keineswegs durch den Hinweis auf das permanente Werden des endlichen Seins erübrigt, geht aus einer ihrer Bemerkungen zur «Existenzbewegung» hervor: «Was zugleich aktuell und potenziell […] ist, bedarf zum Übergang vom einen zum andern der Zeit. Aktuell-potentielles Sein ist zeitliches Sein. Zeitliches Sein ist Existenzbewegung: immer neues Aufleuchten von Aktualität. Das Seiende, das zeitlich ist, besitzt sein Sein nicht, sondern wird immer aufs Neue damit beschenkt.»513 Abermals wird erkennbar, wie grundsätzlich ähnlich die Sichtweisen sich selbst gründenden und gegründeten Seins in einer bestimmten Hinsicht sind. Denn beide gehen davon aus, dass Seiendes zum Werden der Einwirkung eines Anderen bedarf. Der dann allerdings gewichtige Unterschied besteht darin, wie dieses Andere gedacht wird. Die Vorstellung gegründeten Seins basiert auf Endliches und ewiges Sein, S.62. Auf S.134 heißt es: «Wir nennen also Existenz die Seinsweise, die gegenüber dem Gedachtsein als die ursprünglichere ausgezeichnet ist, und haben in dem Existierenden einen Sinn von […] Wesen, […].» 513
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der Annahme des absolut Anderen, das als solches gefasst werden muss, um die Entstehung von Sein in seiner Gesamtheit erklären zu können. Die Auffassung sich selbst gründenden Seins, das durch sein permanentes Werden gekennzeichnet ist, setzt hingegen auf das relativ Andere, das als solches integraler Bestandteil des Seins sein kann. Dieses partizipiert an den Prozessen der Aktualisierung des Potentiellen, indem es sich selbst realisierend Anderes zur Verwirklichung des ihm Eigenen veranlasst. Denn das kann an dieser Stelle festgestellt werden: Auch Affizierungen können unter dem Schema von Vermögen und Verwirklichung verstanden werden. Entscheidend ist dabei, dass es sich bei einem Geschehen der Affizierung nie um einen ein-dimensionalen Vorgang handelt, in dessen Verlauf funktional zwischen Verwirklichendem und Verwirklichtem differenziert werden könnte. Bemerkenswert ist, dass das aristotelische Modell von Aktualität und Potentialität, mit dem er das Zustandekommen von Veränderung zu erläutern sucht, in dem Moment, in dem es auf die Vorgänge von Affizierungen angewendet wird, seine Auslegung im Sinne reiner Aktualität und reiner Potentialität zum Teil verliert. Jemand wird durch einen Anderen affiziert, wodurch sein potentielles Vermögen, Affizierter zu sein, aktualisiert wird. Gleichzeitig schlägt durch den angestoßenen Aktualisierungsprozess im Anderen dessen Potentialität, sich als Affizierenden zu begreifen, in aktuelle Erfahrung um. Nun könnte eingewendet werden, dass damit höchstens Abläufe partieller Natur beschrieben werden können, da die Verwirklichung einer bestimmten Fähigkeit immer nur das So-Sein desjenigen, an dem sie sich realisiert, niemals aber dessen Sein als solches betreffe. Von der Vorstellung eines Seins als solchem versucht die hier vertretene Betrachtungsweise Abstand zu nehmen. Denn dessen Kenntnis, wenn sie denn tatsächlich als möglich angesehen werden sollte, trägt letztlich nichts Nennenswertes zum Verstehen des Seins im Sinne des Vorfindlichen bei. Dessen Gedanke basiert darauf, es gerade im Zuge momenthafter Realisierungen zu erfassen, in deren Betrachtung sich die Frage nach der Vorfindlichkeit als solcher beinahe erübrigt. Was von Edith Stein als Merkmal defizitären Seins deklariert wird, kann als positives Kennzeichen des Seins im Vorfindlichen erscheinen, wenn es für sich und nicht in komparativer Weise gedacht wird. Zwei Begriffe sind bislang von der Betrachtung ausgespart worden, die nun berücksichtigt werden können: das Empfangen und das Beschenkt-Werden. Beide werden von Stein verwendet, um die Art der Seins-Vermittlung zu erläutern, die erforderlich ist, da ihrer Meinung nach das endliche Sein nicht Grund seiner selbst sein könne. Richtet sich damit der Fokus auf das ewige Sein, das von ihr als dieser Grund verstanden wird, verwundert es nicht, dass sie auf den «Weg des Glaubens» verweist, über den sich Einsicht in das Sein des Grundes erlangen lasse. Dieser zeigt sich darin, dass «Gott sich offenbart als ‹der Seiende›, als ‹Schöpfer› und ‹Erhalter›». Für Edith Stein liegen hier »lauter klare Antworten auf die Rät-
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selfrage meines eigenen Seins» vor.514 Der Weg des Glaubens unterscheidet sich vom Weg der Philosophie, wobei beide ihrer Auffassung nach jedoch zu derselben Erkenntnis führen. Endliches Sein ist empfangenes Sein, da es nicht in sich selbst gründen könne. Wenn auf diesen Seiten eine andere Akzentuierung gesetzt wird, ist der Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen sie gilt. Die Frage nach einer Verursachung des Seienden, die Edith Stein als Akt der Schöpfung begreift, wird nicht gestellt. Denn sie ließe sich kaum beantworten, ohne den Boden des Seins-Denkens zu verlassen, der hier aus bereits genanntem Grund vorzugsweise nicht als ontologisch bezeichnet wird. Daher ist es von vornherein ausgeschlossen, auf diesen Aspekt der Theorie vom ewigen Sein einzugehen, was allerdings nicht für den Punkt zutrifft, an dem von der Erhaltung des Seins die Rede ist. «Es mag sein, daß mein flüchtiges Sein einen ‹Halt› hat an etwas Endlichem. Aber als Endliches könnte das nicht der letzte Halt und Grund sein. Alles Zeitliche ist als solches flüchtig und bedarf des ewigen Haltes. Bin ich mit meinem Sein an anderes Endliches gebunden, so werde ich mit ihm im Sein erhalten.»515 Dass diese Sichtweise nicht der hier vertretenen Auffassung entspricht, ist offensichtlich. Selbst wenn zugestanden wird, dass Endliches nicht «letzter Halt und Grund» zu sein vermag, gibt es noch immer eine Möglichkeit, eine andere Deutung zu vertreten. Da nach dem «letzten» Grund nicht gefragt wird, ist auch die Annahme letzten Halts nicht erforderlich. Edith Steins Deutung, dass beide nur als ewig zu verstehen seien, folgt, wie sich bereits gezeigt hat, einer Auffassung von Zeit als linearem Fortschreiten veränderlicher Momente. In Anbetracht einer solchen Voraussetzung mag die Forderung absolut geltender Bedingung des Seins konsequent erscheinen. Für eine Umdeutung ist es nun noch nicht einmal erforderlich, die Vorstellung der ewigen Gründung des Seins aufzugeben, solange diese als grundsätzliche Unabgeschlossenheit performativen Seins verstanden wird. Dabei steht nicht das eine bestimmte Seiende im Mittelpunkt, dem tatsächlich immer nur begrenzte Dauer attestiert werden kann, sondern das wandelbare Sein des Vorfindlichen, dessen Veränderbarkeit als endlos zu betrachten ist. Wird diese Akzentuierung vorgenommen, spricht nichts dagegen, dass Endliches Halt in Endlichem finden könne, da sich dieses Geschehen immer wieder von Neuem ereignet und Sein in seiner Wandelbarkeit erhält. Der Unterschied beider Auffassungen besteht lediglich in einer differenten Perspektive, in der das Problem des Grund- und Halt-Seins reflektiert wird. Edith Stein urteilt aus einer Perspektive, in der nach Ursprung und Ziel des Seins zu fragen ist, wohingegen hier auf die Veränderbarkeit im Sein geschaut wird. Finale und prozessuale Bewertung des Seins stehen sich damit gegenüber. Erstere führt, da sie Sein unter dem Gesichtspunkt absoluter Bedingtheit betrachtet, über das Sein, das als endlich tituliert 514 515
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wird, hinaus, wohingegen Letztere in ihm verbleibt und es in deutlicher Weise aufwertet, da es nun als sich selbst erhaltend verstanden werden kann. Zu berücksichtigen ist bei dieser Feststellung lediglich, dass Erhaltung hier nicht als Bestätigung des Seins gegen die Möglichkeit des Nicht-Seins gemeint ist, wie es Edith Stein für ausschlaggebend hält, sondern als Gründung des Seins in seiner unendlich wirksamen Performativität. Wird von hieraus noch einmal zu den Überlegungen zum Begriff der Existenz geschwenkt, ergibt sich eine nicht unwichtige Ergänzung. Die gedankliche Nähe der Vorstellungen von Existenz und traditioneller Wesensbestimmung erwies sich als nicht haltbar. Denn dadurch könnte der Eindruck entstehen, als läge in der existentiellen Bewegung eine Annäherung an ein definiertes Ziel, dessen Erreichbarkeit grundsätzlich als möglich eingeschätzt wird. Eine solche Betrachtung der Bewegung als final ausgerichtet ist insofern problematisch, als dadurch die Bestimmung dessen, was als ihr Charakteristikum anzusehen ist, massiv eingeschränkt wird. Lange lag unsere Aufmerksamkeit auf dem Faktum, dass im Sinne existenzphilosophischer Konzeptionen das eigenste Selbst-Sein als Ziel erscheint, mit dessen Verwirklichung die existentielle Bewegung als vollendet betrachtet werden kann. Ob eventuell Maßnahmen erforderlich sind, um den einmal erreichten Status des Selbst-Seins zu bewahren, wurde sowohl von den zitierten Autoren als auch von dieser Interpretation ausgeklammert. Gegen die Deutung einer Ausrichtung der Existenz wurde der Einwand geltend gemacht, dass darin nicht deren Ziel, sondern lediglich deren Phase im Übergang zu einem weiteren Status zu sehen ist, der mit dem Begriff der gelingenden Existenz bezeichnet wurde. Auch aus dieser Warte spricht mithin Einiges gegen ein Verständnis von Zeitlichkeit als Vorstellungsmedium linearer Abläufe mit finaler Ausrichtung. Denn für Existenz, die sich als gelingend ausweisen soll, ist es von zentraler Bedeutung, sich in konstanter Prozesshaftigkeit zu halten, was, wie sich nun bestätigt, unmöglich in Separation vom Anderen erfolgen kann. Denn wir sind schlichtweg nicht in der Lage, uns ein Vorfindliches vorzustellen, dass in keinerlei Weise der Affizierungen durch Anderes teilhaftig würde. Für diese Form der Seins-Verwirklichung, die Existenz-Verwirklichung ist, kann es keine finale Ausrichtung und keinen Moment vollständiger Verwirklichung geben. Ist somit davon auszugehen, dass es für die existentielle Bewegung als Gestaltung im Relationsgeflecht des Vorfindlichen niemals ein Ende geben wird, kann diese Feststellung auf zwei Ebenen bestätigt werden. Für das einzelne Vorfindliche ist es nicht anzunehmen, da es, solange es im Sein ist, sich in der Wechselwirkung mit Anderem befindet. Und für ein Bild des Vorfindlichen in vorgestellter Ganzheit ist ein Abschluss ebenso abzulehnen, da sich dessen Elemente permanent im Wandel gegenseitiger Affizierung befinden. Das Ganze kann also kein Merkmal zeigen, dass seinen Bestandteilen nicht zukommt. Die Möglichkeit, in der Praxis der Affizierung jenen Halt im Sein ausmachen zu können, nach dem sie fragt, würde Edith Stein nicht als Erklärung aushttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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reichen. Denn sie denkt ihn im Zusammenhang mit der Vorstellung des SeinsGrundes, der ihrer Auffassung nach nur im göttlichen Sein zu finden sei. Für unsere Position stellt dieser Gedanke daher kein unlösbares Problem dar, da, wie bereits erwähnt, zwei Formen des Grundes unterschieden werden können: Grund von etwas und Grund für etwas zu sein. Die erste Bedeutung fällt mit Steins Verständnis der Verursachung des Seins zusammen. Weder in formaler noch sachbezogener Perspektive kommt diese hier zum Tragen. Die Vorstellung, dass Vorfindliches Grund für die bedingte Vorfindlichkeit des Anderen ist, erweist sich hingegen als ein sehr probates Mittel, um Grund und Halt auch unabhängig vom Bezug auf absolut Anderes zu denken. Für Edith Stein verweist der Begriff des Halts nicht primär auf die psychologisch relevante Funktion, dem Anderen Trost und Stütze sein zu können, sondern auf die Erhaltung im Sein. Diese über Jahrhunderte gebräuchliche Auffassung soll garantieren, dass die Wirkmacht der Ersten Ursache, die mit dem Göttlichen identifiziert werden kann, auch nach der Verursachung im Verursachten erhalten bleibt. Für das noch immer nicht erläuterte Bild des Empfangens, mit dem Stein den Erhalt im Sein aus der Warte des Menschen beschreibt, ist diese Auffassung in einer bestimmten Hinsicht besonders interessant. Sie ermöglicht die Annäherung an einen philosophischen Blick auf das Geschehen der Offenbarung. Dessen Verständnis als übernatürliches Ereignis wird als Akt der Selbst-Mitteilung Gottes denkbar, durch den er die Bindung an das geschaffene Sein aufrecht erhält. Hierin kann im weitesten Sinne ein Moment des Verstehens gesehen werden. Trotz seiner auch verbalen Mitteilungsnatur kann es zwar nicht unter Kategorien rationaler Verständigung gedeutet werden, wird aber auf einem Feld reflektierbar, auf dem diese sonst Anwendung finden: Das schlußfolgernde Denken prägt scharfe Begriffe, aber auch die vermögen den Unfaßlichen nicht zu fassen, ja sie rücken ihn in die Ferne, die allem Begrifflichen eigen ist. Mehr als der Weg des philosophischen Erkennens gibt uns der Weg des Glaubens: den Gott der persönlichen Nähe, den Liebenden und Erbarmenden, und eine Gewißheit, wie sie keiner natürlichen Erkenntnis eigen ist.516
Und mit Blick auf den Gedanken der Selbst-Mitteilung fügt Edith Stein hinzu: «Gott selbst stimmt seine Sprache zu menschlichen Maßen herab, um das Unfaßliche faßlicher zu machen: […].» Damit spricht sie ein Motiv an, das nicht nur Bestandteil theologischer Diskussionen war und ist, sondern sich beispielsweise auch in Texten von Walter Benjamin und Franz Rosenzweig findet. Es geht um die Frage, wie Selbst-Mitteilung Gottes für den Menschen verständlich sein kann, der sich lediglich einer Sprache zu bedienen vermag, die als Medium dieser Mitteilung nicht ausreicht, da sie geschaffene, nicht schaffende Sprache ist. Das Empfangen des Seins, das dieses erhält, ist nach Steins Auffassung Verstehen des 516
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Seins, das seinen Ursprung zu erkennen gibt. Mit dessen Erkenntnis ist jedoch zugleich die defizitäre Natur des Seins bestimmt, das sich weder selbst zu gründen noch zu erhalten vermag. Sind die Überlegungen zu Vorfindlichkeit und Affizierungsstruktur wirklich ausreichend, um gegen diese theologisch über Jahrhunderte bewährte Sichtweise geltend gemacht zu werden? Denn darum geht es nicht nur hier, sondern in der Formulierung existentiellen Denkens, das sich als philosophisches Denken eigener Art zu etablieren sucht: Inwieweit können Funktionen religiösen Verständnisses aus dem Repertoire des eigenen Denkbaren übernommen werden? Existenzphilosophie steht damit vor einer Herausforderung, an der sich nicht zwangsläufig jede auf Rationalität gründende Theorie zu bewähren hat. Denn die Schnittmenge zwischen existentiellen und theologischen Betrachtungen zeigt eine erstaunliche Dichte, wenn etwa Begriffe wie Angst oder Verlorenheit und die Frage nach dem Sinn des Daseins thematisiert werden. In den 1920er und 1930er Jahren besteht für die Autoren, die sich dieser Themen annehmen, die Notwendigkeit, eine grundsätzliche Entscheidung darüber zu treffen, wie weit sie ihre Konzeptionen noch in Korrespondenz zum religiösen Denken formulieren wollten. Dass Franz Rosenzweig und Karl Jaspers, um nur diejenigen zu nennen, die bisher berücksichtigt wurden, in dieser Frage eine deutlich größere Bereitschaft bewiesen als Martin Heidegger und, in den späteren Jahren, Heinrich Barth, ist bereits erkennbar geworden. Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob die hier vorgestellten Begriffe dafür geeignet sind, ein tragfähiges Konzept von Existenz zu präsentieren, ist auf eine Beobachtung einzugehen. Bisher war nur von dem Bemühen der Philosophie die Rede, mit ihren eigenen Mitteln Fragen existentieller Bedeutung zu erörtern, wie sie auch Gegenstand theologischer Betrachtungen sind. Damit fällt der Fokus zunächst noch einmal auf die Art dieser Fragen, die für die Menschen zwischen den beiden Weltkriegen von exzeptioneller Relevanz waren – und es für uns noch immer sind. Wie ertragen wir die Einsicht in die Endlichkeit unseres Daseins? Welcher Sinn kann unserem Tun und Wirken angesichts dieses Faktums zuerkannt werden? Welche Konsequenzen ergeben sich für unser Verhalten im Sein? In der Artikulation dieser Fragen berühren sich Philosophie und Theologie für einen kurzen Moment, wobei Erstere zum Teil mit dem Anspruch vertreten wird, sie nur aus dem Denkbaren eigener Bestimmung erörtern zu wollen. Doch auch der umgekehrte Blick zeigt etwas Bemerkenswertes. Bedeutende Theologen des 20. Jahrhunderts diskutieren die Möglichkeit, den Begriff des Seins in die Motivik ihres Denkens aufzunehmen. Wiederholt war von dem jüdischen Denker Franz Rosenzweig die Rede, der in der kurzen Reihe der Wegbereiter der Existenzphilosophie eine so oft übersehene, doch so wichtige Position einnimmt. An dieser Stelle, da es den Blick von der philosophischen auf die theologische Perspektive zu erweitern gilt, wird sein Verständnis des Seins zu einem Entwurf herausragender Relevanz. Denn er gibt diesem Begriff, der zum Entstehungszeitpunkt des Sterns der Erlösung 1921 noch https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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unbelastet durch Heideggersche Prägung ist, eine Deutung, die in mancherlei Hinsicht bemerkenswert ist. Mit dem Begriff des Seins bezeichnet Rosenzweig den Gestaltungsgrund des Daseins, das er als ein beständiges Werden begreift. Beim ersten Hören mag diese Formulierung verwundern, scheint sie doch dem Gedanken der Schöpfung, den Rosenzweig mit Gewissheit voraussetzt, zu widersprechen. Es könnte gefolgert werden, dass das Werk der Schöpfung nicht vollendet sei, wenn auf die fortgesetzte Gestaltwerdung des Seins verwiesen wird. Für Rosenzweig bedeutet diese Ansicht keineswegs eine Minderung schöpferischer Vollkommenheit, sondern deren eigentliche Bewährung. Er begreift als deren Ausdruck nicht das Ein-für-Allemal des Geschaffenen, sondern dessen Prozessualität im Werden. Da dieses seiner Überzeugung nach jedoch nicht als ein solitäres Wirken vorzustellen ist, nicht einmal dann, wenn es sich um das Wirken Gottes handelt, gewinnt das Agieren des Menschen in besonderer Weise an Bedeutung. Nur im Zusammen-Wirken von Gott und Mensch bestätigt sich das Werden des Seins, das Franz Rosenzweig als das Sein der Schöpfung begreift. Zunächst heißt es: «So wirken Mensch und Welt hier in unauflöslicher Wechselwirkung aufeinander und miteinander. […] Aus dieser wechselweisen Bindung können sie also selber sich nicht lösen; denn indem sie sich selber entbinden, binden sie sich nur fester in – und aneinander.»517 Bezogenheit aufeinander kennzeichnet also die Relation im Dasein, in der Mensch und Welt stets aufeinander verweisen. Doch vermag aus dieser Bindung eines nicht ersichtlich zu werden – die Beziehung auf das Andere, das ihrem Miteinander erst Sinn zu verleihen vermag. «Sie können sich selber nicht von einander lösen, sie können nur miteinander – er-löst werden, erlöst von einem dritten, der eines am andern, eines durch das andere erlöst. […] Solch Miteinander gibt es nur hier. Von Gott zur Welt, von Gott zum Menschen […].»518 Damit liegen die drei Begriffe vor uns, um deren Scheidung Rosenzweig am Beginn seiner Schrift mit solcher Entschlossenheit gerungen hatte. Denn er wollte zeigen, dass nicht der eine aus einem anderen abgeleitet werden könne, sondern dass die Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch als drei autarke Größen nebeneinander stehen können. Der Grund für dieser gedankliche Operation, die ihm Einiges an argumentativem Engagement abverlangt, besteht in seinem Streben, Denken jenseits der Formal-Struktur des Philosophischen zu ermöglichen, wie er es speziell im Deutschen Idealismus zu finden meint. Auf die Idee des Alls, so lässt uns Rosenzweig wissen, werde dort alles andere zurückgeführt, wodurch es niemals eine eigene Stellung und eigene Wertigkeit im Denken beanspruchen könne. Schwindelerregend mutet noch immer die Kühnheit an, mit der er es grundsätzlich für zulässig hält, von Gott und Mensch und Welt zu sprechen, weil er damit zumindest theoretisch die Möglichkeit gleichlautender Rede eröffnet. De 517 518
Der Stern der Erlösung, II, III, S.254 f. Der Stern der Erlösung, II, III, S.255. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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facto ist Gott Schöpfer der beiden anderen, doch ebnet Rosenzweig den Weg, alle drei in der Relationalität des Miteinanders zu begreifen. Diese Denkform der Bezogenheit prägt seine Deutung des Daseins, das sich in und mit der Welt entwirft. Doch darüber hinaus bestimmt sie auch sein Verständnis des Seins, das den gedanklichen Raum bietet, Verwiesenheit umfassend zu denken. Bedarf es der Erklärung, um die Relevanz dieser Sichtweise für das aktuelle Seins-Denken zu bestätigen? Es klammert, darauf ist immer wieder hinzuweisen, die Vorstellung des Göttlichen aus dem Konzept des Seins aus, womit es dem Rosenzweig‘schen Modell, sollte es um dessen Interpretation gehen, Schaden zufügen würde. Doch besteht nicht in dessen Deutung das Ziel dieser kurzen Erwägung. Stattdessen wird Franz Rosenzweig gleichsam als Kronzeuge für die Denkbarkeit der Relationalität im Sein berufen. Auseinandersetzungen mit seiner Schrift, die niemals erschöpfend zu erschließen sein wird, fand in angemessenerer Form an anderer Stelle statt, was es hoffentlich rechtfertigen kann, sie hier nur unter diesem einen Aspekt zu zitieren. Welchen Aufschluss vermag nun theologisches Denken des Seins für die anstehenden Überlengen zu geben, basiert es doch, wie der Blick auf Edith Steins Auslegung gezeigt hat, auf der Vorstellung von dessen Doppelung? Hier von Spaltung des Seins-Verständnisses zu sprechen, ginge bereits zu weit, da sich die Beschreibungen des menschlichen Seins und die Nennung göttlichen Seins grundsätzlich unterscheiden. Grundsätzlich, doch nicht absolut, so kann hinzugefügt werden, denn es muss ein Verbindungs-Moment zwischen beiden geben, wäre doch andernfalls das Geschehen der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes nicht zu vermitteln. Selbst Franz Rosenzweig, der in bewundernswerter Kühnheit die Begriffe der Schöpfung und des Seins einander annähert, lässt keinen Zweifel daran, dass Dasein, sein Ausdruck für menschlich welthaftes Sein, der Erlösung bedarf. Denkbar wird diese seiner Auffassung nach als Offenbarwerden der Bezogenheit des Daseins auf göttliches Sein, wodurch es letztlich gerechtfertigt ist, von einem Sein zu sprechen. Mit der Erwähnung der Begriffe von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung wagen sich diese Überlegungen weit in ein Territorium vor, das deren eindeutige Ausrichtung zu verbergen scheint. Denn immer wieder wurde und wird darauf hingewiesen, dass im hier vertretenden Seins-Denken auf die Annahme des Göttlichen zu verzichten sei. Noch einmal stellt sich die Frage nach dem Grund dieses Verzichts. Aus zwei Blickwinkeln kann er betrachtet werden. Zum einen würde das Instrumentarium der Philosophie schlecht angewendet, wenn es das Recht für sich in Anspruch nehmen würde, Aussagen über einen Gegenstand treffen zu wollen, den es nicht angemessen beleuchten kann. Und zum anderen geht es hier darum, das gesamte Gewicht der Aufmerksamkeit auf die Relationen des Menschen zum Anderen im Sein zu legen. Eine Doppelung seiner Vorstellung kommt aus philosophischer Perspektive nicht in Betracht, weshalb sich auch die Annahme des Grund-Setzenden, das außerhalb des einen Seins zu denken wäre, verbietet. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Aus anderer Perspektive
Würde aus dem gerade Gesagten nun aber nicht folgen, dass sich damit auch eine sogar punktuelle Bezugnahme auf Motive theologischen Denkens erübrigt? Erstaunlicherweise trifft diese Folgerung nicht zu, da sich ein Aspekt des Denkens im vorliegenden Kontext als außergewöhnlich aufschlussreich erweist. Es handelt sich um die Deutung des Seins als Geschehnis-Raum der Bezogenheit Gottes zum Menschen. Denn so befremdlich es vielleicht auch wirken wird, zeigt sich darin die Denkbarkeit jener Personalisierung der Seins-Vorstellung, vor der die Denker der Existenz fast ausnahmslos zurückschreckten. Inwieweit Person und Wirken Martin Heideggers hierfür verantwortlich zu machen sind, wurde bereits gefragt. Inspirierend für die sich allmählich abzeichnende Konzeption gelingenden Seins ist nun also die immense Bedeutungs-Aufladung des Gedankens personaler Bezogenheit, mit deren Artikulation sich im theologischen Schrifttum eine Denkbarkeit zeigt, an der die meisten Existenzphilosophen ganz offensichtlich kaum interessiert gewesen sind. Zeitlich bewegen wir uns mit der kurzen Gegenüberstellung in exakt demselben Rahmen, das heißt von der Mitte der 1920er bis zur Mitte der 1960er Jahre.
Aus anderer Perspektive Eine solche Gegenüberstellung zum Zweck des Vergleichs könnte nicht erfolgen, ohne das Denken des evangelischen Theologen Karl Barths, des Bruders von Heinrich Barth, zu berücksichtigen. 1919 und bereits 1922 in zweiter Fassung erschien sein Kommentar Der Römerbrief, der zu einem der wichtigsten Dokumente der «Dialektischen Theologie» werden sollte. Hier wie auch in anderen Texten und Vorträgen wird das besondere Gespür Barths, als Pfarrer erfahren und um die Herausforderung dieses Amtes wissend, dafür erkennbar, was es heißt, zu den Menschen zu sprechen. So erklärt er in seinem Vortrag Not und Verheißung der christlichen Verkündigung im Jahr 1922: «Zu den Menschen, in den unerhörten Widerspruch ihres Lebens hinein sollte ich ja als Pfarrer reden, aber reden von der nicht minder unerhörten Botschaft der Bibel, die diesem Widerspruch des Lebens als ein neues Rätsel gegenübersteht.»519 Und im Römerbrief heißt es: In diesem Namen [Jesus Christus] begegnen und trennen sich zwei Welten, schneiden sich zwei Ebenen, eine bekannte und eine unbekannte. Die bekannte ist die von Gott geschaffene, aber aus ihrer ursprünglichen Einheit mit Gott herausgefallene und darum erlösungsbedürftige Welt […] des Menschen, der Zeit und der Dinge, unsre Welt. Diese bekannte Ebene wird geschnitten von […] der Welt der ursprünglichen Schöpfung und endlichen Erlösung.520
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Not und Verheißung der christlichen Verkündigung, in: Dialektische Theologie, S.13. Der Römerbrief, S.5. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Im Folgenden soll nicht der Gedanke im Mittelpunkt stehen, dass die Welt erlösungsbedürftig ist, sondern dass sie Ort der Erlösung werden kann. Damit fällt Licht auf jenen Aspekt des Relations-Geschehens, der für unsere Thematik interessant ist. Es könnte kritisiert werden, dass damit die Frage danach, warum überhaupt von Erlösung zu sprechen sei, ausgeklammert wird. Der gerade skizzierte Standpunkt mag als Erklärung ausreichen. Karl Barths Deutung des Göttlichen als das «allem Seienden, Bekannten, Dinglichen, Zeitlichen, Menschlichen gegenüber Andere»521, dessen Andersheit es verbietet, von ihm zu reden,522 könnte die Beantwortung der Frage nach der Bezogenheit, die gleichwohl zwischen Gott und Mensch denkbar sein soll, erschweren – zumindest für eine flüchtige Reflexion. Denn diese würde vermutlich die Bedeutung des Trinitäts-Gedankens, den Barth in seinem Kommentar zum Römer-Brief entwickelt, unterschätzen. Mit der Erörterung jenes Gedankens würden sich diese Überlegungen jedoch vollends auf ein ihnen nicht zustehendes Feld begeben. Die Auffassung von Verschränkung und Diversität des Drei-Einigen könnte zwar unter dem Gesichtspunkt philosophischen Verstehens diskutiert werden, das jedoch niemals den Anspruch erheben könnte, deren Bedeutung zu erfassen, wenn sie als Satz des Glaubens zu bedenken wäre. Um noch einmal die Situation zu beleuchten, in der Barth sein Wort an den Menschen richtet, sind wohl kaum eindringlichere Zeilen vorstellbar als diese, die trotz grundsätzlich differenter Ausgangsposition doch auch existentielles Empfinden spiegeln: «Der Mensch befindet sich in dieser Welt im Gefängnis. Tiefere Besinnung wird sich über die Beschränktheit der Möglichkeiten, die uns jetzt und hier zur Verfügung stehen, keiner Unklarheit hingeben. […] Das ist unsere Lage.»523 In gewisser Weise formuliert Barth damit tatsächlich das gemeinsame Empfinden der Menschen in den 1920er Jahren, das seiner Diagnose nach zu schonungsloser Einsicht auffordert. «Keine Selbsttäuschung über den Tatbestand unsres Da-Seins und So-Seins!»524 In dieser «Lage» erhebt er das Wort der Heilsbotschaft.525 Und Denker, die diese Botschaft nicht mehr zu der ihrigen machen, erheben das Wort der Existenz. Ist es eine unzulässige Parallele, die hier konstruiert wird? Wohl kaum, wenn sie nicht so verstanden wird, als solle der existentiellen Bewegung heilsbringende Wirkung attestiert werden. Doch wäre selbst diese Folgerung so ganz und gar abwegig? Wenn wir uns für Der Römerbrief, S.98. «Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden.» Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Dialektische Theologie, S.59. 523 Der Römerbrief, S.13 f. 524 Der Römerbrief, S.14. 525 «Kraft Gottes zur Errettung ist etwas so Neues, so Unerhörtes und Unerwartetes in dieser Welt, daß es in ihr nur als Widerspruch auftreten, vernommen und angenommen werden kann. Die Heilsbotschaft erklärt sich nicht und empfiehlt sich nicht, sie bittet nicht und unterhandelt nicht, sie droht nicht und verspricht nicht.» Der Römerbrief, S.15. 521 522
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Aus anderer Perspektive
einen kurzen Augenblick auf die gemeinsame Blickrichtung verständigen können, dass Heil nicht ausnahmslos im religiösen Kontext zu begreifen sei, könnte der Schritt in die Existenz tatsächlich als Schritt in selbst-gründende Sinn-Setzung aufgefasst werden. Damit kommt ihm zumindest eine psychologisch extrem wichtige Funktion zu, da er dazu dient, das Empfinden der Geworfenheit in ein grund- und sinnloses Dasein zu überwinden. Für den Gläubigen wäre diese Lage Folge einer Entfremdung von ursprünglicher Bezogenheit, für den Menschen jenseits des Glaubens bedingungslose Situation seines Daseins. Für Ersteren bedeutet Heil die Rückkehr in den Zustand der Ursprünglichkeit, für Letzteren Schaffung eigen-gründenden Selbst-Seins. So unterschiedlich die Kontextualisierungs-Bedingungen beider Sichtweisen auch sind, lassen sie sich zumindest in einem Aspekt vergleichen: Zu Beginn des Geschehens, dessen Ermöglichung Theologie und Existenzphilosophie beschreiben, befindet sich der Mensch außerhalb seines eigensten Sein-Könnens. Ohne die differente Struktur beider Vorstellungen auch nur einen Moment aus den Augen zu verlieren, kann davon gesprochen werden, dass der Mensch in beiden aus einem Zustand der Fremdheit in sein Eigenstes findet. Für das existentielle Denken ist dieses Sich-Einfinden-im Eigensten selbst verursacht, wohingegen es im religiösen Denken personaler Interaktion bedarf. Es wurde bereits angedeutet und wird auch weiterhin zu bestätigen sein, dass das Bild gelingenden Seins eher von dieser letzten Überzeugung Zeugnis gibt. Denn der Verzicht auf den Anderen, von dem Anderen ganz zu schweigen, verleiht dem existentiellen Denken eine In-sich-Gekehrtheit, die nicht ohne Reiz ist, jedoch als philosophisches Kennzeichen keinesfalls hingenommen werden kann. Wenn nun von der Personalisierung des Seins gesprochen wird, die sich in theologischen Texten um die Mitte des 20. Jahrhunderts erkennen lässt und auch unser Seins-Denken prägt, ist die grundsätzliche Differenz beider Vorstellungen nicht zu übersehen. Karl Barth zeigt deutlich, dass vom «neuen Menschen» nur in einem Sinn die Rede sein kann: «Es ist die Überlegenheit der im Sterben des Christus eröffneten Gewißheitsquelle, die Überlegenheit des ‹durch sein Blut› bezeichneten Ursprungs göttlicher Mitteilung, die den neuen Menschen, die seine Liebe zu Gott, seine in dieser Liebe begründete Hoffnung und seinen Ruhm, ein Hoffender zu sein, charakterisiert.»526 Als Konsequenz dieser Gewissheit tritt die Not des Menschen, der sich nicht in diesem Sinne als Hoffender zu erleben vermag, in erschreckender Klarheit zu Tage: Sofern wir etwa anderes sind als ‹nicht wir›, sofern das Sterben des Christus nicht sein Licht auf unser ‹Leben› wirft, stehen wir immer auch innerhalb dieser Welt, außerhalb des Friedens mit Gott, immer auch unberührt und unbeteiligt neben der vollzogenen Ver-
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söhnung. Und alles, was wir von uns selbst anschauen, wissen und fassen können, gehört hierher.527
Die Verlorenheit des menschlichen Daseins enthüllt sich in ihrer ganzen schwindelerregenden Tiefe, wobei dieser Ausdruck weniger auf den gänzlichen Verlust aller Hoffnung anspielt als vielmehr auf das Sich-Verlieren in einem relationslosen Denken. Eines wird aus diesen Zeilen mit schneidender Präzision deutlich: Der «neue Mensch» vermögen wir nicht aus eigener Kraft zu werden.528 Kann angesichts dieser wenigen Einblicke in den berühmten Kommentar zum RömerBrief tatsächlich der Anspruch aufrecht erhalten werden, eine Vergleichbarkeit zum Gedanken existentiellen Werdens zu behaupten? Wird von Kontext-spezifischen Eigenheiten so weit wie irgend möglich abgesehen, wird dieser Anspruch erhoben, denn in grundsätzlicher Gegenüberstellung sehen wir zwei Deutungen menschlichen Seins, die in einem Motiv übereinstimmen: Wir sind nicht, was wir zu sein vermögen. Mit dieser Feststellung endet dann der Befund an Gemeinsamkeiten auch schon. Denn während dort nach der Ursache der Gottes-Ferne zu fragen ist, scheint sich der Mensch in existenzphilosophischer Sicht grundlos im Zustand der Geworfenheit zu befinden. Während dort die Überwindung der Ferne nur durch den Anderen in Aussicht gestellt wird, findet der Einzelne hier im Augenblick höchster Infragestellung seiner selbst zu seinem eigentlichen Sein. Nun zeichnet sich immer deutlicher ab, dass aktuelles Seins-Denken sich mit dieser Ansicht nicht zufriedengeben kann. Ein Verständnis von Existenz, das in ihr verwirklichtes Selbst-Sein-Können sieht, ist nicht mit der hier vertretenen Sichtweise vereinbar. Es als Vollzugs-Moment der existentiellen Bewegung anzunehmen, ist nach wie vor möglich, doch führt diese über jenen Moment hinaus, der nur als Stadium ihrer Verwirklichung, nicht als ihr Ziel betrachtet wird. So begeben wir uns im Vollzug unseres Sein-Könnens in die Obhut des Anderen, das hier jedoch nicht als göttlich, sondern als zutiefst weltlich verstanden wird. Wollte man die Bezugs-Dynamik der beiden Relationsformen gegenüberstellen, würde es schwerfallen, Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen. Doch es geht schließlich auch nicht darum, Seins-Denken in Verwiesenheit nach dem Vorbild religiöser Sichtweise zu entwerfen, sondern Verwiesenheit als personalen Bezug im Sein zu deuten. Die Ungleichheit der Bedingungen, unter denen sich Relationalität in beiden Vorstellungen entfaltet, bringt es mit sich, dass im philosophischen Seins-Denken kaum ein Anknüpfungspunkt für das Motiv der Hoffnung gegeben zu sein scheint. In seiner 1932 entstandenen Kirchlichen Dogmatik formuliert Karl Barth: «Wir glauben an unser künftiges Sein, wir glauben an ein Der Römerbrief, S.153. «Sofern wir es wagen, mit unserm Glauben zu rechnen, müssen wir es wagen, auch mit dem durch den Glauben charakterisierten ‹Wir›, mit dem neuen Menschen, dem Menschen des noch nicht angebrochenen, aber nahe herbeigekommenen Gottestages zu rechnen.» Der Römerbrief, S.136. 527 528
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Aus anderer Perspektive
ewiges Leben mitten im Tal des Todes. So, in dieser Künftigkeit, haben und besitzen wir es. Die Gewißheit, in der wir um dieses Haben wissen, ist eben Glaubensgewißheit, und Glaubensgewißheit heißt konkret: Hoffnungsgewißheit.»529 Wenn es Ernst mit der Auffassung zu machen gilt, dass Bezogenheit im Sein auch in der Blickrichtung auf den anderen Menschen und sogar das Welthafte vorstellbar ist, und uns ein Sinn und Erfüllung vermittelndes Maß der Seins-Gewißheit bietet, erscheint deren Gedanke doch zunächst wie eine blasse Kopie jener Gewißheit, von der Barth spricht. Kann welthaftes Sein jemals auch nur ansatzweise jene Sicherheit im Vertrauen gewähren, auf die er sich stützt? Wie sich bereits im Zusammenhang mit Edith Steins Konzeption endlichen und ewigen Seins gezeigt hat, ist die Frage falsch formuliert. Denn sie würde in ihrer vorliegenden Form Glaubensgewissheit zum Maßstab erklären, an dem Seins-Gewissheit abzuschätzen wäre. Diese beansprucht hingegen mit uneingeschränkter Berechtigung ihr eigenes Gewicht, das sich im Vollzug der Bezogenheit ermitteln lässt. Es wäre unrealistisch, sollte es schon hier und jetzt als voll entfaltet angesehen werden. Zunächst müssen wir dem Anderen zu vertrauen lernen, was uns wohl am schwersten erscheint, weil wir daran gewöhnt sind, es als das Fremde zu betrachten. Fremd und uns nicht gleichwertig, weshalb wir zögern, es als Quelle unserer Bestätigung im Sein wahrzunehmen. Als Vorfindliches ist Sein jedoch gleichförmig und gleichwertig, dieser Ertrag der bisherigen Überlegungen erweist sich nun immer stärker als ein tragfähiger Gedanke. Die Glaubensgewissheit, die Karl Barth nennt, richtet sich auf ein Anderes, das er als ganz und gar anders ausgewiesen hat. Vertrauen in eine wesenhafte Instanz, der per se höhere Würde zuerkannt wird, ist eine Form der Überantwortung in Selbst-Preisgabe. Denn alles, was dem Menschen in seinem Dasein nicht zuerkannt werden kann, da es Sein in Entfremdung ist, erhofft dieser sich im zukünftigen Sein im Angesicht des Anderen. Vertrauen in essentiell Gleichwertiges konfrontiert uns in differenter Weise mit der Vorstellung des Selbst-Seins. Denn wir begreifen, dass wir im Vergleich zu diesem weder als defizitär noch als ausgezeichnet gelten, sondern als anverwandt. Vertrauen in das Andere bestätigt damit theoretisch in jedem Moment die Sicherheit unserer Selbst-Gewissheit und spiegelt diese in unser Erleben des Anderen. Doch weiß dieser, sofern es sich um den anderen Menschen handelt, um seine Verantwortung, die ich ihm dadurch zuspreche, dass ich mich in seine Obhut begebe? Hier liegt die Aufgabe des existentiellen Denkens, das Aufmerksamkeit auf das im Grunde Selbstverständliche richtet. Karl Barth spricht von «unserer Lage», die sich, wie immer klarer sichtbar wird, von unserer Lage im Sein grundsätzlich unterscheidet. Denn diese ist nicht als negativ zu betrachten, weil wir uns in einer Daseins-Situation der Entfremdung befinden, also weit von jenem Sein entfernt sind, das uns kraft göttlicher Schöpfung entsprechen würde. Die Versuchung, gerade eben festzustellen, 529
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dass sie uns eigentlich zustehe, war überdeutlich. Dass eine andere Formulierung gewählt wurde, liegt nicht an der Scheu, die uns noch immer berührt, wenn wir diesen Begriff Heidegger‘schen Sprachgebrauchs auf anderes Denken anwenden wollen, sondern daran, dass seine Anwendung nicht erforderlich gewesen wäre. Karl Barth kann sich auf den Gedanken der grundständischen Verortung des Menschen im Sein berufen, weil diese durch das Wirken Gottes bedingt ist. Diese Möglichkeit besteht im Rahmen des aktuellen Seins-Denkens nicht. Die Frage nach dem Sein hatte uns zu der Erkenntnis geführt, dass es als Zustand zu betrachten ist, der sich durch Gleichförmigkeit des Vorfindlichen auszeichnet. Nicht einmal dem Menschen kann eine exzeptionelle Stellung zuerkannt werden, da dasjenige Kriterium, das ihn so-sein lässt, seine Berührbarkeit ist. Affizierbar wie das Andere und zugleich in der Lage, dieses affizierend zu erreichen, überwiegt die Verwandtschaft mit dem Anderen jeden Versuch, Besonderheit anstelle von Verbundenheit zu denken. Natürlich wäre es unrealistisch, das Faktum der Rationalität und Reflexionsfähigkeit des Menschen verschweigen zu wollen, doch hindert dieses nicht an der zentralen Feststellung: Wir sind dem Anderen anverwandt. Dieser Zustand zeichnet sich durch die bemerkenswerte Tatsache aus, eine Seins-Beschreibung jenseits moralischer Wertigkeit zu ermöglichen. Denn es kann weder als gut noch als verbesserungsbedürftig angesehen werden, dass Vorfindliches ist, so wie es auch nicht möglich ist, den Umstand zu bewerten, dass es sich in einem Aspekt der Gleichförmigkeit darstellt. Seins-Beschreibung geht immer schon von einem Moment der Erfahrung aus, und kehrt nach vollzogener Artikulation zu dieser zurück. Darin unterscheidet sie sich wesentlich von einem Seins-Testat, das nur mittels Abstraktion ausgesprochen werden kann. An die Stelle abstrahierenden Denkens, das Sein auf sein letztes feststellbares Kriterium festlegt, tritt additives Denken, das sich in jedem Augenblick auf die Befunde der Erfahrung stützt. Dabei trifft es auch eine Aussage über die Gemeinsamkeit dessen, was sich in der Erfahrung gezeigt hat, doch bedarf der Begriff der Vorfindlichkeit, der von allem Erfahrbaren ausgesagt wird, stets der objektbezogenen Verifikation. Denn nur dasjenige kann als vorfindlich bezeichnet werden, das erfahrbar ist. Doch stellt diese Sichtweise überhaupt eine Veränderung im Vergleich zum traditionellen Begriff des Seins dar, von einem Fortschritt ganz zu schweigen? Die Differenz zur gängigen Auffassung, wie sie Inhalt ontologischer Betrachtungen ist, zeigt sich vor allem im Aspekt des Additiven. Der Seins-Begriff in traditioneller Sichtweise wird einmal ermittelt und ab dann in unveränderter Form Bestandteil jeder Aussage über Seiendes. Dabei muss er sich nicht an der Erfahrung des Seienden bestätigen, sondern trifft unvermindert für jedes Seiende zu. Im Falle des Begriffes der Vorfindlichkeit, der grundsätzlich denjenigen des Seins ersetzen könnte, auf den jedoch aus Gründen besserer Lesbarkeit hier nicht verzichtet wird, verhält es sich anders. Er kann immer nur mit Blick auf dieses oder jenes Vorfindliche ausgesagt werden, dem in dem Moment, in dem es Referenzpunkt der Erfahrung ist, Vorfindlichkeit atteshttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tiert wird. Ausgangspunkt dieses kurzen Rückblicks auf den Begriff des Seins und seines Interpretationsrahmens war die Feststellung, dass die Lage, auf die Karl Barth eingeht, kaum Gemeinsamkeiten mit der hier vertretenen Auffassung zu erkennen gibt. Dabei ist es nicht so sehr das Faktum, dass einmal von göttlich gegründetem und ein andermal von Sein unter Ausklammerung seiner Gründungsbedingungen die Rede ist, als vielmehr der Umstand, dass Dasein im Sinne des Vorfindlichen als moralisch neutral zu betrachten ist. Es ist, wie bereits gesagt, an sich weder als gut noch als entfremdet zu bewerten, da eine solche Einschätzung nur unter Rückgriff auf ein Bewertungskriterium möglich wäre, das ihm nicht inhäriert. Das bestehende existenzphilosophische Denken nimmt zwischen beiden Charakterisierungen eine mittlere Position ein, da es zwar davon ausgeht, dass der Mensch sein Selbst-Sein-Können zunächst nicht erkennt, dann aber in einem Akt selbst-gründender Verwirklichung zu dessen Realisierung fähig ist. Um in diesem Tableau möglicher Ansichten die aktuelle Sichtweise noch einmal klar zu benennen, kann folgendes festgehalten werden: Der Mensch als Vorfindlicher im Kreise des Anderen befindet sich in der ihm entsprechenden Seins-Weise. Er ist nicht in ein Dasein geworfen, das ihm grund- und sinnlos erscheint, denn damit würde er letztlich voraussetzen, dass es Grund und Sinn geben müsste, die aus irgendeinem Ursprung seinem Wirken im Dasein hätten zugewiesen werden sollen, was jedoch unterblieben ist. Das Bild der Geworfenheit ist damit letztlich Eingeständnis der Erwartung, dass es anders hätte sein müssen. Nur so lässt sich dann die tiefe Ernüchterung des Menschen erklären, der mit ungläubigem Staunen feststellen muss, dass seine Erwartungen sich nicht erfüllen werden. Der Mensch findet sich aber auch nicht in einem entfremdeten Sein vor, wie es von Edith Stein und Karl Barth gleichermaßen beschrieben wird, weil kein Zustand vorstellbar ist, von dem sein Dasein abweicht. Er ist exakt in dem Zusammenhang zu denken, in dem er sein kann. Diese Auffassung fokussiert den Blick auf das Sein, weil Fragen nach Ursprung und Ziel, soweit sie als nicht mehr dem Sein inhärent betrachtet werden, aus philosophischer Perspektive nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden können. Demütig und zugleich selbstbewusst gilt es anzuerkennen, dass es der Theologie überlassen werden muss, hierüber Auskunft zu geben. Der Entschluss, die Grenze der eigenen Denk-Möglichkeit zu respektieren, verbietet es jedoch nicht, jene Aussagen zu betrachten, die innerhalb der Theologie über «unsere Lage» gegeben werden, die wir nicht als unsere Lage auffassen. Hier zeigt sich, wie sehr sie sich zum Teil von existenzphilosophischen Ansichten unterscheiden, oder, um präzise zu formulieren, wie stark das Verständnis dessen, was Denken sein kann, voneinander abweicht. Auf den ersten Seiten, die mittlerweile weit zurückliegen, aber vielleicht doch noch in der Erinnerung gegenwärtig sind, wurde vermerkt, dass es den Denkern der Existenz darum ging, den Einzelnen als Motiv und Gedanken in den Fokus philosophischer Aufmerksamkeit zu stellen. Lange genug war dieser Schritt überfällig, so dass es uns heute https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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noch immer mit Bewunderung erfüllt, dass er schließlich in Angriff genommen wurde. Welche Kühnheit demonstrierten Martin Heidegger, Karl Jaspers und Heinrich Barth, um bei den hier zu Worte gekommenen Stimmen zu bleiben, als sie begannen, nicht mehr nur vom Menschen, sondern von diesem Einen sprechen zu wollen, womit sie dem Vorbild Søren Kierkegaards folgten. Doch irgendwann stellt sich der Eindruck ein, dass sie möglicherweise so sehr auf die Durchsetzung dieses Vorhabens konzentriert waren, dass sie den Gedanken ein wenig vernachlässigten, dass hinter dem Begriff dieses Einen eben doch keine theoretisch erschöpfend zu fassende Entität steht, sondern ein erfahrender Mensch mitten in der Welt. Karl Jaspers kommt hier das Verdienst zu, in anderer Weise vom Selbst zu reden, das existenzphilosophisch zum Konterfei des Einzelnen erklärt wurde. Doch ist ihm dieses nicht uneingeschränkt als philosophische Leistung anzurechnen, da er vom Glauben nicht mit eindeutiger Distanzierung spricht. Vielleicht ist hierin der Grund dafür zu sehen, dass er dem Wirken der Kommunikation besondere Beachtung schenkt, weil für ihn von Anfang an feststeht, dass sich das Selbst letztlich nur über das Andere, das er als Transzendenz begreift, zu erfassen vermag. Selbst-Sein geht seiner Auffassung nach daher immer mit der Überzeugung einher, sich in kommunikativer Situation bewähren zu müssen. Doch ist es nicht er, sondern Martin Heidegger, der die Relation des Menschen zur Welt thematisiert – und darüber die Relation zum anderen Menschen aus dem Blick zu verlieren scheint. Hierüber kann nicht einmal seine Einführung der Begriffe des Mit-Seins und der Fürsorge in Sein und Zeit hinwegtäuschen, denn hierbei handelt es sich um ontologische Termini, nicht um Zustandsbeschreibungen gelebten Miteinanders. Stehen wir also in der Situation, uns entscheiden zu müssen, entweder dem anderen Menschen oder der Welt unsere Aufmerksamkeit zu schenken? Mitnichten, wie der vorliegende Entwurf veranschaulicht. Denn die Konzeption der Vorfindlichkeit im Sein entbindet uns von der Last, hier eine Entscheidung treffen zu müssen. Martin Heidegger und Karl Jaspers haben sie getroffen und hinterlassen uns Schriften, die trotz aller Größe den Eindruck erwecken, Texte der Annäherung an ein noch zu Denkendes zu sein. Heinrich Barth präsentiert schließlich eine erkenntnistheoretische Argumentation von hoher Brillanz, scheint dann jedoch fast ein wenig Mühe zu haben, das speziell existenzphilosophische Element seines Denkens kenntlich zu machen. Zwei wortgewaltige Konzeptionen liegen uns von Heinrich und Karl Barth vor, und doch ist es die Stimme des Letzteren, die im Grunde existenzphilosophischer klingt, als diejenige seines vier Jahre jüngeren Bruders. Die Sorge um den Menschen drückt sich in Karl Barths Schriften aus, die der Situation aller Menschen im Dasein gilt, das er als Sein in Entfremdung begreift. Müsste aber nicht dieselbe Sorge auch den Theorien der Existenz-Denker zugrunde liegen? Auch ihrer Überzeugung nach befindet sich der Mensch nicht in der ihm entsprechenden Verfassung, die diejenige des Selbst-Seins ist. Die Voraussetzung mag sich im theologischen und im philosophischen Denken ähhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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neln, doch die jeweiligen Ausführungen finden in gänzlich unterschiedlichen Kontexten statt. Dass gerade in der Weise gröbster Verallgemeinerung gesprochen wird, möge den Gedanken nicht von vornherein in Misskredit stellen. Das theologische Sprechen vom Menschen zeigt in jedem Moment seinen relationalen Charakter, wohingegen das philosophischen Pendant separierend argumentiert. Denn den Einzelnen zu denken scheint nur dann möglich zu sein, wenn dieser vom Anderen isoliert wird. Die theologische Rede vom Menschen bezieht ihn in jedem Moment auf das Andere, wäre doch sonst allein schon die Vorstellung seiner Schuldhaftigkeit nicht nachvollziehbar. Der wohl plastischste Beleg für die separierende Rede der Existenzphilosophie liegt in jenen Worten Martin Heideggers vor, in denen er über jenen Ruf, der den Menschen ereilt und zum eigensten Sein-Können motiviert, sagt, er komme aus ihm und über ihn.530 Hier heißt es unmissverständlich, der Ruf komme «nicht von dem Anderen, der mit mir in der Welt ist». Könnte eine drastische Formulierung helfen, die Exzentrik dieser Auffassung, die dennoch repräsentativ für weite Teile des existentiellen Denkens ist, zu ermessen, wäre festzuhalten, dass Existenz der Weg in die Isolation ist. Es ist Franz Rosenzweig, der bereits sechs Jahre vor dem Erscheinen von Sein und Zeit auf die Einseitigkeit einer solchen Auffassung hingewiesen hat. Manche Formulierungen, die uns in Texten, selbst solche philosophischer Natur, begegnen, bleiben aufgrund ihrer Schönheit oder ihrer Wahrheit noch lange in Erinnerung. Rosenzweigs Rede von jener “edelstummen» Einsamkeit, in der das Selbst verharrt, zählt dazu. «Das Selbst in seiner gebirgshaft ‹edel-stummen› Einsamkeit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst ! […].»531 Eindringlicher ist das Dilemma des existentiellen Denkens wohl kaum zu benennen, wenn man es denn als ein solches betrachtet. Denn es führt in akribisch ausgearbeiteten Theorien den Menschen exakt bis zu diesem Punkt – und wendet sich von ihm ab. Dass die Aussagen von Karl Jaspers und von Franz Rosenzweig selbst aus diesem Bild des Denkens auszuklammern sind, erklärt sich durch die Einwilligung beider, in je unterschiedlichem Umfang dem Religiösen Vertrauen zu schenken. So zeigt Jaspers dem Einzelnen nicht nur den Wert der Kommunikation, sondern präsentiert den Zuhörern der Vorlesung, die er 1947 in Basel hielt, seinen Entwurf «philosophischen Glaubens». Zu dessen «Gehalten» zählt unter anderem die folgende Auffassung: «Das Unbedingte selber wird nicht zeitlich. Wo es ist, ist es zugleich quer zur Zeit. Es bricht aus der Transzendenz in diese
«Und woraufhin wird es [das Selbs] angerufen? Auf das eigene Selbst. […] Andererseits kommt der Ruf nicht von dem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.» Sein und Zeit, § 56, S.273 und § 57, S.275. 531 Der Stern der Erlösung, I, III, S.79. 530
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Welt […].»532 Und Rosenzweig entfaltet im Überschreiten der Selbstverschränkung des Einzelnen seine Deutung der Liebe zu Gott, die er als die Liebe Gottes zum Menschen versteht. «Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.»533 Bis zum Selbst-Sein kommen wir, so will es scheinen, aus eigener Kraft, doch dann sind wir auf die Anwesenheit dessen angewiesen, der uns auffordert, Selbst in Relation zu sein. Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass das genuin philosophische existentielle Denken mit der Erklärung des ersten Schrittes dieser Bewegung ihr Ziel erreicht hat, das in seiner Zeit bemerkenswert genug gewesen ist. So begründet sich ihr weitgehendes Schweigen zum zweiten Schritt, den es nun nachzuholen gilt. Franz Rosenzweig, Karl Jaspers und Karl Barth kann insofern gefolgt werden, als er nur in Bezug auf ein Anderes zu gehen ist. Doch endet die Gefolgschaft in dem Moment, in dem dieses als das ganz und gar Andere interpretiert wird. Denn was sollte dessen Gedanke gewähren, das nicht auch aus dem Denken an den anderen Menschen zu erreichen wäre? Die Verlässlichkeit, die nur das ganz Andere zu versprechen scheint, so kann geantwortet werden. Denn auf den anderen Menschen kann ich mich, so formuliert es Jean-Paul Sartre 1946, «nicht verlassen», da «es keinerlei menschliche Natur gibt, auf die ich bauen könnte.»534 Und doch soll ich in dem Bewusstsein handeln, dass ich die Werte, die ich schaffe, zugleich für alle Menschen setze. Die Unsicherheit, von der Sartre hier spricht, resultiert aus seinem Gedanken, dass die Existenz der Essenz vorausgehe, womit eine permanente Entwurfsbewegung menschlichen So-Seins verbunden ist. Doch müsste selbst Sartre letztlich einräumen, dass es ein uns verbindendes Element gibt, würde der von ihm so stark akzentuierte Gedanke der menschlichen Solidarität sonst unhaltbar werden. In seinem Roman Der Ekel benennt er dieses Element, allerdings in der denkbar abweisendsten Haltung: «Wir waren ein Häufchen Existierender, die sich selber im Weg standen, sich behinderten, […].“535 ! auf diese Zeilen wurde bereits hingewiesen. So sind die Existierenden für alle Zeit aneinandergebunden, ein Gedanke, den Sartre in seinem Theaterstück Huis clos – Geschlossene Gesellschaft von 1947 dramatisch in Szene setzt. In Das Sein und das Nichts zeigt er, dass wir aufeinander angewiesen sind, um einander das Bewusstsein unseres Selbst zu ermöglichen, doch mündet nicht einmal diese Auffassung in der Sichtweise eines positiven Miteinanders. Der kurze Nachklang dessen, was an früherer Stelle zum Denken Jean-Paul Sartres geäußert wurde, dient einem ganz klaren Zweck. Er 532 Der philosophische Glaube, S.32. Und etwas später heißt es: «Die philosophischen Gehalte des abendländischen Philosophierens haben ihre geschichtliche Quelle nicht nur im griechischen, sondern auch im biblischen Denken.» S.34. 533 Der Stern der Erlösung, II, II, S.200. 534 Der Existentialismus ist ein Humanismus, S.160. 535 Der Ekel, S.146. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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soll die Bewertung unserer Lage aus existentialistischer Perspektive noch einmal benennen, um die Möglichkeit jener Umdeutung zu veranschaulichen, die wir vollziehen. Wir können uns auf den Anderen verlassen, da wir in gleicher Weise vorfindlich im Sein sind. Ist diese Aussage nicht Ausdruck eines ungerechtfertigten Optimismus’? Der bloße Hinweis auf die gemeinsame Seins-Form verliert doch in dem Augenblick seine Glaubwürdigkeit, in dem ein einzelner Mensch zu handeln beginnt und dabei vielleicht sogar in gröbster Weise den Grundsatz der Gleichheit im Sein missachtet. Um diesen missachten zu können, muss er zunächst bekannt sein, soviel lässt sich erwidern, auch wenn die Schlichtheit dieser Antwort kaum zu übertreffen ist. Hier setzt die Arbeit der Existenzphilosophie ein, die trotz mancherlei Kritik noch immer als geeigneter Ort des Denkens gilt. Im Kapitel Vom Gelingen wird auf diesen Aspekt zurückzukommen sein. Im Moment steht die Frage im Raum, ob es tatsächlich möglich ist, durch einen simplen Perspektivwechsel eine gänzliche Umdeutung menschlicher Seins-Verfassung zu erreichen. An diesem Punkt der Überlegungen geht es noch nicht um die Ursachenforschung, warum Menschen nicht im Sinne des Ganzen agieren. Es steht vielmehr noch einmal der Gedanke des Ganzen als solcher im Fokus. Dabei ist die Einbeziehung einiger weniger Überlegungen zu Formen theologischen Denkens, die sich zeitgleich zum existenzphilosophischen entfalteten, hilfreich, um eine Standortbestimmung der gegenwärtigen Position so präzise wir möglich formulieren zu können. Entscheidend ist, dass diese sich weder mit den Koordinaten bisheriger Existenzphilosophie noch Theologie ermitteln lässt. Denn beide basieren zum Großteil auf einer Seins-Auffassung, die durch negative Bestimmungen gekennzeichnet ist. In der Geworfenheit ist der Mensch nicht das, was er – eigentlich – zu sein vermag und im Bild ewigen und endlichen Seins fällt Letzterem die Beschreibung als defizitär zu. In klarer Kontrastierung von diesen beiden Sichtweisen betrachten wir Vorfindlichkeit als die dem Menschen entsprechende und damit angemessene Seins-Weise. Da er diese mit allem Anderen ausnahmslos teilt, konnte er als diesem anverwandt bezeichnet werden. Auf diesem Faktum allein gründet die Überzeugung, dass wir dem Anderen berechtigtes Vertrauen entgegenbringen können, solange wir ihn unter dem Gesichtspunkt prä-differentieller Gleichförmigkeit betrachten. Hat es diesen Zustand jemals gegeben? Wird nicht irgendwo mit Sicherheit gegen diesen Grundsatz verstoßen, indem Menschen ihrem Eigeninteresse folgend agieren und das Andere, ganz gleich ob Mensch oder Natur, ihren Zielen unterwerfen? Existentielles Denken, wie es hier vertreten wird, versteht sich nicht als Zustandsbeschreibung des Daseins, sondern als grundlegende Reflexion dessen, was es heißt, zu sein. Insofern erinnert sie möglicherweise an die Vorstellung ursprünglichen Seins, eine Assoziation, die nicht völlig abwegig ist. Nur wäre nicht von ursprünglichem, sondern von grundsätzlichem Sein zu sprechen. Denn es gilt die Folgerung zu vermeiden, dass sich aktuelles Sein in einem Zustand der Entfremdung befindet, die nicht https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zufällig an das Bild erinnern würde, das etwa Karl Barth zeichnet. Der Gedanke grundsätzlichen Seins dient nicht dazu, einen Moment der Vollkommenheit zu spiegeln, bevor der Mensch zu handeln beginnt. Er führt vielmehr dazu, den Rahmen zu bezeichnen, in dem sich dessen Handeln abspielt. Das bedeutet, dass der faktische Zustand konkreten Agierens und der Ermöglichungsraum des Wirkens, das im Einklang mit dem Anderen erfolgt, ein und dieselben Abmessungen aufweisen. Daher ist es nicht erforderlich, zur Begründung bedenkenden Handelns, das als Gestaltung gelingender Existenz bezeichnet werden wird, einen anderen Urgrund als das Sein anzunehmen. Warum ist die Annahme eines Augenblicks vollkommenen Seins aber zurückzuweisen? Sie zu teilen würde die Notwendigkeit nach sich ziehen, auch einen Moment wiedererlangter Vollkommenheit anzunehmen. Die Zeit zwischen ihm und dem Ursprung würde zwangsläufig als Sein aufzufassen sein, dem lediglich mindere Wertigkeit zukommen könnte, da es nicht mehr ist, was es war und noch nicht, was es zu werden vermag. Eine solche Entwertung des Daseins, das Form wertgeminderten Seins wäre, kann nicht akzeptiert werden. Dieses Dasein ist unsere Weise, zu sein, die uns entspricht. Wie leichtfertig geben wir letzten Endes das Vertrauen in diese unsere Möglichkeit preis und fügen uns einer Sichtweise, die es als Zeit des Übergangs bewertet. Bereits zu Beginn unserer Überlegungen begegneten wir für einen kurzen Moment dem evangelischen Theologen Paul Tillich. Dort waren es jedoch zunächst seine Worte über Existenzphilosophie, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Auffällig war, dass er dem Begriff des Seins in seiner Charakterisierung, die, um es noch einmal zu wiederholen, deren Denken dem amerikanischen Publikum nahebringen sollte, mit großer Unbefangenheit begegnete. Eine vergleichbare Unvoreingenommenheit ließ sich in den frühen Schriften von Karl Jaspers und Heinrich Barth kaum nachweisen. Nun wäre es eine höchst einseitige und der Bedeutung Paul Tillichs keineswegs gerecht werdende Perspektive, würde er lediglich als Interpret der Existenzphilosophie wahrgenommen. Durch sein Eintreten für einen theologisch keineswegs unumstrittenen Begriff klingt sein Denken unversehens auch in anderem Zusammenhang an. Im August 1954 hielt Tillich auf der Tagung Mensch und Wandlung in Ascona einen Vortrag mit dem Titel Das Neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie, der 1955 im Eranos-Jahrbuch veröffentlicht wurde. Darin findet sich eine Erklärung, die nicht nur aus theologischer, sondern auch aus philosophischer Sicht aufhorchen lässt: «Das Thema könnte so verstanden werden, als ob ich meinte, das Neue Sein ist der Zentralbegriff der Theologie. Aber das wäre eine unhaltbare Behauptung. Ich kann nur sagen: das Neue Sein soll der Zentralbegriff der Theologie werden; […].»536 Das Motiv des Seins erscheint 1954 nicht erstmalig im Denken Paul Tillichs, sondern findet sich, bevor es 1957 zum Kerngedanken seiner Systematic 536
Das Neue Sein, S.35. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Aus anderer Perspektive
Theology – Systematische Theologie wird, bereits in der Dogmatik-Vorlesung, die er 1925 in Marburg und Dresden hielt. Unter dem Gesichtspunkt der Frage nach jener neuen intellektuellen Positionierung, die in den 1920er Jahren im Rahmen der Philosophie stattfand, ist der Zeitpunkt dieser Vorlesung besonders interessant. Denn damit wird dieses Bestreben auch als Teil des theologischen Verständnisses jener Zeit erkennbar. Bislang wurde, wenn im vorliegenden Rahmen von den Ansätzen des existentiellen Denkens gesprochen wurde, sich zum Teil unabhängig von Bezugnahmen auf das Religiöse zu artikulieren, stets der Eindruck erweckt, als handele es sich dabei um einen unveränderlichen Bestand an Glaubenswahrheiten, der von der Theologie reflektiert wird. Der Blick auf Denker wie Paul Tillich oder Rudolf Bultmann zeigt jedoch, dass natürlich auch dort in vielfältiger Weise um den Ausdruck dieser Wahrheiten gerungen wurde und zwar mitunter in einer Form, die dem existenzphilosophischen Streben punktuell nicht unähnlich ist. Besonders der sogenannte «Entmythologisierungsstreit», in dem sich Rudolf Bultmann und Karl Jaspers als Kontrahenten begegnen, wirft hierauf einiges Licht. Was veranlasste nun Paul Tillich dazu, Sein zum «Zentralbegriff der Theologie» zu erklären? Der Versuch einer Antwort kann dadurch eingeleitet werden, dass zunächst nach jenen Widerständen zu fragen ist, denen er sich mit seiner Forderung konfrontiert sah. Da eine Diskussion dieses Aspektes hier nicht theologisch fundiert geführt werden kann, muss sie sich auf deren philosophische Relevanz beschränken, insofern diese die Reflexion des existentiellen Seins-Denkens auf die Probe stellt. Tillich erklärt, einen möglichen Einwand vorwegnehmend: «Sein steht jenseits von Ding und Person. Die biblische Religion aber, die Offenbarungsreligion überhaupt, ist personalistisch, ist begründet auf ein Ich-Du-Erlebnis zwischen Gott und Mensch. Der Seinsbegriff macht das Verständnis eines solchen Erlebnisses unmöglich.»537 Die Erwiderung kommt mit erstaunlich geringem Argumentationsaufwand aus, wenn es heißt: «Auch die biblische Religion muß sagen, daß Gott ist.» So werde der Theologe letztlich zum Ontologen.538 Dass es nicht um eine Deutung des Seins-Begriffes als Abstraktion geht, wie sie im traditionellen philosophischen Diskurs zumeist Verwendung findet, bedarf gewiss keiner Erläuterung. Auch wenn Tillich wiederholt von Ontologie spricht, ist hierin keine Festlegung auf eine formalistische Interpretation dieses Begriffes zu sehen, was er selbst in diesen Worten bestätigt: «Darum kann das Sein nicht definiert, sondern nur umschrieben werden.»539 Und in welcher Form nimmt eine solche Umschreibung Gestalt an? Denn das ist von Anfang an offensichtlich: Umschreibungen sind nur von etwas möglich, das sich in der Präsenz seiner Gegenwärtigkeit dem Betrachtenden mehr vermittelt, als erschließt. Auch wenn 537 538 539
Das Neue Sein, S.37. Das Neue Sein, S.38. Das Neue Sein, S.39. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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der Begriff der Erfahrung in diesem Kontext nicht genannt wird, ist seine Bedeutung für die Bildlichkeit des Umschreibens nicht zu übersehen. Gestützt wird sie durch Tillichs Betonung des personalistischen Charakters der Offenbarungsreligion. Soll Sein als jener Grund verstanden werden, auf dem das «Ich-Du-Erlebnis zwischen Gott und Mensch» stattfinden kann, ist eine Umschreibung dieses Seins in jedem Augenblick auch Umschreibung dieses Erlebnisses. Es spricht daher kaum etwas dagegen, an dieser Stelle auch von Erfahrung auszugehen. Es hätte sicherlich nahe gelegen, gerade hier Aussagen zum Geschehen der Schöpfung zu erwarten. Ihr Gedanke ist gerade dort gegenwärtig, wo Tillich Sein als das «Urpositive» bezeichnet, «das dem Negativen, dem möglichen NichtSein, entgegensteht.»540 In seiner Schrift mit dem Titel The courage to be – Der Mut zum Sein, die 1952 in den Vereinigten Staaten von Amerika erschien und ihrem Verfasser unerwartete Popularität einbrachte, widmet sich Paul Tillich dem Phänomen des Mutes, dem er eine kenntnisreiche Darstellung philosophischer Aussagen zum Thema «Angst» voranstellt. Dort erklärt er: «Das Nichtsein bedroht die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes.»541 Ist das Sein des Menschen von der grundsätzlichen Möglichkeit des Nicht-Seins gefährdet, gibt sich Angst nicht nur als Angst vor dieser Möglichkeit zu erkennen, sondern vor allem auch als Angst um das Sein. Damit entsteht eine Fokussierung auf den Wert des Seins, die Tillichs Gedanken höchste Relevanz auch im Kontext existenzphilosophischen Denkens verleiht. Diese Folgerung mag im Zuge der Lektüre des Neuen Seins zunächst wenig stichhaltig wirken, da er dort ankündigt, die Anwendung des Begriffes in dreifacher Perspektive zu reflektieren: mit Blick auf den «Gottesgedanken», den «Erlösungsgedanken» sowie den «Erfüllungsgedanken». Alle drei Ausrichtungen der Betrachtung spielen sich auf genuin theologischem Terrain ab, das, wie immer wieder betont wurde, weder von allen Existenz-Denkern noch in diesen Überlegungen als Begründungsort der Frage nach dem Sein verstanden wird. Gott sei das «Sein-Selbst», so erklärt Tillich, und als solches Grund von Essenz und von Existenz.542 Während seine Erklärung, Gott sei Grund der «Essentialstruktur» «alles dessen, was im Wesen steht und möglich ist», für unsere Betrachtung nicht ausschlaggebend ist, zeigt die Erläuterung des Existenz-Begriffes einen faszinierenden Aspekt. Tillich schreibt: «[…] aber er [Gott] hat auch eine Beziehung zur Existenz und hat teil an der Existenz, nicht nur an der Potentialität, sondern auch an der Aktualität […].“543 Der Rest der Formulierung sei für einen Moment aufgespart, um zunächst diesen ersten Teil bedenken zu können. Dass dieses aus philosophischer Warte geschieht, sei noch einmal betont. Dieser 540 541 542 543
Das Neue Sein, S.39. Der Mut zum Sein, S.38. Das Neue Sein, S.49. Das Neue Sein, S.49. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Aus anderer Perspektive
Hinweis dient nicht nur zur Klärung der generellen Blickrichtung, sondern auch der speziellen Weise, in der aus den Betrachtungen zur Existenzphilosophie heraus nun auf Motive theologischen Denkens geschaut wird. Richtungweisend ist dabei die Frage, wo sich Berührungen beider Denkformen erkennen lassen, die dazu beitragen können, das Phänomen der Existenz umfassender zu reflektieren. Der Fokus der beiden Ansätze, über den Begriff der Existenz zu einer Betrachtung des Begriffes vom Sein zu finden, stimmt weitgehend überein. Denn in beiden steht die Frage nach jener Geschehnis-Struktur im Mittelpunkt, in der Sein erfahrbar wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt Tillichs Hinweis auf Gottes «Beziehung zur Existenz» enormes Gewicht, denn er ist und bleibt in deren Verwirklichung stets präsent. Damit korrespondiert er zum Teil der existenzphilosophischen Motivik der Relationalität des Seins, wie sie sich im Bild der Bezogenheit des Vorfindlichen ausdrückt. Dort ereignet sich Bezugnahme auf das Andere stets als Berührung des anderen Vorfindlichen. Auf eine maßgebliche Differenz im Verständnis des Existenz-Begriffes ist jedoch hinzuweisen. Während er im existentiellen Denken das Mögliche bezeichnet, steht er bei Tillich für das Faktum, zu sein, das durch die Merkmale der Endlichkeit und der Entfremdung gekennzeichnet wird.544Natürlich könnte nun ein ernstzunehmender Einwand laut werden, wonach es unzulässig sei, zwei Formate des Denkens zu vergleichen, die sich durch ein entscheidendes Kriterium unterscheiden. Doch findet das Eintreten für die Möglichkeit eines solchen Vergleiches letztlich in Paul Tillichs eigener Positionierung Unterstützung. Das außerordentliche Gewicht, dass er dem prozessualen Geschehen des «Neuen Seins» beimisst, ist Beleg für die Wertschätzung dieses Seins. Dessen Kennzeichnung als neues Sein beruht auf dieser Akzentuierung. Obwohl bereits, wie er einleitend vermerkt, die Nennung Gottes Aussage über Sein sei, erweist dieses sich als neu, indem es das Geschehen des Erlebnisses zwischen Gott und Mensch thematisiert. Hieraus folgt eine auch aus existenzphilosophischer Sicht keineswegs selbstverständliche Einsicht: «Das einzige Argument für die Wahrheit dieser Botschaft vom Neuen Sein ist, daß die Botschaft sich selbst wahr macht.»545 Das Motiv geschehnishafter Bestätigung des Wertes von Existenz konnte anhand der ausgewählten philosophischen Texte vorgeführt werden. Denn immer wieder zeigte sich, dass es für diese keine andere Rechtfertigung gibt als die Möglichkeit ihrer Verwirklichung, die Möglichkeit menschlichen Seins ist. Darin, diese Bestätigung der Existenz auf die Vorstellung vom Sein auszuweiten und auch ihm unmittelbare Geltung zuzusprechen, be«Diejenigen Formen, die aktuell werden, unterwerfen sich den Bedingungen der Existenz – der Endlichkeit, der Entfremdung, dem Konflikt usw. Das bedeutet nicht, daß sie damit ihren essentiellen Charakter verliere […], aber es bedeutet, daß sie unter die Struktur der Existenz fallen und dem Wachstum, dem Verfall und dem Tod unterworfen sind.» Systematische Theologie, III, IV, I, S.487. 545 Das Neue Sein, S.52. 544
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steht eines unserer Anliegen. Damit ist freilich die Überzeugung verbunden, dass es für dieses keine andere Begründung geben kann als seine Geschehnisstruktur. So stark Tillich jenen Aspekt auch akzentuiert, darf der wesentliche Unterschied zur hier vertretenen Auffassung doch nicht verwischt werden. Seiner Ansicht nach ist das Geschehen der Beziehung durch die essentielle Differenz der Beteiligten gekennzeichnet. Nirgends tritt dieser Gedanke plastischer hervor als in folgenden Worten: «Wenn wir von Gott sagen, daß er der Grund des Seins ist, sagen wir zugleich, daß er als Kraft des Neuen Seins das ist, was das Neue der Wiederherstellung schafft.»546 Mit dem Gedanken der Wiederherstellung rühren wir an einem Motivkomplex, der sich philosophischer Adaptierung zu entziehen scheint. Denn er verweist auf die Überzeugung, Gott als Grund von Essenz und Existenz erfassen zu können, die sich im menschlichen Sein immer nur differenziert denken lassen. Hier kommt erneut das Verständnis der Teilhabe zum Tragen, das bereits kurz angeklungen ist. «Wenn das, was jenseits von Essenz und Existenz ist, an der Existenz teilhat, dann kann es daran nur teilhaben in der Form, daß es den Zwiespalt von Essenz und Existenz überwindet.»547 An diesem Punkt kann nun der vorhin aufgesparte zweite Teil der zitierten Formulierung eingefügt werden, wonach Gott Teil an der Aktualität der Existenz habe, «an dem Widerspruch, in den die Menschheit mit sich selbst und ihrem Grund gefallen ist.» Dieser Widerspruch erklärt sich dadurch, dass Tillichs Deutung nach der Mensch aufgrund seiner Bindung an die Existenz nicht in der Lage sei, der Bestimmung seiner Essenz gerecht zu werden. In Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken heißt es: «Der moderne Mensch hat ein tiefes Empfinden für die Entfremdung von seinem ursprünglichen und wahren Sein. Er ist sich seiner Feindschaft gegen sich selbst und gegen die Welt bewußt; er weiß um seine Trennung vom letzten Grund des Seins und Sinnes.»548 Spätestens jetzt bestätigt sich, dass der Existenz-Begriff hier anders verstanden wird als in den entsprechenden philosophischen Reflexionen, nämlich nicht als Verwirklichungsform des Möglichen, sondern als Kennzeichnung der Faktizität. Den Entwurfsraum, den die zitierten Denker mit der Signatur der Existenz versehen, würde Tillich als das Neue Sein bezeichnen. Außergewöhnlich interessant ist dabei seine Überzeugung, dass dieser sich nur im Ereignis zwischen Gott und Mensch erschließen kann, also in jener Form von Interaktion, die allenfalls Karl Jaspers durch seine Fokussierung von Transzendenz berücksichtigt. Eine Forderung des Selbst-Seins, das sich in Separation vom Anderen vollziehen könnte, wäre für Paul Tillich nicht relevant. Denn sie würde das Element der Geschehnishaftigkeit ausklammern, das für seine Deutung von Religion ausschlaggebend ist. Mit diesem Motiv steht seine Sichtweise, so verwunderlich es auch sei, den hier vertretenden Gedanken näher, 546 547 548
Das Neue Sein, S.50. Das Neue Sein, S.49 f. Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken, in: Philosophie und Schicksal, S.183. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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als es mit Blick auf genuin existenzphilosophische Auffassungen der Fall war, die eben diese Separation fordern. Nur würde das Ereignis des Seins sich nach Tillichs Überzeugung als personales Geschehen zu erkennen geben, wohingegen diese Betrachtungen es als Bezogenheit auf Anderes schlechthin deuten. Ist der Gedanke des Neuen Seins an die Bildlichkeit der Wiederherstellung gebunden, die Paul Tillichs Einführung des Gedankens der Heilsgeschichte vorbereitet, schlagen seine Ausführungen eine Richtung ein, die ihren Bezug zur aktuellen Thematik nicht auf den ersten Blick enthüllen mögen. «Damit ergibt sich eine weitere theologische Aussage, nämlich daß die Heilsgeschichte die Entstehung des Neuen Seins ist, […].»549 Mit dieser Feststellung scheint sich der Begriff des Neuen Seins einer existenzphilosophischen Reflexion zu entziehen, zumindest für eine solche Reflexion, wie sie hier erfolgt. Denn Voraussetzung all jener Aussagen Tillichs, die Wiedervereinigung, Erlösung und Befreiung gelten, ist die Gewissheit, dass der Mensch ihrer in seinem Sein bedarf. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre es bereits unnötig, in dieser Weise vom Menschen zu sprechen, da nur das eine Sein erfahrbar und infolgedessen denkbar ist. Kein Moment der Entzweiung ist zu beklagen und kein Moment der Heilung zu erhoffen, da sich beide in der Seins-Erfahrung nicht begründen lassen. Oder wird hier voreilig gesprochen? Könnte die Annahme nicht auch mit einiger Berechtigung vertreten werden, dass Existieren-Können im philosophischen Sinne wenn vielleicht nicht als Heilung, dann aber mit Sicherheit als Befreiung zum eigensten SelbstSein verstanden werden kann? Wäre die Daseins-Situation des Menschen nicht als defizitär in Hinsicht auf dessen Sein-Können zu deuten, wäre der Reiz der Existenz kaum plausibel zu vermitteln. Gegen diese Bemerkung wäre Widerspruch unsinnig, da auf dem Motiv der Befreiung zum Selbst-Sein-Können letztlich alle vorgestellten Konzeptionen beruhen. Wie ordnen sich aber diese Überlegungen in das so vor uns liegende Feld ein? Bisher wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, die existentielle Bewegung über das Selbst-Sein hinaus zu denken, um ihr Seins-Relevanz bescheinigen zu können. Ging dabei nicht allzu stark die Ausrichtung dieser Bewegung auf das Selbst-Sein-Können verloren? Mitnichten, denn dessen Bedeutung wurde zu keinem Zeitpunkt bestritten. Es wurde lediglich nicht mehr für nötig erachtet, diese erneut hervorzuheben. Die existentielle Bewegung entwickelt sich aus einem Zustand der Potentialität zur Realisierung, so könnte einhellig vermerkt werden. Sein im Zustand der Potentialität, das nach der hier zugrundeliegenden Auffassung noch nicht mit dem Begriff der Existenz bezeichnet werden dürfte, kann insofern als unvollständig betrachtet werden, als in ihm etwas zur Verwirklichung aussteht. Dieser Umstand führt jedoch nicht zu der Annahme einer erforderlichen Wiederherstellung. Im existentiellen Denken und vor allem in dessen hier vertretener Form ist kein Zustand denkbar, dessen Erreichen durch eine Wiederherstellung vorstellbar wäre. 549
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Mit Blick auf eine ganz bestimmte Thematik existenzphilosophischer Schriften könnte hieran Zweifel entstehen. Warum greift etwa Martin Heidegger auf die Metaphorik von Schuld und Gewissen zurück, um die Fähigkeit des Einzelnen zu beschreiben, sich zum Selbst-Sein-Können aufzurufen? Selbst in Anbetracht dieses berechtigten Hinweises wäre die Voraussetzung eines Zustandes der existentiellen Bedürftigkeit abzulehnen, da es philosophisch keinen Sinn ergibt, menschliches Sein als Status der verlorenen Einheit – welcher Art sie auch sei – zu begreifen. Im Sinne unserer Deutung des Seins könnte argumentiert werden, dass es nicht deshalb als neu zu bezeichnen ist, weil es Verlorenes wiederherstellt, sondern weil es an sich Konstitution von Neuem ist. Gerade das macht die Bedeutung des existentiellen Seins aus. Dieses teilt mit Paul Tillichs Konzeption des Neuen Seins verschiedene Kennzeichen, zu denen vor allem die besondere Betonung seines relationalen Charakters zählt. In dessen Realisierung verwirklicht sich neues Sein, das jedoch durch und durch frei von jedweder vorausgehenden Annahme zu denken ist. Ist deren Notwendigkeit aber wirklich Voraussetzung von Tillichs Entwurf des Neuen Seins? Die Antwort steht und fällt mit der Weise, in der die von ihm diagnostizierte Entzweiung von Essenz und Existenz im menschlichen Sein einbezogen wird, die er auch als «Entfremdung» bezeichnet.550 Noch einmal könnte der bereits angesprochene Zweifel an Gewicht gewinnen, ob wir hier nicht exakt der Voraussetzung bestehender existenzphilosophischer Deutungen begegnen? Das Selbst etwa im Zustand des Man-Selbst besteht jenseits seiner eigentlichen Verwirklichungsmöglichkeit. Was verbietet es also, auch hier ein Element der Entfremdung zu vermuten? In Momenten wie diesen wird wohl am deutlichsten erkennbar, worin sich unser Entwurf existentiellen Denkens von dessen vorliegenden Artikulationen unterscheidet. Mit einigem Mut zur Verallgemeinerung kann festgehalten werden, dass beide auf der Vorstellung voll entfalteter Möglichkeit im Sein beruhen. Für die bestehenden Konzeptionen liegt diese im Bild der Existenz, das so lange als nicht entfaltet anzusehen ist, wie es nicht als eigenstes Können ergriffen wurde. Im aktuellen Entwurf würde dieser Auffassung grundsätzlich die Vorstellung vollständig entfalteten Seins entsprechen, das so lange nicht als solches zu bezeichnen wäre, wie es nicht im Sinne gelingenden Seins verwirklicht wird. Der Unterschied beider Aspekte, die funktional durchaus vergleichbar sind, besteht in der Interpretation des Bildes vollständiger Entfaltung. Für Existenz, die sich, wie immer wieder erkennbar wurde, im Zuge eines solitären Aktes der Reflexion realisiert, ist zunächst keine Berücksichtigung relationaler Struktur erforderlich, ganz im Gegensatz zur Annahme entfalteten Seins. Dieses ist immer nur perfor550 «Dann erscheint das Neue als Mittelpunkt der Geschichte und als Mittelpunkt der Heilsgeschichte, und es erscheint in der paradoxen Weise, daß hier das Essentielle des Menschseins unter den Bedingungen der entfremdeten Existenz erscheint und diese entfremdete Existenz überwindet.» Das Neue Sein, S.51 f. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mativ und situativ in der Bezugnahme auf Anderes zu erreichen, ein Prozess, auf dessen grundsätzliche Unabgeschlossenheit bereits hingewiesen wurde. Daher erscheint der Gedanke sich realisierenden Seins resistent gegenüber der Annahme der Entfremdung, und zwar in offensichtlicherer Weise, als es für den Gedanken der Existenz anzunehmen ist. Mit Blick auf ihre untersuchten Konzeptionen könnte behauptet werden, dass sich das Selbst im Zustand der Entfremdung von sich selbst im Dasein befindet. Der Augenblick der Erschütterung wurde sogar mehrfach mit dem Begriff der Befreiung zum eigensten Selbst-Sein gekennzeichnet. Wird diese Auffassung auf das ihr zugrunde liegende Motiv zurückgeführt, könnte davon gesprochen werden, dass das Andere das Selbst am Existieren hindert, weshalb dessen Ausblendung für den Initiationsmoment der existentiellen Bewegung von einigen Denkern als unverzichtbar erachtet wurde. Würde genau diese Formulierung auf die Vorstellung vom Sein übertragen, würde sie sofort ihre Unsinnigkeit zu erkennen geben. Denn es würde heißen, dass das Andere den Menschen am Selbst-Sein hindere. Genau das Gegenteil ist innerhalb des Seins-Denkens der Fall: Erst das Andere ermöglicht es dem Menschen, zu sich zu finden, weil er sich erst in Berührung mit dem Anderen selbst zu erfahren vermag. Diese prozessuale Selbst-Begegnung setzt immer wieder von Neuem an, da sie sich in immer neuen Konstellationen aktualisiert. Auf dieser Basis ist es nahezu unmöglich, einen diesem Geschehen vorgängigen Zustand vorzustellen, zumal dann, wenn dieser sich als der Bessere erweisen sollte. Denn das Mögliche realisiert sich stets von Grund auf neu. Vielleicht konnte in den vorangegangenen Überlegungen der Eindruck entstehen, als würden Existenz- und Seins-Verwirklichung zwei Phasen einer linear verlaufenden Entwicklung sein. Diesem Bild ist nun das Verhältnis sich bedingender Bedingtheit entgegenzusetzen, in dem beide miteinander stehen. Existenz verwirklicht sich aus der Vorfindlichkeit heraus, indem sich das Selbst in ihr durch seine Bezogenheit auf das Andere reflektiert. Im Zuge dieser Reflexion, die in besonderer Weise von der Wertschätzung des Anderen getragen ist, da dieses als konstituierendes Element der Selbst-Erfahrung fungiert, wird dieses bereits als schätzenswert erfahren. Denn in jedem Fall gilt es die Vermutung zu verhindern, dass es nur in Bezug auf das Eigene zur Kenntnis genommen wird. Hier wirkt sich der Gedanke des gleichförmig und gleichwertig Vorfindlichen positiv aus. Da nun Selbst-Begegnung im Anderen in jeder realen Situation von Neuem anhebt, kommt es nie zur Bildung vorgängiger Seins-Formen, die in irgendeiner Weise als besser oder schlechter bewertet werden könnten. Insofern ist jede verwirklichte Selbst-Erfahrung als simultane Erfahrung des Anderen wert-neutral. Denn eine jede von ihnen produziert ihr eigenes Maß des Gelingens, anstatt Maßstäbe vorausgegangener Reflexion lediglich zu reproduzieren. Vor diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar, warum die Annahme eines Zustandes vor der Entzweiung, der der Heilung bedarf, im Entwurf gelingenden Seins schlichtweg keinen Sinn ergibt. Und ebenso wenig würde die Ansicht https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sich als sinnvoll erweisen, dass im Verlauf des Begegnungs-Geschehens eine Wiederherstellung vormaliger Einheit erfolgen könnte, da sie nicht erfolgen muss. Paul Tillichs Texte zeichnen sich durch ein hohes Maß an Bezugnahmen auf tiefenpsychologisches Denken, wie er es besonders in Amerika kennenlernte, aus. So weitet sich sein Gedanke der Entfremdung, der über die beiden Begriffe von Essenz und Existenz eingeführt worden war, schließlich zum Bild der Entfremdung als psychischem Phänomen. Hierzu schreibt er: «Der erste Schritt ist die Gewißheit, daß das Essentielle und das Existentielle in uns, die einander entfremdet sind, schon im Neuen Sein versöhnt sind.»551 Damit gibt es seine religiöspsychologische Natur zu erkennen, die es von einer bloß ontologischen Deutung, deren Relevanz für die Frage nach dem Menschen zu Recht angezweifelt werden könnte, bewahrt. Weiter heißt es: «[…] der erste Schritt des Neuen Seins in jedem Menschen ist die Anerkennung, daß er angenommen ist.» Hier verweist Tillich auf die Formulierung, die er für dieses Angenommen-Sein prägte ! «accepting acceptance». Damit, so fährt er fort, «[…] sind wir an einem Zentralpunkt aller religiösen Heilungsphänomene: [der] Möglichkeit, ja zu sich zu sagen.» Die Annahme des Menschen durch Christus, die er zuvor thematisiert hatte, mündet in der Annahme des Menschen zu sich selbst in Christus.552 Angenommen-Sein erweist sich als das Kernmotiv des Neuen Seins, das, wie Tillich gezeigt hat, seinem Verständnis nach nicht vom Gedanken der Heilsgeschichte zu trennen ist. Es fungiert auf verschiedenen Ebenen im Sinne einer Zusammenfügung des Entzweiten, beginnend bei der Differenz zwischen Existenz als Gegebenheit und Essenz als Wesensbestimmung. Letzterer kann der Mensch nicht entsprechen, da er, so argumentiert Tillich, «in Widerspruch» «mit sich selbst und der Menschheit» gefallen sei.553 Sich angenommen im Erfahren des Anderen zu wissen ! diese Basis der Gewissheit korrespondiert in frappierender Weise dem gedanklichen Ermöglichungsraum existentiellen Seins, für dessen Öffnung diese Seiten sprechen. Bereits an früherer Stelle konnte der Umstand berücksichtigt werden, dass das Andere zwar nicht Grund von Sein, aber Grund für Sein als qualifiziertes So-Sein zu sein vermag. Qualifiziert ist es nicht dadurch, dass es sich durch eine als erstrebenswert zu betrachtende Artikulation seiner selbst auszeichnet, sondern dadurch, dass es sich für eine gelingende Seins-Relation als geeignet erweist. In diesem Sinne ist qualifiziertes Sein nicht ausgezeichnetes, sondern befähigtes Sein. Das wiederum ist nicht Folge einer Herausstellung, in deren Verlauf Eignung erwiesen wird, sondern Eignung liegt durch das Sein immer schon vor. Ein letzter Das Neue Sein, S.55. «Wenn Paulus den Begriff der Teilhabe implizite sehr deutlich gebraucht – daß man ‹in Christus› sein muß, ! dann meint er damit, daß man teilhat an dem Neuen Sein, […].» Das Neue Sein, S.54. 553 Das Neue Sein, S.49. 551
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Begriff aus Paul Tillichs Text muss in diesem Zusammenhang unbedingt noch berücksichtigt werden, nämlich der Begriff des «Ergriffenseins». Nur so viel folgt als Erläuterung: «Ergriffensein ist eine Seinsrelation.»554 Noch einmal lohnt die Erinnerung daran, dass hier auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf dem Spiel steht. Es wäre beileibe zu viel, von Vergleichbarkeit der beiden folgenden Begriffe ausgehen zu wollen. Doch eine Entsprechung kann erwogen werden, wenn es um die Begriffe des Ergriffenseins und der Berührung geht. Letzterer entstammt den vorangegangenen Überlegungen zum Motiv der Affizierungen, in deren Geschehen sich der Einzelne als den Affizierbaren, den Berührbaren, erlebt. Beide Begriffe verweisen in ihrem je eigenen Begründungskontext auf das Gewahren des Anderen, das Tillichs Auslegung zufolge im Gedanken gemeinschaftlichen Seins mündet. «Kirche heißt ursprünglich ‹Versammlung Gottes› oder ‹Versammlung Christi›, das heißt Versammlung derer, die vom Neuen Sein ergriffen sind.»555 An dieser Stelle bietet es sich an, die Bedeutung des in aller Kürze Skizzierten für die aktuellen Überlegungen noch einmal zu benennen. In grundsätzlich vergleichbarer Weise ist in philosophischen wie auch theologischen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts die Artikulation einer entscheidenden Frage zu beobachten: Was bedeuten die jeweiligen Aussagen für den Menschen? Franz Rosenzweig fasst die Notwendigkeit, diese Frage zu stellen, in unvergleichlicher Intensität im Bild jenes «leeren Lächelns» zusammen, mit dem die Philosophie die Not des Menschen quittiere. Im Rahmen der Existenzphilosophie gibt die Fokussierung des Selbst-Sein-Könnens auch dort Aufschluss über die Intention des Denkens, wo explizit nicht das Problem der Bedeutung thematisiert wird. Denn es wird zum Prüfstein philosophischer Theorie und entscheidet damit letztlich über deren Legitimation. Wiederum ist es Rosenzweig, der hier am deutlichsten Stellung bezieht und dem Denken «von Jonien bis Jena» eine klare Absage erteilt. Die plakative Undifferenziertheit, in der dieses erfolgt, mag polarisieren, sollte jedoch nicht über den Kern dieser Zurückweisung hinwegtäuschen. Philosophie wird in seiner Sicht nicht mehr am Begriff der Wahrheit gemessen, sondern am Grad ihrer Bewährung im Dasein. Angesichts dieses Anspruches wird es möglicherweise schwerfallen, Martin Heideggers Aussagen in Sein und Zeit als deren Artikulation zu betrachten. Denn seine Absicht, eine fundamentalontologische Analyse des Seins vorzunehmen, scheint auf den ersten Blick schwer mit einem besonderen Interesse am Menschen vereinbar zu sein. Eine nähere Erwägung dessen, was seine Schrift inhaltlich vermittelt, ergibt allerdings ein anderes Bild. Denn worum geht es in Sein und Zeit? Es geht um die Darlegung der Befreiung des Menschen zum eigensten Selbst-Sein. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Heidegger darunter Seins-relevantes Geschehen versteht, bleibt er554 555
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kennbar, dass hier nach der Bedeutung ontologischer Aussagen für den Menschen im Sein gefragt wird. Es soll keineswegs behauptet werden, dass Paul Tillichs Plädoyer für das «Neue Sein» aus philosophischer Sicht uneingeschränkt gerecht zu werden ist. Doch es kann festgehalten werden, dass er mit seiner konzeptuellen Innovation einen eindeutigen Akzent auf die Geschehnis-Struktur dieses Sein legt, in dem sich das Erlebnis zwischen Gott und Mensch ereignet. Nicht zufällig verwendet er für dessen Erläuterung den Begriff der «Seinsrelationen» und verweist damit auf das unmittelbare Verwirklichungs-Geschehen aufeinander bezogenen Seins: Denn das, von dem wir befreit werden müssen, ist unser essentielles Sein, das gegen uns steht als Forderung und das wir, weil es uns gegenübersteht, nicht erfüllen können. […] Da wir aber entfremdet sind, können wir sie [die Essentialstruktur] nicht erfüllen, denn wir sind ja den zerstörerischen Strukturen der Existenz unterworfen. Hier haben wir eine weitere entscheidende Konsequenz des Begriffs des Neuen Seins. Wir begreifen, daß es sich in der Religion um Seinsrelationen handelt, […].556
Im Vollzug dieser Relationen, die die Beziehung zwischen Gott und Mensch denkbar werden lassen, ereignet sich das, was Tillich mit dem Begriff der Heilung bezeichnet. Welch anderer Gedanke könnte seine Bedeutung für den Menschen in derart unmittelbarer Weise zu erkennen geben? Im Rahmen der evangelischen Theologie findet sich ein weiteres Beispiel der Frage nach dieser Bedeutung in noch weitaus markanterer Konturierung. Diese Einschätzung bezieht sich sowohl auf deren Artikulation als auch auf die Diskussionen, die diese auslöste. Es handelt sich um das Projekt der «Entmythologisierung», das von Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann vorgestellt wurde und vor allem in den 1950er Jahren das Fundament der Bibelexegese grundlegend erschütterte. 1941 erschien Bultmanns Neues Testament und Mythologie, dessen intensive Rezeption mit einiger zeitlicher Verzögerung erst nach dem Krieg begann. Zunächst scheint es sich bei diesem Ansatz um eine Neuerung in hermeneutischer Hinsicht zu handeln, die der Überlegung gilt, wie mythologische Aussagen der Bibel in moderner Zeit zu deuten seien. Der Hinweis auf die moderne Zeit legt bereits den Hintergrund frei, vor dem diese Überlegung überhaupt Relevanz gewinnen konnte. In einem durch die Entwicklungen von Technik und Naturwissenschaften geprägten Denken könne sich, so argumentiert Rudolf Bultmann, das Wort mythischer Bildlichkeit nicht mehr mit selbstverständlicher Sicherheit erschließen. In seinem berühmt gewordenen Text Zum Problem der Entmythologisierung, der im Jahr 1963 in der Sammlung Kerygma und Mythos erschien, umgrenzt er das von ihm vertretene Projekt folgendermaßen: «Unter Entmythologisierung verstehe ich ein hermeneutisches Verfahren, das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wahrheitsgehalt befragt. 556
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Vorausgesetzt ist dabei, daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise.»557 Diese letzte Hervorhebung Bultmanns ist deshalb wichtig, weil sie den Fokus eindeutig auf das Problem der Vermittlung des Ausgesagten richtet. Hier begegnet uns eine bemerkenswerte Parallele zum existenzphilosophischen Anspruch, die Bedeutung des Gedachten für den Vollzug der Existenz zu berücksichtigen. Bultmanns Text enthält eine Vielzahl von Verweisen auf existentielles Denken, was ihm von prominenter Seite zum Vorwurf gemacht wurde. Mit Martin Heidegger verband ihn eine wohl als Freundschaft zu bezeichnende Verbindung, die sich in dem über fünfzig Jahre fortgeführten Briefwechsel spiegelt. Den Rahmen, innerhalb dessen sein Verfahren der «existentiellen Interpretation» zur Anwendung kommen sollte, umgrenzt Bultmann als jenen der Geschichte im Sinne der Vergangenheit, in der sich Entscheidungen des Menschen in jeweils konkreten Situationen ereigneten.558 Hieraus folgert er: «Ist das eigentlich menschliche Existenz, in der der Mensch sich selbst zu übernehmen hat, für sich verantwortlich ist, so gehört zur eigentlichen Existenz die Offenheit für die Zukunft, die jeweils Ereignis werdende Freiheit.»559 Diese Eigentlichkeit zu thematisieren ist seiner Auffassung nach Aufgabe der existentiellen Interpretation der Geschichte, die er neben deren «objektivierende Darstellung» setzt. Die Notwendigkeit, hierin am Ende ein Indiz doppelter Wahrheit sehen zu müssen, erhebt sich hier mit beunruhigender Intensität, nicht zum ersten Mal in der Geschichte theologischer Diskussionen. Bultmann gibt ihr eine einprägsame Kontur: «Es fragt sich nämlich, ob oder inwieweit die Intention des Mythos die ist, nur erklärend von der Welt zu reden, der der Mensch beobachtend und berechnend gegenübersteht, oder ob er von der Wirklichkeit des Menschen selbst reden will, also von seiner Existenz.»560 Wer heute und gewiss auch damals den Ausdruck des Berechnens im Zusammenhang mit dem Motiv der Existenz hört, wird schlagartig an dessen Verwendung bei Martin Heidegger erinnert. Aus dem Maß, in dem er aus dessen Denken schöpft, macht Rudolf Bultmann kein Hehl, was ihm etwa von Karl Jaspers in ungewohnt drastischer Weise zum Vorwurf gemacht werden sollte. Hier stoßen wir auf ein Kapitel des sogenannten «EntmyZum Problem der Entmythologisierung, in: Neues Testament und christliche Existenz, S.284. 558 Friedrich Gogarten betont die existenzphilosophische Fokussierung von Geschichtlichkeit: «Es wird also, so können wir sagen, durch dieses Verständnis der Geschichte die Verantwortlichkeit so, wie in ihr durch den christlichen Glauben die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz ursprünglich erschlossen ist, wieder aufgedeckt.» Entmythologisierung und Kirche, S.63. 559 Zum Problem der Entmythologisierung, in: Neues Testament und christliche Existenz, S.286. 560 Zum Problem der Entmythologisierung, in: Neues Testament und christliche Existenz, S.290. 557
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thologisierungsstreits», in dem diese beiden Denker als Kontrahenten auftreten, wobei dieser Ausdruck zu Recht verwendet wird. Denn was in Jaspers’ Stellungnahme zu Bultmanns Theorie und dessen Reaktion darauf überliefert ist, lässt mitunter daran zweifeln, dass es hier wirklich nur um eine sachbezogene Diskussion geht. So weist Jaspers zunächst das Heidegger‘sche Denken in Sein und Zeit als der Sache der Existenz nicht angemessene Form zurück, denn dort werde «ein Wissen in lehrbarer Form nahegelegt, erbaut wie eine Stahlkonstruktion».561 Die Unangemessenheit dieser Vorgehensweise besteht seiner Auffassung nach darin, dass man «in wissenschaftlicher Objektivität mit existentialer Analyse erkennen [wolle], was nur existentiell einen Sinn haben [könne]».562 Dieser Einwand mag auf seine Stichhaltigkeit geprüft werden. Bultmann dann jedoch vorzuhalten, er habe Heideggers Schrift nicht verstanden, erregte dessen Unmut wohl nicht zu Unrecht.563 Der Eindruck kann nicht völlig verdrängt werden, dass es Karl Jaspers neben der Sorge um das, was er als Glaubenswahrheiten meint, erkennen zu können, vor allem um Bultmanns Bezugnahme auf die seiner Auffassung nach falschen philosophischen Quellen ging. Dazu zählt aus seiner Sicht das Denken Martin Heideggers wie kein Zweites.564 Ob es neben möglicher Abneigung, die ihren Ursprung nicht nur im Gedachten findet, sondern auch in der Person des Denkenden, nachvollziehbar ist, das Projekt als solches als «Unheil» zu verwerfen, ist in unserem Kontext nur aus einem einzigen Grund zu überlegen: Wird damit nicht ein Ansatz getroffen, der aus existenzphilosophischer Warte zu begrüßen wäre?565 Ohne hier den Spuren weiter folgen zu können, die die Kontroverse um den Gedanken der Entmythologisierung allein schon in dieser Variante hinterlassen hat, wobei die theologischen Auseinandersetzungen noch nicht einmal berücksichtigt wurden,566 kann das bloße Projekt, für das Bultmann zusamWahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung, in: Die Frage der Entmythologisierung, S.12. 562 Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung, in: Die Frage der Entmythologisierung, S.13. 563 «Und zwar deshalb, weil ich immer stärker empfinde, wie wenig sie [Jaspers’ Ausführungen] im Sinne echter Kommunikation gehalten […], wie sehr es ex cathedra gesprochene Worte sind.» Zur Frage der Entmythologisierung. Antwort an Karl Jaspers, in: Die Frage der Entmythologisierung, S.59. 564 «Kein Hauch etwa kantischen oder platonischen Denkens scheint ihn berührt zu haben.» Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung, in: Die Frage der Entmythologisierung, S.13. 565 Bultmann konstatiert in seiner Erwiderung: «Mit der Definition des Mythos als Chiffre der Transzendenz ist die Aufgabe der Interpretation erst angedeutet, aber keineswegs schon erledigt.» Zur Frage der Entmythologisierung. Antwort an Karl Jaspers, in: Die Frage der Entmythologisierung, S.63. 566 Noch im Oktober 1966 schreibt Heidegger an Bultmann: «Den neuen Sturm um Dein theologisches Denken wirst Du in Ruhe überstehen.» In: Rudolf Bultmann – Martin Heidegger. Briefwechsel 1925–1975, S.225.
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men mit Friedrich Gogarten eintritt, als ein Gebot der Stunde betrachtet werden. Denn seine Ansicht, dass es Aussagen geben könne, die Relevantes ausdrücken, jedoch in ihrer Form dem Menschen nicht mehr zugänglich seien, spiegelt jenes intellektuelle Ringen, dem sich auch die Denker der Existenz verschreiben. Ihre Sorge, dass Theoreme der Philosophie den Menschen nicht mehr zu erreichen vermögen, rangiert jedoch auf einer nicht einmal ansatzweise so brisanten Ebene, wie die Frage nach der Vermittlungsform religiöser, ja sogar biblischer Worte. Mit Blick auf die wenigen hier angeführten Ansichten von Paul Tillich zeigte sich eine Tendenz, die in die gleiche Richtung weist: die Überzeugung, dass sich Religion im Miteinander der Menschen zu bewähren habe. Seine Formulierung des Neuen Seins lässt diese Sorge in ihrer ganzen Tiefe erkennbar werden. Daher ist der Gedanke der «Seinsrelationen» für ihn von größerem Belang als jener der «Sollensrelationen», da sich nicht gebieten lasse, was nur im Geschehen der Begegnung zu erreichen sei. Dass es sich bei den Seinsrelationen um jene Verwirklichungsformen der Bezogenheit handelt, mit deren Hilfe Heilung des Menschen als Wiederherstellung eines Zustandes jenseits der Entfremdung vorstellbar wird, mag seinen Ansichten mehr Gewicht verleihen, als in existenzphilosophischen Theorien zu vermuten wäre. Doch täuscht dieser Eindruck deshalb, weil es in beiden Fällen um das Erreichen des Eigentlichen geht, wenn dieser durch Heidegger‘schen Gebrauch ein für allemal gekennzeichnete Begriff hier verwendet werden kann. Die Unterschiedlichkeit zum existentiellen Verständnis zeichnet sich jedoch auch ab. Dort bedeutet der Weg zum Eigentlichen keine Wiederherstellung, sondern Wesensbewegung, die den Einzelnen zum ersten Mal zu jenem Vollbild seiner Möglichkeit des Selbst-Seins führt, das ihm entspricht. Dass Martin Heidegger sehr wohl mit Formen des Denkens vertraut ist, in denen von Sünde und der Annahme eines «Urzustandes» die Rede ist, als der Mensch «aus der Hand Gottes hervorging», belegen unter anderem die Mitschriften eines Referates, das er im Wintersemester 1924 in dem von Rudolf Bultmann in Marburg gehaltenen Seminar Die Ethik des Paulus zu dem Thema Das Problem der Sünde bei Luther hielt.567 Könnten unter Bezugnahme auf manche Andeutungen Heideggers Zweifel an der Eindeutigkeit der gerade getroffenen Feststellung aufkommen, ist die hier vertretene Position absolut eindeutig. Selbst wenn er etwa die Bedingung dafür nennt, dass der Mensch «noch einmal in die Nähe des Seins» finde,568 liegt darin für die aktuelle Sichtweise keinerlei Hindernis. Mit Blick auf Heideggers Verlautbarungen mag es Gegenstand der Diskussion bleiben, ob er am Ende doch mit der Annahme eines Urzustandes liebäugelt. Im aktuellen Entwurf existentiellen Denkens erübrigt sich die Annahme eines der Die Aufzeichnungen finden sich in: Rudolf Bultmann ! Martin Heidegger. Briefwechsel 1925–1975, S.263 ff. 568 «Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren.» Brief über den Humanismus, in: Wegmarken, S.319.
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Vorfindlichkeit vorgängigen Seins. Die Biographie des Einzelnen wie auch seine Geschichte, die weiter in die Vergangenheit weist, wird in dem Augenblick zum Gegenstand existentieller Reflexion, in dem sie sich in der Wechselbeziehung des Vorfindlichen zu aktualisieren beginnt. Vielleicht wirkt diese Aussage wie das naive Ausblenden all jener prägenden Faktoren, die über unser Dasein bestimmen, lange bevor wir uns unserer Möglichkeiten bewusst werden. Das Vergehen unserer Väter kann etwa auf uns lasten und die Vorstellung, unsere Entwicklung im Miteinander würde gleichsam an einem Nullpunkt der Bewertbarkeit einsetzen, ad absurdum führen. Doch diese Art von Prägung durch Bedingungen, die nicht unserem Einfluss unterliegen und doch unser Agieren beeinflussen können, ist hier nicht gemeint. Es geht vielmehr um die Zurückweisung der Annahme, wir hätten in unserem Dasein eine verlorene Eigentlichkeit erneut zu gewinnen. Für eine solche Ansicht gibt es im philosophischen Denken, wie es gerade praktiziert wird, keinen Anhaltspunkt und damit keine Notwendigkeit, nach Sprachformen der Vermittlung zu suchen.
Seins-Vergewisserung Als wie belastbar erweist sich nun die Kombination der Begriffe von Vorfindlichkeit und Affizierbarkeit für die Formulierung existentiellen Seins-Denkens? Die Frage gibt bereits zu erkennen, dass an ihrer grundsätzlichen Belastbarkeit nicht gezweifelt wird. Zu überlegen ist lediglich, zur Lösung welcher Probleme sie herangezogen werden kann. Denn die Herausforderung besteht darin, die größtmögliche Anzahl existentiell relevanter Anliegen ohne Rückgriff auf Erklärungsgründe zu diskutieren, die ein Überschreiten des Seins-Denkens erfordern würden. Die wesentliche Motivation dafür, sich dieser Aufgabe anzunehmen, besteht in der Feststellung, dass ein solches Überschreiten zwangsläufig mit einer qualitativen Abwertung der Seins-Vorstellung verbunden zu sein scheint, wie sie exemplarisch in der Argumentation von Edith Stein verfolgt werden konnte. Dass sie sich dabei auf die Tradition theologisch-philosophischer Dispute seit der Spätantike beruft, mag den Eindruck der Aktualität ihrer Gedanken im ersten Moment leicht trüben. Das starke Aufgebot ihrer Bezugnahmen auf Konzepte von Thomas von Aquin oder Augustinus ist zum Teil gewiss ihrer intellektuellen Biographie geschuldet, spiegelt aber auch die ungebrochene Gültigkeit entsprechender Erörterungen. Wird jedoch an die außerordentliche Wertschätzung, die sie Martin Heideggers Denken in Sein und Zeit entgegenbrachte, und ihre profunde Kenntnis der Phänomenologie gedacht, erweisen sich ihre Äußerungen auch im aktuellen Kontext als aufschlussreich. Sie veranschaulichen in exemplarischer Weise, dass die Klassifizierung des Seins aufgrund seiner Endlich- und Wandelbarkeit letztlich erst dann zum Tragen kommt, wenn es unter vergleichendem Blickwinkel betrachtet wird. Weil ein ewiges Sein dem göttlichen Sein https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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entsprechend gedacht werden kann, muss endliches Sein «nichtig» erscheinen. Die Vorstellung der Mangelhaftigkeit stellt sich nicht aus sich heraus ein, sondern weil das Dasein, um das hier geht, an dem Bild vollständig entfalteten Seins gemessen wird. Für unsere Überlegungen stellt dieser Mechanismus der Entwertung zwar auf der einen Seite eine schwere Einschränkung dar, insofern ihr formal kaum Nennenswertes zu entgegnen ist. Auf der anderen Seite bedeutet sie aber auch eine Chance. Denn wird die komparative Bewertung ausgesetzt, öffnet sich der Blick auf eine Betrachtung des Seins um seiner selbst willen. In ihm sind alle Komponenten ausfindig zu machen, die wir zur Diskussion existentiell relevanter Fragen benötigen. Die wohl drängendste Frage ist die der Seins-Vergewisserung. Für Edith Stein bestehen keinerlei Schwierigkeiten, sie zu beantworten. Die Selbst-Mitteilung Gottes im Geschehen der Offenbarung garantiert Grund und Halt des Seins, die in dem Maße erkennbar werden, in dem sich in der Offenbarung die Wesentlichkeit Gottes ausdrückt. Von einem Moment des Erschließens zu sprechen, würde an dieser Stelle bereits zu weit führen, da damit vorausgesetzt würde, dass diese grundsätzlich dem menschlichen Verstehen zugänglich wäre. Was bedeutet nun der Begriff der Seins-Vergewisserung für uns? Zunächst bezeichnet er die Feststellung faktischer Gegebenheit, die sowohl das eigene Sein, als auch dasjenige des Anderen betrifft. Überflüssig dürfte mittlerweile der Hinweis sein, dass sich der Begriff des Anderen nicht nur auf den Menschen neben mir, sondern auf alles Seiende bezieht, in dessen Vielfalt ich mich vorfinde. Die Formulierung mag ein wenig umständlich klingen, ist jedoch mit Bedacht gewählt. Eingängiger wäre es vermutlich gewesen, vom Seiende zu sprechen, das mich umgibt. Doch wäre damit, wenn auch unbeabsichtigt, eine Sichtweise vertreten worden, in deren Mittelpunkt ich mich sehe, was zur Folge hätte, dass alles Andere in Bezug auf diesen ego-zentrischen Punkt der Seins-Verortung betrachtet würde. Eine solche Perspektive gilt es zu vermeiden. Die Frage nach der Seins-Vergewisserung gilt der Überlegung, wie wir uns das eigene Sein und dasjenige des Anderen vergegenwärtigen, um eine Aussage über es treffen zu können. Damit zeigt sich von Anfang an jene Fokussierung, die erforderlich ist, um im Rahmen existenzphilosophischer Betrachtungen reflektiert werden zu können. Vielleicht ist es sinnvoll, an dieser Stelle noch einmal einem naheliegenden Missverständnis vorzubeugen. Existenzphilosophie versteht sich nicht per se als Bestandteil praktischer Philosophie, wie nicht zuletzt an dem offensichtlichen Mangel entsprechender Theoreme zu erkennen ist. Sie dient in den Deutungen, die ihr von den hier zu Worte kommenden Autoren gegeben wird, vielmehr der Klärung der Bedingungen der Möglichkeit, Denken des Praktischen werden zu können. Damit operiert sie von einem theoretischen Ansatz aus, den sie jedoch vertritt, ohne sich zu dessen Begründung auf das Feld der Erkenntnis beschränken zu müssen. Die einleitenden Betrachtungen akzentuierten die besondere Bedeutung, die in dieser Hinsicht dem Gedanken der Erfahrung zukommt. Diese erschließt das Feld der Seins-Verhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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gewisserung in der Weise, nach existentiellem Verständnis unmittelbar Urteilsrelevant zu sein. Wenn es ein Urteil über das Sein zu formulieren gilt, das es in seiner Faktizität bestätigt und damit gegen die Möglichkeit des Nicht-Seins setzt, ist dieses ohne eine Erkenntnis-bildende Abstraktion von der Erfahrung möglich, wie sie Bestandteil traditioneller Erkenntnistheorie ist. Bereits diese knappen Bemerkungen werden ersichtlich werden lassen, wie schwierig es letzten Endes ist, Existenzphilosophie in der klassischen Funktions-Differenzierung von theoretischem und praktischem Denken zu verorten. Das spezielle Wertungsmuster der Erfahrung als Inhalt und nicht nur als Voraussetzung von Erkenntnis führt das existentielle Denken in jedem Moment über ein rein Theorie-bildendes Streben hinaus, da seine Aussagen im Faktischen gründen und eben diesem Faktischen gelten. Auch wenn diese Geltungsweise noch nicht als Indikator praktischen Denkens zu verstehen ist, weist der Erfahrungs-Begriff der Existenzphilosophie ihre Theoreme als Bewährungs-bedürftig im Konkreten aus. Denn ein Denken, das in so eindeutiger Weise aus der Erfahrung gewonnen wird, wird sich in Bezug zum Erfahrbaren zu bestätigen haben. Diese offensichtliche Nähe von Theorie-Bildung und Theorie-Bezug lässt eine klassische Abgrenzung zu explizit praktischem Denken nahezu überflüssig erscheinen. Es ist Denken in Relation, eine Charakterisierung, die es nicht dadurch einbüßt, dass es sich zur Artikulation seiner Inhalte der Methode der Abstraktion bedient. Möglicherweise mag eingewendet werden, dass es dadurch von Anfang an die Chance verspielt, es analytischem Denken an terminologischer und argumentativer Präzision gleichtun zu können. Allein schon die hier vorgenommenen Überlegungen zum Begriff der Existenz zeigen, dass er mitunter eher vorausgesetzt als in seinen Konsequenzen umfassend reflektiert worden ist. Dieser Eindruck legt aber auch das Potential weiterführender Erörterungen bloß, denen hier allenfalls ein erster Blick gewidmet werden konnte. Zu den Fragen, die der näheren Klärung bedürfen, zählt auch diejenige nach der Seins-Vergewisserung. Diese ist deshalb von herausragender Bedeutung, weil ihre Beantwortung Aufschluss über die Existenz-Orientierung gibt, die so häufig wie eine sich selbst ausrichtende Bewegung dargestellt wird, die bisweilen gerade nicht im Sein, sondern im Transzendenten oder Religiösen ihre KorrespondenzVorstellungen findet. Fallen diese beiden aus, entsteht die Notwendigkeit, Möglichkeiten des Seins-Bezugs zu erörtern. Warum sahen sich in der Vergangenheit nun immer wieder Denkerinnen und Denker dazu veranlasst, dem Begriff von Gewissheit, der aus der Seins-Begegnung gewonnen werden kann, zu misstrauen? Auch hinsichtlich dieser Problematik bietet die Schrift von Edith Stein eine wertvolle Inspiration. Sie deutet Sein als Sein in der Zeit, woraus dessen niemals zu erreichende vollständige Aktualisierung folgt, die daher allein im Gedanken an das göttliche Wesen angenommen werden kann. Nur aus ihm könnte ihrer Auffassung nach Seins-Gewissheit geschöpft werden, weil es der Prozessualität zeitlichen Werdens enthoben ist. Exakt diese kennzeichnet das Sein, um das es https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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hier geht, und zwar ausdrücklich als dessen positiv zu bewertende Qualität verstanden. Zwar verändert es sich ununterbrochen, doch gerade sein ständiges Werden-Können kann als Merkmal seiner Eignung gedeutet werden, Grund der Seins-Gewissheit zu sein. Dessen Maßstab liegt nicht in der Vorstellung eines unveränderlich konstanten Seins, wie es in der Tat nur unter Voraussetzung vollkommener Aktualisierung denkbar wäre, sondern in der Vorstellung steten Werdens im Sein. Denn ebenso schwer wie die Angst vor dem Nicht-Sein, auf die Edith Stein hinweist, kann die Angst vor der Erstarrung des Seins wiegen, das seine Eignung eingebüßt hat, sich in Relation immer wieder neu zu gründen. Vollständig aktualisiertes Sein wäre in dieser Sichtweise erstarrtes Sein, was letztlich nichts anderes heißt, als bindungsloses Sein zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sie auf das Geschehen der Offenbarung als SelbstMitteilung Gottes eingeht, da für sie eine Herausforderung gegeben ist, die im Denken des existentiellen Seins nicht besteht. Sie muss zeigen, wie Relationalität gedacht werden kann, wenn diese die Differenz zwischen endlichem und ewigem Sein überwinden soll. In der Auffassung existentiellen Seins, die hier vertreten wird, ist Relationalität in jedem Moment gewährleistet und mit ihr die Gewissheit, im Bezug zu Anderem sein zu können. Im Grunde ist es unverständlich, wie eine so offensichtliche Qualität häufig als Defizit gewertet werden konnte. Denn sie bietet letztlich all das, was unter Bezugnahme auf das Denken des Göttlichen mit einem deutlich höheren Argumentationsaufwand erwiesen werden sollte: die Begründung der Vorstellungen von Umfangenheit im positiven Sinne, von Geborgenheit und sogar Sinngebung im Dasein, wenn die Tatsache berücksichtigt wird, dass jedes für jedes Andere Grund seines So-Seins werden kann. Die Möglichkeit von Seins-Vergewisserung ist grundsätzlich in jedem Moment gegeben, ohne dass dafür auf den Gedanken einer externen Ursache zurückgegriffen werden müsste. Keine Akte des Transzendierens welthafter SeinsBezüge sind erforderlich, die womöglich dazu führen, sich des Seins der Ursache gewiss werden zu können, wohingegen das eigene Sein stets nur in Ableitung von ihr verstanden werden könnte. Und doch ist diese Möglichkeit nicht gänzlich voraussetzungslos zu denken. Denn offensichtlich genügt das unmittelbare Gewahren des Seins nicht, um uns das Gefühl des Vertrauens in diesen Grund unseres Daseins zu vermitteln. Unter psychologischem Gesichtspunkt ist es durchaus bemerkenswert, dass wir offenbar eher bereit sind, uns dem Glauben anzuvertrauen, als unserer leibhaften Erfahrung. Wir scheinen – wenn wir uns an die Ausführungen von Karl Jaspers erinnern – widerstandslos den Schritt in die Transzendenz zu gehen, der uns zunächst von unseren Bezügen zur Welt distanziert, um sie dann bereichert durch die Gewissheit des Anderen, das uns umfängt, wieder aufzunehmen. Ist es das Erbe jahrhundertelanger Einübung eines Gedankens minderen Seins, der uns am Offensichtlich zweifeln und eher dem Offenbarten unser Vertrauen schenken lässt? Sicherlich trug die Philosophie das Ihrige dazu bei, das wahre Sein nicht in den Welt-Bezügen zu finden, sondern in https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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einem Modus der Idealität, wodurch dessen Denkbarkeit jenseits aller Veränderungen im Konkreten sichergestellt wurde. Ist es in Anbetracht dieser Bürde unserer Tradition überhaupt möglich, vom wahren Sein zu sprechen, ohne es der Welthaftigkeit zu entziehen? Und warum sollte es erstrebenswert sein? Es geht um den Gedanken der Wertschätzung unserer Welt-Bezüge, die unter der begrifflichen Signatur des Seins gefasst werden können. Drei zentrale Termini der Philosophie liegen damit vor uns: Gewissheit, Werthaftigkeit und Wahrheit. Wenn es zutrifft, dass Sein ohne Rückgriff auf Transzendenz gedacht werden kann, dann müssten alle drei sich auf der Grundlage der Seins-Vergewisserung erklären lassen. An diesem Punkt angelangt bietet sich der erneute Blick auf das Motiv der Gleichförmigkeit des Seins an, das sein argumentatives Potential bereits an früherer Stelle erwiesen hat. Aus ihm ist auf die Gleichwertigkeit des Seienden zu schließen, das auch unter der Bezeichnung des Vorfindlichen geführt wurde, um dessen Homogenität stärker akzentuieren zu können. Mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit des Vorfindlichen hat es eine besondere Bewandtnis, denn ihr Testat ist nicht das Ergebnis eines Urteilsaktes, wie vielleicht zu vermuten wäre. Um diese Besonderheit würdigen zu können, ist nach den Bedingungen zu fragen, die gegeben sein müssen, damit überhaupt sinnvoll nach dem Wert von etwas zu fragen ist. Dabei wird nicht auf eine ökonomische, sondern philosophische Begründung angespielt, wie zu erwarten war. Zur besseren Unterscheidung bietet es sich an, statt vom Wert von Werthaftigkeit zu sprechen. Ihr Gedanke taucht dort im weiten Spektrum philosophischer Theoriebildung auf, wo von einem differenzierten Bestand von Vergleichbarem ausgegangen wird. Im ethischen Kontext wäre hier etwa der Bestand vergleichbarer Handlungsoptionen zu nennen, aus deren Gesamt einige als werthafter als andere ausgewiesen werden. Der Maßstab, der zur Bemessung dieser Beurteilung herangezogen werden kann, kann aus individuellen Interessen wie beispielsweise dem Streben nach Zufriedenheit oder aus gemeinschaftlichen Interessen wie dem Wunsch der Konfliktvermeidung abgeleitet werden. Im metaphysischen Kontext würde sich zum Beispiel die Frage nach der Wesenhaftigkeit stellen, wie sie diese Überlegungen eingeleitet hat. Zu ihrer Beantwortung wird ein Kriterium gesucht, das ein bestimmtes Wesen, in diesem Fall dasjenige des Menschen, von anderen unterscheidet, womit ihm eine höhere Wertigkeit attestiert werden kann. Wie verhält es nun aber im ontologischen Kontext, wenn dieser Begriff trotz grundsätzlicher Skepsis hier aufgenommen wird? In der Vorstellung gleichförmigen Seins kann grundsätzlich nicht von solchen differenzierenden Merkmalen ausgegangen werden, die eine unterschiedliche Beurteilung der Werthaftigkeit des Seienden veranlassen könnten. An die Stelle eines Urteils, das hierüber befinden würde, tritt im Denken homogenen Seins das Bild der Erfahrung des Vorfindlichen, in der prinzipiell nicht von qualitativen Unterscheidungen auszugehen ist. Hier kommt ein weiterer bereits thematisierter Gedanke zum Tragen. Affizierbarkeit lässt keine Unterschiede der Art zu, dass etwa verhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mutet werden könnte, ein bestimmtes Vorfindliches affiziere uns anders als ein anderes. Bei der Feststellung, dass wir grundsätzlich eher bereit seien, uns vom anderen Menschen als vom Tier affizieren zu lassen und am Ende gar am deutlichsten von einem Menschen der eigenen Kultur oder Nationalität, handelt es sich um erlernte Ansichten, die letztlich eher mit den Umständen unserer Sozialisation und intellektuellen Biographie als mit dem Bereich der Seins-Erfahrung zu tun haben. Mag diesem möglichen Einwand noch relativ problemlos zu begegnen sein, könnte sich ein Gedanke der einleitenden Überlegungen als schwerwiegenderes Problem erweisen. Im Zusammenhang mit dem Plädoyer für eine Modifizierung der Wesensbestimmung des Menschen hieß es, nicht dasjenige solle ihn kennzeichnen, das ihn von allem Anderen unterscheidet, sondern seine größtmögliche Berührungsfläche, die ihn mit allem Anderen verbindet. Dieser Aspekt könnte nun gegen die Annahme undifferenzierter Werthaftigkeit des Vorfindlichen ins Feld geführt werden. Denn so könnte behauptet werden, dass dem Menschen durchaus ein differenzierendes Merkmal zukomme, auf dessen Grundlage leicht eine besondere Werthaftigkeit seines Seins festgestellt werden könnte. Die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Affizierbarkeit kann hier geltend gemacht werden. In quantitativer Hinsicht mag dem Menschen eine Sonderstellung im Gesamt des Seienden zuerkannt werden, was jedoch keinerlei Aussagewert über die qualitative Beschaffenheit seiner Affizierbarkeit impliziert. Auch das Beharren auf der Vernunftbegabtheit des Menschen, die ihn in jedem Fall auszeichnen würde, könnte unter Hinweis darauf relativiert werden, dass Affizierungen in vielfältigster Form vorstellbar sind, unter denen diejenigen intellektueller Natur nicht anders zu bewerten seien als solche emotionaler oder taktiler Art. Dem Gedanken der Gleichförmigkeit des Vorfindlichen scheint zunächst kein unüberwindliches Hindernis im Wege zu stehen. Damit würde auch die Vorstellung von dessen Gleichwertigkeit denkbar, und zwar in der ganzen Besonderheit, die ihr in diesem Fall zukommt. Denn sie kann als Inhalt der Erfahrung und nicht als Ergebnis eines Urteilsaktes verstanden werden. Eine differenzierende Beurteilung, wie sie eben mit Blick auf eher herkömmliche Verfahren skizziert wurde, erweist sich nun als überflüssig, da keine Grundlage gegeben ist, die sie fordern würde. In einem Sein, dessen Vorstellung vom Bild der Gleichförmigkeit seines Vorfindlichen geprägt ist, findet sich letztlich kein Ansatzpunkt, um eine Theorie differenzierter Wertigkeit zu begründen. Dass diese Sichtweise einer Vielzahl tradierter Auffassungen widerspricht und deshalb im ersten Moment alles andere als eingängig zu sein scheint, ist wohl offensichtlich. Zumindest der Deutungsrahmen der Begriffe von Wesen- und Werthaftigkeit wird bis zum Äußersten ausgeschöpft, oder, wie vielleicht erwidert wird, über Gebühr beansprucht. Doch letztlich geht es bei diesen Erwägungen auch um die Abwägung der Vorzüge, die ein Gedanke bietet, sowie des Aufwandes, der zu dessen Formulierung erforderlich ist. Die Erläuterung der Vorzüge findet in diesem Augenblick statt. Der Arguhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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mentationsaufwand, der erforderlich ist, wird von der ersten Seite an erkennbar. Denn es bleibt nicht aus, dass einige Veränderungen, zumindest aber Erweiterungen im Verständnis des Themenbestandes der Philosophie vorzunehmen sind. Der Eingriff in die Vorstellung vom menschlichen Wesen wurde gerade noch einmal sichtbar. Hinsichtlich der Auffassung von Potentialität und Aktualität, die traditionellerweise in der Präferenz des Aktualisierungsgeschehens betrachtet wurde, wäre für eine Gleichgewichtung beider Entwicklungskomponenten zu plädieren. Besonders an den Ausführungen von Edith Stein wurde erkennbar, wozu eine Akzentuierung der Verwirklichung genutzt werden kann, da sie damit die notwendige Annahme des ewigen Seins rechtfertigt. In ihrem Gedanken des Göttlichen sind demnach keinerlei Potentialitäten anzunehmen. Werden diese hingegen ihren Aktualisierungen gleich gewichtet, wird das Bild gleichförmigen Seins denkbar, das zudem interne Zeitlichkeit als integralen Bestandteil aufweisen kann. Denn da alles Sein in Veränderung ist und diese ohne Abschluss und finale Vollendung aufzufassen ist, kann diese Bewegtheit als unendlich betrachtet werden. Für die Bestrebung, den Begriff der Werthaftigkeit aus der Verfassung des Seins zu begründen, bietet diese Sichtweise darüber hinaus einen nicht unbedeutenden Vorzug. Bei diesem Bemühen geht es auch darum, Angriffspunkte so weit wie möglich auszuschließen, die am Ende doch den Ruf nach einer externen Quelle laut werden lassen. Ein solcher Punkt könnte dort auftauchen, wo Vorfindliches als unfähig angesehen wird, endgültige Vollendung im Werden zu erreichen. Da die Vorstellung einer solchen Erfüllung aber immer noch begründet werden kann, solange Aktualisierung der Potentialität übergeordnet wird, bedeutet es einen wichtigen Schritt, diese Priorisierung aufzugeben. Denn dann muss kein Maßstab mehr an das Vorfindliche gelegt werden, den es niemals wird erfüllen können. Es befindet sich permanent in der Prozessualität des Performativen, worin, da die Bedeutung der Potentialität hervorgehoben wird, dessen Merkmal gesehen werden kann. Die Wertung des Vorfindlichen kann damit unter Ausschluss der komparativen Sichtweise gedacht werden, die es, wie Edith Steins Ausführungen zeigen, stets als defizitär ausweist. Das Werthafte, das aus der Verfassung des Seins abzuleiten ist, muss schließlich nicht auf das Sein projiziert werden, sondern ist unmittelbar aus ihm abzulesen. Die einzige Überlegung, die sich dem momentanen Abschluss dieses Gedankens noch in den Weg stellen kann, ist dann die, ob es in Anbetracht dieser Ausgangslage überhaupt noch Sinn macht, von Werthaftigkeit und Gleichwertigkeit zu sprechen. Denn, um es noch einmal zu wiederholen, Bedeutung kann der Proklamation von beidem letztlich nur dort zukommen, wo zumindest theoretisch die gegenteilige Annahme möglich wäre. Wird Sein konsequent als homogen gedacht, scheint eine solche Annahme nicht möglich zu sein. Um die Feststellung des homogenen Seins als Sein gleicher Werthaftigkeit dennoch aufrecht erhalten zu können, könnte höchstens auf die Möglichkeit des Nicht-Seins als gegenteilige Annahme hingewiesen werhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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den. In Abgrenzung zu diesem kann das Sein in seiner hypothetischen Gesamtheit als werthaft betrachtet werden. Hier von hypothetischer Gesamtheit zu sprechen ist deshalb erforderlich, weil aufgrund der Performativität des Seins eine Vollständigkeit möglicher Entwurfsprozesse zu keinem Zeitpunkt anzunehmen ist. Der Gedanke der undifferenzierten Werthaftigkeit des Seins scheint damit seine erste Feuerprobe ohne größere Blessuren überstanden zu haben. Und wie sieht es mit dem Begriff der Gewissheit aus? Da sich mittlerweile als immer wiederkehrendes Muster im Gedankengang dieser Seiten die Akzentuierung der Erfahrung im Gegensatz zur Urteilsbildung herausgestellt hat, ist zu vermuten, dass sie auch bei seiner Reflexion zur Anwendung kommt. Gewissheit kann nicht mehr ausschließlich als mentales Vergegenwärtigungsmoment aufgefasst werden, dessen Bildung einer vorgängigen Erkenntnis bedarf, die dann zur Grundlage konsensfähiger Beurteilung werden könnte. Stattdessen handelt es sich in der Weise, die hier zugrunde gelegt wird, um ein Testat, das der SeinsErfahrung ausgesprochen wird. Der besondere Vorteil, der dieser zugesprochen werden kann, zeigt sich vor allem in seinem Element der Unmittelbarkeit. Diese ist in der Entwicklung der Philosophie keineswegs unumstritten gewesen. Immer wieder wurden Warnungen vor der Täuschungsanfälligkeit der Sinne laut, die grundsätzlichen Zweifel an der Gültigkeit Erfahrungs-basierter Welt-Erschließung nach sich zogen. Wird dieser Zweifel hingegen nicht für berechtigt angesehen, ist keine Quelle der Seins-Relation vorstellbar, die größere selbst-erklärende Sicherheit vermitteln kann, als die Erfahrung. Dafür, sie als Grund des Gedankens der Gewissheit zu nutzen, scheint damit einiges zu sprechen. Der wichtigste Gewinn besteht darin, Welt-Erschließung und Selbst-Erfahrung in derselben Weise erklären zu können. Dass diese Möglichkeit alles andere als selbstverständlich ist, bestätigt das Erfordernis, das hier zur Erweiterung existenzphilosophischen Denkens vorgeschlagen wird. Denn die Sichtung der ausgewählten Texte ergab, dass von einer Entsprechung beider Akte nicht die Rede sein konnte, obwohl die Voraussetzungen für deren Denkbarkeit bereits geschaffen waren. Immer wieder rückte der Aspekt in den Vordergrund, dass Autoren wie Karl Jaspers oder Heinrich Barth zur Initialisierung der existentiellen Bewegung, die zur Selbst-Einsicht des Menschen führen sollte, eine vorübergehende Distanzierung aus den Welt-Bezügen für unverzichtbar halten. Vertrauen in die Bildungs-Relevanz der Erfahrung besteht dort nicht uneingeschränkt. Zugleich sei auch noch einmal darauf hingewiesen, dass zumindest bei Jaspers der Welt-Erfahrung im Zuge der Begegnung in Transzendenz partiell erschließende Funktion zukommt, die jedoch erst in dieser Deutung der Verwiesenheit auf ein Anderes zum Tragen kommt. Unzweifelhaft besteht hingegen für alle vorgestellten Denker das Eigentliche der Existenz im Selbst-Werden-Können. Es zeigte sich, dass sie für dessen Initialisierung emotionale Erschütterung für unverzichtbar halten, die das Gewebe selbstverständlicher Ansichten und Annahmen auflöst und Raum für die Erfahrung des Eigenen im Erleben eigenen Empfindens https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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schafft. Damit liegt eine wichtige Voraussetzung dafür vor, den Wert der Unmittelbarkeit von Erfahrung akzentuieren zu können, auch wenn dieses Potential nicht von allen Denkern in Anspruch genommen wird. Im Grunde ist es Martin Heidegger, der hier am unbefangensten vorgeht und der Welt-Erfahrung von Anfang an konstitutive Bedeutung für den Prozess des Selbst-Werdens einräumt. In seiner Konzeption des Selbst-Werdens, das er als Möglichkeit versteht, eigentliches Selbst-Sein ergreifen zu können, liegt tatsächlich dessen Entsprechung zum Gedanken der Welt-Erschließung vor, womit er im Kreis der zu Worte kommenden Autoren eine Sonderstellung einnimmt. Wird gefragt, in welcher Weise er Welt-Bezug versteht, ergeben sich nicht unerheblich voneinander abweichende Auskünfte in den unterschiedlichen Phasen seines Wirkens. In Sein und Zeit erfolgt dieser Bezug vor allem über eine Nutzen-Einschätzung, die das Vorhandene auf seine Eignung als Zuhandenes prüft. Da diese Sichtweise jedoch dem von ihm verworfenen Bild vorstellenden Denkens zu sehr ähnelt, auch wenn eine solche Ähnlichkeit kaum beabsichtigt gewesen sein dürfte, verschiebt sich die Perspektive in späteren Texten. Vor allem in seinen Denktagebüchern finden sich Belege für das Bestreben, Welt-Bezug zweckfrei zu denken. Anderes erscheint in seiner Eigenheit, die vom Betrachter um ihrer selbst willen aufgenommen wird. Die Frage, wie diese Aufnahme erfolgt, thematisiert Heidegger nicht. Sie wurde im vorliegenden Kontext unter Zuhilfenahme des Motivs der Affizierung stark hervorgehoben, was als Referenz an den Gedanken der Gleichförmigkeit des Seins verstanden wird. Um eine Affizierung psychischer Natur handelt es sich auch bei den Momenten der Erschütterung, wie die Thematisierungen von Angst und Verzweiflung eindringlich veranschaulichten. Hier ist es dieselbe Weise, in der das Andere und das Eigene erfahren wird. Denn in letzterem Fall kann von einer Selbst-Affizierung gesprochen werden. Das affizierende Element, das als Angst oder Verzweiflung erlebt wird, entstammt dort keiner externen Ursache, sondern der Konfrontation der Selbst-Reflexion mit der bis dahin unreflektierten Möglichkeit des Sein-Könnens. Dass diese im Augenblick der Erschütterung noch nicht als Möglichkeit erkannt wird, sondern als Faktor höchster existentieller Verunsicherung im Dasein, ist sichtbar geworden. Für unsere Thematik ist die Feststellung hilfreich, dass es sich jedoch in beiden Fällen, der Welt-Erschließung und der Selbst-Erfahrung, um ein und denselben Weg der Aktualisierung handelt: Erfahrung aus Affizierung. Nun könnte eingewendet werden, dass damit der Wert des Anderen, das erfahren wird, doch bei näherer Betrachtung erschreckend gering ist, da es am Ende nur auf die Weise der Affizierung ankomme, an deren Reflexion Selbst-Erfahrung möglich wird. Die Erwiderung wirkt fast wie eine blasse Replik auf Immanuel Kants Aussagen zur Begründungs-Relation von Erfahrung und Erkenntnis. Letztere sei ohne Erstere in möglich, so ist seiner Argumentation zu entnehmen. Es handelt sich nicht um eine gezielte Anknüpfung an diesen Bestandteil seiner Theorie, sondern eher um funktionale Ähnlichkeit eines Gedanhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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kens, wenn hier bemerkt werden kann, dass Erfahrung ohne Affizierung nicht vorstellbar ist. Der Unterschied zu Kants Deutung des Prozesses der Erkenntnisgewinnung zeigt sich in dem Moment, in dem die Natur von Affizierung und Erfahrung betrachtet wird. Anders als im Falle der Erkenntnis entsteht hier kein gänzlich Neues, das sich formal eindeutig vom Vorausgehenden, der Erfahrung, abhebt. Stattdessen vergegenwärtigt sich in der Erfahrung die Relation von Affiziertem und Affizierendem, und zwar in ein und demselben Medium der Vergegenwärtigung, von dem es nicht, wie im Falle der Erkenntnisgewinnung, zu abstrahieren gilt. Dieses Medium kann, auch wenn der Gedanke zunächst verwundern mag, als Gewissheit im existentiellen Sinne verstanden werden. Dass bestimmten Begriffen eine spezielle Bedeutung zugewiesen wird, sobald sie im Kontext existentiellen Denkens verwendet werden, ist kein neuer Gedanke. Heinrich Barth führt ihn anlässlich seiner Ausführungen zur Erkenntnis vor, deren traditioneller Auffassung er eine Form kontrastiert, die er als existentielle Erkenntnis bezeichnet. Was beide unterscheidet ist die Qualität Letzterer, spontan gewonnene Einsicht in die Beschaffenheit des Seins zu sein. Tatsächlich wirkt die Grenzziehung zur gewöhnlichen Erkenntnis im ersten Moment recht vage, da mit einiger Berechtigung darauf bestanden werden könnte, dass es um nichts anderes auch in dieser gehe. Die Hinzunahme eines weiteren Begriffes verändert diesen Eindruck jedoch schlagartig, denn im Verlauf seiner Darstellung kommt Barth auf die Denkbarkeit von Sinn zu sprechen. Seine Formulierung geht mit existentieller Erkenntnis einher, das heißt sie ist nicht deren Ergebnis, sondern bereits Konstituens ihres Vollzugs. In Anlehnung an diese Akzentuierung einer weiteren Bestimmung im Bedeutungsrahmen von Erkenntnis kann hier von einer Form existentieller Gewissheit gesprochen werden. Damit weitet sich der Gebrauch ihres Begriffes von der Anzeige formaler Bestimmungsmodalität des Denkens zur Bezeichnung erfolgter Seins-Versicherung. Für sie trifft zu, was Heinrich Barth für Erkenntnis ausführte. Danach ist die Aussage von Gewissheit nicht Folge eines Prozesses der normierenden Übereinkunft, die angesichts einer Möglichkeit ihres Gegenteils getroffen werden kann, sondern ihr Ausdruck ist Indikator aktueller Seins-Vergewisserung. In dem Augenblick, in dem sie sich vollzieht, kann das Vertrauen in dieses Geschehen als Gewissheit betrachtet werden. Eventuelle Kriterien, die zur Eruierung ihres logisch-formalen Status’ zu bedenken wären, treten dabei in den Hintergrund und geben den Blick auf ein Element geschehnishafter Seins-Sicherheit frei. Denn um die existentielle Form von Gewissheit zu artikulieren, bedarf es eines ständig neu zu gründenden Seins-Vollzugs, der nicht per se in jedem Moment schon besteht, sondern je individuell zu verwirklichen ist. Diese Verwirklichung ist nichts anderes als die existentielle Bewegung. Deren Abhebung von den vorgefundenen Darstellungen wird in diesem Augenblick wohl am deutlichsten, denn nun wird erkennbar, dass existentielle Bewegung Bewegung im Sein ist. Dass dessen Reflexion nicht als Quelle der Unsicherheit und Bedrängnis gewertet wird, in die ein Mensch gerät, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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der sich über die homogene Fülle des Seins bewusst wird, wird im Laufe der Betrachtung ersichtlich geworden sein. Vielmehr wird Sein als Grund jener Empfindung denkbar, die als Gewissheit bezeichnet werden kann. Damit scheint der Bedeutungsumfang dieses Begriffes endgültig seinen bisherigen Rahmen zu sprengen, so könnte eingewendet werden. Die vermeintliche Sorglosigkeit, mit der Gewissheit als Empfindung bezeichnet wird, könnte zur Weigerung führen, sich auf die Frage ihrer Denkbarkeit einzulassen. Doch von Sorglosigkeit kann hier ganz gewiss nicht ausgegangen werden. Bei jedem Ansatz, das Bedeutungsfeld eines Begriffes zu erweitern oder neu zu justieren, herrscht die Frage vor, ob er diese Ausweitung tatsächlich zulässt, ohne seine eigentümliche Bedeutung zu verlieren. Welche Funktion kam dem Begriff der Gewissheit bisher zu? Er tritt im Diskurs an die Stelle eines als notwendig aufgefassten Bedürfnisses, sich von der Gültigkeit einer Erkenntnis immer wieder von Neuem versichern zu müssen. Damit eignet ihm jenes formal und inhaltlich gegründete Ein-für-Allemal, das als seine besondere Charakteristik angesehen werden kann. Würde exakt dieses Muster auf das Verständnis existentieller Gewissheit übertragen, würde ihr Begriff als ungeeignet auszumustern sein. Denn gerade ein Ein-für-Allemal gibt es im existentiellen Denken nicht. In diesem Kontext überhaupt von Gewissheit zu sprechen, wurde dort relevant, wo es nach der Möglichkeit der Seins-Versicherung zu fragen galt. Was gibt uns das sichere Empfinden, im Sein geborgen, geschützt und gerechtfertigt zu sein? Keine theoretische Bekräftigung kommt hierfür in Betracht, sondern einzig die Erfahrung, die je und je von Neuem bestätigt, was nicht anders hätte sein können. Hierbei handelt es sich nicht um eine unnötige Wortspielerei, sondern um den Ausdruck jener paradoxen Situation, in der wir uns heute befinden, wenn wir vom Sein zu sprechen beginnen. Wir haben offenbar verlernt, in ihm den Grund unseres Existierens zu sehen. Damit geht nicht nur ein Erkenntnisdefizit einher, sondern die Preisgabe der Möglichkeit, uns im Kreis des Anderen zu reflektieren. In einer stark vereinfachenden Formulierung könnte es so ausgedrückt werden, dass sich der Mensch, der früher nach Grund und Sinn seines Daseins fragte, dem absolut Anderen in Gott gegenübergestellt sah. Im existentiellen Verständnis finden wir uns im Kreis des Anderen vor, das das relativ Andere eines jeden Erfahrungs-Momentes ist. Hierfür bedarf es keiner Einübung und keines Entschlusses, Transzendenz zu denken, sondern der Bereitschaft, Affizierungen als das zu empfinden, was sie sind: Vergewisserungssignaturen des Vorfindlichen. Im Gegensatz zu einem ein-für-allemal geltenden Urteil, das als Ausdruck von Gewissheit ausgewiesen wird, vollziehen sich die Versicherungs-Momente existentieller Gewissheit immer wieder von Neuem, so, als würden sie sich zum ersten Mal ereignen. Unmittelbarkeit und überraschende Lebendigkeit zeichnen Seins-Erfahrung aus, die nicht als ein Schon-immer-Wissen aufgefasst wird, wie es sich so leicht durch eine ontologische Auffassung vom Sein darstellen ließe. Die an früherer Stelle artikulierte Skepsis einem https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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solchen Seins-Verständnis gegenüber wird aus dieser Perspektive noch einmal sichtbar und vermutlich verständlicher, als sie es bisher gewesen ist. Es kann allzu schnell zu der Meinung führen, zu wissen, was Sein sei, und sei es auch nur in Form der Abstraktion. Im Gegensatz zu dieser Form von Seins-Sicherheit setzt das existentielle Verständnis auf Seins-Gewissheit, die sich niemals zu einer allgemeingültigen Aussage formalisieren lässt. Denn sie bestätigt sich in jedem Augenblick neu, ohne dass das so Erfahrene zu einer bloßen Addition von Erfahrungen wird. Dieser Gefahr, wenn sie denn als eine solche empfunden würde, wird dadurch begegnet, dass sich der Seins-Erfahrende immer schon in Bezogenheit zu erfahrenem Sein befindet, die punktuell in konkrete Bezüge umgesetzt werden kann. Existentielle Gewissheit drückt die Sicherheit dieser Bezogenheit und die Möglichkeit ihrer Bezüge aus.
Vom Gelingen Wiederholt war inzwischen von gelingender Existenz die Rede, ohne dass dieser Ausdruck einer Prüfung unterzogen worden wäre. Beim ersten Lesen mag er für Verwunderung sorgen, da er einen bisher im Denken der Existenz nicht akzentuierten Aspekt hervorhebt – das Gelingen. Die Sichtung des Materials, das uns Aufschluss über die Struktur bisheriger Konzeptionen gab, zeigte keine Ansätze, auf die hier Bezug genommen werden könnte. Es stellte sich sogar ein Eindruck ein, der es unnötig erscheinen ließ, den Begriff der existentiellen Bewegung mit einer präzisierenden Umschreibung zu versehen. Was hat es also mit dieser Hinzufügung auf sich, die so viel mehr als eine bloß beliebige Ergänzung ist? Ein Blick zurück bestätigt noch einmal, dass es bislang tatsächlich kaum erforderlich gewesen wäre, von gelingender Existenz zu sprechen. Denn in ihr wurde in engem Anschluss an die traditionelle Auffassung vom Wesen das dem Menschen Eigentümliche gesehen, dessen Verwirklichung daher per se als richtig betrachtet werden konnte. Der Ausdruck des Guten wurde in den Überlegungen vermieden, weil es für seine Erläuterung noch keine sicheren Anhaltspunkte gab. Von Richtigkeit der Existenz konnte dessen ungeachtet gesprochen werden, da deren Verwirklichung als solche kein Fehlgehen menschlichen Seins bedeuten könnte. Sie realisiert das eigenste Sein-Können, das von den zitierten Autoren in Übereinstimmung als Selbst-Sein gedeutet wurde. Der Zweifel, ob es im Vollzug dieser Bewegung, deren Bedeutung an sich außer Frage steht, zu Irritationen oder Verirrungen kommen könne, streifte allenfalls Karl Jaspers, wenn er davon sprach, dass das Selbst sich verfehlen könne. Damit scheint es zumindest aus seiner Warte ein Bild der Einfindung im Selbst-Sein zu geben, das uns als Folie zur Beurteilung des Sich-Verfehlens dienen kann. Für die existentielle Deutung des SelbstSeins ergab sich eine Schwierigkeit, die bereits beleuchtet wurde. Dabei ging es um die mögliche Normativität des Existenz-Vollzugs, die über dessen finale Aushttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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richtung hinaus im konkreten Realisierungs-Geschehen wirksam werden könnte. Mit scheinbar unbezweifelbarer Sicherheit steht für uns traditionellerweise fest, Existenz als unsere spezifische Seins-Form zu betrachten. Eine Begründung oder gar Rechtfertigung dieses Gedankens hielt offenbar keiner der zu Worte kommenden Denker für erforderlich. Denn sie hätten sich, wenn es denn zur Notwendigkeit einer Erläuterung gekommen wäre, auf das schlichte Faktum berufen können, dass wir der Existenz fähig seien, deren Verwirklichung demnach unserer Natur entspricht. Würde in diesem Moment bereits von gelingender Existenz gesprochen, würde sich der Blick auf das Erreichen reflektierten Selbst-Seins richten. Denn würde gefragt, worin unser eigenstes Sein-Können tatsächlich besteht, wäre dieses die Antwort. Dieser vielleicht enttäuschende Befund ergab sich aus der Lektüre der ausgewählten Schriften, enttäuschend deshalb, weil sich die Vorstellung vom Selbst-Sein letztlich als Vorstellung der Erfüllung jenseits individueller Kennzeichnungen herausstellte. Von dem hohen und so bedenkenswerten Anspruch, Denken des Einzelnen sein zu wollen, schien in dem Augenblick nicht allzu viel übrig zu bleiben, da die Berücksichtigung individuierender Faktoren, die uns voneinander unterscheiden, weitgehend ausblieb. Heinrich Barth versuchte, sie unter dem Aspekt der individuellen Geschichte des Einzelnen in seine Konzeption zu integrieren, da es für ihn offensichtlich gewesen sein muss, dass die Frage nach dem Einzelnen selbst dann zu stellen sei, wenn dem Nachweis der transzendentalen Begründung unserer Erkenntnis die Aufmerksamkeit gilt. Gerade sein Bemühen, damit auf ein vermeintlich typisches Element existentiellen Denkens einzugehen, veranschaulicht aber das Dilemma, in dem sich dieses befindet. Es will Philosophie für den Einzelnen sein, kann jedoch als Theorie-bildendes Denken nur Aussagen allgemeiner Gültigkeit formulieren, die dem Begriff des Einzelnen, doch nicht dessen individueller Kontur gewidmet ist. Die Lösung, die Heinrich Barth findet, ist möglicherweise die einzige, die vorstellbar ist. Jeder Einzelne ringt um die Verwirklichung seines Selbst-Seins, doch jeder Einzelne vollzieht dieses Ringen in seiner eigenen Weise. Inhaltlich mag diese Feststellung überzeugen, doch offenbart sie eine formale Problematik, in deren Diskussion sich Existenzphilosophie im Grunde sehr viel entschiedener hätte engagieren können: Reflexionen der Weise, in der der Einzelne sein Selbst-Sein ergreift, fallen aus dem Kompetenzrahmen philosophischer Argumentationen. Denn dabei handelt es sich in der Tat um höchst individuelle Prozesse, deren unendliche Vielfalt keine Theorie unter der Voraussetzung abbilden kann, Aussage über einzelne Vorgänge sein zu wollen. Die große Schwierigkeit, wie angesichts einer solchen Sachlage eine Konzeption von Ethik zu entwerfen sei, kennzeichnet Existenzphilosophie seit jeher dann, wenn sie auf Rückhalt im Denken des Religiösen verzichtet. Die argumentative Notlage, in die Philosophie gerät, die sich erstmals in expliziter Weise des Gedankens vom Einzelnen annehmen will, hat etwas Tragisches. Entgegen ihrer ursprünglichen Intention muss sie sich https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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eingestehen, ihren wichtigsten Begriff nur in herkömmlicher Weise reflektieren zu können. Wirkt angesichts dieser Situation die Entscheidung Jean-Paul Sartres umso konsequenter, Teile seiner Theorie im Medium der literarischen oder theatralischen Darstellung zu präsentieren? Albert Camus geht in seinen Texten, die für gewöhnlich unter der Konvoluts-Bezeichnung Kleine Prosa geführt werden, sogar noch einen Schritt weiter und reduziert das Dargestellte auf Beschreibungen subjektiven Erlebens. Seine Bereitschaft, das eigene Empfinden zum Gegenstand seiner Erzählungen «am Rande der Wüste» zu machen, berührt deshalb so tief, weil sich dort etwas ereignet, das die Bezeichnung des existentiellen Denkens mit derselben Berechtigung verdient, wie etwa die systematische Ausführung in Das Sein und das Nichts. Doch würde eine solche Verlagerung der Möglichkeit, vom Einzelnen zu sprechen, in die Literatur letztlich bedeuten, dass sich Existenzphilosophie in diesem grundlegenden Aspekt an ihr eigenes Scheitern geführt hat. Um dieses noch einmal in aller Kürze zu benennen: Sie wollte den Einzelnen zu ihrem Gegenstand machen und musste einsehen, dass sie nur über dessen Begriff Aussagen zu treffen vermag. Was bedeutet diese Feststellung nun für die Frage nach gelingender Existenz? Steht deren Denkbarkeit unter denselben ungünstigen Bedingungen? Bei der Beantwortung dieser Frage haben wir es mit der erweiterten Konzeption von Existenz zu tun, für die diese Seiten werben. Danach erfüllt sich die existentielle Bewegung nicht in der Reflexion des Selbst-Sein-Könnens, sondern weitet sie auf das Feld des Vorfindlichen aus. Die Arbeit des Reflektierens ist ein und dieselbe, doch ihr Gegenstand differiert, denn er besteht nicht mehr im isolierten Selbst, sondern im integrativen Sein. Dieses ist durch die beiden Merkmale der Gleichförmigkeit und Gleichwertigkeit gekennzeichnet, was deshalb bemerkenswert ist, da Erstere exakt jene Ansicht des Seins repräsentiert, die JeanPaul Sartre und Emmanuel Lévinas als erdrückend darstellten. Ein und dasselbe Bild des Seins kann aus zwei entgegengesetzten Perspektiven betrachtet zu diametral verlaufenden Einschätzungen führen. Was aus der einen Perspektive als Überfülle erscheint, die dem Menschen keinen Raum dafür lässt, sich als eigenständig zu betrachten, zeigt sich aus der anderen Perspektive als Raum der Eigenständigkeit schlechthin. Denn es gilt nicht, das Eigene gegen das Andere, dessen bloße Fülle als Gefahr empfunden wird, zu setzen, sondern das Eigene und das Andere in ein und demselben Sein zu denken. Dieses ist die Quelle unserer Erfahrung des Anderen wie auch unserer Selbst. Insofern bewegt sich die Überlegung durchaus im Rahmen existentiellen Denkens, schöpft dessen Abmessungen aber anders aus. Über die Selbst-Reflexion gilt es, hinaus zu denken. Doch führt dieses Über hinaus nicht zum Begriff von Transzendenz, sondern zur Gewissheit unmittelbarer Seins-Erfahrung im Welt-Bezug. Die Vielfalt dieser Bezüge ist ebenso unbegrenzt, wie die Möglichkeit, sie als Reichtum zu verstehen. Hier klafft noch immer eine der offenen Stellen unserer Philosophie in Form jener wenig bedachten Themen, deren Fokussierung das aktuelle Denken in besondehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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rer Weise befruchten kann. In diesem Fall handelt es sich nicht nur um ein bislang vernachlässigtes Motiv, das aus theoretischem Interesse aufgegriffen wird, sondern um eine Denk-Möglichkeit hoher Relevanz, ja mehr noch: um eine Notwendigkeit. Für existenzphilosophische Konzeptionen bedeutet es, jenen Schritt zu vollziehen, der hier skizziert wird. Denn eine Theorie, die darin gipfelt, den Menschen zum Selbst-Sein zu ermutigen, hat unbestritten ihre Bedeutung gehabt, entspricht jedoch nicht mehr vollständig der Bedürfnislage unserer Zeit. Der Blick in die Medien scheint dieser Feststellung entschieden zu widersprechen. Denn danach könnte man meinen, jede Rechtfertigung, die den Wert des Eigenen in Abgrenzung vom Anderen erweist, das vorzugsweise als das Fremde ausgewiesen wird, käme gelegen. Das Recht, eigene Interessen zu vertreten, scheint sich auf den unterschiedlichsten Ebenen zu behaupten. Doch wird ihm aus einer Kraft der Menschlichkeit, deren Wurzeln tiefer als alle gegenteiligen Absichten gründen, noch immer das Beispiel der Achtung des Anderen entgegengehalten. Es wäre vermessen zu glauben, philosophische Theorien könnten dazu beitragen, diese Kraft zu stützen. Doch sie kann und sollte mit ihren Mitteln dafür Sorge tragen, dass das Denken reflektiert, was möglich ist, selbst wenn das bedeutet, mitunter den Pfad der Tradition um wenige Schritte erweitern zu müssen. Die Momente, in denen ein Abweichen von ihm unumgänglich war, sind sichtbar geworden. Für die Konzeption von Existenzphilosophie ist der Aufwand des Denkens, das über bestehende Modelle hinausgeht, nicht unerheblich, verletzt aber zu keinem Zeitpunkt deren genuine Natur. Denn sie ist noch immer Denken in Anwendung, auch wenn sie aufgrund der ihr eigenen Problematik nicht selbstverständlich angewandtes Denken sein kann. Denken in Anwendung bedeutet, die theoretischen Grundlagen dafür zu formulieren, den Relationsstatus des Vorfindlichen reflektieren zu können. Dass es sich hierbei um eine vorbereitende Arbeit handelt, die nicht zur Artikulation von Handlungsempfehlungen führt, wurde bereits betont. An dieser Stelle ist noch einmal auf diese Tatsache hinzuweisen, da es nun um die Frage nach gelingender Existenz geht. Was läge letztlich näher, als darin eine der Kernfragen ethischer Theoriebildung zu sehen? Das Problem der Existenzphilosophie bestand bisher in der Fixierung des Begriffes vom Selbst. Dessen Verwirklichung wurde in nahezu ungebrochener Einhelligkeit als Ziel der existentiellen Bewegung betrachtet, wobei dessen Deklaration deutlicher zum Ausdruck kam als eine Beschreibung seiner Erreichbarkeit. Mit intuitiver Sicherheit erkennt der Mensch, worin sein eigentliches Sein-Können besteht, doch fanden sich in den ausgewählten Texten erstaunlich wenige Auskünfte darüber, wie es zu erreichen sei. Die einzige verbindliche Angabe bestand in der Feststellung, dass eine Distanzierung aus den Daseins-Bezügen zumindest vorübergehend erforderlich sei. Dass Martin Heideggers Theorie in diesem Punkt einen anderen Akzent setzt, wurde sichtbar. Die existentielle Bewegung erwies sich als gerechtfertigt durch ihre Deutung als Wesens-bestimmend, was offenhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sichtlich weitere Erklärungen überflüssig erscheinen ließ. Diese Bewegung zu vollziehen konnte als das dem Menschen Eigentümliche angesehen werden. Soll sie jedoch über das Erreichen der Selbst-Reflexion hinaus gedacht werden, kann sich die Argumentation nicht auf diese selbsterklärende Feststellung berufen, die auf der Vorstellung des Eigentümlichen des Menschen basiert. Ein Großteil der hier formulierten Gedanken galt dem Versuch, das Bild seiner Sonderstellung so weit wie möglich aufzugeben, wohl wissend, dass ein gänzlicher Verzicht nicht realistisch sein wird. Denn immer kann, wie auch an den entsprechenden Stellen vermerkt, auf Eigenschaften hingewiesen werden, die den Menschen von allem Anderen unterscheiden. Dieser Einwand wird sich nicht entkräften lassen. Doch ändert das nichts an der Notwendigkeit, nach den Konsequenzen zu fragen, die sich aus der Annahme einer solchen eigenschaftlichen Differenz ergeben. Dient sie dazu, den Gedanken einer exklusiven Position des Menschen im Sein zu begründen, oder folgt aus ihr nicht vielmehr die Vorstellung einer besonderen Verantwortung im Sein? Diese aus dem bestehenden Repertoire existenzphilosophischer Ansichten zu erklären, erweist sich als äußerst schwierig. Denn wem gegenüber sollte sich das eigenste Selbst verantwortlich fühlen, als sich selbst? Es erlebt sich als dazu befähigt, die Beschaffenheit des Daseins zu reflektieren, als dessen Bestandteil es sich zwar begreift, zugleich aber auch erkennt, dass es sich aus dessen Bindungen zu befreien vermag. Es ist immer wieder sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass in der Darstellung dieser Möglichkeit der faszinierende Ansatz der Existenzphilosophie bestand. Ihr ging es nicht mehr nur darum, Freiheit innerhalb der Grenzen des Seins zu erläutern, sondern die Überwindung dieser Grenzen für möglich zu erklären. Genau das geschieht im Vollzug der Existenz. Die bis heute bewegende Brillanz dieses Gedankens liegt in der Vorstellung, dass der Mensch Grund seines Selbst-Seins zu sein vermag, womit er sich aus dem Geltungsrahmen der Daseins-Bestimmungen zu emanzipieren scheint. Danach wäre er als der ins Sein Geworfene anzusehen, der dem Ende seines Daseins entgegen lebt. Im Geschehen der Existenz entwirft er sich als denjenigen, der diese Bedingtheit zwar nicht aufheben, doch zur Bedingung seines Selbst-setzenden Wirkens erklären kann. Wirkt es angesichts dieser Leistung des Denkens nicht nachvollziehbar, dass es nicht auch noch die Frage der Verantwortung thematisieren konnte? Nachvollziehbar gewiss, doch nicht auf Dauer verbindlich, so könnte geantwortet werden. Eine der Etappen des bis hierher zurückgelegten Weges bestand darin, die Eigenständigkeit des Seins-Denkens im Vergleich zu religiösen Vorstellungen zu diskutieren. Dabei ergab sich eine entscheidende Folgerung aus der zuvor vorgenommen Kennzeichnung der Seins-Struktur als gleichförmig und gleichwertig hinsichtlich seiner Verwirklichungsmomente. Diese werden uns als Vorfindliches erfahrbar, das Miteinander in der Wechselbeziehung gegenseitiger Affizierbarkeit steht. In den Augenblicken konkreter Affizierung erlebt der Mensch nicht nur das Andere im Sein, sondern auch sich selbst als den Anderen im Sein. Diese an https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sich banale, doch im vorliegenden Kontext bezeichnende Möglichkeit, Reziprozität zu denken, ist deshalb wichtig, weil über ihren Gedanken das Bild menschlicher Sonderstellung im Sein weitgehend aufgelöst werden kann. In seiner Eigenschaft der Affizierbarkeit unterscheidet er sich nicht vom Anderen. Dass er anders als Tier und Pflanze dazu in der Lage ist, dieses Faktum zu reflektieren, wird ihn wohl immer von diesen abgrenzen. Doch im ersten Augenblick, wenn es danach zu fragen gilt, wie der Mensch das Andere des Seins erfährt, ist er diesem funktional gleich. Entscheidend ist dabei, dass in dieser Weise auch die Momente bestimmt sind, in denen wir uns selbst unseres Eigen-Seins bewusst werden: nicht als diejenigen, die sich von allem übrigen unterscheiden, sondern als diejenigen, die mit dem Anderen verbunden sind. Denn wir erleben uns nicht als ein anonymes Zentrum des Denkens, das nach traditioneller Auffassung dann am besten funktioniert, wenn es ohne äußere Einwirkungen operiert, sondern als diejenigen, die Schmerz empfinden, den jemand oder etwas verursachte. Wir erleben uns als diejenigen, die Freude empfinden, die wir nicht selbst zu verursachen vermögen. Entgegen langer favorisierter Auffassung wird hierin keine Minderung menschlicher Vorzüglichkeit gesehen, sondern jenes Faktum, das es uns erlaubt, von Seins-Gewissheit zu sprechen. Diese ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung, da sie das Empfinden defizitären Seins, das etwa von Edith Stein der Vorstellung von ewigem Sein kontrastiert wurde, aufhebt. Sein ist für uns die unmittelbare Quelle der Seins- und Selbst-Vergewisserung, die beide in einem Prozess analoger Vergegenwärtigung entstehen. Wie sollten wir angesichts eines solchen Verständnisses zwischen der Sorge um uns selbst und der Sorge um das Andere unterscheiden? In den Texten Jean-Paul Sartres finden wir die Auffassung, der Mensch sei zur Freiheit, das heißt zur Verantwortung, verurteilt. Denn diese wird seinem Dasein als gleichursprünglich gesetzt und bedarf damit keiner Begründung. Wir sind in das Dasein geworfen und damit verantwortlich. An dem Begriff des Engagements kann diese Sichtweise vielleicht noch etwas deutlicher veranschaulicht werden. Anders als wir es vielleicht verstehen würden, engagieren wir uns seiner Ansicht nach nicht in dieses oder jenes Unternehmen oder Ziel, sondern wir sind engagiert, von Geburt an und unausweichlich. Doch tragen beide Vorstellungen zu dem Eindruck der lastenden Schwere bei, die Sartres Deutung des Daseins nicht abzusprechen ist. Nicht genug damit, dass wir uns in einem Dasein vorfinden, das uns weder Grund noch Sinn zu vermitteln vermag – wir sind darüber hinaus auch noch dazu verurteilt, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Von diesem Verständnis weicht die hier vertretene Sichtweise eindeutig ab. Allein das Bild der Geworfenheit fände darin keinen Ansatzpunkt mehr. Denn ohne Dasein in unrealistischer Weise verklären zu wollen, ist es unser Sein, in dem wir alles vorfinden, was wir zur Gründung sinnhafter Existenz benötigen: die Gewissheit der Geborgenheit in der Vielfalt des Vorfindlichen, dessen Differenz zu mir niemals größer ist, als meine Andersheit ihm gegenüber. Eine krassehttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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re Kontrastierung als diejenige der beiden Begriffe Geworfenheit und Geborgenheit ist kaum vorstellbar. Das Empfinden, im Sein aufgehoben zu sein, hat aber noch einen Vorzug, der vor allem in theoretischer Hinsicht von unschätzbarem Wert ist. Wir sind nicht mehr auf der Suche nach einer externen Ursache, um unserem Dasein Grund zu geben, da wir diesen im Sein selbst finden. Die Unterscheidung der beiden Möglichkeiten, Grund von etwas und Grund für etwas zu sein, konnte bereits erläutert werden. Erstere würde sich auf die Verursachung des Seins beziehen, eine Frage, die nicht gestellt wird, da sie im Rahmen philosophischer Betrachtung nicht zu beantworten wäre. Letztere ist daher umso wichtiger, da sie sich im Geschehen der Wechselwirkung realisiert, durch die Vorfindliches aufeinander verwiesen ist. Das Eine ist immer Grund dafür, dass sich Anderes so oder so reflektieren kann und damit auf den Grund dieser Reflektion aufmerksam wird. So ist das Andere Grund dafür, dass ich mich als verantwortlich erlebe, da es Grund für meine Vorstellung von Verantwortlichkeit ist. Diesen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, kann als der Sinn gelingender Existenz betrachtet werden. Es wurde bereits vermerkt, dass von Überlegungen wie diesen keine Maßgaben zu erwarten sind, wie in dieser oder jener bestimmten Situation zu handeln sei. Welche Bedeutung kommt dann aber der Vorstellung des Gelingens zu, die hier immerhin in einer Gewichtung präsentiert wird, die sie der Vorstellung des Guten annähert. Mehr als eine Annäherung ist jedoch nicht zu vermuten, nicht deshalb, weil sie einen Gedanken ausreichend umschreiben würde, sondern deshalb, weil mehr nicht beabsichtigt ist, denn beide Begriffe rangieren auf grundsätzlich differenten Funktionsebenen. Mit der Frage nach dem Guten steht der Wert im Mittelpunkt, nach dessen Verwirklichung wir streben. Die Mittel, die hierfür in Betracht gezogen werden, mögen variieren, doch die Idee des Guten als solche bleibt davon unbenommen. Als Idee stellt sie den maximalen Erfüllungsgrad des guten Handelns oder Wollens dar, was ein Erfordernis mit sich bringt, dessen Komplexität nicht zu unterschätzen ist: Es müssen Übertragungsformen gefunden werden, die es erlauben, die Vorstellung des Guten an sich auf situative Bedingtheiten zu projizieren. Denn unter Umständen, die durch konkrete Gegebenheiten entstehen, wird immer nur eine Annäherung an das Voll-Bild des Guten möglich sein, die dessen Spezifikum situativ zu adaptieren sucht. Dieses Spezifikum besteht darin, dass das Gute undifferenziert für alle gilt, wodurch seine besondere Stellung im philosophischen Denken erklärbar wird. Als Idee bedarf es keiner kontextabhängigen Rechtfertigung, die über ihre Gültigkeit zu befinden hätte. Stattdessen ist sie das Paradigma des Handelns schlechthin, das gleichermaßen als Motivation wie auch als Verwirklichungs-Richtwert angesehen werden kann. Die Vorstellung eines Realisierungs-Maximums kann prinzipiell in jeder hypothetisch zu konstruierenden Situation als Inspiration für das Wünschen und Wirken gelten, da sie unabhängig von deren spezifischer Beschaffenheit gedacht werden kann und gedacht werden muss. Wird der Gedanke ungeschützt bis zu seinem Ende geführt, zeigt der Begriff des Guten, das als Idee https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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fungiert, eher die Möglichkeit an, gut zu handeln, als die Möglichkeiten guten Handelns. Deren Definition obliegt den Interpreten, die vor der anspruchsvollsten Herausforderung stehen, die Vorstellung des Optimums mit dem Realisierbaren bestmöglich in Einklang zu bringen. Doch was passiert im Zuge dieser Übersetzung der Idee in die Anwendung nur allzu leicht? Die Auslegung der Idealität erweist sich als zu komplex, um Echtzeitbedingungen standhalten zu können. So besteht letztlich die Gefahr, dass die Formulierung dessen, was gut in der Situation sein kann, stärker an deren Bedingungen orientiert ist als daran, was die Idee des Guten als möglich ausweist. Dennoch kommt ihr der unbestrittene Vorzug zu, Ankündigung des Möglichen schlechthin zu sein, dessen Denkbarkeit jeder Erfordernis-Prüfung enthoben ist. Wer hingegen das Gelingen zu erklären sucht, setzt auf die situative Bemessungs-Grundlage unseres Handelns und Wollens. Es ist kein Optimum vorstellbar, das auf dem Wege der Verwirklichung theoretisch zu erreichen wäre, da das Gelingen selbst Form der Verwirklichung ist. Als solche ist sie an keinem absolut gesetzten Maßstab zu messen, was die Frage nach ihrer Beurteilung extrem erschwert. Mit Blick auf die Idee des Guten kann zu jedem Zeitpunkt höchstens ein Abgleich mit dem tatsächlichen Agieren erfolgen, der über Entsprechung oder Abweichung befindet. Im Falle des Gelingens ist hingegen eine Vielzahl punktueller Resonanzen denkbar, die als Reflektions-Momente angesehen werden können. Orientiert sich das Wünschen und Wirken am Begriff des Guten, ist prinzipiell keine personale Interaktion erforderlich. Dem Handelnden genügt die Vorstellung des Guten als Richtmaß seines Tuns. Da es für das Gelingen kein solches Maß gibt, wird die Bedeutung personaler Resonanz entscheidend als Vergewisserungs-Grund des eigenen Wirkens und mehr noch: der eigenen Existenz. Dabei zeigt das Andere, das hier in der ganzen Weite des Vorfindlichen gedacht wird, nicht den Grad der Annäherung an das Optimum der Erfüllung des Gutsein-Könnens an, sondern das situativ bedingte Wirken im Sein. Doch bedarf nicht selbst dieses einer Definition, die in dem Moment erforderlich ist, in dem hypothetisch die Möglichkeit des Nicht-Gelingens in Betracht zu ziehen ist? Das Besondere an dieser Konzeption, die ihre Tauglichkeit im Kontext ethischer Betrachtungen wird erweisen müssen, besteht darin, einen Maßstab nicht definieren zu müssen, da er bereits im Sein angelegt ist, sofern es in der hier vertretenen Sichtweise verstanden wird. Theoretisch fassbar wird dieses, wie sich gezeigt hat, im Gedanken der Homogenität, die sich in der Vorstellung von Gleichförmigkeit und Gleichwertigkeit des Vorfindlichen ausdrückt. Wird diese Auffassung im Zusammenhang der Frage nach dem Guten geprüft, zeigt sich ein bemerkenswerter Vorzug. Denn es ist auf der Basis eines solchen Seins-Denkens nicht mehr nötig, nach dem Bild des Guten zu suchen, dem egalisierende Wirkung zugesprochen werden kann, da diese grundsätzlich nicht mehr nachzuweisen ist. Sie liegt bereits im Sein vor, das uns in der Erfahrung der Affizierbarkeit zugänglich wird, und zwar ohne qualitative Differenzierungen, die es im Denken des Ethischen https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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auszugleichen gilt. Um diese Feststellung, die unvorbereitet erfolgte, zu erläutern, kann für einen Augenblick der Entstehens-Bedingung ethischer Konzeptionen nachgegangen werden. Wann werden sie argumentativ unverzichtbar? In dem Moment, in dem vermeintlich bestehende Unterschiede in Gemeinschaft oder Gesellschaft in der Setzung eines egalisierenden Begriffes Differenz-unabhängiger Gültigkeit zu vermitteln sind. Wird etwa das Andere nicht wie hier als dem Eigenen gleichwertig, sondern als das Fremde gedacht, das sich zunächst keiner verbindenden Kategorie des Denkens subsumieren lässt, wird es notwendig, die Möglichkeiten der Relation zu ihm zu reflektieren. Mit der Formulierung von Möglichkeiten ist es noch nicht getan, denn erst deren Ausweisung als Imperative verschafft der Konfrontation mit dem Fremden im günstigsten Fall eine gesicherte Basis. Im Gegensatz hierzu wird es nahezu unnötig, überhaupt vom Fremden zu sprechen, da die Faktizität des Gemeinsamen die Summe faktischer Differenzen übertrifft. Dieses ist der kostbare Ertrag der Vorstellung gleichförmigen Seins. Es bedarf zunächst keiner Konzeption ethisch fundierten Richtmaßes, um das Andere als das Andere im Sein begreifen zu können, wird es doch in jedem Augenblick im Wechselgeschehen der Affizierungen erfahrbar. Vielleicht mutet die Bezugnahme auf dieses Motiv allzu simpel an, um in dem höchst bedeutsamen Kontext des Ethischen gewinnbringend zum Einsatz kommen zu können. Die Frage, mit der auf diese Vermutung zu reagieren ist, könnte so lauten: Welche Möglichkeiten stehen uns sonst zur Verfügung, um unsere Relation allem Anderen gegenüber begründen zu können? Die Erinnerung an den zurückgelegten Weg zeigt jedoch sehr schnell, dass diese Formulierung der Intention dieser Seiten nicht entsprechen würde. Stattdessen ist danach zu fragen, wie sich unsere Relation dem Anderen gegenüber im Sein ausdrückt? Wir schaffen nicht erst die Bezüge zu Anderem, dessen ethischen Wert wir zu begründen haben, sondern agieren aus der Bezogenheit auf Anderes. Die weiterführende Überlegung gilt daher nicht der Frage, was das Gute innerhalb der Vorstellung von Bezogenheit sei, sondern ob es uns gelingt, diese in unserem Wirken und Wollen zum Ausdruck zu bringen. Die Entscheidung hierüber ist nicht durch den Abgleich mit einer Optimal-Vorstellung zu erreichen, sondern interaktiv mit dem Anderen, auf dessen Sein mein Tun Reaktion ist. Vielleicht stellt sich beim Lesen dieses Begriffes die Assoziation reiner Passivität ein, was keineswegs beabsichtigt ist. Wenn hier von Reaktion die Rede ist, deutet sich damit vielmehr das reflexive Moment unseres Seins an, um das es nun schließlich geht. Der Gedanke als solcher überrascht nicht, da er bereits den betrachteten Konzeptionen von Existenz zugrunde lag. Denn was ist diese letztlich anderes als die Reflexion der Beschaffenheit unseres Daseins losgelöst von aller Zweckgebundenheit? Vergeblich wäre die Suche nach Merkmalen verlaufen, wie sich die existentielle Bewegung im Handeln ausdrückt. Die Möglichkeit einer Auswirkung wurde zwar nicht bestritten, doch ihrer Diskussion kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in dem Moment, so legten https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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es die zitierten Texte nahe, in dem sich das Denken von seiner Bindung an Zwecke und Absichten befreit, gelingt ihm der Blick auf das Dasein und die Frage nach dessen Sinnhaftigkeit. Dass diese Befreiung aus Sachbezügen durch den Schock der Erschütterung ausgelöst werden muss, weil anders unsere Verhaftung im zweckdienlichen Denken nicht zu durchbrechen wäre, erwies sich als eine der wenigen, aber entscheidenden Konstanten existenzphilosophischer Konzeptionen. Die existentielle Bewegung kann in diesem Sinne als Gang in die Möglichkeit zweckbefreiter Reflexion verstanden werden. Doch wo ist innerhalb der zuletzt formulierten Überlegungen Raum für den Gedanken der Existenz? Die zum Teil aus der Materialsichtung hervorgegangene Auffassung, sie sei spezielle Seins-Weise des Menschen, findet auf ihrer Grundlage kaum einen Anhaltspunkt. Gleiches gilt für die ausführlich erörterte Ansicht, das Ziel der existentiellen Bewegung im eigensten Selbst-Sein finden zu können. Fallen damit nicht die beiden wichtigsten Kriterien zur Bestimmung von Existenz der Betrachtung des Seins zum Opfer, die zunächst so wenig Gelegenheit zum Denken menschlicher Besonderheit bietet? Ein Teil jener Bedeutung des Begriffes der Existenz, der gerade noch einmal benannt wurde, kann für eine erste Annäherung an eine Antwort auf diese Frage übernommen werden. Auch in ihrem aktuellen Verständnis erweist sich die existentielle Bewegung als Reflexion. Doch muss diese nicht aus ihrer sachbezogenen Gebundenheit befreit werden, um als existentiell aufgefasst werden zu können. Denn im weitesten Sinne handelt es sich bei Affizierungen um Belege sachbezogener Gebundenheit, da sie nicht strukturell erfasst, sondern je individuell erfahren werden. Im Vergleich zu den Aussagen etwa von Karl Jaspers oder Heinrich Barth muss es geradezu so wirken, als würde dem Menschen die Möglichkeit, sich existentiell zu verwirklichen, damit verweigert, denn eine Lösung aus den Welt-Bezügen, die ihrer Auffassung nach mitunter erforderlich ist, findet nicht statt. Worin besteht dann aber die Arbeit der Existenz? Und wann wird sie am Ende gar als gelingend bezeichnet? An früherer Stelle wurde die Frage aufgeworfen, wem sonst sich das Selbst, wie es traditionell existenzphilosophisch gedacht wird, zu verantworten habe, als sich selbst? Und wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass sich eine aktuelle Deutung von Existenz nicht auf die Vorstellung konzentrieren könne, im SelbstSein deren Erfüllung zu sehen. Diese beiden Aspekte können nun aufgegriffen werden, um den Versuch zu unternehmen, das neue Profil des Existierenden zu entwerfen. Er ist nicht derjenige, der die Struktur des Daseins reflektiert und sich dabei selbst als den Reflektierenden begreift, der sich den Bedingtheiten des Daseins teilweise zu entziehen vermag. Stattdessen tritt er als jemand auf, der seine Erfahrung des Seins reflektierend zum Ausdruck bringt. Dieses ist in jedweder Form vorstellbar – im Handeln, Denken, sich Verhalten, in unmittelbarer Weise oder in darstellender Gestalt, wie sie in Werken der Kunst oder umfassenden Kreativität realisierbar sind. All diesen Weisen liegt eine einzige Haltung zugrunhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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de, die zu den selbsterklärendsten Arten menschlicher Selbst-Mitteilung zählt, und doch nicht selbstverständlich zu sein scheint: Achtung vor dem Anderen. Noch einmal sei daran erinnert, dass damit tatsächliches alles Andere gemeint ist, in dessen Kreis, nicht in dessen Mitte sich ein Mensch vorfindet. Das Denken der Renaissance kann in so vielerlei Hinsicht als Vorbereitung des späteren existenzphilosophischen Denkens verstanden werden. In einem ihrer ikonischen Texte, der Oratio de hominis dignitate – Über die Würde des Menschen des Giovanni Pico della Mirandola, findet sich das Bild des im Mittelpunkt des Universums positionierten Menschen, der aus dieser exzeptionellen Warte befähigt und berechtigt sei, alles ihn Umgebende zu betrachten.569 Denn nur aus der Kenntnis des Anderen vermag jene Selbst-Bildung zu entstehen, die der Schöpfer dem Menschen zuerkannte. So berührend dieses Bild auch ist, weil es vom tiefsten Vertrauen in das dem Menschen Mögliche erzählt, repräsentiert es doch genau jenes Verständnis, von dem es hier Abschied zu nehmen gilt. Der perspektivische Zuschnitt, den alle Erkenntnis durch diese Verortungsmetapher erhält, kann nicht die Weise unseres heutigen Seins-Denkens markieren. Um der Gleichförmigkeit und Gleichwertigkeit des Vorfindlichen Rechnung zu tragen, ist es kontraproduktiv, eine Sonderstellung in dessen Mitte zu beanspruchen. Denn dadurch muss alles Andere zwangsläufig in seiner Position bewertet werden, die es uns gegenüber einnimmt. Was ändert sich aber an diesem problematischen Verständnis, wenn vom Sein im Kreis des Anderen die Rede ist? Genügt hier wirklich eine minimal modifizierte Formulierung, um einen Wandel unseres Selbstverständnisses anzuzeigen? In der Tat bedeutet es einen immensen Unterschied, ob vom Sein in der Mitte oder im Kreis des Anderen die Rede ist. Wahrscheinlich sind wir nach jahrhundertelanger Einübung so sehr an den Gedanken gewöhnt, dass uns die zentrale Position im Sein zusteht, dass es äußerst unattraktiv wirken muss, diesen Platz freiwillig aufzugeben. Doch genau darin äußert sich die Souveränität gelingender Existenz. Sie setzt sich immer wieder von Neuem der Konfrontation mit dem Anderen aus und vermittelt die Möglichkeit, in dieser Form kontrastiver Relation als selbstreflexives Individuum zu agieren. Dieser Arbeit der Mitteilung oder, um einen anderen Ausdruck zu verwenden, der exemplarischen Existenz, kommt immense Bedeutung zu. Denn noch sind wir wohl ungläubig, dass beides zugleich realisierbar ist: selbstbewusst für das Andere einzustehen. Das Erbe mancher existenzphilosophischer Aussagen wirft einen nicht zu übersehenden Schatten auf das Denken dieser Möglichkeit. Denn sie erzeugten gerade den gegenteiligen Eindruck, wonach zwischen dem Selbst-Sein und den Welt-Bezügen zu unterscheiden und, was noch weitaus schwerer wiegt, «Endlich beschloß der höchste Künstler, daß der, dem er nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, […]. Also war er zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt […].» Über die Würde des Menschen, S.5. 569
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abzuwägen sei. Doch entspricht es nicht mehr den Erfordernissen unserer Zeit, hier von einem Entweder-Oder auszugehen. Die Achtung des Anderen ist uns noch längst nicht zur selbstverständlichen Haltung geworden, obwohl sie mit größtem Nachdruck zu fordern ist. Ein bedeutender Unterschied, der den Begriff des Gelingens von jenem des Guten abhebt, konnte gerade benannt werden. Anders als dieser bezeichnet das Gelingen keine Vorstellung eines anzustrebenden Wertes, sondern das Geschehen der Beziehung auf Anderes, das sich in ganz bestimmter Weise positiv auszeichnet. Damit wird eine weitere Differenz sichtbar. Der Gedanke des Guten ist als Idee unabhängig von personaler Verwirklichung gültig und hat als solcher auch dann Bestand, wenn er sich aktuell nicht im Prozess der Realisierung zu bestätigen hat. Vom Gelingen sprechen wir hingegen immer nur mit Blick auf eine konkrete Bezugs-Situation, die als Relation zum Anderen in vollumfänglicher Bedeutung verstanden wird. Die Schwierigkeit, die sich bisweilen stellt, wenn eine Ausweitung des Begriffes vom Guten auch auf nicht-personale Relationen erwogen wird, erübrigt sich mit Blick auf die Vorstellung vom Gelingen von selbst. Denn dieses gilt immer nur situativ, und Situationen verbinden uns mit dem anderen Menschen, doch ebenso mit dem Anderen im Sein. Dieser Umstand führt jedoch zu einer Hürde, mit der wiederum das Denken des Guten nicht zu kämpfen hat. Denn im Grunde sind allgemeine Aussagen über das Gelingen nicht möglich, da es sich stets in konkretem Bezug verwirklicht – oder auch nicht. Es kann hier also lediglich darum gehen, einige Marker dieses Geschehens festzuhalten, die uns dabei helfen, dessen Bedeutung im Kontext des Ethischen zu erwägen. Sollte zum Beispiel überlegt werden, anhand welcher Kriterien wir über das Gelingen befinden können, drängt sich natürlich unweigerlich die Vorstellung seines Gegenteils auf, das als Ausbleiben zu bezeichnen wäre. Nach gängiger Annahme würden beide Möglichkeiten sich gegenüberstehen und als Testate über menschliches Agieren auszusprechen sein. Die Suche nach Richtlinien, die es uns erlauben, das eine vom anderen zu unterscheiden, würde damit notwendig. Nun verhält es sich bei dem Bild des Gelingens jedoch anders. Dieses stellt nicht das Ergebnis einer Beurteilung dar, die anhand bestimmter Voraussetzungen getroffen werden kann. Stattdessen zeigt es sich als Grundverfassung relationalen Seins, dessen Natur der Bezogenheit in jedem Augenblick gegeben ist. Im ersten Moment klingt diese Auffassung wahrscheinlich mehr als naiv, könnte sie doch so interpretiert werden, dass das Sein an sich gut sei. Der Rückgriff auf den Begriff des Guten an dieser Stelle spricht Bände. Denn er ist so sehr mit unserer Wahrnehmung des Positiven verbunden, dass es schwerfällt, in einem Zusammenhang wie diesem darauf verzichten zu wollen. So extrem die gerade angedeutete Interpretation auch wirken mag, trifft sie doch erstaunlicherweise weitgehend zu. Denn die Beschaffenheit des Seins in seiner Lesart als Vorfindliches kann so verstanden werden, dass sie an sich keiner Artikulation in Form von Akten guten Handelns oder Verhaltens bedarf. Mit der Ausgewogenheit seihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ner Relationalität wird ein Zustand denkbar, der größtmögliche Angemessenheit der Aktionsweisen des Menschen gewährleistet und, was noch weitaus bemerkenswerter ist, auch präformiert. Ein fremd anmutender Gedanke zeichnet sich hier ab. Sollte denn etwa das bloße Nebeneinander des Vorfindlichen Muster gelingender Existenz sein? Wird die Frage so gestellt, scheint sie unweigerlich auf eine widersinnige Annahme hinauszulaufen. Denn das zeitgleiche und räumlich entsprechende Sein kann nie und nimmer als Vorlage ethischen Verhaltens betrachtet werden. Doch ist diese Unmöglichkeit tatsächlich derart eindeutig, wie gerade behauptet? Was zeigt uns das Bild des Vorfindlichen, dem noch nicht einmal ein Miteinander, sondern lediglich das Faktum des Nebeneinanders bescheinigt werden kann? Es führt vollständige Gleichwertigkeit gepaart mit absoluter Bezogenheit vor Augen. Gerade in dem in der Realität niemals anzutreffenden Zustand der vollständigen Unveränderlichkeit gibt das Bild seine wichtigste Botschaft zu erkennen: Eines ist da und anderes ist da. Wäre hierin eine Seins-Aussage zu sehen, ist jedoch nach wie vor darauf hinzuweisen, dass sie im Sinne des existentiellen Denkens nicht als Aussage über Existenz zu verstehen ist. Denn es hatte sich im ersten Teil dieser Überlegungen erwiesen, dass deren Begriff keine Zustandsbeschreibung bedeutet, sondern die Möglichkeit des Entwurfs anzeigt. Ähnelt die Vorstellung statischer Vorfindlichkeit dann aber nicht jenem Szenario des Seins, das Jean-Paul Sartre skizzierte? Gerade die Gleichförmigkeit des Seienden erweckte im Menschen seiner Auffassung nach das Empfinden des „Zuviel“, da keine Ansatzmöglichkeit auszumachen war, sich in einen sinnhaften Bezug zum Sein zu setzen. Das Motiv der Utensilitätskomplexe diente ihm schließlich dazu, individuelle Zugriffsmöglichkeiten zu benennen, durch die partielle Strukturierungen der Seins-Fülle denkbar werden. Genau dieser Ansatz kann an dieser Stelle nur mit Zurückhaltung reflektiert werden. Denn einmal mehr erscheint in ihm der Mensch als der Strukturgebende, was vielleicht allzu schnell die Überzeugung aufkommen lässt, er könne damit durch eine spezifische Eignung dem Sein entgegengesetzt werden. Dass diese Ansicht im Rahmen der philosophischen Tradition westlicher Kultur schwerpunktmäßig vertreten wurde, zeigt der Blick auf deren Artikulationen. Doch bedeutet das keineswegs, dass dieser Sichtweise dadurch unumstößliche Gültigkeit zukommt. Sartre bestätigt diese letztlich, da seine Theorie des Existentialismus einen klaren Zuschnitt auf den Menschen zeigt. Seine Aussagen über das Sein, die immerhin Das Sein und das Nichts zunächst dominieren, sind deshalb relevant, weil es von ihm als Begründungskontext menschlichen Bewusstseins gedeutet wird. Auffällig ist dabei jedoch eine gewisse Spannung innerhalb seines Denkens. Einerseits begreift er den Menschen als dem Sein zugehörig, doch andererseits räumt er ihm die Möglichkeit ein, sich punktuell kraft seiner Reflexionsfähigkeit von ihm zu unterscheiden. Hier spiegelt sich die Vorstellung menschlicher Existenz, die in ihrer kurzen Geschichte stets mit dem Gedanken der Exzeptionalität des Menschen verbunden war. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Die Vorstellung des Menschen im Sein scheint vor diesem Hintergrund kaum möglich zu sein. Und doch gilt es für sie zu werben, wohl wissend, dass Zustimmung vielleicht eine der größten Herausforderungen an uns darstellt. An anderer Stelle klang diese bereits an, weshalb hier der kurze Hinweis auf ihre Natur genügt. Durch religiöse und philosophische Bestimmungen des Menschen sind wir so sehr daran gewöhnt, mit scheinbar unerschütterlicher Sicherheit einen besonderen Rang für uns zu beanspruchen, der uns mehr vom Sein fernhält, als uns mit ihm zu verbinden. Denn über einen langen Zeitraum kann es nicht in unserem Interesse gelegen haben, uns als Seiendes unter anderem zu begreifen, wäre eine solche Sichtweise doch unvereinbar mit der traditionell vermittelten Sichtweise unserer selbst gewesen. An dieser Voraussetzung hat sich auch im Denken der Existenzphilosophie, so wie es hier rekonstruiert wurde, kaum etwas geändert, ja es könnte sogar so wirken, als habe es zu Beginn des 20. Jahrhunderts dieser Auffassung noch einmal zu neuer Geltung verholfen. Immerhin bezeichnen ihre hier zu Wort gekommenen Vertreter Existenz als Seins-Weise des Menschen. Insofern enthüllt dieses Denken trotz seines offensiv vertretenen Anspruches auf Erneuerung in dieser Hinsicht eine eher traditionell anmutende Seite. Mit einer Sicht des Menschen, die ihm eine Sonderstellung im Sein zuerkennt, können wir heute jedoch nicht mehr uneingeschränkt arbeiten. Ist diese Feststellung nicht übereilt? Warum sollte es nicht möglich sein, das Besondere des Menschen sogar noch stärker zu akzentuieren, um ihn zur Verantwortung für das Andere aufrufen zu können? Schließlich ist nur er der Verantwortung fähig. Nehmen wir ihn also in die Pflicht und erinnern ihn immer wieder daran, dass aus seiner Exzeptionalität nicht nur Recht, sondern vor allem Verpflichtung im Sein resultiert. Es klingt in der Tat nach einem Weg, der zu funktionieren verspricht. Und doch ist es nicht jener Weg, der hier verfolgt wird. Denn eine seiner Voraussetzungen wird sich als unüberwindliches Hindernis erweisen. Urteilen und entscheiden wir im Wissen um unsere spezielle Position im Sein, werden unsere Urteile und Entscheidungen stets von diesem Standort aus getroffen. Wir sind und bleiben nicht nur Subjekte der Erkenntnis, sondern auch diejenigen, die über Wert und Wertigkeit alles Anderen bestimmen, was trotz vielleicht allerbester Absichten kaum anders als aus unserer Warte erfolgen kann. Selbst die grundsätzlich zu begrüßende Absicht, dem Anderen, sei es ein Mensch, ein Lebewesen oder ein Ding, Eigenwert zu bescheinigen, kann immer nur aus unserer Perspektive realisiert werden. In der letzten Etappe dieser Meditation über die Begriffe von Existenz und Sein wird es um das Motiv des Einstehens für das Andere gehen. Hier kann dafür die Vorbereitung geschaffen werden, indem diskutiert wird, inwieweit der Aufruf zum Standortwechsel im Sein als realistische Forderung betrachtet werden kann. Die Vorstellung allein mag verunsichern, doch sollte das nicht die Erwägung ihrer Möglichkeit ausschließen. Im Grunde ist es eine kaum sichtbare Bewegung, die erforderlich wäre, um sich nicht dem Sein kontrastiert, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sondern dem Sein anverwandt zu sehen. Doch die Konsequenzen für das Miteinander im Sein werden beachtlich sein. Denn es käme dann kaum noch dazu, dass wir Entscheidungen unser Wollen und Wünschen betreffend fällen und diese erst im Anschluss auf ihre Vereinbarkeit mit dem Wohl des Ganzen hin prüfen. Stattdessen wird jede Entscheidung immer schon unter Berücksichtigung des Anderen möglich, das sich unserem Verfügungswillen mit der sanften Widerständigkeit des Eigen-Wertigen entzieht. Vom Gelingen unserer Existenz sprechen wir daher, wenn wir es erreichen, unser eigenes Wollen mit dem Anderen in Einklang zu bringen. Mit dieser Auffassung unterscheidet sich die hier vertretene Sichtweise massiv von existentialistischer und sogar von existenzphilosophischer Konzeption, wonach zwei wesentliche Voraussetzungen zu akzeptieren wären: Der Mensch empfindet sich nicht per se zum Sein gehörig und erlebt die Bindung an Bedingtheiten seines Daseins, die ihm durch das Faktum seiner Geworfenheit zugemutet werden, als belastend. Auf den ersten Aspekt hinzuweisen, ist deshalb erforderlich, weil sich im Bild der Geworfenheit eine grundsätzliche Wertung der SeinsAuffassung ausdrückt. Vielleicht haften ihr Züge des religiösen Schöpfungsgedankens noch stärker an, als zu vermuten wäre. Dort begegnen wir der Vorstellung, dass der Mensch als Bestandteil des Schöpfungsgeschehens in einem Sein seinen Ort findet, das seiner Erfahrung und Gestaltung überantwortet wird. Geworfen erlebt sich der Mensch ebenfalls in ein Sein gestellt, ohne jedoch mit einer klar erkennbaren Aufgabe betraut worden zu sein. Das Empfinden, dennoch nie ganz diesem Sein zugehörig zu sein, hält womöglich länger an, als die rationale Bewertung der Daseins-Lage vermuten lässt. Ohne den Gedanken der Existenz auf eine vornehmlich psychologisch relevante Konzeption reduzieren zu wollen, liegt doch genau hier dessen Besonderheit. Die Vorstellung selbst-gründender Seins-Weise vermag den Makel, sich ohne externe Bestimmung im Sein zu finden, zum Großteil auszugleichen. Denn woher sollte sonst die unglaubliche Faszination stammen, die diese Vorstellung nicht nur in den 1920er Jahren ausübte? Sie vermittelt dem Menschen das Gefühl, aus eigener Kraft schaffen zu können, was ihm aus keiner anderen Quelle zuteilwird. Mit dieser gewiss tröstlichen Einsicht geht allerdings ein schwerwiegender Umstand einher: ein letztlich unüberwindlich erscheinender Bruch zwischen Existenz und Sein. Denn Letzteres vermag uns nicht zu bieten, was Erstere uns gewährt. So zumindest würde der Befund nach der Sichtung des hier zu Rate gezogenen Materials ausfallen, wobei immer wieder darauf hinzuweisen ist, dass die Auffassung Martin Heideggers eine Ausnahme darstellt. Mit dem Gedanken gelingender Existenz eröffnet sich nun eine andere Perspektive, in der die Situierung des Menschen im Sein betrachtet werden kann. Dieses ist kein Zustand, dessen Unvollkommenheit es durch das selbst-gründende Existieren auszugleichen gilt. Es erscheint vielmehr als eine Verfassung, die der Bewahrung und des Schutzes durch den Menschen bedarf. Existierend reflekhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tiert er sich selbst im Angesicht des Anderen und mehr noch, er tritt für dieses Miteinander dadurch ein, das er es nach Kräften in der Ausgewogenheit des Wechsel-Bezuges zu erhalten sucht. Damit ist keinesfalls eine Aufforderung zur Passivität und zum Nicht-Handeln verbunden, sondern die Ermutigung zum Agieren im Sinne des Ganzen. Ein solches Wirken kann mit Recht als gelingend bezeichnet werden, da es den einzigen Grundsatz des Seins im Sinne des Vorfindlichen respektiert: Wirken im Wissen um das Andere zu sein. Handelt es sich dabei nur um eine schöne Floskel, oder auch um eine Kennzeichnung praktikablen Seins? Bevor im letzten Teil das Motiv des Eintretens für das Andere zu betrachten sein wird, kann hier noch einmal betont werden, dass das Gelingen kein Maßstab guten Handelns, sondern Zeichen angemessenen Wirkens ist. Was dabei als angemessen zu verstehen ist, hängt nicht allein von der Sichtweise und Wertungshierarchie des singulären Menschen ab, sondern ermittelt sich aus dem Bezug des Einen zum Anderen. Daher ist das Gelingen nicht als Richtmaß zu begreifen, das zu Beginn eines Verwirklichungsprozesses oder während dessen Verlauf anzulegen ist, um über Tun und Unterlassen zu befinden. Es zeigt sich im Gegensatz dazu erst während eines solchen Prozesses, wenn das Ergebnis einer Handlung sich abzuzeichnen beginnt. Ist es dann aber nicht womöglich zu spät, um Folgen unangemessenen Strebens abwenden zu können? Da das Gelingen in extremer Weise an die Faktoren des jeweiligen Geschehnis-Verlaufes gekoppelt ist, worunter situative Bedingungen ebenso fallen wie die jeweilige Konstellation des beteiligten Vorfindlichen, ist ein Eingreifen grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt möglich. Hierin wird sogar eine Stärke der Vorstellung vom Gelingen sichtbar, die diese im Vergleich zum Begriff des Guten ausspielen könnte. Eine Handlung, die sich nach der Idee des Guten ausrichtet, kann immer nur durch den FinalAbgleich mit dieser bewertet werden. Dahingegen ist beim Fragen nach dem Gelingen in jedem Moment ein Verlaufs-Abgleich möglich, der folglich Korrekturen des ursprünglich intendierten Handlungsmusters zulässt. Im Zuge dieser Möglichkeiten könnte sich dann auch Wirken als misslingend herausstellen, dann nämlich, wenn die Achtung vor wechselseitiger Bezogenheit im Gleichmaß des Vorfindlichen nicht oder nur in geringem Umfang erkennbar ist. Voraussetzung für den Verlaufs-Abgleich, der auf der Basis des Gedankens vom Gelingen möglich ist, ist jedoch im Grunde die permanente Reflexion des Wollens und der Mittel, die zu dessen Verwirklichung eingesetzt werden. Hier kommt das außergewöhnliche Potential des Existenz-Begriffes zum Tragen. Dass er Reflexion bezeichnet, hatte die Betrachtung der ausgewählten Texte bestätigt, die hier zugrunde gelegt wurden. Dort beschränkte sich die Reflexion jedoch recht eindeutig auf die Verwirklichungsformen des Selbst-Seins. Indem deren Rahmen nun ausgeweitet wird und sich ebenso auf das Sein des Anderen bezieht, wird Existenz zum Realisierungs-Geschehen ethischer Reflexion. Denn es obliegt dem bewusst Agierenden, das heißt nun: dem Existierenden, nicht nur, das Gelingen seiner eigenen Handlungen und Verhaltensweisen zu bedenken, sondern auch diejenigen des https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Vorfindlichen in seiner von ihm erfassbaren Gesamtheit zu prüfen. Vor diesem Hintergrund gilt die letzte Frage dem Unterschied zwischen gelingender Existenz und gelingendem Sein. Ganz der Tradition existenzphilosophischen Denkens entsprechend wird Erstere als Verantwortung des Einzelnen verstanden, wohingegen Letzteres sich aus deren Zusammenwirken ergibt. Dass die Überlegungen punktuell durchaus grenznah zu Martin Heideggers Konzeption vom schonenden Denken verlaufen, wird dem kritischen Blick nicht verborgen geblieben sein. Festzustellen ist jedoch, dass diese Nähe nicht beabsichtigt ist und sich dadurch – das wäre zumindest zu wünschen – keinem Rechtfertigungszwang beugen muss. Wird Sein in der hier vorgestellten Weise interpretiert, ergibt sich fast unvermeidlich die eine oder andere Parallele, die nur deshalb, weil sie sich als solche zu erkennen gibt, noch längst kein Indiz der Bezugnahme zu sein braucht. Ein letzter Aspekt kann schließlich zur Unterscheidung der Idee des Guten vom Gedanken des Gelingens angeführt werden. Dass Letzterer nur interaktiv Gültigkeit erlangt und auch nur im Zuge seiner Anwendung als sinnvoll bezeichnet werden kann, hat sich bereits gezeigt. Dieser Umstand lenkt den Blick noch einmal auf die Voraussetzungen beider Begriffe, die kaum unterschiedlicher ausfallen könnten. In stark vereinfachter Form kann festgestellt werden, dass die Idee des Guten ihren Vorzug vor allem dort zeigt, wo es erforderlich ist, die Interessen verschiedener Personen oder Personengruppen auszugleichen. Damit kommt ihr vornehmlich präventive Bedeutung zu, da sie zur Konfliktvermeidung beiträgt. Der Gedanke des Gelingens wirkt ebenfalls präventiv, jedoch in anderer Ausrichtung. Denn er kann verhindern, dass es überhaupt zur Ausbildung von Interessen kommt, die den Zusammenhang mit dem Anderen aus dem Blick verlieren. Die Idee des Guten dient im günstigsten Fall dazu, eine bessere Gemeinschaft zu schaffen, während der Gedanke des Gelingens dazu führen kann, die Verfassung homogenen Seins zu bewahren. An diesem Punkt, mit dem dieses Kapitel allmählich zum Abschluss geführt werden sollte, könnte nun allerdings ein Einwand erhoben werden, der geeignet wäre, den Sinn des Gesagten in Zweifel zu ziehen. Selbst dann, wenn der Begriff des Guten keine unmittelbare Handlungsführung erwirkt, da er letztlich den Maßstab liefert, an dem alles Wirken zu orientieren und zu beurteilen ist, bietet er doch eine verlässliche Möglichkeit, Wollen und Verwirklichung im Vorfeld einer Handlung abzugleichen. Das Gelingen präsentiert sich im Gegensatz dazu in derart unbestimmter Kontur, dass dessen tatsächlicher Nutzen infrage gestellt werden könnte. Gegen diese in der Tat schwerwiegenden Bedenken kann jedoch auf den gerade angeführten Aspekt hingewiesen werden. Der Anspruch des Gedankens vom Gelingen kann nicht in der Bildung eines Handlungsmaßstabes liegen, der universalisierbar auf jede mögliche Aktion angewendet werden kann. Denn es hat sich bereits gezeigt, dass Handeln, das sich an ihm orientiert, jeweils situativ im Geltungsrahmen konkreten Geschehens sein Maß in der Präsenz des Anderen findet. Sie gibt uns zu erkennen, ob es möglich ist, das Beabsichtigte mit dem Realisierbaren in Einklang https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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zu bringen. Aus dieser Warte betrachtet bietet der Gedanke des Gelingens nicht weniger Orientierung als die Idee des Guten, entnimmt sie jedoch einer anderen Basis. Denn er entspringt in unmittelbarer Weise der Erfahrung, wohingegen die Ausrichtung des Wirkens an der Idee des Guten durch rationale Entscheidung erfolgt. Hier wird ein anderer Einwand sichtbar. Wenn das Gelingen nur durch die Erfahrung des konkret Anderen funktioniert, ist es in extremer Weise der Beliebigkeit ausgesetzt. Zudem verliert die moralische Kompetenz des Menschen ihre Grundlage. Ist er immer nur derjenige, der auf die Erfordernisse des Anderen reagiert, werden Eigenwille und Entscheidungsfreiheit zu nicht mehr vertretbaren Vorstellungen. An diesem Punkt spielt der Gedanke des homogenen Seins seine argumentative Stärke aus. Da Vorfindliches jedweder Art grundsätzlich als moralisch gleichwertig zu betrachten ist, kann Handeln, das diesem Achtung entgegenbringt, als Sinn-tragend bezeichnet werden. Denn es offenbart keine Schwäche und keinen Kompetenzverlust seitens des Handelnden, sondern weist ihn als jemanden aus, der sich seiner Stellung innerhalb des Seins bewusst ist. Diese Feststellung verfehle die geäußerten Bedenken, so könnte vermerkt werden. Denn ein solches Bewusstsein wird aus entgegengesetzter Position zu keinem Zeitpunkt geleugnet, reicht aber nicht aus, um Verantwortung des Menschen zu motivieren. Verantwortung bedarf keiner Motivation, so wäre zu erwidern, da sie letztlich nur ein anderer Ausdruck für Bezogenheit im Sein ist. Der Verlust moralischer Kompetenz, der soeben beklagt wurde, wäre nur dann geltend zu machen, wenn Moralität von Selbst-Erfahrung funktional unterschieden würde. Im Rahmen der vorausgegangenen Überlegungen konnte gezeigt werden, dass im Konzept des Vorfindlichen Selbst-Erfahrung, die zu Selbst-Bewusstheit führt, stets analog zur Erfahrung des Anderen verläuft, ja mehr noch: überhaupt nur verlaufen kann. Das entscheidende Argument, das hier angeführt werden kann, stützt sich mit seiner ganzen Schwere auf den Gedanken des Seins. Aus seinem Begriff kann Normativität des Handelns erschlossen werden, das sich nicht erst seines Legitimationsrahmens zu vergewissern braucht, da dieser ihm in jedem Moment potentiell vor Augen steht. Warum diese Einschränkung durch den Hinweis auf Potentialität? Es gibt bei aller Verbindlichkeit der Seins-Struktur der Bezogenheit natürlich die Möglichkeit, dass ein Mensch sich ihrer nicht bewusst ist. Auf diese Tatsache wurde zwar bereits kurz eingegangen, was eine Erwähnung in diesem Zusammenhang jedoch nicht erübrigt. Den Kontext, in dem auf die Möglichkeit nicht reflektierten Agierens hingewiesen wurde, bildete die Unterscheidung gelingender Existenz von ihrem Gegenteil. Schließlich wäre es völlig unrealistisch, sollte das Gelingen selbstverständlich jeder Entwurfsbewegung, zu denen auch die existentielle Bewegung zählt, attestiert werden. Es gibt den Fall, dass die Struktur des Seins eben nicht erfasst wird und Handlungen in einer Weise erfolgen, die nicht an dessen integraler Normativität ihr Maß finden. Die Aufgabe der Existenzphilosophie gestern und heute besteht auch darin, auf https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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diese Verfasstheit des Menschen – des Einzelnen – aufmerksam zu machen. Dieses geschieht nicht primär auf dem Wege der theoretischen Erörterung, sondern der Erfahrung, die in den bestehenden Konzeptionen fast übereinstimmend mit dem Motiv der Erschütterung illustriert wird. Das Frei-Werden für die Erfahrung des Selbst-Sein-Könnens stellte deren faszinierenden Kern dar. Nun wurde an früherer Stelle vermerkt, dass dem Element des Frei-Werdens-Für im aktuellen Entwurf keine vergleichbare Bedeutung zukomme. Wie erklärt sich dann aber der Übergang vom unreflektierten zum reflektierenden Sein, der auch hier als der Schritt in die Existenz bezeichnet werden kann? Im Grunde ist es genau jener Übergang, der auch in der Sichtweise der zitierten Denker als Eintritt in die Existenz ausgewiesen wurde, mit dem einzigen Unterschied, dass für diesen nun kein Moment der Erschütterung als Initiationsgeschehen mehr anzunehmen ist. Dieser war dort erforderlich, wo von einer wertigen Ungleichheit Existenz-ermöglichender Daseinsformen ausgegangen wurde. Wenn etwa Karl Jaspers erklärt, der Mensch könne im Welt-Bezug keinen Ansatzpunkt dafür finden, seinem Empfinden der Unbefriedigung nachzuspüren, öffnet sich zumindest vorübergehend die Kluft zwischen Existenz-fordernden und Existenzermöglichenden Modi des Seins. Ersterer entspricht der Faktizität der Welt, Letzterer der Möglichkeit von Transzendenz. Der Übergang vom unreflektierten zum reflektierenden Sein erweist sich damit zugleich als Schritt von einem Modus zum anderen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass es einer dezidierten Erklärung bedarf, wie beides vonstattengehen könne. Eine vergleichbare Differenzierung der Seins-Modi liegt im Falle des aktuellen Verständnisses nicht vor, wodurch sich auch die Notwendigkeit einer Erklärung des möglichen Übergangs erübrigt. In jedem Moment kann sich unreflektiertes in reflektierendes Sein verwandeln, womit jeweils nur eine Veränderung im Bewusstseins-Zustand, keine damit einhergehende Veränderung der Seins-Weise verbunden ist. Denn daran kann nach all den Überlegungen noch einmal erinnert werden: Existenz wird von allen vier zu Wort kommenden Denkern als spezielle Seins-Weise des Menschen verstanden. Die Annahme einer solchen Spezifikation versucht die vorliegende Deutung gerade zu vermeiden. Doch noch aus einem anderen Grund kann hier auf die Annahme einer Erschütterung als Initiationsmoment der existentiellen Bewegung verzichtet werden. Als psychologisches Faktum ist diese völlig einsichtig, da es einen Impuls geben muss, der jene Vereinzelung des Menschen in Gang setzt, die überhaupt erst existentielle Selbst-Reflexion gewährleistet. Da im Rahmen der aktuellen Betrachtung Vereinzelung des Menschen kontraproduktiv für die Selbst-Reflexion wäre, insofern sie diese sogar verhindert würde, fällt der Fokus auf die Funktion, die dem Anderen zu deren Ermöglichung zukommt. Er ist nicht als deren Hindernis, sondern ganz im Gegenteil als deren Bedingung zu verstehen. Denn erst in der Wechsel-Wirkung gegenseitiger Affizierungen findet der Mensch jene Seins-Vergewisserung, die ihn nicht nur nach dem Anderen, sondern auch nach https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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sich selbst fragen lässt. Hier liegt der Grund für den kurzen Exkurs zum Denken von Paul Tillich und Rudolf Bultmann. Beide legen in ihren jeweils andere Akzente setzenden Konzeptionen Gewicht auf Bedeutung und Wertigkeit des Daseins-Vollzuges, das sich schwerlich in Texten existenzphilosophischer Provenienz nachweisen lässt. Für beide markiert die den Existenz-Begriff Martin Heideggers grundsätzlich wohlwollend aufnehmende Deutung des Daseins jenen Geschehnis-Raum, in dem sich Offenbarung und Erlösung ereignen können. Wenngleich deren Interpretationen hier nicht zu folgen ist, da ihnen innerhalb eines Seins-Denkens, das sich ausschließlich auf sich selbst besinnt, keine Bedeutung zukommen kann, stehen diese Überlegungen den Konzeptionen von Tillich und Bultmann im Grunde fast näher als jenen der ausgewiesenen Existenz-Denker. Denn dort ist das Element der Interaktion im Sein zu vermissen, das, wie gerade noch einmal betont, teilweise sogar explizit aus der Erklärung von Existenz ausgeklammert wurde. Noch einmal kann auf die besondere Fähigkeit des Anderen verwiesen werden, Grund für das qualifizierte So-Sein des Selbst sein zu können. Würde existentielle Bewegung die Ausblendung dieses Grundes erfordern, würde die Bewegung selbst in Bedeutungslosigkeit münden.
Einstehen für das Andere Doch wie steht es mit dem Gedanken, selbstbewusst für den Anderen einzustehen? Handelt es sich vielleicht nur um eine Illusion, die reizvoll klingen mag, doch ihre Belastungsprobe in der Realität – auch in der Realität philosophischer Erprobung – kaum unbeschadet überstehen würde? Was bedeuten in diesem Zusammenhang die beiden Begriffe des Selbstbewusstseins und des Einstehens für das Andere? Anstelle von Selbstbewusstsein wäre von Selbstbewusstheit zu sprechen, denn die geringfügige Abweichung des Ausdrucks signalisiert einen erheblichen Unterschied im Verständnis. Selbstbewusstheit bildet sich stets von Neuem, situativ bedingt und punktuell. Sie ist keine einmal eingenommene Position reflexiver Vergewisserung funktionaler Identität, die von da an als selbsterklärend vorausgesetzt werden kann. Selbstbewusstheit kann sich in jedem Geschehen ereignen, das im Grunde als deren Infragestellung erscheinen könnte. Dieses sind die Geschehnisse der Affizierung, auf deren Denkbarkeit hier der Großteil des argumentativen Gewichts ruht. Denn nach herkömmlicher Auffassung gefährden sie eine Sicht des unveränderlich Eigenen, indem sie uns zur Reaktion veranlassen, die wir vielleicht weder geplant haben, noch für wünschenswert erachteten. Im äußersten Moment der Infragestellung unseres Selbst-Seins gewinnt diese Sicht des Eigenen ihre eigentliche Bestätigung. Denn wir werden in die Lage versetzt, uns selbst im Anderen und dieses an sich selbst zu erfahren. Angesichts des immensen Vorzuges, den das Denken der Affizierungen bietet, erscheint es fast unverständlich, dass es so selten für einen Entwurf wechselseitihttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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ger Einwirkung herangezogen wurde. Sogar das Gegenteil ist der Fall, denn wenn es berücksichtigt wurde, geschah es eher in Form einer negativen Bewertung. Nicht nur, dass Affizierungen nicht vollständig unserer Kontrolle unterliegen. Sie erreichen uns größtenteils auf sinnlicher oder emotionaler Ebene, also exakt in jenen Modi der Seins-Begegnung, die gegen den Primat unserer Rationalität zu sprechen scheinen. Der unschätzbare Gewinn, den die Argumentation durch die Berufung auf die Affizierbarkeit des Vorfindlichen erlangt, besteht in der Möglichkeit, Wechselverhältnis erfahrbar zu denken. Diese Chance überwiegt alle Einwände, die gegen die Akzentuierung des Bildes der Affizierung erhoben werden könnten, da sie momentan den einzig vorstellbaren Weg darstellt, Wechselwirkung zur Grundlage der Seins-Vergewisserung zu erklären. Dass es dabei zunächst nicht möglich ist, zwischen dem Selbst und dem Anderen zu unterscheiden und dadurch eine Hierarchisierung des Selben vorzunehmen, stellt sich als wichtigster Aspekt dieses Gedankens heraus. Denn die Annahme des Selben als Reflexions- und Aktionszentrum, wie sie letztlich in der früheren Existenzphilosophie vertreten wurde, kann auf dieser Basis nicht gründen. Das Selbst empfängt nicht weniger Affizierungen, als es selbst an Anderem hervorruft. Diese Feststellung klingt womöglich, nicht ungerechtfertigt, nach einer schlichten Gegenrechnung, bedeutet aber weitaus mehr als das. Sie weist auf die Faktizität sich ereignender Wechselwirkung hin, die als Funktionsmerkmal homogenen Seins verstanden werden kann. Ein Ertrag dieses Gedankens ist bisher noch nicht benannt worden, da es andere Schwerpunkte zu berücksichtigen galt. Doch nun ist der Raum geöffnet, um ihn zur Sprache zu bringen. Das Bild homogenen Seins, in dem sich gleichförmiges und gleichwertiges Vorfindliches berührt, erübrigt ein Erfordernis, für das die betrachteten Konzeptionen der Existenzphilosophie erst eigens eine Lösung finden mussten: Die Denkbarkeit des Einzelnen. Zu Beginn dieser Überlegungen konnten einige Elemente angeführt werden, die trotz teilweise deutlicher Differenzen der jeweiligen Darstellungen als Konsens existentiellen Denkens gelten können. Dazu zählt vor allem das Motiv des Einzelnen, ohne welches dieses Denken nicht wäre, was es ist. Aber auch Aussagen über dessen Vereinzelung im Zuge der Erschütterung, die die bisher bestehenden Bindungen an Gemeinschaften und deren normierenden Einfluss lösen, sind zu nennen. Letztlich besteht der Vollzug der existentiellen Bewegung in diesem Geschehen der Vereinzelung, was sich insofern fast von selbst erklärt, als sie sich in der Verwirklichung eigensten Selbst-Seins realisiert. Vor allem bei Franz Rosenzweig, auf dessen Bedeutung für die Entwicklung des existentiellen Denkens hingewiesen werden konnte, gibt es noch eine andere Sichtweise des Einzelnen, die ihn als leidendes Individuum zeigt. Angst und Verzweiflung werden etwa von Martin Heidegger und Karl Jaspers als Indikatoren des Selbst-Sein-Könnens präsentiert. Nur Heinrich Barth widmet dieser Facette des Bildes vom Einzelnen kaum Aufmerksamkeit, was deshalb verständlich ist, weil er auch den Moment der Erschütterung offenbar für nicht ausschlaggebend hält, um das Entstehen und den https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Vollzug der existentiellen Bewegung erklären zu können. Der Gedanke homogenen Seins erübrigt nun die Notwendigkeit, die Vereinzelung des Menschen im Verlauf der Existenz erörtern zu müssen. Denn das Vorfindliche dieses Seins ist zu keinem Zeitpunkt anders als in Vereinzelung zu denken. Zwei unterschiedliche Perspektiven kreuzen sich hier, so könnte eingewendet werden. Auf der einen Seite die Lösung des Einzelnen aus bestehenden Konventionen und Normen, auf der anderen Seite der Status des Vorfindlichen im Sein. Tatsächlich fügen sich beide Perspektiven zu einer gemeinsamen Blickrichtung. Der Moment der Vereinzelung, wie ihn Karl Jaspers oder zuvor Søren Kierkegaard beschreiben, ist nur Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch als Selbst reflektieren kann. Diese Möglichkeit stellt den Kern existentiellen Verständnisses dar, verbunden mit der Überzeugung, dass ein solches Reflektieren nur in der Befreiung von zweckorientiertem Denken erfolgen kann. Die Vorbehalte, die Heinrich Barth gegen das Denken des Seins erhob, das er mit dessen ontologischer Deutung gleichsetzte, resultierten aus seiner Auffassung, der Einzelne könne in einem solchen Denken nicht erfasst werden. Diese Feststellung müsste mit ihrer ganzen Schwere gegen die hier vertretene Sichtweise sprechen, kann aber mit einiger Gelassenheit zur Kenntnis genommen werden, da sie das Seins-Denken in unserem Zusammenhang nicht trifft. Dessen Charakteristikum besteht darin, dass es den Begriff des Seins nicht als Anzeige von Faktizität versteht, die sich auf das gemeinsame Merkmal des Faktischen – sein Sein – richtet. Stattdessen fungiert der Begriff zur Bezeichnung offener Addition. Diese wird nicht dadurch denkbar, dass sie das Faktum der Vorfindlichkeit benennt, sondern dass sie das je einzelne Vorfindliche in seiner konkreten Bezogenheit auf Anderes begreift. Damit wäre die formale Seite des Gedankens vom homogenen Sein angedeutet. Die andere Seite, die nicht minder wichtig für unsere Argumentation ist, zeigt sich in der immer wieder hervorzuhebenden Vorstellung der Affizierbarkeit des Vorfindlichen. Hierin liegt letztlich die Gewähr für dessen Einzelheit, denn nur Einzelnes vermag sich zu berühren. Diese Worte lassen beim ersten Lesen vielleicht nicht vermuten, dass sie Teil eines philosophisch ausgerichteten Gedankenganges sind. Wie sollte es schließlich anders möglich sein? Das nochmalige Lesen gibt den Blick auf einen Aspekt frei, der im vorliegenden Kontext nicht zu unterschätzen ist. Es handelt sich um die Realisierungsmetapher gleichförmigen Seins. Um es noch einmal zu betonen: Wenn hier von Affizierungen die Rede ist, sind damit Berührungen taktiler, psychischer und intellektueller Natur gemeint. Sie können als Bereicherungen oder auch als Beeinträchtigungen empfunden werden, inspirierend wirken oder auch Ablehnung und Widerstand hervorrufen. In welchem Artikulationsmodus sie auch immer vorgestellt werden, stimmen sie doch darin überein, dass sie stets nur von Einzelnem ausgehen und von Einzelnem empfangen werden können. Wird diese Sichtweise so konsequent wie möglich verfolgt, ergibt sich, dass der einzelne Mensch sich letztlich nicht anders als individuell affiziert erleben kann. Für die Möglichkeit seiner Selbsthttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Reflexion bedeutet dies, dass er sich als affizierbar erfasst. Die Lösung aus gesellschaftlichen Konventionen, die in Konzeptionen des früheren existentiellen Denkens einigen Raum einnahmen, stellte dort die Möglichkeit von Selbst-Reflexion dar. Ihr Vollzug, das heißt die Verwirklichung des Existieren-Könnens, konzentriert sich dann auf die Reflexion des isolierten Selbst. Die Entgegensetzung der beiden Bewegungen der Existenz, die gerade vorgenommen wird, scheint zu diesem Zeitpunkt überdeutlich zu sein. Auf der einen Seite die Fokussierung differenzierender Selbst-Sicht, auf der anderen Seite die Selbst-Sicht durch die Erfahrung des Anderen. Dass es sich nicht um entgegengesetzte Bewegungen handelt, wurde bereits betont und bestätigt sich auch jetzt noch einmal. Denn in beiden Vorstellungen geht es um die Frage der Selbst-Sicht, die jedoch in unterschiedlicher Weise beantwortet wird: hier in der Weise exkludierenden, dort in der Weise integrativen Denkens. Bisherige Konzeptionen der Existenzphilosophie setzten auf das Mittel der Separation des Einzelnen aus seinen Welt-Bezügen, um ihm Raum zur Reflexion seines Eigen-Seins geben zu können. Hier wird hingegen für die Einbeziehung des Einzelnen in den Verbund des Gleichwertigen plädiert, wodurch sein Eigen-Sein in seinen Bezügen zum Anderen reflektierbar wird. Was bedeutet vor diesem Hintergrund nun die Aussage, Selbst-Sein im Sinne der Vorfindlichkeit sei durch das Einstehen für das Andere gekennzeichnet? Erneut kommt der Aspekt der Gleichwertigkeit zum Tragen. In philosophischer Terminologie und Theorie scheint es nicht immer einfach zu sein, Relationen des Menschen zu Anderem als ausgewogene Beziehung zu denken. Zur Verdeutlichung dieser Annahme kann noch einmal auf das Werk des Emmanuel Lévinas hingewiesen werden, das in so außergewöhnlicher Intensität vor dem Bestehen ungleicher Relationalität im Denken der westlichen Rationalität warnt. Seiner Auffassung nach besteht stets die Priorisierung der Deutung vom Selben, von dessen Selbst-Bezüglichkeit jede Begegnung mit Anderem, das in seiner Darstellung vornehmlich der Andere ist, bestimmt wird. Weit davon entfernt, hierin lediglich ein erkenntnistheoretisches Problem zu sehen, erklärt er es zum Grund des Versagens von Ethik, wie es sich in der jüngsten Vergangenheit in sprachlos machendem Ausmaß gezeigt hat. Auch wenn die Kennzeichnung der vom Subjekt ausgehenden Einstellung dem Anderen gegenüber mit Begriffen wie Gewalt und Ungerechtigkeit radikal wirken mag, was Lévinas gewiss so intendierte, spiegelt sich in seiner Sichtweise ein Merkmal philosophischer Interpretationen von Bezogenheit, das noch immer eine Herausforderung für unser Denken darstellt. Noch immer stehen wir vor der Aufgabe, Strategien zur Vermeidung des Äußersten zu formulieren, das sich in graduellen Abstufungen als alltägliche Erfahrung im Nimbus des Selbstverständlichen präsentiert. Und stärker als es für Lévinas absehbar war, erleben wir die Bedrohung unseres Lebensraumes, die längst schon keine Befürchtung mehr, sondern erschreckende Wirklichkeit ist. Es gilt daher alle argumentativen Möglichkeiten anzuwenden, um eine Theorie der Gleichwertigkeit im Sein zu stützen. Hier findet der Gedanke des Einstehens für das Andere https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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III. Sein
seinen Platz. Denn er zeigt die Möglichkeit auf, in einem Sein, das durch relationale Ausgewogenheit gekennzeichnet ist, von jeder Warte aus die Position des Anderen teilen zu können. Mehr noch als im Bild der Stellvertretung, dem in den Texten des Emmanuel Lévinas zentrale ethische Bedeutung zukommt, geht es beim Einstehen für das Andere darum, dessen eigene Wertigkeit aus der Bedingtheit seines Seins zu erschließen. Gibt es so etwas wie eine Ethik der Erkenntnis, dann liegt sie hier. Sie äußert sich in der größtmöglichen Bereitschaft, Sein aus der Perspektive des Anderen mit eben derselben Berechtigung zu reflektieren, wie aus der eigenen. Denn darin besteht die Forderung, die wir an uns selbst in dem Moment stellen, in dem wir uns nicht in der Mitte, sondern im Kreis des Anderen wissen. Doch es ist nicht nur Forderung, sondern auch Ermöglichung einer multiperspektivischen Sicht auf das Sein, wenn wir uns im Denken in die Lage des Anderen versetzen und betrachten, was er sieht, wenn er seinen Blick auf uns richtet. Wird Sein als Ermöglichungsfeld perspektivischer Wechselstellung verstanden, greift das Einstehen für das Andere weiter als Mitleid oder Empathie. Haltungen, die von ihnen gekennzeichnet sind, nehmen wir für gewöhnlich dann ein, wenn es die jeweilige Situation eines anderen Menschen nachzuempfinden gilt. Anders verhält es sich bei Arthur Schopenhauers Deutung des Mitleids, das im Anderen dieselbe Daseinsverhaftung erkennt, die auch dem Mit-Leidenden nur zu vertraut ist. Das Einstehen für das Andere ist nicht auf ein emotionales Geschehen der Einfühlung festzulegen, denn es kann sich in jedweder Form ausdrücken. Aus der Warte des Anderen zu betrachten, was er sieht ! darin besteht die erkenntnistheoretisch und ethisch gleichermaßen relevante Möglichkeit, die uns der Gedanke des homogenen Seins des Vorfindlichen eröffnet. Darin liegt schließlich auch das Besondere gelingender Existenz. Dass der Begriff des Gelingens nicht unter Bezugnahme auf den Gedanken des Guten zu verstehen ist, hat sich gezeigt. In der Idee des Guten mag das Ziel unseres Strebens und das Maß unseres Wollens und Wirkens bestehen. Doch ist vom Gelingen die Rede, sprechen wir vom Vollzug des reflektierten Einstehens für das Andere. Daher stellt dieser Ausdruck keine überflüssige Verdoppelung des Gedankens der Existenz dar, der im Sinne ihrer Philosophie an sich schon das ausgezeichnete Sein markiert. Im Bild der Existenz sehen wir die Fokussierung des Selbst-Seins, doch im Bild gelingender Existenz die Reflexion des Selbst-SeinKönnens im Gesamt des Seins. Die Auffassungen der hier zu Wort gekommenen Denker stimmten trotz teils deutlicher Unterschiede darin überein, in der Existenz die ausgezeichnete Seins-Weise des Menschen zu sehen. Wer sie verwirklicht, entspricht ihrer Auffassung nach dem ihm Möglichen, womit bereits der Gedanke des Existieren-Könnens an sich gewürdigt ist. In der Frage, inwieweit für dessen Verifizierung die Berücksichtigung einer Konzeption des Seins erforderlich ist, weichen ihre Ansichten dann allerdings massiv voneinander ab. In solchen Entwürfen, die auf sie verzichteten oder sie sogar entschieden ablehnten, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Einstehen für das Andere
konnte der Eindruck nicht gänzlich verhindert werden, dass es sich bei ihrem Verständnis von Existenz um eine solitäre Entwicklungsmöglichkeit des Einzelnen handelt, die sich einem Anderen weder verdanken noch verpflichten will, sofern es sich nicht um das Transzendente handelt. Genau diese beiden Artikulationsweisen unseres Seins kommen nun aber zum Tragen. Sich dem Anderen im Sein zu verdanken, ist keineswegs Zeichen einer Minderung unserer ExistenzMöglichkeit, sondern deren wichtigste Qualität. Der hier vorgestellte Entwurf existenzphilosophischen Denkens kann auf drei Motive verzichten, die es, auch in seiner existentialistischen Form, bislang kennzeichneten: Erschütterung, Vereinzelung und Geworfenheit. Der Verzicht hängt jedoch von deren spezifischer Deutung ab. Für die Vorstellung der Erschütterung besteht sie darin, dass eine Isolierung aus den Weltbezügen unverzichtbares Merkmal einsetzender existentieller Bewegung ist. Damit hängt die Auffassung zusammen, dass Bezüge dieser Art grundsätzlich als hinderlich angesehen werden, um die Konzentration auf das eigenste Selbst-Sein erreichen können, die dessen Anzeichen ist. Dass Martin Heidegger in dieser Frage eine andere Position vertritt, wurde erkennbar. Der Gedanke der Vereinzelung bedeutet im bisherigen existenzphilosophischen Verständnis, dass nur über ihren Vollzug das Selbst-Sein ermöglicht wird, in dessen Verwirklichung das Wesensmerkmal des Menschen besteht. Mit dem Bild der Geworfenheit verbinden sich zwei Aspekte: zum einen die Unmöglichkeit, für unser Dasein Grund und Sinn zu benennen, und zum anderen das Empfinden der Haltlosigkeit in einem grund- und sinnlosen Sein. Hinzu kommt besonders im existentialistischen Verständnis das Gefühl der immensen Belastung, in diesem Dasein selbst für alle Entscheidungen verantwortlich zu sein, die zudem nicht nur für das eigene Tun zutreffen, sondern darüber hinaus für alle Menschen entscheidend sind. Wie ist es nun möglich, auf diese drei charakteristischen Merkmale existentiellen Denkens zu verzichten? Und wird das Denken, das sich dann zeigt, überhaupt noch als existenzphilosophisch zu bezeichnen sein? Unter Anwendung der vorgestellten Interpretation des Seins-Begriffes kann festgehalten werden, dass sich der Mensch im Sein nie anders als in Vereinzelung erlebt. Dieser Umstand kann durch den Hinweis auf seine Affizierbarkeit bekräftigt werden, die eine besondere Beschaffenheit seiner Welt-Relation offenlegt: Einzelnes begegnet Einzelnem. Wir befinden uns immer im grundsätzlichen Zustand der Bezogenheit auf Anderes, der sich situativ in Geschehnissen der Beziehung realisieren kann. In Momenten, in denen sich diese ereignen, steht jeweils das eine Besondere mit dem anderen Besonderen im Bezug, dessen Einmaligkeit und Einzigartigkeit dadurch gewährleistet wird, dass er auf dem Wege der Affizierung stattfindet. Es ist das Verdienst Martin Heideggers, auf das Faktum hingewiesen zu haben, dass im Umgang mit Vorhandenem, das zu Zuhandenem werden kann, eine wesentliche Form der Seins-Relation besteht. Sein Interesse galt dabei fundamentalontologischer Analyse, weshalb er auf ein weiteres Verfolgen dieses Ansatzes in Sein und Zeit verzichten konnte. An https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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dieser Stelle wird die Relevanz des Gedankens nun sichtbar, wonach jede Art der Bezugnahme auf etwas, sei sie beabsichtigter oder unbeabsichtigter Natur, dieses immer als etwas Besonderes betrifft und bestätigt. Es ist Franz Rosenzweig, der dieser Sichtweise in seinem Stern der Erlösung Raum gibt. Dort geht er allerdings davon aus, dass das dinglich Andere erst durch die Benennung als einzelnes Ding zur Geltung kommt, eine Auffassung, die hier trotz aller Bewunderung für die intellektuelle Authentizität dieses Denkers nicht geteilt werden kann. Denn sie entwirft, aus seiner Sicht ohne Frage intendiert, das Bild des Menschen, dem im Gesamt der Schöpfung die Aufgabe zufällt, sie durch Benennung zu strukturieren, worin Rosenzweig eine Fortsetzung des Schöpfungs-Geschehens sieht. Es wird deutlich geworden sein, dass im Gegensatz dazu hier mit den zur Verfügung stehenden Mitteln versucht wird, die Vorstellung menschlicher Sonderstellung im Sein zu relativieren. Folglich muss ein Weg gefunden werden, von der Überzeugung Abstand zu nehmen, erst der Mensch verleihe dem Dinglichen, dessen Vorstellung mit Heideggers Gedanken des Vorhandenen korrespondiert, die Spezifizierung des Besonderen, die es als Zuhandenes ausweist. Natürlich entscheidet er über Tauglichkeit und Gebrauch, doch gibt dieses Faktum keinen Anlass, auf eine exzeptionelle Position des Menschen im Sein zu schließen. Mit dem Aspekt menschlichen Umgehens mit Dinglichem, der an anderer Stelle intensiv zu reflektieren sein wird, berühren wir eine Erweiterung des Gedankens der Bezogenheit auf Anderes, der bisher über den Begriff der Affizierung erschlossen wurde. In deren Realisierungsformen ist es offensichtlich, dass stets Einzelnes auf Einzelnes wirkt. Mit Blick auf den Komplex des dinglich Anderen, das vom Menschen gestaltetes Anderes ist und damit zumeist einer funktionalen Konnotation unterliegt, ist die Unmittelbarkeit des Einzel-Bezuges nicht per se gegeben, sondern bedarf der Gestaltung. Auf diesen Punkt wurde an dieser Stelle hingewiesen, um einem Einwand zuvorzukommen, der die Gültigkeit des Bildes vom Einzelbezug des Vorfindlichen in Zweifel ziehen könnte. Denn es könnte vermerkt werden, dass dieser immer nur eine artifizielle Form der Bezogenheit darstellen könne, die letztlich doch durch die Sonderstellung des Menschen im Sein gerechtfertigt sei. Im Rahmen einer Betrachtung gelingender Existenz zeigt sich, dass die Relationsbereitschaft, die sie kennzeichnet, sich auf die Natur des Anderen in jedweder Form und Gestaltung bezieht und es in seiner Besonderheit zu erfassen sucht. Die Bedenken, ob wir dabei nicht aus Mangel alternativer Vorgehensweise zwangsläufig unsere Vorstellung davon, was das Besondere sei, auf das Andere projizieren, wurden bereits erwähnt. Unter Zuhilfenahme des Motivs der Affizierung kann dieser Befürchtung nun ein Minimum an Sicherheit entgegengehalten werden. Durch sie erfahren wir in unmittelbarer und grundsätzlich nicht manipulierter Form vom Anderen, da es uns im Positiven wie im Negativen berührt. Auf dieser basalen Ebene der Konfrontation greifen noch keine Auslegungen oder Interessen, Absichten oder Interpretationen, die unsere Sicht des Anderen bestimmen könnten. Deshalb ist es von immenser Bedeutung, für die https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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Erfahrung des Anderen im Sein eine Form zu benennen, der wir den Begriff der Unmittelbarkeit beilegen können. Denn auf ihr basiert die Vorstellung der SeinsVersicherung, die für die Annahme der Gewissheit im Sein unverzichtbar ist. Sie spricht, um auf die drei existenzphilosophischen Motive zurückzukommen, gegen die Notwendigkeit, von Geworfenheit im Sinne grund- und sinnlosen Seins sprechen zu müssen. Denn das Andere, dessen Vorfindlichkeit ich mich versichere, ist mir Grund meines situativen Seins und Sinn meiner gelingenden Existenz. Unter welchen Bedingungen kann ihr nun Gelingen bescheinigt werden? Verdoppelt sich damit die Ansicht, in der existentiellen Bewegung die dem Menschen eigentümliche Seins-Weise zu sehen, die zwangsläufig als erstrebenswert und an sich wertvoll betrachtet wurde? Wird das Gelingen dieser Bewegung als attributive Präzisierung hinzugefügt, bedeutet das keine zusätzliche Auszeichnung, sondern eine Zustandsbeschreibung. Wie sich gezeigt hat, korrespondiert die Deutung der Existenz, die von den vorgestellten Denkern in weitgehender Einhelligkeit vertreten wird, dem traditionellen Gedanken des Wesens, das das Eigenste des Menschen darstellt. Mit dieser Sichtweise ist die Auffassung verbunden, dass die Bewegung, die als existentiell verstanden wird, zu einem Ziel führt, dessen Erreichbarkeit im Rahmen des dem Menschen Möglichen liegt. Dass sie im Zuge ihrer Realisierung mit einer zumindest vorübergehenden Separierung vom Anderen, das repräsentativ in Form der Welt-Bezüge in Erscheinung tritt, einhergeht, zeigte sich dabei als eine der vertretenen Positionen. In jedem Fall erfolgt die Bestimmung dessen, was den Menschen kennzeichnet, über den Abgleich mit dem übrigen Seienden, so dass das letzte ihn differenzierende Merkmal fixiert wird. Im Falle der Existenzphilosophie wird dieses nicht als Vernunftbegabtheit, sondern als Existenz-Fähigkeit gewertet, deren Verwirklichung durch die Bildung des Selbst-Seins zu erreichen ist. Ob dieses in einem einmaligen Verwirklichungsmoment als aktualisiert angesehen werden kann und folglich keiner fortgesetzten Reflexion bedarf, wäre eine Frage, die mit Blick auf die ausgewählten Texte gestellt werden könnte. Da das Selbst-Sein als Reflexion gedeutet wird, spricht Einiges dafür, dass sich diese nur im Realisierungsmodus ihrer Konzentration auf sich selbst und, selten formuliert, auf das Dasein insgesamt erhalten kann. Interessant ist, dass für die existentielle Bewegung keine Begründung und keine explizite Ausweisung als Akt im Sinne des Guten vorgenommen wurde. Beides resultierte nahezu selbstverständlich aus ihrer wesensadäquaten Deutung. Wird nach dem Gelingen der Existenz gefragt, greift zunächst dasselbe Modell ausgesetzter Rechtfertigung, insofern der Fokus auf dem Begriff der Existenz liegt. Denn ihre Bedeutung für das Selbst-Verständnis des Menschen besteht nach wie vor. Doch ist es nun erforderlich, auch deren Bedeutung für das Andere im Sein zu bedenken. Noch einmal sei darauf verwiesen, dass sie in den bestehenden Konzeptionen nicht gänzlich ignoriert wurde, sondern dass ihr nachgeordnete Relevanz zu bescheinigen wäre. Für die Autoren, die hier zu Worte kamen, war die Argumenhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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tation in dem Moment erfüllt, in dem das Selbst-Sein-Können als Möglichkeit des Menschen nachgewiesen, nicht begründet worden war. Mit der erweiterten Perspektive, die nicht nur nach dem Selbst-Sein, sondern auch dem Sein in Relation fragt, rückt die Überlegung in den Vordergrund, welche Bedeutung unserem Existieren-Können im Kontext des Seins zukommen kann. Der Begriff der Existenz in erweiterter Auslegung erweist sich damit von Anfang an als ethisch bedeutsam, wenn Ethik als Denken relationalen Seins verstanden werden kann. Wir vergewissern uns unseres eigenen Seins wie auch des Seins des Anderen in unmittelbarer Weise und sind dabei in jedem Augenblick auf die Präsenz des Anderen, in welcher Form es auch erscheint, angewiesen. Denn anders als in den großen Konzeptionen der Vergangenheit wäre es irrig zu glauben, Selbst-Erfahrung wäre in Isolation von dem Vorfindlichen, in dessen Kreis wir uns befinden, vorstellbar. Stattdessen ist es als Ermöglichungsgrund unserer Reflexion anzusehen, die sich nicht als Seins-differenzierendes Kriterium zu erkennen gibt, wie es bisher vorzugsweise gedacht wurde. Sie ist vielmehr als Wirken des integrativen Bewusstseins anzusehen, dass das Eigene in Korrespondenz zum Anderen und dieses in Korrespondenz zum Selben begreift. Für diese Arbeit der Reflexion gibt es, ihrer spezifischen Natur entsprechend, weder einen Moment, der als ihr Anfang, noch ein Ende, das als ihre Vervollständigung verstanden werden könnte. Hierfür spricht vor allem die extreme Situations-Bindung, in der die Reflexion gelingender Existenz sich zeigt. Dabei soll keineswegs verschwiegen werden, dass hierin aus anderer Warte betrachtet ihre größte Schwachstelle bestehen könnte. Denn in ihrem Bezug auf konkrete Parameter des situativen Geschehens, innerhalb dessen sich existentielle Reflexion ereignet, ist sie deren Bedingtheit fast vollständig unterworfen. Hier von Unterwerfung zu sprechen, erinnert jedoch an eine wertende Sichtweise der philosophischen Tradition, von der es sich allmählich zu verabschieden gilt. Denn die Formulierung erweckt sofort den Eindruck, dass es sich um ein negativ konnotiertes Verhältnis ungleicher Natur, das in erster Linie Abhängigkeit ausdrückt, handelt. Wenn wir so denken, lassen wir jedoch das Potential, das das Bild situativer Reflexion bietet, ungenutzt. Es zeigt sich in der Möglichkeit, die Vorstellung der Linearität, wie sie den frühen Konzepten der existentiellen Bewegung zugrunde liegt, in die Vorstellung kontinuierlicher Aktualisierung zu verwandeln. Was ist damit gewonnen? Der wichtigste Vorzug wird darin erkennbar, dass diese Bewegung nun als eine unabgeschlossene Vollzugsform relationalen Seine interpretiert werden kann. Wenn der Begriff des Wesens in diesem Zusammenhang auch weiterhin verwendet werden sollte, könnte seine Umdeutung vom Endpunkt einer Entwicklung, der teleologisch zu denken wäre, zum Vollzugscharakter seiner Realisierung genannt werden. Diese annehmen zu können ist deshalb im erweiterten Verständnis von Existenz entscheidend, weil dadurch die Bezogenheit der Reflexion auf das Andere, die immer nur situativ erfolgen kann, wenn dieses tatsächlich als das Andere des Seins
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Einstehen für das Andere
und nicht dessen Abstraktion gedeutet wird, in das Bild sich entwerfender Existenz integriert werden kann. Das Motiv des Entwurfes im Kontext der Existenz ist gewiss nicht neu. Es zählt vielmehr zu den Grundmustern ihrer Philosophie, wie der Blick in die ausgewählten Texte veranschaulichen konnte. Die Bildlichkeit des Entwurfes wird nun erneut relevant, weil sie in besonderem Maß die Prozesshaftigkeit der existentiellen Bewegung illustriert, deren Unabgeschlossenheit wichtiges Kriterium ihrer Denkbarkeit wird. Denn nur als unabgeschlossen kann situative Reflexion, die diese Bewegung verwirklicht, gedacht werden, weil jede neue Situation sie in ein bis dahin nicht bedachtes Feld reflektierender Erschließung des Anderen führt. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass darin hier eine Chance, keine Minderung reflexiven Wirkens gesehen wird. Sie besteht darin, dass existentielle Reflexion in jedem Augenblick in Relation zum Anderen steht und dessen Präsentationsformen in unmittelbarer Weise erfassen kann. Diese Möglichkeit, sich jeweils neu auf die faktischen Gegebenheiten im Sein einlassen zu können, erweist sich als bedeutendstes Merkmal jenes Gelingens, das als Artikulationsmodus der Existenz verstanden wird. Denn hier wird denkbar, was sich bisher als so widerständig erwiesen hatte, nämlich das In-Relation-Treten des Einzelnen. Dass sich dieses faktisch ereignet, ist dabei niemals Bestandteil des Problems gewesen. Wer wollte auch bestreiten, dass Beziehungen jedweder Art Bezugnahmen des Einen auf ein Anderes sind? Doch im Denken eine Formel zu finden, die Aussagen über den Einzelnen, den Kern-Begriff der Existenzphilosophie, erlaubte, schien über weite Strecken ihrer Geschichte nahezu ausgeschlossen zu sein. Indem nun der Einzelne als der Vorfindliche im Sein gedacht wird, der durch die Vergegenwärtigung des Anderen erst eigentlich zur Selbst-Reflexion befähigt wird, hebt sich die argumentative Barriere, die eine theoretische Fixierung bisher erschwerte, ein Stück weit. Nicht leichtfertig wurde auf diesen Seiten ein Bild des Menschen skizziert, das ihn nicht primär als den intellektuell Ansprechbaren, sondern den Berührbaren zeigt. Denn natürlich ist offensichtlich, dass er damit in weitaus stärkerem Maße zu einem Wesen in der Zeit erklärt wird, als es bisher dem Konsens philosophischer Deutungen entsprach. Sein Sein und Existieren wird an die Veränderbarkeit des Vorfindlichen gekoppelt, in dessen Kreis er sich befindet, ganz gleich, ob er sich an diesem für ihn noch so ungewohnten Ort reflektiert oder nicht. Diese Feststellung markiert die wohl größte Veränderung in der Sicht des Menschen, die mit seiner Positionierung im Kreis des Vorfindlichen einhergeht. Für die Bestimmung der Art seiner Selbst-Erfahrung ist es irrelevant, ob er sie aktuell reflektiert oder nicht. In beiden Fällen würde er sich in seinen Affizierungen erfahren und folglich als affizierbar erfassen. Affizierbarkeit ist als Testat seiner Selbst-Reflexion erkennbar, die den Einzelnen nicht einen Millimeter von dem Sein, in dem er sich vorfindet, distanziert. Ist damit der Bezug zum Anderen konstitutiv für die Selbst-Reflexion, ist diese dem sie Konstituierenden stets verbunhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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den und verantwortlich. Um diesen letzten Schritt gehen zu können, waren mehrere hundert Seiten der Meditation über die Begriffe der Existenz und des Seins erforderlich, ein großer Aufwand, um eine im Grunde selbstverständliche Folgerung formulieren zu können. Die entscheidende Frage, die in den Konzeptionen von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas zum Tragen kommt, bezieht sich auf die Begründung der Verantwortlichkeit, die sie mit dem Dasein gleich ursprünglich denken. Dass gerade nur diese beiden Namen genannt werden, liegt daran, dass weder Martin Heidegger noch Karl Jaspers noch Heinrich Barth dieser Frage besondere Aufmerksamkeit widmen. Für Sartre, dessen Existentialismus im Kontext des postexistentiellen Denkens zu betrachten ist, besteht die Herausforderung, das Handeln des Menschen in einem Ausmaß zu diskutieren, dem keiner der drei Denker auch nur ansatzweise nahekam. Nicht aus Achtlosigkeit, so ist zu ergänzen, sondern weil sie darin keinen Gegenstand ihres philosophischen Portfolios sahen. «Handeln heißt die Gestalt der Welt verändern»,570 so lesen wir in Das Sein und das Nichts, und erinnern uns an Sartres Auffassung, dass wir durch unser Nichtungsvermögen die Fülle des unstrukturierten Seins parzellieren und damit für uns handhabbar erscheinen lassen. Weite Passagen seiner Schrift widmet er den Weisen des nutzenden Zugriffs, durch den wir Utensilitätskomplexe schaffen, die Seiendes für uns bedeutsam werden lassen. Noch umfangreicher sind aber seine Ausführungen zur Bedeutung des anderen Menschen, in dessen Blick wir jene Versicherungsgewähr unserer Selbst-Reflexion finden, die uns seiner Ansicht nach aufgrund der Zeitstruktur unseres Daseins nicht zur Verfügung steht. Zwei wichtige Etappen auf dem Weg, der zu unseren aktuellen Überlegungen führt, sind damit markiert, denn in beiden Fällen geht es um die Relevanz der Relationalität im Sein. Und doch stimmen diese Überlegungen nicht mit seinen Ansichten überein. Denn dort wird in weitaus stärkerem Maße Wert auf die Aktivität des Menschen gelegt, durch die dieser in das Sein eingreift und es konturiert. In Erweiterung dieser Auffassung besteht Vorfindliches immer schon in je eigenen Konturen, deren Bildung nur im Falle artifizieller oder technischer Produktionen vom gestaltenden Willen des Menschen abhängt. Doch wichtiger als dieser Bereich, der wie kürzlich festgestellt, einen besonderen Kontext innerhalb des Vorfindlichen bildet, ist der große Zusammenhang, in dem der Einzelne mit dem Anderen steht, das sich ihm darbietet oder entzieht, ihn erfreut oder inspiriert, herausfordert oder verletzt. Sartres Auffassung nach gilt die Frage nach dem Handeln in erster Linie den Handlungen des Menschen in der Gesellschaft. Natur scheint für ihn, ganz anders als für Albert Camus, kein vorrangig zu bedenkendes Sujet philosophischer Theoriebildung zu sein. Seine Erklärung der Verantwortlichkeit richtet sich daher in erster Linie auf die Verantwortung den Menschen gegenüber, die sich in derselben Daseins-Situation befinden, unter de570
Das Sein und das Nichts, S.753. https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Einstehen für das Andere
ren Bedingungen sie nicht selten zu leiden haben. Wie sollte von dort aus eine Ausweitung des Gedankens der Verantwortlichkeit auf das nicht-menschliche Seiende möglich sein? Solidarität ist Sartres Überzeugung nach eine rein humane Angelegenheit. Emmanuel Lévinas kommt in Totalität und Unendlichkeit auf das «Elementale» zu sprechen und thematisiert es unter dem Aspekt des Genusses, wobei er sogar das berühmte Bild des Badens im Meer aus Albert Camus’ Roman La Peste – Die Pest aufgreift. Bei Camus stellt es den eindringlichsten Moment der Einheit der Romanfigur mit der Natur dar, jenen kostbaren Augenblick, in dem das menschliche Wirken vor dem Geschehen-Lassen des Sich-Hingebens in den Hintergrund tritt. Doch zu einem Plädoyer für die Verantwortung dem Elementalen gegenüber entschließt sich Lévinas nicht, da auch für ihn die Bedeutung und die Gefährdung menschlicher Relationen am dringlichsten der Erörterung bedarf. Für uns steht die Relevanz beider Aspekte keinen Moment lang infrage, doch entbindet das nicht von der Notwendigkeit, eine Erklärung für Verantwortlichkeit zu finden, die das Andere in seiner ganzen Bandbreite berücksichtigt. Wiederholt wurde im Verlaufe dieses gemeinsam zurückgelegten Weges darauf verwiesen, dass sich Phasen im existentiellen Denken unterscheiden lassen. Ausgehend vom Denken der 1920er Jahre, in dessen Mittelpunkt das Ringen um den Gedanken des Einzelnen steht, der über das Konzept vom Selbst-Sein ermöglicht werden sollte, schließt sich die Phase des post-existentiellen Denkens an, das uns unter der Bezeichnung des Existentialismus bekannt ist. Vor allem Jean-Paul Sartre spürt Schwachstellen der Existenzphilosophie auf und versucht, sie innerhalb seiner Konzeption des Seins zu korrigieren. Dazu zählt auch die Aufnahme von Motiven, deren Diskussion in der ersten Phase nicht von zentraler Bedeutung gewesen ist, weil die Konzeptionen dort auf eine andere Bedürfnislage der Menschen zugeschnitten waren. Auch wenn die Ansichten von Sartre und Heinrich Barth manche Auffassung unterscheidet, greift doch auch Barth ein wiederum rund zwanzig Jahre später bestehendes intellektuelles Erfordernis auf und führt den Begriff des Transzendentalen in das existentielle Denken ein. Die Bruchstellen, die eine solche Fusion nicht verbergen kann, konnten in groben Zügen rekonstruiert werden. Die Möglichkeit, von Phasen dieses Denkens sprechen zu können, ist ein wertvoller Beleg für dessen Wandelbarkeit, die es unter Wahrung eines stabilen Kerns weniger Grundüberzeugungen bisher schon mehrfach demonstrierte. Im Bewusstsein der Kontinuität im Wandel kann nun von einer weiteren und gewiss nicht der letzten Phase gesprochen werden, die das existentielle Denken durchläuft. Nun geht es nach wie vor um das Bild des Einzelnen – des Einzelnen im Kreis des Anderen. Wer vor diesem Hintergrund Überlegungen zum Bezug des Einzelnen zur Gesellschaft erwartet, die sich etwa in Aussagen zu seiner politischen Funktion manifestieren, wird enttäuscht werden. Dazu liegen von Sartre Auskünfte vor, die hier nicht diskutiert werden sollten, weil es einen anderen Schwerpunkt zu bedenken gilt, nämlich die Begrünhttps://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
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dung umfassender Verantwortlichkeit im Sein. Im Grunde wäre hier nicht von Verantwortung dem Sein gegenüber zu sprechen, um den Eindruck zu vermeiden, es würde eine Kontrastierung menschlicher Verhaltensweisen vom Sein geben. Der zentrale Gedanke, der alle vorgetragenen Überlegungen begründet, besteht in der integralen Natur des Seins. Diese erfordert keine Suche nach seiner Ursache oder seiner Überschreitung im Denken. Die Vorstellung vom Sein wirkt wie ein in sich geschlossenes System, innerhalb dessen alle zu seiner Erklärung und Gestaltung erforderlichen Kriterien zu finden sind. In extremer Weise ist das Vorfindliche auf das Andere im Sein verwiesen, ohne das es weder selbst seiend noch sinnvoll seiend gedacht werden könnte. Da das Andere Grund meines Selbst-Seins ist, was mit dem Begriff des Grundes für etwas bezeichnet wurde, liegt in meiner Antwort an das Andere, das mich betrifft, der Sinn meines Seins. In der einen oder anderen Weise betreffen wir uns als die einander Anderen in jedem Moment des Seins. Mit der Formulierung der einander Anderen wird ein letzter Versuch unternommen, von einem Denken Abstand zu nehmen, das vom Selben, vom Eigenen oder vom Selbst seinen Ausgang nimmt. Die Gedanken der Gleichförmigkeit und Gleichwertigkeit des Vorfindlichen schufen hierfür die argumentative Grundlage. In einem Verständnis des Seins, das von diesen Gedanken getragen ist, erübrigt sich die Begründung von Verantwortlichkeit, da sie durch die Struktur des Seins angezeigt wird. Dass es vor diesem Hintergrund möglich wird, Verantwortung für alles Andere – den Menschen wie die Natur – zu denken, ist der wesentliche Ertrag dieser Seiten. Doch darf es nicht bei einem Verstehen bleiben. Daher ist der Begriff der Existenz in seiner erweiterten Bedeutung entscheidend. Dem Verstehen des Selbst-Sein-Könnens dienten die frühen existenzphilosophischen Theorien, auf die hier anhand einiger Beispiele Bezug genommen wurde. Das Selbst im Sein denken zu können, ist das Ziel existentiellen Denkens in der gegenwärtigen Phase. Da Selbst im Sein immer Sein in Bezogenheit ist, und diese sich in konkreten Bezügen situativer Bedingtheit artikuliert, ist existentielles Sein in jedem Augenblick Sein in Verantwortung. Diese Tatsache nicht nur zu verstehen, sondern dem Verstehen im Wollen und Wirken Ausdruck zu verleihen, ist Kennzeichen gelingender Existenz. Und da Existenz eben nicht mehr, wie noch zu Beginn der Entwicklung im 20. Jahrhundert, als Form separierenden Seins, sondern dessen relationale Verwirklichung zu begreifen ist, wäre es nicht einmal übertrieben, von gelingendem Sein zu sprechen. Denn der Begriff des Seins verweist auf die hypothetische Gesamtheit reflektierter Vollzugsmomente. Aus dieser Perspektive kann das Gelingen als die Übersetzung der Reflexion in den Verwirklichungsradius relationalen Seins verstanden werden. Denn es zeigt uns, wer wir sind, weil es uns vor Augen führt, wo wir uns befinden.
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Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?» https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4832-1 .
Gelingendes Sein Der wichtige Ertrag der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, die in den Schriften von Martin Heidegger, Karl Jaspers und Heinrich Barth entfaltet wird, besteht in der Konzeption des Selbst-Seins als Ziel existentiellen Werdens. Susanne Möbuß denkt in dieser Monographie Existenz philosophie weiter: Damit sich dieses Denken auch weiterhin bewähren und auf aktuelle Probleme anwendbar ist, erweitert sie es um die Darstellung des Selbst in seiner Relation zum Anderen. Hier rückt der Begriff des Seins in neuem Gewand in den Vordergrund: Nur gemeinsam mit dem Anderen kann Existenz zu gelingendem Sein werden.
Susanne Möbuß studierte Philosophie und Geschichte und lehrt an den Universitäten Oldenburg und Hannover. In ihren Veröffentlichungen beschäftigt sie sich mit Existenzphilosophie und Jüdischer Philosophie.
www.schwabe.ch
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