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German Pages [337] Year 2016
Susanne Möbuß
Existenzphilosophie Band 2: Das 20. Jahrhundert
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808009
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B
Susanne Möbuß Existenzphilosophie Band 2
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Existenzphilosophie und Existentialismus erscheinen häufig als Phänomene der Moderne, denen heute jedoch kaum noch Relevanz zukommt. Ihre vermeintliche Bindung an die Bedingungen ihrer Entstehung scheint einer fortdauernden Aktualität zu widersprechen. Die vorliegende Darstellung zeigt, daß das existentielle Denken ganz im Gegenteil eine Konstante der abendländischen Rationalität seit der Spätantike ist. Es wirkt als Korrekturmechanismus des philosophischen Diskurses, indem es kritisch die Entsprechung menschlicher Erwartung an Philosophie und deren Methodik und Formensprache reflektiert. Im ersten Band wird die Entwicklung dieses Denkens von Augustinus bis zu Friedrich Nietzsche rekonstruiert, im zweiten Band dessen komplexe Entfaltung im 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive ist es möglich, Funktions- und Strukturelemente der Existenzphilosophie zu benennen, die nicht als Mittel der Definition dienen, sondern die Kennzeichnung eines Denkens erlauben, dessen Bedeutung ungebrochen besteht.
Die Autorin: Susanne Möbuß wurde 1963 geboren, studierte Philosophie und Geschichte und unterrichtet seit 1990 an den Universitäten in Hannover und Oldenburg. Veröffentlichungen zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie und zur Existenzphilosophie.
https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Susanne Möbuß
Existenzphilosophie Band 2 Das 20. Jahrhundert
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Gudrun in Dankbarkeit
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz (PDF-E-Book): SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48720-4 ISBN 978-3-495-80800-9
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Inhalt
Vorwort
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9
Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Das 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Kritik an Philosophie . . . II.1 Karl Jaspers . . . . II.2 Martin Heidegger . II.3 Franz Rosenzweig . II.4 Emmanuel Lévinas
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21 21 26 29 31
III.
Vorbilder . . . . . . . . . . III.1 Karl Jaspers . . . . . III.2 Martin Heidegger . . III.3 Franz Rosenzweig . . III.4 Arthur Schopenhauer
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34 35 44 50 52
IV.
Sprache . . . . . . . . . . IV.1 Franz Rosenzweig . IV.2 Martin Heidegger . IV.3 Innehalten . . . . IV.4 Emmanuel Lévinas IV.5 Karl Jaspers . . . .
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57 57 58 65 68 71
V.
Was Philosophie sei . . . V.1 Franz Rosenzweig V.2 Martin Heidegger V.3 Karl Jaspers . . .
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76 76 82 87
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Inhalt
VI.
In die Welt treten . . . . . VI.1 Franz Rosenzweig . VI.2 Martin Heidegger . VI.3 Emmanuel Lévinas
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88 88 92 97
VII.
Unwohlsein im Sein . . . . VII.1 Emmanuel Lévinas VII.2 Martin Heidegger . VII.3 Franz Rosenzweig . VII.4 Martin Heidegger . VII.5 Karl Jaspers . . . .
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104 104 108 111 114 120
VIII.
Das Elementale . . . . . . VIII.1 Emmanuel Lévinas VIII.2 Martin Heidegger . VIII.3 Franz Rosenzweig .
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127 127 129 133
IX.
Miteinander oder Selbst-Sein . . . . . . . . . . . . . . IX.1 Franz Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . IX.2 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . .
137 137 150
X.
Welt, Sprache, Verantwortung . . . . . . . . . . . . . X.1 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . X.2 Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161 161 170
XI.
In Relation sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
XII.
Schuld XII.1 XII.2 XII.3 XII.4
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181 181 183 185 187
XIII. Sein oder Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII.1 Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . . . . .
196 196
XIV. Humanismus und Philosophie der Existenz . . XIV.1 Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . XIV.2 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . XIV.3 Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . .
215 215 217 223
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Karl Jaspers . . . . Martin Heidegger . Franz Rosenzweig . Emmanuel Lévinas
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Inhalt
XIV.4 Jean-Paul Sartre XV.
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Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV.1 Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . .
237 237
XVI. Handeln oder Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI.1 Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . XVI.2 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . .
253 253 260
XVII. Absurdität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII.1 Albert Camus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263 263
XVIII. Das neue Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII.1 Existenzphilosophie . . . . . . . . . . . . . . XVIII.2 Elemente des neuen Denkens – Funktion und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276 278
XIX. Im Geist des Komplementären . . . . . . . . . . . . . XIX.1 Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . .
298 298
Nachklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
320
Literatur
282
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Vorwort
E tudo o que se sente directamente traz palavras suas. Und in jeder unmittelbaren Empfindung schwingen seine Worte mit. (Fernando Pessoa)
Hatte sich eine Entwicklung des existenzphilosophischen Denkens seit der Spätantike beobachten lassen, die seine wesentlichen Elemente entfaltet und seine immanente Problematik enthüllt, zeigt sich im 20. Jahrhunderts eine bis dahin ungekannte Komplexität dieses spezifischen Philosophierens. Dessen Anspruch, als ein innerphilosophischer Korrekturmechanismus zu fungieren, besteht ungebrochen. Notwendig wird dessen Einsatz in der Überzeugung der hier vorgestellten Denker dann, wenn die westliche Rationalität ihnen keine zufriedenstellenden Antworten auf die Frage nach der menschlichen Existenz anzubieten scheint. Darin sehen sie jedoch die vorrangige Aufgabe von Philosophie. Im ersten Teil der Darstellung erfolgte eine Rekonstruktion der Genese dieses Selbstverständnis von Philosophie, weshalb er in chronologischer Form konzipiert war. Im zweiten Teil ändert sich die Perspektive der Betrachtung. Da innerhalb von nur rund fünfzig Jahren eine bemerkenswerte Dichte existenzphilosophischer Theorien entstand, werden diese in Form motivischer Überblendungen präsentiert, um so eine möglichst intensive Darstellungsbasis zu erreichen, die direkte Bezugnahmen und Vergleiche erlaubt. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des ersten Bandes wird es nun möglich, eine Festsetzung von jenen Funktions- und Strukturelementen vorzunehmen, die Existenzphilosophie kennzeichnen. Deren Ziel besteht nicht darin, ein historisches Phänomen der abendländischen Geistesgeschichte zu definieren, sondern Merkmale eines 9 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Vorwort
Philosophierens zu benennen, dessen Bedeutung gegenwärtig unvermindert besteht. Ein abschließender und sehr persönlicher Gedanke gilt an dieser Stelle den Studierenden, die mir seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder eines bestätigen: In seiner schönsten Form ist das Denken ein gemeinsames Geschehen.
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Rückblick
In der abendländischen Philosophie ist seit der Spätantike eine konstante Tendenz zu beobachten, die Begegnung mit der Welt und die Selbsterfahrung des Menschen in einem verknüpfenden Prozeß der Reflexion zu denken. Dieser Anspruch deckt sich nicht zwangsläufig mit dem Streben nach Erkenntnis der Wirklichkeit, wie er der philosophischen Praxis der jeweiligen Epochen entspricht. Immer wieder zeigt es sich daher, daß Denker in dem Wunsch, das besondere Verständnis der erkennenden Verweisung von Welt und Mensch adäquat darzustellen, als Kritiker einer Philosophie auftreten, deren Methodik und Instrumentarium sie bisweilen als ungeeignet betrachten. Mit teils atemberaubender innovativer Energie suchen sie einen eigenen Ausdruck für ihr Denken, das sich nicht problemlos den bestehenden rationalen Strukturen anfügen läßt. So entstehen theoretische Konzeptionen, die je nach intellektueller Entschlossenheit ihrer Schöpfer als Ergänzungen oder auch als regelrechte Gegenentwürfe zum aktuellen Diskurs fungieren. In einem Kriterium stimmen sie alle überein: Sie sollen Zeichen eines »Neuen Denkens« sein, das Philosophie dort ergänzt, wo sie vermeintlich zu erstarren droht. Das neue Philosophieren richtet sich in erster Linie gegen die Vorstellung, in einer durch Vernunft begründeten Systematik existentielle Erfahrungen fixieren zu können, wobei stets zu fragen ist, ob diese Bestimmung der Intention tradierter Philosophie gerecht wird. Wie immer die Antwort ausfallen mag, ist doch die Forderung einer Formensprache, die so variabel ist, daß sie das wandelbare Phänomen menschlicher Existenz objektivieren kann, ein bemerkenswertes Indiz philosophischer Selbstkorrektur. Für die Entscheidung darüber, ob Theorien dem jeweiligen Bedürfnis des Menschen entsprechen, kann es keinen absoluten Maßstab geben. Sie entspringt immer einer höchst individuellen Perspektive der Betrachtung, auch wenn sie bisweilen stellvertretend das Empfinden Gleichgesinnter
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Rückblick
spiegelt. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ist dieses in besonderem Umfang zu beobachten. In der ersten Phase jenes Denkens, das hier untersucht und mit dem Begriff der Existenzphilosophie bezeichnet werden soll, ist eine solche repräsentative Funktion kaum gegeben. Zwischen 500 und 1900, also zwischen dem Entstehen der Confessiones – Bekenntnisse des Aurelius Augustinus und dem Tod Friedrich Nietzsches, sind zwar immer wieder Artikulationen eines neuen Denkens festzustellen. Doch hat keine von ihnen zu einer nachhaltigen Beeinflussung der Regelhaftigkeit philosophischen Diskurses geführt, was jedoch keineswegs ihre Berechtigung und die tiefe intellektuelle Redlichkeit schmälert, der sie entstammen. Gerade der sporadische, aber zugleich kontinuierliche Ausdruck solcher Bemühungen kann als Indikator einer immer wieder durchbrechenden kritischen Reflexion der Arbeit des Philosophierens an sich gesehen werden. Wenn Nikolaus von Kues, Giovanni Pico della Mirandola, Baruch de Spinoza, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche versuchen, auf jeweils unterschiedliche Weise dem Begriff der Erkenntnis durch Vernunft eine andere Weise des Erkennens hinzuzufügen, die mehr erfassen, die weiter greifen und dem Menschen dadurch ein komplexeres Verstehen der Realität eröffnen soll, dann sind diese Bestrebungen im Moment ihrer Entstehung zwar als einzelne Erscheinungen zu betrachten. Im Verlauf der Zeit ergeben sie jedoch das Diagramm einer konsequenten Entwicklung. Was wollen diese Denker also erreichen? Sie wollen das Sein von Welt und Mensch nicht separierend bestimmen, indem die Erkenntnis der Welt durch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen bedingt wird, die sich auf Objekte konzentrieren kann, ohne jemals die eigene Subjektivität mitdenken zu müssen. Statt dessen besteht ihr Ziel darin, die Erfahrung des Eigenen und jene der Welt auseinander zu begründen, so daß ein Mensch in dem Erkennen der äußeren Wirklichkeit stets die innere Realität seiner selbst reflektiert. Ihr Denken rührt zwangsläufig an der überkommenen funktionalen Grundlage der Erkenntnistheorie, die Subjekt und Objekt kontrastiert, um aus dieser Differenzierung einen Begriff gültiger Wahrheit ableiten zu können. Es gilt aber auch der Methodik insgesamt, innerhalb dessen diese Scheidung vorausgesetzt und zugleich gefordert wird, nämlich der Verfahrensweise der Abstraktion. Ohne die Setzung eines erkennenden Subjekts wäre die Subtraktion eines rational gefaßten Bildes der 12 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Rückblick
Wirklichkeit nicht möglich. Gerade hierauf bezieht sich jedoch immer wieder die Kritik der Vertreter des Neuen Philosophierens: Sie bestreiten die Notwendigkeit und – was noch weitaus schwerer wiegt – den Sinn einer vom Sinnlichen der Welt abstrahierenden Erkenntnis. Denn ihrer Meinung nach entsteht so ein Bild des Realen, das allmählich an dessen Stelle tritt. Wird in Begriffen über die Welt gesprochen, die mittels Abstraktion gebildet werden, steht dieses Sprechen stets in der Gefahr, seinen Bezug zur Wirklichkeit einzubüßen. So ist es möglich, über das Gute, das Wahre, das Sein zu diskutieren, ohne damit im eigentlichen Sinne noch Aussagen über dasjenige zu treffen, das für den Menschen gut ist, ihm als wahr erscheint oder die Verfassung der Menschen in der Welt betrifft. In dieser Kritik stimmen alle vorgestellten Denker überein, auch wenn sie sie in variierenden Graden der Radikalität oder auch der Leidenschaft vortragen. Wie immer diese Einschätzung bewertet werden mag, ob als berechtigte Warnung vor einer zunehmenden Spezialisierung einer Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, oder als schwärmerische Versuche Einzelner, ihre eigene Befindlichkeit zum Grund philosophischer Reflexion zu erklären – eines zeigt der Blick in die Vergangenheit in jedem Fall –, es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung mit dem herrschenden Selbstverständnis von Philosophie nicht um Einzelphänomene, die zusammenhanglos auftauchen und unbeachtet wieder verschwinden. Vielmehr demonstrieren sie eine geistesgeschichtliche Entwicklung, der eine gemeinsame Intention innewohnt. Die frühen Ansätze dieses Philosophierens, wie sie im Zeitalter der Renaissance sichtbar werden, sind noch vollständig im argumentativen Rahmen religiösen Denkens verwurzelt. An der Präsenz Gottes besteht keinerlei Zweifel. Das menschliche Denken, das sich und die Welt in gegenseitiger Verschränkung zu fassen sucht, reflektiert sich immer auch in Göttlichem. Werden Gott, Mensch und Welt als Variablen einer komplexen Relation der erkennenden Beziehung berücksichtigt, sind diese drei als essentiell getrennt und doch nur ineinander und auseinander erfahrbar gedacht. Der Begriff des komplementären Denkens soll dazu dienen, die Relation der Verweisung, die Heterogenes in einem Prozeß der Erfahrung aufeinander bezieht, zu kennzeichnen. Im Werk Baruch de Spinozas beginnt sich das relationale Gefüge der drei Variablen deutlich zu verändern, womit es Ähnlichkeit zu jenem des Nikolaus von Kues zeigt. War für diesen das Konkrete in 13 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Rückblick
der Welt Ausfaltung des Göttlichen, so radikalisiert Spinoza diesen Ansatz, indem er die Begriffe von Gott, Welt und Mensch dem einen Terminus der Natur subsumiert. Das absolut Trennende, das bislang göttliches und menschliches Wesen differenzierte, da ersteres als schaffend, letzteres als geschaffen zu betrachten war, reduziert er zu einem relativen Unterscheidungsmerkmal. ›Schaffend‹ und ›geschaffen‹ werden Kennzeichnungen ein und derselben Vorstellung von Natur. Damit nähern sich die drei Variablen der existentiellen Relation schon so weit aneinander an, daß es möglich ist, ihr Bestehen mit dem einen Begriff des Seins zu bezeichnen. Der Gedanke dieses Seins impliziert noch unverzichtbar die notwendige Existenz Gottes, hat deren Annahme aber bereits in maximaler Weise der Denkmöglichkeit eines einheitlichen Seins implantiert. Wird die hier aufgezeigte Entwicklung auch als die Geschichte jener Emanzipation gewertet, in der sich aus dem dualistischen Bild von göttlicher und kreatürlicher Realität der Begriff eines einheitlichen Seins formiert, so erweist sich die Leistung Arthur Schopenhauers als ein weiterer Schritt auf dem Wege dieser Umformung. Die Voraussetzung eines göttlichen Schöpfungsaktes der Welt ist für ihn unnötig geworden, da er diese als Erscheinung eines vitalen Prinzips deutet, das sich in unterschiedlichen Ausprägungen in jedem Veränderungsprozeß des Lebendigen und damit in jeder Gestaltung des Lebens manifestiert. Mit dem Denken Friedrich Nietzsches erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Das Sein, dessen Denkbarkeit sich aus der vormaligen Bindung an den Gedanken des Göttlichen gelöst hat, wird nun vollends als Produkt kontingenter Prägung verstanden. Sein Begriff evoziert mithin keinerlei mögliche Bestimmbarkeit des von ihm Bezeichneten mehr, sondern wird als Erzeugnis menschlicher Introspektion enthüllt. Von den drei ursprünglichen Termini, in denen sich der Weltbezug des Menschen darstellen ließ, bleibt am Ende des 19. Jahrhunderts lediglich jener des Menschen übrig, da Nietzsche die Existenz Gottes leugnet und die Relevanz der Erfahrbarkeit der Außenwelt fast vollständig hinter der Konzentration auf die innere Wirklichkeit des Menschen, primär in Form seines Unbewußten, zurücktreten läßt. Nietzsches Interesse gilt nicht mehr einer reinen Ontologie, sondern deren Genese im menschlichen Bewußtsein. In dieser ontisch-individuellen Doppelstruktur der Thematisierung des Seins liegt die Begründung des Begriffes der Existenz. 14 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Rückblick
Dieser soll der Tatsache Rechnung tragen, daß auch eine bloße Konzeption vom Sein niemals den Erwartungen gerecht werden kann, die das neue Denken an Philosophie stellt. An die Stelle der Theorie vom Sein tritt so die Lehre von der Existenz. Auf sie bezieht sich die Hoffnung jener Denker, die nun als Existenzphilosophen bezeichnet werden sollen, Ausdruck der simultanen Erfahrbarkeit von Welt und Mensch sein zu können. Auf ihr lastet jedoch auch das ganze Gewicht eines neuen philosophischen Begründungszusammenhanges des menschlichen Welt- und Selbstbezuges, der zu speziell ist, als daß er in den Formen und der Methodik der tradierten Philosophie entwikkelt werden könnte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Begriff des Seins soweit von seinen religiösen Implikationen getrennt, daß er zur Grundlage einer Betrachtung der Existenz werden kann. Gleichzeitig hat die Vorstellung vom Sein durch ihre Lösung von religiösen Bezügen jede wertende Beurteilbarkeit eingebüßt, ist nur noch Bezeichnung der Tatsache, daß etwas ist. Warum es ist, ob es etwas Bestimmtes ist und eventuell einer Veränderung fähig sein kann, schließt eine Aussage über das Sein nicht mehr ein. Solange das Wissen um die Präsenz Gottes in jedem Denken der Welt enthalten war, konnten diese Fragen stets unter Verweisung auf ihn, seine Schöpfertätigkeit und seine Idee bei der Erschaffung des Menschen beantwortet werden. Nun stellt sich folgende Situation dar: Der Mensch kann sich selbst und die Welt, in der er lebt, denken, ohne sich dabei auf religiöse Überzeugungen berufen zu müssen – ohne sich jedoch auch auf sie berufen zu können. Der euphorische Traum manches Denkers der Renaissance, der im Menschen den Gestalter der Wirklichkeit zu sehen wagte, ist Realität geworden. Doch in welcher Form soll ein Sein gestaltet werden, daß grund- und ausrichtungslos gedacht wird? Wird Nietzsche als letzter Repräsentant der ersten, der vorbereitenden Phase des existentiellen Denkens gesehen, ist die Entwicklungsrichtung seiner Ansicht nach eindeutig. Der Mensch strebt über sich hinaus. Doch ist dieses »Hinaus« noch in irgendeiner Weise bindungsfähig, vermag es noch, den Bezug des Menschen zum Sein um ihn zu reflektieren, der in den ersten Texten der vorgeführten Entwicklung von so zentraler Bedeutung war? Mit Blick auf die mögliche weitere Entwicklung des existentiellen Denkens stellen sich folglich vier Fragen: Bewahrt es sich sein Philosophie-kritisches Potential, das es ursprünglich auszeichnete? Wie interpretiert es den Begriff des Seins? Ist in der Bestimmung 15 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Rückblick
von Existenz der komplementäre Charakter der Relation von Welt und Mensch erhalten? Gelingt es dem ungebundenen Denken, eine selbstgewählte Bindung im Sinne ethischer Ausrichtung einzugehen? Daß die Position Søren Kierkegaards bisher nicht erwähnt wurde, erklärt sich durch die besondere Struktur seines Denkens. Dessen Ziel besteht nicht im Entwurf eines einheitlichen Seins, das zum Existenzraum des Menschen werden kann, sondern in der Wahrung jener essentiellen Differenz, die göttliche und kreatürliche Realität scheidet. Innerhalb dieser deutlich im Glauben wurzelnden Konzeption der Wirklichkeit akzentuiert Kierkegaard die menschliche Individualität und Entscheidungskompetenz als Bedingungen religiöser Lebensführung jedoch in solch bemerkenswerter Originalität, daß sie zugleich als Voraussetzungen existentiellen Selbstentwurfes betrachtet werden können.
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I. Das 20. Jahrhundert
Während in den vergangenen 1500 Jahren nur vereinzelt Ansichten formuliert wurden, die als existenzphilosophisch betrachtet werden können, kommt es seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer vermehrten Artikulation vergleichbarer Positionen. Jetzt wird der Begriff der Existenzphilosophie zur Klassifizierung einer bestimmten Tendenz gegenwärtigen Denkens ersonnen und entblößt zugleich seine ganze problematische Natur. Denn es zeigt sich, daß kaum ein Denker eine entsprechende Charakterisierung seiner Philosophie widerspruchslos akzeptiert. Das vielleicht auffälligste Beispiel hierfür ist die Weigerung Martin Heideggers, die er 1937 Jean Wahl gegenüber artikuliert, 1 jenem Interpreten, der maßgeblich zur Beachtung der deutschen Philosophie in Frankreich beitrug. Auch Karl Jaspers verwahrt sich gegen eine Vereinnahmung als Existenzphilosoph, wenn auch aus anderen Motiven als Heidegger, und weist damit zugleich all jene Meinungen zurück, die ihrer beider Denken einen gleichen Ursprung attestieren. 2 In ähnlicher Weise bestreitet Jean-Paul Sartre eine Zuordnung seines Philosophierens zum Existentialismus, was keineswegs verhindern kann, daß er noch immer als dessen berühmtester Repräsentant erscheint. Was also macht die Begriffe der Existenzphilosophie und des Existentialismus für ihre vermeintlich prominentesten Vertreter offenbar so suspekt, daß sie sich zu distanzierenden Stellungnahmen
Der Brief wurde abgedruckt in: Bulletin de la société française de philosophie, 37 [1937], S. 193. 2 In einem Brief an Martin Heidegger vom 06. 02. 1949 schreibt Jaspers: »Die Tatsache, daß man unsere Namen in der Welt so oft zusammen nennt, ist Ihnen wie mir nicht angemessen. Darum haben wir, unabhängig voneinander, 1936 oder 37 in Briefen an Jean Wahl, die er veröffentlicht hat, dieses im Ton verschieden, im Sinne übereinstimmend ausgesprochen.« Martin Heidegger – Karl Jaspers. Briefwechsel 1920– 1963, S. 170. 1
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Das 20. Jahrhundert
veranlaßt fühlen, einer Maßnahme, die in der Geschichte der Philosophie nicht gerade häufig zu beobachten ist? Jaspers selbst, nicht müde werdend, sein Verständnis des Philosophierens zu erläutern, gibt Anhaltspunkte, die eine erste Beantwortung dieser Frage zulassen. So schreibt er 1931: »Unsere Sache ist verloren, wenn sie dogmatisiert wird und als Werk besteht.« 3 So wie die seiner Überzeugung nach zu meidende Gefahr jeder schriftlichen Fixierung des Gedachten darin besteht, »dogmatisiert« zu werden, erscheint ihm »das Werk« als formaler Beschluß des zu Denkenden und damit als der radikale Gegen-Begriff zu jener Vision gedanklicher Vitalität, die er in seinen Schriften auszudrücken sucht. Bereits diese allgemeine Annäherung an die Kennzeichnung ›Existenzphilosophie‹ macht eines deutlich – der Begriff, der bis heute verwendet wird, um eine bestimmte Gruppe von Denkern kenntlich zu machen, scheint deren intellektuelles Selbstverständnis mitunter zu verfehlen. Dieses jedoch spricht weniger gegen den Terminus selbst als gegen Deutungen oder Assoziationen, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Wenn es heute ein Plädoyer für die Existenzphilosophie zu formulieren gilt, geschieht es in der Überzeugung, daß kein Begriff besser zur Benennung jener geistigen Haltung geeignet ist, die letztlich alle hier vorgestellten Denker teilen. Dabei ist nicht Festsetzung, sondern Verweis das verfolgte Ziel, nicht Eingrenzung und Fixierung, sondern eine perspektivische Öffnung auf ein Phänomen einzigartiger Bedeutung im Formen-Spektrum des abendländischen Denkens. Eine Charakterisierung der Existenzphilosophie ist, wie sich bereits bei einem Blick in die erste Phase gezeigt hat, ebensosehr eine Suche nach vergleichbaren Motiven der Theoriebildung wie nach ihren Divergenzen. Sie ist der Versuch, eine Bewegung des Denkens zu verfolgen, ohne dabei jenem Grundirrtum zu verfallen, vor dem Jaspers warnte – der Dogmatisierung. Heute bietet sich diese Entwicklung in ihren sprachlichen und thematischen Verwerfungen zweifellos anders dar als noch vor gut siebzig Jahren, als Hannah Arendt ihre Darstellung programmatisch Was ist Existenzphilosophie? überschrieb und damit die Assoziation an Immanuel Kants berühmte Aufklärungsschrift wohlweißlich in Kauf nahm. 4 Im vorlieBrief an Heidegger vom 24. 12. 1931, in: Martin Heidegger – Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–1963, S. 146. 4 In ihrer Darstellung skizziert Hannah Arendt bereits 1945 die Konzeptionen spe3
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Das 20. Jahrhundert
genden Kontext kann und soll es mithin nicht darum gehen, eine Definition von Existenzphilosophie zu wagen, sondern Elemente aufzuzeigen, die es ermöglichen, sie als Phänomen im Wandel zu begreifen. Dabei gilt es, den Mechanismus sichtbar werden zu lassen, der dieses Denken als höchst variables Instrument kritischer Reflexion auszeichnet, unabhängig davon, in welcher Epoche der Philosophie es sich artikuliert. Die gegen Ende dieser Darstellung vorzunehmende Aufstellung jener Funktions- und Strukturelemente, die Existenzphilosophie charakterisieren, dient also nicht einer Beschreibung ihrer unveränderlichen Beschaffenheit, sondern ihrer bisher zu beobachtenden Textur. Daß diese sich über bestehende philosophische Kategorisierungen hinaus ausmachen läßt, wird sicherlich mit Blick auf den letzten hier betrachteten Denker, Jacques Derrida, besonders offensichtlich. Der Begriff Existenzphilosophie soll also als Anzeige einer bestimmten Übereinstimmung von unterschiedlichen gedanklichen Konzeptionen fungieren. Ein Wort von Karl Jaspers mag hier die Richtung weisen, der die Arbeit mit Philosophie generell folgen kann. 1930 erwägt er ein öffentliches Gespräch mit Martin Heidegger, in dem beide, weitab von jedem Konsensstreben, ihre unterschiedlichen Positionen vertreten könnten. »Es würde sich entscheiden, ob wir beide in der Lage sind, kommunikativ auch in radikalster Diskussion zu philosophieren, oder ob der alte solipsistische Weg, wie er immer an den Universitäten war, weitergeht: wo es nur Polemik, aber keine Verwirklichung gab, und wo man sich ›nicht zu nahe trat‹. Es würde uns wie eine Bewährung der Existenzphilosophie werden, die man doch nicht geradezu wollen und machen kann.« 5 ziell von Kant, Nietzsche, Kierkegaard, Jaspers und Heidegger. Dabei nennt sie typische Elemente, die das Denken kennzeichnen, wie das Empfinden der Unheimlichkeit in der Welt, der Geworfenheit und das Ringen um die Einführung der Kategorie des Einzelnen in den philosophischen Diskurs. Nachdem sie Heideggers Denken eine Verhaftung in der traditionellen Ontologie attestiert, konstatiert sie: »Mit anderen Worten, Heidegger hat entweder sein letztes Wort zum Stand gegenwärtiger Philosophie gesagt oder er wird mit seiner eigenen Philosophie brechen müssen. Während Jaspers ohne solchen Bruch zur gegenwärtigen Philosophie mit dazu gehört, sie weiter entwickeln und in ihre Diskussionen entscheidend eingreifen wird.« Was ist Existenzphilosophie?, S. 39 f. 5 Brief an Heidegger vom 25. 05. 1930, in: Martin Heidegger – Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–1963, S. 135. Wie groß Heideggers Ablehnung von Jaspers’ Denken gewesen ist, zeigt sich in dessen Überlegungen V, in: Überlegungen II–VI, 142, S. 399:
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Das 20. Jahrhundert
Anti-dogmatisch in ihrem Selbstverständnis, formal unabgeschlossen, nicht systematisch konstruierbar, Grundlage ihrer eigenen Verwirklichung, mithin jede klassische Trennung in theoretischen Entwurf und praktische Umsetzung untergrabend – so soll Existenzphilosophie funktionieren und damit alles andere als Gegenstand einer Definition sein. Es ist noch immer das Denken, das als Indikator einer Entfremdung der Philosophie vom Menschen dienen soll. Es ist noch immer das komplementäre Denken, das das Erkennen der Welt und des Menschen in der Welt auseinander ableiten will. Es ist noch immer das subversive Denken, das bestehende Formen eines philosophischen Diskurses notfalls neu formuliert, wenn es sich als unumgänglich erweist. Es ist aber auch noch immer das gefährdete Denken, das in jedem Augenblick mit dem Risiko operiert, falsche Orientierungen dort zu setzen, wo bestehende Werte negiert werden. In dieser zutiefst ambivalenten Struktur ist es ein Denken, das von unschätzbarer Bedeutung in jeder Epoche des Philosophierens ist, unabhängig davon, unter welcher Benennung es auftritt. Die Bezeichnung dieser Haltung des Denkens ist letztlich beliebig; ihre Intention ist es nicht. Existenzphilosophie in der zweiten Phase ihrer Entwicklung, die im 20. Jahrhundert beginnt, mag so erscheinen, als würde sie voraussetzungslos plötzlich Neues denken. Daß dieses nicht der Fall ist, hat ein Blick in ihre Vergangenheit gezeigt. Dieser verdeutlich auch, vor welchen Aufgaben das »Neue Denken«, das ein Denken mit einer bemerkenswerten Geschichte ist, steht. Die entscheidende Herausforderung wird darin liegen, ob es ihm gelingt, der Gefährdung, die in seiner Struktur stets mitschwingt, zu begegnen.
»Jaspers – wohl das Äußerste, was an Gegensatz zu meiner einzigen Bemühung (der Seynsfrage) zur Zeit auftreten konnte. Weil aber seine und meine ›Philosophie‹ als ›Existenzphilosophie‹ gelten, ist damit der eindrucksvollste Beweis geliefert für die Gedankenlosigkeit des Zeitalters.«
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II. Kritik an Philosophie
II.1 Karl Jaspers Hannah Arendt, mit Jaspers über viele Jahre in Vertrautheit verbunden, betont den Anspruch seines Denkens, nicht lehren, sondern erschüttern zu wollen, bevor sie konstatiert: »In dieser Weise stellt sich Jaspers in die die neuere Philosophie begründende Revolte gegen die Philosophie« 1. Bereits die Haltung jener Theoretiker, die in den vergangenen Jahrhunderten Ansätze existentiellen Denkens formuliert hatten, machte eines deutlich: Ihr Anspruch an Philosophie läßt sich nicht immer innerhalb der Strukturen tradierten Denkens und schon gar nicht im Konzept einer Philosophie verwirklichen, die sich über ein ihrer Zeit entsprechendes Wissenschaftsideal definiert. Søren Kierkegaard hatte in diesem Sinne heftig gegen die Philosophie Hegels polemisiert, und Arthur Schopenhauer attestierte selbst dem kantischen Denken eklatante Fehleinschätzungen in entscheidenden Fragen. Bereits Nikolaus von Kues bricht mit den Konventionen des Philosophierens, die sich seit dem Mittelalter formal etabliert hatten. So wirkt es wie ein bereits vertrautes Element des Selbstverständnisses existentiellen Denkens, wenn nun auch Karl Jaspers Philosophie zum Medium der Kritik an Philosophie einsetzt. Das Denken im Zeichen der »Revolte« unterscheidet sich vom systematisierenden Denken durch den explizit angekündigten Verzicht auf doktrinäre Verbindlichkeit, wodurch dessen einzuschlagender Weg offengelegt wird. Die bisherige Gültigkeit des philosophischen Diskurses soll erschüttert werden, wobei es von der Intention des jeweiligen Denkers abhängt, wie weit diese Destabilisierung zu reichen hat. Die Revolte gegen die klassische Bewertung der Philosophie bringt ein neues Bewußtsein dessen hervor, was Philosophie nicht 1
Hannah Arendt, Was ist Existenzphilosophie?, S. 40.
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Kritik an Philosophie
sein will, muß sich dieses Bewußtseins aber stets gegenwärtig bleiben, um nicht der Gefahr neuerlicher philosophischer Systembildung 2 zu erliegen. Existentielles Denken will mithin in variierendem Umfang aformales Denken sein, kann aber immer nur in der Form der Philosophie operieren, will es deren vermeintlichen Grundirrtum kenntlich machen und – im Idealfall – korrigieren. Bis zu einem gewissen Grad muß die Kritik die Sprache des Kritisierten wählen, stünde sie ihm doch sonst fremd und äußerlich gegenüber. Jede Revolte macht nur innerhalb der Struktur Sinn, gegen die sie aufbegehrt. Kein Wunder, daß es leichter fällt, zu beschreiben, wogegen es zu revoltieren gilt, als theoretisch anzukündigen, wodurch das Verworfene zu ersetzen sei, beinhalten alle neuen Entwürfe stets das Risiko, selbst im Regelwerk der Philosophie zu erstarren. Gleichwohl lassen all diese Versuche niemals den Glauben an die Philosophie vermissen, ganz im Gegenteil. Sie sind von der niemals bezweifelten Überzeugung inspiriert, wie unverzichtbar philosophisches Fragen für den Menschen ist, solange es nicht in einem Bestand institutioneller Verwaltung mündet oder sich in immer artistischeren Wendungen seiner Theoreme zu verlieren droht. Eine Maschinerie der Reglementierung des Wissens muß, davon geht zumindest Jaspers aus, unweigerlich zu einer Verwahrung des Wissens führen, vorgenommen und perfektioniert von Spezialisten, die bei aller Virtuosität ihres Tuns vergessen, nach deren Sinn zu fragen. Denken heißt für ihn, sich und den Anderen Rechenschaft über das Gedachte abzulegen, nicht zwangsläufig im Sinne eines moralischen Bewußtseins, sondern im Sinne einer Selbst-Vergewisserung. »In der Tat wurde die überlieferte Philosophie […] zum Betrieb von Universitätsschulen, die immer seltener die Gemeinschaft philosophischer Menschen waren, die aus eigenem Ursprung sich erworben und in Gestalt des Gedankens mitgeteilt hätten, was ihnen bewußt wurde.« 3
Michael Schene legt mit Die Bewegung, die Weisen und der Einzelne. Karl Jaspers’ Philosophie zwischen Nicht-Wissen und Seinsgewissheit eine grundlegende Darstellung der Philosophie von Jaspers vor, in der er auch der Frage einer gewissen verlangsamten Rezeption dieses Denkens nachgeht. Mit Blick auf das System, wie es sich als Form »gegenständlichen Denkens« zeige, bemerkt er, daß es »das Gegenteil von philosophischer Wahrheit darstellt«, S. 65. Entsprechend gilt es, die »gegenständliche Sagbarkeit« dieser Wahrheit zu bestreiten, S. 153. 3 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 131. 2
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Karl Jaspers
Was macht einen Denker zum Existenzphilosophen? Oder, anders gewendet, wann wird aus einem Philosophen ein Denker der Existenz? Vielleicht steht am Anfang dieses letztlich offenen Prozesses eine fast simpel anmutende Beobachtung – die Philosophie hat ihre eigentliche 4 Bestimmung verloren. Woher stammt aber jener Maßstab des Eigenen, der diese Feststellung überhaupt erst bedingt? Zeigt sich die tatsächliche Möglichkeit des Philosophierens erst im Zustand ihrer Vernachlässigung? Eine Summe ungenutzten Potentials attestiert Jaspers der Universitätsphilosophie seiner Zeit. »Die so versagende Philosophie hat ihren Betrieb vervielfacht, aber sich ins Chaos zerpulvert. Sie hätte die größte Aufgabe.« 5
Mit der ganzen Macht, die der unausgesetzten Unzufriedenheit mit dem aktuellen Erscheinungsbild und Selbstverständnis dieses Denkens zu eigen ist, tritt nun die Vorstellung seines Gegen-Bildes zutage, in erkennbaren Konturen und dem Gestus des Innovativen. Karl Jaspers und Martin Heidegger zeichnen das Szenario einer dem Menschen zugewandten Philosophie, die einen Zustand beschreibt, der in vergangener Zeit möglich gewesen sei – ein Gedanke, der seine hypothetische Konstruiertheit keineswegs verbergen kann. So prägt die Hoffnung auf einen neuen Wert des Denkens die Bewertung seiner Geschichte und entlehnt ihr eine Vision des Verlorenen, die den Verlust erst in der Erwartung des Kommenden sichtbar werden läßt. Immer wieder verwenden beide in ihren Schriften Formulierungen, die diese Rückwendung zu einem idealisierten wahren Zustand der Philosophie heraufbeschwören. Heidegger verweist explizit auf eine Ära der Wahrhaftigkeit allen Denkens, wenn er schreibt: »Dieses Abendland ist älter, nämlich früher und darum versprechender als das platonisch-christliche und gar als das europäisch vorgestellte.« 6
Daß der Begriff des ›eigentlichen‹ unweigerlich an die Deutung denken läßt, die ihm Martin Heidegger gab, steht außer Frage. Dennoch sollte es möglich sein, ihn auch in einer Weise zu verwenden, die nicht als Verweis auf den heideggerschen Gebrauch fungiert. 5 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 132. 6 Heidegger in: Die Sprache im Gedicht, in: Unterwegs zur Sprache, S. 77. Er verweist darauf, daß der Begriff des Abendlandes auch in zwei Dichtungen Georg Trakls Verwendung findet. 4
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Kritik an Philosophie
Zurück zu den Quellen soll sich das Denken bewegen, sich seines tatsächlichen Ursprunges erinnern 7 und damit in einem Akt der Selbst-Korrektur eine als unsinnig diagnostizierte Entwicklung überwinden. Bemerkenswert ist hier sicherlich, daß die Begriffe vom ursprünglichen Sein des Menschen und der ursprünglichen Bestimmung von Philosophie aufeinander verweisen. Letztere ist also keine bloß mögliche intellektuelle Betätigung des Menschen, die dieser nach Belieben nutzen und definieren kann, sondern sie ist untrennbar mit der menschlichen Existenz verbunden. Der Weg zu deren Erkenntnis führt allein über das philosophische Denken, so wie dieses allein das rechte Sein des Menschen zu befördern vermag. Wie weit das jaspersche Philosophie-Verständnis von einer akademisch reduzierten Form entfernt ist, wird an der Tatsache der wechselseitigen Verweisung von Denken und Sein deutlich. Gerade vor diesem Hintergrund präsentiert die geforderte Rückbesinnung zu den Wurzeln ihre ganze kompromißlose Intensität, ist doch eine Kritik und Erneuerung des gegenwärtigen Verwaltungsbetriebes von Philosophie für Jaspers weitaus mehr als nur eine innerdisziplinäre Reformmaßnahme. Was er fordert, betrifft die Philosophie insgesamt in ihrer aktuellen Erscheinungsform und ihrem Selbstverständnis. Ein solch gezieltes Eingreifen in eine philosophische Entwicklung, die ihrerseits zu einem nicht unerheblichen Anteil Reaktion auf ihre Zeit und deren intellektuelle Erfordernisse ist, ist niemals nur von wissenschaftlicher, sondern stets zugleich von gesellschaftlicher Bedeutung. Welche theoretischen Aussagen ein Denken auch konkret formulieren wird, das diesem Impuls entspringt – allein durch den Gestus des Revoltierens ist es ein Politikum. Im Ansatz des Neuen Denkens, das sich jetzt in kompakter Gestalt zu emanzipieren beginnt, steht die Situierung des Menschen in der Welt, und das heißt in den konkreten Bezügen zu seiner Umwelt und zur Gesellschaft, auf dem Spiel. Was immer dieses Denken an Aussagen über sein Wesen oder auch die Unmöglichkeit, sein Wesen definieren zu können, artikulieren wird, ist grundsätzlich dazu geeignet, den begrenzten Rahmen theoretischer Relevanz zu sprengen. Diese Chance, zugleich aber auch dieses Risiko liegt von Anfang an im existenzphilosophischen Denken, das durch seine Zurückweisung des systematischen Philoso7
Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 164.
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Karl Jaspers
phierens mehr aufgibt als nur ein Formkriterium. Wird der Gedanke des Systems suspekt, geht damit der Verlust eines Begriffes von Vernunft einher, die als dessen Urheberin fungiert. Verliert die Vernunft ihre Funktion, zentraler Bezugspunkt der Reflexion im theoretischen und praktischen Sinne zu sein, werden Werte und Normierungen, die bislang durch sie vermittelt werden konnten, grundsätzlich verhandelbar und der neuen Rechtfertigung ausgesetzt. Im Spannungsverhältnis zwischen der Ablehnung des Alten und der Begründung des Neuen etabliert sich damit im existenzphilosophischen Denken ein Raum des Möglichen. Darin liegt ihre theoretische Dimension. In der Frage, wie dieser Raum genutzt und gegen Mißbrauch geschützt werden kann, besteht ihre praktische Herausforderung. Das Denken Gianozzo Manettis demonstrierte diese tiefe Ambivalenz, die Existenzphilosophie kennzeichnet, erstmals im Ansatz. Nach seiner Auffassung ist der Mensch potenter Gestalter seiner Welt, der zwar im göttlichen Geiste geschaffen und mit dem Auftrag ausgezeichnet wurde, Hüter der Erde zu sein. Doch zeichnet sich hier bereits die Vorstellung ab, daß der Mensch, in dieser Weise autorisiert, die Welt nach seinem Willen gestalten kann. Woher stammt aber der Maßstab, der das Mögliche vom Sinnvollen unterscheidet, wenn der letzte Bezug des planenden und schaffenden Willens des Menschen zu seinem Gott, der bei Manetti noch in bereits gelockerter Form besteht, gänzlich bricht? Im Denken Friedrich Nietzsches ist dieser Bruch in seiner ganzen dramatischen Mensur erkennbar. Und auch hier stellt sich erneut die Frage, wie ein Denken, das in extremer Weise ›freigesetzt‹ ist, sich selbst zu binden vermag. Nietzsche selbst würde diese Frage sicherlich niemals so formuliert haben, bedeutet doch Bindung in seinen Augen unweigerlich Schwächung der Kraft des Denkens und des Willens. Es hatte sich gezeigt, daß seine prophetische Vision die Entscheidung über das dem Menschen Mögliche der kommenden Zeit zuweist und dabei das bizarre Changieren von utopischen und endzeitlichen Assoziationen gezielt inszeniert. Auch dann, wenn die Perspektive Nietzsches als zu sehr seinem poetischen Formwillen geschuldet erscheinen mag, bleibt doch eines erkennbar: Am Anfang des 20. Jahrhunderts sind die theoretischen Möglichkeiten der Existenzphilosophie voll entfaltet. Für die Denker, die sich in Zukunft ihrem Anspruch verpflichtet fühlen, gilt es, die Entscheidung über die tatsächliche Nutzung dieser Möglichkeiten zu fällen.
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Kritik an Philosophie
Alles andere als voraussetzungslos will dieses neu zu beschwörende alte Wissen um die Bedeutung des Denkens also auftreten, woraus letztlich auch seine vorrangige Legitimation resultiert. Denn natürlich muß der Kritisierende Rechenschaft darüber ablegen, mit welcher Kompetenz und Autorität er interveniert, welche Kenntnis ihn dazu befähigt, sich zum Sprecher eines Wissens um die eigentliche Beschaffenheit des Philosophierens zu erklären. Unvermeidlich und unweigerlich gerät der Kritiker, der seine Aufgabe im Sinne von Karl Jaspers begreift, in eine doppelt ausgerichtete Position: Der Vergangenheit zugewandt, knüpft er an verloren scheinendes Wissen der Tradition an; auf die Zukunft fokussiert, skizziert er aus diesem Wissen um das Gewesene Konturen des Kommenden. Die Bewegung des Transzendierens, die für Jaspers von zentraler Bedeutung sein wird, resultiert aus diesem Motiv. Halb Historiker, halb Seher, so mag er wirken, was die Notwendigkeit nur noch einmal betont, begründen zu müssen, was dieses Selbstverständnis rechtfertigt. Was Jaspers anstrebt, ist keine Korrektur einer bestimmten philosophischen Prämisse, keine Veränderung einer einzelnen Theorie, die durch eine andere ersetzt werden kann, ohne dadurch das Gesamt der Philosophie nachhaltig zu verändern. Vielmehr geht es um eine neue Ausrichtung des Denkens selbst, radikal und kompromißlos. Dieses Denken demonstriert seine Gültigkeit nicht durch Beweise oder Argumentationen im traditionellen Sinne, sondern durch den ausdrücklichen Bezug auf eine Tradition des Denkens, die ihrerseits Beweis und Argumentation erst als Formen seiner Artikulation geschaffen hat. Exakt an jener historischen Schnittstelle will sich das neue Denken platzieren, an der diese sagbare, aber nicht beweisbare Wahrhaftigkeit einem definierbaren Begriff von Wahrheit weicht.
II.2 Martin Heidegger Über viele Jahre hinweg betrachten sich Karl Jaspers und Martin Heidegger trotz aller Differenzen als Weggefährten, in einer »Kampfgemeinschaft« geeint, 8 fühlen sich einer gemeinsamen Sache des
Für diese Formulierung dankt Jaspers Heidegger in einem Brief vom 02. 07. 1922, in: Martin Heidegger – Karl Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, S. 30.
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Martin Heidegger
Denkens verpflichtet und meinen, sich in der Wahl ihrer Mittel zu deren Verwirklichung zumindest nicht zu widersprechen. So verwundert es nicht, daß auch Heidegger der Idee eines neuen Denkens und dem damit einhergehenden Verdacht gegen dessen »technische Interpretation« folgt. »Dieses Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens des Denkens. Die Philosophie wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Geltung zu verlieren, wenn sie nicht Wissenschaft sei.« 9
Um diesen ihr grundsätzlich äußerlichen Aspekt zu ihrem – falsch verstandenen – wesentlichen Merkmal machen zu können, muß die Philosophie auf ihre beiden wichtigsten Grundlagen verzichten – auf ihre Unmittelbarkeit und ihre Fähigkeit, das eigene Tun in immer wiederholten Akten der Reflexion zu überprüfen. Unmittelbar berührt das Denken nach Heideggers Überzeugung sein Objekt ausnahmslos im Zustand der Verweisung, der einmal hergestellten und im nächsten Augenblick bereits wieder zu transformierenden Bezeichnung, die den Gegenstand ihres Verweisens aber niemals fixieren kann. Wie für Jaspers wird auch für Heidegger der Begriff des Dogmas 10 zum Synonym für gedankliche Erstarrung und damit verbundene Unfähigkeit der Selbstbefragung des Denkens. Gerade letztere ist jedoch unverzichtbar, soll es zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung in der Lage sein, sein gegenwärtiges Erscheinungsbild mit seiner eigentlichen Zielsetzung abzugleichen. Um es bereits an dieser Stelle zu betonen – die Forderung nach Überprüfung des philosophischen Standpunktes kann zwar artikuliert werden. Doch bedeutet dieses, wie sich im Falle Heideggers zeigt, keinesfalls dessen tatsächliche Respektierung und Einlösung im eigenen Werk. Wie für Jaspers, der von dem Ursprung und der Quelle des Denkens spricht, von der Notwendigkeit, sich zu erinnern, sich schauend und vergleichend zurückzuwenden, steht auch für Heidegger der Bezug zu einer fernen Epoche als Garantin eines wahrhaftigen Verständnisses von Philosophie im Vordergrund. Darüber hinaus versucht er, anhand der Logik des Fragens selbst die Tatsache zu bekräftigen, daß Heidegger, Über den Humanismus, S. 6. Heidegger, Sein und Zeit, § 1, S. 2: »Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert.«
9
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Kritik an Philosophie
der Formulierung einer Frage immer schon ein Wissen um das zu Erfragende vorausgehen müsse – »Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her.« 11 Keine Frage würde sich als Gedanke ausdrücken, wenn das Erfragte nicht bereits gedacht wäre. Der Denkende läßt dasjenige als zu formulierende Erwägung zu, was ihm schon gegenwärtig ist. Der Dogmatiker hingegen unterdrückt dieses Element des Zulassens und damit des Fragens, indem er zu definieren sucht, was er weiß, und das Gewußte damit der Möglichkeit beraubt, jemals hinterfragt werden zu können. Bei dieser Möglichkeit handelt es sich nicht um die notwendige »Revision der Grundbegriffe« 12, in der Heidegger die »eigentliche ›Bewegung‹ der Wissenschaften« erblickt, sondern um eine diesem Verfahren zugrundeliegende Aufdeckung der Struktur der Frage 13 nach dem Gegenstand der Philosophie selbst. Jaspers begreift den Bezug von Denken und Fragen in vergleichbarer Weise, formuliert ihn jedoch anders. Im Gegensatz zu Heidegger, der den formalen Aspekt der Beziehung des Fragenden zum Erfragten daraus herleitet, daß letzteres die Frage selbst diktiert, ist für Jaspers eher das psychologische Phänomen einer Rückbindung des Bewußtseins an seinen Ursprung interessant. Indem es sich denkend auf diesen konzentriert, agiert es im Gestus einer nicht theoretisch zu fassenden Gewißheit. Die formale Struktur des Fragens im Sinne Heideggers zu problematisieren würde deren Unmittelbarkeit eher gefährden. Insofern Jaspers und Heidegger beide eine Korrektur der gegenwärtigen Konstitution der Philosophie für unverzichtbar halten und in ihren eigenen Schriften realisieren wollen, gerieren sich beide als Diagnostiker dieses notwendigen Wandels. Was Philosophie sein soll, erscheint vor dem Hintergrund dessen, was sie gegenwärtig ist, als Negation. Beide Positionen stimmen darin überein, daß sie ihre Kritik an der Philosophie auf deren Bemühen fokussieren, sich als Wissenschaft zu definieren. Da diese »ExiHeidegger, Sein und Zeit, § 2, S. 5. Meike Siegfries in Abkehr vom Subjekt. Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber, S. 41: »Indem Sein und Zeit somit den Weg über eine Auslegung – Hermeneutik – der spezifischen Seinsweisen des Daseins geht, schließt die Philosophie als Fundamentalontologie ausdrücklich den Prozess der ›Selbsterkenntnis‹ des philosophierenden Wesens ein bzw. vollzieht sich wesentlich als eine solche.« 12 Heidegger, Sein und Zeit, § 3, S. 9. 13 Heidegger, Sein und Zeit, § 2, S. 5. 11
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Franz Rosenzweig
stenzerhellung« – in der Terminologie von Jaspers – und die »Frage nach dem Sinn von Sein« – in Heideggers Sprache – verhindert, gilt es für beide, diese Ziele ihres Philosophierens in einer eigenen Weise zu verfolgen, die sich nicht dem Diktat vermeintlicher Wissenschaftlichkeit fügt.
II.3 Franz Rosenzweig Ein ganz ähnliches Bild ergibt ein Blick auf das Werk des dritten bedeutenden Denkers der hier zu rekonstruierenden gedanklichen Linie – Franz Rosenzweig 14. Auch er attestiert der klassischen Philosophie eine folgenschwere Verfehlung, die dem markantesten Ausdruck menschlicher Selbstwahrnehmung – der Angst – gilt. Mit diesem Ansatz überbietet er die psychologisch motivierte Philosophie-Kritik Jaspers’ und die formal begründete Kritik Heideggers spürbar an emotionaler Intensität. »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie.« 15
Den Anspruch, solcherart die Bedeutung des individuellen Lebens vor der abstrakten Absolutheit des Allgemeinen zu nivellieren, verwirklicht seiner Überzeugung nach die Philosophie in ihrer idealistischen Überhebung über alles Konkrete und seine Besonderheit. Welch weitgespannten Möglichkeiten einer philosophischen Zuordnung von Rosenzweigs Denken bestehen, zeigen stellvertretend zwei Positionen: Dessen Einordnung in einen existentialistischen Kontext bestreitet Markus Kartheininger, Das existentielle Ich und die Frage nach der Ontologie. Dabei konzentriert er sich auf die Relation des Menschen zur Welt, läßt jedoch offen, was exakt mit dem Terminus der »Welt« zu bezeichnen sei. Auch die Begriffe des »existentiellen Ich« und des »Existentialismus« bleiben unklar. Deutlich wird die »Kontinuität Rosenzweigs zur deutschen Klassik und zum deutschen Idealismus hervorgehoben«, S. 488. Robert Gibbs in Correlations in Rosenzweig and Lévinas betont: »The very abundance of Rosenzweig’s system – that logic and a theory of speech, philosophical sociology with theological analyses of art and politics, and above all an ethics that orients intersubjective space without recourse to foundations – points to the plurality of methods and spheres of thought that characterize postmodern philosophy«, S. 21. 15 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3. Eine sehr eng am Text entlangführende Deutung des Werkes bietet Martin Fricke, Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung. Er akzentuiert auch jene Aspekte, in denen sich Rosenzweig von der idealistischen Philosophie distanziert, S. 52 ff. 14
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Kritik an Philosophie
»Denn der ›Idealismus‹ mit seiner Verleugnung alles dessen, was das Einzelne vom All scheidet, ist das Handwerkszeug, mit dem sich die Philosophie den widerspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis er der Umnebelung mit dem Ein- und Allbegriff keinen Widerstand mehr entgegensetzt.« 16
So polemisch und vielleicht sogar plakativ überzeichnet diese Formulierung auch sein mag, läßt sie nicht den geringsten Zweifel an Rosenzweigs leidenschaftlichem Plädoyer für die Notwendigkeit, diese Tilgung des Einzelnen aus der Philosophie zu widerrufen. Denn diese verengt sich in ihrer ausschließlichen Ausrichtung auf den Allheitsgedanken zusehends von einer Sicht, die jedem Individuellen und Speziellen gilt, zu einer Konzentration auf deren Gesamtheit, die nur auf dem Wege der Verallgemeinerung zu denken ist. »Um das wißbare All hatte sich bisher alles philosophische Interesse bewegt; auch der Mensch hatte nur in seinem Verhältnis zu diesem All Gegenstand der Philosophie sein dürfen.« 17
Mit dem Begriff der Eindimensionalität bezeichnet Rosenzweig neben einer an dieser Stelle noch sekundären zeitlichen Komponente im Phänomen des Wissens vor allem dessen systematische Gestalt, wie sie sich idealtypisch in der Formulierung einer »Weltanschauung« ausdrückt. Wie Jaspers und Heidegger mißtraut er zutiefst jedem Theorem, in dem das Denken sich zwar zu abstrakter Perfektion erhebt, darüber aber das Einzelne preisgibt. Gleichwohl verwendet Rosenzweig den Begriff des Systematischen nach wie vor, jedoch in radikal gewandelter Form: »Systematisch denken heißt nämlich: auf die menschlichen Fragen die menschlichen Antworten finden.« 18 Immer deutlicher spitzt sich der Grundkonflikt, von dem das Denken der Existenz ausgeht, als Konflikt zwischen dem Individuellen und seiner formalen Darstellung in einem konstruierten Gefüge rationaler Begrifflichkeit zu. Wie soll die Philosophie die Existenz dieses Individuums beschreiben, ohne ihren eigentlichen Bezug zu diesem zu 16 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 4. Alin V. Bontas, Franz Rosenzweig’s subjective system, S. 4 betont, der Unterschied zum Idealismus bestehe nicht in »[…] different answers to the same questions, but by addressing different, unexplored, and most fundamental questions and insights […] that make Idealism artificial […], mysterious […] and eliminative reductive […]. 17 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 9. 18 Rosenzweig, Der Denker, in: Zweistromland, S. 667.
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Emmanuel Lévinas
verlieren? Als Denken faßt sie es zwangsläufig in abstrakter Form, macht es zum Objekt, verallgemeinert seine Erscheinung zu einem Begriff, der schon, aller wohlmeinenden gegenteiligen Absicht zum Trotz, längst nur noch schemenhaft das ursprüngliche Individuum erahnen läßt, dem er galt. Denker der Existenz sehen sich mithin vor die komplexe Aufgabe gestellt, allgemeine Aussagen über die vereinzelte Existenz zu treffen, ohne dieses im Akt der Benennung und theoretischen Beschreibung aus dem Blick zu verlieren. Für Rosenzweig gilt dieses Dilemma mit drastischer Schärfe, bezeugt durch die Macht eigener Betroffenheit; für Jaspers nicht minder intensiv, doch in einer gemäßigteren Sprache ausgetragen. Für Heidegger scheint die besagte Schwierigkeit am wenigsten Gewicht zu haben, beansprucht er doch für das Individuum eine andere Funktion als seine beiden Zeitgenossen, da es immer Einzelnes im Gesamt des Seins ist. Dieses wiedersetzt sich der allgemeinen Benennung eben nicht, sondern fordert sie geradezu.
II.4 Emmanuel Lévinas Ist die Tatsache, daß die Dringlichkeit der gestellten Aufgabe in neuerer Zeit nach wie vor besteht, ein trauriges Indiz für ihre Unlösbarkeit? Die Forderung nach Verbindlichkeit, die alle individuelle Besonderheit überschreitet und in diesem Akt auflöst, sieht Emmanuel Lévinas in »Theorie« schlechthin repräsentiert, völlig unabhängig davon, was genau eine solche aussagen soll. »Aber Theorie bedeutet auch Verstehen – Logos des Seins –, das heißt, eine solche Weise, das Seiende anzugehen, daß seine Andersheit im Verhältnis zu dem erkennenden Seienden erlischt […] Das existierende Individuum dankt dann in dem gedachten Allgemeinen ab.« 19
Bereits aus der Wortwahl wird deutlich, daß für Lévinas ein Aspekt in das Zentrum seiner Betrachtung tritt, der für die drei zuvor genannten Denker noch nicht in dem Ausmaß relevant zu sein schien – die ethische Dimension des menschlichen Verlangens, zu wissen. Tatsächlich ist es etwas anderes, wenn Jaspers von dem Versäumnis der Philosophie spricht, die sich nicht mehr ihres Ursprunges er19
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A, 4, S. 49 f.
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Kritik an Philosophie
innert, wenn Heidegger das unterbliebene Fragen nach dem Sein thematisiert oder wenn Rosenzweig mit Blick auf das unbefriedigte Bedürfnis des Menschen der Philosophie ihre Verfehlung vorwirft. In allen drei Perspektiven, die sich grundsätzlich mit derjenigen von Lévinas decken, stehen die Folgen für den Einzelnen im Vordergrund, und jene für das Miteinander der Menschen wirken eher nachgeordnet. Lévinas hingegen betrachtet in schonungsloser Radikalität jenes Geschehen, in dem ein abstrakter Begriff, wie er aller Theorie zugrunde liegt, auf ein konkretes Individuum projiziert wird. »Was den Menschen betrifft, so kann der Terror, der einen freien Menschen unter die Herrschaft eines anderen bringt, zur Auslieferung führen. Für die Dinge besteht das Werk der Ontologie darin, das Individuum – nicht in seiner Individualität, sondern in seiner Allgemeinheit – von der allein es Wissenschaft gibt – zu ergreifen.« 20
Wenn das Besondere seiner Besonderheit beraubt wird, büßt es aber weitaus mehr als eine beliebige Facette seiner Erkennbarkeit ein. Es wird seiner Persönlichkeit, seiner Individualität entkleidet, bloßgestellt im Brennpunkt des betrachtenden Blickes, der in Wahrheit kein Blick mehr ist, der sich an das je Einzelne heftet und dieses zum Ausgangspunkt seines Verstehens zu machen sucht. Statt dessen ist der Bezug auf das Objekt der Aufmerksamkeit bereits vom Wissen um dessen Idee ersetzt worden, scheint doch nur so – absurde Logik des Denkens – Philosophie im traditionellen Sinne zu funktionieren. 21 »Philosophie des Neutrums! Ihre Ideenbewegungen, so verschieden sie ihrer Herkunft und ihrem Einfluß nach auch seien, kündigen übereinstimmend das Ende der Philosophie an.« 22
Die »Ideenbewegungen«, von denen Lévinas hier spricht, sind eben jene Dogmen, die Jaspers und Heidegger beanstandeten, jene Weltanschauungen, vor denen Rosenzweig warnte. Drei Synonyme für Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A, 4, S. 52. Alwin Letzkus in Dekonstruktion und ethische Passion, S. 195: »Daß die abendländische Metaphysik, angefangen von Parmenides bis hin zu Heidegger, unter der Botmäßigkeit der Begriffe von Totalität und Identität gestanden habe, und daß die gesamte westliche Philosophie einem ›ontologische(n) Imperialismus‹ gleichkomme, der sich in einem Seinsmonismus und einer ihm korrelierenden Egologie des Denkens manifestiere, diese Auffassung durchzieht wie eine Leitthese das gesamte philosophische Werk von Emmanuel Levinas.« 22 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, V, 7, S. 432. 20 21
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Emmanuel Lévinas
ein und denselben Prozeß, in dessen Verlauf sich die Philosophie von ihrer eigentlichen Bestimmung entfernt und dem Menschen entfremdet hat. Vier Facetten einer Kritik an dieser Entfremdung – die psychologische bei Jaspers, die formale bei Heidegger, die emotionale bei Rosenzweig und schließlich die ethische bei Lévinas. Alle Autoren formulieren ihre Kritik am deutlichsten in ihren frühen Texten, was der Genese des individuellen Denkens entspricht. Davon unberührt bleibt die Frage, ob und inwieweit es ihnen gelungen ist, in der späteren Ausbildung ihres Denkens diesen selbst erhobenen Anspruch auf Erneuerung des traditionellen Philosophierens aufrechtzuerhalten. Greifen die scheinbar notwendigen Mechanismen der Neutralisierung des Besonderen im Zuge seiner theoretischen Fixierung bereits im ersten Moment, in dem es Gegenstand sprachlicher Vermittlung wird? Oder vermag ein Begriff von Philosophie, der diese nicht als ›Wissenschaft‹, sondern als ›Bewegung des Denkens‹ begreift, diese scheinbar unausweichliche Konsequenz zu verhindern?
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III. Vorbilder
Das Ziel ihrer Arbeit der Dekonstruktion der klassischen Philosophie haben alle vier Denker in jeweils variierenden Formen von Leidenschaftlichkeit, Polemik und Reflektiertheit kenntlich gemacht. Wenn es nun für sie darum geht, dem Zurückgewiesenen das Neue entgegenzusetzen, stehen sie alle zunächst vor der Schwierigkeit, entscheiden zu müssen, inwieweit sie Theoreme, Begriffe und Argumente des ›alten Denkens‹ noch verwenden können, ohne allein durch deren Gebrauch ihr Vorhaben zu konterkarieren. Eine Notwendigkeit, die Spitze der Radikalität des eigenen Denkens durch Bezüge auf vergleichbare Positionen der Vergangenheit zu brechen, besteht für keinen der genannten Theoretiker. Viel zu entschlossen vertreten sie ihre jeweilige Vision dessen, was Philosophie sein soll, als daß sie sich durch einen Blick in die Geschichte ihres Denkens einer Begründung oder gar Rechtfertigung zu versichern hätten. Wenn sie auf Denker verweisen, ist es keine philologisch inspirierte Auseinandersetzung, die einzelne Gedanken oder Motive vergleicht und mögliche Kongruenzen bezeichnet. Vielmehr sind es Nennungen grundsätzlicher Übereinstimmungen der Haltung des Philosophierenden, die sich in den Rückgriffen auf andere Denker andeuten. Es handelt sich eher um den Ausdruck geistiger Nähe, die bisweilen sogar stärker Gegenstand der Empfindung als des detaillierten Beweises ist. Die Erwähnungen solcher Denker in intellektueller Verwandtschaft sollen in jedem Fall das eigene Verständnis von Philosophie in der Entwicklung seiner Frakturen und Neubegründungen vergangener Zeiten spiegeln, sind sie doch Kennzeichen des Bewußtseins, daß die Arbeit, ein Neues Denken zu begründen, an keine Epoche allein gebunden sein und sich schon gar nicht in einer einzigen Demonstration vollenden kann. Wenn sich besonders Jaspers, Heidegger und Rosenzweig auf andere Denker mit Interesse und Wertschätzung beziehen, ist es der vielleicht deutlichste Ausdruck ihres Glaubens an die Unabgeschlossenheit eines Philosophierens, das sich dem Denken der Existenz verschreibt. 34 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Karl Jaspers
III.1 Karl Jaspers Jaspers, der in der Einleitung seiner frühen Schrift Die geistige Situation der Zeit die »Entstehung des epochalen Bewußtseins« rekonstruiert, führt als Kritiker einer dezidierten Theorie der Weltgeschichte im Sinne Hegels Søren Kierkegaard und als Verkünder des europäischen Nihilismus Friedrich Nietzsche an. »Sie griffen voraus, indem sie sahen, was schon war, ohne daß es damals beunruhigte; daher sind sie erst heute ganz gegenwärtige Denker geworden.« 1
Das Mahnende, fast schon Prophetische dieser beiden Vordenker ist für seine Auswahl entscheidend und evoziert beinahe eine Form intellektueller Identifikation mit deren vorbildhaftem Selbstverständnis. An einer sehr prägnanten Stelle seines Textes greift Jaspers geradezu den Stil und den Sprachgestus von Kierkegaard auf, ganz abgesehen davon, daß er durch seine Wortwahl den Bezug zu seinem dänischen Vorgänger signalisiert 2. Seine eigene Kritik an der traditionellen Philosophie unterstreicht er schließlich noch einmal durch den Hinweis darauf, daß deren Vertreter weder Kierkegaard noch Nietzsche in ihrer Bedeutung ernst genommen, sie sogar ganz im Gegenteil als Dichter und damit als ›unwissenschaftlich‹ stigmatisiert hätten. 3 Kein Wunder, daß Jaspers gerade diese zu Wegbereitern des revoltierenden Denkens erklärt. Denn beide teilen mit ihm den radikalen Zweifel an aller Dogmatik des Denkens. Mit ihrer Berufung stellt sich Jaspers in eine Kontinuität der anti-systematischen 4 Haltung des Philosophierens und legt damit zugleich einen Grundstein für eine Geschichte des Denkens der Existenz. Wie ein später Nachhall klingt es, wenn Heidegger in den fünfziger Jahren schreibt:
Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 12 f. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 71. Chris Thornhill stellt in Karl Jaspers. Politics and metaphysics, S. 121 fest: »Kierkegaard’s concept of faith is clearly very close to Jaspers’ notion of philosophical belief. Both Jaspers and Kierkegaard see paradoxical belief as the only way in which the paradoxical non-demonstrability of human transcendence might interpret itself.« 3 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 131. 4 Den grundsätzlichen Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit jedes klassischen Systems teilt mit ihm Rosenzweig, siehe Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 8. 1 2
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»Anders als im wissenschaftlichen Vorstellen verhält es sich im Denken. Hier gibt es weder Methode noch das Thema, sondern [das, …] was es für das Denken zu denken gibt.« 5
In der Einleitung zu seiner Darstellung Die großen Philosophen erläutert Jaspers jene Kriterien, die in seiner Perspektive die »Größe« eines Denkers ausmachen. 6 Könnte es so wirken, als läge dieser Bestimmung eine zutiefst individuelle Sichtweise zugrunde, die eher persönlicher Neigung als objektivem Maßstab entspringt, wird doch sehr schnell deutlich, daß diese Vermutung in ihrer strikten Einseitigkeit täuscht. Jaspers begründet die Auswahl jener Theoretiker, die er vorzustellen plant, unter Rückgriff auf sein Verständnis von Philosophie schlechthin, die sich hier in den Formen ihrer historischen Entwicklung präsentiert. Dabei beschränkt sich der Blick keineswegs auf Philosophen der abendländischen Geistesgeschichte, sondern schließt auch Denker der östlichen Tradition ein, die jener universelle Anspruch an das Denken eint, den Jaspers selbst vertritt. »In ihnen gelangt das Denken dorthin, wo es auch sich selber denkt und darin zu erfahren meint, was das Sein im Ganzen sei. […] Die Philosophen haben uns verholfen, zum Bewußtsein unseres Daseins, der Welt, des Seins, der Gottheit zu kommen. Sie erhellen, über alle besonderen Zwecke hinaus, unseren Lebensweg im Ganzen, sind ergriffen von den Fragen der Grenzen, suchen das Äußerste.« 7
Wie offensichtlich diese kurze Charakterisierung Jaspers’ eigenes philosophisches Denken reflektiert, wird an zwei Begriffen deutlich, die er verwendet. Philosophie ist Existenz-»Erhellung«, die von der Erfahrung der »Grenz«-Situationen ausgehend Bewußtsein der Seinsmöglichkeit schafft. Dieser Anspruch, nicht nur ein Denken über das Sein, sondern Denken im Sein zu sein, erfordert vom Philosophen eine ungetrübte Achtsamkeit auf den Akt seines Denkens. Denn in diesem wird nicht nur Theoretisches erfaßt, das an sich betrachtet und bedacht werden kann, sondern es soll dessen Bezug zum Menschen, der denkt, erkennbar werden.
5 Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 178 f. Ergänzungen in eckigen Klammern stammen von der Verfasserin. 6 Michael Schene in Die Bewegung, die Weisen und der Einzelne weist auf den von Hans Saner vertretenen Begriff der »Weltphilosophie« hin, S. 198. 7 Die großen Philosophen, S. 38 und 44.
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»In der Philosophie ist die Wirklichkeit des Menschseins der Raum der sich im Denken verstehenden Existenz. Hier ist das Denken des Seins, der Gottheit, der Sache eins mit dem Faktischen der Lebensführung, mit dem Urteil in den konkreten Situationen, mit dem Sichentscheiden und Sichentschließen. Philosophie ist niemals wie wissenschaftliche Erkenntnis als bloßes Werk Wahrheit gewesen. Zur Wahrheit des Werks gehört die Wahrheit des Menschen, der es denkt.« 8
So wenig also Existenz und Denken zu trennen sind, so sinnlos wäre der Versuch, das auf dieser Grundlage Entstandene bloß theoretisch verstehen zu wollen. Ein wenig mag es an die Art erinnern, in der Søren Kierkegaard die besondere Beziehung zwischen dem religiösen Schriftsteller und seinem Leser kennzeichnete, wenn Karl Jaspers konstatiert: »Wir lesen nicht einfach Texte. Denn wir sind betroffen, erweckt, befreit, sind angezogen und abgestoßen. Damit gelangen wir in die Bewegung, die hört und fragt. Jetzt erst beginnt der eigentliche Umgang. […] Wir werden der Aufgabe bewußt, durch den Umgang mit Texten uns im Reich der Philosophie in einer personalen Orientierung ansprechen zu lassen, und damit Kritik an der Persönlichkeit der Denker zu vollziehen. […] Es liegt in uns etwas bereit, das antwortet, wenn die Erscheinung der Größe, sei es in welcher Gestalt, uns begegnet. Erst als mögliche Existenz hören wir, was aus der Existenz des seine Gedanken mitteilenden Philosophen zu uns spricht.« 9
Nicht Nachvollziehen des im Text Fixierten bildet für Jaspers den eigentlichen Sinn des philosophischen Diskurses, sondern das Begreifen der existentiellen Bedingtheit des Denkens selbst. In dieser exemplarischen Haltung desjenigen, der verstehen will, nähert sich Jaspers den »großen Philosophen«, zu denen Aurelius Augustinus 10 ebenso zählt wie Baruch de Spinoza 11. Das Empfinden tief verwurzelDie großen Philosophen, S. 77. Die großen Philosophen, S. 63 f. 10 »Augustinus Denkweise hat einen in seiner Fruchtbarkeit unabsehbaren Grundzug: er vergegenwärtigt ursprüngliche Erfahrungen der Seele. Er reflektiert auf die Wunder der Gegenwärtigkeit unseres Daseins. […] Augustin schreitet an alle Grenzen, um im Rückgeworfensein auf sich selbst im Inneren ein Anderes zu hören. Denn über das Innerste der Seele führt der Weg zu Gott.« Die großen Philosophen, S. 321. 11 »Was im reinen Denken Spinozas gegenwärtig wird, ist nicht ein Operieren mit abstrakten oder undeutlichen Begriffen. Spinozas Erfahrung des Denkens, die in seinem Werk sich kundgibt, ist vielmehr, daß ihm mit der Helligkeit des Denkens ineins die Substanz allen Seins gegenwärtig ist und wirkt.« Die großen Philosophen, S. 795. Gleichwohl stellt Jaspers fest: »Spinoza kennt nicht die Grenzsituationen. Er kennt 8 9
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ter geistiger Verbundenheit läßt Jaspers’ Formulierungen zwischen Pathos und Empathie changieren, wenn er einen »Vergleich Augustins mit Kierkegaard und Nietzsche« erwägt. »Sie alle sind ursprünglich Erschütterte. Sie denken aus ihrer Erfahrung des Menschseins leidenschaftlich, eruptiv, in einem unablässigen Schreiben durch ein Leben hindurch, in starken Wandlungen. […] Sie alle denken durch Eindringen in das Ursprüngliche, mit einer Psychologie, die Existenzerhellung ist, mit Lehren, die ihre Funktion in einer Lebendigkeit der Denkvollzüge haben.« 12
Eine vergleichende Auseinandersetzung mit den drei Denkern, die über diese knappen Zeilen hinausführen würde, unterbleibt in Jaspers Schrift, die aber auch kaum den geeigneten Rahmen hierfür geboten hätte. Denn ihr Ziel besteht weniger in einer Detailbetrachtung der vorgestellten Theorien und Lehren, sondern in deren Erfassung als Zeichen jener generellen Bewegtheit des Denkens, die Jaspers aufzeigen will. Eine sehr viel intensivere Auseinandersetzung mit dem Werk Friedrich Nietzsches erfolgt in dem 1935 veröffentlichten Text Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Die bemerkenswerte Tatsache, daß auch Heidegger in seinen Vorlesungen unwesentlich später das Werk dieses Denkers thematisiert, mag zu Spekulationen verschiedener Art Anlaß geben. In jedem Fall scheint von der Person Nietzsches und dem Besonderen seines Denkens gerade in diesen Jahren eine außerordentliche Faszination auszugehen. Ob Heidegger seine eigene Philosophie in erkennbarer Nähe zu Nietzsche verorten will und sein Werk daher mit dem Anspruch interpretiert, intellektuelle Verwandtschaft zu bekunden, sei für den Moment noch dahingestellt. Für Jaspers scheint diese Annahme jedoch zuzutreffen. Unter strikter Zurückweisung bisweilen zu beobachtender Fehldeutungen gibt er über seinen eigenen Versuch Auskunft, einem Denken gerecht keine Abgründe des Schreckens, keine Verzweiflung des Nichts, kein Ringen mit Gott, keine der Vernunft selbst sich zeigende Gewalt des Absurden als positiver Möglichkeit, kein sich schlechthin verbergendes Geheimnis.« Die großen Philosophen, S. 899. 12 Die großen Philosophen, S. 368. Jaspers versäumt es jedoch nicht, die unterschiedliche Stellung von Augustinus und Kierkegaard der Gemeinschaft der Gläubigen gegenüber zu betonen. Ebd., S. 369.
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zu werden, das durch seine Form und seine gedankliche Radikalität eine Auseinandersetzung jenseits üblicher Weisen philosophischer Interpretation fordert. »Es ist die Existenzfrage im Umgang mit Nietzsche, mit ihm in Kommunikation zu kommen […] statt in Sophistik zu geraten; an der Echtheit und Wahrhaftigkeit seiner Bewegung Anteil zu gewinnen statt einer möglichen sophistischen Bewegung im Dienste endlicher Zwecke, dieses meines Machtwillens, dieses meines Daseins, zu erliegen; Einsicht in die Mittel und Notwendigkeiten der philosophischen Denkbewegung Nietzsches zu gewinnen, statt sich durch Suggestionen in immer anderer Weise überrumpeln zu lassen; das Dasein im Dienste der Transzendenz zu gewinnen statt mit dem Transzendieren aller Möglichkeiten ins Nichts – schauspielerhaft versucht – faktisch im Dienste bloßen Daseins meines Nun-einmal-so-seins zu bleiben; die Freiheit der echten Bewegung zu bewahren, statt sich gegen diese Bewegung einem gewaltsamen Zwang durch bloßen Verstand in einer absolut genommenen und bald wieder mit ihrem Gegenteil vertauschten Doktrin zu unterwerfen.« 13
Keine Frage – hier dokumentiert sich Jaspers’ Wille, das eigene Denken in Bezug zu jenem anderen zu setzen, das er als vertraut begreift. Dabei wird sofort deutlich, worin Jaspers jene grundsätzliche Verwandtschaft begründet sieht, die seine intellektuelle »Kommunikation« mit Nietzsche ermöglicht. Es ist das Motiv der Bewegung, des in Bewegung Versetzens, das er in Nietzsches Schriften wiederfindet und es auch seinem eigenen Denken zugrunde legt. Bewegung ist dabei in mehrfachem Sinne zu verstehen – zunächst als jene Folge von Entwürfen, in denen sich ein Mensch zu verändern und zu gestalten vermag. Hier wird noch einmal die Aktualität erkennbar, die Jaspers dem Denken des Augustinus attestiert, der den Blick des Menschen in unbedingter Entschlossenheit auf das individuelle Innere gelenkt und damit eine Dimension der Erfahrung des Selbst eröffnet hat, die zuvor nicht Gegenstand theoretischer Betrachtung gewesen ist. Jaspers, der studierte Mediziner, 14 sieht hierin eine entscheidende Wendung zur Möglichkeit einer unvoreingenommenen Selbst-Erkundung des Menschen, die nicht ohne Folgen für dessen Bereitschaft bleiben kann, sich in seiner konkreten Lebensführung der absoluten Gültigkeit vermeintlich objektiver Wertsetzungen Nietzsche, S. 403 f. In komprimierter Weise präsentiert Jaspers jene Elemente in Nietzsches Denken, die speziell unter psychologischer Perspektive bedeutsam sind, in: Nietzsche, S. 111 ff.
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zu fügen. In der Anerkennung dieser Konsequenz unterscheiden sich Nietzsche und Jaspers von Augustinus, der im Grunde menschlicher Introspektion die göttliche Präsenz zu finden wußte. Mit Blick auf Nietzsche resümiert Jaspers nun den Zusammenhang von SelbstSicht und Wert-Setzung. »Weil der Mensch das schätzende, messende, wertende und damit schaffende Wesen ist, gibt es nicht die absoluten Werte, die bestehen wie ein Sein und nur zu entdecken sind; sondern Werte sind die Gestalt, in der der Mensch in geschichtlicher Wirklichkeit das ergreift, was die Bedingungen seines Daseins nicht nur, sondern seines Selbstseins in diesem geschichtlich eigentümlichen Augenblick sind. […] Zweitens vollzieht sich die Wandlung im Medium des Grundverhältnisses, daß der Mensch sich zu sich selbst stellt, indem er sich sieht, sich bewertet, sich über sich täuscht, sich selbst gestaltet.« 15
Von Anfang an wird ersichtlich, daß die Erforschung des Selbst, in der ein Mensch bislang für unmöglich gehaltene Einblicke in die Struktur seines Inneren gewinnt, kein solitäres Geschehen ist, keine SelbstSpiegelung, die sich in einer leeren Perspektive der Egozentrik verliert. Statt dessen beeinflußt die Kenntnis der individuellen Natur des Menschen die Weise, in der er sich verhält – zu sich selbst, zum anderen Menschen, zu seinem Dasein, in der Zeit. Jaspers hebt sehr klar hervor, daß diese Folgerungen in einem Daseinsverständnis wirksam werden, daß in keiner Vorstellung einer Göttlichkeit seine Begrenzung, Rechtfertigung und Ausrichtung findet. »Das transzendenzlose Schaffen – das Selbstsein ohne Gott – muß zu zwei Konsequenzen führen, die Nietzsche in der Tat sieht. Wenn die Endlichkeit menschlichen Wesens als Endlichkeit unsichtbar geworden ist, weil sie von keiner Unendlichkeit mehr umgriffen wird, d. h. wenn die Freiheit des Schaffens nicht der Transzendenz, sondern dem Nichts gegenübersteht […], so wird das Schaffen entweder als die zeitliche Wirklichkeit ohne einen gültigen Maßstab verabsolutiert, oder es wird vergottet.« 16
Konzentriert sich somit menschliches »Schaffen«, das gleichermaßen Denken und Handeln ist, ausschließlich auf das eigene Dasein, muß alle Orientierung des Denkens und Handelns vom Menschen geschaffen werden. 15 16
Nietzsche, S. 132. Nietzsche, S. 137 f.
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»Der Mensch aber muß seine Selbstbegrenzung in der Welt dadurch finden, daß er einen Weg geht. Indem Nietzsche nach dem Weg fragt, vollzieht er die menschliche Selbstbegrenzung. Diesen Weg sieht er zwar vorübergehend als hoffnungslos. […] Aber der Weg bleibt in der Tat für Nietzsche offen: ›Wir, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden … begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen‹. Diese höheren Wesen über den Menschen hinaus sind für Nietzsche nur noch aus dem Menschen, der sich in der Welt verwandelt, zu erwarten. Das Bild des Menschen bekommt statt der Gottheit und statt aller Moral die Bedeutung, hinaufzutreiben.« 17
Vor dem Hintergrund dieser radikalen Bindungslosigkeit menschlichen Daseins erscheint die Tendenz der existentiellen Bewegung, »hinaufzutreiben«, als einzig mögliche Konsequenz. Es hatte sich im Kontext der Betrachtung seiner Philosophie gezeigt, daß es der natürlichen Disposition eines Menschen entspricht, stets ein Mehr an Kraft realisieren zu wollen, was jede Selbstgestaltung als eine Entwicklung zu einem höheren Seinsmodus definiert. Jaspers scheint zumindest mit dieser Fokussierung Nietzsches auf ein ›hinauf‹ durchaus konform zu gehen. »[…] Nietzsche ergreift erstens in objektivierender Betrachtung das Dasein des Menschen, wie es sich zeigt vor dem Weltall und in der beständigen psychologischen Wandlung. Zweitens ergreift er die Freiheit des Menschen als die Weise, wie er sich selbst hervorbringt. Drittens ergreift er statt der Wirklichkeit des Menschen in dem Symbol des Übermenschen einen unbestimmten Glaubensinhalt dessen, was der sich selbst überwindende Mensch in der Welt werden soll.« 18
Ist der Gedanke des Übermenschen »Symbol«, in seiner definitorischen Unbesetztheit lediglich eine Richtung der existentiellen Bewegung markierendes Signum? Wenn Jaspers vom »Glaubensinhalt« spricht, scheint seine Deutung des Wortes vom Übermenschen diesen Akzent zu setzen, was seiner eigenen Philosophie nicht unvereinbar wäre. Denn, wie sich noch zeigen wird, stellt der Gedanke der Transzendenz für Jaspers ein grundlegendes Element seines Denkens dar, insofern nach der Bewegungs-initiierenden Funktion im menschlichen Dasein gefragt wird. Beide Konzepte, der Übermensch wie – mit Vorbehalt formuliert – die Transzendenz, wären danach Vorstellungen quasi-religiöser Provenienz, die genügend Motivationskraft 17 18
Nietzsche, S. 139. Nietzsche, S. 107.
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aufbringen, um das Verharren des Menschen in einem Sein, das nicht seinen Existenzmöglichkeiten entspricht, zu überwinden. Diese liegen im Sinne beider Denker in der Befähigung des Menschen, sich selbst zu schaffen, sich selbst in die eigene Existenz zu entwerfen, selbst zu werden, anstatt fremdverursacht und wesensbestimmt zu sein. Reflektierend dieser Möglichkeit bewußt zu werden, heißt jedoch für Nietzsche noch nicht, sie auch tatsächlich zu verwirklichen. So beobachtet Jaspers Nietzsches Versuch, deren Realisierung zu beschreiben: »Den Übermenschen hervorzubringen, ist die Aufgabe. […] Der Aufgabe, die Entstehung des Übermenschen zu fördern, will Nietzsche dienen durch sein ganzes Dasein, […]. Aber die grenzenlos weite Idee einer hinauftreibenden Wirkung alles echten menschlichen Tuns verwandelt sich ihm unversehens zu der biologischen Vorstellung einer Züchtung, bei der die Erwartung lenkt, es würde ein neues Wesen entstehen an der Grenze der gegenwärtigen Art des Menschen zu einer höheren Art. Es ist bei der unaufhaltsamen redlichen Infragestellung aller Positionen durch Nietzsche verständlich, daß er dies abstrakte Höher und Höher in dem Gedanken an den Übermenschen selbst wieder aufhebt […].« 19
Das dem Denken Nietzsches zutiefst immanente Risiko, im Konkretisieren des Denkbaren sich selbst zur Gefährdung zu werden, sieht Jaspers letztlich durch den Bewegungsimpuls dieses Denkens selbst gebrochen, das noch im Bild des Übermenschen eine unzulässige Fixierung des Möglichen erkennt. Damit ergreift Jaspers das einzige zur Verfügung stehende Mittel der theoretischen Neutralisierung dieses Gedankens, indem er die Aussetzung jeder Konkretion im Offenen des Denkmöglichen zum eigentlichen Movens in Nietzsches Philosophieren erklärt. Nur vor diesem Hintergrund seiner Deutung ist es statthaft, seinen eigenen Begriff der Transzendenz mit jenem des Übermenschen in einem Atemzug zu nennen. Das Bild der Offenheit, Folge existentieller Öffnung wie auch Offenbarungs-ähnliche Präsentation des Möglichen, charakterisiert das Denken von Jaspers allemal; ob es tatsächlich auch jenes von Friedrich Nietzsche kennzeichnet, bleibt zu fragen. Jaspers liest dessen Werke mit hoher intellektueller Großzügigkeit, wenn er die Brechung jeder einengenden Realisierung zugunsten der Wahrung des Optionalen als deren Merkmal betrachtet. Es wäre immerhin zu über19
Nietzsche, S. 145 f.
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legen, ob das Element des Unverwirklichten in Nietzsches Begriff des Übermenschen programmatisch oder temporär zu werten ist – als Bestandteil erklärter theoretischer Planung oder als erst in der Zukunft zu schaffendes Wesen des Menschen, das in dem Moment, in dem es sein Ideal berührt, jede weitere »hinauftreibende« Motivation einbüßt. Wenn Jaspers betont, daß Nietzsches Denken vom Menschen ausgeht, bleibt ergänzend zu fragen, ob es auch zum Menschen führt, ob die alles Werden begründende und rechtfertigende Formel »Werde, der du bist!« 20 nur dem Selbst gilt oder auch den Anderen einschließt. Vielleicht liegt jedoch in der Empathie, die Jaspers dem Denken Nietzsches gegenüber aufbringt, vor allem eine bemerkenswerte Aussage über sein eigenes Verständnis von Philosophie. In den abschließenden Bemerkungen tritt Jaspers erneut in die Position des Lesenden, den gedanklichen Spuren Nietzsches Folgenden, der seine Haltung des Lesens und Folgens kommentiert. Hier wird deutlich, was er an seinem Vorgänger schätzt, den er als »Erzieher« würdigt. »Er wird Erzieher nicht mit Lehren und Imperativen, nicht durch einen Maßstab, der beständig bliebe, oder als Vorbild eines Menschen, dem wir nachahmend folgen dürften, sondern im Befragtwerden durch ihn und damit in der Bewährung an ihm. Dies geschieht allein durch eine Bewegung.« 21
Jaspers ist davon überzeugt, daß es seiner Zeit am Denken existentieller Dimension mangelt. In Nietzsches Philosophieren sieht er zwei Merkmale, die dieses Denken kennzeichnen, verknüpft: Philosophie kann keine theoretische Vermittlung von Inhalten sein, sondern muß sich selbst als Weg der Erprobung des Möglichen im Raum der Möglichkeit begreifen. Dieser Raum öffnet sich in seiner Auffassung in die Transzendenz. Der zweite Aspekt ist nicht weniger gewichtig: Soll ein neues Denken etabliert werden, ist die Arbeit der Destruktion des Alten unabdingbar. »Der Wille zur wahrhaftigen, geschichtlichen Existenz drängte Nietzsche, alles einzuschmelzen, um zu dem neuen Ursprung zu kommen. Wo er entlarvte, indem er Unwahrhaftigkeiten, Fassaden, hohle, noch vermeintliche Festigkeiten umwarf, war er der eine reine Atmosphäre schaffende Sturm. »Als Schaffender verwandelt sich der Mensch zu neuen Schätzungen und verwandelt damit sich selbst zu dem, was er eigentlich ist. Nietzsche macht sich zu eigen Pindars Forderung: Werde, der du bist!« Nietzsche, S. 133. 21 Nietzsche, S. 404. 20
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Seine Zertrümmerung der ›Moral‹ in der Gestalt, wie sie gang und gäbe war, war großartig und von der Situation gefordert; sie machte den Weg wieder frei für Existenzphilosophie.« 22
III.2 Martin Heidegger Diesen von Nietzsche geebneten Weg zu nutzen ist erklärtermaßen nicht das Ziel Martin Heideggers, der nicht müde wird, gegen eine Vereinnahmung seines Denkens im existenzphilosophischen Sinne zu sprechen 23. Die Vehemenz seiner Worte darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihn mit dem neuen Denken, das sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur in vereinzelten Ansätzen, sondern in programmatischer Dichte zu formieren beginnt, einiges verbindet. Das Etikett der »Existenzphilosophie«, dessen Übernahme er verweigert, nutzt er vornehmlich selbst zur Klassifizierung der Philosophie von Karl Jaspers 24. Daß dieser Nietzsche als Zeugen jener existentiellen Bewährung beruft, der alles Philosophieren im neu zu begründenden Sinne sich aussetzen muß, hatte sich angedeutet. Und Heidegger? Ist die Darstellung der Philosophie Nietzsches in seinen Vorlesungen der Jahre 1936 bis 1940, die er an der Universität Freiburg im Breisgau hielt, nur einer beliebigen Auswahl geschuldet oder Anzeichen zumindest eines wohlwollenderen Verstehens, das im Werk Nietzsches Spuren des eigenen Denkens erkennt? 25 Nietzsche, S. 394. In seinen Schwarzen Heften finden sich zahlreiche Passagen entsprechenden Inhalts, teils in äußerst polemischer Weise formuliert. Zu den eher sachlich gehaltenen Aussagen zählt jene in Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen aus dem Jahre 1931: »›Sein und Zeit‹ – was hierbei Mittel und Weg war, um die Seinsfrage erst zu stellen, machen alle, die das Vorhaben als ›Existenzphilosophie‹ ausgeben, zu Ziel und Ergebnis.« Überlegungen II–VI, II, 183, S. 74. 24 »Die ›Existenzphilosophie‹, die ganz allein Jaspers begründet und ausgebildet, findet ihre Mitte in der Existenzerhellung […]. In der ›Existenzphilosophie‹ kommt, […] die Seinsfrage nicht in den Rang einer Frage; sie bleibt überhaupt unbekannt und unverstanden, sofern Seinsfrage heißt: das Erfragen der Wahrheit des Seyns.« Überlegungen XII–XV, XIV, S. 213. 25 Zur Auseinandersetzung Heideggers mit der Philosophie Nietzsches in den verschiedenen Phasen seines Schaffens liegen einige Untersuchungen vor, auf die an dieser Stelle ausdrücklich verwiesen sei. Harald Seubert verweist in Zwischen erstem und anderem Anfang: Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, S. 30 darauf, daß eine Erforschung des Einflusses Nietzsches auf die 22 23
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In den folgenden kurzen Überlegungen wird es nicht um die Frage gehen, inwieweit sich Elemente aus Nietzsches Denken in Heideggerschen Texten finden lassen. Statt dessen soll jene Auskunft betrachtet werden, die Heidegger selbst zum Denken Nietzsches gibt. Dabei zeigt sich recht schnell, daß er diesen als einen exemplarischen Denker beurteilt, in dessen Werk sich die Entscheidung darüber abzeichnet, ob eine grundsätzliche Umdeutung von Philosophie möglich ist. »Aber Gegenbewegung ist vielleicht jede Philosophie gegen jede andere. Die Bewegung des Gegen hat jedoch in Nietzsches Denken einen besonderen Sinn. Das, wogegen es denkt, will es nicht ablehnen, um anderes an seine Stelle zu setzen. Nietzsches Denken will umkehren. Worauf indes die Umkehrung und die so geartete Gegenbewegung sich beziehen, ist nicht eine beliebige vorangegangene oder gar nur zeitgenössische Richtung irgendeiner Philosophie, sondern das Ganze der abendländischen Philosophie, sofern sie das gestaltgebende Prinzip in der Geschichte des abendländischen Menschen bleibt.« 26
In dieser Intention Nietzsches, ein Denken zu schaffen, das sich selbst voraussetzungslos zentriert, erkennt Heidegger grundsätzlich Verwandtes. Wenn der Bezug, der sich hier abzeichnet, jedoch mehr als nur eine Nähe der Absicht sein soll, muß Heidegger in Nietzsches Schriften mindestens ein Element ausfindig machen, das von ähnlich grundsätzlicher Bedeutung ist wie seine eigene Bestimmung des Seins. Immer wieder, so auch in seinen Vorlesungen, bekräftigt er das fehlgeleitete Ziel der klassischen Metaphysik, die über der Akzentuierung des Seienden die Konzentration auf das Sein vernachlässigte. Sein eigenes Denken, das er, sich darin Nietzsche verbunden wissend, als eine Neu-Positionierung des philosophischen Fragens in seiner Gesamtheit begreift, zielt darauf ab, diese metaphysische Wertung umzukehren. Denn immer nimmt seiner Auffassung nach das Denken des Seienden seinen Ausgang vom denkenden Menschen.
frühen Schriften Heideggers im wesentlichen noch ausstehe. Heideggers Schwarze Hefte enthalten vielfältige Bezugnahmen auf das Denken Nietzsches, die gerade in ihrer unsystematischen Form aufschlußreich sein können. Zum Bezug Heideggers zu Arthur Schopenhauer sei auf die Überlegungen von Søren R. Fauth in Dichtendes Denken und denkendes Dichten: Schopenauer, Heidegger und Hugo von Hofmannsthal verwiesen. 26 Nietzsche I, II, S. 388.
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»Jede Auffassung des Seienden und zumal des Seienden im Ganzen ist schon als Auffassung durch den Menschen auf den Menschen bezogen, der Bezug kommt vom Menschen her.« 27
Unvoreingenommen gelesen drücken diese Zeilen nichts anderes als den Umstand aus, daß alles ›Erkennen‹ des Menschen stets Erkennen des ›Menschen‹ ist. In Heideggers Perspektive trübt diese Tatsache jedoch in unzulässiger Weise die Möglichkeit, Sein zu denken, denn: »Jede Vorstellung des Seienden im Ganzen, jede Weltauslegung ist daher unausweichlich Vermenschlichung.« 28 Das Sein ist kein Gedanke, den Menschen bilden, weil sie ihn denken können, sondern sie können ihn denken, weil sie seiend im Sein sind. Die immer wieder zum Ausdruck kommende Beschränkung innerhalb Heideggers Philosophie, die ein Denken fordert, das nicht nur um des Menschen, sondern um des Seins willen geschieht, wird hier ansatzweise sichtbar. Wenn er also die Priorität der Denkmöglichkeit des Seins in der Philosophie verankern will und sich in dieser Arbeit der Umwandlung bisheriger Metaphysik Nietzsche verbunden glaubt, muß dessen Philosophie einen Gedanken beinhalten, an dem Heidegger eine theoretische Entsprechung feststellen kann. An Nietzsches Lehre der »Ewigen Wiederkunft des Gleichen« führt er diese gegenüberstellende Betrachtung vor. »Gegenüber der vielartigen Unklarheit und Verlegenheit mit Bezug auf Nietzsches Wiederkunftslehre muß im voraus und kann zunächst nur in der Form einer Behauptung gesagt werden: die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist die Grundlehre in Nietzsches Philosophie.« 29
Von der Aufnahme dieses Gedankens, in dem Nietzsche seine Ahnung ausdrückt, daß die Beobachtung des Treibens in der Welt als bloße Wiederholung ungezielter Abläufe doch niemals zum Begriff einer Ordnung oder gar eines sinnhaften Geschehens führen kann, hängt für Heidegger die Beantwortung der Frage ab, ob Nietzsche als Überwinder oder Vollender der abendländischen Metaphysik betrachtet werden darf. »Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist nicht irgendeine Lehre über das Seiende neben anderen Lehren, sie ist aus der 27 28 29
Nietzsche I, II, S. 319. Nietzsche I, II, S. 319. Nietzsche I, II, S. 226.
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härtesten Auseinandersetzung mit der platonisch-christlichen Denkweise und ihrer Auswirkung und Ausartung in der Neuzeit erwachsen. Diese Denkweise wird von Nietzsche zugleich als der Grundzug des abendländischen Denkens überhaupt und seiner Geschichte angesetzt.« 30
Für Nietzsche repräsentiert das Modell der »platonisch-christlichen Denkweise« die überlieferte Sichtweise der Realität, kausal und teleologisch strukturiert, jenes Verständnis der Welt also, gegen das er zu argumentieren sucht. Heidegger nimmt diese Denkweise insofern auch als Kontraposition seines eigenen Philosophierens in Anspruch, als in ihr die Frage nach dem Sein nicht mehr gestellt wird. Ob beider Einschätzung faktisch zutrifft, ist hier fast unwichtig; entscheidend ist ihr Bestreben, eine Negativ-Folie der Philosophie kenntlich zu machen, von der sich ihre eigene Form des Denkens drastisch abheben soll. Nach Heideggers Konstruktion spielt in diesem Prozeß der theoretischen Ablösung der bereits angesprochene Gedanke der »Vermenschlichung« der Perspektive des Denkens die zentrale Rolle, da aus ihr, ganz unabhängig davon, mit welch intellektueller Redlichkeit vielleicht gedacht werden soll, zwangsläufig nur ein verzerrtes, die Dimension des Seins in der Fokussierung des Seienden verwischendes Denken entstehen kann. »All unser Vorstellen und Anschauen ist so, daß wir darin etwas, das Seiende, meinen. In jeder Meinung aber mache ich das Gemeinte zugleich und unausweichlich zum Meinigen. Alles Meinen, das scheinbar nur auf den Gegenstand selbst bezogen ist, wird zu einer Besitznahme und Hereinnahme des Gemeinten in das menschliche Ich.« 31
Wie immer diese Interpretation des Meinens gewertet wird, trägt sie doch zur Verdeutlichung von Heideggers grundsätzlicher Kritik jenes perspektivischen Irrtums im menschlichen Denken bei, das Seiendes betrachtet, anstatt Sein zu gewahren. Der Mensch als erkennendes Subjekt kann Seiendes zu seinem Objekt machen, womit es, wie obige Zeilen recht eindringlich belegen, verfügbar wird. Wahrheit ist auf diesem Wege erkennend niemals zu erreichen, sondern immer nur ein Meinen. Das Sein hingegen läßt sich nicht als Objekt des Erkennens erfassen, sondern allenfalls verstehend erschließen, was vom Menschen eine grundsätzlich differente Haltung des Denkens fordert. Nicht durchdringend, erfassend, kategorisierend soll es sein, 30 31
Nietzsche I, II, S. 227. Nietzsche I, II, S. 320.
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nicht methodisch vermittelbar, sondern in der Enthaltung all dieser Ansätze entstehend. So ähnelt es eher einer Passivität, die jedoch nicht mit Interesselosigkeit oder Ignoranz zu verwechseln ist. An diesem Punkt wird die gedankliche Nähe zu Nietzsches Lehre der Ewigen Wiederkunft wohl am deutlichsten. Auch sie kann höchstens empfangen werden, nicht im Sinne einer Offenbarung, sondern in der Weise plötzlicher Einsicht in das Wesen des Seins. Diese Einsicht ist allerdings wiederum Einsehen des Menschen, so daß es so wirken muß, als wäre der Versuch, Sein nicht vermittelt durch die perspektivische Verschränkung menschlichen Erkennens zu denken, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. »Nun zeigt sich bei der Weltauslegung im Sinne des Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen, daß […] ein Bezug zum Menschen sich meldet, daß hierbei jener Kreis seine Rolle spielt, indem er verlangt, den Menschen von der Welt her und die Welt aus dem Menschen zu denken. Das würde besagen, daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen zwar den höchsten Anschein der äußersten Vermenschlichung an sich trägt, daß er aber gleichwohl das Gegenteil einer solchen ist und sein will. […] Das Bedenken der Vermenschlichung, […] bleibt hinfällig und grundlos, solange es sich nicht selbst in das Fragen der Frage zurückgestellt hat, wer der Mensch sei, der Frage, die nicht einmal gefragt, geschweige denn beantwortet werden kann ohne die Frage, was das Seiende im Ganzen sei. Diese Frage schließt jedoch eine noch ursprünglichere in sich, die weder Nietzsche noch die Philosophie vor ihm jemals entfaltet haben oder entfalten konnten.« 32
Diese ursprüngliche Frage formulierte Heidegger bereits rund zehn Jahre vor seinen Nietzsche-Vorlesungen in Sein und Zeit – es ist die Frage nach dem Sinn von Sein. So wird bei aller Kürze dieser Überlegungen doch eines deutlich: Für Heidegger geht es nicht darum, zu entscheiden, ob er Nietzsches Philosophie als Vorbereitung seines eigenen Denkens wertet. Es gilt nicht, Elemente oder Theoreme ausfindig zu machen, denen seine eigenen Konzepte entsprechen oder die sie widerlegen. Anders als Jaspers nimmt Heidegger Nietzsche nicht als Wegbereiter einer existenzphilosophischen Wende innerhalb der Philosophie des 20. Jahrhunderts in Anspruch. Heidegger ist vielleicht noch nicht einmal wirklich an Nietzsche als Denker interessiert, sondern an der Wirkung seines Denkens. »Soweit einer nicht selbst in die denkerische Auseinandersetzung mit Nietzsche gezwungen wird, kann das nachdenkende Mitgehen im Gedan32
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Martin Heidegger
ken-Gang Nietzsches nur zum Ziel haben, demjenigen wissend näher zu kommen, was in der Geschichte des neuzeitlichen Zeitalters ›geschieht‹.« 33
Dieser Begriff des Geschehens ist nicht mit jener Vorstellung der offenen Entwicklung identisch, die Karl Jaspers nutzt, um Möglichkeit und Aufgabe des Philosophierens im Geiste der Existenz zu beschreiben. In der ersten seiner Vorlesungen, die er 1935 an der Universität Groningen gehalten hat, charakterisiert Jaspers dieses Verständnis wesentlicher Unabgeschlossenheit des Denkens sehr eindringlich. Ausgangspunkt hierfür bildet eine Untersuchung der philosophischen Arbeit von Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, der Jaspers deutliche Parallelität attestiert. 34 »Wird angesichts des Zeitalters und des durch Kierkegaard und Nietzsche geschaffenen Denkens die Frage gestellt: was nun? So verweist Kierkegaard ins absurd Christliche, vor dem die Welt versinkt; Nietzsche weist ins Ferne, Unbestimmte, das nicht als Substanz erscheint, aus der wir leben könnten. Ihre Antworten hat niemand angenommen; es sind nicht die unsern. Es ist an uns, zu sehen, was im Hinblick auf sie durch uns aus uns wird. […] Da das Dasein, der Mensch und seine Welt nicht am Ende sind, kann es ebensowenig eine fertige Philosophie wie eine Antizipation des Ganzen geben. […] Philosophie ist als Denken jederzeit zugleich das sich für diesen Augenblick vollendende Seinsbewußtsein, das weiß, daß es in seinem Ausgesprochensein als ein Endgültiges keinen Bestand hat.« 35 33 Nietzsche I, II, S. 431. Sein »Verhältnis zu Kierkegaard« kommentiert Heidegger hingegen wie folgt: »Darüber habe ich mich nie ausgesprochen, da Solches nur möglich wäre durch eine Auseinandersetzung mit Kierkegaard als einem ›christlichen Denker‹, […]. Man sagt nun: Heidegger hat Kierkegaard übernommen, aber den christlichen Glauben weggelassen und – atheistisch mißbraucht. […] In Wahrheit ist die Frage, die ›Sein und Zeit‹ überhaupt zum ersten Mal stellt, aller Metaphysik und vollends Kierkegaard vollständig fremd.« Überlegungen XII–XV, XIV, S. 215. 34 Von jenen Bezügen, die unter theoretischer Perspektive von Jaspers betrachtet werden, seien die drei wichtigsten genannt: »Beide haben die Vernunft aus der Tiefe der Existenz heraus in Frage gestellt. Noch niemals ist der durchgehende Widerstand gegen die bloße Vernunft auf so hohem Niveau faktisch vollzogener Denkmöglichkeiten so radikal gewesen.« Vernunft und Existenz, I, S. 14. »Die Infragestellung jeder sich in sich schließenden Vernünftigkeit als Mitteilbarkeit der Wahrheit im Ganzen macht beide zu radikalen Gegnern des ›Systems‹, d. h. der Gestalt der Philosophie, die sie in den Jahrtausenden hatte, und die im deutschen Idealismus zu ihrem letzten Glanz führte.« Ebd., S. 15. »Mit diesem Grundgedanken hängt es zusammen, daß beide – die offensten und unbekümmertsten Denker – für Verborgenheit und Maske eine verführende Bereitschaft haben. Maske gehört ihnen notwendig zum Wahrsein. Indirekte Mitteilung wird ihnen notwendig zum Wahrsein.« Ebd., S. 16. 35 Jaspers, Vernunft und Existenz, I, S. 38 f.
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Vorbilder
III.3 Franz Rosenzweig Definiert sich das Denken, das sich selbst als »neu«, nicht jedoch als voraussetzungslos bestimmt, vor allem durch die Akzentuierung des Individuellen, so verwundert es nicht im mindesten, daß auch Franz Rosenzweig sich auf dieselben Ahnherren beruft. Wieder sind es Kierkegaard und Nietzsche, die genannt werden – der eine als Wegbereiter jener Kehre des Denkens, in der es sich von der Idee zum Einzelnen wendet, für den aber der einzelne Mensch letztlich einzig in der Relation zum Göttlichen zählt; der andere als kühner Befreier des Einzelnen aus ideologischer und gesellschaftlicher Determiniertheit. Neben Kierkegaard und Nietzsche tritt in Rosenzweigs Darstellung nun auch Arthur Schopenhauer, der wie Nietzsche nach der Welt fragt, in der der Mensch existiert, als Philosoph aber nicht deren absoluten Sinn und deren abstraktes Wesen zu ermitteln sucht, sondern den Wert der Welt für den Menschen aufweisen will – nicht für den Menschen schlechthin, sondern für diesen Einzelnen. 36 »Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus.« 37
Ist es tatsächlich ein so schwerwiegender Unterschied, ob die Philosophie den Menschen als Menschen oder als Einzelnen thematisiert? Wie allein schon die Auswahl der Vorgänger im Denken zeigt, auf die sich Jaspers und Rosenzweig berufen, könnte er nicht größer sein. Der Mensch ist in seiner allgemeinen Natur, die er mit allen anderen Menschen teilt, definierbar. Der Einzelne ist hingegen gerade in jenen Merkmalen, die ihn vom Anderen unterscheiden, beschreibbar. Das menschliche Wesen fixiert seinen Träger jenseits seiner Verortung in Raum und Zeit, denn es gilt gerade erst unabhängig von ihr. Das Besondere des Individuums wird überhaupt erst sichtbar, wenn es in seiner Zeit und in dem Ort, an dem es existiert, agiert, sich verändert, sich entwickelt, sich entscheidet, das eine zu wollen und das andere zu verwerfen, dem einen Ziel zu folgen und alles durch seine Sprache zu bestätigen. Eine ›Definition‹ des menschlichen Wesens kann nur in einer Begrifflichkeit erfolgen, die von all diesen einzelnen und wan36 37
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 8 f. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 10.
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Franz Rosenzweig
delbaren Faktoren abstrahiert, während dessen ›Beschreibung‹ in einer Sprache stattfinden soll, die so wandelbar wie ihr Gegenstand selbst ist. Hierin liegt eine der Wurzeln jenes tiefen Mißtrauens der Denker der Existenz gegen den Idealismus, gegen das System, gegen das Dogma, gegen die Weltanschauung. Sie alle sind und bleiben wahr, unabhängig davon, ob sie diesem oder jenem Individuum gelten. Gerade dieser oder jener Einzelne ist es jedoch, der in dieser Welt handelt, denkt, fühlt, sich irrt und seinen Irrtum korrigiert und der – ein weiteres Motiv schopenhauerscher Philosophie – in dieser und an dieser Welt leidet. Ob die Beachtung, die das Denken Friedrich Nietzsches im Werk von Jaspers und Heidegger findet, nun dem Empfinden intellektueller Nähe entspringt oder Ausdruck der Bestrebung ist, an seinem Schicksal die Wirkmächtigkeit des eigenen Denkens zu erfragen – unstrittig ist die Bedeutung, die einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk im Kontext existenzphilosophischer Standortbestimmung zukommt. Im Vergleich hierzu erscheinen die Bezüge auf Kierkegaards Schriften eher marginal, wirken weitaus weniger als Folge kritischer Würdigung. Dabei wäre diese gerade mit Blick auf seine Deutung des christlichen Glaubens, ohne die keine seiner philosophischen Konzeptionen möglich und verständlich ist, im Rahmen philosophischer Diskussion unverzichtbar. Dem Denken Arthur Schopenhauers wird weder von Jaspers noch Heidegger offenbar gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil, die es in seiner genuinen Besonderheit zu erfassen suchte. 38 So bleibt es zumeist bei flüchtig anmutenden Erwähnungen. Lediglich Franz Rosenzweig erkennt in Schopenhauers Philosophie eine klare Relevanz für den Entwurf des Neuen Denkens, auch wenn selbst seine Auskünfte hierüber sehr kurz gehalten sind. Die wenigen Zeilen lassen jedoch seine tiefe Sympathie für diesen Denker erkennen, dessen Wichtigkeit Rosenzweig nicht mehr länger aus einer Perspektive, die eigentlich auf Nietzsche gerichtet ist und Schopenhauer lediglich en passant streift, begreifen will.
Ohne Begründung konstatiert Heidegger etwa: »Die maßlose Oberflächlichkeit Schopenhauers wurde Nietzsche zum Verhängnis.« Überlegungen VII–XI, X, 50, S. 327.
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Vorbilder
III.4 Arthur Schopenhauer Obwohl damit ein Bruch der Darstellungschronologie erfolgt, gilt es, für einen kurzen Moment den Blick zurückzuwenden und in gedanklicher Fortsetzung von Rosenzweigs Ansatz zu fragen, worin die besondere Bedeutung Arthur Schopenhauers für die Bildung existentiellen Denkens liegt. »Schopenhauer fragte als erster unter den großen Denkern nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt. Eine höchst unwissenschaftliche Frage, wenn sie wirklich so gemeint war, daß nicht nach dem objektiven Wert, […] gefragt sein sollte, […] sondern wenn die Frage auf den Wert für den Menschen, […] ging. […] hier stand ein Mensch am Anfang des Systems, ein Mensch, der nicht mehr im Zusammenhang der Philosophiegeschichte und gewissermaßen als ihr Beauftragter, als Erbe des jeweiligen Standes ihrer Probleme philosophierte, sondern der ›sich vorgesetzt hatte, über das Leben nachzudenken‹, weil es – das Leben – ›eine mißliche Sache ist‹«. 39
Rosenzweig läßt in dieser Erwähnung, die seine persönliche Ergriffenheit von Schopenhauers Werk keineswegs zu verbergen sucht, bereits anklingen, worin dessen Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang besteht. Tatsächlich sind es besonders drei Elemente in seinen Schriften Die Welt als Wille und Vorstellung und Parerga und Paralipomena, die das spätere Denken der Existenz in entscheidendem Maße antizipieren: Daseinsanalyse, Neubewertung der Philosophie und Letztbegründung von Moral. Bevor diese drei Charakteristika seines Schaffens in aller Kürze betrachtet werden, sei auf eines mit Nachdruck hingewiesen. Schopenhauer entwickelt seine Philosophie in erklärter Bewunderung für das Werk Immanuel Kants, dessen Theorien ihm jedoch speziell in der Frage der Definition von Pflicht nicht weit genug reichen. Dessen ungeachtet operiert Schopenhauer mit der Terminologie, die auch Kant und dessen Vorgänger verwandten, so daß die zentralen Begriffe wie Subjekt und Objekt, Verstand und Vernunft, Anschauung und Kausalität bei ihm grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzung eröffnet Schopenhauer dem Denken jedoch eine ungeahnte Dimension.
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 8 f.
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Arthur Schopenhauer
»Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes WANN und WO seines Daseyns: […] So ist sein Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stets Sterben.« 40
Und in Parerga und Paralipomena schreibt er: »Wenn nicht der nächste und unmittelbare Zweck unsers Lebens das Leiden ist; so ist unser Daseyn das Zweckwidrigste auf der Welt. Denn es ist absurd, anzunehmen, daß der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Noth entspringende Schmerz, davon die Welt überall voll ist, zwecklos und rein zufällig seyn sollte.« 41
Schopenhauer beschreibt eine Stimmung im Dasein, die sich in dieser Form nahezu bruchlos den Skizzierungen der hier zu betrachtenden Autoren einfügen wird. Dabei zeigt das Dasein, das er hier beleuchtet, exakt jenes Merkmal, das in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchen wird – Kontingenz. Spezifikum seines Denkens ist es, daß diese Beschaffenheit des Daseins nicht der Vorstellung eines anonymen Seins korrespondiert, sondern der Annahme des Willens, der sich als vitales Prinzip in der Welt ausdrückt. Sind die Erscheinungen in ihr, ungeachtet ihrer individuellen Natur, lediglich beliebige Manifestationen dieser Energie, verwundert die Beschreibung der Stimmung eines Menschen, der sich in dieser Welt vorfindet, nicht im mindesten. Es ist das Leiden, das sein Sein erfüllt. Grund des Leidens ist wiederum der Wille, der in doppelter Weise spürbar wird: als Lebensenergie, die ununterbrochen Materie strukturiert und neu ordnet, und als Wille im Menschen, der sich speziell in seiner Haltung des Begehrens ausprägt. So wird der Mensch von einem Verlangen zum nächsten getrieben, nicht willenlos, sondern gerade von seinem Willen diktiert, und vermag in keiner Befriedigung dauerhafte Erfüllung zu finden. »Darum nun, solange unser Bewußtseyn von unserm Willen erfüllt ist, solange wir dem Drange der Wünsche, mit seinem steten Hoffen und Fürchten, hingegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück, noch Ruhe. Ob wir jagen, oder fliehen, Un40 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, IV, § 57, S. 405 f. In ähnlicher Weise beschreibt Schopenhauer das »Daseyn« in Parerga und Paralipomena II, XI, § 143, S. 258 f. 41 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, XII, § 148, S. 264.
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Vorbilder
heil fürchten, oder nach Genuß streben, ist im Wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtseyn; […].« 42
Was in Schopenhauers Denken nun sichtbar wird, ist in der Tat mehr als nur eine zufällige Parallele zu späteren Entwürfen. Um seine Betrachtung des Daseins adäquat in philosophischer Form fixieren zu können, bedarf diese seiner Auffassung nach einer grundsätzlichen Klärung. »Wohl kaum ist irgend ein philosophisches System so einfach und aus so wenigen Elementen zusammengesetzt, wie das meinige; […]. Man könnte mein System bezeichnen als IMMANENTEN DOGMATISMUS: denn seine Lehrsätze sind zwar dogmatisch, gehen jedoch nicht über die in der Erfahrung gegebene Welt hinaus; sondern erklären bloß WAS DIESE SEI, indem sie dieselbe in ihre letzten Bestandtheile zerlegt. […] Meine Sätze hingegen beruhen meistens nicht auf Schlußketten, sondern unmittelbar auf der anschaulichen Welt selbst, […].« 43
Nach allen bisherigen Bemerkungen zu einem gewandelten Verständnis von Philosophie können diese Zeilen unkommentiert für sich selbst sprechen. Muß es in Anbetracht dieser tiefen gedanklichen Nähe noch erwähnt werden, daß auch Schopenhauer das abendländische Denken um eine neue Form erweitert, die er in den Texten der Veden findet? Diese sind in seinen Tagen gerade in Übersetzungen zugänglich, die Schopenhauer nicht nur mit philosophischem, sondern auch mit philologischem Interesse zur Kenntnis nimmt. In diesen frühen Schriften erkennt er den Ausdruck jenes einen Gedankens der Menschlichkeit, der auch seine gesamte Auffassung von Moral trägt. Bei deren Darstellung wagt er seine wohl deutlichsten Distanzierungen von den theoretischen Vorgaben Kants, was nicht nur in jener Zeit fast als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen muß. 44 So, wie er ein übermäßiges abstraktes Gedankengebäude innerhalb der theoretischen Philosophie für unnötig hält, betrachtet er es im Rahmen der praktischen Philosophie sogar als unsinnig. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, III, § 38, S. 265 f. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, § 14, S. 131 f. 44 Schopenhauer schreibt in Über die Grundlage der Moral, I, § 2, S. 471: »Besonders aber wird, […] die Kritik der Kantischen Moralbegründung die beste Vorbereitung und Anleitung, ja, der gerade Weg zu der meinigen seyn, als welche, in den wesentlichsten Punkten der Kantischen diametral entgegengesetzt ist.« 42 43
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Arthur Schopenhauer
»Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen, sind alte Ansprüche, die sie [die Philosophie], bei gereifter Einsicht, endlich aufgeben sollte. Denn hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder Verdammnis gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das innerste Wesen des Menschen selbst, […].« 45
Schopenhauer bezweifelt grundsätzlich die Möglichkeit, durch eine theoretische Weisung moralisches Handeln zu initiieren, wie sie seiner Ansicht nach von dem Imperativ ›Du sollst!‹ nur ausgehen kann. »Eine gebietende Stimme, sie mag nun von Innen, oder von Außen kommen, ist es schlechterdings unmöglich, sich anders, als drohend, oder versprechend zu denken: dann aber wird der Gehorsam gegen sie zwar, nach Umständen, klug oder dumm, jedoch stets eigennützig, mithin ohne moralischen Werth seyn. […] Wir müssen um so mehr bedauern, daß reine, abstrakte Begriffe a priori, ohne realen Gehalt und ohne alle irgendwie empirische Grundlage, wenigstens MENSCHEN nie in Bewegung setzen können […].« 46
Durch welche Motivationskraft will Schopenhauer aber den Menschen zu moralischem Handeln veranlassen? Er hat es bereits formuliert, indem er auf das »innerste Wesen des Menschen« verwiesen hatte. Es wirkt vielleicht fast zu einfach, die »Menschlichkeit« dort einzusetzen, wo abstrakte Weisungen der Vernunft versagen. Vielleicht erscheint ihre Berufung auch zu optimistisch, belegt doch die Geschichte ihr Versagen in nicht minder katastrophalem Ausmaß. Doch Schopenhauer ist von der besonderen Kraft überzeugt, durch die die Menschlichkeit den Einzelnen zu menschlichem Handeln führt, gerade weil sie mit eben derselben vitalen Energie aus dem menschlichen Wesen folgt wie sein Begehren. Ihre eigentliche Artikulation erkennt Schopenhauer schließlich im »Mitleid«. »Je nachdem nun theils jene unmittelbare Theilnahme lebhaft und tiefgefühlt, theils die fremde Noth groß und dringend ist, werde ich durch jenes rein moralische Motiv bewogen werden, ein größeres oder geringeres Opfer dem Bedürfniß oder der Noth des Andern zu bringen, welches […] sogar in meinem Leben bestehen kann. […] Diese ganz unmittelbare, ja, instinktartige Theilnahme am fremden Leiden, also das Mitleid, ist die alleinige
45 46
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, IV, § 53, S. 357. Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, I, § 4, S. 479 und § 6, S. 499.
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Vorbilder
Quelle solcher Handlungen, wenn sie MORALISCHEN WERTH HABEN, […] sollen, […].« 47
Die Begründung dieser Handlungen in der Anerkennung des Anderen zu sehen, insofern er nicht als anders, sonders als undifferenziert seiend betrachtet wird, wird speziell Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida als die einzige Möglichkeit erscheinen, eine Moral jenseits der Vernunft zu etablieren. Gleiches gilt für Arthur Schopenhauer, auch dann, wenn er der Vernunft im erkenntnistheoretischen Kontext ihre Bedeutung keineswegs absprechen will. Die Kontingenz des Daseins ist dem Menschen nicht als abstraktes Faktum gegenwärtig, sondern drängt sich diesem im Leiden als konkrete Erfahrung auf. Moralität darf nicht gefordert werden, würde sie doch dann nur egoistischen Motiven entsprechen. Sie eignet dem Menschen als Daseiendem, der sich dem Anderen in Gleichheit so tief verbunden fühlen kann, daß er selbst zur Aufgabe seiner eigenen Interessen bereit ist. Imperative der Vernunft werden allenfalls dann erforderlich, wenn diese elementare Verbundenheit der Menschen nicht mehr berücksichtigt wird. Andererseits ist ihre Dekonstruktion erforderlich, um das Mitleid wieder zum eigentlichen Zeichen der Menschlichkeit werden zu lassen. In diesem wesentlichen Bereich ihrer praktischen Umsetzung muß die tradierte Philosophie Schopenhauers Auffassung zufolge neu definiert werden.
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Schopenhauer, Über die Grundlagen der Moral, III, § 18, S. 584.
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IV. Sprache
IV.1 Franz Rosenzweig In welcher intellektuellen Nähe sich Rosenzweig, der jugendliche Denker, der nicht bereit ist, sich einer akademisch sanktionierten Form des Philosophierens zu beugen, zu Schopenhauer und Nietzsche weiß, wird deutlich, wenn er besonders dessen Sprache und Selbstverständnis beschreibt. »Die Dichter hatten immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht […]. Hier aber kam einer, der von seinem Leben und seiner Seele wußte, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte, wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war.« 1
Muß nicht beinahe zwangsläufig ein Denker, der sich der Sprache der Abstraktion verweigert, ein Sprechen in die Philosophie einzuführen versuchen, das eher dem dichtenden Sagen vergleichbar ist? Rosenzweig selbst demonstriert das Verschwimmen der Trennung zwischen beiden Formen der Sprache in seinem Stern der Erlösung mit unermüdlicher Phantasie, Passion und der unübersehbaren Euphorie, die derjenige verspürt, der weiß, daß er gedankliches Neuland betritt. 2 Zugleich ist er sich darüber völlig im klaren, daß er sein Denken allein durch die Wahl der Form dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aussetzt. Als Denkender, der beim Schreiben zum Sprechenden wird, will er – als Person – in Erscheinung treten, sich nicht als anonymer Vollstrecker des Denkens zu dessen Dienst verpflichten lassen. Darüber hinaus versteht er das Sprechen nicht mehr als Funktion, als Mittel, das Gedachtes formalisiert, sondern als eine selbständige Signatur des Denkens. Für ihn ist Philosophie nicht Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 9. Robert Gibbs in Correlations in Rosenzweig and Lévinas konstatiert: »The Star of Redemption is written in the private language of Rosenzweig’s circle. He draws on various philosophical and theological vocabularies, denoting clusters of concepts by the use of a single word or phrase«, S. 11.
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Sprache
mehr länger die Fixierung von Theorien in einer Terminologie, die erdacht wurde, um das Gedachte ausdrücken zu können, sondern die spontane Koinzidenz von Denker, seinem Thema und seiner Sprache. Alle drei Komponenten wirken gleichwertig zusammen; der Autor verschwindet nicht hinter seinem Text, sondern wird als der Sprechende erkennbar. Die Begriffe, die er dabei verwendet, sind zum Teil dem klassischen Repertoire der Philosophie entlehnt, werden diesem zum Teil aber auch aus anderen Kontexten hinzugefügt, erweitern die Ausdrucksmöglichkeiten um ein Vielfaches – verwässern es in unzulässiger Weise, sagen die Kritiker. Vielleicht ist Rosenzweig derjenige Denker der Existenz, in dessen Form des sprechenden Schreibens am deutlichsten wird, worin er die epochale Wandlung des Sprachverständnisses sieht. 3 Ein klassischer philosophischer Text sollte Wahrheit ausdrücken, indem er die Leser überzeugt; ein Text im neuen Verständnis soll dasselbe Ziel dadurch erreichen, daß er mit den Lesenden kommuniziert. Verfasser, Gegenstand und Sprache verbinden sich in der Relation der Authentizität.
IV.2 Martin Heidegger Rosenzweigs Stern der Erlösung, teilweise auf Feldpostkarten von der Front an die eigene Adresse gesandt, erschien 1921. Knapp 40 Jahre später ist es Heidegger, der in einem 1959 gehaltenen Vortrag mit dem Titel Das Wesen der Sprache erneut auf den eigentümlichen Zusammenhang von Dichten und Denken verweist. Und wieder ist es Nietzsche, der als früher Zeuge jener wesensmäßigen Verwandtschaft zitiert wird. »Beide, Dichten und Denken, brauchen einander, wo es ins Äußerste geht, je auf ihre Weise in ihrer Nachbarschaft […]. Weil man aber von dem durch Jahrhunderte genährten Vorurteil benommen ist, das Denken sei eine Sache der ratio […], mißtraut man schon der Rede von einer Nachbarschaft des Denkens und Dichtens. Das Denken ist kein Mittel für das Erkennen.« 4
Wofür ist es aber dann ein Mittel, wenn nicht für dasjenige Ziel, das ihm – zumindest in der Philosophie – seit jeher zugewiesen wurde? Stéphane Mosès, System und Offenbarung, S. 75 bezeichnet Rosenzweigs Sprache als »Organon der Existenz«, was bedeutet, »[…] daß diese von der Sprache und durch sie konstituiert wird«. 4 Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 173. 3
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Martin Heidegger
Heidegger selbst scheint eine nur zu gut vorstellbare Kritik gerade dieser Aussage zu ahnen, wenn er schreibt: »Verträumte Romantik abseits der technisch-wissenschaftlichen Welt des modernen Massendaseins? Oder das klare Wissen [dessen], der Anderes sieht und sinnt als die Berichterstatter des Aktuellen, die sich in der Historie des Gegenwärtigen erschöpfen […]?« 5
Nicht die Verwalter einer zeitgemäßen und sich in immer gleichbleibender Aktualität reproduzierenden Sicht der Welt sind in Heideggers Augen die wahrhaft Denkenden, sondern diejenigen, die in ihrem Sprechen das Gegenwärtige nennen, zugleich aber immer auf ein Anderes verweisen, das das Benannte übersteigt, überformt und ihm so eine Dimension verleiht, die wissenschaftlich-philosophischen Aussagen nur schwer zugänglich ist. Natürlich ist er sich dessen bewußt, mit einer solchen Umschreibung den Boden philosophischer Sprachauffassung teilweise zu verlassen und sein Denken selbst dem Verdacht »verträumter Romantik« preiszugeben. Unerhört genug ist es, als die tatsächlichen Vorbilder dieser Haltung des Denkens selten Philosophen, aber immer häufiger Dichter zu nennen. Sind rationale Überprüfbarkeit, argumentative Stringenz und Allgemeingültigkeit von Axiomen und Theoremen nicht gänzlich unvereinbar mit der Sprache der Dichtung? Für Heidegger bietet diese eine Variabilität des Ausdrucks, die er für sein eigenes Philosophieren in Anspruch nehmen will. Sein unablässiges Streben, am Wort Bedeutungs-Dimensionen sichtbar werden zu lassen, die über dessen gängige Verwendung hinausweisen, ist in seinen mitunter erstaunlichen Begriffs-Prägungen ebenso ablesbar wie an seinen zahlreichen etymologischen Verweisen. Fast meint man bisweilen, er wolle den Leser seiner Texte zwingen, sich dem Wort-übergreifenden Gehalt der Sprache zu öffnen. »Daher könnte es förderlich sein, wenn wir uns abgewöhnen, immer nur das zu hören, was wir schon verstehen.« 6 Heidegger, Die Sprache im Gedicht, in: Unterwegs zur Sprache, S. 80. Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 160. Gleichwohl betont Löwith, M. Heidegger und F. Rosenzweig, S. 80, es könne mit Blick auf Sein und Zeit der Eindruck entstehen, »[…] als spräche hier nicht mehr ein wirklicher Mensch vom wirklichen Leben und Sterben, sondern ein pures ›Dasein im Menschen‹, […]«. Daß er in anderen Aspekten eine Nähe zwischen beiden Denkern ausmacht, belegen auch seine vielzitierten Einleitungsworte, S. 72: »Wenn Heidegger je 5 6
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Sprache
Der beinahe zurückhaltend anmutende Ton dieser Empfehlung sollte nicht täuschen. Heidegger verfolgt sein Ziel mit einer Konsequenz und intellektuellen Beharrlichkeit, die darauf verweisen, daß hier mehr auf dem Spiel steht als eine bloße Bereicherung des Verstehens von Sprache. Denn was geschieht wirklich, wenn ein Wort einen Ausdruck schafft, der seine Bedeutung übersteigt? Eine Frage wie diese müßte man aussprechen, um die Betonung, auf die es Heidegger ankommt, kenntlich machen zu können. Nicht ›was‹ geschieht, soll ermittelt werden, sondern, was ›geschieht‹. In dieser scheinbar beliebigen Akzentverschiebung zeigt sich die ganze existentielle Dimension des Sprechens. Im wissenschaftlichen und auch im traditionellen philosophischen Sprachgebrauch fungiert das Wort als Träger seiner Bedeutung, in der sich sein Sinn erschöpft. Sprache ist das Medium, durch das eine Theorie entfaltet wird, Übermittlungselement eines Gedankens, der sich weder anders fixieren noch kommunizieren läßt. Diese operationelle Sicht von Sprache bestreitet Heidegger nicht, erkennt ihr in gewissen Bereichen sogar ihre Zweckmäßigkeit zu. Doch wäre die Meinung geradezu unzulässig, das Phänomen Sprache damit ausreichend charakterisiert zu haben. Tatsächlich ist der Ermöglichungsrahmen des Sprechens der Möglichkeitsraum menschlicher Existenz. Wenn noch einmal die Frage nach dem Geschehen im Sprechen aufgegriffen wird, zeigt sich sofort, daß das Wort, ganz gleich, ob es gesprochen oder geschrieben wird, das Hören oder das Lesen dessen auslöst, der es aufnimmt. Banales Gesetz der Kommunikation, so könnte man vorschnell urteilen. Denn in exakt jenem Augenblick, in dem das Wort nicht seine Bedeutung, sondern sich selbst ausdrückt, zieht es den Hörenden in eine Haltung der Empfänglichkeit. Hier soll keine Aussage dechiffriert werden, die vom Sprechenden festgelegt ist, sondern in der Situation, die durch Sprechen und Hören gestiftet wird, ›geschieht‹ etwas, das den Hörenden verändert – er macht eine »Erfahrung«. »Etwas erfahren heißt: unterwegs, auf einem Weg, etwas erlangen. Mit etwas eine Erfahrung machen, heißt, daß jenes, wohin wir unterwegs ge-
einen Zeitgenossen gehabt hat, der diese Bezeichnung nicht nur im chronologischen Sinne verdient, dann war es dieser deutsche Jude, dessen Hauptwerk sechs Jahre vor Sein und Zeit erschien.« Bemerkenswerte Einschätzung, wird berücksichtigt, daß der Text von 1942 stammt.
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langen, um es zu erlangen, uns selber belangt, uns trifft und beansprucht, insofern es uns zu sich verwandelt.« 7
Es ist kein Zufall, daß Heidegger zur Beschreibung dieses außergewöhnlichen Prozesses Bilder der Räumlichkeit und der Bewegung verwendet. Erfahren vergleicht er mit dem ›Unterwegssein‹, und, in weiter verfolgter Konsequenz, Verstehen nicht mit dem Erreichen eines Zieles, sondern dem Passieren einer Wegmarkierung, die ihrerseits wieder auf einen weiteren Horizont verweist. Titel seiner Schriften wie Wegmarken oder auch Feldweg illustrieren diese Metaphorik. Im Titel seines Vortrages Das Wesen der Sprache scheint er beinahe selbst seiner eigenen Absicht zu widersprechen, ist es doch das ein für allemal Bestehende der Sprache, das er darstellen müßte, wollte er dem klassischen Begriff des Wesens folgen. Viel eher wäre es ein Titel wie Der Weg zur Sprache, der hier programmatisch ankündigt, was als Erfahrung zu ermöglichen sei. Wenn er denn überhaupt dem Begriff des Wesens der Sprache folgt, dann in einer durchaus speziellen Weise, wenn er zunächst deren herkömmliche Betrachtungsweise anführt. »Indes bezieht man dabei alle Aussagen im voraus auf die von altersher maßgebende Erscheinungsweise der Sprache. Man verfestigt hierdurch die schon festgemachte Hinsicht auf das Wesensganze der Sprache.« 8
In dieser Auffassung manifestiert sich im Wort das Bedeutete, doch nichts darüber hinaus. Heideggers Aufmerksamkeit gilt aber gerade diesem ›darüber hinaus‹, dieser freien Bewegung des sich fortsetzenden Sagens als Form lebendigen Geschehens. »Die Sprache spricht. Wie ist es mit ihrem Sprechen? Wo finden wir solches? Am ehesten doch im Gesprochenen. […] Im Gesprochenen versammelt das Sprechen die Weise, wie es währt, und das, was aus ihm währt – sein Währen, sein Wesen.« 9
Das Wesen der Sprache soll als ein Gewähren verstanden werden, das sich jedoch nicht an seinem Inhalt bemißt, sondern an dem, was es ermöglicht. Diejenige Sprache, die diesem Anspruch selbst in der schriftlich fixierten Form gerecht wird, ist diejenige der Dichtung, weil sie das Ereignis des Verstehens noch fast wie ein Hören des ge7 8 9
Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 177. Heidegger, Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 15. Heidegger, Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 16.
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Sprache
sprochenen Wortes ermöglicht. Die Sprache des Gedichtes trägt den Hörenden über ihr tatsächliches Wort hinaus, öffnet ihm den Weg zum eigentlichen, weil zutiefst eigenen Wort, das sich mit dem Gehörten mitunter nur noch durch die Erinnerung an den Klang verbindet. Hier gerät das Denken des Hörenden in jene Bewegung, die ihn über das Dekodieren einer bestimmten Aussage hinausleitet und ihm jene Erfahrung der gedanklichen Beweglichkeit verschafft, die für Heidegger den unvergleichlichen Wert der Sprache ausmacht. »Nichts liegt daran, eine neue Ansicht über die Sprache vorzutragen. Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen.« 10
Immer wieder taucht das Motiv des Wohnens bei Heidegger auf, so etwa in seinem 1951 gehaltenen Vortrag Bauen.Wohnen.Denken. Wie konkret der Begriff des Wohnens zu fassen ist, bedarf allerdings der Klärung. Wohnen heißt für Heidegger: Aufenthalt haben, heimisch sein, Ursprungszustand und zu erstrebendes Ziel, heißt vor allem – ›sein‹. Auch wenn sich in diesen Begriffen eher die Beschreibung eines statischen Zustandes anzudeuten scheint, heben sie die zuvor betonte Wichtigkeit des Geschehens und der Erfahrung als Charakteristika der Sprache keineswegs auf. Denn in welchem Ausmaß verwirklicht der Mensch dieses Wohnen in der Sprache tatsächlich? Inwieweit ist Existenz Annäherung an ein Ziel abgeschlossen geglaubter Veränderung, das sich im selben Moment wiederum nur als Etappe einer unabgeschlossenen Bewegung erweist? Der Mensch muß wieder lernen, in der Sprache zu wohnen, so formuliert es Heidegger. 11 Aber ist er allein vor diese Aufgabe gestellt, die so archaisch wahr und doch so wundersam verschlüsselt klingt, daß es fast unwirklich erscheint, ihr jemals gerecht werden zu können? Allein ist der Mensch, doch zugleich angesprochen. In einem Gedicht von Georg Trakl findet Heidegger das Bild der Seele als »Fremdes auf Erden«. Von diesem Motiv läßt er sich leiten, dem Begriff des Fremden nachzugehen. »Doch was heißt ›fremd‹ ? Man versteht unter dem Fremdartigen gewöhnlich das Nichtvertraute, was nicht anspricht, solches, das eher lastet und beunruhigt. Allein, ›fremd‹, althochdeutsch ›fram‹, bedeutet eigentlich: an-
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Heidegger, Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 33. Heidegger, Die Sprache im Gedicht, in: Unterwegs zur Sprache, S. 38.
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Martin Heidegger
derswohin vorwärts, unterwegs nach …, dem Voraufbehaltenen entgegen. Das Fremde wandert voraus.« 12
Unversehens wird aus dem Beunruhigenden des Fremden das Leitende, Weisende, allein durch die Art, in der Heidegger auf das Wort ›fremd‹ hört. An unzähligen Stellen wie dieser demonstriert er in seinem eigenen Umgang mit der Sprache jenes Unterwegs-sein zu dem, das sich wohl ahnen, aber niemals definieren läßt. Vielleicht verführt sein oftmals pathetisches, nicht selten sogar weihevoll anmutendes Sprechen von dem Eigentlichen der Sprache dazu, hier Mysteriös-Mystisches, schwer Durchschaubares und daher für den Menschen inmitten seines Lebens letztlich Unnützes zu vermuten. In sehr stark vereinfachender Weise gelesen, bedeutet das Plädoyer Heideggers für eine permanente Annäherung an die Sprache eine Ermutigung, sich nicht mit dem einmal gelernten und danach wohlvertrauten Sinn eines Wortes oder einer Aussage zu begnügen, sich nicht mit weniger zufriedenzugeben, als möglich wäre. Wie seine Lesart des Fremden zeigt, gibt es doch in einer Zeile eines Textes so vieles zu entdecken, zu erschließen, das die eigene Perspektive auf die Dinge in der Welt und damit letztlich auf diese selbst erweitern kann. Was ihn inspiriert, ist das unersättliche Verlangen nach dem, was zu wertvoll ist, um unerkannt zu bleiben, die Neugierde vielleicht auch auf das Überraschende, Ungeahnte, das vergessene Bezüge zwischen dem Menschen und dem Sein freilegt. Sich nicht mit weniger zufriedenzugeben, als möglich ist – in diesem Satz, der an der Schnittstelle zwischen Ernsthaftigkeit und Banalität zu schweben scheint, läßt sich mit einigem Mut zur Reduktion eine Auffassung des Denkens der Existenz formulieren. In Heideggers Sprache zurückgewendet, liest es sich so: »Im dichtenden Namen […] ruft Trakl jenes Menschenwesen, dessen Antlitz, d. h. Gegenblick, im Denken an die Schritte des Fremdlings […] vom Heiligen beschienen wird.« 13
Das Fremde, unspezifiziert Bleibende, das aber gerade deshalb einen niemals versiegenden Ansporn für den Menschen bedeutet, es zu ergründen, zu begreifen, ihm zu folgen – diese begriffliche Gleichung wird Heidegger zu keinem Zeitpunkt seines Schaffens aufgeben. Ver12 13
Heidegger, Die Sprache im Gedicht, in: Unterwegs zur Sprache, S. 41. Heidegger, Die Sprache im Gedicht, in: Unterwegs zur Sprache, S. 46.
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Sprache
stehen heißt für ihn nicht, etwas komplett zu erfassen, festzuhalten im Erkennen, weder einen Satz, ein Wort, noch einen Menschen. Vor allem aber nicht die Vorstellung von sich selbst. Daher benutzt er immer wieder die Bilder der Wege, des Unterwegs-seins, der Annäherung an das Mögliche, die es doch niemals ausschöpft, ja nicht einmal berührt, »auch nicht bloß wie eine Tangente« 14, möchte man im Vorgriff auf eine spätere Formulierung ergänzen. Denn während der Überlegungen zum heideggerschen Sprachdenken hat sich fast unmerklich bereits ein Sprechen über Lévinas in diese eingefügt, am deutlichsten erkennbar an den Motiven des Fremden und des Antlitzes. Ist es Zufall, daß diese beiden Bilder, die die Philosophie des Späteren wie keine anderen prägen, bereits bei Heidegger auftauchen? Und ist es eine zufällige Parallele, wenn Heidegger in seinem Text Der Weg zur Sprache unter den verschiedenen Möglichkeiten, diesen Zugang zu finden, auch das Erzählen nennt? »Im Sprachgebrauch zeigt sich eine Mannigfaltigkeit von Elementen und Bezügen. Sie wurden aufgezählt und gleichwohl nicht aneinandergereiht. Im Durchgehen, d. h. im ursprünglichen Zählen, […] ergab sich die Bekundung eines Zusammengehörens. Das Zählen ist ein Erzählen, das auf das Einigende im Zusammengehören vorblickt und es gleichwohl nicht zum Vorschein bringen kann.« 15
Die Weigerung, die Wirkung der Sprache auf eine rein logische Struktur zurückzuführen, erfordert ein Vorgehen, das einer Methodik äußerlich vergleichbar deren Ausrichtung auf ein definierbares Ergebnis doch untergräbt. Diese Vorgehensweise, die eher einem Stilmittel verwandt zu sein scheint, sieht Heidegger im Erzählen. Eine herkömmliche Deutung würde in diesem Begriff wahrscheinlich den Vortrag von etwas Erdachtem verstehen. Für Heidegger meint er die Zusammenfügung von Verschiedenem zu einem Verbund der Beziehung, eine Auffassung, die der traditionellen Bedeutung von Erzählung möglicherweise widerspricht, sie aber von der Vorstellung eines dadurch vermittelten Sinnkontextes befreit. Erzählend ist auch bei Rosenzweig der Stil des neuen Philosophierens. So scheint Heidegger dessen Sprachdenken fortzuführen und zugleich dasjenige von Emmanuel Lévinas anzukündigen – bemerkenswertes Facette des Denkens der Existenz.
14 15
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, B.2, S. 81 f. Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 251.
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Innehalten
IV.3 Innehalten Bei aller Faszination, die ein Sprachverständnis im Sinne Heideggers ausübt, kann jedoch dessen negative Seite nicht verschwiegen werden. Was sich unter philosophischer Perspektive wie der Versuch liest, eine Bewegung des Denkmöglichen zu initiieren, gewinnt unter der Betrachtung im politischen und zeitgeschichtlichen Kontext leicht eine andere Konnotation. Das Weisen in eine Unabgeschlossenheit, die das Denken als eine ununterbrochene Annäherung an eine optionale Struktur des Seins begreift, kann in dieser Sicht zur Ankündigung einer zu verwirklichenden Vision von Gesellschaft, Kultur und staatlichen Herrschaftsansprüchen werden. Gerade das Ansinnen eines Sprechens, nicht nur Mitteilung zu sein, sondern ein Geschehen kommunikativer Natur zu ermöglichen, durchläuft eine dramatische Wertungsmodifikation, wenn es von der interpersonellen auf die politische Ebene übertragen wird und dabei, so widersinnig es auch wirkt, seine personale Natur einbüßt. Was in ersterer den Reiz der performativen Dimension von Sprache kennzeichnet, kann in letzterer zur vermeintlichen Begründung und Legitimation demagogischer Verzerrung und propagandistischen Mißbrauchs werden. Inwieweit Heideggers Sprach-Verstehen diese Implikationen von Anbeginn an beinhaltet, kann hier nicht entschieden werden. 16 Die Tatsache, daß mit Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas zwei jüdische Denker eine Sicht auf das Geschehen der Rede und des Sprechens formulieren, die der heideggerschen formal in vielen Punkt ähnelt, zählt sicherlich zu den verwirrendsten Merkmalen der Philosophie im 20. Jahrhundert. Die Suche nach Möglichkeiten theoretischer Aussagbarkeit jenseits der wissenschaftlichen Terminologie ist von jeher Anliegen existenzphilosophischer Denker gewesen. Gerade
16 Es sei darauf verwiesen, daß die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte eine erneute Auseinandersetzung mit Heideggers Deutung des Nationalsozialismus erfordert. Ob eine Einschätzung wie diejenige, die Pierre Bordieu 1988 in Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 14 formulierte, noch heute gelten kann, wäre zu fragen. »Wie es falsch wäre, Heidegger, der Affinität seines Denkens mit dem von Essayisten wie Spengler und Jünger wegen, ausschließlich in den politischen Raum zu versetzen, so nicht minder, wollte man ihn nur im ›eigentlich‹ philosophischen Raum, das heißt innerhalb der relativ-autonomen Geschichte der Philosophie, verorten, etwa unter Berufung auf seinen Gegensatz zum Neukantianismus. Die prägnantesten Merkmale und Wirkungen seines Denkens finden gerade in dieser doppelten Referenz ihr Prinzip.«
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Sprache
dieses Bestreben charakterisiert Theodor W. Adorno mit Blick auf Heidegger in pointiert-kritischer Weise: »Was Philosophie möchte; ihr Eigentümliches, um dessentwillen ihr die Darstellung wesentlich ist, bedingt, daß alle ihre Worte mehr sagen, als jedes sagt. Das schlachtet die Technik des Jargons aus. Die Transzendenz der Wahrheit über die Bedeutung der einzelnen Worte und Urteile wird von ihm den Worten als ihr unwandelbarer Besitz zugeschlagen, während jenes Mehr allein in der Konstellation, vermittelt sich bildet.« 17
Diese Betrachtung, die vornehmlich der Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gilt, fordert gerade heute wieder ungeschmälerte Aufmerksamkeit. Sie verdeutlich die Gefährdung, der eine Sprache ausgesetzt ist, die sich nicht mehr als Medium der Vermittlung, sondern Instrument diffuser Verweisungen des Gegenwärtigen in situations-transzendierende Zukünftigkeit begreift. Verliert diese Sprache ihre Bindung an das Reale, das sie beschreibend und analysierend wohl zu verändern vermag, zugunsten bloßer Ankündigung eines Kommenden, erstickt ihr utopisch-irrealer Gestus jede Chance, Freiräume des Denkbaren zu schaffen, die als Erweiterung und Bereicherung, nicht als plumpe Negation des Gegenwärtigen wirken. Aus Heideggers Sprach-Verständnis lassen sich drei zutiefst differente Facetten ablesen. Zum einen gibt es in seinen Schriften jenen die Existenzphilosophie charakterisierenden Versuch, dem Denken wieder eine verloren geglaubte Variabilität und terminologische Flexibilität zu ermöglichen. Die hier betrachteten Ansätze belegen diese Suche Heideggers und erlauben eine Berücksichtigung im vorliegenden Kontext. Daneben ist jedoch auch zu beobachten, wie schnell der Gebrauch von Sprache sich in sich selbst verliert, wenn ihre Bedeutung wichtiger als ihr Ausdruck gesetzt wird. Unabhängig von sprachphilosophischen und linguistischen Definitionen sollen diese beiden Ausdrücke genutzt werden, um zwischen zwei Ebenen der heideggerschen Begriffsarbeit unterscheiden zu können. Die Verwendung des Begriffes vom Seyn 18 mag hierfür ein Indiz sein. Er weist einem Terminus, der nicht mehr dem Ausdruck des Tatsächlichen dient, die fatale Funktion zu, eine abstrakte Bedeutung Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, S. 13. Die Entwicklung dieses Begriffes in den späteren Schriften Heideggers kann nicht Gegenstand der vorliegenden Überlegung sein.
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Innehalten
zu suggerieren, die dann zum Maßstab zu fordernder Gestaltung der Wirklichkeit erklärt wird. Das Bild des Menschen, der nicht mehr dem Sein verpflichtet ist, sondern dem Seyn dient, ist Kennzeichen hierfür. Die dritte Seite von Heideggers Sprach-Verständnis führt seine ursprüngliche Intention, so es diese denn jemals gegeben hat, in der schrecklichsten Weise ad absurdum. Denn nun verzerrt sich die vormals irreale, doch noch immer nur theoretisch relevante Bedeutung von Sprache in eine neue Form des Ausdrucks – des Ausdrucks ideologischen Wahns. Wurde der Begriff vom Sein als Kennzeichen des durchaus auch noch konkreten In-der-Welt-Seins verstanden, büßte jener des Seyns jegliche Aussagekraft über Reales ein. Aus der formalen Anzeige, daß etwas ist, wurde eine Verweisungsformel, die über jede Realität hinaus ein kommendes Zeitalter einzig wahren Verständnisses von Seyn ankündigte. Bereits in diesem Schritt ist die noch erkennbare Verknüpfung der ursprünglichen Bezeichnung des Seins mit jener von Existenz längst einem diffusen Willen zur Preisgabe des Konkreten geopfert worden. Die in der Geschichte westlicher Rationalität beispiellose gedankliche Monstrosität zeigt sich dann, wenn ein Ideal, das sich bar jeden Realitätsbezuges hält, unter Einsetzung realer Mittel und vermeintlicher Kompetenzen verwirklicht werden soll. Dabei ist dessen Umsetzung von Anfang an so konzipiert, daß sie nicht dem Menschen zugute kommt, sondern diesen unter die Herrschaft eines Ideals, das sich nun zur Ideologie verzerrt, zwingt. Unrecht wird legitimierbar, sobald Gerechtigkeit nicht mehr im Wissen um den Menschen gerechtfertigt ist. Es wäre zu fragen, ob Heidegger immer schon das Ziel seiner Philosophie darin sah, einer Herrschaft des Seyns dienstbar zu sein, oder ob deren gedankliche Vorgaben und sprachliche Möglichkeiten den Glauben hieran erst gefördert haben. Es spricht einiges dafür, daß Heideggers Gebrauch der Sprache, deren Mißbrauch ihn die furchtbarsten Konsequenzen in Kauf nehmen ließ, auch ein Beleg für ihre grundsätzliche Gefährdung ist, sobald Bedeutung und Ausdruck nicht mehr aufeinander verweisen. 19 Diese kurze Überlegung soll und kann in keiner Weise die detaillierten Untersuchungen von Heideggers Verbindung zum Nationalsozialismus ersetzen. Eine grundsätzliche Einschätzungen bietet z. B. Arnulf Müller in Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff, S. 324: »Heideggers Af-
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Sprache
IV.4 Emmanuel Lévinas Spätestens an dem Gedanken der Sprache wird nachvollziehbar, warum Franz Rosenzweig das Denken von Emmanuel Lévinas in so nachdrücklicher Weise beeinflussen konnte. Das rosenzweigsche Sprach-Empfinden läßt sich nicht wirklich darstellen, ohne dabei bereits die besondere Beziehung zu streifen, die seiner Auffassung nach durch das Sprechen gestiftet wird, ganz gleich, ob im unmittelbaren Akt der verbalen Begegnung oder transportiert durch das vermittelnde Medium der Verschriftlichung. Für ihn steht eines fest: Der Sprechende teilt nicht mit, er teilt: die Zeit seines Sprechens und Schreibens mit der des Lesenden, sein Denken mit dem des Anderen, wobei sich das seinige und das andere vielleicht im günstigsten Moment berühren, ergänzen, zu einer neuen Wendung verbinden, die die Tiefe oder das Ausmaß des ursprünglich Gedachten um ein Vielfaches übersteigen kann. Längst geht es für Rosenzweig nicht mehr um Theorien der verbalen Kommunikation oder um Modelle der Signifikation, sondern um eine Dimension des Sprechens, die auf einen ganz anderen Bereich verweist – den des Zwischenmenschlichen. Auch Lévinas vertritt das grundlegende Motiv der Entfremdung des Individuellen im Allgemeinen, 20 so wie es ebenfalls von Karl Jaspers herausgestellt wurde, ergänzt die Kritik hieran aber um eine erkenntnispsychologische Dimension. Was bedeutet die Bildung eines Begriffes für das so Begriffene? Wie viel seiner originären Qualität bleibt erhalten, wenn es nicht nur bezeichnet, sondern als solches Gegenstand theoretischer Betrachtung wird? Wie viel der Besonderheit eines individuellen Menschen kann sich in diesem Fall erhalten?
finität zur nationalsozialistischen ›Revolution‹ lässt sich nur zu einem sehr kleinen Teil aus deren proklamierten Zielen verstehen. Mit den Kerninhalten der NS-Ideologie, mit dem Biologismus, der Rassenlehre, dem Antisemitismus, der territorialen Expansionsbestrebung usw. weist seine Philosophie keine Berührungspunkte auf. Zum größten Teil entzündet sich seine Begeisterung an dem äußeren Charakter des Geschehens und an dessen Einbettung in die gesamtgeschichtliche Lage.« Ob diese Einschätzung nach der Lektüre der Schwarzen Hefte aufrechtzuerhalten ist, ist fraglich, insofern sich dort explizit antisemitische Äußerungen Heideggers finden. Heideggers Anerkennung, daß der Nationalsozialismus »den geschichtlichen Augenblick als Entscheidungsmoment auf die Spitze« treibt, betont etwa auch Meike Siegfried in Abkehr vom Subjekt, S. 407 f. 20 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A.4, S. 50.
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Emmanuel Lévinas
»Die Neutralisierung des Anderen, das Thema oder Gegenstand wird, das erscheint, d. h. seinen Platz im Licht einnimmt, ist nichts anderes als seine Reduktion auf das Selbe.« 21
Das alte Unbehagen an der Verallgemeinerung des Besonderen im Zugriff der Dogmatik, das bereits Jaspers umgetrieben hatte, drängt sich erneut in den Vordergrund. Und mit einer Intensität, die den früheren Warnungen vor der Ent-Individualisierung, die sich hier abspielt, noch nicht zu eigen war, entlarvt Lévinas ihre Folgen. »Erkennen läuft darauf hinaus, das Seiende von nichts her zu packen oder es auf nichts zurückzuführen, ihm seine Andersheit zu nehmen. Mit dem ersten Lichtstrahl stellt sich dieses Ergebnis ein. Erhellen, aufklären heißt, dem Seienden seinen Widerstand nehmen; […].« 22
Es ist nicht mehr eine Form der Entfremdung, vor der Lévinas warnt, in der das Besondere Teile seiner Besonderheit einbüßt, sondern dessen Enteignung, dessen Entkräftung. Das Brechen des Widerstandes, hier als Bild in die klassische Metaphorik des Lichtes eingebettet, das doch Jahrhunderte lang für Verstehen, Erkennen und das Erlangen von deutender Klarheit stand, legt die ganze Dramatik jenes Geschehens bloß, das das Andere zum Erkannten degradiert. Drückte dabei seit der Antike das Licht die Macht des Verstandes aus, das Dunkle, Undurchschaubare zu klären, es einem Gefüge des Denkens zu integrieren, das den Denkenden zum Herrn über seine Undurchdringlichkeit erklärte, so verschiebt sich dessen Bewertung nun drastisch. Der Herr über das Erkennen erzwingt den Zuwachs an Wissen durch die theoretische Nivellierung des Erkannten. Licht nicht mehr als Metapher des Verstehens, sondern als Inbegriff der schonungslosen Durchleuchtung des Fremden, das nicht erhellt wird, um es in seiner Charakteristik zu begreifen, sondern um es auf das Vertraute, das letztlich aber nur eine Projektion des Selbst ist, zurückzuführen. Vielleicht mag es so wirken, als hätte die Radikalität dieser Auffassung wenig mit den Warnungen vor einer falschen Entwicklung der Philosophie zu tun, wie sie Jaspers, Heidegger und auch Rosenzweig formulierten. Grundsätzlich handelt es sich aber immer noch um denselben Zusammenhang – wenn das Denken sich von seiner ursprünglichen Bestimmung entfernt, verliert es den Bezug zum Ge21 22
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A.4, S. 51 f. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A.4, S. 52.
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Sprache
dachten und, so ergänzt Lévinas, verzerrt die Relation beider mit fatalen Folgen. Die Beziehung zwischen Denkendem und Gedachtem ist in der Wertung von Lévinas längst keine harmlose Verbindung mehr, in der vielleicht die klassische Differenzierung von Subjekt und Objekt immer wieder ihre Bestätigung findet. Der Zusammenhang zwischen beiden ist nicht mehr wertneutral in der Weise, daß den beiden Aspekten bloß unterschiedliche Funktionen im selben Prozeß des Erkennens zufallen. Ganz im Gegenteil. Das Gedachte, oder um es in der Terminologie von Lévinas zu sagen: das Andere, ist ja längst als das Fremde bewertet worden, das zu einer psychologischen Reaktion herausfordert. Das Fremde ist etwas anderes als das Nicht-Selbe, denn auf einer zutiefst irrationalen Basis des Erlebens signalisiert es Beunruhigung, Irritation und im extremen Fall sogar Gefährdung des Vertraut-Bekannten. Was bei den drei anderen Denkern als Kritik eines falschen Selbstverständnisses von Philosophie begann, hat sich zur ethisch motivierten Kritik am philosophischen Wissen abendländischer Tradition schlechthin ausgeweitet. Unweigerlich drängen sich bei der Suche nach Begründungen für diesen Sachverhalt die Bedingungen der Entstehung der jeweiligen Warnung auf. Jaspers, Heidegger und Rosenzweig artikulierten ihre Überzeugungen während des Ersten Weltkrieges oder in der unmittelbaren Folgezeit; Lévinas zieht in seinem Denken die Konsequenzen aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Wie Rosenzweig ist er Denker jüdischen Glaubens. Die auffällig oft von utopischem oder zumindest zukunftsorientiertem Optimismus geprägte intellektuelle Stimmung der zwanziger Jahre ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer abgrundtiefen Desillusionierung gewichen. Der Mensch ist zwar noch immer derjenige, der durch eine neue Philosophie sein Geschick zum Besseren wenden möchte, doch ist der dafür notwendige Prozeß nun ein anderer. Es genügt nicht mehr, eine Korrektur des Denkens zu fordern, um die Philosophie zu erneuern und ihren Einfluß auf das menschliche Verhalten zu korrigieren. Die Bedingtheit des Denkens und Philosophierens insgesamt gilt es nun zu hinterfragen, wobei vor allem psychische Faktoren relevant werden. 23 Nun lautet die entscheidende Frage nicht mehr ›Wie denkt der 23
Es sei in diesem Kontext speziell auf die Untersuchungen von Michel Foucault und
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Karl Jaspers
Denkende das Gedachte?‹ und auch nicht mehr ›Wie erkennt das Subjekt das Objekt?‹, sondern ›Welche Reaktion löst das Unbekannte im denkenden Selbst aus?‹. Längst ist die Analyse erkenntnistheoretischer Vorgänge zur Untersuchung intersubjektiver Prozesse geworden. Denn Denken und Erkennen sind für Lévinas keine Abläufe von rein theoretischer Relevanz, sondern Bedingungen komplexer Bezüge zwischen Mensch und Welt. In der Sprache schließlich drücken sich diese Beziehungen als Verhaltensweisen aus und Rede ist ethische Handlung par excellence. Hier entfaltet die Dynamik der verbalisierenden Relation, nur unzureichend mit dem Begriff der Kommunikation umschrieben, ihre ganze Vitalität – im günstigsten Fall – und ihre ganze zerstörerische Gewalt – im gegenteiligen Fall. Gelingt die Rede zwischen dem Selben und dem Anderen, schafft sie den Augenblick tatsächlicher Begegnung, die für Lévinas weitaus mehr ist als ein bloßes Kennenlernen, ein eher beiläufiger Austausch von Ansichten oder Gedanken.
IV.5 Karl Jaspers In durchaus eigener Intensität thematisiert Jaspers eine Frage, die für die anderen Denker nicht minder wichtig gewesen, doch nicht immer in der Weise selbst zum Gegenstand der Diskussion geworden ist – die Frage, ob Existenz überhaupt jemals angemessen darstellbar ist. 24 Da sie sich nicht als etwas Bestehendes der Betrachtung anbietet, sondern sich gerade jedem Versuch, sie fixierend zu denken, entzieht, insofern sie reine Prozessualität ist und auch nur als solche erscheiGilles Deleuze verwiesen, die den Zusammenhang erkenntnistheoretischer, psychologischer und gesellschaftlicher Prozesse beleuchtet haben. 24 Dieser Frage verleiht Bahman Pazouki in Existenz und Vernunft bei Karl Jaspers durch seine Aussagen zur Existenz Nachdruck, S. 175: »Existenz ist also sich selbst als Begründung unfähig. […] Der endgültige Grund des Selbstseins ist in der Transzendenz. Demnach ist Existenz nicht so zu denken, als ob sie auch ohne Transzendenz sein könnte, […].« Und S. 181: »Als Existenz […] denken wir zur Transzendenz hin in Gegenständen, die wir Chiffren nennen. In ihnen wird die Zugkraft von der Transzendenz her auf Existenz Sprache.« Und Hans Saner konstatiert in Denkbilder im Spannungsfeld von Einsamkeit und Kommunikation, S. 56: »Das schwebende Denken der Metaphysik denkt in Symbolen ohne Denotat. Die ›Chiffren‹ haben also nichts ausser sich, worauf sie hinweisen. Sie sind, was sie sind, nämlich ideales und reales Seiendes, das aber aus der Existenz eines Betrachters plötzlich ›transparent‹ wird für ihn und nur für ihn.«
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Sprache
nen kann, scheitern herkömmliche Wege der rationalen Erschließung zwangsläufig. »Wenn sie kein Objekt wird, scheint es hoffnungslos, sie im Denken ergreifen zu wollen. Da dieses Denken nie Ergebnis und Bestand gewinnen kann, scheint der Versuch, die Existenz zu denken, sich selbst vernichten zu müssen.« 25
So offensichtlich war bislang das Denken der Existenz nie zu einer Frage der möglichen Begrenztheit des Denkens selbst erklärt worden. 26 Zwar sucht auch Heidegger nach einer Sprache, die dem denkenden Denken Ausdruck zu sein vermag, doch findet er sie im dichtenden Wort, das eine Elastizität des Bedeutens bietet, die seiner Ansicht nach jeden vorstellbaren theoretischen Begriff übersteigt. An der Denkbarkeit selbst des Seins zweifelt er jedoch nicht, auch nicht an jener der Existenz. Rosenzweig ist von der Notwendigkeit überzeugt, dem Bezugssystem von Schöpfung und Sein eine neue und adäquate Form der Artikulation zu geben, und wählt entsprechend die Weise der erzählenden Darstellung. Die Denkbarkeit selbst dieses Verweisungszusammenhanges stellt auch er zu keinem Zeitpunkt in Frage. Und selbst Lévinas, der wohl am kompromißlosesten die Kategorien tradierter Rationalität zu überwinden sucht, würde diesen Zweifel, der für Jaspers durchaus schwerwiegend ist, nicht zwingend teilen. In welchem Sinne verwendet also Jaspers den Begriff des Denkens, den er dann für problematisch hält, sobald er auf die Existenz angewandt werden soll? Wie er selbst sagt, heißt Denken für ihn im vorliegenden Kontext Erfassen des Gedachten als Objekt und damit einhergehend dessen Fixierung als vermeintlich Unveränderliches. Eine solche statiJaspers, Philosophie II, c.1, S. 4 f. Michael Schene erläutert den Begriff der Existenz in Die Bewegung, die Weisen und der Einzelne, S. 81: »Die Existenz, als Jaspers’ Begriff für den Kontakt zur Transzendenz, setzt sich damit aus drei Elementen zusammen, die eine Abfolge von Erscheinungen der philosophischen Wahrheit bilden. Die erste Stufe besteht in der Seinsgewissheit als dem ungegenständlichen Erlebnis, welches durch das Transzendieren erreicht wird. Die zweite Stufe sind die Entscheidungen, die der Einzelne aus dieser Gewissheit heraus trifft und die Jaspers ›Selbstsein‹ nennt. Gemeint ist damit aber keine kausale Ableitung, sondern ein unbestimmbarer Entschluss. Die dritte Erscheinung der Wahrheit soll dann in der Handlung bestehen, die der Einzelne, als Folge des Entschlusses, vollzieht und die Jaspers ›unbedingt‹ nennt.«
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Karl Jaspers
sche Gegenwärtigkeit präsentiert Existenz allerdings niemals, da sie als Möglichkeit ihre beständige Veränderung bedeutet. Soll das Denken Existenz aber dessen ungeachtet beschreiben können, was Jaspers en passant längst praktiziert, während er noch die Problematik der Beschreibbarkeit erörtert, muß eine Form des Denkens entworfen werden, die nicht mehr auf der Objektivierung des Gedachten basiert. »Ist also Existenz unzugänglich für den, der nach ihr im Medium des nur objektiven Verstandes fragt, bleibt sie dem dauernden Zweifel preisgegeben; kann aber kein Beweis mich zur Anerkennung des Seins der Existenz zwingen, so bin ich denkend doch nicht am Ende: über die Grenzen des gegenständlich Wißbaren hinaus gelange ich durch einen nicht mehr rational einsichtig zu machenden Sprung.« 27
Der Mensch vermag mehr zu denken, als zu wissen, vorausgesetzt, Denken wird nicht mit Rationalität identifiziert. Was Jaspers hier formuliert, ist die klassische Konsequenz, die im theologischen Kontext dann entsteht, wenn es um die Frage der Vernunft-Kompatibilität des Glaubens geht. Mit gutem Grund greift Jaspers das Bild 28 des Sprunges auf, das Søren Kierkegaard verwendet hatte, um die Möglichkeit der Erfahrung des Religiösen zu thematisieren. Unmittelbar erinnert der Terminus des Sprunges auch an die Begriffswahl der »Schau« in Texten mystischer Provenienz. Auch dort gilt es immer wieder, auszuloten, wie weit das Denken als kognitive Operation den Menschen in seinem Wunsch, Göttliches zu erkennen, leiten kann und ab wann eine andere Form des Begreifens an dessen Stelle treten muß. Schau wird dann als ein komplexer Vorgang des unmittelbaren Erschließens einer Präsenz gedeutet, die sich als jenseits der Zeit stehend einer Objektivierung in der Zeit verweigert. Gleichwohl ist die Existenz Gottes dem Suchenden zweifelsfrei gewiß, weil sie als Möglichkeit der Begrenzung des Denkens auch die Möglichkeit des Zweifels als Form dieses Denkens aufhebt. Der Sprung, von dem Kierkegaard spricht, basiert auf einer vergleichbaren Gewißheit. Die Anwesenheit des Göttlichen in der Jaspers, Philosophie II, c.1, S. 5. Die Hervorhebungen in Zitaten entsprechen den jeweiligen Textausgaben. 28 Hans Saner widmet in Denkbilder im Spannungsfeld von Einsamkeit und Kommunikation diesen »Denkbildern« eine nähere Betrachtung. »Ich verwende dabei nicht einen klar eingegrenzten Bild-Begriff, sondern eher einen Sammelnamen für Unterschiedliches: für Metapher, Analogie, Beispiel, Vergleich, Gleichnis, Symbol, Schema, Modell, Idealtypus – kurz: für alle Tropen, die veranschaulichen und sinnliche Konkretion in das Denken bringen«, S. 53. 27
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Sprache
Welt ist unmittelbar einsichtig und damit einer Erfahrung zugänglich, die allerdings vom Menschen die Bereitschaft voraussetzt, Existenz als Ausdruck eines Relationszusammenhanges zu denken, der die Bedingtheit des Daseins in der Zeit transzendiert. Für Kierkegaard bedeutet der Sprung in die Sphäre der Religiosität aber keine grundsätzliche Negation möglicher Aussagbarkeit, sondern er fordert die Wahl sprachlicher und gedanklicher Mittel, die geeignet sind, das rational Begrenzte als Unbegrenztes in der Erfahrung zu überschreiten. Die Aussage, daß die Grenzen menschlicher Rationalität die Grenzen menschlicher Erfahrung sind, gilt also lediglich unter Voraussetzung eines Begriffes der Rationalität, der die Objektivierung und damit umgreifende Fixierung des Gedachten fordert. Gegen diese Ausschließlichkeit einer Definition des Denkens als Medium des Rationalen wenden sich alle bisher betrachteten Philosophen vehement und explizit. Nicht ohne Grund fordern sie alle das »Neue Denken«, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, wie sich später zeigen wird. Besteht für Jaspers das vorrangige Ziel philosophischer Arbeit darin, Existenz in ihrer reinen Möglichkeitsstruktur zu beschreiben, die sich in keinem Objektivierungszugriff konservieren läßt, muß auch er den Begriff des Denkens modifizieren, soll Existenz auch weiterhin der theoretischen Vermittlung zugänglich sein. »Die Denkmittel zur Erhellung der Existenz müssen also einen eigentümlichen Charakter haben, […].« 29
Dieser spezifische Charakter wird erforderlich, weil Aussagen über die Existenz keine analysierenden, sondern weit eher deskriptive Aussagen sind. »Existenzerhellung« gründet, so zeigt Jaspers mit großer intellektueller Beharrlichkeit, nicht mehr auf einem Begriff der Wahrheit, der sich rational ermitteln ließe, sondern auf der reflektierenden Bewahrheitung des als möglich Gesetzten der Existenz. »Seinsaussagen im existenzerhellenden Philosophieren treffen die Freiheit. Sie sagen im transzendierenden Gedanken aus, was aus Freiheit sein kann. Ihr Wahrheitskriterium ist statt eines objektiven Maßstabs, nach dem das Gesagte richtig oder falsch ist, […] vielmehr der Wille selbst, der bejaht oder abstößt. Ich prüfe als Freiheit durch mich selbst, das, was ich nicht
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Jaspers, Philosophie II, c.1, S. 9.
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Karl Jaspers
nur bin, sondern sein kann, und was ich sein will, aber nur wollen kann in der Helle des Bewußtseins.« 30
Speziell durch die Verwendung des Begriffes der Freiheit in diesem zunächst dem Denken und seiner Beschaffenheit gewidmeten Zusammenhang wird deutlich, daß das Kennzeichen der Ermöglichung die Existenzerhellung spezifiziert. Es geht in ihr nicht um konkrete Möglichkeiten, die als Alternativen der Verwirklichung harren, sondern um die Reflexion als deren Fundierung. Anders als etwa Heidegger scheut sich Jaspers nicht, an dieser Stelle auf die Wirkweise des Bewußtseins zurückzugreifen, in dem etwas erfaßt werden kann, das möglich, jedoch nicht denkbar war. Freiheit in diesem Rahmen ist also noch nicht die nur der eigenen Abwägung entspringende Entscheidung, sondern die Öffnung des Denkens zu diesem Abwägen-Können. Auch wenn es so scheinen mag, als würde Jaspers das existenzerhellende Denken damit erst recht in abstrakter Allgemeingültigkeit verankern, trifft dieser Eindruck die Eigenheit dieses Denkens nicht – und zugleich doch. Denn unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich natürlich selbst bei diesem Denken formal noch um Denken handelt, das einen Großteil seiner Bedeutung einbüßen würde, wenn es nicht mehr vermittelbar wäre, müssen auch die Aussagen zur Existenzerhellung von allgemeiner Gültigkeit sein. Auf der anderen Seite ist dasjenige, dessen Ermöglichung in diesen Aussagen mitgeteilt wird, nicht verallgemeinerbar, weil es stets nur individuell reflektiert und als individuelle Option erkannt werden kann. »Existenzerhellendes Denken und Sprechen ist daher von allgemeiner Geltung und ganz persönlicher, je einzelner Erfüllung zugleich. Das Allgemeine als bloß Allgemeines bleibt hier gleichsam hohl und hat irreführenden Sinn. Existenz dagegen bliebe ohne Sprache, d. h. ohne irgendeinen Ausdruck des Allgemeinen unwirklich, weil ohne Selbstgewißheit.« 31
Eine solche ausdrückliche Bewahrheitung des Gedachten durch die Befürwortung des denkenden Menschen charakterisiert den Anspruch der Existenzerhellung, verweist aber zugleich auf deren letztlich nur im Paradox einzulösende Darlegung.
30 31
Jaspers, Philosophie II, c.1, S. 10. Jaspers, Philosophie II, c.1, S. 10.
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V. Was Philosophie sei
Haben alle bisher vorgestellte Denker ein sehr dezidiertes Verständnis davon, was Philosophie nicht sein soll, artikuliert und in ihren Konzeptionen von Sprache als dem Medium des Philosophierens die Markierungen ihrer eigenen Sichtweise bereits gelegt, gilt es für sie nun, zu bestimmen, wie das »Neue Denken« beschaffen sein soll. Daß dieser Anspruch keinesfalls in eine Definition münden darf, hatte sich gezeigt, was aber nicht ausschließt, daß trotz aller systemkritischen Haltung eine Beschreibung des Gegenstandes ›Philosophie‹ erforderlich bleibt. Denn darin waren sie sich alle einig – Philosophie darf sich nicht in Theorie erschöpfen, die nicht dazu geeignet ist, Aussagen über die Existenz des Menschen zu formulieren. Dieser ist schon seit den Entwürfen Kierkegaards, Schopenhauers und Nietzsches nicht mehr in seiner Wesenhaftigkeit zu betrachten, sondern in der radikalen Vereinzelung seiner Individualität. Mit der Philosophie der Existenz, die sich in kohärenter Gestalt Anfang des 20. Jahrhunderts bildet, finden diese noch vereinzelten Stimmen ihren Ausdruck.
V.1 Franz Rosenzweig Das früheste Textzeugnis dieser neuen Gestaltung des Denkens, Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, präsentiert selbstbewußt dessen enthusiastischste Umsetzung. Hier fordert Rosenzweig einen »neuen Typ des Philosophen«, dessen Merkmal »die persönliche, erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit« 1 sei, jener individuelle Bezugspunkt aller »Erfahrung«, und das heißt von nun an eben nicht mehr: aller Abstraktionen des Denkens. Wie entschieden und unerschrocken Rosenzweig diesen Neubeginn des Philosophierens
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 57.
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Franz Rosenzweig
verstanden wissen will, kommentiert er selbst in seiner Schrift Das neue Denken. Dort bekennt er freimütig, sein Ziel im Stern der Erlösung sei die Darlegung »einer Philosophie […] [gewesen], die nicht etwa eine bloße ›kopernikanische Wendung‹ des Denkens herbeiführen möchte, nach der, wer sie vollzogen hat, freilich alle Dinge verkehrt herum sieht, aber doch nur die gleichen Dinge, die er auch schon zuvor sah, sondern seine, des Denkens, vollkommene Erneuerung.« 2
Ein zunächst eigentümlich anmutendes und doch zugleich höchst aufschlußreiches Detail der Entwicklungsgeschichte dieses Erneuerungsprojektes zeigt sich in der Tatsache, daß Rosenzweig zeitweilig in Martin Heidegger einen Vertreter »unseres, des neuen Denkens« 3 sieht. Aber verwundert diese selbst bezeichnete Verwandtschaft des 2 Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 140. Peter Eli Gordon in Rosenzweig and Heidegger: Between Judaism and german philosophy betont, Rosenzweigs Philosophie sei im Kontext des »Weimar modernism« zu verstehen, S. 21. Und S. 26 heißt es: »I would therefore propose that we apply the term philosophical expressionism to Rosenzweig’s new thinking. I shall further suggest that this term may be fruitfully applied to Heidegger’s philosophy as well.« Als Hintergrund dieser Bewertung betrachtet Gordon auch den Einfluß der Philosophie Hermann Cohens auf Rosenzweig. Dazu auch: Robert Gibbs Correlations in Rosenzweig and Lévinas, S. 17 ff. 3 Rosenzweig, Vertauschte Fronten, in: Zweistromland, S. 236. Siehe hierzu auch Gordon, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and german philosophy, S. 81. Entscheidende Aussagen zur Frage der Vergleichbarkeit beider Denker finden sich auf S. 137: »A revolutionary conception of philosophy is one of the broadest points that Rosenzweig and Heidegger shared in common.« Und S. 233 f.: »As a locus of normativity in an otherwise descriptive work, it drew its luminous power from a light whose presence it couldn’t acknowledge, even while it seemed always to cast an unmistakably theological shadow. The concept of authenticity in Heidegger’s philosophy was a religious residue, a gesture of redemption making its belated appearance in the light of e never-completed disenchantment.« Martin Fricke in Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung steift die Frage einer Bewertung von Rosenzweigs Denken, S. 134. »Im Gegensatz zur Existentialphilosophie ist es also nachgerade die Pointe der Rosenzweigschen Konzeption, den Begriff des menschlichen ›Selbst‹ nicht in anthropologische Grundkategorien einzuordnen.« Daß im vorliegenden Kontext der Bestand solcher anthropologischen Grundkategorien angezweifelt wird, ist bereits betont worden. Kurz zuvor schreibt er: »Die Verwendung von Existenzialien wie ›Trotz‹ und ›Charakter‹ im Rahmen einer rein begrifflichen Konstruktion des ›Selbst‹ durch Rosenzweig zeigt noch einmal sehr klar die […] eigentümliche Verflochtenheit von Existenzanalyse und logisch-mathematischer Methodik im ersten Teil des Sterns […]«, S. 132.
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Philosophierenden tatsächlich? Hatten nicht bereits ganz ähnlich formulierte Auffassungen vom Besonderen der Sprache eine mehr als zufällige gedankliche Nähe beider Denker angekündigt? »Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es läßt seine Stichworte vom andern geben. Es lebte überhaupt vom Leben des anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder der Antwortende des Zwiegesprächs […].« 4
Das schreibt Rosenzweig und nimmt damit jene Äußerungen Heideggers über das Sprachdenken voraus, die bei beiden zur Artikulation derselben Konsequenz führen: Denken als vitale Entfaltung des möglichen Denkbaren verlangt nach einer Form, die dazu geeignet ist, der gewandelten Haltung des Menschen im Dasein gerecht zu werden. Denken soll sich nicht mehr vom Erleben des Einzelnen abheben. Es resultiert aus diesem und mündet daher in eben dieses. Denken findet, für Rosenzweig wie für Heidegger, in Erfahrungen statt, ist sogar selbst Erfahrung. »Denn die Erfahrung weiß ja nichts von Gegenständen; sie erinnert sich, sie erlebt, sie hofft und fürchtet […]. Und deshalb ist es für eine reinliche und vollständige Darstellung der Erfahrung so wichtig, zuvor jene Tatsächlichkeiten rein herausgestellt zu haben und dem Hange des Denkens zu ihrer Verwechslung entgegengetreten zu sein.« 5
Unverkennbar versammelt Rosenzweig unter dem Begriff der Erfahrung all jene einzelnen, realen Erlebnisse, die sich im Denken als Resonanzen tatsächlicher Geschehnisse niederschlagen. 6 Erfahrungen sind nicht abstrakt, sondern konkret. Sie bewahrt der Mensch – und Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 151. Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 147. In bemerkenswerter Parallelität fordert auch Walter Benjamin in seinem 1917 entstandenen Text Über das Programm der kommenden Philosophie, in: Angelus Novus, S. 30: »Gerade hierbei wird sich dann die Umformung des Erkenntnisbegriffes in der Gewinnung eines neuen Begriffes von Erfahrung ankündigen, […].« Eine weitere Parallele, deren Erforschung besonders wichtig ist, liegt im Erfahrungs-Begriff der japanischen Denker wie Kitaro Nishida, die der Kyoto-Schule zugeordnet werden. 6 Die Bedeutung von Erfahrung für das neue Denken untersucht besonders Diego Fonti in Lévinas und Rosenzweig. Das Denken, der Andere und die Zeit. S. 68: »Die Erfahrung ist weder ›Prüfstein‹ einer wissenschaftlichen Proposition noch die Bahn eines Geistes durch Entäußerung und Erinnerung an sich selbst. Erfahrung meint, die Unableitbarkeit, Vielfalt und Multiplizität der Wirklichkeit wahrzunehmen, und die4 5
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Franz Rosenzweig
zwar nicht der Mensch schlechthin, sondern jeder Einzelne – in seinem Denken, schöpft aus ihrer Summe sein Bewußtsein persönlicher Identität, reflektiert sie oder, wie es Rosenzweig formuliert, »verphilosophiert« sie. Eine Philosophie, die dieser zutiefst individuellen Erfahrungsgrundlage des Denkens entsprechen will, bedarf einer neuen Form. In der ›erzählenden Philosophie‹ findet Rosenzweig diese. Denn die Erzählung richtet sich immer an den Einzelnen, gibt ihm zu verstehen, was ihm als Mitteilung entgegen gebracht werden soll, setzt dabei aber auch immer auf die Bereitschaft des Zuhörenden, dem Erzählten zu folgen, um sich später einmal daran erinnern zu können. Natürlich klingt das Rosenzweigsche Programm einer »erzählenden Philosophie« zunächst unwissenschaftlich und unlogisch, so, als würde in ihm eine jahrhundertealte Tradition des Denkens vorsätzlich Lügen gestraft. Denn dieses konzentrierte sich ja gar nicht auf das Einzelne, Wandelbare und Vergängliche solcher Phänomene, die der Erfahrung in Rosenzweigs Verständnis zugänglich sind. Hat es jemals die tradierte Philosophie in dem homogenen Auftreten gegeben, wie es von Denkern der Existenz in den unterschiedlichsten Epoche pauschalisierend behauptet wird, ist ihr Ziel jenem des neuen Denkens kaum vergleichbar. So ist es gewiß nicht unberechtigt, Existenzphilosophie nicht als eine beliebige Disziplin dem Gesamt philosophischer Formen zuzuschreiben, sondern sie als ein alternatives Philosophieren zu betrachten, das eigener Intention folgt und sich um eine eigenständige Fachterminologie bemüht. So entschieden Rosenzweig auch danach strebt, eine Zäsur innerhalb der Geschichte des abendländischen Denkens zu markieren, die dessen neue Ausrichtung ermöglicht, will er eines auf keinen Fall – die Philosophie als Bewegung des Denkens leugnen. Nicht einmal die Möglichkeit von Wahrheit will er bestreiten, aber diese Wahrheit soll eine erfahrbare sein, eine Wahrheit, wie er es formuliert, »für jemanden« 7. Sobald die Betrachtungsebene des Allgemeinen verlassen wird und das Philosophieren sich diesem ›jemand‹, diesem Einzelnen, zu-
se Wahrnehmung geschieht durch Denken und Sprechen als Erfahrung.« Den Unterschied zum Erfahrungsbegriff Kants skizziert Fonti S. 32 ff. 7 Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 158.
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wendet, zeigt sich aber eine bis dahin unter dem Primat der Logik des Denkens unbedeutend gebliebene Notwendigkeit. Jeder Einzelne ist Einzelner unter anderem dadurch, daß er in je unterschiedlichen Situationen und Gegebenheiten lebt, daß er nicht in einer idealen Welt der »Allheit«, sondern in einer zutiefst konkreten und auch banalen Welt der Alltäglichkeit existiert. 8 Vielleicht ist es vor allem dieser Gedanke, an dessen Darstellung Rosenzweigs ganz besondere Bedeutung für die Entwicklung des Denkens der Existenz erkennbar wird. In einem kühnen und in der Weise bis dahin nicht zu findenden Entwurf stellt er den tatsächlichen Übergang vom Theoretischen in das Praktische dar, indem er eine auf den ersten Blick verwundernde Begrifflichkeit wählt: Es sei, so schreibt er, der Übergang vom ›Buch‹ zum ›Leben‹. Für ihn als jüdischen Denker, der in seinem neuen »System« dieser Verwurzelung leidenschaftlich Ausdruck verleiht, ist ein Buch niemals nur eine Folge materialisierter Gedanken, sondern im Wissen um die Bedeutung der Torah zugleich eine Präsenz, die in das Leben des Menschen einzuwirken vermag. Buch und Schrift begleiten ein Individuum in seinem Tun und Handeln, sind keine Gegensätze hierzu 9. So wirkt die folgende Formulierung vielleicht beim ersten Lesen fremd, erschließt aber sogleich ihre zutiefst menschliche Intention. Wiederum handelt es sich um jene Anmerkungen Rosenzweigs zu seinem Stern der Erlösung, hier um die Kommentierung der letzten Zeilen. »Hier schließt das Buch. Denn was nun noch kommt, ist schon jenseits des Buches, ›Tor‹ aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch […]. Aufhören des Buchs. Ein Aufhören, das zugleich ein Anfangen ist und eine Mitte: Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens.« 10
8 Diego Fonti konstatiert in Lévinas und Rosenzweig, daß für keinen der beiden aus der Vielfalt der Erfahrungen die Notwendigkeit folgt, ein Absolutes anzunehmen, dem diese subsumiert werden könne, S. 45. 9 Zweimal wendet sich Lévinas in seinen Schriften explizit Rosenzweig zu: Franz Rosenzweig: Ein modernes jüdisches Denken, in: Außer sich und ›Zwischen zwei Welten‹ (Der Weg von Franz Rosenzweig), in: Schwierige Freiheit. Hier schreibt Lévinas, S. 133: »Doch ist der Stern der Erlösung noch in einem anderen Sinn das Buch eines Lebens. Rosenzweig empfand es als ein wesentliches Moment seiner Beziehung zum Leben, als ein Buch, das die Türen des Lebens öffnet.« 10 Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 160.
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»Tor« nennt Rosenzweig das letzte entscheidende Kapitel seines Sterns der Erlösung, das endet, indem die Öffnung in das Neue auch graphisch signalisiert wird. »Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.« 11
Ihre gesamte Weite geben diese Worte dann zu erahnen, wenn sie in ihrer religiösen Dimension gewürdigt werden. Denn das All-Tägliche ist für ihn auch das Immerwährende der Offenbarung des Göttlichen auf Erden. Doch ist der Glaube für Rosenzweig ebensowenig wie die Philosophie dem Leben entgegengesetzt, sondern beide verwirklichen sich im Leben, verwirklichen das Leben. Dieses versteht er in seiner alltäglichen Schlichtheit, ohne damit auch nur im mindesten eine Abwertung zu verbinden. Ganz im Gegenteil – gerade das unspektakulär wirkende individuelle Treiben, das bislang so unendlich weit von theoretischem Interesse entfernt zu sein schien, wird jetzt der Grund, auf dem sich das neue Denken situiert. Für das Denken bedeutet diese bisher teils nur vernachlässigte, teils aktiv ausgeblendete Realität eine enorme Herausforderung, heißt es, sich doch nun in den Erfordernissen dieser alltäglichen Wirklichkeit zu realisieren. Rosenzweig markiert sein Denken der Existenz durch Motive, die dieses auch in späteren Darstellungen immer wieder kennzeichnen werden. Der neue Begriff des Systems zeigt seine Hinwendung zum Besonderen im methodischen Kontext ebenso wie die Bestimmung der Philosophie als »erzählend«. Formal korrespondiert dieses Element jenem inhaltlichen, das als Gegenstand der neuen Philosophie nicht mehr das Wissen, sondern die Erfahrung setzt. Deren extreme Zuspitzung auf das Individuum als ihren Träger fordert die neue Orientierung des Denkens, dessen Ausgangspunkt seiner Ausrichtung entsprechen soll. Da es im Konkreten, Alltäglichen gründet, muß es auch diesem gelten. Der fließende Übergang, der die Bedeutungen des All-Täglichen als des Immerwährenden der Schöpfung und des Alltäglichen als des Lebenspragmatischen verknüpft, kündigt bereits Rosenzweigs extreme
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, III, III, S. 472.
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Bereitschaft an, religiösen Empfinden mit einem philosophischen Begriff des Daseins zu verbinden.
V.2 Martin Heidegger Hatten sich bereits bei der Betrachtung des Sprachverständnisses bemerkenswerte Parallelen zwischen Rosenzweig und Heidegger gezeigt, 12 insofern die Begriffe der Erfahrung, die es im Denken zu verwirklichen gilt, und der Erzählung beziehungsweise der Dichtung als deren Form bei beiden auftauchen, steht zu vermuten, daß es auch eine Hinwendung zur Betrachtung konkreter Lebensvollzüge bei Heidegger gibt. Für Rosenzweig ist diese inhaltlicher Korrespondent seiner formalen Bestimmung des Denkens. Tatsächlich thematisiert auch Heidegger in Sein und Zeit, sechs Jahre nach dem Stern der Erlösung erschienen, das Alltägliche. Um entscheiden zu können, inwieweit er sich damit dem rosenzweigschen Begriff annähert, muß zunächst dessen Begründung kurz rekonstruiert werden. 13 Wie bereits angedeutet, ist es Heideggers Ziel, die Frage nach »dem Sinn von Sein« zu stellen und damit jenes folgenschwere Ver-
Peter Eli Gordon in Redemption in the World, S. 214 f. verweist auf eine andere Parallele beider Philosophien: »For even granting the absence of any explicit theism in Heidegger’s existential ontology, one might still discern an organizing normative principle in his work; and it is this principle that bears comparison to Rosenzweig’s vision of redemption. […] Here, in conclusion, is a hidden and admittedly surprising resemblance between Rosenzweig and Heidegger: what Rosenzweig calls redemption seems to anticipate not only the form but also the normative content of what Heidegger will later describe as authenticity.« 13 Richard A. Cohen betrachtet die Relation beider Denker ausführlich in The height oft the good in Rosenzweig and Lévinas. Drei Übereinstimmungen hebt er hervor: 1. »[…] both Rosenzweig and Heidegger reject the foundational status of cognitive, representational thinking, and hence they reject the general bias of the entire classical tradition of philosophy from Parmenides to Hegel.« 2. »[…] both […] reject modern positivist science, […].« 3. »[…] both […] ground their thinking in significations bound to concreteness, facticity, finitude, and existence, […].« S. 44. Seine Feststellung jedoch, Heideggers Denken gelte in Sein und Zeit vornehmlich dem Subjekt (S. 41 f.), woraus dann dessen Differenz zu Rosenzweig folge, kann so nicht unkommentiert bleiben. Ein Subjekt würde eine Vorrangigkeit des Verstehens im traditionellen Sinne bedeuten, die Heidegger in einem neuen Begriff des Verstehens aufzufangen sucht. 12
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säumnis zu korrigieren, das sich seit der Antike in immer schärferen Konturen in der Ontologie beobachten läßt. »Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und festverklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.« 14
Welcher Fehleinschätzung ihrer eigentlichen Bestimmung macht sich aber genau die klassische Thematisierung des Seins schuldig? »Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich das Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert. Man sagt: ›Sein‹ ist der allgemeinste und leerste Begriff. […] Jeder gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er je damit meint.« 15
Bereits hier wird eines deutlich – die Bestimmung des Seins kann ausschließlich über eine Bestimmung des Seins desjenigen, der nach dem Sein fragt, erfolgen. Dieser Fragende ist der Mensch, der sich durch sein Sein immer schon fragend zu ihm verhält. Diese Weise, sich fragend-verstehend zum Sein zu verhalten, nennt Heidegger »Dasein«. Jeder Versuch, zu erklären, was Sein ist, kann mithin immer nur über eine Klärung dieses Daseins führen, dieser Weise also, in der der Mensch ist. »Negativ gesprochen: es darf keine beliebige Idee von Sein und Wirklichkeit, und sei sie noch so ›selbstverständlich‹, an dieses Seiende konstruktivdogmatisch herangebracht, keine aus einer solchen Idee vorgezeichneten ›Kategorien‹ dürfen dem Dasein ontologisch unbesehen aufgezwungen werden. Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehr dergestalt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbst von ihm selbst her zeigen kann. Und zwar soll sie das Seiende in dem zeigen, wie es zunächst und zumeist ist, in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit.« 16
Diese Aussage darf freilich nicht zu der Folgerung verleiten, Sein ließe sich durch Seiendes erklären. Dieses fungiert lediglich als der Modus, in dem der Mensch in seinem Dasein seines Seins gegenwärtig wird, nicht in einem abstrakten Sinne, sondern immer bedingt, gewählt und verstanden.
14 15 16
Heidegger, Sein und Zeit, § 3, S. 11. Heidegger, Sein und Zeit, § 1, S. 2. Heidegger, Sein und Zeit, § 5, S. 16.
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»Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz. […] Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.« 17
Dieses Verstehen, durch das der Mensch seine Existenz bedingt, ist, wie sich später zeigen, doch bereits hier erahnen läßt, für Heidegger ein sehr viel komplexerer Prozeß als ein reines intellektuelles Durchdringen. Verstehen als ein Verhalten zu dem eigenen Sein-Können öffnet eine Dimension dieses Begriffes, der in seiner nur kognitiven Interpretation in keiner vergleichbaren Weise zum Tragen käme. Auch wenn sich Heidegger vor allem in seinem Brief über den Humanismus distanzierend zu der Verwendung des Existenz-Begriffes in Sein und Zeit äußert, 18 ist dessen Relevanz in dieser früheren Schrift auf keinen Fall zu unterschätzen. Existenz ist nicht dieses oder jenes Bestimmte, aus dem sich das Sein erschließen ließe, sondern erweist sich als pure Möglichkeit des Daseins, »es selbst oder nicht es selbst zu sein«. Kein Versuch, Sein zu verstehen, sich zum Sein zu verhalten, es also ergreifen oder verfehlen zu können, kann unabhängig von demjenigen stattfinden, der seine Existenz schafft. Heidegger vermeidet es in diesem Kontext auffällig, vom Menschen zu sprechen, verwendet statt dessen dann, wenn er die relationale Verwirklichungsstruktur des Seins bezeichnen will, den Terminus ›Dasein‹. Seine ersten entscheidenden Aussagen zur Existenz erhalten dadurch eine zutiefst a-personale Färbung, fast so, als würde die Nennung des Menschen der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein hinderlich sein. Diesen Eindruck allein unter Hinweis auf die methodische Zielsetzung dieser ersten Seiten von Sein und Zeit begründen zu wollen, ist zwar sachlich stimmig, würde aber darüber hinaus nicht die gewisHeidegger, Sein und Zeit, § 4, S. 12. Neuerdings bieten die Überlegungen Heideggers eine reiche Quelle von Äußerungen, in denen er sich von Existenzphilosophie distanziert, wobei er als deren Begründer und Repräsentanten Karl Jaspers nennt. Die Klassifizierung als »existenzphilosophisch«, wie sie hier erscheint, ist nicht zwingend mit der Verwendung im vorliegenden Kontext identisch, wie etwa folgende Passage zeigt: »Wenn das Wort ›Existenz‹ als existentia nicht ganz der Metaphysik angehörte und bedeutete: Anwesenheit – Vorhandenheit, Dasein, und wenn überdies das Wort nicht, maßlos verwirrt, durch die sogenannte ›Existenzphilosophie‹ mißbraucht wäre, könnte es noch seine schöne Nennkraft entfalten zur wesentlichen Kennzeichnung des Menschen: Der Mensch ex-sistiert – sein Sein gründet in der Zugewisenheit zur Wahrheit des Seins.« Überlegungen VII–XI, X, 65, S. 346 f.
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se Zurückhaltung Heideggers auch in späteren Jahren erklären, denjenigen direkt zu nennen, ohne den das Sein niemals erfragt würde. »Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei führende Verständnis seiner selbst nennen wir das existenzielle. Die Frage der Existenz ist eine ontische ›Angelegenheit‹ des Daseins. Es bedarf hierzu nicht der theoretischen Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz. Die Frage nach dieser zielt auf die Auseinanderlegung dessen, was Existenz konstituiert. Den Zusammenhang dieser Strukturen nennen wir die Existenzialität. Deren Analytik hat den Charakter nicht eines existenziellen, sondern existenzialen Verstehens.« 19
Wird diese Passage nicht nur als terminologische Differenzierung gelesen, sondern zugleich als programmatische Darstellung seiner Zielsetzung, scheinen sich Bezug, gar Vergleichbarkeit mit der Zielsetzung Rosenzweigs fast von selbst zu verbieten. Wie unterschiedlich präsentieren hier zwei Denker ihre Bestimmung dessen, was und vor allem wie Philosophie sein soll. Für Rosenzweig steht immer der individuelle Mensch als der nicht notwendig präsente, aber doch stets anwesende Angesprochene im Vordergrund, für den es zu denken gilt. Würde dieses verborgene Gegenüber der Rede des Philosophen nicht in jeder Formulierung gleichsam mit-gedacht, so würde diese unversehens bedeutungslos. Ganz anders wirkt das Selbstverständnis des Denkenden bei Heidegger, der seine Philosophie als »Fundamentalontologie« begreift. Und doch gründet diese, so formal sie sich auch einführt, »in der existenzialen Analytik des Daseins« 20. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit geht Heidegger in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg sehr viel dezidierter auf die Stellung des Menschen innerhalb der Philosophie des Seins ein. Hier verbindet er sogar zwei entscheidende Forderungen miteinander. Die Frage Was ist Metaphysik? muß notwendig gestellt werden, da diese sich seit ihren Anfängen dem Seienden zugewandt und darüber das Sein vergessen hat, so lautet Heideggers ebenso knappe wie schwerwiegende Diagnose. Das Seiende, das hier zum alleinigen Gegenstand der Metaphysik wurde, bedarf zu seiner Objektivierung des denkenden Subjekts, des Menschen als »animal rationale« verstanden. Eine zu eingegrenzte Auffassung vom Wesen des Menschen und eine irrtümliche Begrenzung des Wesens von Metaphysik bedin19 20
Heidegger, Sein und Zeit, § 4, S. 12. Heidegger, Sein und Zeit, § 4, S. 13.
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gen sich so wechselseitig. Soll das Denken, wie es in dem berühmten Wort Heideggers heißt, »denkender werde[n]« 21, bedeutet dies zweierlei: Die Philosophie muß sich wieder »auf ihren Grund« 22, die Frage nach dem Sein, besinnen, womit eine neue Ausrichtung der Metaphysik als jenes Zweiges der Philosophie, der das Sein erfragen soll, verbunden ist. Und das Wesen des Menschen darf nicht länger auf seine Subjektivität, die Heidegger hier mit der Bestimmung als »animal rationale« koppelt, reduziert werden. »Wohl könnte dagegen das Denken, wenn ihm glückt, in den Grund der Metaphysik zurückzugehen, einen Wandel des Wesens des Menschen mitverlangen, mit welchem Wandel eine Verwandlung der Metaphysik einherginge.« 23
Wird berücksichtigt, von welch immenser Bedeutung für Heidegger die Ausrichtung des Denkens auf die Frage nach dem Sein ist, gewinnt automatisch die Frage nach dem Menschen eine veränderte Gewichtung. Allerdings, so könnte erwidert werden, steht damit allenfalls das Wesen des Menschen, nicht dessen Individualität im Fokus. Kann diese Folgerung aber in Anbetracht einer Formulierung aufrechterhalten werden, in der Heidegger das Dasein des Menschen beschreibt? Dort heißt es: »Vielmehr ist mit ›Dasein‹ solches genannt, was erst einmal als Stelle, nämlich als die Ortschaft der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll.« 24
Bemerkenswert ist die Nennung der beiden Verhältnisweisen des Menschen zum Sein. Erst soll es »erfahren«, dann »gedacht« werden. Ist Erfahrung aber nicht die individuelle Begegnung mit dem Sein, sein Erleben, sein Gewahren, das sich zum Gedachten formieren kann, ohne das jedoch kein wahrer Gedanke jemals gefaßt werden könnte? 25 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 13. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 9. 23 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 9. 24 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 14. 25 Mario Fischer untersucht die Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger und formuliert S. 324: »Mit der faktischen Lebenserfahrung hatte Heidegger also den Grund gefunden, dem die Philosophie entspringt. […] Die faktische Lebenserfahrung zeigte sich Heidegger jedoch in einer ›merkwürdigen Zugespitztheit auf die Selbstwelt‹. Mit der Selbstwelt bezeichnete er den Bezug des faktischen Lebens auf das Selbst, wie ich mich selbst habe und mir begegne.« 21 22
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Karl Jaspers
V.3 Karl Jaspers Rosenzweig sah in Heidegger einmal einen Vertreter des neuen Denkens und auch Jaspers fühlte sich, zumindest in den frühen Jahren, im gemeinsamen Anspruch an das Denken mit ihm verbunden – Motive wie das angeführte lassen diese Einschätzungen nachvollziehbar erscheinen. Ist es nicht dasselbe Thema, begrifflich variiert und mit gänzlich anderer Intonation, das Jaspers in seinen Beschreibungen der neuen Philosophie skizziert? »Darum stehen wir in einer Bewegung, die als Veränderung des Wissens eine Veränderung des Daseins erzwingt, und als Veränderung des Daseins wieder eine Veränderung des wissenden Bewußtseins.« 26
Dasein ist nicht statisch, nichts, in das sich der Einzelne einfügt wie in eine vorgeformte Prägung seines Seins, sondern Ermöglichung aller Erfahrung, die ihrerseits ein tatsächliches Da-Sein erst schafft. Zirkuläre Bedingtheit, die es ausschließt, das Denken und sein Wissen unabhängig vom Denkenden und seinem Existieren erschließen zu können. Gerade diesen Umstand soll das neue Denken berücksichtigen, indem es die Wechselseitigkeit der Relation von Sein und Denken als Merkmal der Existenz artikuliert. Von entscheidender Bedeutung ist dabei für Jaspers, daß die Folgen dieser Aufklärungsarbeit, die er mit dem Begriff der »Erhellung« bezeichnet, nicht nur im Selbstverständnis der Philosophie, sondern ebenso in jenem des einzelnen Menschen erkennbar sind. Darum soll das neue Denken ihm seine Existenz oder, wie es noch spezieller heißt, seine »Situation« erhellen, sie in ihrer jeweiligen Bedingtheit bewußt werden lassen. »Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. […] Existenzphilosophie kann keine Lösung finden, sondern nur in der Vielfalt des Denkens aus jeweiligem Ursprung in der Mitteilung vom Einen zum Anderen wirklich werden. […] Der Sinn des Indiewelttretens wird der Gehalt des Philosophierens.« 27
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Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 6. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 149 f. und S. 168.
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VI. In die Welt treten
VI.1 Franz Rosenzweig Alle Entwürfe, die das Denken der Existenz thematisieren, stimmen, so heterogen sie sich auch in weiteren Aspekten zeigen werden, in der scheinbar selbstverständlichen Überzeugung überein, daß sie dem Menschen als Einzelnem gelten. Eine Philosophie, die diese Überzeugung ausdrücken soll, muß ein Dreifaches leisten – sie muß die Bedingtheit individueller Existenz beschreiben, ihre Ursache erklären und dem Einzelnen Möglichkeiten aufzeigen, wie er sich der Tatsache seiner existentiellen Bedingtheit gegenüber verhalten kann. Da diese im neuen Denken alles andere als eine abstrakte Kategorie darstellt, führt ihre Untersuchung unmittelbar in jene Beziehungsstrukturen des Daseins, die den Menschen in der Welt als dem Ort seines Existierens zeigen. Rosenzweig hatte es in den letzten Zeilen im Stern der Erlösung in unvergleichlicher Weise demonstriert – Denken führt in das Leben, unter der Bedingung, so müßte freilich hinzugefügt werden, daß dem Denken dieser Platz gewiesen wird. Genau diese Hinführung zu dem ihrer Ansicht nach zu wenig berücksichtigten Terrain menschlicher Individualität praktizieren alle Denker der Existenz in der Ausrichtung und Sprache ihres jeweiligen Philosophierens. Für Rosenzweig ist Denken in jedem Augenblick Realisierung des Tatsächlichen, eine Überzeugung, die nur unzureichend mit der Feststellung gleichgesetzt werden könnte, daß Denken stets praktisch sei. Denn in seiner Sicht ist dieses Denken selbst Aktion, nicht erst Begründung ihr folgenden Handelns. Exemplarisch wird diese Bestimmung an dem fließenden Übergang von der Reflexion zur Verwirklichung erkennbar. Dort, wo das Buch als Summe seines Theoretisierens endet, gibt es den Blick in das Dasein des Menschen frei und zeigt dieses dadurch erst eigentlich als bestimmtes Da-Sein. Dieses ist somit nicht voraussetzungslos, nicht grundlos, sondern vorbereitet, geschaffen. Würde sich dieses Wissen nicht auf zu88 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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tiefst religiöse Gewißheit stützen, wäre es weder nachvollziehbar noch überzeugend. Gerade an dieser vielleicht auf den ersten Blick ungewohnt wirkenden Relation, die Reflexion und tatsächliche Erschaffung parallel setzt, wird deutlich, daß Rosenzweig beides ist: gläubiger Jude und Philosoph der Existenz. Unsinnig wäre es, hier eine Gewichtung oder Reihenfolge erfragen zu wollen, denn beide Haltungen durchdringen sich in seinem Denken und Schreiben auf das Innigste. Sein theoretisches »System« 1 des neuen Denkens gründet auf der Tradition seines Volkes, verbindet Bewußtheit der religiösen, kulturellen und intellektuellen Identität mit dem Bewußtsein für die Erfordernisse der »geistigen Situation der Zeit«. Gleichwohl ist der Stern der Erlösung, wie Rosenzweig selbst betont, kein »jüdisches Buch« 2, sondern der Beitrag eines Denkers jüdischen Glaubens zur Arbeit der Erneuerung der Philosophie. Da diese sich aber, wie sich bereits gezeigt hat, auch dadurch auszeichnet, daß sie Antworten auf die eigentlichen Fragen des Menschen zu geben versucht, dieses aber dieselben Fragen sind, die auch im religiösen Kontext artikuliert werden, kann ein Widerstreit zwischen philosophischem und religiösem Denken sich nicht als unüberwindlich erweisen. Nicht einmal im Werk des Emmanuel Lévinas hat es eine so enge Verbindung zweier Denkformen als Ausdruck ein und derselben existentiellen Haltung des Menschen gegeben. Der Weg, der durch den »Stern« gewiesen wird, ist in diesem Sinne sowohl derjenige der »Erlösung« als auch derjenige der Selbst-werdung; zwei Erscheinungsweisen ein und desselben Zieles, dem sich der Mensch nur als Einzelner in seiner Existenz anzunähern vermag. Im ersten der insgesamt drei großen Teile seines Werkes isoliert Rosenzweig, halb analysierend, halb historisierend, jene drei Elemente der umfassenden Relation, die das Denken ergreifen kann. »Der mythische Gott, die plastische Welt, der tragische Mensch – wir halten die Teile in der Hand. Wir haben wahrhaftig das All zerschlagen.« 3
Das fundamentale Versagen aller bisherigen Theorie liegt in der Unfähigkeit, diese drei Elemente in der Konstruktion eines umspannenden Gefüges aufeinander zu beziehen, da jedes Element für sich leere
Auf die besondere kompositorische Dichte des Sterns der Erlösung kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. 2 Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 140. 3 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, III, S. 91. 1
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In die Welt treten
Formel des Denkens bleiben muß, solange ihm nicht durch die beiden anderen Teile Bedeutung, Bezug und damit Sinn verliehen werden. »Nicht an Wirkliches grenzt die Wirklichkeit der drei Ergebnisse, nicht aus Wirklichem sind sie uns entstanden, sondern sie sind Anrainer des Nichts, und das Nichts des Wissens ist ihr Ursprung.« 4
In Worten wie diesen drücken sich bereits unverwechselbare Kerngedanken existenzphilosophischer Überzeugung aus. Begriffe taugen nicht, wenn sie abstrakt gebildet sind, sondern nur dann, wenn sie in Bezug zur Wirklichkeit des konkreten und individuellen Lebens geformt werden, was in ganz besonderem Maße für die Begriffe Mensch und Welt zutrifft, aber ebenso auf einen scheinbar abstrakten Terminus wie den des Daseins oder der Existenz zutrifft. Keiner dieser Begriffe kann seine Bedeutung separiert vom anderen entfalten, sondern diese entsteht überhaupt erst im gegenseitigen Bezug. Wenn Rosenzweig der dualen Relation von Mensch und Welt das Göttliche als drittes Element hinzufügt und ihm zunächst nicht einmal eine exponierte Stellung innerhalb des Bezugssystems der drei zuweist, zeigt sich darüber hinaus eine weitere Besonderheit des »Neuen Denkens«. Die Einbindung des Religiösen in das Denken der Existenz bricht dessen Radikalität nicht im mindesten. An einer äußerst markanten Stelle seines Textes bewährt sich diese Überzeugung eindrucksvoll, wenn es für Rosenzweig darum geht, den Gedanken der Schöpfung im Sinne der Torah mit jenem des Daseins der Philosophie zu verknüpfen. »Die Welt muß Kreatürlichkeit haben, wie Gott Schöpfermacht, damit die Schöpfung als der wirkliche Prozeß zwischen beiden sich ergeben kann. Im neugefaßten Begriff des Da-seins mündet sowohl das Dasein der Welt wie die Macht Gottes zusammen: beide sind ›schon da‹ ; die Welt ist auf Grund ihrer Kreatürlichkeit, ihres immer neuen Geschaffenwerdenkönnens, schon gemacht; Gott hat sie auf Grund seiner ewigen Schöpfermacht schon geschaffen, und nur deshalb ist sie ›da‹ und wird allmorgendlich neu.« 5
Intellektuelle Herausforderung seit der Spätantike, die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen zu demonstrieren. Für Denker wie Mose Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, III, S. 96. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 146. Stéphane Mosès, System und Offenbarung, S. 83: »Die Schöpfung ist erst vollständig abgeschlossen, wenn der Mensch sich der Welt zuwendet und sie verwandelt.« 4 5
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Franz Rosenzweig
ben Maimon im 13. Jahrhundert ist diese Aufgabe im Vergleich zur zeitgenössischen Variante nicht unproblematischer, die religiöse Inhalte mit den Theoremen der antiken Rationalität zu verbinden hat. Rosenzweig, in gewandeltem Selbstverständnis des Denkenden, entwirft sein philosophisches System, um religiöse Inhalte mit den Beschreibungen individueller Existenz zu vereinen. Daß im Akt der Schöpfung die Welt erschaffen und vollendet wurde, kann er nicht konstatieren, es sei denn, er erweitert den Begriff der Welt um die Bedeutung des Daseins, worin sich exakt jene relationale Dynamik zeigt, die sein Konzept zu einem typisch existenzphilosophischen Konstrukt werden läßt. »Da-Sein« ist hier die Formel, in der sich die Gedanken des Bestehens der Welt, der erschaffenden Potenz Gottes, ihres Bezuges aufeinander und ihrer kontinuierlichen Verwirklichung durch den Menschen zu einem tatsächlichen Bild des Da-Seins verknüpfen. Wie nahe liegt es, den Begriff des »Prozesses«, den Rosenzweig wählt, durch jenen des »Ereignisses« zu ergänzen. Und wie nahe liegt es darüber hinaus, in Rosenzweigs Darstellung des Da-Seins bereits das heideggersche »Geviert« zu ahnen. Bemerkenswert an Rosenzweigs Auffassung ist, daß er die Welt gerade nicht als Produkt eines einmaligen Schöpfungsaktes Gottes begreift, sondern sie als wesensmäßig unabgeschlossen beschreibt und damit eine Qualität hervorhebt, die sich bestens dazu eignet, ihre zukünftige Dimension kontinuierlicher Veränderbarkeit zu signalisieren. Diese Dimension zeigt sich dem gegenwärtigen Blick aber immer nur als eine Möglichkeit, deren Verwirklichung der Einwirkung aktueller Veränderungsabläufe bedarf. Und da sich diese nicht theoretisch realisieren lassen, sondern immer nur Veränderungen an Konkretem sein können, rückt diese Eigenschaft von Welt von nun an in den Vordergrund der Betrachtung. »Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun in ihr, alles ›Machen‹, ist, da es in ihr ist, Geschehen; der Vorgang ist mindestens der Grund der Wirklichkeit, in dem auch das Tun gegründet ist. So ist selbst Geschehen in ihr dinglich, […]. Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht.« 6
Zweierlei Ansätze werden hier sichtbar, die in der weiteren Entwicklung des neuen Denkens bei Heidegger und bei Lévinas wieder zum Ausdruck kommen werden. 6
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 147 f.
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In die Welt treten
Welt ist kein Ganzes, kein Gesamt gegebener Strukturen, sondern prozeßhafte Variabilität der in ihr vorfindlichen Bezüge. Welt entsteht mithin in dem Maß, in dem Relationen der Dinge zueinander gesetzt werden, was wiederum durch den Menschen, der Dinge aufeinander und auf sich selbst bezieht, erwirkt wird. Dieses Schaffen von Bezügen erweist sich als ein durch und durch gegenwärtiges Geschehen, durch das wiederum die Dinge erst zu Dingen innerhalb der Welt bestimmt werden. »Die Welt kann Fülle sein, weil sie da ist; das Dasein ist sie selbst, die Fülle ist ihre erste Erscheinung, die erste aller Aussagen über das Dasein.« 7
Rosenzweig spricht in dem vorliegenden Kontext sowohl von den »Gegenständen« als auch von den »Dingen« der Welt, differenziert nicht explizit menschliches und nicht-menschliches Sein, was keine terminologische Unschärfe bedeutet, sondern seinen Bezug zum Schöpfungsbegriff erneut unterstreicht. Dingliches Sein ist kreatürliches Sein, was auf einzelne Gegenstände ebenso zutrifft wie auf einzelne Lebewesen.
VI.2 Martin Heidegger Das Ding besitze keine »Standfestigkeit«, solange es allein steht, so hatte Rosenzweig die Tatsache umschrieben, daß die eigentliche Natur von Seiendem immer nur aus seiner Relation zu anderem Seienden entstehen kann. Keine vorgängige Wesensbestimmung ist hier erforderlich und nicht einmal möglich, würde sich sonst doch das gesamte Bild der Welt und ihrer prozeßhaften Bildung verzerren. Dinge werden zu bestimmten Dingen im Verlauf ihrer Berührung mit anderen Dingen. Wie findet eine solche Berührung aber statt? Im Sinne eines intellektuellen Erfassens, eines intuitiven Verstehens, eines Gebrauchens, eines Begehrens, einer Entdeckung? Rosenzweig selbst stellt diese Frage nicht ausdrücklich, obwohl in seiner Darstellung der Relation von Welt und Mensch ihre Beantwortung schon vorläge. Alle genannten Weisen der wechselseitigen Berührung von Seiendem sind vorstellbar und letztlich sogar erforderlich, um das Entstehen von Welt zu ermöglichen, von der Rosen-
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 148.
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Martin Heidegger
zweig in kaum zu übertreffender Schlichtheit sagt, sie sei »gestaltet, nicht geschaffen« 8. Für ihn ist mit dieser Feststellung aber im Grunde das Nennenswerte an der Relation von Welt, Mensch und Gott ausgesprochen, und eine weitere Analyse der exakten Abläufe dieses Welt-bildenden Gestaltens erübrigt sich. Nicht so für Heidegger. Im Gegensatz zu Rosenzweig tritt er als ein Denker auf, der sich in weitaus stärkerem Maße den Methoden der bestehenden Philosophie verpflichtet fühlt, was keineswegs seine Unzufriedenheit mit deren Seins-Verständnis verschleiert. Für ihn steht in Sein und Zeit nicht wie für Rosenzweig die Erneuerung des gesamten Aktes des Philosophierens im Vordergrund, sondern die längst überfällige Korrektur eines folgenschweren Versäumnisses, dessen sich die Philosophie in Form der Metaphysik schuldig machte. Wiederholt betont er in dieser Schrift die Notwendigkeit, den Sinn von Sein erfragen zu müssen, was heißt, diesen Sinn zu vergegenwärtigen. Wie sollte diese Vergegenwärtigung aber erfolgen können, wenn sie nicht dort ansetzt, wo Sein gegenwärtig ist, im Dasein? »Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält.« 9
Verstehen ist hier, wie sich bereits angedeutet hatte, kein rationales Durchdringen zum Zwecke der Abstraktion, sondern die Weise eines Verhaltens, das, würde es doch andernfalls leere Begrifflichkeit bleiben, ein Verhalten zu einem anderen sein muß. In terminologischer Prägung, die massiv an Rosenzweigs »Indie-Welt-treten« erinnert, faßt Heidegger den Gedanken des verhaltenden Verstehens in das Sprachbild des »In-der-Welt-seins« 10, womit er, eigener Auskunft zufolge, den »einheitlichen« Charakter dieses Phänomens hervorheben will. Mit relativ hohem argumentativen Aufwand bemüht sich HeiRosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 57. Heidegger, Sein und Zeit, § 12, S. 52 f. Meike Siegfried in Abkehr vom Subjekt, S. 90: »Mit der Bestimmung des faktischen, nicht-objektivierbaren Selbst sowie dessen vornehmlich nicht-theoretischem bzw. nicht-reflexivem Welt- und Selbstbezug hat Heidegger zu Beginn der 20er Jahre zentrale Charakteristika des in Sein und Zeit zu analysierenden Daseins vorformuliert.« Fraglich ist, wie viel dieser Vorformulierung in dem Text noch erhalten bleibt. 10 Heidegger, Sein und Zeit, § 12, S. 53. 8 9
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In die Welt treten
degger darum, dieses Motiv der Einheitlichkeit zu bestimmen, das von der wesensmäßigen Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit der im Ausdruck zusammengefügten Elemente Welt und Sein lebt. Inder-Welt-Sein soll nicht besagen, daß etwas in etwas anderem enthalten ist. »In-Sein dagegen meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial.« 11 Es gehört zu den unverwechselbaren Bestimmungen des Daseins, daß es sich als In-Sein vollzieht. Abermals wird die Warnung Heideggers davor sichtbar, hier etwa zeitliche oder kausale Bedingtheit des Daseins zu vermuten. Es ist nicht als Seiendes Dasein, weil es im Sein ist, ebensowenig wie das In-Sein eine beliebige Eigenschaft dieses Daseins ist. Soll ein verhaltendes Verstehen des Seins ermöglicht werden, muß sich der Mensch im Dasein zu seinem Sein verhalten können, was eine gänzlich andere Art des Seins impliziert. »Seiendes kann ein innerhalb der Welt vorhandenes Seiendes nur berühren, wenn es von Hause aus die Seinsart des In-Seins hat – wenn mit seinem DaSein schon so etwas wie Welt ihm entdeckt ist, aus der her Seiendes in der Berührung sich offenbaren kann, um so in seinem Vorhandensein zugänglich zu werden.« 12
Bemerkenswerte Wortwahl, wenn Heidegger hier von »Berührung« spricht, geht es ja gerade nicht um ein bloß sinnliches Erfassen von Dingen in ihrer materiellen Präsenz, sondern um deren Identifizierung als seiend in derselben Welt, in der auch das sie berührende Seiende – der Mensch – ist. Berühren ist kein Synonym für Erkennen im Sinne abstrahierenden Erfassens, das etwa bei der Wahrnehmung des Gegenstandes beginnt und bei der Formulierung der ihm zugrundeliegenden Idee endet. Gerade diese lineare Struktur im Erkennen versucht Heidegger aufzugeben, womit auch eine Überwindung des klassischen Begriffes vom Subjekt als dem Initiator der so verstandenen Erkenntnis einhergeht. Gibt es die Möglichkeit eines Verstehens von Sein, dann ist diese keine andere als die Möglichkeit, Seiendes zu berühren, das wie das berührende Seiende in einer Welt ist, die als einheitliche erfahren wird. Eine dualistische Konzeption, wie sie der Differenzierung von 11 12
Heidegger, Sein und Zeit, § 12, S. 54. Heidegger, Sein und Zeit, § 12, S. 55.
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Martin Heidegger
erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt zugrunde liegt, findet in dieser Sichtweise keine Fundierung mehr, basiert sie doch auf der wesensmäßigen Differenz zwischen beiden. 13 Ausgiebig und intensiv ist in der Interpretation des In-der-WeltSeins vor allem die Frage diskutiert worden, ob und inwieweit Heidegger ihm tatsächlich eine einheitliche und damit grundsätzlich gleichwertige Beschaffenheit attestiert. Besonders Emmanuel Lévinas bestreitet dieses vehement, sei doch das einzelne Seiende und so auch der Mensch als Daseiender in der Welt lediglich ephemere Erscheinungen des Seins, 14 dessen Darlegung Heideggers ausschließliches Ziel gewesen sei. Für den Versuch, in dieser letztlich über die Zielsetzung heideggerschen Philosophierens entscheidenden Frage eine begründete Position zu beziehen, gilt es, seine Beschreibungen dieses Seins genauer zu prüfen. Wieviel Berührung von Gleichem läßt es tatsächlich zu? »[…] im Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt.« 15
Dieses Fazit, mit dem Heidegger von den methodischen Überlegungen zur Darlegung der »Weltlichkeit der Welt« überleitet, verdeutlicht zunächst nur, daß der Erkennende im Prozeß des Begreifens des Seins eine veränderte Relation zum Seienden der Welt einnimmt, insofern er dieses erfaßt. Ganz klar wird bereits hier, daß durch das Erkennen eine Spaltung innerhalb einer vermeintlich homogenen Struktur von In-der-Welt-Seiendem bewirkt wird, die Heidegger jedoch offenbar zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiter diskutieren will. Statt dessen ist er sichtlich darum bemüht, den Verweisungszusammenhang des Seins zunächst aufrechtzuerhalten und sogar näher zu beschreiben, weshalb er jene Aktionsformen zu thematisieren beginnt, in denen Seiendes in der Welt in ein Verhältnis zueinander gerät. Heidegger, Sein und Zeit, § 13, S. 60 f. Eine der prominentesten Stimmen, die in diesem Sinne laut wird, ist diejenige von Edith Stein in Martin Heideggers Existenzphilosophie. Zwar hebt sie hervor: »Es ist nicht möglich, auf wenigen Seiten ein Bild vom Reichtum und der Kraft der oft wahrhaft erleuchtenden Untersuchungen zu geben, die in Heideggers großem Torso ›Sein und Zeit‹ enthalten sind. Vielleicht hat kein anderes Buch in den letzten zehn Jahren das philosophische Denken der Gegenwart so stark beeinflußt, wie dieses, […]«, S. 445. Doch zugleich artikuliert sie ihre tiefe Sorge: »Was bleibt vom Menschen übrig, wenn von Leib und Seele abgesehen wird?« S. 464. 15 Heidegger, Sein und Zeit, § 13, S. 62. 13 14
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In die Welt treten
Verhältnis ist im Sinne Heideggers vor allem ein Verhalten zu einem anderen, das, so zeigt er unmißverständlich, in den seltensten Fällen aus einer zufälligen Verbindung resultiert. Vielmehr liegt dem Verhalten stets ein bestimmter und bestimmbarer Bezug zugrunde, der sich in den unterschiedlichsten Weisen verwirklichen kann, die Heidegger mit dem Begriff des Besorgens bezeichnet. »Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. […] Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu …‹.« 16
In diesen letzten Worten kündigt sich bereits der Bruch einer vielleicht nur als Illusion für möglich gehaltenen Homogenität von Welt an. Denn ist die Relation zwischen Seienden immer eine solche des Besorgens und sind Ausnahmen hiervon nicht denkbar, dann organisiert sich das Seiende in der Welt im selben Moment, in dem Dasein ist, um dieses als seinen Bezugspunkt. Und da Dasein mit dem Sein gleich ursprünglich ist, gibt es keinen Zeitpunkt, zu dem kein Besorgen statthaben würde. Dieser eindeutig wirkende Eindruck scheint sich allerdings zu trüben, wenn Heidegger untersucht, wie etwas genau zum »Zeug« für jemanden wird. »Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit. Nur weil Zeug dieses ›An-sich-sein‹ hat und nicht lediglich noch vorkommt, ist es handlich im weitesten Sinne verfügbar.« 17
Hängt denn am Ende nicht doch alle Beurteilung bezüglich der Verwendbarkeit von Dingen vom prüfenden Blick ihres Benutzers ab? Oder geben die Dinge das Maß ihrer Nützlichkeit für den Gebrauchenden vor und verweigern ihre Tauglichkeit mitunter sogar? Begrenzt das Sein des Zeuges den besorgenden Zugriff des Menschen? Unbestreitbar ist sicherlich die Tatsache, daß die Dinge als Zeug ihre Brauchbarkeit nur demjenigen zu erkennen geben, der sie zu nutzen oder zumindest in sein momentanes Handlungskonzept, so unspektakulär es sich auch darstellen mag, einzuordnen versteht. Die Zuhandenheit bedarf der pragmatischen Dekodierung, die wiederum davon abhängt, welche Absicht derjenige verfolgt, der sich des Zuhandenen bedient. Gäbe es keine solche Absicht, bliebe das Zu16 17
Heidegger, Sein und Zeit, § 15, S. 68. Heidegger, Sein und Zeit, § 15, S. 69.
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Emmanuel Lévinas
handene bloß Vorhandenes, enthüllt seine mögliche Brauchbarkeit also nur in Relation zu seinem möglichen Gebrauch, den definiert, wer ihn für die Umsetzung seiner Pläne nutzt. Das rosenzweigsche Motiv, wonach ein Ding erst »Standfestigkeit« in Bezug auf anderes gewinnt, scheint auch in Heideggers Darstellung jener Verwirklichungsprozesse durch, in denen sich In-derWelt-Sein strukturiert. Gleichwohl sind diese Realisierungen nicht zufällige, spontane und ungeordnete Abläufe, sondern sind bestimmt und ausgerichtet durch den Menschen, der sich zu Seiendem in der Welt verhält und dadurch dessen Sein zu verstehen beginnt. Ob durch diese operationelle Ausrichtung ein so massives Ungleichgewicht in die Relation von Welt und Mensch eingebracht wird, daß deren Verhältnis nicht mehr als ›gewaltfrei‹ gewertet werden kann, wie Lévinas folgert, ist fraglich. Für Rosenzweig zeigte sich die vorliegende Problematik erst gar nicht, da er nicht wie Heidegger eine Analyse des menschlichen Daseins vor dem Hintergrund einer Ontologie vornehmen wollte. Insofern wäre es sogar vorstellbar, daß er die menschliche Beziehung zu Seiendem in ähnlicher Weise thematisiert hätte. Für eine Philosophie der Existenz liegt eine ihrer wesentlichen Herausforderungen darin, in Form von immer wieder neu gezeichneten Aufrissen jenes relationale Gefüge zu skizzieren, in dem der Mensch Einzelner sein und sich zu Einzelnem verhalten kann.
VI.3 Emmanuel Lévinas Liest man das große Hauptwerk von Emmanuel Lévinas, seine 1961 entstandene Schrift Totalité et Infini. Essai sur l’Extériorité – Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, so wirkt es fast so, als sei sie als eine einzige Widerlegung der heideggerschen Philosophie konzipiert. 18 Kaum eines der dort beschriebenen Motive Lévinas’ explizite Polemik gegen Heidegger darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er von dessen Denken nicht unerheblich beeinflußt wurde. Siehe hierzu Diego Fonti, Lévinas und Rosenzweig, S. 59 f. Bettina Bergo in Lévinas between ethics and politics, S. 41: »What permitted this inversion of the philosophical agenda of idealism was both the abandonment of the subject-object dichotomy in any of its forms, and thus, Heidegger’s demonstration that the comprehension of being is not an act of knowing like another. The comprehension of being does not come to pass at the level of thematization and concept, but it unfolds as the constitution of human
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In die Welt treten
bleibt unbestritten, was sicherlich die Frage aufwirft, wie es möglich sein kann, zwei Denker, die offenbar so divergente Auffassung der menschlichen Existenz artikulieren, als Vertreter ein und derselben philosophischen Richtung zu benennen. Wie weit können die Ansichten tatsächlich divergieren, ohne daß eine absolute Unvergleichbarkeit des Denkens, dem sie entstammen, eingeräumt werden muß? Reicht es zur Klassifizierung aus, daß ein Theoretiker über Existenz schreibt, ganz gleich, in welcher Weise? Gewiß nicht. Es gilt, das Maßwerk einer Philosophie der Existenz neu auszurichten. Wie Rosenzweig und Heidegger sucht auch Lévinas den Menschen in seiner Beziehung zur Welt auf, in der sich eine Dimension offenbart, die zwar Rosenzweig thematisierte, Heidegger jedoch weitgehend unberücksichtigt ließ – die Dimension des Ethischen. Daß diese schon in Prozessen des Hantierens des Menschen mit Dingen vorliegt, mag auf den ersten Blick befremdlich wirken, erklärt sich aber sofort, werden auch diese Prozesse als Formen der Relation von Seiendem zueinander verstanden. Gerade in dieser so unspektakulär und harmlos wirkenden Weise, wie sich ein Mensch zu den Dingen seiner Welt verhält, zeigt sich dessen mögliche Bereitschaft, seine Haltung in der Welt zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Selbst vor diesem hier zunächst nur äußerst grob angerissenen Hintergrund erklärt sich die grundsätzliche Ablehnung des heideggerschen Verständnisses vom Zeug. Denn dieses wird, so argumentiert Lévinas, durch seine Bestimmung, dienliches Mittel zur Erreichung eines Zweckes zu sein, immer durch letzteren definiert. Die fatale Grundlage dieses Gedankens besteht darin, daß der Zweck nur durch ein Anderes gesetzt wird, wodurch Zeug einzig in seiner Ausrichtung auf dieses erscheint. Datemporality. Lévinas admits the depiction of time and of the modes of comprehension of being.« Jeffrey Bloechl in Ethics as first philosophy and religion, S. 135: »It is Lévinas’s acceptance and understanding of Heidegger’s formulation of the ontological difference that justifies his insistence on approaching our relation to being as a primarily existential concern. It is his premise that that formulation is the crowning expression of Western thought that justifies his move from dissatisfaction with Heidegger to a conclusion that first philosophy is not ontology of any kind, but ethics. After Heidegger and against Heidegger – against the entire tradition whose source is ancient Greece – Lévinas considers our very being to be a matter of responsibility to the other person.«
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Emmanuel Lévinas
durch aber drängt sich eine hierarchische Gewichtung innerhalb das Seiende der Welt, da es in ihr Seiendes gibt, das von sich aus Sinn und Bedeutung vorgibt – den Menschen –, und Seiendes, das sich diesen Vorgaben zu fügen hat – die Dinge. Heideggers Gedanke, daß das Dinghafte den Umfang seiner Nützlichkeit diktiert, wird in diesem Moment vernachlässigt. Will Lévinas dieses wertende Gefälle, das als solches bereits Kennzeichen jener Macht- und sogar Gewaltstrukturen ist, die sich auch im interpersonellen und im politischen Kontext zeigen, aufheben, muß er eine unbelastete Formel für die Relation des Seienden im Weltbezug finden. Ob die Metapher, die er präsentiert, dieser Aufgabe wirklich gerecht werden kann, sei zunächst dahingestellt. »Es ist eigentümlich zu sehen, daß Heidegger die Relation des Genusses nicht in Betracht zieht.« 19
Lévinas holt dieses offensichtliche Versäumnis nach, wenn er die heideggersche Definition der Dinge als Zeug durch diejenige der Dinge als Gegenstände des Genusses ersetzt. »Während der Gebrauch des Werkzeugs eine Finalität voraussetzt und eine Abhängigkeit im Hinblick auf das Andere bezeichnet, zeichnet sich im Leben von … die eigentliche Unabhängigkeit ab, die Unabhängigkeit des Genusses und seines Glückes, die das ursprüngliche Modell aller Unabhängigkeit ist.« 20
In der elementaren Bindung des Menschen an das Sein der Welt in Form des Seins des Anderen, selbst wenn es sich in der Gestalt des Zeughaften darstellt, gilt es jede Form von Beziehung zu meiden, die aus Abhängigkeit des einen vom anderen entsteht. Wie unauflöslich ethisches Verhalten, das dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren läßt, bereits in der pragmatischen Relation des Einzelnen zu seiner Lebenswelt gründet, wird hier deutlich. Ob allerdings der Genuß als jenes Modell der Beziehung zum Gegenständlichen taugt, das frei von Abhängigkeit zu denken ist, erscheint problematisch. Wichtig in der Argumentation ist, daß sich die Bestimmung des Genossenen nicht als seine alleinige Zweckbestimmung fassen läßt, sondern daß es, eher freigebig und spontan Mittel des Genusses werden kann, wenn es sich dem Menschen darbietet. Die Trennungslinie
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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 190 f. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.2, S. 152.
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zu Heideggers Sicht des Zeugs, das sich in seiner Zuhandenheit dem Daseienden fügt, ist sichtbar. Der Gegenstand des Genusses öffnet, indem er sich als begehrenswert anbietet, erst die mögliche Relation zu demjenigen, der ihn genießen könnte, während das Zeug Zuhandenes ausschließlich in Bezug auf seinen Benutzer ist. Das Zuhandene verweist auf seinen Nutzer; das zu Genießende auf sich selbst; ersteres ist bedingt, letzteres autonom. »Die Dinge gelangen zur Vorstellung von einem Hintergrund aus, aus dem sie auftauchen und zu dem sie in dem Genuß, den wir von ihnen haben können, zurückkehren.« 21
Diesen Hintergrund, vor dem sich die Dinge des Genusses zeigen, bezeichnet Lévinas mit dem Begriff des »Milieus«, dessen Besonderheit darin liegt, daß es kein vom operationellen Willen des Menschen konstituiertes Bezugssystem ist. »[…] das Milieu, aus dem die Dinge mir zukommen, ist herrenlos, gemeinsamer Grund oder Boden, nicht-besitzbar, wesentlich ›niemandem‹ gehörig: die Erde, das Meer, das Licht, die Stadt.« 22
Wenn Lévinas den Gedanken der Welt verfolgt, dann findet er ihn hier fundiert – im widerständischen Sich-Darbieten der Dinge, die das Begehren des Menschen erst erwecken, anstatt sich dessen Zweckbestimmung zu unterwerfen. Wenn es einen Terminus gibt, der das lévinasische Denken wie kein zweiter trägt und charakterisiert, dann ist es derjenige des Begehrens. Nicht mit dem Bedürfnis zu verwechseln, das immer auf das Konkrete zielt, das es zu stillen vermag, versammelt das Begehren als Hinneigung zum Begehrten gerade die gesamte Offenheit und niemals zu erfüllende Bedürftigkeit des Menschen in sich, die ihn relational mit der Welt – und, wie sich später zeigen wird, mit den Menschen – verbindet. »Das Begehren als Verhältnis zur Welt enthält eine Distanz zwischen mir und dem Begehrenswerten und folglich eine Zeit, die vor mir liegt – und gleichzeitig einen Besitz des Begehrenswerten, der dem Begehren vorausgeht. Diese Stellung des Begehrenswerten vor und nach dem Begehren ist
21 22
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 184. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 185.
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Emmanuel Lévinas
die Tatsache, daß es gegeben ist. Und die Tatsache, gegeben zu sein – das ist die Welt.« 23
»Die Tatsache, gegeben zu sein«, die Gabe, 24 schafft einen neuen Begriff von Welt und damit von Sein, der sich der eingreifenden Strukturierung durch einen Menschen, der in der Welt handelt und erkennt, widersetzt. Der Mensch, wie Lévinas ihn in seiner gesamten Philosophie vorstellt, begehrt nicht das von ihm als nützlich oder erstrebenswert Gesetzte, sondern wird durch dasjenige, das sich ihm als begehrenswert darbietet, selbst zu einem Begehrenden. Er projiziert nicht seine Erwartung auf eine Welt der Dinge, die ihm unter Verweis auf ihre Nützlichkeit oder Unbrauchbarkeit antworten muß, wodurch sie in diesem speziellen Moment unvermeidlich Welt für diesen Menschen wird. Immer wieder verweist Lévinas auf die Finalität als kausale Struktur, die der handelnde, herstellende oder auch denkende Mensch damit der Welt oktroyiert. Denn in jeder Relation aus erzieltem Zweck und dafür ausgewähltem Mittel setzt der Mensch permanent auf das Erreichen des geplanten Zieles, auf Erfüllung der Absichten und damit – in übertragendem Sinn – auf Endlichkeit. Die Existenz des Menschen ließe sich so am Ende zu einer Totalität erreichter Ziele summieren. Das Auftauchen des Begehrenswerten in seinem Milieu hingegen bricht mit diesem Mechanismus der Erfüllung, der nicht per se als negativ zu betrachten ist, sondern deshalb, weil er den Menschen zum Herrscher über eine von ihm abhängige Welt macht, im Bereich des Handelns, des Erkennens und des Verhaltens. In jenem Moment, in dem sich Begehrenswertes zeigt, entsteht eine zuvor nicht bestehende Relation, immer und immer wieder, immer wieder neu, überraschend und unvorhersehbar. Liegt hier allerdings nicht eine bloße Verkehrung jenes Abhängigkeitsverhältnisses vor, das Lévinas gerade aus der Beschreibung der menschlichen Beziehung zur Welt verbannen wollte? Früher war das Zuhandene vom planenden Zugriff des Benutzers abhängig; jetzt ist es der Mensch von den ihm zufällig begegnenden Gegenständen des Genusses im Begehren.
Lévinas, Vom Sein zum Seienden, II.1, S. 46. In der neuesten Philosophie in Frankreich gewinnt der Begriff der Gabe im phänomenologischen Kontext zunehmend Bedeutung, so etwa in den Schriften Michel Henrys.
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Abhängigkeit des Seienden vom Sein attestierte Lévinas dem heideggerschen Verständnis des In-der-Welt-Seins, nicht ohne eine gewisse polemische Färbung. Will er dieses wertende Gefälle zwischen Seiendem, das in seinen Augen erstes Anzeichen von Ungleichheit und erster Ausdruck einer egozentrischen Vernunft ist, nicht zulassen, muß er zeigen, daß es in seiner Darstellung eben diese Dependenz von Seiendem nicht gibt. Wohl wissend, daß die Vermeidung des Begriffes der Abhängigkeit selbst in der Relation des Begehrens nur in der Form der Paradoxie artikulierbar ist, schreibt er: »Wenn das Leben also abhängt von dem, was es nicht selbst ist, so ist diese Abhängigkeit nicht ohne ein Gegengewicht, das die Abhängigkeit im Endeffekt aufhebt.« 25
In seiner Radikalität wird dieser Gedanke wahrscheinlich nur vor dem Hintergrund heideggerscher Theorie der Zuhandenheit ganz faßbar. Wie eine Negativfolie hinterlegt sie das Motiv des Genusses als Affekt des Begehrens. In seinem bereits vor dem Krieg begonnenen und 1947 publizierten Werk De l’existence à l’existant – Vom Sein zum Seienden gibt Lévinas in besonderer Klarheit Auskunft über seine intellektuelle Haltung. »In der Bemühung, den Begriff der Welt von dem Begriff einer Summe von Objekten zu trennen, sehen wir gerne eine der tiefsten Entdeckungen der Philosophie Heideggers. Um aber das In-der-Welt-Sein zu beschreiben, hat der deutsche Philosoph sich auf eine ontologische Finalität berufen, der er die Objekte in der Welt unterordnet.« 26
Hinter der »ontologischen Finalität« verbirgt sich gerade jener Vorrang des Seins vor dem Seienden, den Lévinas als das markante Anzeichen für den Irrtum Heideggers wertet, dem es in seinem Denken nicht um den Einzelnen im Dasein gehe, sondern um das Sein, das in seiner Anonymität jedes Auftauchen von Einzelnem und Besonderem nivelliere. Der Titel der frühen Schrift kündigt daher programmatisch die Umkehrung dieser Relation an, der Lévinas fatale Folgen für das Verständnis des Menschen in der Welt attestiert – »vom Sein zum Seienden« soll sich das Denken wenden.
25 26
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.3, S. 158 f. Lévinas, Vom Sein zum Seienden, II.1, S. 50.
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»[…] indem wir die Welt als eine jederzeit widerrufliche Bindung an die Objekte darstellten, in der die Nicht-Bindung an das Sein erhalten bleibt, haben wir die ersten Manifestationen des Seienden beschrieben, das in der Anonymität des Seins auftaucht.« 27
27
Lévinas, Vom Sein zum Seienden, II.2, S. 61.
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VII. Unwohlsein im Sein
VII.1
Emmanuel Lévinas
Diese Möglichkeit eines Seienden, aus der Anonymität des Seins aufzutauchen, artikuliert Lévinas in Totalität und Unendlichkeit mit der heroischen Gelassenheit desjenigen, der sich ihrer gewiß ist. Seine frühen Schriften erscheinen im Vergleich hierzu eher wie die Suche nach eben diesem Möglichen, nach dem Ausweg aus dem Sein – De l’évasion wie er seinen 1935 erschienenen Text nennt. Was das frühe und spätere Denken aber unverwechselbar verknüpft, ist das Bewußtsein der Notwendigkeit, dem Begriff und der Setzung eines allumfassenden Seins ein Element widerstehender Menschlichkeit und rebellierender Individualität entgegenzusetzen. Obwohl also inhaltlich konvergent, differieren seine Theorien doch deutlich in der Weise, wie diese Notwendigkeit sich ausdrückt. In den ersten Texten artikuliert sie sich in fast quälend spürbarer Dringlichkeit, Signatur der Bedrängnis des Einzelnen, der sich dem Sein gegenüber zu behaupten sucht; in den späteren Darstellungen präsentiert sie sich als ethische Forderung von historischer Dimension. Unverzichtbar ist es angesichts dieser Divergenz, auf die katastrophalen Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und die alles menschliche Vorstellungsvermögen ad absurdum führende Unfaßbarkeit des Holocaust zu verweisen, die die Genealogie von Lévinas’ Denken wie eine brutale Zäsur durchtrennt. In Ausweg aus dem Sein schreibt er, nicht im mindesten die eigene Unsicherheit ob des Gelingens seines Vorhabens verbergend, sondern sie sogar zur spezifischen Eigentümlichkeit seines Denkens erklärend: »Es ist der Versuch, einen Ausweg zu finden, ohne daß man weiß, wohin dieser führt, und dieses Unwissen bestimmt das Wesen selbst dieses Versuchs.« 1 1
Lévinas, Ausweg aus dem Sein, III, S. 27. Diego Fonti spricht in Lévinas und Rosen-
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Emmanuel Lévinas
Grundlage und zugrundeliegende Erfahrung dieser Formulierung decken sich – es ist die Tatsache, zu sein. Im Gegensatz zu den Darstellungen derselben Erfahrung, die in Totalität und Unendlichkeit mit dem Genuß, sogar dem Glück in Verbindung gebracht wird, führt die Bewußtheit, zu sein und diesem Sein scheinbar nicht entrinnen zu können, hier zu einem Empfinden des Unbehagens. Eine affektive Reaktion auf das eigene Sein – wie wohlbekannt mutet dieses Thema doch aus den Schriften der französischen Denker an, die für gewöhnlich mit der Kennzeichnung des Existentialismus versehen werden. So wirkt es beinahe wie eine schon erwartete Bestätigung dieser Assoziation, wenn Lévinas, zu diesem Zeitpunkt 30jährig, das Gefühl des Ekels angesichts der Anonymität des Seins beschreibt und diesem Phänomen damit drei Jahre vor dem Erscheinen von Jean-Paul Sartres Roman La nausée – Der Ekel philosophisch-literarischen Ausdruck verleiht. »Im Ekel verspürt man eine Weigerung, darin zu verbleiben, eine Anstrengung, um aus diesem Zustand herauszukommen. Doch diese Anstrengung ist von vornherein als vergeblich charakterisiert: jedenfalls für jeden Versuch zu handeln oder zu denken. Und diese Verzweiflung, dieses GekettetSein bildet die ganze Angst des Ekels. Im Ekel, der Unmöglichkeit zu sein, was man ist, ist man zugleich an sich selbst gekettet, eigeschlossen in einem engen Kreis, der erstickt.« 2
Hier handelt es sich kaum um die abwägende Analyse einer Erscheinung zum Zwecke theoretischer Reflexion, sondern viel eher um die Beschreibung einer Erfahrung und ihrer emotionalen Spiegelung, zutiefst individuell, und doch, wie sich zeigt, Charakteristikum des existentiellen Gefühls einer Generation junger Intellektueller. »Ich habe Lust, wegzugehen, irgendwohin zu gehen, wo ich wirklich an meinem Platz wäre, wo ich mich einspinnen würde … aber mein Platz ist zweig davon, daß letzterer als »stillschweigender Anreger einer Suche nach einer évasion aus der alles durchdringenden, anonymen und unentrinnbaren Anwesenheit und Einheit des Seins« zu verstehen sei (S. 161). Eine derartige Seins-Flucht Rosenzweigs läßt sich jedoch nicht eindeutig belegen. 2 Lévinas, Ausweg aus dem Sein, VI, S. 47 ff. Alwin Letzkus kommentiert in Dekonstruktion und ethische Passion, S. 230: »Die Grundstimmung dieser Existenz ist daher nicht die Angst um das Sein, sondern das tiefe Unbehagen angesichts der Dichte und Überfülle dieses Seins in seiner Präsenz: ein Ekel/eine Übelkeit (frz. la nausée), der/die den Menschen aus seinem Innersten heraus überfällt und Ausdruck ist einer erstickenden Enge in der Dichte des Seins, die keine Luft zum Atmen läßt, keinen Raum, um zu agieren.«
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Unwohlsein im Sein
nirgendwo; ich bin zuviel. […] Das also ist der Ekel: diese die Augen blendende Evidenz?« 3
Dieses Mal ist es nicht Lévinas, der Wunsch und Unmöglichkeit, dem Sein zu entfliehen, thematisiert, sondern Sartre. Läßt sich aber tatsächlich das in einem Roman Beschriebene mit dem Inhalt einer philosophischen Arbeit gleichsetzen? Daß es möglich ist, stellt sicherlich eine der faszinierenden Eigenheiten des Denkens der Existenz dar, das sich nicht in theoretischer Form präsentieren muß, um verstanden werden zu können, weil das Verstehen hier ein komplexer Vorgang ist, der sich aus kognitiven und affektiven Anteilen zusammensetzt. Wenn Lévinas auf der einen Seite vom Ekel spricht, vom Unwohlsein, von der Müdigkeit, dann integriert er, wie er selbst sein Vorgehen kommentiert, damit Phänomene in den Corpus philosophischer Probleme und Begrifflichkeit, die darin traditionellerweise kaum Eingang gefunden hätten. Wenn Sartre auf der anderen Seite in seiner Geschichte scheinbar urplötzlich die Frage nach der Existenz des Menschen aufwirft, kehrt er dieses Integrieren nur um. Ganz gleich, ob in Fiktion oder Diskurs – Denker der Existenz schreiben über den Menschen als Einzelnen und für den einzelnen Menschen. In den Verweisen auf den Ekel, auf das Leben, das als Last empfunden wird, auf den Wunsch, Auswege aus dem Sein zu suchen, und auf die Entdeckung, daß diese immer nur wieder in Sein münden können, liegt die typische Motivik existenzphilosophischer Darstellung der menschlichen Erfahrung von Welt vor. Unverkennbar unterscheidet sie sich von den zuvor betrachteten Reflexionen des menschlichen Verhaltens zur Welt in den Weisen des Gebrauchens oder des Genusses, da diese der Frage galten, wie der Mensch mit den Dingen der Welt umgeht. Nun verschiebt sich die Perspektive zur Überlegung, wie der Einzelne diese Welt, in der ihm Dinge begegnen, insgesamt erlebt. In das sprachliche Repertoire, aus dem die verschiedensten Denker für die Ausführung dieser Problematik schöpfen, gehört ohne Frage auch der Begriff der »Geworfenheit«. Jede weitere Erläuterung überflüssig erscheinen lassend, definiert Lévinas sie als »Die banale Feststellung, daß der Mensch durch seine Geburt in eine Existenz geworfen [engagé] ist, die er weder gewollt noch gewählt hat […].« 4 3 4
Sartre, Der Ekel, S. 139 f. Lévinas, Ausweg aus dem Sein, VII, S. 55.
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Emmanuel Lévinas
Sind die Eindrücke des Unwohlseins im Sein und der Geworfenheit aber identischer Natur? Beide gelten der Verfassung des Menschen im Sein, doch hat sich im Eindruck der Geworfenheit bereits jene emotionale Unmittelbarkeit, die das Unwohlsein oder den Ekel kennzeichnet, teilweise verflüchtigt und ist einer reflektierenden Bewertung des Sein gewichen, das nun wesentlich als grundlos und nicht willentlich ergriffen beurteilt wird. Wichtig ist in beiden Formen der Reaktion des Menschen auf das Sein, daß er dieses nicht als sein individuelles Existieren, sondern gerade in einer Anonymität erlebt, die es ihm fast unmöglich erscheinen läßt, sich dieses Sein, in das er geworfen ist, jemals zu eigen machen zu können. Lévinas akzentuiert diesen Aspekt deutlich, wenn er die Angst ›um das Sein‹ von der Angst ›vor dem Sein‹ 5 unterscheidet und damit grundsätzlich von jener Angst, nicht mehr zu sein, abweicht, die für Franz Rosenzweig Antrieb und Ausgangspunkt seines Denkens ist und die Martin Heidegger zum Zentrum seiner Zeitanalyse macht. »Das Sein ist wesentlich fremd und schockiert uns. Wir erleiden seine Umarmung, die uns erstickt wie die Nacht, aber das Sein antwortet nicht. Es ist das Übel, zu sein.« 6
Empfindungen wie diese, hier von Lévinas in bedrückender Intensität geschildert, können einen Menschen verzweifeln lassen, denn alles eigene Tun scheint von einem wesentlich fremden Sein absorbiert zu werden, das jede individuelle Handlung, jeden persönlichen Gedanken, ja selbst jedes intime Gefühl in Bedeutungslosigkeit sinken läßt. Jeder Ausdruck des Eigenen, Speziellen, verliert sich im Empfinden der Sinnlosigkeit angesichts des Seins. Wäre es nicht eine naheliege Konsequenz, auf diesen Eindruck mit tiefer Resignation zu reagieren? Die Denker der Existenz, so sehr sie auch in einzelnen Aspekten ihrer Theorien divergieren mögen, sind sich darin einig, daß ihnen eben dieses selbe ›angesichts des Seins‹, das Grund des Unwohlseins sein kann, zugleich dessen Überwindung ermöglicht. Der »Ausweg aus dem Sein« ist immer gegeben.
5 6
Lévinas, Vom Sein zum Seienden, Einleitung, S. 21. Lévinas, Vom Sein zum Seienden, I.1, S. 24.
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Unwohlsein im Sein
VII.2
Martin Heidegger
Mit der Verwendung des Begriffes der Geworfenheit, zumeist im deutschen Original zitiert, bezieht sich Lévinas unmittelbar auf § 29 aus Heideggers Sein und Zeit, der, so könnte man meinen, zur Grundlage nicht nur der lévinasischen Seinsbewertung dient. Wer würde beim Hören dieses Ausdruckes nicht sofort existentielle Einsamkeit, Verlorenheit in einem fremden Sein, Grundlosigkeit des eigenen Daseins und Sinnlosigkeit allen Tuns assoziieren? Doch ist es wirklich genau dieser Kontext, in dem Heidegger seinen motivischen Begriff einführt? Seine Definition läßt hieran zweifeln. »Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›Daß es ist‹ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist.« 7
Geworfenheit besagt hier Sein in der Welt, aber nicht nur in der Weise reiner Faktizität, sondern als bereits gegenwärtige Tatsächlichkeit. Denn das »Da«, als das das Dasein ist, bedeutet für Heidegger immer schon eine Form von Vergegenwärtigung, von bewußt Gewordenem, auch wenn er selbst diesen Terminus hier nicht verwendet. Das »Da« signalisiert also bereits Bezug, den der Mensch zur Tatsache seines Daseins erlangt hat. So kreisen Heideggers Gedanken im Zusammenhang der Einführung des Begriffes der Geworfenheit denn insgesamt um die Frage, wie das Sein dem Menschen als erschlossenes Sein zugänglich ist, was nicht mit der Suche nach einer Möglichkeit der Definition von Sein gleichzusetzen ist. »Erschlossen besagt nicht, als solches erkannt. Und gerade in der gleichgültigsten und harmlosesten Alltäglichkeit kann das Sein des Daseins als nacktes ›Daß es ist und zu sein hat‹ aufbrechen.« 8
Der Mensch müßte sich, wenn er sein Sein im Sinne formaler Thematisierung bestimmen könnte, diesem Sein entgegensetzen, was unmöglich ist. Verstehen ist keine kognitive Operation, sondern eine existentielle Haltung. 9 Der Begriff der Haltung verweist dabei nicht auf eine starre und ein für allemal gleich bleibende Position des Men7 8 9
Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 135. Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 134. Heidegger, Sein und Zeit, § 31, S. 142 ff.
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Martin Heidegger
schen zu einem Sachverhalt oder auch innerhalb seines Daseins, sondern auf dessen dynamisierte Form, das ›sich zu etwas Verhalten‹, das erforderlich wird, wenn vertraut Geglaubtes plötzlich problematisch erscheint. Genau diesen Moment der existentiellen Verunsicherung meint Heidegger mit dem Ausdruck des ›aufbrechenden Seins‹ aus der Alltäglichkeit heraus, das deren unhinterfragte Selbstverständlichkeit ebenso unvorbereitet und überraschend zerreißen kann, wie den Menschen urplötzlich eine »Stimmung überfällt« 10. Es tritt das Bekannte als etwas Besonderes nicht in den unzählig vielen Situationen hervor, in denen es funktioniert, in denen es genau das Erwartete erfüllt und exakt das Benötigte bereitstellt. Eine Haltung wird dem Menschen in jenen Augenblicken abverlangt, in denen sein souveräner Zugriff auf die Dinge der Welt behindert oder vielleicht sogar verhindert wird. Denn gerade in diesen Momenten wird durch das Nicht-zu-Verfügung-Stehen von etwas, das als Zuhandenes vertraut war, der gewohnte Blick auf Seiendes erschüttert und gibt jenen auf Sein frei. Doch wie? »Das umsichtig besorgende Begegnenlassen hat […] den Charakter des Betroffenwerdens. Die Betroffenheit aber durch die Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeit des Zuhandenen wird ontologisch nur so möglich, daß das In-Sein als solches existenzial vorgängig so bestimmt ist, daß es in dieser Weise von innerweltlich Begegnendem angegangen werden kann. Diese Angänglichkeit gründet in der Befindlichkeit, als welche sie die Welt zum Beispiel auf Bedrohlichkeit hin erschlossen hat.« 11
Mit den Begriffen der »Betroffenheit«, der »Angänglichkeit« im Sinne von Angegangen-werden wie auch von Angehen und der »Befindlichkeit« bezeichnet Heidegger Weisen des menschlichen Verhaltens zur Welt, in der er existiert. Dieses Verhalten ist seiner Auffassung nach aber kein von Augenblick zu Augenblick wechselndes Verhältnis, sondern grundsätzliches Merkmal des Existierens schlechthin, das sich in dem Zustand der Befindlichkeit befindet. Sehr deutlich weist Heidegger darauf hin, daß er diese Befindlichkeit nicht als eine psychische Verfassung verstanden wissen will. Viel eher fungiert sie als Bezeichnung einer in jedem Moment der Existenz bestehenden Beziehung, einer Relation zwischen Seiendem, die möglich ist, weil Seiendes ist. Der Mensch ›befindet‹ sich in 10 11
Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 136. Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 137.
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Unwohlsein im Sein
der Welt, seine Befindlichkeit ist daher nicht von speziellen Erfahrungen abhängig, die sie auslösen könnten. Er ›befindet‹ sich immer im Dasein, das ihn ›betrifft‹, das ihn ›angeht‹ – herausfordert und ihn mitunter sogar belastet. Bereits in dieser Beschreibung des Bezuges des Menschen zum Sein, in dem er sich befindet, zeigt sich, wie wenig Heideggers Konzeption letztlich dazu geeignet gewesen ist, Vorlage für die späteren Interpretationen der Geworfenheit zu sein. Hier scheint das Sein gerade nicht in einer den Einzelnen unberührt lassenden Anonymität gedacht zu werden, die es aufzubrechen gilt, um Zugang zum Sein zu gewinnen, um Grund im Sein zu fassen oder um einen Ausweg aus ihm zu suchen. Dasein und Seiendes verbindet in Heideggers Sicht eine vielfältige Beziehung, die dem Menschen jedoch nicht immer schon als solche zugänglich ist. Dieses Erfassen der Relation zum Sein wird in »Stimmung« möglich: »Die Stimmung macht offenbar, ›wie einem ist und wird‹. In diesem ›wie einem ist‹ bringt das Gestimmtsein das Sein in sein ›Da‹.« 12
Dieses »Da« ist aber, wie sich an früherer Stelle angedeutet hatte, Kennzeichen des erschlossenen Seins, zu dem sich der Mensch verstehend verhält. Obwohl Heidegger zu keinem Zeitpunkt wirklich von der Anonymität, Fremdheit oder erdrückenden Macht des Seins spricht, wie es etwa bei Sartre und in den ersten Schriften auch bei Lévinas geschieht, bietet doch sein Gedanke der Stimmung eine ungewollte Vorlage für spätere Deutungen. Dabei ist immer zu berücksichtigen, daß Stimmung für Heidegger als jeweils variables Reaktionsmuster auf die Tatsache des Seins fungiert, nicht als Ausdruck einer emotionalen Verstimmtheit. Selbst wenn er von der »Last« spricht, als die der Mensch das Sein erleben kann, resultiert diese nicht aus einer undurchdringlich wirkenden Kompaktheit des Seins, das dem Einzelnen keine Chance bietet, sich in ihm beheimatet zu fühlen. Gerade diese unterschiedliche Bewertung des Seins ist Grundlage jenes Vorwurfes, der Heidegger immer wieder trifft, wenn darauf verwiesen wird, daß er um des Seins willen den Blick auf den Menschen vernachlässige und die-
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Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 134.
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Franz Rosenzweig
sen zu einem nahezu unbedeutenden Teil des Seienden degradiere. Inwieweit diese Kritik das heideggersche Denken tatsächlich trifft, wird sich im weiteren Verlauf der Darstellung zeigen. Als Überlegung an dieser Stelle bleibt festzuhalten: Auch wenn Heidegger seine Frage nach dem Sein dahingehend präzisiert, daß sie dem »Sinn von Sein« gilt, bleib die Problematik bestehen, ob der gesuchte Sinn Auskunft über die menschliche Existenz geben kann.
VII.3
Franz Rosenzweig
»Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche.« 13
In diesen bemerkenswerten Zeilen zu Beginn seines Sterns der Erlösung benennt Rosenzweig die beunruhigend konkrete Ursache menschlicher Angst. Diese resultiert nicht aus einer vagen Unsicherheit oder Ungewißheit, wie sie jeder Mensch in bestimmten Situationen durchleben kann, sondern aus dem absoluten Faktum der Endlichkeit, die alles Lebendige trifft. Deutlich klingen hier die Theorien sowohl von Kierkegaard als auch von Schopenhauer nach, beschreibt ersterer doch das Phänomen der Angst und letzterer die Vorstellung einer Welt als Summe vergänglicher Kreaturen. Rosenzweig verknüpft beide Einflüsse, da sie seine Überzeugung stützen, daß der Mensch mitnichten das Sein fürchtet, wie es Lévinas in seinen frühen Texten beschreibt, sondern um sein Sein fürchtet. »Denn der Mensch will ja gar nicht irgend welchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er will – leben.« 14 Könnte es einen leidenschaftlicheren Ausdruck für den einzig wahren Willen des Menschen geben? Doch woraus resultiert für Rosenzweig dieses unbeirrbare Bekenntnis zum Leben, das doch durch dessen Realität in jedem Moment ad absurdum geführt zu werden scheint?
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3. Diego Fonti verweist in Lévinas und Rosenzweig darauf, daß beide hinsichtlich ihrer Bewertung des Todes eine grundsätzlich differente Position vertreten, insofern der Tod für Rosenzweig »eine ›natürliche‹ Konsequenz der Endlichkeit der Schöpfung« sei, für Lévinas hingegen aus der »Begegnung mit der Gewalt« resultiere, S. 158. Wird durch erstere Bewertung aber nicht die Bedeutung des Todes zu stark relativiert?
13 14
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Unwohlsein im Sein
In seiner Betrachtung der Welt wird die elementare Religiosität Rosenzweigs sichtbar, die sich auf unvergleichliche Weise mit seinem Glauben an den Menschen verbindet. Ohne jeden Zweifel ist die Welt geschaffenes Sein, der Schöpfungstat Gottes folgend und doch – welche Kühnheit des Denkens – nicht mit der Schöpfung vollendet. Mit seiner These, daß Schöpfung sich nicht im einmaligen Hervorbringen des Seienden erschöpft, kann sich Rosenzweig zwar auf eine lange Tradition jüdischen Denkens berufen, das immer wieder versuchte, das Geschaffensein der Welt mit den freien Möglichkeiten menschlichen Handelns zu vereinen. Und trotzdem bedarf dieser Versuch, einen Bezug von religiösen und philosophischen Überzeugungen zuzulassen, immer von neuem der Rechtfertigung, zumindest aber der Begründung, wie Rosenzweigs Argumentation zeigt. »Es scheint ja zunächst paradox, ein Geschaffensein der Welt noch ›nach‹ ihrem Fertigwerden als Gestalt zu behaupten. […] So ist der Satz ›Gott schuf die Welt‹ uneingeschränkte Wahrheit nur für die Beziehung zwischen Gott und Welt; nur für sie gilt die Vergangenheitsform, das Einfürallemal, des Satzes; dagegen von der Welt allein braucht das Geschaffenwerden noch nicht mit der einfürallemal getanen Schöpfertat Gottes zu Ende zu sein; […].« 15
Was, so könnte mit Recht gefragt werden, hat dieses Stück klassischer religionsphilosophischer Erwägung, das Rosenzweig in eine Traditionsreihe etwa mit Philo von Alexandrien, Levi ben Gerson oder Moses Mendelssohn stellt, mit der existenzphilosophischen Frage nach dem Sein zu tun? Es ist mit Sicherheit eine der besonderen Leistungen Rosenzweigs, daß er die Diskussion des Seins und seiner Bedeutung für den Menschen auf der Höhe seiner Zeit führt, sie aber doch als Glied kontinuierlicher Diskussionen seit der Antike begreift. Sein Denken erwirbt sich so nicht erzwungene Modernität auf Kosten der Tradition und stellt diese andererseits auch nicht als prägendes Erbe über die Artikulation zeitgenössischen Philosophierens. Das neue Denken, für das er eintritt, ist auch neu in diesem Ausgleich der Positionen, neu, nicht voraussetzungslos. Spätestens in den folgenden Zeilen tritt die Originalität seines Verknüpfungsmodells unverkennbar hervor, wenn er den Begriff des Daseins mit jenem der Schöpfung zusammenfügt. 15
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 131 f.
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Franz Rosenzweig
»Dasein bedeutet im Gegensatz zum Sein das Allgemeine, das des Besonderen voll und nicht immer und überall ist, sondern – darin von dem Besonderen angesteckt – fortwährend neu werden muß, um sich zu erhalten. Im Gegensatz zur Welt als fester Gestalt, aus der es hervortritt und die es in seiner beständigen Erneuerungsbedürftigkeit jeden Augenblick verleugnet, ist es bedürftig, bedürftig nicht bloß nach Erneuerung im Dasein, sondern als Ganzes von Dasein selber noch bedürftig nach – Sein.« 16
Dieses Sein ist also für Rosenzweig kein Zugrundeliegendes, Vorgegebenes, dessen ständige Präsenz vom Menschen als ein »Zuviel« erlebt werden könnte, sondern Möglichkeit des Daseins, die erst im Vollzug ihrer Verwirklichung überhaupt als solche erkennbar wird. Der Mensch empfängt kein vollendetes Sein in der Schöpfung und erst recht ist er nicht in ein anonymes Sein geworfen. Er lebt im immerwährenden Zustand der Verwirklichung seines Dasein, wodurch letztlich, einer finalen Option vergleichbar, sogar die zeitliche Begrenztheit des eigenen Existierens transzendiert wird. Dasein als Möglichkeit drückt diese Aussetzung der Existenz in den Zustand der Unabgeschlossenheit aus, womit sich dessen Beschaffenheit wiederum stark den späteren existenzphilosophischen Entwürfen etwa von Jean-Paul Sartre annähert. Als wesentlich unabgeschlossen und prozeßhaft bedarf das Dasein der Verwirklichung durch den Menschen, denn wie sonst sollte diese Arbeit der Realisierung vorstellbar sein? Bereits hier kündigt sich eine starke Parallele zum Begriff des Begehrens bei Lévinas an: Dasein bedarf der Verwirklichung, die sich niemals als vollendet erweisen kann, davon ist Rosenzweig überzeugt. Die Begegnung mit dem Anderen folgt dem Begehren, das niemals erfüllt zu werden vermag, so ergänzt Lévinas. Wenn Rosenzweig die Motive der Schöpfung und des Daseins im Gedanken ihrer wesentlichen Verwiesenheit aufeinander verknüpft, verbindet er dadurch auch die entsprechenden Zugänge ihrer Erfahrung. »Was wir als die Gestalt erkannten, in der die Welt sich als Kreatur offenbart, das erkennen wir nun, wo wir das Dasein als Da-sein, Schon-da-sein, nicht mehr bloß als allgemeines, aber alles einzelne in sich führendes Sein fassen, als das entscheidende Merkmal der Schöpfung überhaupt.« 17
16 17
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 134. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, I, S. 146.
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Unwohlsein im Sein
Schöpfung offenbart sich als ihre eigene Möglichkeit, zu sein, was Rosenzweig, heideggersche Terminologie antizipierend, als das Da des Seins bezeichnet. Als »alles einzelne in sich führendes« ist Sein ›schon-da‹ und zugleich ›da‹, geschaffen und doch unvollendet, weil es sich als Sein permanent neu auf der Grundlage seines Geschaffen-Seins als Einzelnes hervorbringt.
VII.4
Martin Heidegger
Ist es Zufall, daß Rosenzweigs Deutung des Da-Seins eine so frappierende Nähe zu jener Martin Heideggers erkennen läßt, nicht nur hinsichtlich der ungewöhnlichen Schreibweise, die beide bisweilen praktizieren? Gilt dessen eigentliches Interesse nicht vielmehr der Frage nach dem Sinn von Sein und verfolgt dadurch ein völlig anderes Ziel als dasjenige, das Franz Rosenzweig motiviert? Die wohl bemerkenswerteste Leistung Heideggers besteht in seiner Überzeugung, daß sich Sein nicht als Abstraktion begreifen läßt. Jede Frage nach dem Sein und seinem Sinn muß also dort beginnen, wo Sein überhaupt nur denkbar sein kann – im Dasein. In diesem letzten Gedanken würden klassische Ontologien gewiß konform verlaufen. Heidegger geht aber über sie hinaus, wenn er fragt, ›wie‹ Sein im Dasein verstehbar ist, was ihn zu dessen präziser Analyse veranlaßt. In diesem Zusammenhang wird speziell die Frage nach der zeitlichen Struktur des Daseins relevant. »Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« 18
Fernab jeder Sentimentalität wird der Tod als Faktum bezeichnet, dessen Bedeutung für das Sein, das von ihm beendet wird, nun zur Diskussion steht. »Im Sein zum Tode dagegen, wenn anders es die charakterisierte Möglichkeit als solche verstehend zu erschließen hat, muß die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden.« 19 18 19
Heidegger, Sein und Zeit, § 48, S. 245. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 261.
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Martin Heidegger
Damit etwas »verstanden«, »ausgebildet« und »ausgehalten« werden kann, muß es zuvor erfaßt worden sein, oder, um einen Begriff zu verwenden, den Heidegger selbst meidet, es muß zu Bewußtsein gekommen sein. Dasein ist seiner Bestimmung nach »Sein zum Tode« im Sinne purer Möglichkeit, das heißt, es ist nicht durch seine finale Unausweichlichkeit gekennzeichnet, sondern durch seine optionale Struktur, die Heidegger in den drei genannten Formen aufzeigt. Im Wissen um dieses dereinst Bevorstehende gilt es nun für ihn zu verdeutlichen, daß sich der Mensch, wenn er denn die Möglichkeiten seiner Existenz ausschöpfen will, der Endlichkeit seines Daseins zu konfrontieren hat. In allen drei Formen stellt sich der Mensch einer Faktizität seines Todes, anstatt sie zu verdrängen. Das setzt allerdings voraus, daß er sie zuvor als solche hat zulassen müssen. Verdrängung, Ausflüchte, blind stellendes Ausweichen vor der radikalen Forderung des Daseins, erweisen sich als Mechanismen, die Heidegger schonungslos zu entlarven versteht, indem er das Motiv der Angst argumentativ nutzt. »Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ›Welt‹ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. […] Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich ihm [dem Dasein] ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst.« 20
In einer Anmerkung zu seinen Ausführungen beruft sich Heidegger explizit auf Søren Kierkegaards Theorie der Angst und doch klingt seine Beschreibung im Vergleich zu jener seines Vorgängers sonderbar unberührt. Wo ist Rosenzweigs leidenschaftliche Empathie mit dem Menschen, der nur einen Wunsch hat – zu leben? Wo ist ein Zeichen des Aufbegehrens gegen die absolute Bedingtheit menschlichen Seins, die nicht einmal aus dem Begriff der Geworfenheit wirklich herauszuhören ist? Warum wirken Heideggers Gedanken über den Tod und die Angst, die ihn spürbar werden läßt, so, als würden sie den Mensch gar nicht wirklich betreffen, sondern als seien sie lediglich Kennzeichen des Daseins, dessen Begriff analysiert werden muß, soll die Frage nach dem Sinn von Sein beantwortet werden? Aus genau diesem Grund. Gerade in diesen Textpassagen in Sein und Zeit, die einerseits so vertraut und andererseits so fremd wirken können, ist es immer 20
Heidegger, Sein und Zeit, § 40, S. 189 und § 50, S. 251.
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Unwohlsein im Sein
wieder nützlich, sich das Vorhaben zu vergegenwärtigen, das Heidegger verfolgt. Er will die Korrektur eines Versäumnisses der traditionellen Ontologie vornehmen, die genau diese Frage nicht mehr stellte. Damit ist der vorrangige Gegenstand seiner Untersuchung nicht der Mensch, den das Wissen um seine Endlichkeit ängstigt. Sein Interesse gilt dem Menschen, der sich wissentlich der Natur seines Daseins stellt, dieses auf sich nimmt, was nicht mit resignativer Akzeptanz zu verwechseln ist, und sich so letztlich verstehend dem Sein gegenüber verhält. Es ist mehr als nur ein Zufall, daß genau in diesem Kontext seiner Schrift eine der wenigen Erwähnungen des Begriffes der Existenz erfolgt. »Auf eigenstes Seinkönnen sich entwerfen aber besagt: sich selbst verstehen können im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. Das Vorlaufen [in den Tod] erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz.« 21
Die Möglichkeit »eigentlicher Existenz«, die Heidegger hier andeutet, ist nicht deshalb Möglichkeit, weil sie die Bedingtheit des Daseins überschreiten würde oder könnte, sondern weil sie sich innerhalb Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 262 f. Florian Grosser rekonstruiert in Revolution denken. Heidegger und das Politische 1919 bis 1969, wie stark sich in philosophischen Theoremen und Terminologien Heideggers dessen politisch/ideologische Ansichten nachweisen lassen. Zu den hierfür beleuchteten Begriffen zählt auch derjenige der »Eigentlichkeit«, den er zunächst skizziert: »›Eigentliches‹ Dasein kommt sich selbst auf die Schliche und stellt sich all dem, was es wesentlich als je einzelnes in Anspruch nimmt – seiner ›Angst‹, seiner ›Schuld‹ und seinem ›Gewissen‹«, S. 245. Im Folgenden konstatiert Grosser: »So versteht er sein gesamtes Philosophieren unter den Vorzeichen einer radikal und umfassend ansetzenden, auf die gesamte Funktionsweise des Menschen abzielenden ›Umwälzung‹«, S. 258. Gerade an dem Terminus der Eigentlichkeit wird die extreme Schwierigkeit deutlich, entscheiden zu können, ob er bereits in seinen frühen Formulierungen Testat einer nationalsozialistisches Denken implizierenden Struktur ist. Eine gänzlich differente Deutung gibt ihm noch Mitte der achtziger Jahre Richard Rorty in Heidegger wider die Pragmatisten, S. 16 f.: »Ich möchte eine Interpretation dieses Begriffes vorschlagen, die mit meiner Definition der Wahrheit als Eigenschaft des Ganzen einer Sprache und des Seins als Bezugspunkt eines Gesamts der Worte in Einklang steht. Eigentlichkeit meint meiner Auffassung nach das Wissen um das Fragwürdige der Worte. […] Eigentlich zu sein bedeutet, anzuerkennen, daß die Beziehung zwischen Dasein und Sein, zwischen dem Menschen und dem, das er mit einem solchen Wort wie ›Sein‹ zu erreichen sucht, keine Beziehung des Einzelnen zum Allgemeinen, des Vergänglichen zum ewigen Ursprung, sondern eine Beziehung zu ihm selbst ist.«
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Martin Heidegger
der Begrenztheit des Sein-Könnens verwirklicht. Ein Großteil der Interpretation der Konzeption des »Seins zum Tode« verknüpft sich mit dieser Sichtweise. Möglichkeit ist für Heidegger in diesem Kontext begrenzt, nicht absolut, sie hat sich an die faktische Gegebenheit des Daseins zu halten, die sie sowieso niemals außer Kraft setzen könnte. Existenz heißt: sich bedenkendes Sein. Bedenken aber bedeutet, Gewißheit über die Bedingungen des Daseins zu erlangen und diese auf sich zu nehmen. Dieses geschieht ausschließlich in einer veränderten Haltung innerhalb des Daseins in seiner Bedingtheit, die Grundlage eigentlichen Verstehens, nicht dessen Folge ist. »So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand. Dessen existenziale Möglichkeit gründet darin, daß das Dasein ihm selbst wesenhaft erschlossen ist und zwar in der Weise des Sich-vorweg.« 22
Der Tod ist nicht per se »eigenste Möglichkeit«, sondern ausschließlich dann, wenn er als solche ergriffen wird. In diesen Passagen wird es wohl am klarsten, daß es für Heidegger hier nur einen einzigen Sprachduktus geben kann. Die eigenste Möglichkeit ist zwar diejenige des Einzelnen, so wie auch das Existieren eine verstehende Verhaltung zum Sein ist, die nur vom Einzelnen, der versteht, zu nutzen ist. Doch läge es für Heidegger gänzlich fern, diese Möglichkeit als eine Sonderung des Einzelnen aus dem Sein, als einen Ausweg oder eine rettende Befreiung vom Sein zu bezeichnen. Existieren geschieht als Dasein und damit niemals dem Sein konträr. Insofern ist es konsequent, wenn Heidegger Existenz nicht als Ausnahmeerscheinung des Seins bezeichnet, sondern sie eben so thematisiert, wie das Sein – analysierend. Heidegger will nicht beschönigen, nicht verdecken und ganz gewiß nicht trösten. So einsichtig die Art von Heideggers Ausführungen zum Tod, zur Befindlichkeit und zur Geworfenheit in Sein und Zeit auch sein mögen, so fragwürdig ist es doch, ob ihn diese Motive als einen Denker der Existenz qualifizieren. Fast wirkt es so, als würde er zwar die Begriffe verwenden, doch in einer Weise, die letztlich existenzphilosophischer Intention widerspricht, nämlich in abstrakter und allgemeingültiger Form. Philosophie, so lautete das Postulat, soll ein geeignetes Medium sein, um der existentiellen Situation des Menschen 22
Heidegger, Sein und Zeit, § 50, S. 250 f.
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reflektierend gerecht zu werden. Ist diese Forderung in Heideggers Text erfüllt? Ja und nein. Es ist ein Denken, das die Struktur des Seins offenlegt und dadurch den Weg aufzeigt, wie ein Verstehen des Seins möglich ist, das als verstehendes Sein nichts anderes bedeutet als: Existenz. Wirkt Sein und Zeit aufgrund seiner erklärten Zielsetzung sehr formal, zeigen spätere Werke Heideggers, wie bereits seine Antrittsvorlesung von 1929 mit dem Titel Was ist Metaphysik? eine variantenreichere Diktion. Bereits in der ersten Skizzierung erscheint eine Formulierung, die in der Form in Sein und Zeit schwerlich zu vermuten wäre. »Das metaphysische Fragen muß im Ganzen und aus der wesentlichen Lage des fragenden Daseins gestellt werden. Wir fragen, hier und jetzt, für uns.« 23
Um aber in dieser Weise fragen zu können, ist »[…] nichts Geringeres als der Einbruch eines Seienden, genannt Mensch, in das Ganze des Seienden […]« 24 erforderlich. Zweimal stellt Heidegger eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung: die ontologische Frage nach dem Sinn von Sein und die metaphysische Frage danach, warum überhaupt Sein ist. Indem nun die Metaphysik danach fragt, warum überhaupt etwas ist und nicht Nichts, attestiert sie jenem Nichts, das sie als Gegenentwurf zum Sein für undenkbar setzen will, doch zumindest die Plausibilität der Negation von Sein. Das Nichts ist aber kein Produkt einer logischen Operation, sondern dem Menschen sich in der Angst aufbürdende Erfahrung. In ihrer Beschreibung zeigt das heideggersche Denken nun erstmals eine Bewertung des Phänomens der Angst, die einen Vergleich zu deren Deutung bei anderen hier betrachteten Denkern zumindest als möglich erscheinen läßt. »In der Angst – sagen wir – ›ist einem unheimlich‹. […] Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchem kehren sie sich uns zu. Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und
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Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 24. Heidegger, Was ist Metaphysik? S. 26.
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Martin Heidegger
kommt über uns – im Entgleiten des Seienden – dieses ›kein‹. Die Angst offenbart das Nichts.« 25
Diese Erfahrung eines »Wegrückens von Seiendem« ist auf den ersten Blick nicht identisch mit jener des »Zuviel«, der gleichwohl bedrängenden Präsenz von Seiendem, die Sartre beschreibt, oder mit der anonymen Fülle des Seins, der Lévinas durch den »Ausgang« zu entfliehen sucht. Am ehesten zeigt Heideggers Verständnis gedankliche Nähe zu Rosenzweigs Auffassung und seiner Thematisierung der Angst vor dem Nicht-mehr des Todes. Für einen genaueren Vergleich gilt es jedoch, zwischen dem Erleben der Stimmung der Angst und deren psychischer Folge zu differenzieren. ›Wie‹ die Angst den Menschen, der sie nicht mehr zu unterdrücken vermag, seine Welt plötzlich verwandelt erleben läßt, kann sich offenbar individuell unterscheiden. ›Was‹ sie in diesem Menschen auslöst, ist aber immer das gleiche: Die Notwendigkeit, oder, positiv gedeutet, die Chance, als Einzelner eine Haltung im Sein einzunehmen. Die Angst als Katalysator der »Verwandlung des Menschen in sein Da-sein« 26, so umschreibt Heidegger ihre Wirkweise. »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir die Transzendenz. Würde das Dasein im Grunde seines Wesens nicht transzendieren, d. h. jetzt, würde es sich nicht im vorhinein in das Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem verhalten, also auch nicht zu sich selbst. Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit.« 27
Kehrt Heidegger in dieser Formulierung nicht wieder zu seiner Position in Sein und Zeit zurück, scheint sie doch an das dort thematisierte »Sein zum Ende« zu erinnern? Interessanterweise spricht er in Was ist Metaphysik? zwar von der Angst, nicht aber vom Tod. Die »Hineingehaltenheit« in das Nichts ist nicht mit dem Vorlaufen in den Tod identisch, obwohl beide Darstellungen die Integration des Nicht in das Dasein illustrieren sollen. Das Vorlaufen ist ein aktiver gedanklicher Prozeß, der die Zeitlichkeit des Daseins verdeutlicht. Der Mensch kann die Möglichkeit seines Nicht-mehr-Seins antizipieren. 25 26 27
Heidegger, Was ist Metaphysik? S. 32. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 33. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 35.
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Unwohlsein im Sein
Das »Hinaussein über das Seiende« ist im Gegensatz dazu der komplexere Vorgang, weil er die generelle Möglichkeit des NichtSeins zu vergegenwärtigen hilft. Bemerkenswert ist daran, daß dieses Transzendieren nicht in ein reines Nichts mündet, das als solches kaum denkbar wäre, sondern in ein Nichts als Negation des Seienden, das als solches zum Sein zählt. An diesem Punkt seiner Argumentation angelangt, kann Heidegger zur ursprünglichen Frage nach dem Wesen der Metaphysik zurückkehren, zumal allein schon ihre Begrifflichkeit die Notwendigkeit des Transzendierens signalisiert. »Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten. […] Das Hinausgehen über das Seiende geschieht im Wesen des Daseins. […] Darin liegt: Die Metaphysik gehört zur ›Natur des Menschen‹.« 28
VII.5
Karl Jaspers
Immer wieder wird es deutlich, daß Jaspers, anders als Heidegger, nicht primär an einer Analyse der ontologischen Strukturen des Seins interessiert ist, sondern den psychologischen Kennzeichen nachspürt, die sich aus menschlichem Verhalten im Sein ableiten lassen. Obwohl seine Ausführungen zu den Phänomenen Angst und Tod der Sache nach eine deutliche Nähe zu Heideggers Betrachtungen aufweisen, sind sie doch grundsätzlich anders motiviert. Die auf den ersten Blick ähnlich anmutenden Aussagen von Jaspers gilt es also auf jene Spuren zu befragen, die sie vom heideggerschen Verständnis differenzieren, was freilich nicht heißt, den einen Denker an dem anderen zu messen, sondern ihn in Abgrenzung von dessen Theorie zu lesen. »Eine bildhafte Vorstellung bringt Situation vor Augen als Lage der Dinge zueinander in raumtopographischer Anordnung. Am Leitfaden dieser räumlich-perspektivischen Vorstellung erwächst der Gedanke der Situation als einer Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt, […].« 29
28 29
Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 38 und S. 41. Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 201 f.
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Karl Jaspers
In diesem Begriff von »Situation« faßt Jaspers die ganze komplexe Bezogenheit des Menschen auf das Dasein, insofern diese jeweils die spezifischen Bedingungen individuellen und auch gesellschaftlichen Lebens zeigen. Das Besondere an dieser Auffassung liegt darin, daß Situationen vom Menschen geprägt werden und sich als geprägte wiederum prägend auf dessen Verhalten auswirken. Dasein ist gleichermaßen bedingt und bedingend. 30 »Situationen wie die, daß ich immer in Situationen bin, daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig.« 31
Könnte der Mensch angesichts solch unabänderlicher Faktoren, die das Dasein prägen, nun vielleicht mit Resignation reagieren, will Jaspers genau diese Tatsache, daß sich der Mensch zu einer Reaktion veranlaßt sieht, nutzen. In ihr findet er die entscheidende Initiierung jenes Distanzierungsschrittes, durch den sich der Mensch, nun als Einzelner, seinem Dasein erkennend gegenüberstellt – unverzichtbare Voraussetzung jenes folgenden Prozesses der aktiven und reflektierten Positionierung innerhalb des Daseins, die Jaspers als Existieren bezeichnet. In richtungweisender Anlehnung an das Denken Kierkegaards wählt Jaspers für die Beschreibung dieses Vorganges die Metapher des »Sprunges«, den er in dreifacher Weise charakterisiert: als Sprung aus der Welt in das Dasein, »das in Situationen steht als mögliche Existenz«; als Sprung aus der möglichen Existenz zum Erfassen der Grenzsituationen als Möglichkeiten; als Sprung aus der möglichen Existenz zur verwirklichten Existenz. »Gegenüber der Verwirklichung in endlicher Situation, welche partikular, durchsichtig und Fall eines Allgemeinen ist, geht eine Verwirklichung in der Grenzsituation auf das Ganze der Existenz, unbegreiflich und unvertretbar.« 32
Hannah Arendt geht in ihrer Schrift Vita activa oder Vom tätigen Leben wesentlich von diesem Verständnis des Daseins aus und hebt die außerordentliche Bedeutung der menschlichen Tätigkeitsformen Arbeiten, Herstellen und Handeln hervor. 31 Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 203. 32 Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 206. 30
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Unwohlsein im Sein
Die Unabänderlichkeit als Mögliches zu ergreifen und darin die eigene Existenz als Möglichkeit des Unabänderlichen zu begründen – mit fast zwingend anmutender Folgerichtigkeit sieht auch Karl Jaspers darin den eigentlichen Wert des Existierens. Charakterisiert wird seine Variante dieses gedanklichen Modells dadurch, daß es sich nicht um ein Erkenntnisideal handelt, das den Menschen als Einzelnen zu einem abstrakten Erfassen der Beschaffenheit des Seins führt. Statt dessen mündet die Bewegung des Sprunges, den er nicht als kontinuierlichen Prozeß versteht, im »philosophischen Leben der Existenz« 33. Bezeichnenderweise teilt er mit Kierkegaard, seinem Ahnherrn im Denken, die Skepsis gegenüber einer Bewegung des Sprunges, die in extremer Form ihren Bezug zum Dasein einbüßt. Beide exemplifizieren dieses Mißtrauen am Beispiel des Mystikers, der nach Jaspers’ Auffassung in »inkommunikabler und weltloser« 34 Haltung sein Existenz-Potential verleugnet und in der Sicht Kierkegaards des wahrhaft ethischen Verhaltens unfähig ist. Wenn man eventuell mit Blick auf Kierkegaard noch bezweifeln kann, ob dieser Verlust tatsächlich beklagenswert ist, da doch der qualitative Sprung den Menschen als Einzelnen vor Gott führt und damit in gewisser Weise dessen Verantwortung dem Nächsten gegenüber relativiert, hätte jede Form des Relationsverlustes für Jaspers die fatale Konsequenz, daß sie den Menschen um die Möglichkeit, existieren zu können, bringt. Wie stark diese Achtung vor dem Bezug zum Anderen und zur Existenz mit dem Anderen sein Denken kennzeichnet, wird speziell an seiner Bewertung der Grenzsituation des Todes deutlich, eingeleitet durch seine doppelte Bestimmung der Angst. »Die Angst existentiellen Nichtseins ist von so anderer Qualität als die Angst vor dem vitalen Nichtdasein, daß trotz gleicher Worte, Nichtsein und Tod, nur die eine Angst wahrhaft herrschen kann. Die die existentielle Angst erfüllende Gewißheit allein kann die Daseinsangst relativieren. […] Die Doppeltheit von Daseinsangst und Existenzangst läßt den Schrecken des Todes in zweifacher Gestalt erscheinen, als Dasein, das im Nichtsein der Existenz doch ist, und als radikales Nichtsein. Das Dasein, das im Nichtsein der Existenz doch ist, wird der Schrecken eines endlosen Lebens ohne Möglichkeit, ohne Wirken und Mitteilung.« 35
33 34 35
Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 207. Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 208. Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 226 f.
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Karl Jaspers
Vielleicht wird die Position, die Jaspers einnimmt, besonders im Kontrast zu den Sichtweisen von Heidegger und, wie sich später zeigen wird, von Lévinas erkennbar. Heidegger tritt, verkürzt in seiner vielzitierten Formulierung des »Seins zum Tode« artikuliert, für die Möglichkeit des Menschen ein, in dessen Verstehen den tiefsten Ausdruck eigentlicher Freiheit zu verwirklichen. Dem jasperschen Konzept grundsätzlich damit gar nicht unähnlich, differieren beide doch in der Wertung der Bedeutung des anderen Menschen innerhalb dieser Verwirklichung zum Existieren. Wie allein der kleine Verweis auf »Wirken und Mitteilung« in obigem Zitat zeigt, wäre Existenz, und wollte sie noch so verzweifelt ›eigentlich‹ sein, ohne Bezug zum Anderen, also inkommunikabel, leer und sinnlos. Heidegger hingegen betrachtet ausschließlich den individuellen Menschen, ohne ihm jedoch seine Individualität tatsächlich zuzugestehen. Fast wie die extreme Gegenposition wirkt dagegen das Denken von Emmanuel Lévinas. Nicht als »Sein zum Tode« versteht er menschliches Existieren, sondern als Sein für das, was ist. Die Bedeutung vereinzelter Existenz relativiert sich bis ins Äußerste angesichts der Bedeutung der Existenz des Anderen. Jaspers’ Position bildet ein Mittleres zwischen beiden Formen. In freier Übertragung ließe sie sich als ›Sein mit den Anderen in der Grenzsituation des Todes‹ beschreiben. Daß er in seiner außerordentlichen Wertschätzung des Anderen Lévinas weitaus näher steht als Heidegger, zeigt sich auch mit Blick auf eine weitere Grenzsituation, die der Schuld. »Wenn ich im Dasein mögliche Existenz bin, werde ich wirklich durch das Eine. Das Eine ergreifen, heißt anderes Mögliche, wenn auch still und im Sinne rationaler Moral schuldlos, zurückweisen. Das Andere aber sind Menschen als mit mir mögliche Existenzen.« 36
Die Wahl der einen Option schließt eine beliebige Vielzahl weiterer Optionen aus – bis zu diesem Punkt liegt Jaspers’ Denken die unvermeidbare Konsequenz jedes Entscheidungsaktes zugrunde. Daß dieser aber zugleich unabsehbare Folgen auch für die anderen Menschen hat, wird nun von Jaspers hervorgehoben, indem der wählende Mensch, im selben Moment, in dem er sich wählend existentiell zu verwirklichen beginnt, schuldig am Anderen wird. In der Grenzsituation der Schuld wird dieses Faktum dem Einzelnen begreiflich, insofern er sich als verantwortlich für sein eigen36
Jaspers, Philosophie II, III.7, S. 247.
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stes Schuldig-Sein erfährt. Doch nicht nur in dieser tragischen Konkretion, die Selbst-Sein um den Preis des Schuldig-Werdens verwirklicht, hat der Einzelne sich verantwortlich zu fühlen. »Nirgends kann ich den Ursprung finden, an dem als Anfang meine Verantwortung begann. […] Ich übernehme, was ich doch nach all meinem Wissen nicht hätte meiden können. So übernehme ich den Ursprung meines Wesens, der vor jeder meiner bestimmten Handlungen als der Grund liegt, aus dem ich wollte und wollen mußte; so übernehme ich ferner in der Wirklichkeit, was ich tun muß, ohne in der Situation anders zu können.« 37
Mit diesem Rückgriff in eine »vorursprüngliche« Dimension, wie es Lévinas nennen wird, faßt Jaspers die Verantwortung für das nicht selbst Verursachte als notwendige Bedingung menschlichen Seins im Übergang zur Existenz. Die Bedingtheit des Existierens als solche ist dabei ebensowenig zu leugnen wie das Bestehen von Grenzsituationen. Die existentielle Variable taucht mit dem Bewußtsein des Menschen auf, der diese erkennt und entscheidet, wie er sich ihnen gegenüber verhält. Es ist gewiß kein Zufall, daß Jaspers sich in deutlicher gedanklicher Nähe zu Kierkegaard weiß. Auch bei ihm wird in genau diesem Moment die Möglichkeit der Wahl thematisiert, die nicht nur eine beliebige Entscheidung zwischen zwei konkreten Alternativen ist, sondern Ausdruck des Entschlusses, im Akt des Wählens das eigene Selbst-Sein zu ergreifen. 38 Der Sinn der Freiheit erschließt sich für Jaspers nur aus dieser Perspektive, insofern der Mensch frei in der Wahl seiner Freiheit wird, die besteht, weil der Einzelne zu wählen vermag. Entschluß, Freiheit, Selbst-Sein – Signaturen existentieller Eigentlichkeit. Als solche markieren sie die Ausrichtung einer Bewegung im Sein, die der Mensch als Einzelner vollzieht, ohne sie jemals zu einem Abschluß führen zu können. Existieren ist insofern ein sich selbst in Bewegung-Versetzen und -Halten, ein Sich-Entwerfen auf
Jaspers, Philosophie II, II.6, S. 196. »Diese Wahl ist der Entschluß, im Dasein ich selbst zu sein.« Jaspers, Philosophie II, II.6, S. 181. Volker Gerhardt Vernunft und Existenz, S. 76: »Zum Selbst gelangt man nach Jaspers nicht auf dem Weg eines epistemischen Rückzugs ins Ich. Was manchen als methodologische Nachlässigkeit erscheinen mag, ist in Wahrheit Ausdruck philosophischer Souveränität: In der systematischen Grundlegung der Philosophie kommt gar nicht erst der Gedanke auf, das Ich könne im Abseits der Welt gefunden werden.« 37 38
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Karl Jaspers
die Zukunft, ein Transzendieren auf ein Noch-nicht-Sein, 39 das sich, je nach Akzentuierung des jeweiligen Denkers, als solitäres oder solidarisches Geschehen darstellt. Wiederum zeigt sich, daß Jaspers im Vergleich zu Heidegger und Lévinas eine mittlere Position einnimmt. Alle drei sind sich darin einig, daß der Ursprung jeder existentiellen Bewegung in einem kommunikativen Akt liegt. Sowohl Heidegger als auch Jaspers verlegen diesen in das Individuum selbst in Form eines inneren Rufes, in dem sich der Mensch zum Selbst aufruft. In scheinbarer Nähe zur Darstellung in Sein und Zeit schreibt Jaspers: »Im Gewissen spricht eine Stimme zu mir, die ich selbst bin. […] Es ist wie in einer Zerspaltenheit meines Seins die Kommunikation meiner mit mir selbst, Ansprechen meines empirischen Daseins durch den Ursprung meines Selbstseins. Niemand ruft mich an; ich selbst spreche zu mir.« 40
In Heideggers Darstellung würde sich der Mensch, der den Ruf vernimmt, der aus ihm selbst ertönt, zum Sein der Eigentlichkeit aufgerufen wissen. Der Ruf verhallt im Selbst, für die Anderen unhörbar, folgenlos für das Miteinander, wie es zunächst scheint. In der bloßen Beschreibung des Rufes unterscheidet sich die Darstellung von Jaspers noch nicht von der Heideggers. Eine markante Differenz wird allerdings mit Blick auf die möglichen Konsequenzen erkennbar. »Im Gewissen habe ich Distanz zu mir. Ich bin mir nicht verfallen als einem Dasein, das gegeben ist und nur abgespielt wird. […] Das Gewissen ist das Fordernde, das im Aufschwung das Sein mit dem Bewußtsein der Wahrheit ergreifen läßt. […] Das Gewissen fordert, zu unterscheiden zwischen gut und böse. […] Was ich tue, soll so sein, daß ich wollen kann, die Welt überhaupt sei so, daß es überall geschehen müsse.« 41
Ronny Miron in Karl Jaspers. From selfhood to being, S. 172: »The explication of selfhood itself transpires as an integral part of the philosophical effort to constitute a metaphysical consciousness. The new definition Jaspers gave to his thought should not be understood as a denial of the importance of Existenz in the process of elucidating transcendence, but as an expression of a change in Existenz’s self-consciousness regarding its mode of existence in the world: it shifts from ›existence as an Existenz‹ to ›existence as an Existenz in the face of transcendens‹.« 40 Jaspers, Philosophie II, III.8, S. 268. 41 Jaspers, Philosophie II, III.8, S. 268 f. 39
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Unwohlsein im Sein
Der Ruf treibt den Menschen zu einem internalisierten Imperativ, zu einer Selbst-Unterweisung, die das Handeln und Verhalten in der Gemeinschaft präformiert. Auf Unterweisung setzt auch Lévinas, doch erhebt sie nicht das Individuum an sich selbst, sondern der Andere. Ein Ergreifen des Selbst unabhängig vom Anderen lehnt Lévinas entschieden ab, da es sowohl kausal als auch temporär ein Subjekt voraussetzen würde, das isoliert vom Anderen zu agieren vermag. Ein Ruf, aus sich kommend und an sich gerichtet, würde diese subjektive Vorgängigkeit fordern und bestätigen.
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VIII. Das Elementale
VIII.1 Emmanuel Lévinas In strikter Ablehnung des Begriffes der Zuhandenheit von Heidegger, durch den er die menschliche Beziehung zu den Dingen in der Welt kennzeichnet, konstruiert Lévinas seine Vorstellung einer Relation, die sich soweit irgend möglich als ausgewogen darstellten soll. Der Mensch greift nicht auf die Dinge zurück, weil sie sich seiner Verfügung widerstandslos preisgeben, sondern weil sie sich aus sich selbst als brauchbar anbieten. Den so ausgewiesenen Kontext von Verweisung und Verwendung findet Lévinas im »Milieu«, in dem sich der Mensch und die Dinge begegnen. In einem weiter gefaßten Rahmen erweist sich das Milieu selbst als unbeherrschbar, insofern es aus Elementen und ihren Kräften besteht, die sich zwar vom Mensch nutzen, aber nicht in ihrer Natur verfremden lassen. »Das Element hat keine Formen, in denen es enthalten wäre. Es ist Inhalt ohne Form. Oder besser, das Element hat nur eine Ansicht: die Fläche des Meeres und des Feldes, der Windstoß; […].« 1
Bei seiner Beschreibung der spezifischen Relation zwischen dem Menschen und den Elementen greift Lévinas ein Motiv auf, das auch aus den vielfältigen Darstellungen in den Werken von Albert Camus vertraut ist. »Aber die angemessene Beziehung mit dem Element ist keine andere als die des Badens. Innensein des Untertauchens schlägt nicht um in Exteriorität. Die reine Qualität des Elements hängt sich an keine Substanz, die es tragen würde. Im Element baden heißt, in einer verkehrten Welt sein, […].« 2
Qualität ohne Substanz, die ihr zugrunde liegen würde – nach klassischer Ansicht eine logisch undenkbare Beschaffenheit, die hier dem 1 2
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 185. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 186.
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Das Elementale
Element attestiert wird. Gerade weil es sich aber so dem denkenden Zugriff des Menschen verweigert, eröffnet das »Elementale« 3 die Möglichkeit einer Beziehung, die Vorbild für die sich später zeigende ethische Relation schlechthin sein wird. Es erhält sich eine eigentümliche Eigenständigkeit, Nicht-Vereinnahmbarkeit, die dem Menschen eine Haltung abverlangt, die seine gewöhnliches Verhalten außer Kraft setzt. »So fixiert das Denken das Element nicht wie ein Objekt.« 4 Fügt es sich aber nicht der Objektivierbarkeit, bietet es dem Menschen auch keine Chance, sich selbst als Subjekt zu gerieren. Es fordert ihn heraus, in jener unerhörten, die überkommenen Mechanismen der Rationalität in Frage stellenden Weise, sich ganz und unmittelbar von seiner Präsenz vereinnahmen zu lassen – genau das ist es, was Camus und Lévinas mit der Metapher des Bades im Meer illustrieren wollen. »Vielmehr kommt hier die Bewegung unaufhörlich über mich wie eine Welle, die verschlingt, mitreißt und in der ich versinke. Unaufhörliche, endlose Bewegung des Zuströmens, umfassender nahtloser Kontakt, ohne Leere, von der die reflektierte Bewegung eines Denkens ausgehen könnte; darinsein, im Inneren von … sein.« 5
In dieser Ausnahme-Erscheinung eines Erlebens formt sich für Lévinas das Modell einer wahrhaftigen Begegnung von Gleichen, auch wenn der eine Part hier noch Mensch, der andere Materie ist. Wichtig für die weitergehende Ausbildung dieses grundsätzlichen Gedankens ist, daß es überhaupt eine Form des Aufeinandertreffens gibt, die keiner Seite die Aufgabe der Eigenheit und Eigenständigkeit abverlangt. Denn auch der Mensch, der sich den Elementen hingibt, verliert sich in diesem Akt, der Sich-Verschenken und Sich-Empfangen gleichermaßen ist, keineswegs. Ist diese generelle Möglichkeit ausgewogener Berührung gegeben, kann Lévinas, in einem einzigen Satz zwei typisch existenzphilosophische Motive zurückweisend, folgern: »Das menschliche Seiende befindet sich nicht in einer absurden Welt, in die es geworfen wäre.« 6
3 4 5 6
Lévinas, Totalité et Infini, S. 138: »Nous l’appelons l’élémental.« Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.3, S. 187. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.4, S. 191. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.5, S. 200.
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Martin Heidegger
Das einzige Merkmal, in dem sich die Form der Begegnung mit dem Elementalen von der entscheidenden Begegnung mit dem anderen Menschen unterscheidet, besteht in der Erfüllung, die erstere verschafft. Der Mensch, der sich – ganz Empfänglichkeit, ganz frei vom Denken – dem Wind, dem Meer öffnet, erlebt dieses unmittelbar, findet in diesem Erleben eine Bestätigung, die sich mit seiner Erwartung deckt, ohne diese erst wecken zu müssen. Die Elemente bieten sich der Sinnlichkeit rückhaltlos dar, zeigen ihre Qualitäten, die auf keine Substanz verweisen, unvermittelt, indem sie sich einer Rationalität verweigern, die sich auf die Sondierung ihrer Nützlichkeit orientiert. Aber so, wie sie auf nichts verweisen, das ihnen zugrunde liegen könnte, weisen sie auch auf nichts hin, das über ihre pure Erfahrung hinausweisen würde. Im Genuß erschöpft sich das Elementale ganz; es verheißt keine Erfüllung, die erst zukünftig zu erwarten wäre. »Das Element, in dem ich wohne, grenzt an eine Nacht. Die Ansicht des Elements, die mir zugewandt ist, verbirgt nicht ein ›Etwas‹, das sich zu offenbaren vermöchte, […].« 7
VIII.2 Martin Heidegger In seinem Bestreben, sich gegen Heideggers Philosophie abzugrenzen, gilt es für Lévinas vor allem, deren Grundlagen zu widerlegen, wie er sie in Sein und Zeit dargestellt findet. Dabei wird von Anfang an deutlich, daß sich die Ablehnung speziell auf ein Mißverhältnis zwischen dem Menschen und der Welt bezieht, die sich bis zu diesem Punkt in dessen Relation zu den Dingen in der Welt feststellen ließ. Folgerichtig versucht Lévinas, diese Relation in einem Modus größtmöglicher Ausgewogenheit zu denken, die es nicht mehr voraussetzt und auch nicht mehr zuläßt, daß der Mensch das innerweltlich Begegnende lediglich in der Perspektive der Zuhandenheit zur Kenntnis nimmt. An die Stelle der operationellen Bezüge, in denen der Mensch das ihm Zuhandene seinen Zwecken zuführt, setzt Lévinas das »Milieu« als einen Relations-Kontext, der eine möglichst herrschaftsfreie Beziehung von Mensch und Welt ermöglichen soll.
7
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.5, S. 202 f.
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Das Elementale
»[…] das Milieu, aus dem die Dinge mir zukommen, ist herrenlos, gemeinsamer Grund oder Boden, nicht-besitzbar, wesentlich ›niemandem‹ gehörig: die Erde, das Meer, das Licht, die Stadt.« 8
An dieser Beschreibung fällt auf, daß Lévinas ihr undifferenziert Natürliches und vom Menschen Erzeugtes zuweist. Heidegger unterscheidet dagegen sehr deutlich zwischen beidem. In den Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit konstituiert sich die »Umwelt«, in der »durch das Besorgen die Natur in bestimmter Richtung entdeckt« 9 ist. Doch unabhängig von diesem prägenden und nach lévinasischer Interpretation beherrschenden Zugriff beschreibt auch Heidegger in einer kleinen Passage eine aus sich selbst gültige Seins-Weise der Natur. »Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden – auch nicht als Naturmacht. […] Von deren Seinsart als zuhandener kann abgesehen, sie selbst lediglich in ihrer puren Vorhandenheit entdeckt und bestimmt werden. Diesem Naturentdecken bleibt aber auch die Natur als das, was ›webt und strebt‹, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt, verborgen. Die Pflanzen des Botanikers sind nicht die Blumen am Rain, das geographisch fixierte ›Entspringen‹ eines Flusses ist nicht die ›Quelle im Grund‹.« 10
Beschreibt Heidegger hier nicht die dem Elementalen eigene Besonderheit und nicht zu vereinnahmende Eigenheit im Sinne von Lévinas? Um es an dieser Stelle noch einmal zu verdeutlichen: Die Bewertung der Relation von Mensch und Welt ist nicht nur um ihrer selbst willen von Interesse, sondern sie bietet das Muster für jede weitere Ausdeutung der Relationsfähigkeit des Menschen, die dann in seinem Verhältnis zum Anderen gipfeln wird. Wenn Heidegger tatsächlich die Möglichkeit eines Seins der Natur einräumt, das nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen aufgeht, muß sich diese Möglichkeit auch in seinen weiteren Überlegungen niederschlagen. Auch wenn die Hinweise auf ein solches Verständnis naturhafter Eigenständigkeit in Sein und Zeit spärlich sind, tauchen sie im Werk Heideggers doch auf.
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, B.4, S. 185. Heidegger, Sein und Zeit, § 15, S. 71. 10 Heidegger, Sein und Zeit, § 15, S. 70. Löwith bestreitet die Vorstellung von Natur bei Heidegger, M. Heidegger und F. Rosenzweig, S. 83, bezieht sich jedoch nur auf Sein und Zeit. 8 9
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Martin Heidegger
In seinem 1935 gehaltenen Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes thematisiert er den Begriff des Zeuges, um über seine Bestimmung zu einer Definition des Werk-Charakters eines Kunstwerkes zu gelangen. Als eines der Beispiele, an denen er dessen Besonderheit veranschaulichen will, dient ihm ein Bauwerk in Form eines griechischen Tempels. »Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. […] Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt.« 11
Welt in dieser Bestimmung ist nicht ein Ganzes von Verweisungen, geprägt durch die Bezüge der Nützlichkeit und der Verwendbaren, wie es der Zuhandenheit zugrunde liegt. Vielmehr bezeichnet Welt, auch noch die Deutung in Sein und Zeit verändernd, im weitesten Sinne die Verortung des Seins. Dieses Verständnis klingt zwar auch im Begriff des In-der-Welt-Seins an, wird dort aber im Sinne der »Bewandtnisganzheit« von Zuhandenem verwendet. Da das Dasein sich in der Welt ereignet und dessen Analyse Thema der früheren Schrift ist, ist eine Klärung dieses Terminus für Heidegger dort nur von sekundärem Interesse. In seinem Text über das Kunstwerk steht statt dessen die Welthaftigkeit als solche im Vordergrund, da ein Begreifen ihrer Beschaffenheit Voraussetzung für das Begreifen ihrer Bedeutung für den Menschen ist. Diese erschöpft sich eben nicht darin, daß sich in der Welt Vorhandenes dem Menschen zum Gebrauch anbietet. Vor allem wird in dieser Thematisierung der Termini Welt und Erde eine Relation benannt, die in Sein und Zeit kaum berücksichtigt wird – die Bindung des Menschen an den Grund seines Seins, was nicht mit der Tatsache seines Seins identisch ist. »Die Erde ist das zu nichts gedrängte Mühelos-Unermüdliche. […] Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. […] Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.« 12
11 12
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 38. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 43.
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Das Elementale
Daß »Herstellen« hier kein Produzieren bedeutet, sondern ein Erkennbar-werden-Lassen, bedarf fast keiner Erläuterung, hatte Heidegger zuvor doch die Erde als die zu nichts Gedrängte, also dem menschlichen Formwillen gerade nicht Unterworfene, gekennzeichnet und damit eine Auffassung artikuliert, die derjenigen von Lévinas sichtbar nahekommt. Das nicht Vereinnahmbare der Erde in ihrer verborgenen und doch zugleich ständig präsenten Relation zum Menschen wird hier verdeutlicht, wobei Heidegger gerade in der Offenlegung dieses elementaren Bezuges die Voraussetzung jeglichen Begreifens sieht: in der absoluten Form, verstanden als das Erscheinen von Wahrheit, und ebenso in der individualisierten Form, insofern der Mensch im Begreifen seiner Stellung innerhalb der Welt unverzichtbare Aufschlüsse über sich als Seienden gewinnt. »Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.« 13
Wie unverzichtbar auch für Heidegger die Annahme einer selbst unveränderbaren Erde ist, die alles Weltsein bedingt und selbst erst in diesem kenntlich wird, zeigt die in späteren Schriften stattfindende Wiederholung und Variation dieses Motivs. In seinem 1951 entstandenen Text Dichterisch wohnet der Mensch wehrt Heidegger in der Interpretation eines Gedichtes von Friedrich Hölderlin die Vorstellung eines Maßes ab, das der Mensch prägend und funktionalisierend der Welt auferlegen könnte. »›Giebt es auf Erden ein Maaß?‹ Und er muß antworten: ›Es giebt keines‹. Warum? Weil das, was wir nennen, wenn wir sagen ›auf der Erde‹, nur besteht, insofern der Mensch die Erde be-wohnt und im Wohnen die Erde als Erde sein läßt.« 14
Erneut klingt hier der widerständige Charakter des Elementalen an, das sich nicht der pragmatischen Nutzung durch den Menschen darbietet, sondern ihm gerade sein begründetes Sein vor Augen führt. Es ist nicht mehr nur das In-der-Welt-Sein als grundsätzliche Bestimmung des Daseins, die hier im Sinne einer formalen Charakterisierung ausgedrückt wird, sondern ein Verhalten zur Erde, das eher einer ethischen Forderung gleichkommt. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 39. Heidegger, Dichterisch wohnet der Mensch, in: Vorträge und Aufsätze 1936–1953, S. 205.
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Franz Rosenzweig
So formuliert Heidegger denn auch in seinem ebenfalls 1951 entstandenen Vortrag Bauen. Wohnen. Denken: »Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten – das Wort in dem alten Sinne genommen, den Lessing noch kannte. Die Rettung entreißt nicht nur der Gefahr, retten bedeutet eigentlich: etwas in sein eigenes Wesen freilassen. Die Erde retten ist mehr, als sie auszunützen […]. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung. Die Sterblichen wohnen, insofern sie den Himmel als Himmel empfangen.« 15
Es drängt sich angesichts solcher Formulierungen eine nicht unwichtige Frage auf. Ist es möglich, daß sich Lévinas in seiner massiven Distanzierung von Heidegger von einer ausschließlichen Konzentration auf den Begriff der Zuhandenheit als Modus der Relation des Menschen zur Welt hat leiten lassen, so daß seine Erwiderung auf Heidegger eventuell anders ausgefallen wäre, wenn diese späteren Aussagen zur Erde stärker in seine Überlegungen eingeflossen wären?
VIII.3 Franz Rosenzweig Dem heideggerschen Verständnis der Welt und der Erde nicht in der Darstellung in Sein und Zeit, aber in den Beschreibungen der späteren Schriften, ist jenes Bild der Welt vergleichbar, das Franz Rosenzweig im Stern der Erlösung zeichnet. Heidegger, Bauen.Wohnen.Denken, S. 152. Ute Guzzoni widmet ihre Untersuchung Der andere Heidegger speziell dem Motiv der »Gelassenheit«, das sich aus den heideggerschen Bestimmungen des Raumes und der Offenheit ermitteln läßt, besonders S. 101 f. Mit Blick auf den Raum scheibt sie: »In Bezug auf den Raum besagt diese Betonung des Geschehenscharakters, daß er als ein Räumen, als räumender, Raum gebender und einräumender Raum verstanden wird. […] Der Raum ist das Ankommen-lassen des Räumlichen und damit das Sich-ergeben von Orten, […]«, S. 109. Diana Aurenque verbindet die Räumlichkeitsvorstellung Heideggers mit einem Begriff vom Ethos, Ethosdenken, etwa S. 86. Das »Geviert« deutet sie als Ausdruck des »Seins zum Tode«, S. 217. Hierbei wäre allerdings zu fragen, ob diese starke Akzentuierung des Begriffes der »Sterblichen« nicht den heideggerschen Gedanken des Gevierts, der auf Ausgewogenheit basiert, gefährden würde. Ihre Betrachtungen abschließend, formuliert sie: »Es besteht kein Zweifel: Heideggers Denken lässt sich als eine Suche nach dem angemessenen Ethos des Menschen interpretieren«, S. 336. Florian Grosser sieht gerade im Motiv des Gevierts einen Beleg dafür, daß sich Politisches auch in Heideggers Denken der Nachkriegszeit nachweisen lasse, Revolution denken, S. 310.
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Das Elementale
So wie nach Heideggers Auffassung eine unausgesprochene und doch mahnende Forderung an den Menschen ergeht, sich nicht ausschließlich in ergreifender, sondern vor allem in ›sein-lassender‹, bewahrender Weise zur Erde zu verhalten, 16 ist auch für Rosenzweig die veränderte Ausrichtung des Verstehens von Welt Bestandteil seiner Erneuerung des Denkens. Dabei treten bei ihm nicht unbedingt die Elemente als das den Menschen Herausfordernde in den Vordergrund, sondern die unendliche Fülle an Besonderem, das die Welt ausmacht und das sich beharrlich allen Vereinheitlichungsbestrebungen einer idealistischen Philosophie entzieht. Widerständigkeit attestiert also auch er der Welt, doch richtet sie sich nicht gegen den menschlichen Pragmatismus, sondern gegen seine ins Theoretische führende Vorliebe der Verallgemeinerung. »Aber das Bestürzende der Welt ist ja, daß sie nicht Geist ist. Es ist etwas andres noch in ihr, etwas immer Neues, Drängendes, Überwältigendes. […] So tritt die innerweltliche Fülle der Besonderheit entgegen der innerweltlichen Ordnung des Allgemeinen.« 17 »Sie [die Welt] ist das Verständliche schlechtweg, das was die besondere Eignung wie Bestimmung hat, verstanden zu werden und zwar aus sich selbst, – selbst-verständlich zu sein.« 18 »Das bloß vorausgesetzte Denken mag gedacht werden müssen, denkt aber nicht; bloß das wirkliche, das weltgültige, weltangewandte, weltheimische Denken denkt.« 19 Daß der Gedanke des »Lassens« als Bestandteil der Konzeption der »Gelassenheit« auch als Indiz der politischen Entwicklung Heideggers gelesen werden kann, zeigt Daniel Morat in Von der Tat zur Gelassenheit, S. 507: »Die Autoritätsorientierung der Beauftragungsidee blieb auch in Heideggers spätem Denken erhalten. […] Zusammen mit der Handlungsagentur delegierte Heideggers Gelassenheitskonzeption so auch die Verantwortung vom Menschen an das Sein und verunmöglichte auf diese Weise jede Verantwortungsethik. Die Verantwortung des Menschen bestand für Heidegger nur noch darin, vom Wollen abzulassen und sich in die Gelassenheit einzulassen, aber nicht mehr in einer Form des verantwortlichen Handelns, noch gar darin, für vollzogene Handlungen die Verantwortung zu übernehmen.« Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß in den ethischen Entwürfen von Lévinas und Derrida jedoch gerade das Element des »Lassens« als des Verzichtens auf Können grundsätzliche Bedeutung zugewiesen wird, wäre eine detailliertere Diskussion des inhaltlichen Bezuges auch zu Heideggers Gedanken unverzichtbar. 17 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 48 f. 18 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 44. 19 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 46 f. 16
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Franz Rosenzweig
Drängt sich beim Lesen von Formulierungen wie diesen, die vielleicht unter der Hülle ihrer euphorischen Artikulation ihre Unbestimmtheit nicht ganz zu verbergen vermögen, nicht der Parallelen suchende Blick zu Heideggers berühmten Postulat auf, wonach das »Denken denkender« 20 zu werden habe? Die massive Gefahr, die Rosenzweig in einem falschen Verhältnis der Welt gegenüber sieht, besteht also in zweierlei – in einem Verfehlen ihrer eigentlichen Natur und in einem Verfehlen der Bedeutung, die alles Sprechen von ihr auszudrücken hätte, daß es nämlich vom Lebendigen künden soll. 21 Gerade letztere Verirrung ist seiner Ansicht nach im bisherigen philosophischen Umgehen mit dem Phänomen Welt offenkundig. In ihrer Erscheinungsvielfalt ist diese nicht »allerfüllend, aber vollerfüllt« 22, nicht dem vereinheitlichenden Denken »Gegebenes, sondern immer neue Gabe« 23 – ein Begriff, der in der modernen französischen Philosophie eine bemerkenswerte Wiederaufnahme finden wird. Immer wieder wird in den Formulierungen Rosenzweigs sein unablässiges Ringen darum erkennbar, eine Form der Sprache zu finden, die dem neuen Denken adäquat zu sein vermag, was ihn, wie auch besonders Heidegger und Lévinas, vor die Schwierigkeit stellt, Neues mit alten und durchaus irrig belasteten Begriffen aussagen zu müssen. Seine teils eher poetisch wirkenden Ausführungen sind aber alles andere als illusionäre Phantasien utopischer Gestalt, sondern Bestandteil eines strikt durchkonstruierten Systems von Gedanken, das sich in der konsequenten Komposition seines Werkes spiegelt. So zeigt diese eine Notwendigkeit auf, jeden Teil, der der Darstellung eines der wesentlichen Elemente der Wirklichkeit gewidmet ist, in Verbindung zum anderen zu betrachten, weil sich nur aus dieser reflektierenden Einheit jene realisierte Einheit erschließen läßt, die Rosenzweig nicht nur beschreibt, sondern fast schon beschwört. Gott, Welt und Mensch sind diese Elemente des Denkens, die den biblischen Formen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung korrespondieren. Und so, wie keine dieser Formen für sich und getrennt von den jeweils zwei übrigen wahrhaft gewürdigt werden 20 21 22 23
Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 13. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 50. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 57. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 50.
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Das Elementale
kann, kann auch keines der Elemente sich nur aus sich selbst heraus und auf sich selbst konzentriert verwirklichen. Obwohl der Begriff der »Elemente« hier nicht primär Naturhaftes bezeichnet, sondern die strukturellen Einheiten des Textes, bleibt eine Nähe zum Gebrauch des Wortes bei Lévinas doch erhalten. Sie sind in ihrer Relation gültige Komponenten, die es ermöglichen, etwas unmittelbar zu erfassen. So vertritt Rosenzweig die Idee einer wechselseitigen Bindung der drei Elemente Gott, Welt und Mensch, die in ihrer Beziehung den Abstand zueinander wahren und doch ihre Position im Gesamtgefüge der Wirklichkeit nur in dieser Abgrenzung, die zugleich Verweisung ist, gewinnen können. »Mag da ein Gott sein, – solang er draußen bleibt und nicht Teil von ihr selber [der Welt] wird, solang ist dies sein Dasein ihrem Makrokosmos unsichtbar. Mag da ein Mensch sein, – solang er nur Maßstab sein kann, der sich von außen an sie legt, und nicht bewegende Kraft in ihr, solang ist ihr Mikrokosmos gegen dieses Da-sein taub.« 24
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, II, S. 66.
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IX. Miteinander oder Selbst-Sein
IX.1 Franz Rosenzweig Unmißverständlich drückt sich in Worten wie diesen Rosenzweigs Erwartung an eine kommende Zeit aus, deren Vorstellung sich zwischen utopischer und eschatologischer Ausrichtung bewegt und damit die zukünftige Möglichkeit eines gemeinsamen Seins von Gott, Welt und Mensch weder rein philosophisch noch rein theologisch begründen will. An der differenzierten Schreibweise des Begriffes »Da-sein« wird deutlich, daß göttliches und menschliches Sein sich unterscheiden. Gott ist, der Mensch wird, tritt in sein »Da«, was nichts anderes bedeutet, als daß er tätig seine Existenz zu verwirklichen vermag. Gerade dieser dynamische Charakter des Seins in der Form des »Da-Seins« nimmt die heideggersche Auffassung derselben Potentialität, »eigentlich« zu werden, vorweg. Insgesamt wird in den folgenden Betrachtungen Rosenzweigs über die Zusammenführung der drei Elemente der Wirklichkeit eine Parallelität zu Heideggers Konzeption sichtbar, die natürlich immer unter der Voraussetzung zu betrachten ist, daß ersterer sich explizit zum Gedanken der Schöpfung bekennt. In eindringlicher Weise betont Rosenzweig immer wieder, daß diese kein einmaliger und mit der Erschaffung der Welt abgeschlossener Akt ist, sondern daß Aktualität und Sinn der Schöpfung sich erst im Prozeß der Verbindung ihrer drei Konstituentien ergeben. In einer Art, die durchaus an jene Auffassung einer vitalen Energie erinnert, mit der Arthur Schopenhauer die Welt als Willen charakterisierte und damit das ununterbrochene Produzieren von Lebendigem beschrieb, faßt Rosenzweig dieses sich stetig fortsetzende Geschehen der Bindung von Gott, Welt und Mensch. Im Verlauf dieser organischen Prozeßhaftigkeit, in die ausdrücklich auch göttliches Sein eingeschlossen ist, entsteht ein Bezugssystem von Wirklichem, das jeden einzelnen Bestandteil erst wirklich zu sich selbst finden läßt, indem er sich in Relation zum Gesamt orientiert. 137 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Miteinander oder Selbst-Sein
Im ersten Teil seines Sterns der Erlösung hatte Rosenzweig die drei Elemente fast im Sinne einer Bestandsaufnahme der Wirklichkeit isoliert beschrieben, so daß er in den beiden folgenden Teilen deren Verbindung thematisieren kann. »Aber wie sollen die Elemente ins Strömen kommen? Dürfen wir den Strom ihnen von außen zuführen? Nimmermehr, – dann wäre der Strom selber ein Element […]« 1, was zur Folge hat, daß es einen den Elementen inhärierenden Impuls geben muß, sich auf die Beziehung zu den beiden anderen hin zu entwerfen. Diese aktive Rolle kann aber letztlich nur der Mensch übernehmen, wodurch ihm die besondere Funktion zufällt, das Werk der Verknüpfung des Göttlichen mit der Welt zu erwirken. In deutlicher Anlehnung an den Schöpfungsbericht der Genesis akzentuiert Rosenzweig diese Aufgabe des Menschen, der in eine an sich unstrukturierte Welt die »Begriffe Mittelpunkt und Anfang« 2 trägt. Die Aufforderung Gottes, die Dinge in dieser Welt mit Namen zu bezeichnen, liegt dieser Vorstellung zugrunde, ist aber nicht gänzlich mit ihr identisch. In ihr ergeht die Autorisierung der Benennung des Geschaffenen an Adam, die nicht zwangsläufig mit der Aufforderung zur Ordnung der Welt gleichzusetzen ist. Dieser letztere Aspekt wird in den theologischen Diskursen der Vergangenheit immer wieder erörtert, teils leidenschaftlich vertreten, teils vehement bestritten, würde doch eine zu starke Betonung menschlicher Kreativität die Überzeugung einer göttlichen Allmacht schmälern. Um es zu betonen – nicht in der Formulierung dieses Gedankens liegt das Eigentümliche von Rosenzweigs Theorie. Die Vorstellung des Menschen, der, einem zweiten Schöpfer vergleichbar, das Werk der Erschaffung der Welt fortsetzt und zu seiner eigentlichen Vollendung bringt, ist bereits in der Renaissance von Denkern wie Giovanni Pico della Mirandola im Rahmen der christlichen Tradition artikuliert worden. Mit seiner Darstellung weiß sich Rosenzweig also in einer zwar immer wieder unterbrochenen, doch letztlich ungebrochenen Kontinuität des Denkens, das Schöpfung als ein Werk innerhalb der Zeit begreift. Was sein Denken von jenen früheren Artikulationen unterscheidet, ist vielmehr sein Wille, die Grundüberzeugungen seines Glaubens in Begrifflichkeit zeitgenössischen Seinsverständnisses aus1 2
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, I, III, S. 96. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 208.
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Franz Rosenzweig
zudrücken. Besonders charakteristisch sind daher zwei Passagen, in denen er die eben angesprochene immerwährende Fortsetzung der Schöpfung mit der Forderung nach einer permanenten Realisierung des Daseins kombiniert. »Das Dasein muß an allen seinen Punkten lebendig sein. Daß es das noch nicht ist, bedeutet eben wieder weiter nichts, als daß die Welt noch nicht fertig ist.« 3
Und an anderer Stelle heißt es: »Als wesenhaftes, eigenschaftliches Sein war die Tatfreiheit in der Schöpfermacht offenbar geworden; jetzt muß das schicksalgebundene Sein in entsprechender Umkehr sich offenbaren als augenblicksentsprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis.« 4
Auch wenn Rosenzweig niemals eine rein ontologische Diskussion hat führen wollen, da eine solche sich seiner Ansicht nach zu sehr in rein theoretischen Betrachtungen zu verlieren droht, sind seine knappen Aussagen zu Dasein und Sein doch vor diesem Hintergrund relevant. Sein ist kein Zugrundeliegendes, sich immer gleich Bleibendes, das sich auch nur in irgendeiner Weise als ›an sich‹ seiend beschreiben ließe. Es ist allenfalls Ermöglichungsgrund jenes Geschehens, innerhalb dessen Dasein verwirklicht werden kann, das erst in diesem Prozeß seiner Realisierung entsteht. Rosenzweigs Ausdruck »ereignetes Ereignis« trägt diesem Umstand Rechnung. Die Formulierung der ›Schicksalsgebundenheit‹ des Seins bricht die Dynamik dieses Geschehens keineswegs, sondern akzentuiert dessen radikale Bindung an den Moment seiner Verwirklichung nur umso stärker. In jenem Augenblick, in dem das Schicksal zum Geschehen wird, verliert es jede Färbung determinierender Einwirkung auf das, was geschieht, ermöglicht erst, daß es geschehen kann – »augenblicksentsprungen«. Natürlich müssen Formulierungen wie diese, die Rosenzweigs expressionistische Spracheuphorie spiegeln, geradezu den Einwand der Unwissenschaftlichkeit provozieren. Doch wissenschaftlich im herkömmlichen Sinne will sein Denken erklärtermaßen nicht sein. Es will formal den Weg jener Arbeit der Versöhnung von Rationalität
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 249. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 178.
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Miteinander oder Selbst-Sein
und Religiosität bahnen, den der Mensch im Entwurf seiner selbst schafft. In allen bisher vorgestellten Konzepten war stets nur die Relation des Menschen zum Seienden angesprochen worden, ob in der Weise der Zuhandenheit, des Genusses oder des Elementalen. Das Sein des anderen Menschen wurde bislang weitgehend ausgeblendet, um zunächst das Dasein des Einzelnen zu thematisieren. In allen Darstellungen ergab sich hieraus die Formulierung einer unmißverständlichen Botschaft: Der Mensch sollte seine Positionierung im Sein bedenken und modifizieren. Dabei sind sehr unterschiedliche Begründungen dieses Appells sichtbar geworden. Lévinas erscheint das Sein, so wie er es in seinen frühen Schrift kennzeichnet, in so hohem Maße als kompakt, fremd, anonym, lastend, daß dieser Eindruck nur den einen Wunsch hervorruft, dem Sein zu entfliehen, es zu zerreißen, um es dem Maß menschlicher Erfahrungsfähigkeiten anpassen zu können. Dieser erstrebten Abkehr vom Sein stehen die Konzepte von Rosenzweig und Heidegger gegenüber. Für sie besteht keinerlei Veranlassung, Distanzierungsmöglichkeiten vom Sein zu suchen, da sie es grundsätzlich anders bewerten. Heidegger zufolge ist es Ausdruck der Tatsache, daß etwas ist. Er plädiert nicht für eine veränderte Haltung ›zum Sein‹, sondern ›im Sein‹, um jene komplexe Beziehungsstruktur entfalten zu können, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurde. In ähnlicher Weise ruft auch Rosenzweig dazu auf, das Sein zu reflektieren, um es in seiner Einzigartigkeit schätzen zu können. Daß er im Gegensatz zu Heidegger Sein als geschaffen betrachtet, spielt dabei keine Rolle, da es nicht darum geht, die Frage nach dem Ursprung von Sein zu klären. Wie sich angedeutet hatte, verschiebt sich Lévinas’ Position in seinen Schriften nach Totalität und Unendlichkeit eher in diese zuletzt genannte Richtung. Für alle stellt sich nun aber die entscheidende Frage: Kann der Mensch seine Haltung im Sein alleine verändern, oder ist er dafür auf die Unterstützung des Anderen angewiesen? Ist Seins-Relation ein singuläres oder ein solidarisches Geschehen? Und welche Auswirkung hat die Entscheidung hierüber für ein Konzept von Existenz? Rosenzweig läßt nicht den geringsten Zweifel an seiner Einschätzung dieser Problematik aufkommen. In beeindruckender Metaphorik beschreibt er jenen Verwandlungsprozeß, innerhalb dessen 140 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Franz Rosenzweig
das Selbst des Menschen aus seinem »Starrschlaf« 5 erwacht und sich dem Anderen zuwendet, das in seiner Sicht das göttliche Andere ebensogut zu sein vermag wie der andere Mensch. Paradigmatische Situation, in der diese Zuwendung geschieht, ist jene der Sprache. Wiederum orientiert sich Rosenzweig, konsequent und weitsichtig zugleich, an biblischem Wort. Diese Thematisierung ist beileibe nicht nur von theologischem Interesse, sondern sie präformiert ein Motiv des Angesprochen-Seins, das in späteren philosophischen Arbeiten immer wieder zu finden ist und speziell in der Terminologie Heideggers ein, vielleicht unbeabsichtigtes, Echo finden wird. Zunächst klingen Rosenzweigs Worte jedoch eher nach Exegese als nach philosophischem Diskurs, wenn er die Anrufung des Menschen durch Gott beschreibt. »Der Mensch, der auf Gottes ›Wo bist Du?‹ noch als trotziges und verstocktes Selbst geschwiegen hatte, antwortet nun, bei seinem Namen, doppelt, in höchster, unüberhörbarer Bestimmtheit gerufen, ganz aufgetan, ganz ausgebreitet, ganz bereit, ganz – Seele: ›Hier bin ich‹. Hier ist das Ich. Das einzelne menschliche Ich. Noch ganz empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne Wesen, reine Bereitschaft, reiner Gehorsam, ganz Ohr.« 6
Das Besondere an dieser Begegnung liegt darin, daß sie sich als Zwiesprache ereignet. Anrufung und Antwort bilden hier die Bedingung Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 229. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 196. In ganz ähnlicher Weise betont Walter Benjamin in seinem 1916 entstandenen Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 9 und S. 13 den Gedanken der fortgesetzten Schöpfung. »Ein Dasein, welches ganz ohne Beziehung zur Sprache wäre, ist eine Idee; aber diese Idee läßt sich auch im Bezirk der Ideen, deren Umkreis diejenige Gottes bezeichnet, nicht fruchtbar machen. […] Nur durch das sprachliche Wesen der Dinge gelangt er [der Mensch] aus sich selbst zu deren Erkenntnis – im Namen. Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht.« Von zentraler Bedeutung für ein Verständnis von Rosenzweigs Sprachdenken sind die Theorien von Eugen Rosenstock-Huessy, speziell seine 1916 begonnene Angewandte Seelenkunde. Darin heißt es etwa: »So geht also die namentliche Anrede des Menschen als eines mit Eigennamen ausgezeichneten Wesens allem eigenen Über-sichselber-Denken des Ich vorauf«, S. 21. Sprachlichkeit als Grundlage des »dialogischen Prinzips« kennzeichnet das Denken Martin Bubers, mit dem Rosenzweig eine tiefe Verbundenheit und zugleich intellektuelle Spannung einte. Deutlichster Ausdruck ist beider Übertragung der Torah aus der hebräischen in die deutsche Sprache.
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Miteinander oder Selbst-Sein
und die Bekundung einer tatsächlichen Relation, die sich für den vernehmenden Menschen als eine Verwandlung seiner wesentlichen Konstitution darstellt. Die Begriffe, die Rosenzweig verwendet, mögen auf den ersten Blick überraschen. So kontrastiert er dem »verstockten Selbst« das »Ich« – zwei Bezeichnung für den Einzelnen, die seine unterschiedliche Position innerhalb eines Geschehens der Anrede kennzeichnen sollen. Das Selbst wird beschrieben; das Ich spricht. Das Selbst verschließt sich der Zwiesprache; ohne das »Hier bin ich« wäre diese nicht möglich. Das Selbst verweigert die Beziehung, die das Ich erfüllt. Im Gegensatz hierzu ist das Selbst bei Heidegger das Ziel der Bewegung zur Eigentlichkeit, die den Menschen vom Man-selbst trennt. Und auch bei Jaspers markiert der Begriff des Selbst das erstrebenswerte, weil selbst gewählte und selbst zu verantwortende Wesen des Menschen. Im Sinne Rosenzweigs wird es vor allem durch seine Bindungslosigkeit gekennzeichnet, seinen »Trotz«, wie er auch schreibt, seine fast vergessene Möglichkeit, sich auf Andere zu beziehen, die sich aber noch keiner tatsächlichen Bereitschaft geöffnet hat. Damit diese sich verwirklicht, muß sich das Selbst ansprechen lassen, in seiner ausschließlichen Konzentration auf sich berühren lassen und im Moment des Antwortens seine Bereitwilligkeit gleichsam mit artikulieren, sich in der Begegnung mit dem Anderen verwandeln zu lassen. »Das Selbst mußte aus seiner Stummheit zum redenden Selbst werden.« 7
Daß Sprache für Rosenzweig weitaus mehr ist, als lediglich ein Medium zur Vermittlung von Inhalten, hatte sich bereits in früherem Kontext gezeigt. Hier erweist sie ihre ganze fundamentale Bedeutung, insofern das Wort der Anrede, zumal dann, wenn es unter Nennung des Namens des Angeredeten erfolgt, die Form der Annäherung ist, die dem Anderen als ›diesem Besonderen‹ gilt. Der Trotz, in dem sich das Selbst vielleicht noch vor einer Ansprache zu verschließen sucht, resultiert letztlich aus eben dem Gefühl, nicht als dieses besondere Individuum angesprochen zu sein. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 232. Diego Fonti in Lévinas und Rosenzweig, S. 106: »Bei Rosenzweig ist das erfahrende Denken dem Bedürfen des Anderen […] zu verdanken, das heißt, dass der Mensch durch die Gegenwart des Anderen, die er erleiden muß, von außerhalb des Eigenen her angerufen wird und diese Gegenwart kann durch die Vernunft unter keinen Begriff eingeholt werden.« Es wäre zu fragen, ob das Motiv des Erleidens nicht eher von Lévinas stammt.
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Franz Rosenzweig
Für Rosenzweig steht also eine ganz besondere Form der Veränderung des Menschen in der Situation des Dialogischen im Vordergrund, nämlich genau die, die ihn befähigt, in diese Situation einzutreten. Daher die Verwandlung vom stummen zum »redenden Selbst«, ein Eintreten in einen veränderten Modus des Seins, der nur unzureichend mit dem Begriff der Kommunikationsfähigkeit umschrieben würde. Kommuniziert im herkömmlichen Verständnis werden Inhalte, Botschaften und Ideen. Dasjenige, das im Zwiegespräch vermittelt wird, ist das Ausloten einer gemeinsamen Relation der beiden Sprechenden, die eine zuvor zwischen beiden bestehende Leere ausfüllt. Hier entsteht also ein bisher nicht Gegebenes, wodurch das Gespräch exemplarische Situation jenes Prozesses wird, in dem Rosenzweig das fortgesetzte Entstehen des Da-Seins auf der Grundlage des Daseins gewährleistet sieht. Diese Dimension, die sich durch Ansprache und Antwort des Anderen zeigt und sie aus der Ebene der Beziehung zwischen Individuen auf die Ebene der Verwandlung des Daseins überträgt, legt es nahe, den Begriff der kontinuierlichen Vollendung der Schöpfung erneut aufzugreifen. Denn diese, so könnte in übertragener Bedeutung formuliert werden, setzt sich ausschließlich in den Augenblicken der Rede fort, weil nur in ihnen der Mensch dazu fähig und bereit ist, sich selbst um des Anderen willen zu verwandeln. Unverkennbar erweist sich das Dialogische damit auch als die Grundbedingung ethischen Verhaltens, insofern es als die Einwilligung der Menschen verstanden wird, sich unvoreingenommen vom Anderen ansprechen, berühren und herausfordern zu lassen. Wie sehr Rosenzweig tatsächlich von der Möglichkeit dieser sich ständig verwandelnden Beschaffenheit des Daseins überzeugt ist, wird in einer Textpassage aus dem zweiten Teil des Sterns der Erlösung besonders spürbar, vielleicht gerade weil seine ohnehin schon großzügige Sprachgestaltung hier in fast überbordendem Optimismus auszuufern scheint. »Von zwei Seiten also wird an das verschlossene Tor der Zukunft gepocht. In dunklem, aller Rechnung entzogenem Wachstum drängt das Leben der Welt heran; in heißem Herzensüberfluß sucht die sich heiligende Seele den Weg zum Nächsten. Beide, Welt wie Seele, pochen an das verschlossene Tor, jene wachsend, diese wirkend.« 8 8
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 254.
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Miteinander oder Selbst-Sein
Mit dem Begriff der Seele bezeichnet er nicht, wie es zu vermuten gewesen wäre, die organisch-psychische Bedingung der Verwandlung des schweigenden zum redenden Menschen, sondern deren Folge. Das ›dunkle Drängen‹ des Lebens, das erneut an den Willen zum Leben erinnert, den Schopenhauer wie kein zweiter beschrieb, verbindet sich mit dem Streben des Menschen, das nur eine einzige Ausrichtung aufweisen kann, wenn es sein eigentliches Streben sein soll – zum anderen Menschen. Vitale Energie in der Welt fließt mit der dem Menschen eigenen Kraft zum ethischen Verhalten zusammen. Beide vereint bewirken, was keine göttliche Schöpfungsmacht zu leisten vermochte. Denn aus ihrem gemeinsamen Impuls kann sich ein gänzlich eigenes Sein in der Welt entwickeln, das in keiner Weise vorherbestimmbar wäre, da es aus der kreativen Potenz des Menschen im Wissen um das Göttliche entsteht. Dieses Wissen ersetzt keinesfalls das individuelle Wirken des Menschen, sondern gibt diesem vielmehr eine absolute Ausrichtung. So befremdlich es vielleicht im Moment noch wirken mag – mit diesem Gedanken formuliert Rosenzweig eine existenzphilosophische Grundüberzeugung. Eine Parallele zum französischen Denken der vierziger Jahre zeigt sich in der Überzeugung, daß keine Determination das menschliche Dasein strukturiert, sondern daß dieses sich als Unbedingtes selbst zu entwerfen hat. In der Terminologie, die für gewöhnlich als existentialistisch bezeichnet wird, lautet die entsprechende Formulierung: »Die Existenz geht der Essenz voran.« Hier soll die Vorstellung überwunden werden, daß es eine definierbare Essenz, eine vorgegebene Wesensbestimmung des Menschen geben könnte. Denker wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus gehen davon aus, daß das einzig Vorgegebene, das über den Menschen ausgesagt werden kann, die Tatsache seines Seins ist. Jede weitere Bestimmung hängt einzig von dessen individuellem Entwurf ab. Der Mensch, der in Rosenzweigs Bildlichkeit »an das verschlossene Tor der Zukunft pocht«, steht letztes Endes vor derselben Herausforderung wie derjenige, der das Absurde erfährt. Nur beschreibt Rosenzweig die Existenz nicht explizit als absurd, obwohl ihm die Beobachtung ihrer tatsächlichen Beschaffenheit jeden Anlaß dazu gäbe. Der Mensch, der nichts anderes verlangt, als im Leben zu bleiben, wie er zu Beginn des Sterns der Erlösung in leidenschaftlicher Weise formuliert hatte, sieht seine Existenz vom Tod bedroht, der alles Streben als nichtig erscheinen läßt. Auf diese Gewißheit reagiert Rosenzweig in ungebrochenem Willen zum »Bleiben«. 144 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Das Dasein, das als absurd empfunden werden könnte, kann in ein Da-sein verwandelt werden, über das nur der Mensch bestimmt – aber nicht alleine. Bereits in der Umwandlung vom Selbst zum Ich hatte sich gezeigt, wie hoch Rosenzweig die Bedeutung des Dialogischen als Grundelement des möglichen Da-seins einschätzt. In etwas modifizierter Form zeigt sich nochmals diese extreme Wertschätzung des Mit-dem-Anderen-Seins, das in Wahrheit ein Nur-mit-dem-Anderen-sein-Können ist. »Stark wie der Tod ist die Liebe. […] Der Schlußstein des dunklen Gewölbes der Schöpfung [der Tod] wird zum Grundstein des lichten Hauses der Offenbarung. Die Offenbarung ist der Seele das Erlebnis einer Gegenwart, die auf dem Dasein der Vergangenheit zwar ruht, doch nicht darin haust, sondern im Lichte des göttlichen Antlitzes wandelt.« 9
Markant wird hier die Kontrastierung der Motive von Ruhe und Bewegung deutlich, die bereits in dieser noch vagen Formulierung anzeigt, daß in der liebenden Hinwendung ein Überschreiten der als endlich angenommenen Beschaffenheit des menschlichen Selbst erfolgt. Der Mensch, der sich Gott in Liebe zuneigt, verwandelt sich in einen Liebenden, wodurch in gewisser Weise eine Annäherung an den Geliebten stattfindet. Die liebende Bewegung ist aber keine beliebige Eigenschaft unter anderen, über die jemand in einem Moment seines Lebens verfügt und die er im nächsten Moment bereits wieder verlieren kann, ganz im Gegenteil. Sie verwandelt den Menschen grundlegend und dauerhaft, so dauerhaft, daß selbst das physische Ende ihm nichts anzuhaben vermag. »Auf ihn ergießt sich die göttliche Liebe. Wie macht er sich bereit, sie zu empfangen? Denn er muß sich bereiten. […] Der trotzige Stolz des freien Willens, der in seinen immer erneuten Aufwallungen den daseienden Charakter zum Selbst schloß, wird jetzt das erste, was aus dem Innern des Selbst nach außen tritt, […].« 10
Abermals ist es erforderlich, die Unterscheidung der Begriffe Charakter, Selbst und Seele zu berücksichtigen, durch die Rosenzweig den Prozeß der Verwandlung des Individuums beschreibt.
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 174. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 186.
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Miteinander oder Selbst-Sein
Im Charakter 11 drücken sich alle willentlich begehrten und wissentlich erstrebten Bestrebungen des Menschen aus, wodurch er der deutlichste Ausdruck seiner Eigenheit ist. Wie Rosenzweigs frühere Formulierung gezeigt hat, ist das Selbst, als Zustandsweise des Charakters, in sich abgeschlossen, nicht mehr wirklich aufnahmefähig für anderes. Es bedarf der Berührung durch ein von ihm Unterschiedenes, um sich zu einer neuen Existenzform hin zu öffnen, der Rosenzweig den Namen der Seele oder auch des Ich gibt. Wie erklärt er nun aber die eigentliche und entscheidende Verwandlung des Selbst zur Seele? »Der Trotz, […] er ist der geheime Ursprung der Seele; er ists, der ihr die Kraft des Haltens, des Festhaltens gibt. Ohne die Stürme des Trotzes im Selbst wäre die Meeresstille der Treue in der Seele nicht möglich. […] Nicht so, daß etwa in der geliebten Seele noch selbst Trotz wäre; dieser Trotz ist in ihr ganz Treue geworden; aber die Kraft des Festhaltens, welche die geliebte Seele gegen die Liebe, mit der sie geliebt wird, bewährt, diese Kraft der Treue stammt ihr aus dem in sie eingegangenen Trotz des Selbst.« 12
Die Eigenwilligkeit, mit der ein Mensch sich zum Individuum entwikkelt, indem er begehrt, verlangt, verwirft und wieder begehrt, was er vielleicht verwarf, erweist sich als die maßgebende Befähigung, immer wieder von neuem zu begehren oder angestrebte Ziele zu verfolgen. Es ist gerade dieses Element der widerständischen Beharrlichkeit, das sich in dem Augenblick, in dem sich das Begehrte als das Geliebte zeigt, nun auf das eine und einzige Gegenüber konzentriert. 13 Aus Beharrlichkeit wird die Treue, die in Rosenzweigs Verständnis das Selbst des Menschen zur liebenden Seele werden läßt – keineswegs eine wundersame Transformation, sondern vielmehr eine Möglichkeit, die Kräfte des Verlangens in dem einen Begehren zu sammeln. »Der Liebende, der sich in der Liebe preisgibt, wird in der Treue der Geliebten aufs neue geschaffen und nun auf immer.« 14
Von welch einzigartiger Bedeutung diese Verwandlung, diese Wieder-Geburt des Menschen, ist, läßt sich noch an einem anderen Motiv
Auf die deutliche Parallele seiner Sicht zu derjenigen Arthur Schopenhauers kann hier lediglich hingewiesen werden. 12 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 190. 13 Einen vergleichbaren Prozeß beschreibt Kierkegaard mit dem Begriff der »Verunendlichung«. 14 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 191. 11
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Franz Rosenzweig
ablesen, das Rosenzweig aus dem biblischen Bericht des Sündenfalls entlehnt und in sein eigenes Denken einführt. Ein liebender Mensch wird sich dessen bewußt, daß er erst durch die Zuwendung eines Anderen zu einem Liebenden geworden ist und reagiert auf dieses Begreifen zutiefst emotional – im Gefühl der Scham. »Es war also erst eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.« 15
Dieses Empfinden der Scham wird in den Konzeptionen von Heidegger, Sartre und Lévinas in wechselnder Nuancierung wieder auftauchen. Als wichtigste Quelle, aus der Rosenzweig zur Formulierung der Gewißheit einer essentiellen Verwandlung des Menschen schöpft, dient ihm vor allem das Hohelied Salomos, jener biblische Text, der in seiner Umschreibung einer Brautwerbung für zahlreiche spätere Denker Inbegriff mystischer oder erotischer Sprachfindung wurde – auch für Rosenzweig. Immer wieder drängt sich die Frage auf, wie philosophisch Rosenzweigs Darstellung noch ist, überhaupt noch sein kann, angesichts der massiven religiösen Bezüge seines Denkens. Die ganze extravagante Kühnheit dieses Denkens demonstriert er, wenn er gegen Ende seines Sterns der Erlösung von der Nennung der Schau als der einzig möglichen Weise, die göttliche Wahrheit zu erfahren, zu seiner eingangs geübten Kritik am Allheitskonzept der Philosophie zurückkehrt, das sich als gänzlich ungeeignet erwiesen hatte, die Bedeutung des Todes für das menschliche Leben angemessen zu reflektieren. Anstatt den Tod für Nichts zu erklären, wie er es den Denkern des Idealismus vorwirft, gilt es Rosenzweig zufolge, ihn dem Leben zu integrieren. »Der Tod hatte aller Wahrheit gehöhnt, daß sie doch gebunden sei an ein armseliges Stück Wirklichkeit und schon dadurch die Wahrheit verleugne; so müsse ihm alles verfallen. Nun flattert ihm hier das Banner einer Wahrheit entgegen die für ewig er- und bekannt wird, indem sie als eigene, empfangene, zuteil gewordene bewährt wird, Teil also, der die ganze Wahrheit, statt sie zu verleugnen, bewährt; der bloße Teil ist ›mein ewiger Anteil‹ geworden.« 16
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 200. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, III, III, S. 438.
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Miteinander oder Selbst-Sein
Die Wahrheit, von der hier eine so immense Wirkung auszugehen scheint, daß sie selbst die menschliche Todesangst zu bannen vermag, besteht in der Möglichkeit, die Überzeitlichkeit des Göttlichen zu erfahren, was gegeben ist, weil der Mensch Gott zu lieben vermag. Mit keinem geringeren Begriff als demjenigen der Wiedergeburt bezeichnet Rosenzweig die Transformation des Menschen vom trotzigen Selbst zur Seele, die in Treue an dem festhält, den sie liebt. Dieses ist aber nicht nur Gott in einer transzendenten Erscheinung, sondern die der Welt immanente Erscheinung des Göttlichen als der Erscheinung des zu Liebenden schlechthin. Religiös benennt Rosenzweig sie als Offenbarung; philosophisch deutet er sie als die Erkenntnis der Anwesenheit des anderen Menschen. Rosenzweig weiß nur zu gut, daß eine Liebe, die den Menschen von der Welt, in der er existiert, fortführen würde, ihre Rechtfertigung verlieren müßte, selbst dann, wenn es sich um die Liebe zu Gott handelt. Er will gerade nicht zur mystischen Abkehr von der Welt aufrufen, sondern zum »Bleiben« in ihr, wie er es in den ersten Zeilen seines gewaltigen Werkes formuliert. »Wie also bricht nun die Pforte, die den Menschen, auch nachdem er den Ruf Gottes vernommen und in seiner Liebe selig geworden ist, noch vor der Welt verschließt?« 17
Konsequent ist die Frage allemal, schien doch über der Beschreibung der Relation von Gott und Mensch in der liebenden Begegnung und der darauf gründenden Verwandlung des Menschen der eingangs geforderte Blick, der immer alle drei Elemente der Wirklichkeit in ihrem Bezug zueinander sehen müsse, fast vernachlässigt worden zu sein. Bisher hatte sich Rosenzweigs Überzeugung verfolgen lassen, daß weder Schöpfung noch Dasein als vollendet und abgeschlossen gelten, wenn sie nicht durch den Menschen in immer neuen Prägungen stetig weiterentwickelt werden. Worin diese prägende Einflußnahme jedoch besteht, war bislang noch ungeklärt. Offensichtlich war lediglich, daß sie in einer Bezugnahme bestehen muß, die der Mensch zwischen Welt und Göttlichem herstellt. Indem Rosenzweig seine soeben formulierte Frage aufgreift, präsentiert er nun die Erklärung dafür, wie eine solche Beziehung verwirklicht werden kann.
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 236.
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Franz Rosenzweig
»Die Antwort kann nicht schwer fallen, […] Es kann nichts anderes sein als die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zum Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit in jedem Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt.« 18
Die »Pforte«, die den Menschen von der Welt trennt, ist nur dadurch zu öffnen, daß dieser Gott in der Welt liebt – »Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten.« 19 Drohte Rosenzweig eben noch in der Beschreibung abgekehrter Schau den Bezug zur Realität des Menschen in seiner Welt aufzugeben, stellt er diesen sofort wieder her, indem er die Relation des Menschen zu Gott in derjenigen zum anderen Menschen aufgehen läßt. Von nun an ist es nicht mehr der Einzelne, den der Tod ängstigt, und nicht mehr der solitäre Akt, in dem dieser Gott zu lieben wagt. An diesem Punkt seiner Darstellung angelangt, spricht Rosenzweig, der eingangs die Leistung gerade der wenigen Philosophen betont hatte, die die Kategorie des Einzelnen in das Denken einführten, in einer bisher eher vermiedenen Weise vom Menschen. »Wir finden uns wieder. Wir finden uns vor. Aber wir müssen den Mut haben, uns in der Wahrheit vorzufinden, den Mut, inmitten der Wahrheit unser Wahrlich zu sagen. Wir dürfen es.« 20
Noch einmal befragt, welche Wahrheit sich hier der menschlichen Bestätigung und Bewahrheitung anbietet, formuliert Rosenzweig in wenigen Zeilen eine Antwort, die beinahe wie die Zusammenführung all seiner weit führenden Gedanken wirkt, in denen sich religiöse Gewißheit und philosophische Überzeugung auf das Harmonischste verbinden. »Das Eigne wird zur ewigen Wahrheit bewährt: Geburt und Wiedergeburt, Standort und Sendung, vorgefundenes Hier und entscheidendes Jetzt des Lebens.« 21
Die entscheidenden Kennzeichen existenzphilosophischen Denkens sind in diesen Worten erkennbar. »Geburt« in das »vorgefundene Hier« als Geworfenheit in eine Welt und in ein Dasein, das sich dem eigenen Fragen nach Sinn zunächst zu verschließen scheint, das aber als Grundlage des eigenen Entwurfes von Da-Sein, als »Wieder18 19 20 21
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 238. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, III, S. 239. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, III, III, S. 436. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, III, III, S. 438.
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geburt« angeeignet und damit zur eigensten Angelegenheit verwandelt werden kann. »Standort« ist nicht nur die Verortung, das Einnehmen eines Platzes, der dem Individuum als angemessen erscheint, sondern darüber hinaus Beharren, Verweilen, Bleiben im Sein unter der Bedingung der Endlichkeit. Dieses Paradox, das das menschliche Da-Sein kennzeichnet, ist wesentliches Merkmal einer Existenz, innerhalb derer der Mensch sich des beständigen Aushaltens fähig weiß und dessen grundsätzliche Möglichkeit durch sein eigenes Beispiel bezeugt – »Sendung« und Auftrag zugleich. »Entscheidendes Jetzt des Lebens« als kompromißloses Bekenntnis zu einer Existenz, die an sich keine Sinnhaftigkeit erkennen läßt, die aber individuell gestaltet und geprägt werden kann, werden muß, soll sie dem Menschen gegenwärtigen Aufenthalt im Sein ermöglichen. Nicht nur motivisch findet sich in Rosenzweigs Philosophie also eine Vielzahl jener Elemente, die auch von anderen Denkern der Existenz zu ganz unterschiedlichen Zeiten immer wieder aufgegriffen werden. Auch terminologisch zeigen sich deutliche Parallelen, wenn er Begriffe wie Scham, Angst, Gabe, Ereignis und Geschehen verwendet und sogar in der charakteristischen Schreibweise etwa des Begriffes vom Da-Sein eine heideggersche Prägung vorwegnimmt. Die Metaphorik des Sprechens und Hörens, des Gerufen-Werdens und des Empfangens eines Antlitzes antizipiert schließlich in frappierender Weise die gedanklichen Entwürfe speziell von Heidegger und Lévinas. Rosenzweigs erklärtes Ziel bestand darin, ein Neues Denken zu begründen. Sein Stern der Erlösung weist in so umfassender Weise dessen Weg, daß er als Gründungsschrift dieses Denkens betrachtet werden kann.
IX.2 Martin Heidegger Was geschieht nun aber mit diesen Motiven und speziell mit der Auffassung der Rede, wenn sie in einem Denken verwendet werden, das sich keiner religiösen Beeinflussung verdankt? In Heideggers Sein und Zeit, wie bereits erwähnt sechs Jahre nach dem Stern der Erlösung erschienen, findet sich eine Würdigung der Rede und besonders des Hörens, die der rosenzweigschen verwandt erscheint, auch wenn Rede nun nicht mehr als Geschehen einer Offenbarung des Anderen verstanden wird. Im Rahmen seiner Analyse des Daseins hatte Heidegger bislang 150 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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lediglich dessen Merkmal des In-der-Welt-Seins untersucht und dazu die Relation des Menschen zu den Dingen in der Welt unter dem Gedanken der Zuhandenheit bestimmt. Die noch ausstehende Betrachtung des Verhältnisses zu den anderen Menschen in der Welt rückt nun in den Fokus seiner Betrachtung. Dabei zeigt sich eine Art der Beziehung, die zunächst derjenigen zum dinghaften Seienden entgegengesetzt zu sein scheint. Hatte sich dort der Mensch in souveräner Weise des Zuhandenen je nach den gerade bestehenden Erfordernissen im Alltäglichen bedient und sich damit als interessengeleitetes, ordnendes Subjekt in der Welt etabliert, sieht es nun so aus, als würde dieses Subjekt in seiner Relation zu den Mitseienden ganz unter deren »Botmäßigkeit« fallen. In durchaus zeittypischer Art beschreibt Heidegger das gesellschaftliche Phänomen der Öffentlichkeit, das für ihn speziell in seinem Mechanismus der »Diktatur des Man« relevant wird. »Jeder ist der Andere und Keiner ist er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat. […] Man ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit.« 22
Trotz dieses starken Einflusses, der vom Man ausgeht und die Verhaltensmuster und Entscheidungen des Einzelnen prägt, liegt nicht in dieser Verfassung die eigentliche Seinsweise des Menschen, sondern in dessen Bewegung zum Selbst. »Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.« 23
Worin differieren aber diese beiden Modi des Selbst-Seins? Jene planend-diktierende Haltung, die den Menschen in seinem Zugriff auf Zuhandenes charakterisiert und bei späteren Interpreten des heideggerschen Denkens Anlaß für vehemente Kritik gibt, kennzeichnet auch seine alltäglichen Begegnungen mit anderen. Hatte Heidegger als wesentliches Merkmal menschlichen Seins die Sorge bezeichnet, so kann diese in zweifacher Gestalt beobachtet werden – als Besorgen im Umgehen mit Dingen und als Fürsorge in Relation zu anderen Menschen. Letztere ist keine eindimensionale Einflußnahme
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Heidegger, Sein und Zeit, § 27, S. 128. Heidegger, Sein und Zeit, § 27, S. 129.
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wie die des Besorgens, das von einem bestimmenden Individuum ausgeht, um sich das Vorhandene zugänglich zu machen. Statt dessen wird sie von jedem Menschen an jedem anderen Menschen ausgeübt, so daß jener Mechanismus der wechselseitigen Beeinflussung entsteht, den Heidegger unter dem Begriff der Diktatur des Man zusammenfaßt. Daß der Mensch aber schon in dieser Verfassung potentiell über Eigenständigkeit verfügt, dokumentiert der Ausdruck des »Manselbst« als der latenten Möglichkeit, eigentliches Selbst werden zu können. »Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man […].« 24
Sich innerhalb der Bedingtheit des Daseins zum Selbst zu entwerfen, ist also keine beliebige Veränderung einer zufälligen Qualität des Menschen, sondern eine Veränderung der Bedingung durch das Man und damit eine Veränderung des Charakters des Daseins selbst. An diesem Punkt seiner Darstellung angelangt, gilt es für Heidegger, zwei entscheidende Fragen zu formulieren und zu beantworten: Wodurch wird das Selbst-Werden des Menschen ausgelöst, und wie geschieht es? Die erste Antwort hatte sich bereits in der Betrachtung des Begriffes der Angst gezeigt. Im plötzlichen Durchbrechen jener grundlegenden VerstehensBereitschaft, die Heidegger als Angst bezeichnet, wird die unhinterfragte Selbstverständlichkeit des Lebens im Alltäglichen, das immer auch ein Leben in Übereinstimmung mit der Öffentlichkeit ist, aufgebrochen. Das vertraut Geglaubte wird völlig unerwartet nichtig und macht einer zutiefst irritierenden Erfahrung der »Unheimlichkeit« im eigenen Sein Platz. Das ganze sorgsam kultivierte Gefüge der Normalität wird mit einem Mal fragil und vermag so nicht mehr den Blick auf die unabwendbare Tatsache der Endlichkeit des Daseins schützend zu verstellen. »Die Befindlichkeit aber, welche die ständige und schlechthinnige, aus dem eigensten vereinzelten Sein des Daseins aufsteigende Bedrohung seiner selbst offen zu halten vermag, ist die Angst. In ihr befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. […] Das 24
Heidegger, Sein und Zeit, § 27, S. 130.
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Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungeschützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.« 25
Zur Beantwortung der zweiten Frage, wie denn die Entwicklung zum Selbst aus der bergenden Umgebung des Man erfolgen kann, greift Heidegger auf einen Motivkomplex zurück, der bereits Rosenzweig dazu gedient hatte, die essentielle Veränderungsfähigkeit des Menschen zu erläutern. »Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich.« 26
In scharfer Abgrenzung vom öffentlichen »Gerede«, das im Man jede Möglichkeit, die Beschaffenheit des eigenen Daseins zu begreifen, unterdrückt, da es vieles sagt, doch nichts wirklich ausdrückt, bestimmt Heidegger Rede als den tatsächlichen Ausdruck des Verstehens des In-der-Welt-seins. Da sich Verstehen in seiner Auffassung, wie sich bereits an früherer Stelle angedeutet hatte, nicht in einem kognitiven Erfassen erschöpft, sondern eine Art der begreifenden Annäherung an das Phänomen des Seins schlechthin ist, wird die immense Wichtigkeit der Rede nun umso offensichtlicher. Rede ist nicht verbaler Austausch einer beliebigen Auswahl von Informationen und ist nicht zwingend mit Sprache identisch. Letztere ist Mittel zum Ausdruck, erstere Demonstration des Verstehens, das sich nicht auf dieses oder jenes Problem innerhalb der Welt bezieht, sondern dem In-der-Welt-sein insgesamt gilt. »Als existentiale Verfassung der Erschlossenheit des Daseins ist die Rede konstitutiv für dessen Existenz. Zum redenden Sprechen gehören als Möglichkeiten Hören und Schweigen.« 27
Eine kurze Rückblende zur Theorie von Franz Rosenzweig mag die frappierende Nähe beider Auffassungen von Rede hervorheben. Gott 25 Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 265 f. Paola Marrati-Guénoun betont in La genèse et la trace, S. 169 die singularisierende Dimension der Jemeinigkeit, die sich im Sein-zum-Tode erschließt: »L’être-avec, pourtant constitutif du Dasein, n’est possible qu’à partir de la mienneté et, à cet être toujours mien de l’existence, on n’accède qu’à partir de la solitude essentielle de l’être-pour-la-mort.« 26 Heidegger, Sein und Zeit, § 34, S. 161. 27 Heidegger, Sein und Zeit, § 34, S. 161.
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spricht den Menschen an, der sich als Einzelner aufgerufen fühlt, sich liebend in einen anderen zu verwandeln, als er bisher gewesen ist. Daß es sich hierbei um ein zutiefst religiöses Verständnis des Anredens durch den absolut Anderen handelt, bedarf keiner erneuten Betonung. Was geschieht nun aber mit dem Einzelnen, der sich im Man geborgen und zugleich entfremdet fühlte und der dieses herrschenden Schutzes plötzlich in der Befindlichkeit der Angst verlustig geht? Er hört. »Das Hören auf … ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt. Das Dasein hört, weil es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitsein und ihm selbst ›hörig‹ und in dieser Hörigkeit zugehörig.« 28
Das Mitsein, das in Heideggers bisheriger Darstellung bloße Variante des Seins war und sich dadurch qualitativ nicht von der Seinsart des Dinglichen unterschied, wird nun durch das Merkmal der internen Verwiesenheit gekennzeichnet. Mitseiendes ist eben kein lediglich Vorhandenes, sondern steht immer schon in einem möglichen wechselseitigen Bezug zueinander, ist immer schon veränderungsfähiges Sein. Sonderbar mutet das Bild des »Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt«, an, wäre doch ein solcher Einbruch einer persönlichen Relation in dieser insgesamt eher neutral gehaltenen Darstellung kaum zu vermuten gewesen. Im Kontext, in dem das Motiv des Hörens weiter verfolgt wird, wird diese Metaphorik nachvollziehbar. Der Rahmen, innerhalb dessen sich Heidegger bewegt, besteht noch immer in der Überlegung, wie eine Distanzierung des Einzelnen aus der Herrschaft des Man erfolgen kann, nachdem ihm dessen behütende und beheimatende Präsenz im Erleben der Angst fragwürdig geworden ist. Dem Moment der Destruktion der gewohnten Sicherheit, die durchaus positive Wirkungen auf den Menschen ausüben kann, indem sie ihm etwa die Last der Selbstverantwortung nimmt, muß nun eine Bewegung der Konstitution des Selbst folgen. Damit sich der
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Heidegger, Sein und Zeit, § 34, S. 163.
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Mensch aber überhaupt seiner Möglichkeit, eigenständig existieren zu können, bewußt wird, muß sie ihm bewußt gemacht werden. Das eben gezeichnete Bild des Hörens auf die Stimme des Anderen könnte also die Vermutung nahelegen, daß Heidegger für das aufrüttelnde Zureden oder auch den ermutigenden Zuspruch, der dem Menschen seine Option auf Eigentlichkeit vor Augen führt, den anderen Menschen in Anspruch nimmt. In einem späteren Entwurf, demjenigen des Emmanuel Lévinas, wird exakt dieser Weg beschritten. Heidegger wendet sein Denken jedoch in eine andere Richtung. Das Wagnis, sich aus der Geborgenheit im Man zu lösen, setzt voraus, daß diese zunächst als Verlorenheit, als Defizit an Eigentlichkeit, entlarvt wird. Wagnis ohne Gewißheit wäre jedoch kaum realistisch, ohne die Sicherheit nämlich, daß der Mensch, der sich nicht mehr den Vorgaben der öffentlichen Meinung fügt und statt dessen selbst denken, handeln – also existieren – will, dazu auch tatsächlich in der Lage ist. »Gesucht ist ein eigentliches Seinkönnen des Daseins, das von diesem selbst in seiner existenziellen Möglichkeit bezeugt wird. […] Die Bezeugung soll ein eigentliches Selbstseinkönnen zu verstehen geben.« 29
Drängt sich bei dem Begriff des Bezeugens nicht wieder die Erinnerung an die Stimme des Freundes auf, der zu dem Menschen spricht und ihn, vielleicht sogar durch persönliches Vorbild, dazu ermutigt, eigenständig zu existieren? Genau diese Assoziation wäre an dieser Stelle allerdings verfehlt, gibt doch Heideggers Formulierung letztlich keinen Anhaltspunkt dafür, daß es sich bei dem nun untersuchten Akt der Bezeugung um ein zwischenmenschliches Geschehen handeln würde. Vielmehr will er lediglich darauf hinweisen, daß es das Phänomen des Bezeugens ebenso gibt wie jenes des Hörens auf eine Rede, die als Anrede verstanden wird – mehr nicht, doch ganz gewiß auch nicht weniger. Die phänomenologische Perspektive, die er in diesem Zusammenhang vertritt, hat nichts mit einer Frage der Kausalität dieser Erscheinungen zu tun und steht somit auch nicht vor der Schwierigkeit, über den Urheber der Anrede oder des Zeugnisses Auskunft geben zu müssen. »Besteht aber überhaupt eine Notwendigkeit, die Frage, wer ruft, ausdrücklich noch zu stellen? […] was ist, das heißt so tatsächlich wie der Ruf, muß 29
Heidegger, Sein und Zeit, § 54, S. 267.
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vorhanden sein; was sich nicht als vorhanden objektiv nachweisen läßt, ist überhaupt nicht.« 30
Die Annahme, es müßte aus der Vorhandenheit des Rufes auf eine externe Ursache wie Gott geschlossen werden, ist Heideggers Überzeugung nach ebenso unsinnig wie unnötig. So weist er auch eventuell naheliegend wirkende theologische Deutungen des Begriffes des Gewissens, den er einführt, strikt zurück. Das Gewissen ist in seiner Sicht keine moralische Kontrollinstanz im Menschen, sondern ein Phänomen, das diesem etwas zu Bewußtsein bringt, nämlich genau jene Möglichkeit des Selbst-SeinKönnens, die auch bezeugt wird. »Das Dasein bedarf der Bezeugung eines Selbstseinkönnens, das es der Möglichkeit nach je schon ist.« 31
Spätestens an dieser Formulierung wird ablesbar, daß Heidegger alles andere als ein aufmunterndes Vorbild eines anderen Menschen meint, wenn er vom Bezeugen spricht; alles andere als ein aufbauendes Wort, wenn er den Ruf anführt, der an das Dasein ergeht; alles andere als das Gefühl ethischer Verpflichtung, wenn er das Gewissen zitiert. Es geht hier einzig um eine Beschreibung jener Modifikation von Daseiendem aus dem Zustand der Verlorenheit in das Man hin zum Ergreifen der Eigentlichkeit. Kein Anzeichen ist feststellbar, daß ein anderer Mensch diesen gewaltigen Vorgang, der das Individuum grundlegend verändert, hilfreich unterstützen könnte. Im Gegenteil, der Einfluß der Mitdaseienden scheint sich eher in hemmender Weise auszuwirken, zumindest dann, wenn diese in der undifferenzierten Masse des Man betrachtet werden. In nahezu a-personaler Weise wird dieses Man betrachtet, wenn Heidegger es sogar als »Niemand« bezeichnet. »Dieses wahllose Mitgenommenwerden von Niemand, wodurch sich das Dasein in die Uneigentlichkeit verstrickt, kann nur dergestalt rückgängig gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst. […] Das Sichzurückholen aus dem Man, 30 Heidegger, Sein und Zeit, § 57, S. 275. Pascal Delhom weist in Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, S. 96 auf folgende Differenz hin: In der Theorie von Heidegger ruft das Selbst im Dasein; in jener des Lévinas’ der Andere. 31 Heidegger, Sein und Zeit, § 54, S. 268.
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das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.« 32
Wenn Heidegger hier von der Wahl spricht, in der sich der Mensch selbst aus dem Man wählt, erinnert diese Formulierung zwar einerseits an die berühmte thematische Vorgabe Søren Kierkegaards, klingt aber andererseits auch wieder eher fremd. Denn in der leidenschaftlich errungenen Entscheidung des Einzelnen, wie sie Kierkegaard skizziert, wählt dieser sich auch aus der existentiellen Indifferenz und entwirft sich in seiner Wahl zu einer definierten Seinsweise, sei es derjenigen im Ethischen oder im Religiösen. Die Wahl, von der Heidegger spricht, ist zwar auch als Ergreifen einer Möglichkeit zu verstehen, doch verliert diese sich scheinbar in dem unspezifizierten Seinsmodus der Eigentlichkeit. Das ethische Leben im Sinne Kierkegaards schafft die Beziehung zum anderen Menschen, so wie das spirituelle Leben die Relation zu Gott begründet, also in beiden Formen personale Bezüge, die Heidegger hier nicht betrachtet. Das Dasein im Zustand der Eigentlichkeit im Sinne Heideggers erweckt, zumindest nach der Darstellung in Sein und Zeit, den Eindruck, purer Selbstzweck des Daseins zu sein, da bislang nicht ersichtlich ist, welche Art der neu erworbenen Beziehung hier erwirkt würde. Diese vorläufige Anmutung bestätigt sich mit Blick auf die Metaphorik des Rufes. »Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ›Es‹ ruft, wider Erwarten und gar wider Willen. Andererseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.« 33
So ist es ein folgerichtiges Hinzufügen eines weiteres Bildes aus dem Motivkreis des Sprechens, wenn Heidegger im Schweigen das Aussetzen der permanenten Produktion des Geredes im Man und damit verbunden die Ermöglichung sieht, in diesem klanglosen Intervall dem vermeintlich vernommenen Ruf zu lauschen. 32 33
Heidegger, Sein und Zeit, § 54, S. 268. Heidegger, Sein und Zeit, § 57, S. 275.
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Wie weit diese gesamte Interpretation von Rede, Schweigen und Hören letzten Endes von derjenigen in Rosenzweigs Stern der Erlösung und auch von derjenigen in den Schriften von Emmanuel Lévinas entfernt ist, wird immer wieder an der grundsätzlich differenten Perspektive, aus der Heidegger sie betrachtet, ersichtlich. Rede dient dazu, Aufschluß über Sein zu geben. Die einzigartige Chance, im Geschehen der Anrede das Geschehen tatsächlicher Begegnung mit dem Anderen begründet zu finden, läßt er gänzlich ungenutzt, da ihre Untersuchung seiner argumentativen Absicht in keiner Weise nützlich wäre. Für die Rede ist es ja nicht einmal erforderlich, daß ein existierendes Gegenüber sie artikuliert, wie wohl am deutlichsten an der Formulierung »Es ruft« abzulesen ist. So kommt es Heidegger nicht auf eine Betrachtung der Rede, des Schweigens und des Hörens an sich an, sondern darauf, das Phänomen des »Erschlossenheit« von Sein zu thematisieren, das in Erscheinungsformen von Rede, Schweigen und Hören vorfindbar ist. Sonderbares Verstummen der Rede, das hier zu beobachten ist, wenn sie nicht zur Initiierung eines zwischenmenschlichen Geschehens führt, sondern Form eines einsamen Aktes des Verstehens der eigenen Möglichkeiten des Selbstentwurfes ist. So auf einen singulären Moment des Begreifens, des »Erschließens« eines Fehlverhaltens im Sein reduziert, wenn nämlich das Selbst sich nicht aus dem Manselbst zu emanzipieren wagt, wird der Ruf reines Instrument des Seins-Verstehens. In noch plakativerer Weise wird die a-personale Ausrichtung des heideggerschen Denkens in Sein und Zeit deutlich, wenn er als ein weiteres Element der Erschließung von Sein die Schuld anführt. Hier, so könnte allzu arglos vermutet werden, tritt eine tatsächliche Regung moralisch-psychologischer Natur in den Vordergrund, die als Aussage des Rufes identifiziert werden könnte. Unter der Vorgabe, jene »Spur« ausfindig machen zu wollen, die zum Phänomen der Schuld führt, grenzt Heidegger zunächst die alltägliche Verwendung des Begriffes aus, um folgern zu können: »Die formal existenziale Idee des ›schuldig‹ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« 34
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Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 283.
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Martin Heidegger
In der Begründung dieser Feststellung zeigt sich die wahrscheinlich prägnanteste Demonstration existenzphilosophischen Denkens in diesem Text, auch, und das macht gerade ihre besondere Bedeutung aus, wenn sie nicht als solche konzipiert war. »Seiend ist das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht. Seiend ist es als ein Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat. Existierend kommt es nie hinter seine Geworfenheit zurück, so daß es dieses ›daß es ist und zu sein hat‹ je eigens erst aus seinem Selbstsein entlassen und in das Da führen könnte. […] Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens. […] Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen.« 35
Denker, die mit anderer intellektueller Leidenschaft zu Werke gehen, werden das, was Heidegger hier zur Begründung des Begriffes der Schuld ausdrückt, als Annahme einer letztlich absurden Existenz deuten. Für Heidegger liegt der Akzent an anderer Stelle. Die Weise, in der der Mensch sich zu der faktischen Gegebenheit des Daseins, der Geworfenheit, verhält, ist die Sorge, in den beiden Modi des Besorgens und der Fürsorge. Immer wieder zeigt sich, daß diese keine zufällige Eigenschaft ist, die sich in einem beliebigen Moment realisiert, sondern grundsätzlicher Ausdruck des In-der-Welt-Seins. Sorgend entwirft sich der Mensch auf einzelne Möglichkeiten, deren Grund er in dem Augenblick ist. »Der eigene geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht. Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück.« 36
In zweifachem Sinne charakterisiert Heidegger das Dasein – es kann niemals Grund seiner selbst sein und jeder Entwurf einer Möglichkeit schließt den Entwurf einer anderen aus. Aufgrund dieser in der Beschaffenheit des Daseins liegenden Nichtigkeit ist es als schuldig anzusehen, da es Grund für einen Mangel ist. Wenn Heidegger hier selbst vom »Entwurf« spricht, in dem sich das Dasein zur Möglichkeit seines Sein-Könnens verhält, darf dieser 35 36
Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 284. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 284.
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Begriff doch nicht im Sinne eines planenden Verwirklichens von subjektiven Absichten verstanden werden. 37 Gerade diese Lesart wäre verlockend, da das Sich-Entwerfen des Menschen etwa im Denken von Jean-Paul Sartre in dieser Weise gedeutet wird. Keines der Motive in Sein und Zeit, die individuelles Gestalten, interpersonelles Begegnen oder innerweltliches Verhalten auszudrücken scheinen und von späteren Autoren auch tatsächlich in dieser Bedeutung verwendet werden, wird von Heidegger dazu genutzt, ein Leben in der Faktizität menschlicher Bezüge zu beschreiben. Selbst die am Anfang seiner Daseinsanalyse zu findenden Betrachtungen über die Alltäglichkeit, die gerade dieses Ziel verfolgen könnten, bilden lediglich das Fundament, um das Phänomen des Seins im Dasein explizieren zu können, da das Dasein der Modus des Seins ist, in dem dieses auf sich selbst hin befragt werden kann. In späteren Stellungnahmen zu Sein und Zeit hat Heidegger wiederholt darauf hingewiesen, daß diese Schrift die Voraussetzungen für ein Denken gelegt hat, das sich erst noch zu entwickeln hat. Genauso sollte dieser Text gelesen und vor allem bewertet werden – er dient dem Verfasser dazu, das Fragen nach dem Sinn von Sein grundsätzlich zu ermöglichen. Dazu klärt er, von wo aus diese Frage zu stellen ist. Wenn er als Antwort auf das Dasein verweist, rückt damit zwar auch der Mensch als das »Wer des Daseins« in die Betrachtung, doch bleibt diese in jedem Moment funktional auf die Befragung des Seins bezogen. Es ist eine der vielleicht bemerkenswertesten Tatsachen der Philosophiegeschichte, daß gerade ein solches Denken, das sich selbst von Anfang an als ontologisch definiert, trotzdem einen unübersehbaren Einfluß auf das existenz-orientierte Philosophieren hat, das in seiner grundsätzlichen Ausrichtung entgegengesetzt argumentiert. Nicht die Betrachtung des Seins steht im Vordergrund, wozu eine Berücksichtigung des Menschen lediglich operationell notwendig ist, sondern die Betrachtung eben dieses Menschen in der radikalen Vereinzelung innerhalb eines Seins, das ihm weder Grund noch Heimat sein kann.
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Hierauf weist Heidegger explizit in Über den Humanismus, S. 17 hin.
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X. Welt, Sprache, Verantwortung
X.1 Martin Heidegger Bestimmt sich die Relation von Welt und Mensch nach Sein und Zeit im funktionalen Modus des Verweisens, zeigen andere Schriften Heideggers eine divergierende Sicht dieser Beziehung. Die formal-analytische Art der Untersuchung weicht dort Beschreibungen, in denen immer wieder ein Motiv aufgegriffen wird – der unauflösliche Bezug von Sprache und Erde. Es sind auch diese Passagen der heideggerschen Werke, die sich einem unvoreingenommenen Blick vielleicht nur widerstrebend öffnen mögen, erinnert doch der gesamte Kontext von Heimat, Erde und Verwurzelung allzu leicht an jene ideologisierte Bodenständigkeit, die im Nationalsozialismus propagiert wurde. Da die Darstellung des Verhältnisses des Menschen zur Erde aber zu den immer wiederkehrenden Themen des Denkens der Existenz zählt, soll der Versuch unternommen werden, diese Beziehung weiter zu rekonstruieren, nachdem sie bereits im Zusammenhang mit der Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes gestreift wurde. In dem 1970 veröffentlichten Text Das Wohnen des Menschen heißt es gleich zu Beginn: »Hölderlins Wort: ›Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde‹ wird kaum gehört, ist noch nicht gedacht, geschweige denn in unser Andenken eingegangen. Wie soll es auch? Angesichts der heutigen Wirklichkeit, die sich als Industrie- und Leistungsgesellschaft versteht, die sich selbst und die von ihr benutzten Bestände selber produziert, entleert sich das Wort des Dichters für jedermann leicht zur Phantasterei. […] Der Mensch nimmt für seinen Willen zur Produktion seiner selbst und der bestellbaren Bestände das Maß von dieser durch seine Machenschaft verunstalteten Erde.« 1 1 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 213 und S. 219. Meike Siegfried in Abkehr vom Subjekt, S. 459 f.: »Bemerkenswerter-
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Welt, Sprache, Verantwortung
Wo soll der Mensch aber einen rechten Maßstab für sein Verhalten zur Erde finden, wenn das eigens entworfene Maß, mit dem er sie auf eine Produktionsgrundlage, die seiner uneingeschränkt geglaubten Verfügungsgewalt dient, reduziert, nicht taugt? Die Antwort scheint bei erster Betrachtung das Denken und Schreiben Heideggers gänzlich aus dem Rahmen des Philosophischen hinauszuführen und begründet dieses nach eigener Aussage doch erst. In frappierender Analogie zeichnet er die Schritte des Denkenden und die des »Landmannes«, die beide, dem »Feldweg« folgend, ihre Ausrichtung in seinen Windungen finden. 2 »Der Mensch versucht vergeblich, durch sein Planen den Erdball in eine Ordnung zu bringen, wenn er nicht dem Zuspruch des Feldweges eingeordnet ist. Die Gefahr droht, daß die Heutigen schwerhörig für seine Sprache bleiben. Ihnen fällt nur noch der Lärm der Apparate, die sie fast für die Stimme Gottes halten, ins Ohr.« 3
»Maß« und »Ordnung« findet Heidegger nicht in der bearbeiteten Erde, die sich dem Wirken des Menschen zwar fügt, doch niemals anheimgeben wird. Statt dessen verwendet er auch hier wieder das Bild des Hörens als Ausdruck einer bis ins Extrem gesteigerten Achtsamkeit, einer Verständigkeit für das Bezogen-Sein menschlichen Wissens und Tuns auf den Grund, der beide erst ermöglicht. »Aus Gebirg und Meer, aus Himmel und Insel, aus dem […] Licht und seiner Gewährnis des je und je begrenzten Anwesenden, aus dem gar, was selbst erst Licht-Helle und Dunkel erlaubt, muß alle Kunst und jedes Wissen erfahren werden.« 4
Ein kurzer Blick in einen anderen Text, mehr als 25 Jahre zuvor entstanden, zeigt eine verblüffende Parallelität. »Die sanften Linien dieser Hügel und die Hand des Abends auf meinem erregten Herzen lehren mich viel mehr. […] Ich begreife: wenn ich die Er-
weise gebraucht Heidegger zur Beschreibung der Beziehung von Welt und Ding auch den Begriff des ›Zwischen‹, der andeuten soll, dass beide zueinandergehören, aber keineswegs miteinander verschmelzen, sondern in einem ursprünglichen ›UnterSchied‹ aufeinander bezogen sind: […].« In diesem Kontext verweist Siegfried auch auf Heideggers Gedanken in Bauen. Wohnen. Denken, S. 460 f. 2 Heidegger, Der Feldweg, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 87. 3 Heidegger, Der Feldweg, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 89. 4 Heidegger, Zeichen, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 212.
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Martin Heidegger
scheinungen wissenschaftlich fassen und aufzählen kann, dann kann ich damit noch nicht die Welt einfangen.« 5
Dieses Mal ist es Albert Camus, der seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, daß sich das Erleben der Welt nicht in einer rationalen Form erzwingen läßt. Angesichts einer trotz aller sonstigen Differenz so auffälligen Wertschätzung der Unmittelbarkeit einer Erfahrung des Welt-Seins verwundert Heideggers kritische Einschätzung nicht: »Die Irrmeinung, das Rationale und die Rationalisierung (Entzauberung) der Welt seien selbst etwas Rationales, bleibt der Frage nach der Herkunft der Ratio ausgesetzt.« 6
Ist Erde also weitaus mehr als ein nach Belieben zu messendes und zu ordnendes Objekt menschlicher Verfügung, nämlich der Ort, an dem der Mensch seine Bezogenheit auf das Sein bedenkt, und vollzieht sich dieses Bedenken als Sprache, ist es konsequent, daß sich Heidegger auch gegen deren »informationstheoretische Technisierung« wendet 7. Statt dessen weist er nun darauf hin, daß Sprache im Sinne eines permanenten Anspruches zu betrachten ist, der von der Welt und vom anderen Menschen ergeht. 8 Wer diesen nicht zu erfassen vermag, überhört nicht nur eine letztlich austauschbare Information, sondern verfehlt die existentielle Dimension seines Daseins. Denn existieren heißt, sich verstehend zu verhalten. Wenn es auch, wie bereits angedeutet, in Sein und Zeit nicht Heideggers Absicht gewesen ist, eine explizite Begründung dieses Gedankens vorzunehmen, so daß dort auch nicht mit dessen weiterer Ausführung im Sinne ethischer Bedeutsamkeit zu rechnen gewesen Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 22. Heidegger, Zeichen, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 212. Wolfgang Steiner untersucht in Die Aufgabe des Denkens mögliche Bezüge Heideggers zur Mystik, speziell zum Konzept der Gelassenheit und dessen Bedeutung. S. 87: »Nicht zur Abkehr von der Welt und ihren Erscheinungen führt Heideggers Konzept der Gelassenheit, sondern zu einer neuen, veränderten Betrachtung, zu einem neuen, veränderten Bedenken von Wirklichkeit. […] Darin kann folglich auch eine ethische Komponente der Gelassenheit bei Martin Heidegger geortet werden.« Und S. 89: »Natürlich liefert das Gelassenheitsdenken Heideggers keine konkreten Handlungsanweisungen […]. Aber die Gelassenheit dient eben auch nicht dazu, das gewohnte Denken und Handeln zu ersetzen, sondern soll durch ein neues Denken humane Sichthorizonte verändern.« 7 Heidegger, Zeichen, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 211. 8 Heidegger, Sprache und Heimat, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 167. 5 6
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Welt, Sprache, Verantwortung
ist, dann könnte sich in dem vorliegenden Kontext eine solche Weiterführung vermuten lassen. Hier bezieht Heidegger zumindest in der Weise Stellung zum Zeitgeschehen, daß er die Technisierung und Rationalisierung von Welt und Sprache deutlich kritisiert und klar vor deren Fehleinschätzung warnt. Liegt denn nicht auch hier der Gedanke der Verantwortung für die Welt als den Ort und die Sprache als die Form der Seins-Erschließung nahe, was dann unter Umständen auch dazu Anlaß geben könnte, nach einer Verantwortung dem Menschen gegenüber zu fragen? Hinsichtlich der beiden zuerst genannten Ziele, für die es einzutreten gilt, ist Heideggers Position eindeutig. In einer immer wieder aus der Dichtung Hölderlins schöpfenden Bildlichkeit konstruiert er ein Gefüge von Beziehungen, in das auch die Welt und der Mensch eingebunden sind – das »Geviert«. Den inhaltliche Kontext, in dem dieser Begriff zum Tragen kommt, ist jener des Wohnens, verstanden als das verständige Achten der Bezogenheit als Kennzeichnung menschlicher Existenz. In seinem 1951 im Rahmen der Tagung zum Thema »Mensch und Raum« gehaltenen Vortrag zeigt Heidegger, »daß im Wohnen das Menschsein beruht und zwar im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde. Doch ›auf der Erde‹ heißt schon ›unter dem Himmel‹. Beides meint mit ›Bleiben vor den Göttlichen‹ und schließt ein ›gehörend in das Miteinander der Menschen‹. Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins.« 9
Ist es die Vorstellung eines fernen Monismus, die Heidegger hier von ursprünglicher Einheit sprechen läßt? Und wären dann all seine Bestrebungen, die Seinsvergessenheit seiner Zeit anzumahnen, Versuche, ein einheitliches Gefüge von Seiendem zu zeichnen, in dem das Sein wieder erfahrbar wird, nicht als indifferente Einheit, sondern als einheitlicher Bezug auf sich selbst? Und müßte sein Denken dann nicht fast zwingend an demselben ethischen Dilemma kranken wie etwa das Denken Plotins, von dem er, wie er selbst sagt, manches gelernt habe 10? Denn in einem Entwurf der Realität, die Ausdruck ihrer selbst ist, kann es entweder nur eine absolute Verpflichtung dem Anderen gegenüber geben, insofern keine wirklichen Differen-
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Heidegger, Bauen.Wohnen.Denken, in: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 151. Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 48.
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zierungen innerhalb des Seienden möglich sind, oder jede ethische Forderung konzentriert sich nur auf den Einzelnen, der in sich Ausdruck des Ganzen ist. Dem strahlenden Gedanken einer grundsätzlichen Bezogenheit jedes Daseienden auf jedes andere droht letztlich immer die Gefahr, in einer selbstbezogenen Isolierung des Einzelnen im Dasein zu versinken. Inwieweit bietet Heideggers Denken Grund, diesem drohenden Risiko zu entgehen? Seine Darstellung des Seins zeigt ein bemerkenswertes Maß an Selbst-Bezüglichkeit und Geschlossenheit, wie es etwa auch die Beschreibung der Einheit in Plotins Philosophie charakterisiert. Gerade diese beiden Merkmale treten immer dann besonders prägnant aus Heideggers Ausführungen hervor, wenn er sich dem Menschen und seiner Position im Dasein zuwendet. Und genau diese beiden Bestimmungen sind es auch, die seinem Denken mitunter den Anschein verleihen, es denke das Sein ohne den Menschen. Wenn in den bisherigen Betrachtungen immer wieder auf das Motiv der Erde verwiesen wurde, so deshalb, weil sich gerade mit Blick auf dieses der eben erwähnte Anschein widerlegen läßt. Heidegger denkt das Sein mit dem Menschen und durch ihn – ob darin ein ethisches Element gesehen werden kann, gilt es zu fragen. Wie sich bereits in Sein und Zeit im Kontext einer formalen Problemanalyse gezeigt hatte, gibt es die beiden Modi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit, die das Dasein kennzeichnen können. Beide hält Heidegger grundsätzlich für möglich, läßt aber nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, daß es die Eigentlichkeit zu erstreben gilt. In seinen Beschreibungen der Weise, in der der Mensch mit der Erde verfährt, zeigt sich wie bereits angedeutet eine Kontrastierung eines verfehlten Verhaltens, insofern der Mensch glaubt, die Erde beherrschen und benutzen zu können, von einem Bezug zur Welt, der von Achtsamkeit geprägt ist. Es sind immer wieder die Bilder des Hörens auf jenen Anspruch, der von der Erde an den Menschen ergeht, gleichermaßen also als Aufforderung des Seins. Hier attestiert Heidegger seiner Zeit, und nicht nur ihr, ein eklatantes Defizit, so daß er auch genau hierin eine Forderung an den Menschen artikuliert, die ihn zu einer Änderung seiner Haltung innerhalb der Welt aufruft. Wo aber eine Korrektur des eigenen Verhaltens erfolgen können soll, muß überhaupt erst die Möglichkeit dazu bestehen. Was beinahe banal in seiner Selbstverständlichkeit klingt, bedarf dennoch der Erwäh165 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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nung, da es verdeutlichen kann, daß Heidegger dem Menschen an entscheidender Stelle das Potential zur Einflußnahme auf sein Dasein zuspricht, selbst wenn dieses sich vornehmlich als ein Vermögen und nicht notwendig als dessen aktive Verwirklichung erweist. Nicht unbedingt im Tun sieht Heidegger das Wesen des Menschen, sondern in dessen Befähigung, auf den Aktionismus seines planenden Denkens zu verzichten, Möglichkeiten des Handelns ›nicht‹ zu nutzen. Daß hieraus keineswegs eine Haltung indifferenter Passivität folgt, wird speziell in den Ansichten erkennbar, die Heidegger in den fünfziger Jahren in seinem Vortrag Die Frage nach der Technik artikuliert. Unter krasser Zurückweisung eines Bildes vom Menschen als dem die Erde Beherrschenden, dem Initiator technischer Innovationen, dem Natur Gebrauchenden, begründet Heidegger hier vielmehr seine Auffassung vom Menschen als dem »Gebrauchten«. »Jedes Geschick eines Entbergens ereignet sich aus dem Gewähren und als solches. Denn dieses trägt dem Menschen erst jenen Anteil am Entbergen zu, den das Ereignis der Entbergung braucht. Als der so Gebrauchte ist der Mensch dem Ereignis der Wahrheit vereignet.« 11
Bemerkenswertes Bild des Menschen, dessen Umrisse hier erkennbar werden – er, der gebraucht wird, wird nicht benutzt, sondern er ist unverzichtbar, damit das Wesen des Seins sich zeigen kann, das in nichts anderem als seiner Relationalität besteht. Natürlich kann nur der Mensch auf diese Natur der wechselseitigen Bezogenheit achten und ihre fragile Struktur beachten, die so leicht aus dem Gleichgewicht geraten kann, wenn sich nur eines der Elemente jener Relation zu verselbständigen droht, das Heidegger mit dem Begriff des Gevierts bezeichnet. Er beschreibt ja selbst die »Gefahr«, die in einer Fehldeutung der eigenen Positionierung im Geviert besteht. »Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei.« 12
Himmel und Erde, Sterbliche und Göttliche – diese vier jeweils komplementären Elemente werden im Gebilde des Gevierts aufeinander
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Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Die Technik und die Kehre, S. 32. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Die Technik und die Kehre, S. 26 f.
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bezogen, in ein wechselseitiges »Spiegel-Spiel« 13 versetzt, wie es auch heißt. Wird nur eine der Spiegelungen herausgegriffen und die Erde als Reflexion menschlichen Verhaltens betrachtet, wird sogleich nachvollziehbar, wie folgenschwer der Irrglaube des Menschen sich auswirken muß, der in ihr lediglich von ihm Gemachtes zu erkennen meint. Er verfehlt den tatsächlichen Bezug zu dem ihm korrespondierenden Seienden. Für Heidegger liegt hierin kein geringfügiger Fehler, der eine einzelne Handlung als irrtümlich kennzeichnen würde, sondern die grundsätzlich falsche Bewertung des Seins, das einzig im Zustand der Ausgewogenheit wirklich erfaßt werden kann. Das oft von Heidegger heraufbeschworene »Entbergen« enthüllt kein separates Sein an sich, sondern sein Wesen als Relation, das das Wesen des Menschen bestimmt. »Dieser Wesensraum des Menschenwesens empfängt seine ihn fügende Dimension einzig aus dem Ver-Hältnis, als welches die Wahrnis des Seins selbst dem Wesen des Menschen als dem von ihm gebrauchten vereignet ist.« 14
Wird aber nicht in dieser Auffassung der Mensch letztlich zu einer Passivität verurteilt, insofern ihm lediglich die Rolle des Acht-Habenden zugewiesen wird? Wohl kaum. »Aber es ist nie das Verhängnis eines Zwanges. Denn der Mensch wird gerade frei, insofern er in den Bereich des Geschickes gehört und so ein Hörender wird, nicht aber ein Höriger. Das Wesen der Freiheit ist ursprünglich nicht dem Willen oder gar nur der Kausalität des menschlichen Wollens zugeordnet.« 15
Mit dem Terminus des »Geschickes« will Heidegger kenntlich machen, daß der Mensch sich auf einem Weg befindet, gesandt ist, sich dem Verstehen des inneren Zusammenhanges aller Elemente des Seins ständig annähert. Ob er dieses Ziel jemals erreichen wird, bleibt unklar, aber letztlich auch unwichtig. Es zählt die Weise des Verhaltens im Augenblick, denn nur in ihm wird dem Einzelnen eine Haltung abverlangt, die ihm kein Imperativ, keine moralische Weisung und kein religiöses Gebot oktroyieren können, da sie einzig aus der
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Heidegger, Die Kehre, in: Die Technik und die Kehre, S. 43. Heidegger, Die Kehre, in: Die Technik und die Kehre, S. 39. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Die Technik und die Kehre, S. 24.
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Achtung vor dem Sein, das auch das Sein des einzelnen Selbst ist, resultiert. In diesem Kontext taucht der Begriff der Freiheit durchaus nachvollziehbar auf, auch wenn er die vielleicht bestehende Hoffnung, Heidegger würde doch noch zur Handlungsweise des Menschen Stellung beziehen, sogleich enttäuscht. Nicht primär im Handeln liegt die Auswirkung der Freiheit, sondern in jenem Verhalten, das sich als Bedenken der Relationen erweist. Ist das nicht ein zu gering geschätzter Wert von Freiheit? Was bedeutet diese Achtsamkeit, in deren Darstellung letztlich der Kern der heideggerschen Seinsbestimmung liegt? Achtsam auf das Sein ist jener, der um dessen Komplexität und innere Struktur der Bezogenheit weiß. Spätestens jetzt wird deutlich, warum Heidegger im Plädoyer für das Verstehen die vorrangige Aufgabe der Philosophie sieht. Innerhalb des Seins verweist alles auf ein anderes, ist unauflöslich mit diesem verbunden, muß daher eines auf das andere hören, um es aus seiner Unbestimmtheit zu befreien und es zur Kenntnis zu nehmen. »Dies alles vermögen wir nur, wenn wir vor der anscheinend immer nächsten und allein als dringlich erscheinenden Frage: Was sollen wir tun, dies bedenken: Wie müssen wir denken? Denn das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins an die Hand gehen.« 16
Es ist niemals unproblematisch, Heideggers Aussagen über Freiheit, Verhalten und Handeln unvoreingenommen zu lesen. Zu tiefe Spuren haben seine politischen Auftritte und öffentlichen Reden während der Zeit des Nationalsozialismus hinterlassen und sein Denken mit dem Verdacht infiziert, niemals etwas anderes als Vorbereitung und Rechtfertigung seines ideologischen Wahns gewesen zu sein. Gerade in jüngster Zeit scheint diese Vermutung durch jene Äußerungen Heideggers, die er in seinen Schwarzen Heften festhielt, bestätigt zu werden. 17 Und doch bleibt zu fragen, ob sich gerade der Gedanke Heidegger, Die Kehre, in: Die Technik und die Kehre, S. 40. Im vorliegenden Kontext wird Heideggers Begriff von Zeit und Geschichtlichkeit ausgeklammert, da es hier nicht das Ziel sein kann, die Frage der Ideologie-Immanenz seines Denkens zu thematisieren. Dessen Parallelen und Divergenzen zum existenzphilosophischen Denken stehen im Mittelpunkt, was allerdings die Entscheidung darüber voraussetzt, daß eine solch wertungsneutrale Betrachtung noch immer möglich und sogar wichtiger denn je ist. Diese folgt jedoch nicht dem Ansinnen, auch nur in entferntester Weise eine Rechtfertigung heideggerscher Philosophie zu leisten, sondern darauf hinzuweisen, wie brüchig die Membran sein kann, die das existenzphi-
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der Achtsamkeit auf den Bezug im Sein nicht aus ganz anderer Quelle speist. Bereits an früherer Stelle wurde auf Plotin als einen Denker hingewiesen, den Heidegger nach eigener Aussage gelesen und wertgeschätzt hat. Daß er von dessen Bild der Einheit der Wirklichkeit beeinflußt wurde, ist naheliegend. So wie das Seiende nicht wirklich erfaßt werden kann, wenn es nur als solches und unabhängig von seiner Beziehung zu anderem Seienden betrachtet wird, kann auch der Begriff des Seins nicht verstanden werden, wenn er nicht in seiner Bedeutung der Relationalität gedacht wird. So wie also der Terminus des Einen in der Überzeugung Plotins niemals unabhängig von der Vielfalt gebildet und als Gedanke sinnvoll befragt werden kann, ist es auch mit dem Begriff des Seins bei Heidegger. In der Frage nach dem Sinn von Sein bekräftigt er immer wieder die Unmöglichkeit, es als solches zu betrachten, so, als sei es isoliert vom Seienden. Der Ausdruck des Sinnes bezeichnet ja wesentlich Bezogenheit auf ein anderes, insofern Sinn stets nur Sinn für jemanden oder für etwas sein kann. Wenn Emmanuel Lévinas in seinen unterschiedlichsten Schriften immer wieder versucht, die Notwendigkeit der Annahme eines Seins zu widerlegen, muß geprüft werden, ob er nicht letztlich von einem anderen Seins-Begriff ausgeht als Heidegger. Für diesen stellt das Fragen die entscheidende Arbeit des Denkens dar, weshalb er es auch als die »Frömmigkeit des Denkens« 18 bezeichnet. Nach dem Sinn zu fragen heißt aber immer, nach dem Bezug zu fragen. Dieser läßt sich nicht in abstrakter Form fassen und allenfalls rational ermitteln. Heidegger verwendet gezielt das Motiv des Hörens, um eine rezeptive Kapazität im Menschen zur Fundierung jener fragenden Haltung zu veranschaulichen, die ein Verstehen des Sinnes von Sein erschließt. »Was sich als Stimme des Seins uns zuspricht, be-stimmt unser Entsprechen. ›Entsprechen‹ heißt dann: be-stimmt sein, être disposé, nämlich vom Sein des Seienden her. Dis-posé bedeutet wörtlich: auseinander-gesetzt, gelichtet und dadurch in die Bezüge zu dem versetzt, was ist.« 19
losophische Verständnis menschlicher Selbstbildungsfähigkeit von einer möglichen Verzerrung trennt. 18 Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Die Technik und die Kehre, S. 36. 19 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, S. 23.
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X.2 Karl Jaspers Fragen als die entscheidende Arbeit des Philosophierens – diese Bestimmung trifft auch auf das Denken von Karl Jaspers zu. Nur darf die vergleichbare Motivation des Denkens nicht zu dem Schluß verleiten, daß auch dessen Ausführung in ähnlicher Weise erfolgt. Heidegger suchte in Sein und Zeit nach dem Sinn von Sein; Jaspers fragt in Philosophie II. Existenzerhellung danach, »[…] was ich meine, wenn ich sage: ich selbst« 20. So plakativ diese Gegenüberstellung auch wirkt, wird an ihr doch sogleich eines erkennbar: Unterschiedlicher könnten die beiden Ansätze des Philosophierens nicht sein. Geht es Heidegger, zumindest in Sein und Zeit, um Daseinsanalyse, also um eine formal ausgerichtete Bestimmung der Struktur des Seins, das als Dasein theoretisch faßbar wird, so will Jaspers im Sinne seines medizinischen Grundinteresses die Bedingungen der Ich-Werdung des Menschen untersuchen. Dabei geht er weniger analytisch als vielmehr deskriptiv vor, stellt dar, in welchen Prozessen sich das Ich konstituiert und zieht dazu empirische Beobachtungen des Verhaltens des Menschen in der Gemeinschaft heran. Daß er vor diesem Hintergrund die Funktion des Bewußtseins thematisiert, dessen pure Erwähnung Heidegger sorgsam zu vermeiden suchte, verdeutlicht die divergente Perspektive beider Denker zusätzlich. Er betrachtet den Menschen in seiner individuell psychischen Beschaffenheit; Heidegger sieht in ihm den Repräsentanten des Seins. Nun kann eingewendet werden, daß auch Heidegger nach dem »wer des Daseins« und damit natürlich nach dem Menschen fragt, wodurch sich eine stärkere Ähnlichkeit zu Jaspers zeigt. Auch tauchen grundlegende Motive wie etwa jene des Hörens, der Schuld und der Offenheit bei beiden Denkern auf. Worin besteht dann tatsächlich deren Unterschiedlichkeit? »Da ich im Ichbewußtsein als Bewußtsein überhaupt mich noch nicht finde, wende ich mich an die materielle Erfüllung meines Ichseins als dieses Dasein. Ich sehe nicht nur, daß ich meiner bewußt bin, sondern frage, als was ich mir bewußt bin.« 21
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Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 24. Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 27.
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Karl Jaspers
Jaspers untersucht das Dasein, weil es der Reflexionsraum des individuellen Bewußtseins ist; Heidegger thematisiert es, weil es der Bedingungsrahmen des Seins ist. »Ich bin mir selbst ein inhaltlich erfülltes, unverwechselbares Leben in Zeit und Raum, das mir zum Gegenstand werdend gegenübertritt. In solchen Gegenständlichkeiten als Aspekten meiner selbst werde ich mir bewußt wie in Spiegeln. In keinem sehe ich mich ganz und gar, sondern in Teilen; ich erblicke Seiten meines Seins, identifiziere mich partiell mit ihnen, aber ohne ganz und gar identisch mit mir in ihnen zu werden.« 22
Die Bewegung, innerhalb derer sich das Ich als Selbst konstituiert, beschreibt Jaspers folgendermaßen: Der Mensch gewinnt einen Bezug zu seinem vermeintlichen Ich in jenen Spiegelungen durch das Dasein, die jeweils einzelne Seiten reflektieren, wie etwa seine Körperlichkeit oder sein soziales Leben. Das Bewußtsein kann in deren offensichtlicher Partikularität aber niemals ein in sich geschlossenes Bild des Ich finden, da dieses sich zugleich stets als anders, nicht in dem jeweiligen Aspekt aufgehend begreift. Die Formen, in denen Ausschnitte des Ich denkbar werden, bieten dem Bewußtsein damit zwar einen ersten Anhaltspunkt zur Selbst-Orientierung, vermögen aber nicht dessen ganzer Inhalt zu sein, weil dieser gerade kein statisches Objekt für das Denken sein kann. Die Ich-Aspekte geben lediglich Reflexionshilfen innerhalb einer Existenz des Ich, die sich mit der Zeitlichkeit ihres Daseins im permanenten Wandel befinden. »Dadurch erst erwacht eigentlich mein Bewußtsein der Möglichkeit, ich selbst sein zu können, durch daß ich mich statt als Sein vielmehr in der Fraglichkeit, als Werden und Zukunft, weiß. […] Allem von mir wirklich Gewordenen gegenüber bleibe ich selbst als Möglichkeit: dem objektiv gewordenen Ichbestand gegenüber bleibe ich selbst und damit als Freiheit.« 23
Mit dieser Vorstellung, daß ein sich fließend wandelndes und seinen gegenwärtigen Entwurf stets überformendes Ich niemals in einem statischen Bild fixiert werden kann, das sich dann als Denkbares objektivieren ließe, drückt Jaspers eine Überzeugung aus, die sich auch bei anderen existenzphilosophischen Denkern findet. Für Jaspers folgt aus ihr zweierlei: Das tatsächliche Ich darf nicht mit der Summe seiner Aspekte verwechselt werden, und das Denken des Ich kann nicht mehr in der Form rationaler Objektivierung erfolgen. 22 23
Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 27. Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 34 f.
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In klassischer Terminologie gefaßt, verlangt das Denken des Ich also eine psychologische und eine kognitive Klärung, die beide im Begriff der Existenzerhellung verbunden werden. Als die eine Ausrichtung der Bewegung innerhalb der Ich-Konstituierung hatten sich die Spiegelungen des Ich in jeweils partikulären Aspekten seines Seins erwiesen, die jedoch selbst immer nur partikulärer Ausdruck des Ich sein können. Es muß ihnen also eine weitere, gegenläufige Ausrichtung folgen, die das offensichtliche Defizit einer ausschließlich als Reflexion aus dem Dasein gedachten Bezugnahme auf das Ich ausgleicht. »Im Zurücknehmen aus dem Ichsein des Bewußtseins überhaupt, aus dem Reichtum der Aspekte, in denen ich mir empirisch erscheine, aus einem gegebenen Sosein meines Charakters liegt ein Verhalten zu mir selbst und darin der Ansatz für ein neues Ergreifen meiner selbst. […] Wenn ich nach dem Fehlgehen aller objektiven Bemühung sage ›ich selbst‹, so meine ich nicht mehr bloß etwas, sondern tue etwas: zugleich einer und zwei, bin ich zu mir, d. h. ich beziehe mich auf mich, aber nicht nur mich betrachtend, sondern auf mich wirkend.« 24
Die gedanklichen Elemente, die Jaspers hier anklingen läßt, sind für seine weitere Theorie des Menschen in der Existenz charakteristisch. Dieser erscheint als ein in der Zeit seines Daseins niemals sich selbst als vollendet zu begreifender Entwurf in der Möglichkeit seines Werdens; er verhält sich selbst zu sich als dieser Möglichkeit, deren Gegebenheit er in Form seines »inneren Handelns« 25 auslotet. SelbstReflexion, die immer ein vermeintliches Ich als statisches Objekt konstruiert, das tatsächlich niemals gegeben sein kann, wird so durch Selbst-Verhaltung erweitert und letztlich sogar ersetzt. Zwar markieren beide Weisen eine Form der Selbst-Bezogenheit, doch geht erstere von einem irrtümlich für faktisch Gehaltenen aus, wohingegen letztere selbst Ausgangspunkt der Gewißheit jener Möglichkeit ist, sich selbst schaffen zu können. Damit diese Gewißheit sich einstellen kann, bedarf es einer vorhergehenden Abkehr von der Selbstreflexion als Mittel, sich selbst erfassen zu können, die Jaspers als willentlich denkt. »Selbstreflexion ist nicht Zweck, sondern Weg. Es kommt darauf an, daß und wie ich jeweils aus ihr hervorgehe, der ich ohne sie nur ein Dasein
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Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 35. Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 35.
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Karl Jaspers
möglichkeitsloser Unmittelbarkeit geistlos und selbstlos führen könnte. […] Mein die Selbstreflexion beendender Wille ist daher nicht mehr der Ausdruck jener immer dunklen geistfremden und geistfeindlichen Willkür – […], sondern des Selbstseins, das sich darin gewiß wird.« 26
Selbstgewißheit ist also Gewißheit einer Möglichkeit, die das SelbstSein dem selbst als existentielle Offenheit präsentiert. Indem der Mensch ›ich selbst‹ sagt, trifft er keine Aussage über ein Bestehendes in der Zeit, sondern über die Relation, die er als er selbst zu sich als Selbst wählt. Dieser Bezug wird vom Menschen gewollt, insofern die Selbstreflexion zwar notwendig ist, um sich aus der Indifferenz des Daseins selbst zum Gegenstand der Reflexion setzen zu können, zugleich aber als nicht ausreichend beurteilt wird, um Grundlage einer tatsächlichen Gewißheit des Ich sein zu können. Stellt sich diese Gewißheit als alleiniger Grund des Selbstsein-Könnens ein, vergegenwärtigt sie zugleich eine bedeutsame Konsequenz. »Ich bin für mich verantwortlich, weil ich mich selbst will, ich bin mir dieses Ursprünglichseins als Selbst gewiß; […].« 27
Im Begreifen der Tatsache, daß Selbstreflexion immer nur partikuläre Spiegelungen zu ihrem Gegenstand haben kann, erfährt das Bewußtsein die Begrenztheit dieser Reflexionen und damit die Grenzen des eigenen Vermögens. Grenzen, hier diejenigen im psychischen und kognitiven Kontext, bedeuten für Jaspers alles andere als Einschränkungen oder Behinderungen der Erfahrungen. Dort, wo der Mensch Grenzen spürt, begreift er, daß dasjenige, das diese begrenzen, nicht das einzig Mögliche sein kann. Wenn es dieses aber nicht ist, muß es auch Anderes geben können, das zu erkunden Ziel der entscheidenden existentiellen Bewegung des Transzendierens wird. Damit es nicht nur deren theoretisch fixierbares Ziel ist, sondern auch als etwas Erstrebenswertes erfaßt werden kann, ist zusätzlich eine impulsgebende Erfahrung erforderlich – die Erfahrung des Ungenügens als Reaktion auf ausbleibende emotionale Befriedigung. Keine der einzelnen Spiegelungen des Ich, die es aus seinem Dasein empfangen konnte, vermochten es zufriedenzustellen, dem Fragen nach dem Selbst des Ich zu genügen. So fragte das Bewußtsein über diese Reflexionen hinaus und gelangte zur Gewißheit seiner
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Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 39 und S. 41. Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 45.
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Welt, Sprache, Verantwortung
selbst in der Aussetzung möglicher Entwürfe seines Selbst. Die Begrenztheit des Befragten treibt den Fragenden über dessen Grenzen hinaus – nicht notwendig, sondern aus Freiheit. Begrenztheit findet das Ich aber auch in dem Gewahren der Singularität seines Selbst als unterscheidbar vom anderen Selbst. Diese Möglichkeit der Gegenüberstellung bedeutet für Jaspers die unverzichtbare Grundlage von Kommunikation, die in seinem Verständnis nicht nur verbal erfolgt. Nur wird beileibe nicht in jeder Variante menschlicher Interaktion jene Form von Kommunikation verwirklicht, die dem Ich weiteren und über die eigenen Möglichkeiten hinausweisenden Aufschluß über sich eröffnen kann. Denn »zunächst und zumeist«, so wäre es mit heideggerscher Wortwahl anzukündigen, erschöpfen sich die alltäglichen Begegnungen und Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen in jeweils funktionsorientiertem, darüber hinaus aber inhaltsleerem Austausch von puren DaseinsInformationen, die es dem Ich weder ermöglichen, noch abverlangen, sich als selbst-bewußt von den Anderen zu unterscheiden. Distanzierung von den Anderen setzt einerseits den Willen zur Eigenheit voraus, der sich andererseits nicht ohne die Anderen, von denen er sich unterscheiden will, formieren kann. »Es ist ein Sprung, wenn das Ich als seiner sich bewußt den Anderen und seiner Welt sich gegenüberstellen kann.« 28
Fast unmerklich hat die Argumentation von Jaspers ihren Schwerpunkt verlagert. Er besteht nicht mehr ausschließlich in jener Perspektive, durch die die Selbstrelation des Menschen erfragt werden soll, sondern nun erweitert in einer Akzentuierung, deren Gegenstand die interpersonale Relation ist. Die zuvor von Jaspers artikulierte Frage: ›Wer ich sei?‹ wird jetzt zu der Überlegung ausgeweitet, ›wer mir der Andere sei‹. Die Antwort hierauf besteht in der Feststellung, daß der Andere dem Ich Konstituens seiner Selbst-Bewußtheit ist. Differenzierung ermöglicht ein Überschreiten jener lediglich aus der Reflexion der Ich-Aspekte gewonnenen Vorstellung eines Selbst, ohne dabei auf diese Grundlage verzichten zu können. Das Ich überspringt in einer ersten Bewegung diese Ausrichtung seines Bewußtseins auf jeweils nur singuläre Facetten seiner selbst und in einer weiteren Bewegung die Konzentration auf sein vermeintlich solitäres Sein. Gerade dieser 28
Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 51.
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Karl Jaspers
letzte Schritt hat für Jaspers eine deutlich andere Gewichtung als die bloße Kontrastierung eines Nicht-Ich, das rational als Negation des Ich konstruiert wird. Er wäre, wie auch die zuerst genannte Bewegung, nicht ohne das Movens der Erfahrung des Ungenügens möglich, die das Ich zu den beiden entscheidenden Modifikationen seiner Selbst-Bewußtheit führt. Es ist mehr, als es in einem Augenblick selbst von sich weiß, kann dieses ›mehr‹ aber nicht isoliert von Anderen erfassen – nicht isoliert von ihnen, aber auch nicht identisch mit ihnen. »Im naiven Dasein tue ich, was alle tun, glaube, was alle glauben, denke, wie alle denken. Meinungen, Ziele, Ängste, Freuden übertragen sich von einem zum anderen, ohne daß er es merkt, weil eine ursprüngliche, fraglose Identifizierung aller stattfindet.« 29
Eine Parallelität dieser Zeilen zu Heideggers Darstellung des »Man« ist offensichtlich, auch wenn Jaspers das Dasein in der Gemeinschaft teilweise anders beleuchtet. Heidegger schreibt: »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.« 30
Zwei unterschiedliche Perspektiven, unter denen ein und dasselbe betrachtet wird – Jaspers, interessiert an den Mechanismen, die eine Gemeinschaft überhaupt erst bilden und zusammenhalten, akzentuiert den Vorgang der Identifizierung, wohingegen Heidegger nicht die Struktur des »naiven Daseins«, sondern die Gegebenheit der »Seinsart der Alltäglichkeit« vor Augen hat. Es gibt das »Man« – warum das der Fall ist, steht, zumindest in Sein und Zeit, nicht zur Diskussion. Selbst dann, wenn als Vergleichstext hierzu Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit, lediglich wenige Jahre nach Heideggers Text erschienen, zugrunde gelegt wird, zeigt sich eine differente Betrachtungsweise.
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Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 51. Heidegger, Sein und Zeit, § 27, S. 126 f.
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Welt, Sprache, Verantwortung
»Der Mensch ist, wenn er als Masse da ist, doch in der Masse nicht mehr er selbst. Masse löst einerseits auf; in mir will etwas, das nicht ich bin.« 31
Bereits hier klingt das Motiv der Preisgabe des individuellen ›Wollens‹ an das öffentliche ›Meinen‹ an, die der Einzelne irrtümlich als Artikulation seines eigenen Willens deutet. Der Wille als verbindendes Element der Masse und Agens persönlichen Strebens wird von Heidegger wohl vorausgesetzt, aber nicht hinterfragt. Gleichwohl spielen bei beiden Denkern ihre jeweiligen Betrachtungen des kollektiven Daseins eine entscheidende Rolle für die Darstellung jener Bewegung, die das Ich als einzelnes aus der Gemeinschaft hervorgehen läßt. ›Einzeln sein‹ heißt hier nichts anderes als ›eigentlich werden‹. Beide Theoretiker sind sich darin einig, daß ein Verharren im Man für den Einzelnen das fatale Verfehlen seiner Möglichkeit im Dasein zur Folge hat. Dabei handelt es sich nicht um konkrete Handlungsoptionen, über deren Verwirklichung jeweils situativ zu entscheiden ist, sondern um die eine einzige Verhaltensoption, die ergriffen oder verfehlt werden kann. Was hier zur Wahl steht, ist die einmalige Positionierung des Menschen im Dasein, das er, wenn er denn die Möglichkeit, selbst zu sein, ergreift, als seine Existenz begründen kann. Terminologisch zeichnet sich schon hier ein Unterschied zum Denken Sartres und Camus’ ab, insofern für Heidegger und Jaspers ›Existenz‹ nicht den Ausgangspunkt des menschlichen Seins, sondern dessen Verwirklichungsmodus benennt, der allein in der Botmäßigkeit des einzelnen Menschen liegt. Die These von der Vorgängigkeit der Existenz vor der Essenz könnte also keiner von beiden vertreten, da die Essenz des Menschen in der Verwirklichung seiner Existenz aufgeht. Existieren ist hier niemals nur bloßes Sein, sondern immer zu formierendes Sein als Entwurf. Wenn Jaspers jene psychischen Faktoren aufweisen will, die den Menschen zum Existieren treiben, steht, wie auch im Kontext der Konstitution des Ich, abermals das Empfinden des Ungenügens im Fokus. Es ist der entscheidende Impulsgeber des Wollens, das sich nur aus dieser Ursache heraus zu bilden vermag und zugleich seine eigene Bedingtheit zu negieren sucht. Das Ich, das sich seiner selbst lediglich in vereinzelten Aspekten 31
Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 36.
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Karl Jaspers
bewußt werden kann, wendet sich im Empfinden des Ungenügens gegen diese ausschnitthafte Repräsentation seines Selbst. Genau dieselbe Erfahrung wiederholt sich in der Begegnung mit den anderen Menschen im Zustand des naiven Daseins. »Erfahre ich in jeder Kommunikation eine spezifische Befriedigung, so doch in keiner eine absolute. Denn wenn ich der Partikularität meiner Kommunikation bewußt werde und damit an deren Grenze stoße, befällt mich ein Ungenügen. Ich war nur in einer bestimmten Richtung, als bloßes Dasein, als Ich überhaupt, als Funktion eines ideellen Ganzen, als dieser Charakter engagiert, nicht als ich selbst.« 32
Damit sich in der Erfahrung am Anderen die Erfahrung des Ich bilden kann, muß der Andere als Grenze des Selbst erscheinen, nicht nur als ein beliebiges Double des Ich, von dem weder Abgrenzung noch Unterscheidung vorstellbar sind. Zugleich darf er aber durch eine vielleicht übermächtige Präsenz den Wunsch des Ich, sich selbst zu erfassen, nicht vereiteln. Ein empfindliches Gleichgewicht, das Jaspers der Kommunikation abverlangt, in der unerschütterlichen Gewißheit, daß wahrhaftes Selbstsein einzig hier zu erwerben sei. Jede Spur von Unausgewogenheit und einseitiger Überschätzung kann das Funktionieren von Begegnung gefährden und es damit dem Ich unmöglich machen, sich selbst durch sie zu erfassen. »Ergreife ich gegenüber dem Versagen der Kommunikation mich selbst, und versuche ein Bewußtsein, in dem ich allein auf mir stehe, so wird das Ungenügen – nunmehr im Sprung – verstärkt; es wird absolut und endgültig. […] Das Ungenügen wird dann das Bewußtsein, als ob ich wie aus dem Sein herausgefallen sei; es hat Grauen vor dem Alleinsein mit dem unheimlich gewordenen Dasein. […] Das Dasein verfinstert sich mir.« 33
Ein scheinbar bekanntes Motiv taucht hier in verwandeltem Kontext auf. Heidegger wählte den Begriff der Unheimlichkeit, um jene Verfassung im Sein zu bezeichnen, aus der der Mensch sich selbst als möglich Existierenden ergreift: »Sie bringt dieses Seiende vor seine unverstellte Nichtigkeit, die zur Möglichkeit seines eigensten Seinkönnens gehört.« 34
32 33 34
Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 55. Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 56. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 287.
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Welt, Sprache, Verantwortung
Insofern signalisiert Unheimlichkeit gleichermaßen einen Zustand des Nicht-mehr- und Noch-nicht-Seins; ›nicht mehr‹ im Man befindlich und ›noch nicht‹ zur eigenen Existenz gewendet. Die Erfahrung der Unheimlichkeit ist zwar vordergründig als verunsicherndes Erleben einer Vereinzelung aus dem Kollektiv zu verstehen, ist aber zugleich erste Bedingung der Ermöglichung des Selbst-Seins. Ist es dieselbe Erfahrung, die Jaspers als »unheimlich« bezeichnet? Sicher nicht. In seinem Verständnis wird das Dasein nicht deshalb als unheimlich erlebt, weil es unvertraut geworden und der Mensch plötzlich auf sich selbst gestellt ist, sondern weil derselbe Mensch auf einmal begreift, daß er innerhalb des Daseins versagte. »Verriet ich aber mögliche Kommunikation, sei es faktisch, sei es durch mangelnde Bereitschaft, setzte sich das Ungenügen nicht mehr um in einen Kommunikationswillen, so trat ich ins Nichts.« 35
Das Erleben der Unheimlichkeit des Daseins ist das Symptom, dessen Ursache im kommunikativen Versagen liegt. Kann dieser kausale Zusammenhang erfaßt werden, vermag er den Menschen zum willentlichen Vorsatz zu veranlassen, die versäumte Möglichkeit der erfahrenden Begegnung bewußt zu ergreifen. Daß im Gelingen oder Verfehlen von Kommunikation nicht nur über bestimmte Arten menschlicher Interaktion entschieden wird, sondern daß in ihnen die Weise des Seins schlechthin in Frage steht, bekräftigt Jaspers durch die Wahl der Begriffe, die er in diesem Zusammenhang verwendet. Da ein wirkliches Begegnen zweier Individuen nur dann stattfinden kann, wenn beide sich als ebenbürtig und gleichwertig erleben, bedeutet der Wille, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, immer zugleich die Bereitschaft, sich in unvermindertem Maße auch für den Anderen verantwortlich zu fühlen. Verweigerte Bereitschaft läßt den Menschen schuldig sein. In »existentieller Kommunikation« hingegen »ist das Selbst für das Selbst in gegenseitiger Schöpfung« 36.
35 36
Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 56. Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 58.
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XI. In Relation sein
Rede, Verantwortung, Schuld und Schöpfung – die Sprache, in der sich der Weg des Menschen in die Existenz seines Selbst-Seins artikulieren läßt, scheint nur über eine einzige Begrifflichkeit zu verfügen, die nicht mehr allein dem terminologischen Repertoire der Philosophie entstammt. Wenn an dieser Stelle ein Zwischen-Resümee gezogen werden soll, so zeigt sich als tatsächliche Übereinstimmung der bisher betrachteten Denker ihr Wille, eine existentielle Transformation des Menschen zu beschreiben. Dabei ist es von sekundärer Bedeutung, in welcher Form diese Thematisierung erfolgt, ob sie in einer Daseinsanalyse aufgehoben oder in einer Theorie des Bewußtseins verankert ist, ob sie im Kontext einer philosophischen Deutung des Glaubens oder der Integration des Religiösen in das Dasein erscheint. Für Heidegger, Jaspers, Rosenzweig und Lévinas liegt, allen Divergenzen im Detail zum Trotz, der gemeinsame Grund ihres Denkens in der Gewißheit, daß der Mensch nicht ist, um zu sein, sondern um zu existieren. Eine qualitative Definition des Existierens erweist sich dabei als äußerst schwierig, insofern es keine bloß veränderte Form des Seins ist, sondern eine Seinsart eigenen Ursprungs und eigener Natur. In jedem Augenblick ist menschliches Sein Sein-Können, kein vorfindlicher Bestand, der auch nur in irgendeiner Weise als solcher bewertet werden könnte. Die außerordentliche Bedeutung der heideggerschen Frage nach dem Sinn von Sein wird hier noch einmal erkennbar. 1 Findet er diesen Sinn in der Sorge, so impliziert dieser Begriff sogleich die Relation dessen, der sorgt, als Seinsweise desjenigen, der sich verhält – zu sich selbst, zur Welt, zum Anderen – und damit sich selbst auf ein mögliches Sein hin entwirft. 1 Alfred Delp betont 1935 in Tragische Existenz, S. 104: »Und es ist Fortschritt, wenn wieder nach dem Sinn von Sein gefragt wird. Es ist auch hier noch gar nicht lange her, daß man Fragen dieser Art für überflüssig und schädlich hielt. Daß man nur zählen wollte und messen und handgreiflich feststellen.«
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In Relation sein
Das Sein ist dem Menschen nicht absurd, sinnlos oder bedrükkend, durch keine Qualität zu kennzeichnen und doch Sein, das sich in einer inneren Spannung hält – ausgebreitet zwischen Eigentlichkeit und Verfehlung. Auch wenn alle vier Theoretiker einen determinierenden Gestus des Denkens ablehnen, wie er sowohl einer doktrinären Festschreibung als auch einer imperativischen Weisung zugrunde liegt, die dem Menschen etwas als Erstrebenswertes präsentieren, lassen sie keinen Zweifel daran: Die dem Menschen entsprechende Seinsweise ist diejenige der Existenz. Nur in ihr eignet sich der Mensch das Sein als ›sein‹ Sein an. Er macht es zu seiner Sache, die ihn angeht, herausfordert, ihm die Bereitschaft abverlangt, sich selbst, das Sein und das Denken des Seins radikal in Frage zu stellen. Daß aus dieser Bereitschaft eine Veränderung der Haltung des Menschen zum Sein folgt, führt jedoch nicht zwingend auch zu verändertem Handeln im Dasein. Immer wieder wird vor diesem Hintergrund das Fehlen konkreter Handlungsorientierungen in der Existenzphilosophie kritisiert. Der Vorwurf, trotz der extremen Akzentuierung menschlicher Freiheit nicht in einer tatsächlichen moralischen Aussage zu münden, trifft das Denken der Existenz wiederholt. So scheint die paradoxe Folgerung zu entstehen, daß ein Denken, das sich die neue Bestimmung menschlichen Seins auf die Fahnen schreibt, letztlich vor der entscheidenden Frage kapituliert, welche Konsequenzen diese Bestimmung für das menschliche Miteinander hat. Diese Ansicht wäre allerdings zu leichtfertig formuliert. Denn ist das Verhalten des Einzelnen zu dem Sein, das ihn in jedem Augenblick umgibt, nicht mehr durch Indifferenz, Unachtsamkeit oder Unbedachtheit gekennzeichnet, relativiert sich die Notwendigkeit, konkrete Handlungsanweisungen zu fixieren, erheblich. Das bedeutet nicht, daß existenzphilosophische Theorien eine Ethik, die sich explizit als imperativisch versteht, überflüssig werden lassen. Doch integrieren sie ethische Unterweisung bereits in ihre Bestimmungen des Seins. Da dieses nicht mehr in ontisch-ontologischer Separation gedacht wird, sondern in seiner einheitlichen Struktur der Relation, ist jedes Sprechen über Sein zugleich immer ein Sprechen über Verhalten. Handeln ohne ihm zugrundeliegendes Verhalten könnte nach Ansicht der hier vorgestellten Denker aber allzu leicht als ein Agieren erscheinen, das zwar äußerlich durchaus gesetzeskonform sein mag, jedoch die grundsätzliche Haltung des Einzelnen zu dem Sein, dessen Teil er ist, nicht respektiert. 180 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
XII. Schuld
XII.1
Karl Jaspers
Gerade am Phänomen der Schuld müßte sich ein erster Anhaltspunkt für die spätere Eruierung finden lassen, ob der Vorwurf, Existenzphilosophie formuliere keine Handlungsmaxime, zu Recht erhoben wird. Denn je nachdem, ob Schuld als Indiz faktischen Fehlverhaltens oder als Erfahrung individuellen Versagens gewertet wird, signalisiert ihr Erfassen doch stets eine Reflexion eigenen Tuns im weitesten Sinne. Schuldig wird ein Mensch also im Rahmen vorgegebener Verhaltenskodierungen, sei es gesellschaftlichen oder religiösen Ursprungs – zumindest in herkömmlicher Sichtweise. Schuld im existentiellen Kontext zeigt deutlich modifizierte Facetten, ohne daß dadurch der durch sie eingeleitete Reflexionsprozeß als solcher beeinträchtigt würde. Dieser Vorgang, der den Menschen dazu veranlaßt, sich selbst in seinem Agieren im Dasein zu überprüfen, ist für das Denken der Existenz unverzichtbar. Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen könnte, als wäre dieses nicht wirklich an der Übernahme tradierter Werte des Handelns und Normierungen des Denkens interessiert, bedeutet das keineswegs, daß es nicht selbst eine Orientierung auf ein ›eigentliches‹ Sein fordern würde, das es anzustreben gilt. Ein objektives ›Maß‹ der ›Eigentlichkeit‹ kann es allerdings, schon aufgrund der Unvereinbarkeit beider Begriffe, nicht geben, was die Beantwortung der Frage umso dringender fordert, wo der einzelne Mensch dann den Maßstab seiner Selbst-Beurteilung zu finden vermag. Wenn auch nicht objektivierbar, muß er dem Bewußtsein doch als scheinbar externes Kriterium dienen, an dem eine Überprüfung der Selbst-Wahrnehmung stattfinden kann. Diese Vorstellung des externen Regulativs vertreten alle hier vorgestellten Denker, wobei die Bestimmung, wo es sich findet, markant variiert. Unabhängig davon, ob es im Selbst, im anderen Menschen oder in Gott ge-
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Schuld
sehen wird, hat es stets dieselbe Funktion – die Ermöglichung interaktiver Selbst-Vergewisserung. An diesem Punkt kehrt existenzphilosophisches Denken wieder zu der herkömmlichen Sichtweise von Schuld zurück, die immer eine Verfehlung von Möglichem ist, leugnet aber die Gültigkeit eines objektivierbaren Maßstabes zu ihrer Ermittlung. Schuld als Verfehlung im zwischenmenschlich Möglichen – so kann die Auffassung von Jaspers verstanden werden. »Daß Kommunikation versagt, wird mir wesentlich meine Schuld. […] Jedes Verlieren und Versagen in Kommunikation ist wie eigentlicher Seinsverlust. Sein ist Miteinandersein nicht nur des Daseins, sondern der Existenz, […].« 1
Im Gegensatz zu einem richterlichen Schuld-Spruch, der ein abgeschlossenes Handeln oder Verhalten bewertet und den Menschen auf seine Verirrung verpflichtet, entsteht hier das Bewußtsein des Schuldig-Seins im Einzelnen selbst, noch bevor ein Gegenüber ein Urteil über ihn fällen könnte. Ganz im Gegenteil – der sich schuldig Fühlende gibt sich erst dem Anderen als derjenige zu erkennen, der um die Bedeutung tatsächlichen Versäumnisses innerhalb der Begegnung weiß. »Kommunikation ist Existenzursprung; soviel in ihr an meiner Freiheit liegt, ist in ihr Verdienst und Schuld.« 2
Könnte hier vermutet werden, daß eine bewußte Einflußnahme auf das Gelingen von Kommunikation instrumentalisiert werden kann, um gemessen an ihm Existenz zu gewinnen, blockiert Jaspers diese Folgerung sofort, wenn er konstatiert: »Alles Existentielle steht außerhalb der Objektivitäten, die ich zweckhaft wollen oder nicht wollen kann.« 3
Jaspers unterscheidet zwischen dem äußerlichen Kriterium, an dem sich eine eventuelle Schuld bemißt, und der Erfahrung des Ich, das sich schuldig fühlt. Entscheidend ist dabei, daß der Mensch schuldig ›wird‹, da es eine zeitliche Abfolge von Verhalten und Reaktion gibt, die wiederum konstitutiv für das Bewußtsein des Schuldig-›Seins‹ ist. Mit dieser Sicht bleibt Jaspers der kausalen Struktur des herkömm1 2 3
Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 57 f. Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 60. Jaspers, Philosophie II, I.3, S. 60.
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Martin Heidegger
lichen Schuld-Verständnisses weitgehend verpflichtet, modifiziert dieses lediglich, indem er Schuld nicht mehr als externe Zuweisung, sondern als internalisiertes Erleben deutet.
XII.2
Martin Heidegger
Ganz anders Heidegger. In seiner Auffassung wird der Mensch nicht schuldig durch sein Verhalten, sondern er ist dadurch schuldig, daß er ›ist‹. Um diese ungewöhnliche Perspektive begründen zu können, »[…] muß die Idee von ›schuldig‹ soweit formalisiert werden, daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen« 4.
Fast alle im herkömmlichen Sprachgebrauch anklingenden Bedeutungen des Begriffes der Schuld sollen ausgeblendet werden, so daß nur noch eine letzte, nicht weiter reduzierbare Fassung verbleibt. »Die formal existenziale Idee des ›schuldig‹ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« 5
Diese Nichtigkeit bezeichnet in keiner Weise mehr ein konkretes Versagen, Versäumnis oder Fehlverhalten, verweist damit aber auch nicht mehr auf ein Schuldig-Werden am anderen Menschen, wie es im jasperschen Sinne gedacht werden kann. Heidegger verankert seine Interpretation von Schuld ganz in der Analyse des Daseins, wie die bipolare Funktion des Begriffspaares »Geworfenheit« und »Entwurf« zeigt. Als faktisch Gegebenes – Geworfenes – vermag das Dasein nicht, Grund seiner selbst zu sein, da dieses lediglich in der Seinsweise des Existierens möglich wäre, die wiederum niemals als Faktizität, sondern immer nur als Möglichkeit – Entwurf – gedacht werden kann. »Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein. Dieses Nicht gehört
4 5
Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 283. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 283.
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Schuld
zum existentialen Sinn der Geworfenheit. Grundseiend ist es selbst eine Nichtigkeit seiner selbst.« 6
Trotz der deutlich von Jaspers’ Verständnis abweichenden Deutung des Schuld-Phänomens stimmt Heidegger mit ihm doch darin überein, daß auch er das dem Menschen eigentümliche Existieren als die zu ergreifende Seinsweise betrachtet, dieses also vom Dasein qualitativ unterscheidet. So importieren beide in das eher starre Bild eines Seins, das der Mensch nicht begründen, sondern allenfalls übernehmen kann, eine über dieses Sein hinausweisende existentielle Ausrichtung, die die Statik der Geworfenheit in der Dynamik des Entwerfens auflöst. Daß Heidegger diese nur dem Menschen mögliche Transformation des Seins mit dem Gedanken des Schuldig-Seins illustriert, verwundert auf den ersten Blick weitaus mehr, als wenn Jaspers den Begriff der Schuld verwendet, um ein Versagen innerhalb der Kommunikation zu bezeichnen. Auf den personalen Bezug, der hier gegeben ist, verzichtet Heidegger explizit und konzentriert das Geschehen der Schuld, Grund für eine Nichtigkeit zu sein, ausschließlich auf die Positionierung des Menschen im Sein. Die Deutung des Begriffes im Sinne des ›Grund für einen Mangel seins‹ trifft eher auf Jaspers Ansicht zu, demzufolge ein Mensch Grund für einen Mangel an tatsächlicher Begegnung mit dem Anderen werden kann. Allerdings würde man dessen Gedanken der Kommunikation zu eng fassen, wenn man in ihr nur eine Form interpersonalen Geschehens sehen würde, so wichtig diese zweifellos auch ist. In der existentiellen Kommunikation bereitet sich eine Seins-Modifikation vor, die derjenigen, von der Heidegger überzeugt ist, ähnelt. Die unüberbrückbare Differenz zwischen den beiden Interpretationen von Schuld besteht also darin, daß sie für Jaspers ein soziales, für Heidegger hingegen ein singuläres Phänomen ist. Im ersteren Fall braucht der Mensch den Anderen, um sich selbst reflektieren und seine Option auf Eigenständigkeit als existentielle Möglichkeit begreifen zu können; im zweiten Fall muß der Mensch seine Situierung im Sein reflektieren, um seine Eigentlichkeit als Modus der Existenz begründen zu können. Eine spezielle Angewiesenheit auf den anderen Menschen ist, zumindest in Sein und Zeit, nicht nachweisbar, obwohl der Andere als Mitseiender stets zum Dasein des Einzelnen 6
Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 284.
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Franz Rosenzweig
gehört. Mitsein ist für Heidegger eine ontologische, keine soziale Kategorie. Für beide Denker markiert der Begriff der Schuld jenes Umschlagen unreflektierten Daseins in reflektierende Selbst-Vergewisserung, innerhalb derer sich das Bewußtsein der Möglichkeit, anders sein zu können, in die Forderung, anders zu sein – zu existieren – verwandelt. Daß dieser Aufruf nur aus dem Verständnis des Seins selbst resultieren kann, das sich der einzelne Mensch aneignet, ist für Heidegger die Grundlage, für Jaspers die Folgerung der Betrachtung des Phänomens der Schuld.
XII.3
Franz Rosenzweig
Wie wird ein Denker, der im Gegensatz zu den beiden zuletzt Genannten erklärtermaßen in einem religiösen Raum verwurzelt ist, dieses Phänomen betrachten? Für Franz Rosenzweig scheinen von Anfang an andere Parameter des Denkens zu gelten, insofern er nicht an der Anwesenheit eines Gottes, der gebietet und offenbart, zweifelt. Schuldig müßte demnach der Mensch werden, der die Befolgung göttlicher Geboten verweigert. Mit Blick auf das eigentliche Gebot des jüdischen Glaubens verdeutlicht Rosenzweig sein Verständnis menschlicher Verfehlung, nicht mit dem Begriff der Schuld, sondern demjenigen der Sünde verknüpft. »Dem Ich ant-wortet in Gottes Innerem ein Du. Es ist der Doppelklang von Ich und Du im Selbstgespräch Gottes bei der Schöpfung des Menschen. Aber so wenig wie das Du ein echtes Du ist, denn es bleibt noch in Gottes Innerem, so wenig ist das Ich schon ein echtes Ich; denn es ist ihm noch kein Du gegenübergetreten; erst indem das Ich das Du als etwas außer sich anerkennt, also erst indem es vom Selbstgespräch zum echten Dialog übergeht, wird es zu jenem [echten] Ich, […]«. 7
Das Gegenüber als Konstituens der Begegnung – für Rosenzweig, Jaspers und, wie sich noch zeigen wird, Lévinas alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sondern außerordentlich und unverzichtbar gleichermaßen. 7
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 194 f.
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Schuld
Im »Offenbarungsdialog« 8, in dem Gott den Menschen anspricht, ihm gebietet, ihn zu lieben, zeigt sich in Rosenzweigs Sicht jenes einzigartige Geschehen einer tatsächlichen Begegnung, die zwei eigenständige Wesen in der Rede aufeinander verweist. »Das eigentliche, das unselbstverständliche, das betonte und unterstrichene Ich kann erstmalig laut werden in dem Entdecken des Du.« 9
Dieses Du tritt dem Menschen entgegen, fordert ihn unter der Nennung seines Namens auf, sich zu zeigen und erwirkt so von diesem die erste ihn sich als Ich zeigende Selbst-Vergewisserung: »›Hier bin ich.‹ Hier ist das Ich. Das einzelne menschliche Ich. Noch ganz empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne Wesen, reine Bereitschaft, reiner Gehorsam, ganz Ohr. In dieses ge-horsame Hören fällt als erster Inhalt das Gebot. […] Du sollst lieben.« 10
Aufgerufen sein, sich zu erkennen geben, hören und Gehorsam üben – für Rosenzweig verbürgt sich in dieser Folge die Genese des selbstbewußten Menschen in der bereits skizzierten Verwandlung vom Selbst zur liebenden Seele. Denn in dem Moment, in dem der Mensch dem Gebot, zu lieben, antwortet, indem er sich als den Liebenden begreift, ereignet sich eine unvergleichliche Offenbarung nicht nur des zu Liebenden, sondern auch des Selbst, das solange nicht es selbst zu sein vermochte, wie es nicht von einem Gegenüber aufgerufen wurde, es zu sein. »Und doch wäre die Liebe nicht das Erschütternde, Ergreifende, Umreißende, wenn die erschütterte, ergriffene, umgerissene Seele nicht sich bewußt wäre, daß sie bis zu diesem Augenblick unerschüttert und unergriffen gewesen wäre.« 11
Aufgerufen zum Bewußtsein – ist es erforderlich, hier auf die Ähnlichkeit zum Denken Martin Heideggers hinzuweisen? Das Hören als Bereitschaft, doch noch nicht verwirklichte Einwilligung, das AnrufVerstehen als sich gerufen-Fühlen, der Ruf als Aufforderung und Gebieten, die Scham, bei Rosenzweig als Eingeständnis des Begreifens, vor dem Gebot kein Liebender gewesen zu sein und dadurch gesün-
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 198. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 195. 10 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 196. 11 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 200. 8 9
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Emmanuel Lévinas
digt zu haben. Ähnlich sind diese Gedanken und doch völlig unvergleichbar. Anrufung als Initiationsritus zur Eigentlichkeit, bezeugt und bekundet. »Aus dem Sündenbekenntnis springt hervor das Glaubensbekenntnis« 12, schreibt Franz Rosenzweig, und Martin Heidegger fragt wenige Jahre später, »[…] inwieweit überhaupt und in welcher Weise das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis gibt von einer möglichen Eigentlichkeit seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht nur als existenziell mögliche bekundet, sondern von ihm selbst fordert« 13.
Die absolute Glaubensgewißheit, aus der Rosenzweig denkt und schreibt, ist Heidegger zu einer absoluten Seinsgewißheit geworden, deren Gültigkeit keines Beweises bedarf und dennoch den Menschen zu Bewußtsein gebracht werden muß. Es fällt nicht leicht, den jüdischen Denker Franz Rosenzweig und den deutschen Philosophen Martin Heidegger in einem Atemzuge zu nennen – und doch zeigen ihre Schriften Parallelen, die zu bemerkenswert sind, um sie nicht zu betrachten. Die Verwandlung des Selbst zur liebenden Seele ist in Rosenzweigs Verständnis keine willkürlich einsetzende Erweiterung, ja nicht einmal Vervollständigung des Ich, das sich seiner selbst bewußt wird. Weit darüber hinausgreifend, handelt es sich um ein Transzendieren dieses Ich, ein Verlassen aller bisherigen Konzentration auf sich selbst. Ausgehend vom Ich öffnet das Selbst sich ausgerichtet auf das Gegenüber, dessen Existenz als diejenige des zu Liebenden erfahren wird. Aber nicht einmal diese liebende Hinwendung zu Gott, dem Anderen schlechthin, erfolgt spontan und eigenem Verlangen gemäß, sondern ist Inhalt eines Gebotes, einer Weisung – ›Du sollst mich lieben‹.
XII.4
Emmanuel Lévinas
Imperativ der Zuneigung – Rosenzweig selbst fragt als erster, ob hierin nicht eine schier unauflösliche Paradoxie liegt.
12 13
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 202. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 267.
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Schuld
Reduziert das Gebot, zu lieben, die notwendige Voraussetzung der Liebe, sich frei dem Gegenüber zu verschreiben, ist doch nur in der nicht erzwungenen Zuneigung jenes Maß an Aufrichtigkeit und unverstellter Offenbarung des Selbst möglich, die dem Anderen das Gefühl vermittelt, geliebt zu sein? Und gilt eine ganz ähnliche Voraussetzung nicht auch für das Entstehen von gegenseitiger Wertschätzung, die den Menschen daran glauben läßt, von seinem Gegenüber geachtet zu werden, nicht weil es eine Weisung gebietet, sondern der reinen Anerkennung des Anderen folgt? Emmanuel Lévinas müßte diese Annahme radikal zurückweisen, insofern er mit einer unvergleichlichen Entschlossenheit jedes Element der wählenden und erwählenden Spontaneität, die von einem Menschen als Form seiner Achtung des Anderen ausgehen könnte, negiert. Sein gesamtes Denken entspringt aus der Frage, die er immer wieder in seinen Schriften artikuliert, so etwa in Totalität und Unendlichkeit: »Wie aber kann das Selbe, das als Egoismus auftritt, eine Beziehung mit einem Anderen eingehen, ohne es sogleich seiner Andersheit zu berauben?« 14
Daß der Begriff der »Beziehung« hier nur ansatzweise jene komplexe Bezogenheit zweier Individuen aufeinander ausdrückt, wird besonders dann deutlich, wenn die zahlreichen motivischen Umschreibungen berücksichtigt werden, die Lévinas immer wieder zur Verdeutlichung ihrer inneren Dynamik verwendet. So spricht er von einer Haltung der Herrschaft, die das Selbst, das sich als Subjekt einer ErkenntnisRelation versteht, auf sein Gegenüber ausübt und es damit in Knechtschaft an seine Form der Erfahrung bindet. Diese Gewalt über den Anderen zeigt sich nicht nur etwa in einer Fehleinschätzung des Gegenübers, sondern in dessen Verletzung, in der Enteignung seiner Möglichkeiten, in dessen Tod – Metaphorik auch jener infernalischen Entartung der Menschlichkeit, die sich in der Vergangenheit zeigte. Die extreme Bedeutung, die Lévinas der Relation zum Anderen attestiert, übertrifft jede nur erkenntnistheoretisch relevante Bewertung und sogar jede interpersonale Dimension, da sie Ausdruck einer absoluten Beziehung sein soll. 15 Eine erkenntnistheoretische Betrach14 15
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A.2, S. 43. Madeleine Fagan, Ethics and politics after poststructuralism, S. 44: »He is explicitly
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Emmanuel Lévinas
tung würde seiner Auffassung nach die Verknüpfung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt thematisieren und dabei die historisch bedingte Überschätzung des Subjekts demaskieren, das sich selbst zum Maßstab der umgebenden Realität setzt; ohne Frage ein wesentliches Ergebnis kritischer Reflexion der philosophischen Tradition, doch nicht weitreichend genug. Unter interpersonaler Perspektive würde das konkrete Geschehen der Begegnung zweier Wesen zu betrachten sein, die sich im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Konventionen und individuellen Erwartungen entweder aufeinander einlassen oder einander zurückweisen; unverzichtbarer Bestandteil soziologischer und psychologischer Studien, doch nicht elementar genug. Die Relation, die Lévinas als »absolut« begreift, läßt sich gerade nicht in einer Detailbetrachtung erfassen, ist nicht das Ergebnis empirischer Forschung, sondern sie erscheint als das Ideal der Möglichkeit von Begegnung schlechthin. Noch bevor Lévinas in einem ersten Ansatz versucht, eine Beziehung von solch unmittelbarer Präsenz und solch abstrakter Grundsätzlichkeit zu beschreiben, werden Ausmaß und Schwierigkeit dieses Versuches erahnbar. Es soll nicht aufgezeigt werden, wie zwei Individuen in scheinbar situativer Beiläufigkeit aufeinandertreffen, was dann zur Folge hätte, daß die ethische Form einer solchen Begegnung zu reflektieren wäre. Diese Sichtweise würde die ethische Dimension zu einer verhandelbaren Größe menschlichen Miteinanders machen, die letzten Endes die Frage nach dem rechten Verhalten von der spezifischen Situation abhängig erscheinen ließe, in der sie entsteht. Das rechte Verhalten ist für Lévinas keine Weise, sich in einer Situation zu bewähren oder in ihr zu versagen, sondern ist Ausdruck der ethischen Forderung, dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihm sein kraft seiner Andersheit zukommendes Recht auf Eigenheit nicht streitig zu machen. 16 Diese Eigenheit, die sich nur unconcerned with offering an alternative to universalisation and totalisation, which he does through reconfiguring the idea of relation with a focus on the Other. This leads to two interrelated insights, which shape the rethinking of ethics in terms of relationality: first, the presentation of subjectivity as relational and responsible; second, the immediate, pre-conscious and thus non-theoretical nature of responsibility.« 16 Bernhard Waldenfels in Lévinas and the face of the other, S. 78 bemerkt kritisch: »However, we must admit that political, juridical, linguistic or cultural orders are neither created by the other’s demand nor by its correction. They require a sort of
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zureichend im Bild einer persönlichen Besonderheit oder individuellen Natur fassen läßt, besteht zugleich mit einer Andersheit, die dem Menschen von Anfang an eignet – und dieses gerade nicht gemessen an einem bestimmten Anderen, der sich als Maß zum wertenden Subjekt deklariert, sondern ohne Maß, also ohne Vergleich und damit ohne Bezug. Wie sonst sollte der Andere, um an die bereits zitierte Frage von Lévinas zu erinnern, seine Andersheit in der Begegnung bewahren können, als wenn sie sich dem Selben uneinnehmbar, unüberwindbar, absolut widerständig zeigen würde, obwohl sie es de facto niemals sein kann? Der Mensch, der in den Darstellungen von Lévinas fast funktional zum Anderen hypostasiert wird, bedarf doch zugleich des Schutzes, der seine existentielle Verwundbarkeit verbirgt und sie gerade dadurch nur umso offensichtlicher zu Tage treten läßt. Der Mensch ist ja nach wie vor verletzlich, der Willkür seines Gegenübers ausgeliefert, auf dessen Anerkennung angewiesen und möglicherweise in dessen Verachtung verloren. An der faktischen Situation menschlichen Miteinander-Seins vermag keine Theorie auch nur das mindeste zu ändern. Aber der Mensch kann seinem Gegenüber etwas zu erkennen geben, das dieser als unüberwindbaren Schild auffaßt, das den Anderen von ihm trennt, vor ihm in Sicherheit bringt, nicht, weil der Andere in Sicherheit wäre, sondern weil ihm vor jedem konkreten In-Beziehung-Treten das Recht auf Unversehrtheit zugesprochen wird. Im Mittelpunkt von Rosenzweigs Theorie steht das von Gott dem Menschen gegenüber artikulierte Gebot, ihn zu lieben, der Imperativ als Initiationsformel der Hinwendung zum Anderen. Obwohl auch Lévinas von einer »›Imperativität‹ dieses ursprünglichen Imperativs« 17 spricht und dabei das Erscheinen des anderen Menschen intendiert, würde doch ein Gebot als dieser Schild, der sich schützend zwischen den einen und den anderen Menschen schiebt, noch zu stark die vielleicht auch nur theoretische Möglichkeit seiner Mißachtung beinhalten. Im Gebot, und selbst dann, wenn es creative response to the other. Because Lévinas simply presupposes such orders without questioning their origin a hole seems to open in Lévinas’s ethics of the other which should not be papered over.« 17 Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, IX, S. 261.
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göttlichen Ursprungs ist, kann immer noch zwischen dem gebietenden Wort und seinem Sprecher unterschieden werden. Das ›Sollen‹ läßt, da es letztlich nur ein gewählter Ausdruck ist, immer noch seinen Gegensatz, das ›Können‹, und damit die willentlich auszutragende Abwägung zwischen beiden, zu. Will Lévinas Bedingungen einer Relation zwischen Individuen schaffen, in denen es gar nicht erst zu einer Entscheidung darüber, wie die Begegnung erfolgen könnte, kommen kann, muß er eine Form der Unterweisung beschreiben, die noch ursprünglicher als das Gebot, noch elementarer als das Wort ist und doch im Ausdruck entsteht. Diese Form findet Lévinas im Begriff des »Antlitzes« 18. »Der Andere, der mir souverän Nein sagen kann, setzt sich der Spitze des Schwertes oder der Revolverkugel aus, […]. Auf diese Weise setzt er mir nicht eine größere Kraft entgegen – eine Energie, die bewertbar ist und sich infolgedessen darstellt, als sei sie Teil eines Ganzen –, sondern die eigentliche Transzendenz seines Seins im Verhältnis zu diesem Ganzen; nicht irgendeinen Superlativ an Macht, sondern gerade die Unendlichkeit seiner Transzendenz. Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Antlitz, ist sein Antlitz, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ›Du wirst keinen Mord begehen.‹« 19
Der Andere, dessen uneinnehmbare Andersheit sich im Antlitz ausdrückt, ohne sich dabei in einer physischen Präsenz zu erschöpfen, Dieser Begriff ist immer wieder Gegenstand der Interpretation. So schreibt Waldenfels, ebd., S. 63: »The otherness or strangeness of the other manifests itself as the extraordinary par excellence: not as something given or intended, but as a certain disquietude, as a dérangement which puts us out of our common tracks. The human face is just the foyer of such bewilderments, […].« Martin C. Srajek, In the margins of deconstruction, S. 103 f.: »Lévinas’ approach contains notions about an ethical basecommunity […]. The foremost aspect of this communal ethics is the face. In it Lévinas captures an aspect of materiality that is crucial for seeing that his philosophy of the other is not just a reversed phenomenological idealism. The face of the other is the real face in front of me. It is open to sense-perception. That is, when I see the other’s face I enter an aesthetic relation with her which bears the potential for ethical transcendence. This transcendence results not only in a kind of ethical universalism but in my true responsibility towards my neighbor.« Benny Lévy, Visage continu, S. 29: »En un point décisif, la notion d’›altérité‹ est percée, comme la ›forme‹ de cette limite extrême du corps humain est ›percée‹, lorsqu’apparaît le Visage. Lévinas dé-formalise l’altérité dans l’oppsition absolue, dans la trouée de l’horizon. La confrontation avec Sartre a permis d’élucider ce point: Autrui, en un sens extravagante, n’a pas le ›même mode d’être que moi‹.« 19 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, III, B.2, S. 285. 18
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gebietet seinem Gegenüber in suggestiver Unmittelbarkeit, auf sein Können zu verzichten, indem er »das Vermögen durch seinen unendlichen Widerstand [paralysiert]« 20. Einzigartige Radikalität des Gedankens, der vor aller ethischen Weisung auf eine Unterweisung setzt, die dem Sein des Menschen gleich ursprünglich ist. Riskante Einzigartigkeit der Überzeugung, daß der Mensch sich von der Forderung, die von jedem Anderen ergeht, zum Verzicht auf seine Möglichkeiten auffordern läßt. Der Wille als Instanz einer solchen Entscheidung wird dabei ebenso außer Kraft gesetzt wie jedes konkrete Wollen des Individuums, so daß Lévinas eindrucksvoll und stimmig davon sprechen kann, daß der Andere dieses Individuum »leere« 21. Ist aber ein Verhalten, das aus keiner tatsächlichen Entscheidung, keiner wissentlich vollzogenen Abwägung und keiner gewählten Affirmation resultiert, überhaupt noch als solches zu bezeichnen? Erstarrt es nicht in einer Haltung, die dem Menschen durch sein bloßes Sein zukommt und damit jeder willentlichen Befürwortung vorausgeht? »Das zum Anderen verurteilte, das dem Anderen ergebene Selbe: ethisches Denken, Sozialität, die Nähe der Brüderlichkeit ist, die nicht Synthese ist.« 22
Dévotion – Bestimmt-Sein, Ergeben-Sein, Geweiht-Sein; der inneren Struktur nach der genaue Gegenentwurf zum gemeinhin als existenzphilosophisch deklarierten Geworfen- und Verdammt-Sein. Sein aus dem Mittelpunkt der Gnade, das den Menschen nicht sein läßt, ohne ihn gleichermaßen zu fordern und zu tragen. Hierin liegt die seltene Doppelstruktur des lévinasischen Denkens: Wie kein zweites belädt es menschliche Existenz mit der fast übermächtig wirkenden Last der Verantwortung für den Anderen, fängt diese Belastung aber zugleich in der elementaren Bezogenheit auf den Anderen auf. »Verantwortung über das hinaus, was ich dem Anderen gegenüber begangen oder nicht begangen haben kann und über all das hinaus, was meine Tat hat sein können oder nicht hat sein können, als ob ich zum Anderen ver-
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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, III, B.2, S. 285. Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 219. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, VIII, S. 217.
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urteilt wäre, bevor ich zu mir selbst verurteilt bin. […] Verantwortung ohne Schuld, in der ich dennoch einer Anklage ausgesetzt bin, […].« 23
Natürlich erinnert die Beschreibung dieser Schuldhaftigkeit an die Vorstellung der Erbsünde, von Generation zu Generation fortgetragen und dem Einzelnen auferlegt, ohne daß er auch nur ein erstes Mal selbstverantwortet hätte schuldig werden können. Doch gerade diese Betrachtungsebene, die dem konkreten Handeln des Einzelnen gilt, verläßt Lévinas gezielt, da sie den Eindruck erwecken könnte, die Verantwortung für eine begangene Tat sei eine Frage der Entscheidung. Ein Mensch ›handelt‹ und ›kann‹. Er sollte nach moralischem Verständnis die Verantwortung für sein Tun übernehmen, als Beweis und Beleg seiner unverwechselbaren Urheberschaft. Dann jedoch würde eine Argumentation, die dieses Bekenntnis als sinnvoll erscheinen läßt, erforderlich, ein ethischer Grund, der dem Menschen die Übernahme der Verantwortung nahelegt, obwohl er sie ebensogut gar nicht in Betracht ziehen könnte. Verantwortung zu tragen bedeutet, zu der Tatsache, Grund für etwas zu sein, zu stehen, und in einem weiteren Schritt, für die Folgen des so Verursachten einzustehen. Die Urheberschaft, die Lévinas dem Individuum abverlangt, greift jedoch weit über dessen auch nur mögliches konkretes Ursache-Sein hinaus. Sie gilt vielmehr der Tatsache der Anerkennung und Bezeugung der grundsätzlichen und immer schon bestehenden Verwiesenheit menschlichen Seins auf den Anderen, dessen so anerkannte und bezeugte Gegenwart ihn zum Nächsten werden läßt. »Die Verantwortung für den Nächsten liegt meiner Freiheit zuvor in einer unvordenklichen Vergangenheit, […]. Gebot eines Gottes, der ›den Fremden liebt‹, eines unsichtbaren, nicht thematisierbaren Gottes, der in diesem Antlitz sich ausdrückt und den meine Verantwortung für den Anderen bezeugt, ohne sich auf eine vorgängige Wahrnehmung zu beziehen.« 24
Es könnte sich leicht der Gedanke aufdrängen, daß Lévinas hier eine Verpflichtung thematisiert, die aller tatsächlichen Begegnung eines anderen Menschen vorausgeht. Doch würde selbst diese Assoziation noch zu kurz greifen. Er kann sich nicht damit begnügen, eine VerLévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, VIII, S. 218. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, VIII, S. 218 f. Zum Motiv der unvordenklichen Vergangenheit siehe auch Humanismus und An-archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 82.
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pflichtung zu fordern, da selbst diese noch durch den Willen des Menschen negiert und, so paradox es auch klingen mag, gewollt werden könnte. 25 »Die Verantwortung für den Anderen kann nicht in meinem Engagement, nicht in meiner Freiheit ihren Anfang haben. Die grenzenlose Verantwortung, in der ich mich vorfinde, kommt von diesseits meiner Freiheit, von einem ›Früher-als-alle-Erinnerung‹, einem ›Später-als-alle-Vollendung‹, vom Un-gegenwärtigen, dem schlechthin Nicht-ursprünglichen, An-archischen, von einem Diesseits-oder Jenseits-des-seins.« 26
Verantwortung als Verwiesenheit an den Anderen, nicht im Sinne einer Haltung oder Handlung, situativ bedingt und fakultativ, sondern als Zeichen einer Weise, Mensch zu sein, für deren Benennung der Begriff des Seins und sogar der der Existenz nach lévinasischer Überzeugung kaum noch taugt. Und dennoch stellt sich die Frage, ob Lévinas mit diesem Ansatz der heideggerschen Konzeption von Mitsein nicht gefährlich nahe kommt – zu nahe jedenfalls, um ihr nicht umgehend begegnen zu müssen, zumindest nach seiner Überzeugung. Die Bezogenheit vom Selben auf den Anderen, die bei Lévinas im Begriff der unvordenklichen Verantwortung jeder tatsächlichen Verfehlung vorausgeht, erinnert zwar entfernt an die Tatsache des Seins der Anderen als Konstituens des Daseins. Doch weitaus stärker drängt sich eine mögliche Parallelität zu Heideggers Gedanken auf, demzufolge Seiendes je schon in Bezug zum Sein steht. Hier greift Heidegger zu den Begriffen des Rufes, der Schuld als Siglen einer vor-rationalen und vorzeitlichen Bindung des Daseins an das Sein, die es im Augenblick der Antwort, der Ver-Antwortung zu bezeugen gilt. Auf der Grundlage von Sein und Zeit muß dieses Bezeugen wie ein einsamer Akt wirken, in dem sich der Einzelne, den Ruf des Seins vernehmend, seiner Hüterschaft dieses Seins erinnert und sich deren Verwirklichung ganz und gar verschreibt. Gegen dieses Bild, das Heidegger vom Dasein zeichnet, argumentiert Lévinas leidenschaftlich und unermüdlich. Denn das elitäre Heroentum, das er in Heideggers Begriff der Schuld sieht, symbolisiert in seiner Überzeugung die philosophische Rechtfertigung des ideologischen Wahns im 20. Jahrhundert. »[…] so daß die Verantwortung für die Anderen unter keinen Umständen bedeuten kann: Wille zum Altruismus, Antrieb aus ›natürlichem Wohlwollen‹ oder Liebe.« Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, IV.3, S. 247. 26 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, I.5, S. 40. 25
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Fraglich bleibt hingegen, ob Heidegger nicht speziell in seiner These des Gevierts ein komplexes Gefüge der Bezogenheit des Menschen auf die ihn umgebenden Phänomene entworfen hat, das einerseits seine ontologische Funktionsanalyse aus Sein und Zeit deutlich modifiziert und das andererseits einen Vergleich mit dem lévinasischen Konzept der Verantwortung zumindest ansatzweise zuläßt. Gerade im Gedanken des Gevierts scheint Heidegger die Einbeziehung der Zeitlichkeit des Seins offensichtlich nicht für notwendig zu halten, ganz anders als in seinem frühen Text. Denn hier zielt er auf die Darlegung einer Relation zwischen Mensch und Welt, die sich ganz in der Gegenwart ereignet, nicht im Sinne des ›Heute‹, sondern im Sinne der Gegenwärtigkeit, der Vergegenwärtigung. Was für Heidegger Verantwortung für das Sein als Aufruf zur Eigentlichkeit im Dasein ist, muß Lévinas als a-personale Hingabe an einen abstrakten Wert erscheinen, für dessen Wahrung sich der Einzelne zum Erfüllungsgehilfen degradiert und sich damit, was die tatsächlich fatale Konsequenz darstellt, vom anderen Menschen abwendet. 27
Jacques Derrida setzt sich durchaus kritisch mit Lévinas’ Heidegger-Deutung auseinander, wie sich noch zeigen wird. John Llewelyn bemerkt dazu in Appositions of Jacques Derrida and Emmanuel Lévinas, S. 147: »Turning to Levinas’ polemic with Heidegger, Derrida asks, What about Fürsorge, Seinlassen, and Sein? Do not these Heideggerian notions accommodate the respect for the Other that Levinas believes Heidegger’s thinking fails to show?« 27
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XIII. Sein oder Existenz
XIII.1 Emmanuel Lévinas Wie interpretiert Lévinas also den Begriff des Seins, und bezieht er diese Deutung immer auf Heidegger? Wie sich bereits in früherem Kontext gezeigt hatte, korrespondiert seine frühe Schrift Ausweg aus dem Sein von 1935 noch deutlich jener Auffassung vom Sein, wie sie von Sartre fiktional in Der Ekel und theoretisch in Das Sein und das Nichts dargestellt wird – als Überfülle des Seienden, dessen massive Präsenz vom Menschen weder hinsichtlich eines Ursprungs noch hinsichtlich einer möglichen Struktur erschlossen werden kann und infolgedessen das Bedürfnis hervorruft, sich von ihm zu separieren. 1 Bereits hier wird die für alle späteren Deutungen charakteristische Verknüpfung der Begriffe vom Sein und vom Ich erkennbar. In der »Evasion«, der Sonderung aus dem Sein, strebt das Ich danach, »[…] die Verkettung […] mit sich selbst zu durchbrechen. […] Das Ich flieht sich in der Evasion nicht, weil es der Unendlichkeit dessen, was es nicht ist oder was es niemals werden kann, entgegengesetzt ist, sondern weil es überhaupt ist oder wird.« 2
Das Ich erlebt sich in einer vermeintlichen Deckungsgleichheit mit dem übrigen Seienden, die in dem Ausdruck des Seins ihren Niederschlag findet. So erfaßt es sich als identisch, weil es sich zunächst gerade nicht vom Sein zu unterscheiden vermag. Das Ich, »das aus sich selbst herausgehen möchte« 3, flieht das Sein und umgekehrt: es flieht das Sein, indem es aus sich herausgeht – eine eindeutige zeitliche oder kausale Abfolge dieses Prozesses läßt sich nicht wirklich ermitteln.
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Lévinas, Ausweg aus dem Sein, VII, S. 57 f. Lévinas, Ausweg aus dem Sein, I, S. 17. Lévinas, Ausweg aus dem Sein, I, S. 17.
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Eine ähnliche Sichtweise präsentiert das vor dem Krieg begonnene und unter den Eindrücken der Gefangenschaft fertiggestellte Vom Sein zum Seienden. Auch hier erscheint Sein als »die Tatsache, daß man ist, die Tatsache, daß es gibt« 4, in der ganzen bedrängenden Anonymität und relationslosen Kälte, die dieses »il y a« 5 evoziert. Der Mensch, »am Sein festgehalten, […] gehalten, zu sein« 6, in einem imaginären Vertrag an diese Verpflichtung gekettet, die ihn fast verzweifeln läßt, erliegt nicht mehr dem irrtümlichen Glauben, er könne dem Sein entfliehen. Dafür erkennt er, realistischer vielleicht, vielleicht auch resignativer, daß er in der Lage ist, die scheinbar unzerstörbare Homogenität des Seins zu öffnen. »In dieser Welt, in der alles unsere Solidarität mit der Totalität des Seins zu bestätigen scheint, in der wir in dem Getriebe des universalen Mechanismus festgehalten werden, in dieser Welt ist unser erstes Gefühl, unsere nicht zu entwurzelnde Illusion ein Gefühl oder eine Illusion der Freiheit. In der Welt zu sein, ist dieses Zögern, dieses Intervall im Sein, […].« 7
Das Sein als solches bietet dem Individuum keine Ansatzfläche, um sich im Prozeß einer ersten Befreiung aus dessen kompakter Präsenz emanzipieren zu können, wohl aber das Sein in der Welt, dessen Dinglichkeit einen objektivierenden Zugriff nicht verwehrt. An dieser Art der Objektivierung bildet sich das Subjekt und bricht so die Anonymität des Seins auf. 8 Der Zugang zum Sein über seine Weltlichkeit – fast möchte es so wirken, als würden sich die typischen Elemente des lévinasischen Denkens erst allmählich entwickeln. Denn beinahe sekundär wirken in diesen frühen Texten noch die Hinweise auf die außerordentliche Position des Anderen im Vergleich zu der Bedeutung, die der Befreiung des Einzelnen aus dem Sein zugeschrieben wird. 9
Lévinas, Vom Sein zum Seienden, I.1, S. 23. Alwin Letzkus in Dekonstruktion und ethische Passion, S. 349 weist darauf hin, daß sich der Ausdruck des »il y a« im Frühwerk von Lévinas zwar auf Heideggers SeinsAuffassung beziehe, in späteren Schriften aber auch dem Denken Derridas gilt. 6 Lévinas, Vom Sein zum Seienden, IV.1, S. 79. 7 Lévinas, Vom Sein zum Seienden, II.2, S. 60 f. 8 Lévinas, Vom Sein zum Seienden, III.2, S. 72. 9 Lévinas spricht hier sogar von der »Sozialität in der Welt«, Vom Sein zum Seienden, II.1, S. 48. 4 5
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Die Singularität des Menschen hat sich noch nicht zur reinen Sozialität gerundet; sein solitärer Akt des Verhaltens zum Sein mündet noch nicht im solidarischen Verhältnis zum Anderen. 10 Das Aufbrechen des Seins über dessen Dinglichkeit in der Welt ist ein Theorem, das in doppelter Hinsicht bemerkenswert ist. Zum einen bereitet sich hierin der eine gedankliche Pfad vor, der zum Motiv der Begierde und ihrem metaphysischen Pendant, dem Begehren, in Totalität und Unendlichkeit führen wird. Zum anderen formuliert Lévinas in ihm eine Vorstellung, die, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, an ein heideggersches Bild erinnert. Für Heidegger liegt im Umgehen mit den Dingen in der Welt als Zugriff auf das Zuhandene der erste Aufweis des Seins; für Lévinas die Möglichkeit, sich vom Sein zu distanzieren. Ersterer wird in seinen späteren Schriften diesen Aspekt des nutzenden Zugriffes auf die Welt insofern erweitern, als er daraus die achtende Relation zwischen Mensch und Welt in Gestalt der Erde konstruiert. Eine Kritik am heideggerschen Begriff des Seins, die auf dessen Un-Menschlichkeit zielt, liegt in den frühen Texten von Lévinas noch nicht in expliziter Form vor. Ganz anders in Totalität und Unendlichkeit, wo sie interessanterweise gerade an jenem Motiv des Bezuges zur Erde festgemacht wird, der in Heideggers Denken den wahrscheinlich deutlichsten Hinweis auf eine Sprengung der egozentrischen Sicht des Menschen liefert. »Aber der ›Egoismus‹ der Ontologie bleibt auch dann erhalten, wenn Heidegger bei den Vorsokratikern das Denken als Gehorsam gegenüber der Wahrheit des Seins findet. Gehorsam, der sich als Bauen und Pflegen vollzieht, […]. Heidegger versammelt den Aufenthalt auf der Erde und unter dem Gewölbe des Himmels, die Erwartung der Göttlichen und das Geleit der Sterblichen im Aufenthalt bei den Dingen; Aufenthalt bei den Dingen heißt Bauen und Pflegen. Damit begreift er, wie die gesamte abendländische Geschichte, die Beziehung mit den anderen Menschen als etwas, das sich im Schicksal der seßhaften Völker, der Völker, die die Erde besitzen und bebauen, abspielt. […] Indem Heidegger die Herrschaft der technischen Macht kritisiert, verherrlicht er die vortechnische Macht des Besitzes. […] Als Philosophie der Macht, als Erste Philosophie, die das Selbe nicht in Frage stellt, ist die Ontologie eine Philosophie der Ungerechtigkeit.« 11 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Unterscheidung »solitaire – solidaire«, die Albert Camus in seiner Erzählung Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit, S. 214 artikuliert. 11 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, A.4, S. 56. 10
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Mit der Radikalität eines argumentativen Befreiungsschlages distanziert sich Lévinas in diesen Zeilen nicht nur von Heidegger, weil dieser eine andere Auffassung vom Sein vertritt, sondern weil er ihn als Repräsentanten und prominentesten Fürsprecher einer Haltung im Sein ansieht, die ihre katastrophalen Konsequenzen in der Geschichte der Menschheit gezeigt hat und immer weiter zeigen könnte, solange ihr nicht mit Entschiedenheit Einhalt geboten wird. Für Lévinas liegt hier also nicht nur ein philosophischer Dissens vor, 12 der entsprechend auszutragen wäre, sondern darüber hinaus die Notwendigkeit einer historisch und politisch begründeten Proklamation. Worauf Lévinas allerdings die Folgerung stützt, das Wohnen und Bauen im Sinne Heideggers zu einem Privileg der »seßhaften Völker« erklären zu können und es mit einem Besitzanspruch auf die Erde, der wiederum Ausdruck einer grundsätzlichen Haltung der Ungerechtigkeit wäre, zu verknüpfen, erschließt sich nicht eindeutig. Um auf seine eigene Sichtweise des Seins zurückzukommen, zeigt sich spätestens seit den sechziger Jahren, daß es Lévinas weniger um dessen Betrachtung an sich geht, sondern um dessen Demaskierung als Synonym egozentrischer Negation des Anderen. Sein erscheint nun nicht mehr als Überfülle dessen, das sich unter seine Benennung fügt und im Einzelnen nur den einen Wunsch entstehen läßt, dessen anonymer Homogenität ein Merkmal der Eigenheit entgegenzusetzen. Die Identifizierung des Selben im Sein scheint jetzt nicht mehr Ziel-, sondern Ausgangspunkt einer Bestimmung des Ich zu sein, das von nun an in seiner Separation zu verharren strebt. 13 Von dieser das Selbst im Sein privilegierenden Stellung aus weist das Ich dem Anderen Positionierungen im Sein zu, die sich ausschließlich an der eigenen Verortung bemessen lassen und damit immer nur Projektionen des Selben sein können. »In all diesen Fällen wird die Nähe ontologisch gedacht, nämlich als Grenze oder Ergänzung in bezug auf das Vollbringen des Seinsereignisses, das darin besteht, im sein zu verharren und die Immanenz zu entfalten, im Ich, im Identischen zu verbleiben. […] Die vorliegende Arbeit versucht, die Nähe nicht in Abhängigkeit vom Sein zu denken. […] Wir haben versucht, diese Dieser wird auch unter Hinweis darauf ausgetragen, daß Heidegger den Anderen seiner Ontologie unterordne, Totalität und Unendlichkeit, I, C.2, S. 123. 13 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, I.8, S. 52. 12
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Beziehung unter Verzicht auf die Kategorien zu analysieren, die sie verstellen. […] Sein, von der Bedeutung der Annäherung aus gedacht, heißt mit dem Anderen sein.« 14
Fast erscheint es so, als würde sich in Lévinas’ Darstellung das Ich, das sich einst mühsam aus dem Sein befreite, nun darüber bewußt, daß es während dieses Prozesses den Anderen aus dem Blick verloren hat. Philosophie muß dieser veränderten Bewußtheit der Relation von Selbem und Anderem im Sein in der Weise Rechnung tragen, daß sie ihre bisherigen Erklärungsformen der Befreiung des Ich aus dem Sein nun zur Forderung seiner Bindung an den Anderen umdeutet. Damit tritt das Element der Sozialität in den Vordergrund. Der Wunsch des Einzelnen, der Anonymität des Seins zu entfliehen, entsprang bislang einer individuellen Erfahrung der Überfülle des Seins. Ein defizitär erlebter Seinsmodus zwang den Menschen zur Kompensation auf dem Wege der Trennung vom Sein, mit aller Leidenschaft und Beharrlichkeit ausgetragen, die ein Empfinden des Unwohlseins auslösen kann. Interessant ist hierbei besonders die Funktion der Philosophie. Sie gibt keine Anweisungen und spricht keine Empfehlungen oder gar Imperative aus, sondern begleitet gleichsam beschreibend den Emanzipationsweg des Einzelnen. Die nun von Lévinas beschriebene Lösung aus dem Sein, in dem sich das Ich stets als das Selbe identifiziert, weil es sich als Individuelles vom Sein separiert hat, muß eine gänzlich andere Form annehmen. An die Stelle der Deskription tritt nun die Forderung. Auf einen dem Ich eigenen Impuls, die Andersheit des Anderen zu achten, kann 14 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, I.8, S. 52 f. Lorenz Puntel unterzieht in Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, E. Lévinas und J.-L. Marion auch den Seins-Begriff von Lévinas, wie er in dieser Schrift ausgeführt wird, einer Prüfung und attestiert ihm diverse Mißdeutungen. So heißt es etwa: »Wenn Sein/Existenz gerade nicht das ist, was Lévinas behauptet, dass es ist, wenn im Gegenteil Sein/Existenz gerade den radikalsten Gegensatz zu Lévinas’ ›Sein/Existenz-als-Isolation/Einsamkeit‹ besagt, dann bricht die immense philosophische Konzeption, die er auf dieser irrigen Basis entwickelt, unweigerlich und kompromisslos in sich zusammen. Seine Behauptung, dass der Andere, der Transzendente, Gott anders als Sein/Seiend, als jenseits des Seins liegend, zu konzipieren sei, stellt sich als ein fundamentaler und fataler Irrtum heraus, […]«, S. 304. Konzeption des Anderen ist jedoch nicht das Ziel von Lévinas’ Darstellung, sondern eine Beschreibung der Möglichkeit von dessen Erfahrung. Es wäre zu fragen, ob die Feststellung eines Irrtums, den Puntel hier und an anderen Stellen sieht, Lévinas im Kontext seiner eigenen Denkstruktur gerecht wird.
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Lévinas in diesem Fall nicht setzen. Denn damit würde das Ich bis zu einem gewissen Grad seine erworbene Egozentrizität im Sein aufgeben und sich wiederum, wie in seiner Erfahrung eines übermächtigen Seins, einer Andersheit konfrontiert sehen, die es meint, zum Zweck der Selbstbehauptung aufbrechen zu müssen. Wo aber kein eigenes Verlangen wirkt, muß der Anstoß zu einer Veränderung der eigenen Sichtweise von außen kommen – für Lévinas gilt diese schlicht wirkende Regel in doppeltem Sinne. In der konkreten Relation des Ich zum Anderen muß der Andere den Anstoß zur Infragestellung bisheriger Identifizierungsmechanismen des Ich geben, und mit Blick auf die Philosophie reicht es nicht mehr aus, daß sie diesen Prozeß begleitet, sie muß ihn initiieren. In Noms propres – Eigennamen von 1976 reflektiert Lévinas selbst diese neue Funktion des philosophischen Sprechens. Mit Blick auf die Dichtungen Maurice Blanchots, aber ebenso mit Blick auf sein eigenes Schreiben erklärt er dort: »Einen Sinn ins Sein bringen heißt vom Selbst zum Anderen gehen, vom Ich zum Nächsten, heißt Zeichen geben, die Strukturen der Sprache zerlegen.« 15
In seinen frühen Texten beschreibt er die bemerkenswerten Strategien eines Menschen, der sich selbst im Sein zu verorten sucht, die nicht wirklich als gewählte Aktionen zu betrachten sind, aber doch eine gewisse Initiativkraft des Ich voraussetzen. In den späteren Darstellungen fordert er dieses Ich zu einer Haltung der Passivität auf – sich nicht identifizieren zu wollen, sondern sich vom Anderen ›angehen‹ zu lassen. Wenn er die Wirkung des Anderen thematisiert, changiert sein Verständnis zwischen der Andersheit des Menschen und der Andersheit im Text, was für die westliche Tradition des Denkens sicherlich eine ungewöhnliche Sichtweise darstellt, nach jüdischem Verständnis aber eine durchaus naheliegende Parallelität ist. Wort ist Unterweisung, so wie auch das Antlitz; der Weg über den Text wie auch der Weg über den Anderen führen zu Gott. 16 Anfang der achtziger Jahre kommentiert er seine eigene Methode, indem er auf das Übergehen von einem Gedanken zu dessen Übersteigung verweist. 15 16
Lévinas, Die Dienerin und ihr Herr, in: Eigennamen, S. 51. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Einleitung, S. 21.
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»Der neue Gedanke findet seine Rechtfertigung nicht auf der Grundlage des ersten, sondern durch dessen Erhebung. […] Die Passivität besteht darin, sich auszuliefern, über alle Passivität hinaus zu leiden, in einer Passivität, die nicht übernommen werden kann, dann komme ich zuletzt bei der Spaltung des Sich an. […] Wir haben es mit einem passiven Subjekt zu tun, wenn es sich seine Inhalte nicht selbst gibt. Aber es nimmt sie auf. Es liefert sich mehr aus, wenn es ausgesagt wird; […].« 17
Genau diese Passivität weist Lévinas dem Selbst im Sein zu, damit es den Anderen nicht aufgrund einer Andersheit zu erfassen sucht, die es selbst gesetzt hat, sondern sich von einem Anderen zum Aussetzen dieses Könnens auffordern läßt. Unterbleibt diese Bereitschaft zum Verzicht, beharrt das Ich auf seiner Identität im Sein, verharrt es im Sein, ist es ›inter-esse‹ inmitten des Seins und durch dieses bei sich, so besteht hierin nach Lévinas’ Auffassung nicht nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern ein ethisches Vergehen von erschreckenden Dimensionen. »Das Interessiertsein am Sein und das Interessiertsein des Seinsaktes selbst findet seinen dramatischen Ausdruck in den miteinander im Kampf liegenden Egoismen, im Kampf aller gegen alle, […]. Der Krieg ist der Vollzug oder das Drama des Interessiertseins am Sein.« 18
Sein wird damit immer deutlicher Synonym für das Identisch-Sein des Ich, den Egoismus. Der Begriff des Interesses, nach üblichem Sprachgebrauch durchaus positiv als Anteilnehmen an etwas oder jemandem verstanden, erscheint nun in negativer Konnotation und sein Gegenpart, das Des-inter-esse, gerade als erstrebenswerte Haltung der Verweigerung, im Sein – inter-esse – zu verharren. 19 Konnte noch zu Beginn seines Denkens die wesentliche Herausforderung an den Menschen in seiner Separation aus dem Sein bestehen, die ihn individuiert, so gilt die Notwendigkeit, sich aus dem Sein loszureißen, noch immer, allerdings nunmehr in Relation zum anderen Menschen. Wie aber läßt sich eine De-Formation des Seins ausdrücken, basiert doch der Ausdruck des Seins bereits auf einem stillschweigenden Einverständnis, zu sein? Bereits im Zusammenhang
Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, IV, S. 112 f. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, I.2, S. 26. 19 Zum Begriff des Desinteresses sind auch folgende Passagen aufschlußreich: Maurice Blanchot – der Blick des Dichters, in: Eigennamen, S. 28; Wenn Gott ins Denken einfällt, I.1, S. 27 und Totalität und Unendlichkeit, I, A.2, S. 38. 17 18
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der Frage nach der Verantwortung hatte Lévinas deren Bestehen noch vor jeder tatsächlichen Übernahme gesetzt und sie dadurch zum unvordenklichen Signum der Menschlichkeit erklärt. Jetzt, da es um die Erwägung der Möglichkeit geht, »jenseits des Seins oder anders als Sein« zu sein, beschwört er abermals eine präkategoriale Form des Ausdrucks, die sich hier vordergründig auf die ontologische Differenz bezieht. »Von der Doppeldeutigkeit von Sein und Seiendem im Gesagten gilt es zurückzugehen auf das Sagen, das vor dem sein bedeutet, vor der Identifizierung, diesseits der genannten Doppeldeutigkeit; auf das Sagen, das das Gesagte ausdrückt und thematisiert, aber es dem Anderen, dem Nächsten, bedeutet, und zwar in einer Bedeutung, die zu unterscheiden ist von der Bedeutung, die die Worte im Gesagten tragen.« 20
Was logisch den Schritt in das Paradox nicht scheut, evoziert ein Bild archaischer Menschlichkeit, die vor der Einsetzung aller Kategorien des Denkens galt, ein prä-historisches Szenario der Gerechtigkeit: »Entbindung, die das sein umkehrt: nicht Seinsverneinung, sondern Sichvom-Sein-Lösen, ein Anders-als-sein, das übergeht zum Für-den-Anderen, […].« 21
Das Motiv des Sagens greift den Gedanken der unvordenklichen Verantwortung auf, insofern hier kein Appell beschrieben werden soll, der aufruft, verpflichtet, auf einen Verzicht auf das eigenste Können einschwört, würden doch all diese Formen des Bedeutens denjenigen, der sie aussagt, auf die traditionell verstandene Funktion des Subjekts reduzieren. »Das Subjekt des Sagens gibt nicht Zeichen, es macht sich zum Zeichen, es geht auf in Verpflichtung.« 22 Und was folgt hieraus? »[…] Verantwortlichkeit, die letztlich, bis auf den Grund meiner ›Stellung‹ in mir selbst, meine Stellvertretung für den Anderen bedeutet. Das Sein transzendieren in der Gestalt des Des-inter-esses! Transzendenz, die sich ereignet in der Gestalt einer Annäherung an den Nächsten ohne Atempause – bis dahin: an seiner Stelle eingesetzt zu werden.« 23
Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, II.4, S. 110 f. Lévinas, Jenseits des Sein oder anders als Sein geschieht, II.4,b, S. 122. 22 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, II.4,b, S. 118 f. 23 Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, I, S. 35. In Eigennamen, Vorwort, S. 11 erscheint dieser Gedanke unter dem Motiv des »Einspringens« für den Anderen. 20 21
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Sein oder Existenz
Stellvertretung meint hier kein Eintreten für den Anderen im Sinne des Handelns an seiner statt, sondern von seiten des Selben den Verzicht auf die eigene Verortung im Sein, was gleichbedeutend mit der Bereitschaft ist, nicht mehr die eigene Identität behaupten und schützen zu wollen, und sei es auch durch die Verletzung jedes Anderen und Fremden, der sie zu bedrohen scheint. Sie bedeutet aber auch das Einverständnis, den eigenen Ort aufzugeben, den Besitz, die Wohnstatt, was nach lévinasischer Theorie heißt, auf das Privileg der Freiheit zu verzichten, denn frei ist der Mensch dort, wo er bei sich zu Hause ist 24. Eine höchst aufschlußreiche Anknüpfung an die frühen Texte zeigt sich in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit. Zunächst wirkt es so, als würde der Einzelne durch seine Verantwortung gänzlich dem Anderen überantwortet und damit genau jenes Schicksal erleiden, das er dem Anderen zu ersparen trachtet. Dieses wäre eine durchaus naheliegende und aus dem Begriff der Stellvertretung auch abzuleitende Folgerung, die jedoch der Tiefe des lévinasischen Gedankens nicht gerecht würde. Es geht nicht um ein Vergelten des erlittenen Unrechts, um eine bloße Verkehrung der Positionen von Selbem und Anderem, in deren Verlauf der Selbe zum Anderen wird. Wollte Lévinas dieses zum Ziel seiner Philosophie erklären, würde er ein bestehendes Unrecht mit einem anderen vergelten und den ›Krieg der Egoismen‹ dadurch letztlich eher schüren als befrieden. »Doch im unersetzbaren, einzigen, als Verantwortung und Stellvertretung erwählten Subjekt sprengt ein Freiheitsmodus, der ontologisch unmöglich ist, das unzerreißbare sein. Die Stellvertretung befreit das Subjekt von der Langeweile und dem Überdruß, das heißt von der Ankettung an sich selbst, in der das Ich, aufgrund der tautologischen Art der Identität, in sich erstickt […].« 25
Freiheit signalisiert hier also keine Entscheidungskompetenz oder Handlungsoption des Ich, sondern eine Befreiung aus der Erstarrung im Sein, wie sie in Ausweg aus dem Sein als erste Sprengung der Anonymität des Seins reflektiert wurde.
Weitere Ausführungen hierzu finden sich etwa in Totalität und Unendlichkeit, I, A.2, S. 42 f. 25 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, IV.6, S. 277. 24
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Emmanuel Lévinas
Die ultimative Form, unter der die Befreiung »von der Ankettung an sich selbst« sichtbar wird, findet Lévinas im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Endlichkeit menschlichen Seins. Fast könnte der Eindruck entstehen, als wäre keine Erörterung dieses Faktums nach Heidegger möglich, ohne sich mit dessen Begriff des Seins-zum-Tode auseinanderzusetzen. Dabei finden sich immer wieder Interpretationen, die in dieser Ausrichtung auf das Nichtmehr-Sein eine Tendenz des Seins zum Nichts erkennen, und tatsächlich bezeichnet Heidegger den Tod als das »Sein zum Ende dieses Seienden« 26. Nur wenige Seiten später bestimmt er dann aber das »Vorlaufen in den Tod« als »Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens«, als »Möglichkeit eigentlicher Existenz« 27. Wieviel Freiheit attestiert Heidegger tatsächlich dem Menschen? Gerade diese Sichtweise wird in den Betrachtungen zum Tod so weit, wie es in Heideggers Denken nur zu erwarten ist, relativiert. Vorlaufen in den Tod ist gerade keine fatalistische Überantwortung an das Nichts, sondern Möglichkeit und damit individuelles Element im Dasein schlechthin. Was möglich ist, kann ergriffen werden, wird möglich als Können, wird eigentliches Können, wird Existenz. Heidegger geht äußerst vorsichtig mit dem Begriff der Existenz um, vor allem deshalb, weil er sich von dessen geradezu inflationärem Gebrauch in zeitgenössischen Philosophien und einer Vereinnahmung als deren Repräsentant distanzieren will. Das Sein zum Tode markiert keine Jenseits-Orientierung des Daseins, die es als solches sinn- und wertlos werden läßt. Ganz im Gegenteil – es erschließt einen Weg des Begreifens der Bedingungen im Dasein, der dem Menschen zum ersten – und einzigen – Mal die Chance bietet, sich in dessen Bedingtheit als frei zu erfassen. Damit wird das Dasein trotz seiner finalen Ausrichtung zur Zeit der Entscheidung für den Menschen, wie er sich dieser Faktizität gegenüber zu verhalten gedenkt. Zwischen Resignation, Akzeptanz und bewußter Wahl eröffnet sich die Möglichkeit der »eigentlichen Existenz«. Lévinas kommentiert Heideggers Verständnis des Todes vor dem Hintergrund der Relation von Denken und Verstehen, die sich seiner Deutung nach als nahezu identisch erweisen.
26 27
Heidegger, Sein und Zeit, § 48, S. 245. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 263.
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Sein oder Existenz
»Die Existenz, die der Machtlosigkeit über den Ursprung entspringt, wird im Verstehen des Todes übernommen. […] Das Können der Existenz besteht nicht darin, das Unvermögen über den Ursprung zu überwinden, indem es in einem Akt der Erinnerung hinter diesen Ursprung zurückginge, sondern im Endlichen selbst zu können, enden zu können.« 28
Heideggers Begriff der Existenz entspringt, so macht Lévinas deutlich, aus der Erfahrung der Endlichkeit des Daeins. Diese ist dem Menschen Inhalt eines Verstehens, das sich eher dem Erleben als dem Denken nähert. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, sich bis zum Wissen um die Begrenztheit seines Daseins noch in diesem als Selbes, als eigentliches Selbst-sein-Können, zu begreifen – oder sich zu identifizieren, um in lévinasischer Terminologie zu sprechen. Selbst wenn die Deutung der heideggerschen Position von einer ›Existenz zur Nichtigkeit‹ hin zu einer gewählten ›Existenz vor dem Nichts‹ modifiziert werden kann, bleibt ein Faktum unstrittig: Diese Vorstellung einer ›Existenz als Freisein zum Können‹ bezieht sich ausschließlich auf den Einzelnen. Daher ist allein schon Lévinas’ Feststellung, in der »Phänomenologie der Sozialität« 29 die Verantwortung für den Nächsten bis zum Tode zu erkennen, eine unübersehbare Abkehr vom heideggerschen Ansatz. Weitaus deutlicher tritt sein Bestreben, am Phänomen des Todes seine endgültige Überwindung des heideggerschen Seins zu demonstrieren, im Zusammenhang mit dem Begriff des »Werkes« hervor. »Radikal gedacht ist das Werk nämlich eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt.« 30 Das Besondere an dieser Bewegung besteht darin, daß sie einem Anderen gilt, ohne es jemals erreichen zu können, was auch bedeutet, daß die Vorstellung für eine Zeit, in der das Werk oder die Bewegung als abgeschlossen gelten könnten, aufgegeben oder besser: ausgesetzt wird. »Das Werk […] ist das Sein-zum-Jenseits-meines-Todes. Wer darauf verzichtet, den Erfolg seines Werks zu erleben, hat diesen Sieg in einer Zeit ohne das Ich; er zielt ab auf diese Welt ohne Ich, er intendiert eine Zeit
Lévinas, Die Spur des Anderen, I, S. 76 f. In ähnlicher Weise äußert sich Lévinas in Die Zeit und der Andere, S. 43 f. über die heideggersche Deutung des Todes. 29 Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, IX, S. 257. 30 Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 215. 28
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Emmanuel Lévinas
jenseits des Horizontes seiner Zeit. Eschatologie ohne Hoffnung für sich oder Befreiung von meiner Zeit.« 31
Immer wieder zeigt es sich, daß Lévinas gegen die Vorstellung eines Ich, das mit sich identisch ist und bleibt, in sich verharrt, sich im Anderen mit sich identifiziert, spricht. Das Ich kann sich aber nur vor dem Hintergrund eines Seins identifizieren, das es ihm ermöglicht, immer wieder auf sich selbst zurückzukommen, weil es das Selbst des Ich ist. So muß seiner Auffassung nach eine Existenz, auch wenn diese frei gewählt wird, stets nur wieder das als frei ergriffen erscheinen lassen, was ohnehin schon die Möglichkeit des Ergreifens bedingte. Chimäre einer Freiheit, die sich in den Tiefen des Seins verliert. Verzicht auf das Ich als Verzicht auf das Sein lautet seine Forderung, ebenso frappierend wie undenkbar, so will es scheinen. Der Weg, den Lévinas wählt, um diesen Eindruck zu bannen, führt ihn zum Begriff der Zeit. »Sein für eine Zeit, die ohne mich wäre, sein für eine Zeit nach meiner Zeit, für eine Zukunft jenseits des berühmten ›Sein-zum-Tode‹, ein Sein-fürnach-dem-Tode – […] dies ist kein banaler Gedanke, der die eigene Dauer erschließt, sondern der Übergang zur Zeit des Anderen.« 32
Bereits in diesem Gedanken, dem Bild stärker verwandt als dem Argument, zeichnet sich die radikale Umdeutung des Begriffes vom Ich ab. Nicht begründet in seinem Vermögen, sich selbst stets im Anderen wieder zu finden, wobei die Zeit lediglich der Bemessungsrahmen dieser sich ständig wiederholenden Identifizierung ist, sondern wesentlich ausgewiesen durch die Bereitschaft zur Hingabe an eine Zeit ohne sich, also auch ohne reflektierenden Selbst-Bezug. Zur Benennung dieser Bewegung, dieses Werkes, wählt Lévinas den Begriff der »Liturgie« 33, dessen religiöse Konnotation einbeziehend, ohne sie bezeichnen zu wollen. Könnte sich hier die Frage stellen, ob Lévinas ganz auf die Vorstellung des Ich verzichten will, zeigt sich, daß dieses mitnichten der Fall ist. Nur rechtfertigt er es nicht über das beständige Sich-gleich-Bleiben der Reflexion, das alles Andere zum Reflexionsgrund erniedrigt, sondern über das ethische Motiv der Verantwortung. Durch den Anderen wird das Ich zur Verant31 32 33
Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 217. Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 217. Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 218.
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Sein oder Existenz
wortung aufgerufen, das Einzige, welches sich dieser Aufforderung nicht entziehen kann. »Die Einzigkeit des Ich liegt in der Tatsache, daß niemand an meiner Stelle antworten kann.« 34 Und was wird aus dem Sein, das es dem Ich ermöglicht, sich immer wieder in ihm zu finden, wodurch das Sein im Ich erscheint, sich in ihm entbirgt? Nach lévinasischer Kritik der heideggerschen Theorie stößt das Ich immer zum Sein vor, findet es immer vor, ruht in ihm und enthüllt es, indem es ›sich‹ identifiziert. Enthüllung setzt also Gegebenheit voraus, Bezug auf ein Immerschon des Sich-mit-sich-gleich-Bleibens. Genau diese in seiner Sicht verhängnisvolle Denkfigur muß Lévinas überwinden. Er versucht es durch die Aufhebung der Folgerung, daß sich Zeigendes immer auf etwas verweisen müsse, so wie es beim Ich der Fall war, das auf das Sein deutet. Das Antlitz des Anderen, das das Selbe zur Verantwortung aufruft, 35 bedeutet nicht etwas, das seine Andersheit wäre, verweist nicht auf etwas, in dem sich das Selbe zu spiegeln vermöchte, sondern signalisiert pure Abwesenheit. »Die Beziehung, die vom Antlitz zu dem Abwesenden geht, ist außerhalb jeder Entbergung und Verbergung, ein dritter Weg, der durch die kontradiktorischen Termini ausgeschlossen ist. […] Das Jenseits, von dem das Antlitz kommt, bedeutet als Spur. […]. Die personale Ordnung, zu der uns das Antlitz nötigt, ist jenseits des Seins. Jenseits des Seins ist eine dritte Person, die sich nicht durch das Sich-selbst, durch die Selbstheit, definiert. […] Das Profil, das die unumkehrbare Vergangenheit durch die Spur gewinnt, ist das Profil des ›ille‹ : Jener.« 36 Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 224. Branko Klun, Der Anspruch des Anderen. Überlegungen zum ›postmodernen‹ Guten, S. 92: »In seiner (Anti-)Phänomenologie des Antlitzes versucht Lévinas den Überschuss der Bedeutung als einen Anspruch (und Appell) des Anderen zu artikulieren, der anders als jegliche andere phänomenale Erscheinung wie ein moralischer Imperativ an mich ergeht und mir meine Verantwortung für den Anderen bewusst macht. Die Lévinas’sche Verantwortung hat nichts mit einer vernünftigen Entscheidung eines autonomen Subjekts zu tun, sie ist nicht einmal eine Fähigkeit (ein Können) des Subjekts.« 36 Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 228 f. Pascal Delhom, Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, S. 71: »Der Dritte kann eine leibliche Person sein, die am Austausch zwischen mir und dem anderen Menschen anwesend ist. Seine Anwesenheit ist aber nicht notwendig leiblich. Auch wenn ich allein mit einem anderen Menschen bin, ist der Dritte schon dadurch anwesend, daß der Andere und ich Menschen sind, […].« Und zur Deutung des Dritten bei Sartre heißt es: »Für Lévinas könnte Sartre also sowohl als Stellvertreter einer Tradition, der 34 35
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Emmanuel Lévinas
Diese »Illeität« ermöglicht es Lévinas, einem Denken zu entgehen, das Ich und Sein scheinbar notwendig aufeinander verweist. Um andere seiner Formulierungen zu verwenden, wäre sie der »Ausweg aus dem Sein«, der »Riß im Sein«, das Aussetzen, sowohl zeitlich als auch räumlich verstanden. Zugleich markieren die Illeität und der Weg ihrer Ermittlung die vielleicht provisorische Grenze des Sagbaren, es sei denn, auch das Sagen wird zu einem Aussetzen des Bedeutens. Gilt es, die Frage nach einer möglichen Funktion des Existenz-Begriffes im Werk von Emmanuel Lévinas zu stellen, rückt abermals das Motiv des »Risses« im Sein in den Vordergrund. Wie und wodurch kommt er zustande? Bereits in seinen Betrachtungen zur Illeität hatte Lévinas sich von einer Vorstellung linearer Zeitlichkeit als Seins-Zeit des Subjekts distanziert. In seinen Vorlesungen von 1946/47, die unter dem Titel Le temps et l’autre – Die Zeit und der Andere zusammengefaßt sind, stellt er unmißverständlich klar, »[…] daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis des Subjektes zum anderen ist« 37. Dieser relationale Charakter wird jedoch in der heideggerschen Konzeption von Existenz seiner Auffassung nach nicht im mindesten berücksichtigt. Selbst derjenige, der sich zur Eigentlichkeit seiner Existenz bestimmt, tritt damit nicht aus der zirkulären Rückbezüglichkeit auf sein Sein heraus, schafft keinen Übergang von seiner Existenz zu derjenigen eines anderen Menschen. 38 Denn er identifiziert er sich widersetzt, als auch als (bestrittener) Vorläufer einer Philosophie gelten, in der autrui und der Dritte eine zentrale Rolle spielen. Eine der wesentlichen Fragen, in der sich Lévinas von Sartre trennt, ist die des Blicks. Sprachloser Blick bei Sartre, sprechender Blick für Lévinas. Aus den Konsequenzen dieses Unterschieds entsteht eine nicht mehr überbrückbare Kluft zwischen ihnen.« Simon Critchley, The ethics of deconstruction, S. 226: »Thus my ethical relation to the Other is an unequal, asymmetrical relation to a height that cannot be comprehended, but which, at the same time, opens onto a relation to the third and to humanity as a whole – that is, to a symmetrical community of equals. This simultaneity of ethics and politics gives a doubling quality to all discourse, whereby the relation to the Other, […] is at the same time the setting forth of a common world, […].« 37 Lévinas, Die Zeit und der Andere, I, S. 17. Zugleich bestimmt er hier seine Betrachtungen als ontologisch, was die Frage der Auswirkungen seines modifizierten ZeitBegriffes auf seine Vorstellung vom Sein aufwirft. 38 Lévinas, Die Zeit und der Andere, I, S. 20: »In diesem Sinne heißt sein, sich durch das Existieren zu isolieren.«
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sich immer wieder mit sich, was nur möglich ist, weil dieses ›sich‹ als reflektierbares Produkt einer Vergangenheit im Sein erkannt wird. Wo also keine Vergewisserung vergangenen Seins stattfindet, kann keine Vorstellung von Identität gewonnen werden. Zeit kann insofern keine kontinuierliche Abfolge von Seinserfahrungen signalisieren, sondern muß als eine reine Form der Gegenwärtigkeit eines Erlebens des ›sich‹ gedacht werden, das immer wieder von neuem initiiert wird, nicht jedoch durch den Rückbezug des Ich auf sich selbst, sondern durch die Öffnung auf den Anderen. »Das heißt, auf ein ontologisches Ereignis zugehen, in dem das Existierende die Existenz übernimmt. Ich nenne das Geheimnis, durch welches das Existierende sein Existieren übernimmt, Hypostase. […] Das Ereignis der Hyostase ist die Gegenwart. Die Gegenwart geht von sich aus, mehr noch, sie ist der Ausgang von sich. Im unendlichen Gewebe des Seins, ohne Anfang und Ende, ist sie der Riß. Die Gegenwart zerreißt und knüpft wieder neu an; […]« 39
Das Seiende, so konstatiert Lévinas als Ertrag dieser Betrachtungen, ist »Herr des Seins« 40, und nicht mehr, so möchte man diesen Gedanken unausgesprochen fortsetzen, »Hüter des Seins«, wie Heideggers vielzitierte Formulierung es festlegen wollte. Für Lévinas steht es unbezweifelbar fest, daß Heidegger im wesentlichen ein Sein ohne Menschen konzipiert und diesen, wenn er denn überhaupt einmal thematisiert wird, in den Dienst des Seins stellt. Einsames Werk des Hüters, der furchtsam darauf bedacht sein muß, Störungen der Seins-Ordnung zu verhindern und vielleicht sogar dasjenige, das er behütet, mit dem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben. Einsamer Vollzug der Existenz, den Lévinas bei Heidegger findet – Grund genug, diesen Terminus aus dem eigenen Denken gänzlich zu verbannen? Zweimal setzt sich Lévinas etwas ausführlicher mit den Eigenheiten der Existenzphilosophie auseinander, 1949 und 1961. In der früheren Beschäftigung geht es in erster Linie um die Betrachtung einer Erscheinung, die sich in Philosophie und Literatur beobachten läßt, durch die zeitliche Nähe zu den entsprechenden Veröffent-
Lévinas, Die Zeit und der Andere, I, S. 21 und S. 27. In diesem Zusammenhang verweist Lévinas darauf, daß er die heideggerschen Begriffe »Sein« und »Seiendes« durch »Existieren« und »Existierendes« übersetzt, S. 21. 40 Lévinas, Die Zeit und der Andere, I, S. 28 f. 39
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Emmanuel Lévinas
lichungen noch durchaus auf der Suche nach einer verbindenden Definition. 41 Hier tritt Lévinas als Beobachter seiner Zeit auf, wenn er das »fundamentale Charakteristikum der Philosophie der Existenz« in der »Transzendenz zum Nichts« kenntlich macht. 42 »Dem Denken, das sich von dem endlichen Sein abhebt, indem es seiner Bedingung gewahr wird, steht gegenüber die Existenz, die sich von ihrer Endlichkeit abhebt, indem sie sie im Tode bestätigt. […] Die Existenz, die der Machtlosigkeit über den Ursprung entspringt, wird im Verstehen des Todes übernommen.« 43
Sehr stark an die heideggersche Zurückweisung der Ratio als Möglichkeit, das Sein zu erfassen, angelehnt, zeichnet Lévinas hier die Bedeutung des Verstehens als Bedingung der Existenz, die damit zu einer Weise wird, sich dem Faktum der Endlichkeit gegenüber zu verhalten. Eine Wertung oder Kritik nimmt Lévinas an dieser Stelle nicht vor. Statt dessen finden sich einige wenige Zeilen, die über »eine Philosophie, die die Existenz hinter sich lassen möchte« 44, spekulieren. Diese dürfe sich nicht durch eine Rückkehr zum rationalen Denken auszeichnen. Ob Lévinas hier die Möglichkeit seines eigenen Denkens reflektiert, ist nicht eindeutig auszumachen, läßt sich aber ebensowenig ausschließen. Zwölf Jahre später, zur Entstehungszeit von Totalität und Unendlichkeit, sind Existentialismus und Existenzphilosophie längst nicht mehr in dem Maße als innovative Phänomene zu betrachten. Sartre hat sich auf die Produktion von Theaterstücken und politischen Texten konzentriert; Camus lebt bereits nicht mehr; Heidegger tritt nach seinem Lehrverbot eher mit kleineren Schriften an die Öffentlichkeit und Jaspers beendet seine akademische Lehrtätigkeit in Basel, ist aber der Philosoph, der nicht zuletzt durch seine Beiträge zu politischen Fragen wahrscheinlich am stärksten das Bewußtsein der Menschen seiner Zeit beeinflußt. »Das große Publikum der Romanleser identifiziert gern den Existenzialismus mit einer gewissen pessimistischen Anschauung im Menschen. Die Philosophie der Existenz erwärme sich krankhaft für die sogenannten niederen Formen des menschlichen Lebens […].« Die Spur des Anderen, I, S. 67. 42 Lévinas, Die Spur des Anderen, I, S. 75. 43 Lévinas, Die Spur des Anderen, I, S. 76. 44 Lévinas, Die Spur des Anderen, I, S. 79. 41
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Dafür präsentiert Lévinas sein vielleicht wichtigstes Buch, in dem zahlreiche Gedanken, die sich bisher in motivischer Vereinzelung gezeigt hatten, nun in nahezu systematischer Dichte ausgeführt werden. Es scheint, als würde er zu seiner früheren Frage nach einer Philosophie, die die Existenz hinter sich lassen möchte, zurückkehren, auch wenn es zunächst noch unklar ist, ob er sich generell von einem Begriff der Existenz oder nur von dessen heideggerscher Interpretation distanzieren will. »Nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.« 45
Daß eine Bestimmung der Existenz Aufgabe von Philosophie sein könne und sogar sollte, zweifelt Lévinas keineswegs an, weist aber die Meinung, daß Existenz immer die Seinsweise des Ich in seiner Egozentrizität sein müsse, entschieden zurück. Für ihn gilt es daher, dieses Ich, das in seinem Denken als das Selbe erscheint, neu zu definieren, was sich in verschiedenen Ansätzen bereits beobachten ließ. In Totalität und Unendlichkeit fügt er eine Variante, das Selbe zu denken, hinzu, die er in der Form bislang nicht explizit genutzt hatte. Bisher hatte er sich auf die Relation des Selben zum Anderen in Gestalt des anderen Menschen konzentriert; jetzt tritt eine Betrachtung der Relation zum anderen in der Welt hinzu. Kein Wunder, daß er vor diesem Hintergrund wiederum die heideggersche Vorgabe ablehnen muß, die in der Sorge das wesentliche Merkmal einer Beziehung des Daseins zur Welt sah. 46 Denn im besorgenden Zugriff zwingt der Mensch Dinge der Welt unter seine Herrschaft, determiniert sie als »Zeug« und bannt ihre vermeintliche Vielfalt unter dem einen Aspekt der Nützlichkeit. Konträr zu dieser vereinnahmenden Haltung des Ich zu demjenigen, das ihn umgibt, empfiehlt Lévinas eine Haltung des »Genusses«, der darin besteht, die Dinge als diejenigen zu begreifen, die sie sind – Dinge, von denen der Mensch lebt. »Die Beziehung des Lebens zu den Bedingungen des Lebens wird Nahrung und Inhalt für dieses Leben. Das Leben ist Liebe des Lebens, Beziehung zu Inhalten, die nicht mein Sein sind, sondern teurer als mein Sein: denken, essen, schlafen, lesen, arbeiten, sich an der Sonne wärmen. […] Das Leben
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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, C.2, S. 122. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.1, S. 150.
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Emmanuel Lévinas
ist eine Existenz, die ihrer Essenz nicht vorausgeht. Die Essenz macht den Wert des Lebens aus; und hier konstituiert der Wert das Sein.« 47
Mit der letzten Formulierung greift Lévinas das vermeintliche Credo des Existentialismus auf, das besagt, daß die Existenz der Essenz vorausgeht. Diese Bezugnahme wirkt jedoch eher polemisch als argumentativ, gilt doch das Diktum, das er hier modifiziert, der Ablehnung einer vorgegebenen Definition menschlicher Essenz, die erst auf der Grundlage des Existierens aus eigenem Entwurf entstehen kann. Eine Vorgängigkeit der Essenz im Sinne der lévinasischen Deutung hätten Denker wie Jean-Paul Sartre nicht bestritten. Für ihn liegt aber im Prozeß des Entwerfens des eigenen Existierens ein entscheidendes Element von Aktivität, beständiger Reflexion des Tuns und Verhaltens, was, im ersten Moment verwunderlich wirkend, für Lévinas bereits wieder ein Kennzeichen jenes Seins »für sich« wäre, das er unter allen Umständen zu verhindert sucht. Deutlich zeichnet sich diese Zielsetzung in seiner Bestimmung des Glücks ab. Dieses identifiziert er mit dem Genuß, dem ›Leben von‹, das eher einem Empfangen ähnelt als einem Benutzen. »Der Genuß ist kein psychologischer Zustand unter anderen, […] sondern das eigentliche Erbeben des Ich. […] Denn das Glück, in dem wir uns schon dank der einfachen Tatsache des Lebens bewegen, ist immer jenseits des Seins, in dem sich die Dinge abzeichnen.« 48
Dieses Glück wird nicht durch Handlungen und Verhaltensweisen gewonnen, deren Urheber das Ich ist, sondern es ist dem Existieren gleichursprünglich und geht dem Sein voraus. Damit kündigt Lévinas endgültig jede Vorstellung eines Seins auf, die auch nur in irgendeiner Weise als grundlegend, grundsätzlich oder gar begründend gedacht werden könnte, spiegeln doch diese Sichtweisen immer nur das Ich, das dieses Sein denkt. Ich und Sein bedingen sich damit unauflöslich, für Lévinas unverkennbares Indiz dafür, daß das Selbst niemals bereit sein kann, sich dem Anderen, sei es in Form der Welt, des anderen Menschen oder Gottes, zu öffnen, solange diese zirkuläre Selbst-Begründung des Ich im Sein und des Seins durch das Ich Bestand hat. Programmatisch und diese fatale Exklusivität der Ontologie – besonders heideggerscher Prägung – demaskierend, schreibt er daher: 47 48
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.2, S. 155. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.2, S. 156.
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Sein oder Existenz
»Das Auftauchen des Sich hebt im Genuß an; hier wird die Substanzialität des Ich nicht als Subjekt des Verbs ›sein‹ begriffen, sondern als impliziert im Glück; es gehört nicht zur Ontologie, sondern zur Axiologie; in diesem Auftauchen findet die Erhebung des Seienden schlechthin statt. Demnach bedürfte das Seiende keiner Rechtfertigung durch das ›Seinsverständnis‹ oder die Ontologie.« 49
Wie individuell ist dann aber der Einfluß, den ein Mensch auf seine Weise zu sein, sein Existieren, ausüben kann? Lag das Charakteristikum bisheriger Deutungen der Existenz in Abgrenzung vom Sein nicht gerade in der Überzeugung, daß sich der Einzelne seine Existenz zu erwerben vermag, wenn er die unabänderlichen Bedingungen seines Seins reflektiert und entschieden ergreift? Bestand nicht hierin der vermeintliche Triumph, den der Mensch über ein Sein gewinnen konnte, das er primär als fremd erlebte? Gibt Lévinas diese einzig menschliche Möglichkeit, individuell im Fremden zu sein, auf, wenn er das Individuell-Sein mit dem IchSein identifiziert? »Ich sein, das heißt so zu existieren, daß man schon jenseits des Seins im Glück ist« 50, so lautet seine Bestimmung des Ich, die gleichermaßen die Definition des Existierens ist.
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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.5, S. 166. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, II, A.5, S. 167.
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XIV. Humanismus und Philosophie der Existenz
XIV.1 Emmanuel Lévinas Heißt »jenseits des Seins« zu sein denn letztlich nicht auch, jenseits des Wirkens zu sein? Und würde diese Folgerung nicht bedeuten, daß das lévinasische Denken mit einer Vorstellung von Humanismus nicht vereinbar wäre? Ganz gewiß nicht. In seinem 1968 publizierten Text Humanisme et an-archie – Humanismus und An-Archie diagnostiziert er eine »Krise des Humanismus« 1, die aus der »menschlichen Wirkungslosigkeit« und dem damit einhergehenden dramatischen Scheitern einer Definition des Menschen als animal rationale resultiert. Was läge also näher, als den Menschen, wenn am Gedanken des Humanismus dennoch festgehalten werden soll, nicht über sein Wirken, sondern – gerade umgekehrt – über seine Passivität zu charakterisieren? »Den Menschen aus der Vergeblichkeit des Menschen-als-Prinzip wiedererstehen zu lassen, aus der Vergeblichkeit des Prinzips, aus der Infragestellung der als Ursprung und Gegenwart verstandenen Freiheit, die Subjektivität in der radikalen Passivität zu suchen, […]« 2 – so skizziert Lévinas die Bedingungen einer neuen Auffassung von Passivität, die ein für allemal mit der unheilvollen Verknüpfung von menschlicher Subjektivität, Ungerechtigkeit und egozentrischer Entfremdung des Anderen bricht. 3 Wie soll eine solche Handlungs-Enthaltung aber ausgedrückt werden, die sich nicht in die Kategorien der Logik einfügen und damit auch nicht mit deren Sprachformen dar-
Lévinas, Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 61. 2 Lévinas, Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 70. 3 In diesem Text weist Lévinas explizit auf den Widerspruch zwischen angeblicher menschlicher Vernunftbegabtheit und den Vernichtungslagern des NS-Regimes hin. Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 61. 1
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Humanismus und Philosophie der Existenz
stellen läßt? Lévinas antwortet in der inzwischen bekannten Methode der motivischen Deduktion. »Die Unsagbarkeit des Unaussprechlichen wird durch das Vorursprüngliche der Verantwortung für die anderen beschrieben, durch eine Verantwortung, die jedem freien Engagement vorangeht, noch bevor es sich durch seine Unfähigkeit, im Gesagten zu erscheinen, beschreiben läßt. Das Subjekt unterscheidet sich vom Sein also nicht durch eine Freiheit, die es zum Herrn der Dinge machen würde, sondern durch eine vorursprüngliche Empfänglichkeit, die älter ist als der Ursprung, durch eine Empfänglichkeit, die im Subjekt herausgefordert wird, ohne daß das Herausfordern jemals zu Gegenwart oder zu Logos geworden wäre, welcher Logos sich der Übernahme oder der Ablehnung anbietet und im bi-polaren Feld der Werte seinen Platz findet.« 4
Befremdlich wirkt diese Erklärung durchaus, faßt sie doch Freiheit und Engagement, also Voraussetzung und Mittel herkömmlicher Ethik, eher kritisch auf, da selbst sie noch Ausdruck der Entscheidungswillkür des Subjekts seien können. Würde aber mit der Negation der Wahl auch die Möglichkeit geleugnet, das Gute wählen zu können, muß Lévinas eine Empfänglichkeit des Menschen für das Gute beschreiben, die letztlich keine Alternative gewährt und, wie er es ausdrückt, »früher als Freiheit« ist. »Vom Guten beherrscht werden heißt aber genau, gerade von der Möglichkeit der Wahl, von der Koexistenz in der Gegenwart ausgeschlossen werden. Die Unmöglichkeit der Wahl ist hier nicht die Wirkung der Gewalt – […], sondern ist die Wirkung der unabweisbaren Erwählung durch das Gute, die für den Erwählten immer schon vollzogen ist.« 5
Steigerung der Sprache in das Paradox, Einbruch des Unsagbaren in die Ordnung der Logik, Begründung der Freiheit in der Gegensatzlosigkeit – was Lévinas hier zur Rechtfertigung des Humanismus anführt, ist Transzendenz des Darstellbaren im Bewußtsein seiner Vermittelbarkeit, wie sie bisher nur unter einem einzigen Begriff gedacht werden konnte – dem des Glaubens. 6 Lévinas, Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 73. 5 Lévinas, Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 76. 6 Den Bezug stellt er selbst her, Humanismus und An-Archie, in: Humanismus des anderen Menschen, S. 78. 4
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Martin Heidegger
XIV.2 Martin Heidegger Spätestens seit seiner Antwort auf die Frage von Jean Beaufret besteht kein Zweifel daran, daß Heidegger sein Denken nicht in der Existenzphilosophie – in dem Sinn, den er diesem Begriff gab – verortet wissen wollte. Doch bedurfte es überhaupt einer expliziten Zurückweisung dieser Kategorisierung? Ein Blick in die Sein und Zeit einführenden Aussagen schließt diese Zuordnung von Anfang an aus, wird eine bestimmte Deutung von Existenzphilosophie zugrunde gelegt. »Die Ontologien, die Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter zum Thema haben, sind demnach in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert und motiviert, die die Bestimmtheit eines vorontologischen Seinsverständnisses in sich begreift. Daher muß die Fundamentalonotologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.« 7
Heideggers Ziel ist die Begründung einer Kenntnis vom Sein in seiner Struktur, was er programmatisch als »Vorbereitung eines anderen Denkens« 8 ausweist. Zugleich betont er das Dilemma, sein neues Denken in einer Terminologie entfalten zu müssen, deren Bedeutungen seit der Antike fixiert sind und damit von seiner eigenen Verwendung teilweise massiv divergieren. Am deutlichsten wird diese Abweichung sicherlich am Begriff der Existenz, wie Heidegger selbst in seiner Vorlesung Die Metaphysik des deutschen Idealismus aus den vierziger Jahren konstatiert. Zusammen mit dem Brief über den Humanismus aus dem Jahre 1946 bietet dieser Text die wohl bemühteste Kommentierung seiner Bestimmung von Existenz in Sein und Zeit und damit seine deutlichste Distanzierung von Karl Jaspers’ Theorie. Denn das stellt Heidegger unter Hinweis auf Die geistige Situation der Zeit unmißverständlich klar – »Existenzphilosophie« hat hier ihren Ursprung und erfährt hier ihre verbindliche Definition. »Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt. In die Schwebe gebracht durch Überschreiten aller das
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Heidegger, Sein und Zeit, § 4, S. 13. Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 28.
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Humanismus und Philosophie der Existenz
Sein fixierenden Welterkenntnis, appelliert es an seine Freiheit und schafft den Raum seines unbedingten Tuns im Beschwören der Transzendenz.« 9
Besonders zwei Aspekte dieser Bestimmung von Jaspers rufen Heideggers Kritik hervor: der Wunsch des Menschen, als Einzelner er selbst zu werden, und die damit einhergehende Befähigung zu unbedingtem Tun. Für Jaspers verbinden sich beide Elemente in der Vorstellung der lebendigen Umsetzung des Gedachten, der philosophischen Existenz. 10 Gerade diese Folgerung stellt aber das krasse Gegenbild zu Heideggers Strukturanalyse des Daseins dar. »Was in Sein und Zeit mit dem überlieferten Titel ›Existenz‹ benannt wird, ist zwar auf das Selbstsein des Menschen bezogen, aber dieses Selbstsein ist nicht mehr als Subjektivität genommen; vielmehr wird das Menschsein als Dasein im Hinblick auf das erstmalig erblickte Seinsverständnis begriffen.« 11
Selbstsein ohne Subjektivität – was Heidegger hier fordert, zielt auf die Ausblendung aller individuierenden Merkmale und Tätigkeiten, die ein Mensch als sein Ich charakterisierend erfassen könnte. ›Selbst‹ wird dieser also nicht auf dem Wege einer fortgesetzten Spezifizierung, die ihn vom übrigen Seienden differenziert, sondern gerade umgekehrt durch eine Einsenkung in das Sein, das im Verstehen erfaßt wird. Verstehen ist, wie bereits in anderem Kontext skizziert wurde, kein rein kognitiver Akt, der als solcher wiederum ein Subjekt voraussetzen würde, sondern ein komplexer Vorgang des Gewahrens. Gerade jene Elemente, die für gewöhnlich als typisch existenzphilosophisch betrachtet werden, nämlich das individuelle Verwirklichen von Möglichkeiten, deren Wahl die Existenz des Einzelnen ausmacht, würden Heideggers Auffassung nach den Menschen nur immer weiter am Seinsverständnis hindern. Wie weit das Verstehen tatsächlich von einem Ergebnis subjektiver Rationalität entfernt ist, bestätigt Heidegger durch seine nähere Bestimmung dieses Begriffes, die zugleich eine grundlegende Fehldeutung innerhalb der Rezeption seiner Philosophie zeigt.
Zitat Die geistige Situation der Zeit, S. 149, in: Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 18. 10 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 149. Heidegger bemerkt, daß Jaspers seine eigene Terminologie der seinen angeglichen, diese dabei jedoch mißverstanden habe, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 38. 11 Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 45. 9
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Martin Heidegger
»›Verstehen‹ bedeutet in der Benennung ›Seinsverständnis‹ soviel wie: Entwerfen, entworfener Entwurf. Und Ent-wurf besagt: Er-öffnung und Offenhalten des Offenen, Lichten der Lichtung, in der das, was wir Sein (nicht das Seiende) nennen und somit unter diesem Namen auch kennen, eben als Sein offenkundig ist.« 12
Entwurf bezeichnet hier kein individuelles Verwirklichen existentieller Möglichkeiten, keine Wahl, die einzelne Optionen ergreift und andere verwirft, sondern, wenn der Begriff der Möglichkeit hier überhaupt Anwendung finden soll, ein Gewahren der Möglichkeitsstruktur des Seins schlechthin. Eine der Grundüberzeugungen der Existenzphilosophie, derzufolge die Existenz der Essenz vorausgeht, besagt auch immer dieses: Der einzelne Mensch entwirft im eigenständigen Gestalten seine Essenz, eigenverantwortlich und frei. Für diese Ansicht Heidegger als Vordenker heranzuziehen unterstellt seiner Konzeption des Entwurfes eine Dimension der Konkretion, die ihr gänzlich fremd ist. Ein anderer Aspekt, der dem Verstehen im Sinne Heideggers eignet, wird bei einer solchen Auslegung hingegen vernachlässigt. Dieses ist kein Erfassen, das sich jeweils auf einzelne Tatsachen oder Sachverhalte bezieht, die der Mensch versteht, sondern sie gilt dem Sein in seiner Gesamtheit. Zur Explikation dieser Überzeugung bezieht sich Heidegger auf seine Formulierung aus Sein und Zeit: »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz.« 13 Keinen der drei zentralen Termini will er im herkömmlichen Sinne gedeutet wissen, was es speziell zu betonen gilt, stützen sich doch Interpretationen, die sein Werk bisher als existenzphilosophisch klassifizierten, auf Aussagen wie diese. Dasein ist kein Ermöglichungsgrund individuellen Entwerfens und planenden Handelns, sondern das Gewahren des Seins als Relation. Immer wieder betont Heidegger die grundsätzlich differente Ebene des Verstehens, das seine Vorstellung vom Sein öffnet – nicht Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 41. Den Zusammenhang von Existenz und Verstehen betont Alfred Delp, Tragische Existenz, S. 72 f.: »Existenz ist jenes Sein, das über Seinsverständnis (Selbstverständnis) verfügt, endlich ist, in sich geschlossen, weil es ›je dieses‹ ist und nach oben keine Bindungen und Verweisungen zugibt, und trotzdem wieder nicht geschlossen, weil es ›geworfen‹ ist und ›angewiesen‹, ›des Seienden und seiner selbst nicht mächtig‹, dabei trotzdem wieder schöpferischer Grund für anderes Seiende, das im Dasein ›gegründet‹ ist, wesentlich konstituiert durch das Seinsverständnis.« 13 Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 34. 12
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in der Vereinzelung des Konkreten, sondern in der Gültigkeit des Umfassenden. »Seinsverständnis besagt nicht nur, daß der Mensch in seinem eigenen Sein sich verstehe, nicht nur, daß er dazu und daneben auch noch das Sein des übrigen Seienden verstehe, sondern daß er überhaupt und zuvor Sein verstehe und aus diesem Seinsverständnis her überhaupt erst zum Seienden, das er nicht selbst ist, und zum Seienden, das er selbst ist, sich verhalten kann.« 14
Der Mensch kann sich zu Seiendem verhalten, weil er das Sein versteht. Da Sein aber auch Sein der Zeit ist, gehört deren Verständnis unverzichtbar zum Erfassen des Seins in seiner Gänze. Dabei geht es Heidegger nicht um eine Definition von Zeit, die sie etwa als physikalisches Phänomen erfassen wollte, sondern um die spezifische Weise, in der sich menschliches Sein zu Zeit ›verhält‹. Signum dieses Verhältnisses ist zugleich Kennzeichen des Daseins, Zeitlichkeit als ›sich vorweg‹, als ›zu sich zurück‹ und als ›sich vergegenwärtigend‹ zu erfassen. So ist Zeit nicht ein absolutes Maß für die Veränderlichkeit von Dasein, sondern Erfahrungsbedingung von Sein als sein ›Da‹, als jenes Zentrum der Vergegenwärtigung, von dem aus sich die Natur der Zeitlichkeit von Sein überhaupt erst erschließt. Von diesem Zentrum aus vermag sich der Mensch erfahrend und verstehend in seine Vergangenheit und seine Zukunft zu denken, auf sie zu entwerfen, sich zu ihnen zu verhalten, was für Heidegger bedeutet, daß der Mensch diese kaum vorstellbare Wendung im Sein vornimmt, die ihn das Sein als solches vergegenwärtigen läßt. Gerade in Zusammenhängen wie diesem wird die dringende Not spürbar, ein Verstehen ohne Subjekt in einer Sprache ausdrücken zu wollen, die wiederum nur von einem sprechenden Subjekt artikuliert werden kann. »Jeder Augenblick des Da-seins ist als diese dreifach-einige Ent-rückung. Die Zeit ›ist‹ Zeit, indem sie sich ekstatisch zeitigt, […] Und Ex-sistenz nennt im Umkreis des Fragens von Sein und Zeit eben dieses: daß das Dasein ekstatisch entrückt hinaussteht (ex-sistiert) in die ekstatische Offenheit der Zeit.« 15
Zeitlichkeit in Metaphern der Räumlichkeit abzubilden, wie die Begriffe des Entrückens und des Hinausstehens zeigen, ist vielleicht 14 15
Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 43. Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 50 und S. 53.
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nicht unproblematisch, belegt aber Heideggers Bemühen, den tradierten Begriff von existentia im Sinne von »actualitas, Wirklichkeit im Unterschied zur bloßen Möglichkeit« 16 zu deuten. Ek-sistenz, Hinaus-Stehen in die Zeit und die Wahrheit des Seins, wird sein sprachliches Siegel, das der Mensch als Zeichen seines Verstehens dem Dasein einprägt. Es ist die Spur desjenigen, der in seinem Verständnis des Seins dessen relationale Struktur überhaupt erst als sinnvoll bloßlegt. Das Sein muß, auch wenn Heideggers es niemals so formuliert hätte, in gewisser Weise gebrochen werden, um sich in seiner Struktur zeigen zu können. Allein schon die methodologische Ankündigung in Sein und Zeit, Fundamentalontologie sein zu sollen, bekundet diese Notwendigkeit. Sein, dessen Natur sich nicht dem Verstehenden öffnet, bleibt unverstanden und damit sinnlos. Da Sein aber immer die Ek-sistenz des Verstehenden enthält, kann diese Gefahr höchstens dann bestehen, wenn der Mensch, dem diese Seinsweise eignet, seine Möglichkeit zu ek-sistieren unverstanden und ungenutzt in sich verfallen läßt. Vor diesem Hintergrund erweist sich Heideggers Denken als Existenzphilosophie par excellence, beansprucht aber für sich eine eigene Definition, die sich einer gängigen Deutung verweigert. In seinem bereits mehrfach angesprochenen Schreiben antwortet Heidegger 1946 auf Fragen von Jean Beaufret, darunter auch »Comment redonner un sens au mot ›Humanisme‹ ?« 17. Daß Beaufret auch nach dem Bekanntwerden von Heideggers Verstrickungen in den Nationalsozialismus den Kontakt zu diesem aufrechterhält, spricht für dessen Wertschätzung von Heideggers Philosophie und seine Ansicht, diese losgelöst vom politischen Engagement ihres Urhebers zumindest diskutieren zu können. So attestiert er ihr im Gegensatz zum Denken des Karl Jaspers Originalität, die eine Betrachtung rechtfertigt. 18 Heidegger greift in seiner Antwort auf Beaufrets Frage nach einem möglichen neuen Sinn des Humanismus, die Reaktion auf Jean-Paul Sartres berühmten Vortrag L’Existentialisme est une Humanisme – Der Existenzialismus ist ein Humanismus ist, seine be-
16 17 18
Heidegger, Über den Humanismus, S. 16. Heidegger, Über den Humanismus, S. 7. Beaufret, De l’existentialisme à Heidegger, S. 14.
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reits in Sein und Zeit dargestellte Bestimmung des Begriffes der Eksistenz auf. Hier bezeichnet er sie als »die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen zum Sein anwest« 19. Bei dieser Bestimmung handelt es sich jedoch nicht um eine klassische Definition des Menschen, sondern um die Ausweisung der Möglichkeit zur Existenz. Insofern, so argumentiert Heidegger selbst, »ist das Denken in Sein und Zeit gegen den Humanismus. […] Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt. […] Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. […] Es ist der Humanismus, der die Menschheit des Menschen aus der Nähe zum Sein denkt.« 20
Kann sich aber ein Konzept von Humanismus darauf beschränken, den Menschen in seiner Menschheit zu fassen, ohne dabei sein Vermögen der Menschlichkeit zu berücksichtigen? Heidegger selbst spricht, sein eigenes Denken kommentierend, von einem Humanismus »seltsamer Art«, da es ihm »gerade nicht auf den Menschen, lediglich als solchen, ankommt« 21. Wenn es nicht auf den Menschen »als solchen« ankommt, so ist der Mensch als Selbst gefordert, als Eksistenz, die sich verstehend zu sich selbst und zum Sein insgesamt verhält. So zumindest argumentiert Heidegger in strikter Anlehnung an Sein und Zeit. In seinem Brief an Jean Beaufret befindet er sich in einer anderen Position als Denker, der nicht über die Frage zu entscheiden hat, ob Humanismus im 20. Jahrhundert überhaupt noch Sinn haben kann, sondern der darüber befragt wird, wie diesem ein neuer Sinn zu verleihen sei. Diesen Aspekt der Kontinuität eines Ideals nutzt er, um seinen Begriff des Menschen in der Spannung zwischen einer Gültigkeit, die einmal Bestand hatte, und einer solchen, die es zu verwirklichen gilt, zu installieren. »Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. […] Liegt nun aber nicht in diesem Anspruch an den Menschen, liegt nicht in dem Versuch, den Menschen für diesen Anspruch bereit zu machen, eine Bemühung um den Menschen? Wohin anders geht ›die Sorge‹ als in die Richtung, den Menschen
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Heidegger, Über den Humanismus, S. 19. Heidegger, Über den Humanismus, S. 19 und S. 29. Heidegger, Über den Humanismus, S. 31.
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wieder in sein Wesen zurückzubringen? Was bedeutet dies anderes, als daß der Mensch (homo) menschlich (humanus) werde?« 22
XIV.3 Karl Jaspers Zu dem Kanon immer wiederkehrender Begriffe im Werk von Karl Jaspers zählt ohne Frage derjenige des »Sprunges« 23 – eindeutige Referenz auf das Denken des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Er präformiert jenes Bild dynamischen Menschseins, das auch Jaspers vertritt und dessen Voraussetzungen gemeinhin als typisch für das existenzphilosophische Verständnis des Menschen gelten: die Wahl, das Durchbrechen des Willens zum Selbst, die Angst, 24 die Natur des Menschen als Synthese aus Geistigem und Seelischem und das Verhältnis, in dem sich dieser zu sich selbst verhält 25. Grundlage all dieser Elemente ist der unbedingte Glaube an die Selbst-Gestaltungs-Fähigkeit des Menschen, zu gleichen Teilen Möglichkeit und Herausforderung, den Jaspers noch in seiner letzten Vorlesung Chiffern der Transzendenz im Jahr 1961 in programmatischer Eingängigkeit zusammenfaßt: »Wir sind in der Zeit in der Unruhe. Wir sind nicht so, wie wir sind, sondern immer in der Gefahr, es nicht mehr zu sein, unter der Aufgabe, es werden zu sollen.« 26
Vergleichbare Formulierungen durchziehen fast wie ein inneres Echo der Selbstvergewisserung Jaspers’ Werk 27 und wirken so als dessen Kern, der kontinuierlich beschworen wird, um Denken und Sprechen immer wieder aufeinander zu beziehen.
Heidegger, Über den Humanismus, S. 9 f. Um nur einige Passagen zu nennen, in denen Jaspers die Bewegung des Sprunges zur Illustrierung existentieller Haltung nutzt: Psychologie der Weltanschauungen, S. 297; Philosophie II, I.2, S. 35 und III.7, S. 205; Einführung in die Philosophie, S. 51 und Chiffern der Transzendenz, S. 15. 24 Jaspers, Die Geistige Situation der Zeit, S. 39, 57 f. und 71. 25 Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 36 f. In Die geistige Situation der Zeit, S. 149 weist Jaspers explizit darauf hin, daß die Existenzphilosophie »ihren modernen Ursprung und zugleich ihre unvergleichliche Ausbreitung« im Denken Kierkegaards gefunden habe. 26 Jaspers, Chiffern der Transzendenz, S. 41. 27 So etwa in Einführung in die Philosophie, S. 57: »Menschsein ist Menschwerden.« 22 23
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Aus diesem gedanklichen Zentrum speist sich auch der ExistenzBegriff, den nicht nur Heidegger als Inbegriff existenzphilosophischen Selbstverständnisses wertet. Bemerkenswert ist es allerdings, daß Jaspers als Vertreter einer philosophischen Strömung in Anspruch genommen wird, der er selbst in den dreißiger Jahren gewisse Verfallsrisiken attestiert. »Existenzphilosophie kann in bloße Subjektivität abgleiten. Das Selbstsein wird mißverstanden als Ichsein, das solipsistisch sich abschließt als Dasein, das nur dieses sein will. […] Bald als Individualismus gescholten, bald als Rechtfertigung für persönliche Schamlosigkeit benutzt, wird sie der gefährliche Boden eines hysterischen Philosophierens.« 28
Mit beinahe prophetischem Weitblick mögliche Entwicklungen erahnend, will Jaspers hier das ›Projekt Existenzphilosophie‹ vor falscher Inanspruchnahme sichern, stimmt er doch in den Grundüberzeugungen seines eigenen Denkens zutiefst mit diesem überein. Fast wirkt sein Konzept der »Existenzerhellung« daher wie ein innerer Korrektur-Mechanismus, der immer wieder offenlegen soll, worum es hier eigentlich geht. »Existenzerhellung führt, weil sie gegenstandslos bleibt, zu keinem Ergebnis. Die Klarheit des Bewußtseins enthält den Anspruch, aber bringt nicht Erfüllung. Als Erkennende haben wir uns damit zu bescheiden. Denn ich bin nicht, was ich erkenne, und erkenne nicht, was ich bin. Statt meine Existenz zu erkennen, kann ich nur den Prozeß des Klarwerdens einleiten.« 29
Dieser Prozeß wird in der Existenzerhellung eröffnet, die folglich nicht bestimmt, was Existenz sei, sondern eine Möglichkeit aufzeigt, wie der Mensch sie zu verwirklichen vermag. Mit der Charakterisierung der Relation von Erhellung und Verständnis kommt Jaspers der Deutung des Verstehens, die Heidegger vertritt, weitaus näher, als dieser durch seine Klassifizierung des jasperschen Denkens zugeben wollte. Jaspers legt die Kriterien seines existenzerhellenden Denkens offen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie gerade keine solchen im herkömmlichen Sinne sein können.
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Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 150. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 150 f.
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»Die Denkmittel zur Erhellung der Existenz müssen einen eigentümlichen Charakter haben, wenn Existenz nicht ein Objekt in der Welt und kein gültiger idealer Gegenstand ist.« 30
Die Eigentümlichkeit, die hier angekündigt wird, resultiert aus der Tatsache, daß das »Neue Denken«, wie es an anderer Stelle auch heißt, mit den wesentlichen Merkmalen wissenschaftlicher Arbeit gezielt bricht, da sein ›Gegenstand‹ eben kein Gegenstand, sondern eine Gegebenheitsweise ist. Diese bezeichnet nicht etwas, das in ihrem Ausdruck zu einem abgeschlossenen Bestand fixiert werden und als Aussage allgemeine Gültigkeit beanspruchen könnte, sondern sie verweist auf eine Möglichkeit – die Möglichkeit, Existenz neu zu begreifen. »Existenz selbst ist unverstehbar. Sie wird in der Verstehbarkeit, durch die sie in die Sphäre des Allgemeinen tritt, zugänglich; sie selbst aber ist der Prozeß des Sichverstehens, in der Weise, daß sie an der Grenze des Verstehbaren erst wieder ursprünglich von neuem sich entgegenkommt.« 31
Verstehen erscheint in diesem Sinne nicht als Mittel zur Festschreibung des Ergriffenen, sondern als Weg, die Möglichkeit von Verstehbarkeit als Annäherung an ein Unendliches offenzuhalten. Fast scheint hierin wiederum die lévinasische Formulierung der Berührung, die geringer ist als die der Tangente, 32 anzuklingen. Denn für beide steht eines fest: Angesichts des Versuches, auf menschliches Sein in seiner Prozesshaftigkeit zu verweisen, versagt der Verstand. 33 Denn er ist ungeeignet, Existenz als Möglichkeit zu erfassen, da allein im Wort schon der Anschein eines realen Bezuges zu seinem Bezeichneten erweckt wird, den es im Sinne der Existenzerhellung niemals geben kann. An die Stelle der Worte setzt Jaspers daher »signa«. »Durch die signa spricht Existenzerhellung aus, was für mögliche Existenz wahres Sein ist, nicht als Feststellung dessen, was objektiv ist, sondern als
Jaspers, Philosophie II, 1, S. 9. Zur detaillierten Aufstellung der »Denkmittel« siehe S. 11 ff. 31 Jaspers, Philosophie II, 1, S. 12. 32 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, B.2, S. 81 f.: »Die Wahrheit entsteht da, wo ein Seiendes, das vom Anderen getrennt ist, spricht. Die Sprache berührt den Anderen nicht, auch nicht bloß wie eine Tangente; sie erreicht ihn, indem sie ihn anruft, ihm befiehlt, oder indem sie ihm mit der ganzen Geradheit dieser Beziehung gehorcht.« 33 Jaspers, Philosophie II, 1, S. 11: »Der Zugriff zur Erhellung der Existenz bleibt für den bloßen Verstand ein hoffnungsloser Versuch.« 30
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das, was ich nicht erfassen kann, ohne es sogleich als eigentlich zu wollen, weil ich es der Möglichkeit nach bin.« 34
Dankt damit der Verstand als Vermögen der Existenzerhellung in gewissem Umfang ab, so tritt der Wille des Menschen an seine Stelle, womit Jaspers den Deutungsrahmen klassischer Erkenntnistheorie und Logik bis zum Äußersten ausschöpft, vielleicht sogar zerreißt. »Seinsaussagen im existenzerhellenden Philosophieren treffen die Freiheit. Sie sagen im transzendierenden Gedanken aus, was aus Freiheit sein kann. Ihr Wahrheitskriterium ist statt eines objektiven Maßstabs […] vielmehr der Wille selbst, der bejaht oder abstößt. Ich prüfe als Freiheit durch mich selbst, das, was ich nicht nur bin, sondern sein kann, und was ich sein will, aber nur wollen kann in der Helle des Bewußtseins.« 35
Ist der Wille also die Größe, an der Wahrheit zu bemessen ist, so wird damit jeglicher Objektivitätsanspruch, der ihr in der philosophischen Tradition immer wieder zugewiesen wurde, hinfällig. An dessen Stelle tritt die subjektive Prüfung durch den Willen, die jedoch für Jaspers längst nicht mehr an die engen Grenzen ich-bezogener Bestimmung gebunden ist. Bereits im Kontext seiner Theorie der Kommunikation hatte sich gezeigt, welch fundamentale Funktion ihr im Prozeß der MenschWerdung zufällt. Diesen als solitäres Geschehen begreifen zu wollen, ist nach Jaspers’ Überzeugung unmöglich, da sich nur in der bedingungslosen Begegnung mit den Anderen der defizitäre Modus des Ich-Seins zur komplementären Möglichkeit des Selbst-Sein-Könnens weiten kann. 36 Im vorliegenden Zusammenhang weist Jaspers nun ergänzend darauf hin, daß dieses Ich, das sich nicht als Isoliertes zu erfassen vermag, auch nicht mehr Ursprung von Wahrheit sein kann. Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich wirken, wenn doch der Wille, ohne Frage zunächst als individuell wirkendes Vermögen, Kriterium der Wahrheitsbegründung sein soll. Der Wille gilt für Jaspers aber niemals nur dem getrennt zu denkenden Ich, sondern immer zugleich den Anderen, mit denen das Ich kommuniziert. Hierin liegt, um es noch einmal zu betonen, die markanteste Differenz zum heideggerJaspers, Philosophie II, 1, S. 15. Jaspers, Philosophie II, 1, S. 10. 36 Eine Formulierung, die diese Tatsache besonders klar bestätigt, findet sich in Der philosophische Glaube, S. 39: »[…] weil das Dasein nur mit anderem Dasein möglich ist, Existenz nur mit anderer Existenz zu sich selbst kommt […].« 34 35
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schen Begriff des Mitseins, das ein ontologisches Testat, jedoch keine Bedingung von Kommunikation, ist. Nutzt Jaspers immer wieder die Metaphorik der Helle und der Erhellung zur Beschreibung des Verstehens, entsteht die Frage, welches Vermögen er diesem Verstehen zuordnet. Daß der Verstand hierfür ungeeignet ist, liegt allein schon in dessen Tätigkeitsstruktur begründet, Sachverhalte und Phänomene zu benennen und damit letztlich zu fixieren. Unter erneuter Berufung auf Kierkegaard und auch auf Friedrich Nietzsche 37 greift Jaspers den Begriff der Vernunft auf, um ihn, seiner tradierten Bestimmung teilweise entkleidet, zum eigentlichen Instrument der Philosophie als »Zwischensein zwischen Ursprung und Ziel« zu erklären. »Etwas in uns, das auf diesem Wege führt, uns aus unserem Subjekt antreibt, vom Objekt her anzieht, ohne selber etwas Greifbares zu sein, das, wodurch wir eigentlich philosophisch leben, heißt Vernunft. Vernunft ist nie ohne Verstand, aber ist unendlich viel mehr als Verstand. […] Vernunft verwehrt es, sich zu fixieren in irgendeinem Sinn von Wahrheit, der nicht alle Wahrheit in sich schließt. […] Vernunft ist das Umgreifende in uns, das keinen eigentlichen Ursprung hat, sondern Werkzeug der Existenz ist. […] Vernunft fordert grenzenlose Kommunikation, sie ist selbst der totale Kommunikationswille.« 38
Wie könnte in Begegnung, die als »grenzenlos« verstanden wird, jemals ein letztes, den Prozeß des »Sichangehenlassens« 39 beschließendes Wort gesprochen werden – oder, lévinasisch gedacht, wie könnte ein Begehren, das als unendlich begriffen wird, jemals befriedigt werden? Wie nahe sich beide Denker in ihrem Bekenntnis zum ewigen Geschehen des Begegnens tatsächlich sind, wird gerade mit Blick auf Jaspers’ Bestimmung der Vernunft erkennbar. Diese setzt kein Wissen absolut und postuliert keinen Wahrheitsanspruch, der auf Objektivität gründet, sondern sie setzt Wahrheit als Möglichkeit aus. Damit wird diese in extremer Weise subjektiviert, ohne dadurch egozentrisch motiviert zu sein. Sie wird nicht auf dem Wege der Abstraktion gewonnen, sondern im Prozeß radikaler Versenkung in die Situationen des Menschen. So ist ihr Bedingungsrahmen so variabel, wie die37 38 39
So etwa in Vernunft und Existenz, S. 14 und S. 57. Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 37 ff. Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 39.
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se Situationen es sind, die jedoch stets in einem Merkmal übereinstimmen: in ihrer Relationalität. »Wo Vernunft wirksam ist, sucht, was ist, Verbindung.« 40 Der relationale Charakter des Seins ließ sich auch bei Heidegger nachweisen, doch führt dessen Verstehen letztlich zu keiner Forderung, deren Umsetzung sich nicht denkend, sondern lediglich tuend verwirklichen ließe – ganz im Gegenteil, Heidegger betont wiederholt, daß das Denken bereits selbst ein Handeln sei, womit sich dessen zusätzliche Realisierung für ihn nahezu erübrigt. Derjenige, der versteht, was Sein ist, verspürt in seiner Sicht wohl kaum das Verlangen, dieses Verstehen einem anderen Menschen mitzuteilen. Ganz anders bei Jaspers. »Existenz kann erst in der steten Gefahr der Endlosigkeit ihrer Reflexion, und in der vollkommenen Fraglichkeit von allem, als unerläßlichen Artikulationen möglichen Selbstseins, das darin die grenzenlose Offenheit wagt, zu sich kommen. Diese Offenheit, die ich auch dem Anderen gegenüber nur in dem Maße haben kann, als ich sie mit mir selbst wage, fördert in dem endlosen Medium der Wißbarkeiten und Reflexionen die jeweils unwißbare Einzigkeit zutage. […] Zu mir als mir selbst kann aber nicht selbst sein, wer sich mir unterwirft, […]. Das Wunderbare, das einzige eigentlich Seiende, das mir begegnet, ist der Mensch, der er selbst ist.« 41
Für ihn, den psychologisch geschulten Geist, steht fest, daß nichts eigentlich geschieht, das nicht auf ein Gegenüber bezogen wäre. Ob es dabei dem Anderen gelten solle, wie es Lévinas als Konsequenz formuliert, ist freilich eine andere Frage. Von Unterweisung des Selben durch den Anderen, von der Anklage durch dessen Antlitz, von der Meisterschaft des Anderen über das Ich ist bei Jaspers keine Rede, wodurch seine Darstellung der Begegnung zwischen zwei Individuen ausgewogener wirkt, unbelasteter vielleicht auch, weil nicht der enorme Druck ethischer Verpflichtung vom ersten Moment an auf ihr liegt. Eine noch immer diskutierte Problematik besteht im vermeintlichen Dispens der Freiheit, den Lévinas scheinbar einklagt, um der absoluten Aufforderung durch den Anderen nicht das Gegengewicht individueller Entscheidungsmöglichkeit zugestehen zu müssen. Eine solch weitreichende Annahme wäre für Jaspers unnötig und sogar unsinnig, da sich die Freiheit ge40 41
Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 39. Jaspers, Philosophie II, I.2, S. 43 f.
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rade im unbedingten Willen zur Kommunikation, im permanenten »Sichangehenlassen« durch das Gegenüber äußert. Würde dieses nicht frei zugestanden, wäre es nicht Ausdruck dessen, was Jaspers als die »neue denkende Gesamthaltung des Menschen« 42 bezeichnete. In dieser Haltung, die sich dem unmittelbaren Verhältnis zum Anderen verpflichtet weiß, überschreitet der Einzelne je situativ jede Selbstsicht, die ihn auf ein Wesen in abgeschlossener Komplexität verpflichten würde. Überschreiten auf ein Offenes hin, nicht richtungslos, sondern bezogen auf den Anderen, auf den sich der Einzelne angewiesen fühlt. Angewiesen-Sein ist für Jaspers aber alles andere als Abhängigkeit, sondern statt dessen Bezogen-Sein und Verwiesenheit in einem. 43 Daß die Vorstellung dieser elementaren Bindung des Menschen nicht im menschlichen Gegenüber ihre Erfüllung und ihren Abschluß findet, wird deutlich, wenn Jaspers betont, daß eigentliches Existieren nur in der Verweisung an das Göttliche als das absolute Gegenüber vorstellbar ist. Bezug von Seiendem auf Seiendes ist aber allenfalls die Voraussetzung des Mensch-Seins, nicht bereits dessen Bestimmung. Denn woher sollte Jaspers die Kriterien einer Definition des Menschen nehmen, überformt dieser doch jedes momentane Bild seiner selbst durch ein ständig sich veränderndes Gefüge von Relationen? »Die Frage nach dem Menschsein, welche aus der Dogmatik fixierter alternativer Weltanschauungen herausführen soll, ist aber als solche keineswegs eindeutig. Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für allemal ist, sondern er ist Weg; nicht nur ein festzustellendes Dasein als Bestand, sondern darin Möglichkeit durch Freiheit, aus der er noch in seinem faktischen Tun entscheidet, was er ist.« 44
Zweifellos, so argumentiert Jaspers, liegt die Gefahr nahe, aus dem Bewußtsein menschlicher Freiheit das ideale Bild eines seiner Freiheit bewußten Menschen zu konstruieren, das dann als Norm und Richtmaß der Menschlichkeit das Streben des Einzelnen motiviert und ausrichtet. So selbstverständlich, wie die Beschreibung des psychiJaspers, Vernunft und Existenz, S. 14. In Der philosophische Glaube, S. 51 ff. betont Jaspers das Faktum der Angewiesenheit auf den Anderen ausdrücklich. Diese ist von so zentraler Bedeutung, daß er sie als Geschenk bezeichnet. 44 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 135 f. In Die Chiffern der Transzendenz, S. 16 betont Jaspers das grundsätzliche Ungenügen jedes überlieferten Menschenbildes. 42 43
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schen Mechanismus, der hier am Werke ist, klingt, folgt auch die Warnung vor seiner Konsequenz. »Bilder des Menschen, die als Ideale gelten, denen wir gleich werden möchten, gibt es zahlreiche. […] Es ist für unser philosophisches Bewußtsein entscheidend, daß wir uns von der Unwahrheit und Unmöglichkeit solcher Wege überzeugen. […] Wie der Mensch uns verschwindet, wenn er als Forschungsgegenstand in Rassentheorie, Psychoanalyse, Marxismus als im Ganzen begriffen oder begreifbar ausgegeben wird, so verschwindet uns die Aufgabe des Menschseins in den Bildern vom Ideal des Menschen.« 45
Wo ein Ideal den Weg des Menschen zum eigentlichen Selbst-Sein versperren würde, ist aber gleichwohl Raum für den Glauben an die Möglichkeit dieses Existierens und die Hoffnung auf ihre ungehinderte Entfaltung. So klingt schon aus Jaspers’ relativ frühem Text Die geistige Situation der Zeit der unüberhörbare Ton eines elementaren Vertrauens in die Selbstwerdungsfähigkeit des Menschen, dessen unerschütterliche Gewißheit auch noch die letzten Vorlesungen durchweht. »Das Merkwürdige ist, dass wir uns ausbleiben können, dass wir ratlos werden und ungewiss, und dass, wenn wir gewiß werden und dann mit dem Bewußtsein der Freiheit uns entschließen, dann spüren wir: Wir sind nicht frei durch uns selbst, sondern wir werden in unserer Freiheit uns geschenkt und wissen nicht, woher.« 46
XIV.4 Jean-Paul Sartre Der Mensch, sich selbst in seiner Freiheit geschenkt – so formuliert es Jaspers und drückt damit genau das Gegenteil dessen aus, was zwanzig Jahre zuvor Jean-Paul Sartre 47 in seinem für Furore sorgenden Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus artikulierte: Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 55. In Psychologie der Weltanschauungen beschreibt er recht ausführlich den Typus des »Humanen«, der um der Allgemeingültigkeit des Idealen willen die Relationen zum Einzelnen und Konkreten versäumt, S. 352 ff. Und in Die geistige Situation der Zeit weist er entschieden jene Auffassungen zurück, die im »philosophischen Leben« eine Art »Vorschrift« zur Erlangung eines »idealen Typus« sehen wollen, S. 182. 46 Jaspers, Die Chiffern der Transzendenz, S. 50. 47 Christina Münk weist in Handeln oder Sein auf eine gegenwärtig verhaltene Rezeption der Philosophie Sartres hin, S. 13 f. Wird diese Beobachtung anhand der Anzahl und Art neuer Publikationen überprüft, scheint sie sich zu bestätigen. 45
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Jean-Paul Sartre
»[…] der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.« 48
Die Motive der Freiheit, der Geworfenheit und der Verantwortung, die Sartre hier in plakativer Eindringlichkeit verknüpft, finden sich auch bei den bislang betrachteten Denkern, erklingen hier aber in gänzlich fremder Situation. Ein Philosoph sieht sich dazu genötigt, den Mißdeutungen und Verzerrungen seiner Theorien öffentlich entgegenzutreten. Unter heute kaum noch vorstellbarem Publikumsinteresse fand so am 28. Oktober 1945 der Vortrag Sartres in Paris statt, nur wenige Monate nach Kriegsende also. Zu keinem Zeitpunkt war das Bedürfnis der Menschen nach Philosophie wohl stärker, vielleicht auch die Hoffnung, sie könne Erklärungen für das Geschehene und Strategien zur Vermeidung einer Wiederholung anbieten. In diesem Klima äußerster geistiger Empfänglichkeit und zugleich extremer ideologischer Hellhörigkeit repräsentieren Denker wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus den bis dahin kaum gekannten Typus des Intellektuellen, der zu den drängenden Fragen der Zeit Stellung bezieht 49. Daß sie nicht die einzigen sind, die aus einem solchen Selbstverständnis und einer solchen Selbst-Verpflichtung heraus öffentlich das Wort ergreifen, zeigt ein vergleichender Blick. Jaspers beleuchtet die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahren und untersucht vor allem die Frage, inwieweit dem deutschen Volk eine Schuld am Holocaust zugesprochen werden müsse 50. Hannah Arendt, als Soziologin der Bezüge des theoretischen Denkens auf das Geschehen einer Zeit ohnehin stärker verpflichtet, begleitet 1961 den Prozeß gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und kommentiert dessen Ablauf in der Zeitung The New Yorker. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 155. Zugrunde gelegt wird hier der Begriff des Intellektuellen, wie Sartre selbst ihn 1965 in einem Vortrag in Tokio definiert: »Der Intellektuelle ist also der Mensch, der sich bewußt wird, daß es in ihm und in der Gesellschaft einen Gegensatz gibt zwischen der Suche nach der praktischen Wahrheit […] und der herrschenden Ideologie […].« Plädoyer für die Intellektuellen, S. 107. Camus fordert vom Schriftsteller in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1957 »[…] den Dienst an der Wahrheit und den Dienst an der Freiheit«. Kleine Prosa, S. 9. 50 Jaspers, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschland, 1946; Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 1957; Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, 1966. 48 49
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Humanismus und Philosophie der Existenz
Hier zeigen sich Beispiele von intellektueller Verantwortung in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlicher Resonanz, die aber alle eine bisher kaum zu beobachtende Bereitschaft der jeweiligen Denker bezeugen, ihre Theorien auch in neuen medialen Formen zum Gegenstand allgemeinen Bewußtseins und öffentlicher Meinungsbildung zu machen. Jean-Paul Sartre und Albert Camus vertiefen diese Motivation noch um ein Vielfaches, indem sie den Anteil ihrer publizistischen Tätigkeit im Vergleich zu den klassischen Formen philosophischen Arbeitens deutlich erhöhen und sich auch der Medien des Romans, des Theaterstücks und des Film-Drehbuches bedienen, um ihre Ansichten den Menschen zugänglich werden zu lassen. Der Philosoph als Intellektueller und der Intellektuelle als öffentliches Gewissen – in dieser Zuspitzung gilt das Selbstverständnis des Denkers weder für Rosenzweig noch für Heidegger und nicht einmal, so verwunderlich dieser Umstand auch sein mag, für Lévinas. Jaspers kommt ihm sicherlich am nächsten, wodurch sein Anspruch an das, was Philosophie sein und leisten könne, deutlich charakterisiert wird. Mit Blick auf diese sehr unterschiedliche Selbstdarstellung als Denker in seiner Zeit zeigt sich die deutlichste Möglichkeit einer Differenzierung zwischen Existenzphilosophie und Existentialismus. Erstere plädiert für eine Veränderung des Bewußtseins, letzterer für ein Bewußtsein der Tat. Eine immer wieder geäußerte Kritik am Werk von Martin Heidegger beklagt, daß dieses nicht in Anweisungen zur Handlung münden würde. Sartre greift diesen Vorwurf bereits 1943 in Das Sein und das Nichts auf und stellt ebenso bestimmt wie wertungsfrei fest, daß in Heideggers Philosophie der andere Mensch aufgrund seiner theoretischen Konzeption niemals persönlich werden könne 51 und trifft die heideggersche Intention mit dieser Einschätzung exakt. Das Handeln des einzelnen Menschen, individuiert in der Gesellschaft seiner Zeit und sozialisiert in deren Selbstverständnis, ist nicht sein Thema, wohl aber das Denken des Menschen, der sich der Möglichkeit, eigentlich zu sein, bewußt ist. Obwohl Sartre diese Position Heideggers toleriert, würde er sie niemals als Matrix seines eigenen Denkens akzeptieren. Denn speziell Individuierung und Sozialisation betrachtet er als Prozesse von 51
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, III, S. 448 ff.
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Jean-Paul Sartre
äußerster zwischenmenschlicher Dynamik, wie besonders eine weitere Bezugnahme auf Heidegger zeigt. Dessen Verständnis des Mitseins von seiner eigenen Deutung des Für-Andere-Seins klar unterscheidend, konstatiert er: »›Das Mitsein‹ hat eine ganz andere Bedeutung: ›mit‹ bezeichnet nicht den wechselseitigen Anerkennungs- und Kampfbezug, der sich daraus ergab, daß mitten in der Welt ein anderes Dasein [réalité-humaine] als meines erscheint. Es drückt vielmehr eine Art ontologische Solidarität zur Ausnutzung dieser Welt aus.« 52
Insofern Sartre die seiner Bestimmung nach herkömmliche Auffassung überwinden will, derzufolge ein Mensch einen Anderen als Objekt der Erkenntnis erfaßt, bietet Heidegger ihm eine Vorlage zur Weiterentwicklung seiner eigenen Konzeption, indem er diesen Erkenntnis-Bezug durch einen Seins-Bezug ersetzt. Der Andere wird bei Heidegger, so formuliert es Sartre, »ex-zentrisches Glied, das zur Konstituierung meines Seins beiträgt« 53. Ist er damit schon aus seinem bloßen Objekt-Sein befreit, da die Vergewisserung seines Seins nicht mehr erkennend gewonnen werden muß, sondern aus dem bloßen Wissen um dessen Sein resultiert, besteht die Aufgabe für Sartre darin, die Modi dieses Seins-Wissens in Form intersubjektiver Bezüge zu charakterisieren. Vor diesem Hintergrund entfaltet er in seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts genau jene Konzeption von Freiheit und Verantwortlichkeit, deren tatsächlichen philosophischen Sinn er in seinem Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus meint, richtigstellen zu müssen. Obwohl er sich später von der stark simplifizierten Form dieser öffentlichen Darstellung distanziert, bietet sie noch immer eine einzigartige Gelegenheit, einen Abgleich von philosophischer Theorie und deren populärem Verständnis vorzunehmen. Besonders interessant ist dieser Vergleich mit Blick auf den Begriff des Existentialismus, der in Das Sein und das Nichts nicht vorkommt. Im Vortrag wird er in der klassifizierenden Allgemeingültigkeit verwendet, in der er geprägt wurde, um das Lebensgefühl der Menschen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beschreiben.
52 53
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, III, S. 445. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, III, S. 444.
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Humanismus und Philosophie der Existenz
»Jedenfalls können wir von Anfang an sagen, daß wir unter Existentialismus eine Lehre verstehen, die das menschliche Leben möglich macht und die außerdem erklärt, daß jede Wahrheit und jede Handlung ein menschliches Milieu und eine menschliche Subjektivität implizieren. […] Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert.« 54
Selbst in dieser vereinfachten Form werden die Grundelemente von Sartres Philosophie der Existenz erkennbar: Weltbezug, intersubjektives Geschehen, Milieu und Handlung – Elemente, die, vom Handeln abgesehen, in differierendem Maße alle auch bei den bisher betrachteten Denkern Verwendung finden. Bei keinem von ihnen trifft man jedoch alle vier Komponenten in gleichwertiger Gewichtung an, wie es bei Sartre der Fall ist. Er braucht eine Betrachtung des Bezuges des Menschen zur Welt, zum anderen Menschen und zur konkreten Variation ihrer situativen Bedingtheit, um Freiheit als Voraussetzung allen Handels bestimmen zu können. Wie seine Vorgänger hat Sartre ein Bild des Menschen vor Augen, wie er ist und wie er sein kann, was durchaus die Folgerung zuläßt: wie er sein sollte. 55 All jene Stimmen, die Sartres Denken aufgrund seiner Ablehnung der Verbindlichkeit tradierter Werte in Gesellschaft und Religion moralische Beliebigkeit vorwerfen wollen, treffen insofern die Wahrheit, als Sartre den Wert menschlicher Existenz tatsächlich nicht mehr in überkommener Weise gerechtfertigt sieht, verfehlen die Intention des existentialistischen Menschenbildes jedoch vollständig, da dieser Wert nun vom Individuum in radikaler Verantwortung für sich, den Anderen und die Gesellschaft selbst begründet werden muß. So kann Sartre sein Denken ohne weiteres als humanistisch bezeichnen, auch wenn er dessen Definition neu formulieren muß. »Es gibt aber einen anderen Sinn von Humanismus, der im Grunde folgendes meint: der Mensch ist ständig außerhalb seiner selbst; indem er sich entwirft und verliert außerhalb seiner selbst, bringt er den Menschen zur Existenz, und andererseits kann er existieren, indem er transzendente Ziele verfolgt; […] Es gibt kein anderes Universum als ein menschliches, das Universum der menschlichen Subjektivität. […] das ist es was wir existentialistischen Humanismus nennen. Humanismus, weil wir den Menschen daran 54 55
Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 146 und S. 149. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 151.
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Jean-Paul Sartre
erinnern, daß es keinen anderen Gesetzgeber als ihn selbst gibt und daß er in der Verlassenheit über sich selbst entscheidet; und weil wir zeigen, daß der Mensch sich menschlich verwirklicht nicht durch Rückwendung auf sich selbst, sondern durch die ständige Suche eines Ziels außerhalb seiner – wie diese Befreiung oder jene konkrete Leistung.« 56
Eine wichtige inhaltliche Unterscheidung zwischen Existenzphilosophie und Existentialismus hat sich bereits in der Bewertung des Handelns als notwendiges Konstituens menschlichen Seins angedeutet. In Sartres Bekenntnis zum Humanismus zeigt sich unmißverständlich, daß ein Denken, das nicht zu einem »Ziel außerhalb seiner« führen würde, sicherlich möglich, doch ganz gewiß nicht sinnvoll ist, weil es den Menschen nicht dazu befähigt, daß er »sich menschlich verwirklicht«. Wie wird in Anbetracht dieser klaren Wertigkeit von theoretischer Betrachtung und ihrer Realisierung dann aber ein philosophischer Text konstruiert sein, der genau diese Relation begründet? Erstaunlicherweise präsentiert sich Das Sein und das Nichts als ein sehr klassisch aufgebautes Werk in phänomenologischer Ausrichtung 57, das in keiner Weise den Anspruch zu erheben scheint, eine Neubesinnung der Philosophie im Ganzen einleiten zu wollen. Gerade dieser Vorsatz kennzeichnete aber in unterschiedlicher Intensität alle bisher betrachteten Schriften. Keine Spur von Kritik an der philosophischen Tradition, an einem erstarrten Begriff vom Sein, an einer einseitigen Präferenz der Vernunft, an dem lastenden Erbe des deutschen Idealismus, an der grundsätzlichen Ego-Zentrik der abendländischen Philosophie; kein Anzeichen für einen Versuch, ein »neues Denken« zu begründen und dieses allein schon in der Sprache auszudrücken, die teilweise gezielt die Grenzen zwischen Rationalität und Dichtung verwischt, weil sie nicht mehr auf dem reinen Denken, sondern auf der Erfahrung gründet. Nichts davon bei Sartre. 58 Seine Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 175 f. Matthew C. Eshleman in What is it to be free?, S. 31: »By ›phenomenology‹ it will here be meant a first-person reflective method at least recognizable, if not agreeable, to Husserl, who would have recognized and likely agreed with Sartre’s method only in his earliest philosophical works, up to but not including Being and Nothingness where Sartre employs a hybridized version of phenomenology tied to ontology.« 58 Hinsichtlich der Relation Sartres zu Lévinas sei auf zwei Arbeiten verwiesen: Philippe Cabestan, Sartre und Lévinas, wo er beide als »Denker des Subjekts« bezeichnet (S. 125). S. 136 räumt er allerdings selbst ein, daß man sich, mit Blick auf spätere Werke von Lévinas »weiteren Bestimmungen des Subjekts wie seiner Intentionalität oder Freiheit zuwenden« müsse. Problematisch wird der Begriff des Subjekts ab Tota56 57
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Humanismus und Philosophie der Existenz
Schrift setzt sich zwar kritisch mit der tradierten Subjekt-ObjektSpaltung im Prozeß des Erkennens auseinander, doch ist Kritik innerhalb des Systems philosophischer Möglichkeiten bei weitem noch keine Kritik der Möglichkeiten von Philosophie überhaupt. Sollte also ausgerechnet Sartre konventioneller arbeiten als seine existenzphilosophischen Mitstreiter? Mitnichten. Sartre braucht nicht für ein neues Denken im theoretischen Kontext zu plädieren, weil er es in der praktischen Umsetzung längst schon verwirklicht. In seinen Romanen, Erzählungen und Dramen unterzieht er jedes wesentliche Motiv seines Denkens einer praktischen und situativen Überprüfung. Hier allein, in der Situation, die Mensch und Mensch in der Welt stiften, liegt der Motivationsgrund jener Lehre, die das menschliche Leben ermöglicht, soll es denn ein wahrhaft ›menschliches‹ sein.
lität und Unendlichkeit, wo er bereits in stark modifizierter Form gebraucht wird. Bernhard Waldenfels hebt Parallelitäten zwischen beiden Denkern speziell unter Berücksichtigung des »Blicks« und der Begründung von Verantwortung hervor. Freiheit angesichts des Anderen, S. 111 f. und 117.
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XV. Existentialismus
XV.1 Jean-Paul Sartre Strukturell durch die Problematisierung der ontologischen Bedingungen allen Fragens nach dem Sein eingeleitet, liegt der eigentlich existenzphilosophische Beginn von Das Sein und das Nichts genau in der Beantwortung dieser Frage. Damit überhaupt nach dem Sein gefragt werden kann, muß der Fragende sich der vermeintlichen Totalität des Seins gegenüberstellen können, er muß über die Möglichkeit verfügen, dessen homogene Positivität zumindest partiell zu negieren. Insofern diese Negation aber wiederum auf der Möglichkeit basiert, ein Nichts zu setzen, dieses jedoch nicht außerhalb des Seins gegeben sein kann, muß das Nichts im Sein selbst auftauchen können. 1 »Der Mensch bietet sich, wenigstens in diesem Fall, als ein Sein dar, das das Nichts in der Welt aufbrechen läßt, indem es sich selbst zu diesem Zweck mit Nicht-sein affiziert.« 2
Fragen, so argumentiert Sartre, stellt als Verhaltensweise bereits einen ganz spezifischen Bezug zwischen Mensch und Sein dar, der von der menschlichen Positionierung dem Sein gegenüber bedingt ist. Daß sich von fern eine Erinnerung an Heideggers Bestimmung der Ermöglichung des Fragens zeigt, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. »Was uns jetzt interessiert, ist eine zeitliche Operation, da die Frage wie der Zweifel ein Verhalten ist: sie setzt voraus, daß das menschliche Sein zunächst mitten im Sein ruht und sich dann durch ein nichtendes Abrücken
Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 79: »Aber dieses innerweltliche Nichts kann vom An-sich-sein nicht hervorgebracht werden: der Seinsbegriff als volle Positivität enthält nicht das Nichts als eine seiner Strukturen.« 2 Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 82. 1
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Existentialismus
von ihm losreißt. Es ist also ein Verhältnis zu sich während eines zeitlichen Prozesses, das wir hier als Bedingung der Nichtung betrachten.« 3
Abrücken vom Sein, Losreißen von seiner vermeintlich unüberwindbaren Präsenz und Dichte stellen also Akte von ontologischer Bedeutung dar, die auf einer außerordentlichen Bedingung gründen – der Freiheit. Denn wie sollte die Spontaneität jener distanzierenden, befragenden und zweifelnden Haltungen dem Sein gegenüber, durch die der Mensch dessen undifferenzierte Kompaktheit strukturiert und somit selbst in dessen Beschaffenheit eingreift, anders begründet werden als durch die Besonderheit menschlichen Seins, Sein nichten zu können? Sofort wird dabei verständlich, daß die Freiheit, die Sartre hier thematisiert, keine ›Fähigkeit‹ des Menschen unter anderen darstellt. »Die menschliche Freiheit geht dem Wesen des Menschen voraus und macht dieses möglich, das Wesen des menschlichen Seins steht in seiner Freiheit aus.« 4
Freiheit als existentielle Qualität von ontologischer Relevanz – ein Gedanke, der der Auffassung Heideggers stärker ähnelt als derjenigen von Jaspers. Beide hatten zu zeigen versucht, unter welcher Bedingung der Mensch Wissen von seiner Freiheit als seiner existentiellen Möglichkeit erlangen kann, und hatten diese in der Angst gefunden. Dabei hatte besonders Heidegger auf die Tatsache verwiesen, daß die Angst nur dann Grund der Erfahrung von Freiheit sein kann, wenn das menschliche Denken in der Lage ist, das Bevorstehen des Todes als Bedingung der Möglichkeit gegenwärtigen Daseins zu erfassen. Das Denken schreitet in die Zukunft seines eigenen Seins voran und gewinnt so die Begründung seines aktuellen Seins in Freiheit. Diese in die Zukunft »vorlaufende« Bewegung richtet sich auf das Ausstehende des Daseins schlechthin, das unabhängig von individuellem Einfluß dessen Finalität markiert. Grundsätzlich vergleichbar argumentiert Sartre, bettet seine Überlegung jedoch in einen anderen theoretischen Kontext. Auch für ihn gilt es, nach der Voraussetzung zu fragen, die ein Erkennen der Freiheit erschließt. Anders als Heidegger, der den Begriff des menschlichen Bewußtseins eher meidet, nutzt Sartre ihn explizit zur Kennzeichnung individueller Bezogenheit auf die extra3 4
Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 85. Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 84.
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Jean-Paul Sartre
mentale Realität. Das Bewußtsein ermöglicht, indem es sich auf die außerhalb seiner selbst bestehenden Phänomene bezieht, erst jene nichtende Strukturierung des Seins, 5 die es dieses Sein als seine Welt 6 erfahren läßt. »[…] in der Angst gewinnt der Mensch Bewußtsein von seiner Freiheit, oder, wenn man lieber will, die Angst ist der Seinsmodus der Freiheit als Seinsbewußtsein, […].« 7
Wie war Sartre zu dieser Folgerung gelangt? Die Aufspaltung der Seinsfülle durch individuell gesetzte Nichtungsakte setzt jeden dieser Akte als »ununterbrochenes Ablösen der Wirkung von der Ursache« 8, da kein außerhalb des Denkens selbst liegender Grund dessen Konzentration auf etwas Bestimmtes veranlassen könnte. In jedem Augenblick löst sich das Bewußtsein von einer Erscheinung, auf die es sich bezieht, und wendet sich einem neuen Gegenstand zu, ohne daß jedoch dadurch die Vorstellung von Kontinuität entstehen dürfte. Das Bewußtsein, das sich in freier Spontaneität mit jedem Akt seiner Beziehung auf einen Gegenstand selbst als uranfänglich setzt, indem es alles dasjenige, das nicht seiner Aufmerksamkeit gilt, negiert, würde in dem Moment seiner Nichtungs-Potenz beraubt, in dem es in Kontinuität, also in kausaler Bedingtheit durch vergangene Akte, gedacht würde. »Insofern mein gegenwärtiger Zustand die Fortsetzung meines vorherigen Zustandes wäre, würde jeder Spalt, durch den die Negation hineingleiten könnte, völlig verstopft sein. Jeder psychische Nichtungsprozeß impliziert also einen Schnitt zwischen der unmittelbaren psychischen Vergangenheit und der Gegenwart. Dieser Schnitt ist genau das Nichts.« 9
Hebt Sartre damit die Vorstellung von einer Entwicklung des Menschen im Sinne fortschreitender Akkumulation einander bedingender Seins-Zustände in weiten Teilen auf und ersetzt sie durch das Bild sich immer wieder neu begründender Existenz-Momente, ergeben sich hieraus weitreichende Folgerungen für den Begriff des SelbstBewußtseins. 5 Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 95: »Wir haben gesehen, daß das Seinsbewußtsein das Bewußtsein des Seins ist.« 6 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 83: »So bewirkt das Auftauchen des Menschen im Milieu des Seins, das ihn ›umschließt‹, daß sich eine Welt enthüllt.« 7 Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 91. 8 Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 88. 9 Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 88.
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An einem Beispiel zur Illustrierung der Angst verdeutlicht Sartre, daß es nicht absolute und als solche unüberwindbare Bestimmungen des menschlichen Seins sind, die das Individuum mit Angst erfüllen, sondern vielmehr gerade dessen je einzelne Möglichkeiten. Diese können in konkreten Situationen und Augenblicken Gegenstand des Bewußtseins werden und als solcher Angst bedingen. Daß Sartre hierbei weniger an eine Emotion als an ein Einsehen denkt, zeigt seine allgemeine Definition von Angst als »reflexives Erfassen des Selbst« 10 – weder Emotion noch Verstehen, das in Abstraktion gründet, sondern situativer Einblick in die Beschaffenheit des Bewußtseins von der eigenen Existenz. Diese ist, wie sich eben angedeutet hatte, nicht als Addition einander hervorbringender Seins-Zustände denkbar, die durch ein Band aus Kausalität und Folgerichtigkeit sinnvoll verknüpft wäre. Existenz ist für Sartre Ausstehen von Möglichem. »Das besagt, daß ich, indem ich ein bestimmtes Verhalten als möglich konstituiere, und gerade weil es mein Mögliches ist, mir darüber klar werde, daß nichts mich zwingen kann, dieses Verhalten anzunehmen. Trotzdem bin ich durchaus dort hinten in der Zukunft, […] und in diesem Sinn besteht bereits ein Bezug zwischen meinem künftigen und meinem gegenwärtigen Sein. Aber in diesen Bezug ist ein Nichts hineingeglitten: ich bin nicht der, der ich sein werde. Zunächst bin ich es nicht, weil Zeit mich davon trennt. Ferner weil das, was ich bin, nicht der Grund dessen ist, was ich sein werde. […] Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen.« 11
Dieses Nicht-sein ist aber nicht mit dem Nicht-mehr-sein zu verwechseln, das in Heideggers Theorie der Angst anklang. Existenz gestaltet sich für diesen, einmal als Modus der Eigentlichkeit gewählt, durchaus mit Zügen von Kontinuität und Konsequenz, die Sartre dem menschlichen Sein abspricht. So enthüllt die Angst für ihn nicht das Sein in seiner finalen Ausrichtung als »Sein zum Tode«, sondern in seiner reinen Prozeßhaftigkeit, die als permanente existentielle Offenheit den Schluß auf eine jemals zu erreichende Totalität verwehrt. In jeder neuen Situation sieht sich der Mensch erneut und scheinbar voraussetzungslos seiner Freiheit konfrontiert, die ihn die Angst als Erfassen seiner Möglichkeiten erfahren läßt. 12 10 11 12
Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 92. Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 95 f. Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 104.
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Diese sind ebenso konkret wie die Situationen, in denen sie erscheinen. Doch setzen sie kein irgendwie bestehendes Ich voraus, das sich ihrer bewußt wird, sondern sind selbst Grundlage immer wieder neu entstehender Bewußtseinsakte, die sie als ein Ich ausmachend definieren. Es gibt im Laufe eines menschlichen Lebens so viele Ich-Setzungen wie Situationen, die ihnen vorausgehen – ein Gedanke, der für Lévinas nicht unattraktiv wäre, auch wenn Sartre in diesem Kontext das zwischen-menschliche Geschehen noch nicht explizit thematisiert. Der Unterschied seines Begriffes der Angst zu demjenigen Heideggers zeigt sich deutlich in der differenten Bewertung der Handlung als Verwirklichungsform des Möglichen. Und noch in einem weiteren Zusammenhang wird Sartres tiefes Bekenntnis zu den konkreten Erfordernissen menschlichen Lebens erkennbar. So wie kein äußeres Motiv und keine von fremder Autorität geforderte Verpflichtung eine individuelle Handlung begründen oder rechtfertigen kann, ist kein tradierter gesellschaftlicher Wert an sich schon ausreichend, um das Denken und Wollen des Individuums zu lenken. Dasjenige, das als werthaft betrachtet wird, resultiert ausschließlich aus seiner individuellen Setzung. »Der Wert leitet sein Sein aus einer Forderung her und nicht seine Forderung aus seinem Sein. […] Folglich ist meine Freiheit die einzige Grundlage der Werte, und nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen oder jenen Wert, diese oder jene Werteskala zu übernehmen. Als Sein, durch das die Werte existieren, bin ich nicht zu rechtfertigen.« 13
Als Sartre sich zur öffentlichen Verteidigung seiner Theorien genötigt sieht, sind es gerade diese zuletzt genannten Aspekte seines Denkens, die es zu erklären gilt. Durch seine Zurückweisungen tradierter Werthaftigkeit hat er das moralische und religiöse Denken seiner Zeitgenossen offenbar so stark erschüttert, daß zu fragen ist, ob die Heftigkeit der Reaktion überhaupt Folge der eigentlichen philosophischen Intention Sartres sein kann oder nicht vielmehr Produkt einer grandiosen Fehldeutung seines Werkes ist. 14 Was ist also Deutung, was ursprüngliche Aussage? Zum einen lehnt Sartre die Bestimmung menschlicher Existenz als kontinuierliches Geschehen ab, wodurch jede Vorstellung einer zielgerichteten Sartre, Das Sein und das Nichts, I, c.1, V, S. 106. Anthony Manser betont in Sartre. A philosophical study die Situation des Vortrages und deren Auswirkung auf das Vorgetragene, S. 137.
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Entwicklung zum Besseren hinfällig wird. Zum anderen weist er die absolute Gültigkeit von Werten zurück und überträgt deren Legitimation der individuellen Begründung. Beide Aspekte zusammen gefaßt scheinen bei flüchtiger Interpretation das Bild eines Menschen zu zeichnen, der ohne Orientierung und ohne Weisung existiert und in ungeminderter Willkür über sein Handeln entscheidet – letztlich das Zerrbild des modernen Existentialisten, wie Sartre selbst verwundert feststellen muß. Welchen Aspekt seiner Theorie haben seine Kritiker aber vernachlässigt oder in seiner Bedeutung gar unterschätzt, um zu einer solchen Meinung über sein Menschenbild zu gelangen? Es ist der Begriff des Bewußtseins. Denn das Besondere der Philosophie Sartres besteht darin, daß er – über Heidegger hinausgehend – aufzeigt, daß keine Aktion des Menschen, weder handelnder noch kognitiver Natur, abläuft, ohne daß der Einzelne sich ihrer bewußt ist oder zumindest bewußt sein kann. In einer kurzen Bemerkung zum heideggerschen Daseins-Begriff wird Sartres Wertschätzung der Funktion des Bewußtseins besonders deutlich. »Da aber dem ›Dasein‹ von Anfang an die Bewußtseinsdimension entzogen wurde, kann er diese Dimension nie mehr zurückgewinnen. Heidegger stattet das Dasein [réalité-humaine] mit einem Selbstverständnis aus, […]. Aber was wäre ein Verständnis, das, an sich selbst, nicht Bewußtsein (von) Verständnis-sein wäre?« 15
In der Überzeugung, daß menschliches Sein durch die Verhaltungen des Entbergens oder der Negation den Begriff vom Sein schlechthin prägen, formulieren Heidegger und Sartre grundsätzlich vergleichbare ontologische Positionen. Das heideggersche Seinsverständnis zielt jedoch, wie sich immer wieder zeigt, nicht auf die Ermöglichung reflektierten Handelns. Gerade hierin liegt für Sartre aber die eigentliche Funktion des Bewußtseins als alles Handeln begleitende Reflexion. Deren Gegenstand sind vor allem die Aktionsweisen des Bewußtseins selbst, ohne daß diese Ausrichtung zu einer egozentrischen Konzentration der Aufmerksamkeit des Menschen führen würde. Ganz im Gegenteil – zu wissen, wie das Bewußtsein sich auf die Phänomene des Äußeren und die Artikulationen des Inneren richtet, ermöglicht dem Individuum eine Einsicht in die Struktur seines 15 Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, I, S. 164. Auf die tiefe Verwurzelung dieses Begriffes vom Bewußtsein im Denken Edmund Husserls kann hier lediglich hingewiesen werden.
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Seins, die durch keine anderen prägenden Faktoren als eben diejenigen, die aus dem Bewußtsein stammen, determiniert wird. Zu wissen, ›daß‹ der Mensch versteht, daß er lügt, daß er in der Haltung der »Unaufrichtigkeit« seinem eigen Wissen um seine Möglichkeiten zu entfliehen sucht, reicht Sartre jedoch nicht aus. Er will aufzeigen, ›wie‹ der Mensch versteht, lügt und sich selbst hintergeht, nicht nur aus psychologischem Interesse, sondern weil sich in diesen Verhaltensweisen der einzig gültige Aktionsrahmen menschlichen Handels abzeichnet. Der Vorwurf seiner Zeitgenossen, sein Denken würde zu moralischer Beliebigkeit 16 verführen, erweist sich allein schon vor diesem vage skizzierten Hintergrund als ungerechtfertigt. Denn im Bewußtsein, das in der Lage ist, das eigene Agieren in jedweder Form zu reflektieren, kann das Fundament einer tatsächlichen moralischen Instanz liegen, 17 die ihre Begründung nicht gesellschaftlicher KonvenDer jüngst von Hans Feger und Manuela Hackel herausgegebene Band Existenzphilosophie und Ethik beleuchtet Möglichkeit und Schwierigkeit des Themas aus unterschiedlichen Perspektiven. Annemarie Pieper erklärt darin in ihrem Beitrag Existenzphilosophie ohne Ethik?, S. 31: »Existenzphilosophie und Ethik, so hat die Analyse des Freiheitskonzepts von Kierkegaard bis Camus gezeigt, gehören untrennbar zusammen, weil das Selbstwerden des Einzelnen sich nicht als Aneinanderreihung von Willkürakten vollzieht, sondern am Leitfaden eines selbst erhobenen moralischen Anspruchs erfolgt. […] Allen Existenzphilosophen ist jedoch gemeinsam, dass sie kein eigenes, von der Existenzphilosophie losgelöstes System der Ethik entwickelt haben, was wiederum mit ihrer kritischen Einstellung gegenüber dem Essentialismus der traditionellen Philosophie zusammenhängt. Moral ist zwar eine normative Grundlage menschlichen Existierens schlechthin, aber gelebte Moral lässt sich im Rahmen einer abstrakten Ethik nicht situieren. Sie hat ihren Ort in Entwicklungsgeschichten von Einzelpersonen, die ihre höchst eigenen Freiheitskämpfe ausfechten.« 17 Manser setzt es sich in seinem 1966 entstandenen Text Sartre. A philosophic study zum Ziel, die Besonderheit der Philosophie Sartres auch Lesern im englischsprachigen Raum zu vergegenwärtigen. Mit Blick auf die Frage der Moral kommentiert er, S. 148: »Sartre’s statement of the moral problem for the philosophers, after it has been cut down to size and exaggerations removed, is thus very different from that which might be given by an English philosopher. He is concerned with the ›human condition‹ as a whole, the other would claim that the important thing is the analysis of moral notions.« Stéphane Habib, La responsabilité chez Sartre et Lévinas untersucht den Moralbegriff beider Denker unter Bezug auf die Folgen für eine Konzeption von Verantwortung. S. 166: »Ce Sartre de l’éthique, cette éthique sartrienne, éthique fondée sur la liberté qu’on ne peut plus sérieusement séparer de la responsabilité qui l’accompagne toujours, bref, cette éthique ›existentialiste‹ de la responsabilité, tend à rapprocher notre philosophe d’Emmanuel Lévinas. Tout le problème est que ce rapprochement se joue 16
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tion oder religiöser Tradierung verdankt, sondern als ein interner Überprüfungsmechanismus des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns fungiert. Damit das Bewußtsein diese Aufgabe übernehmen kann, muß es sich selbst über seine Funktionsweise aufklären, wodurch eine Kartographie menschlicher Verhaltungen zur Welt, zum Anderen und zu sich selbst entsteht. Die bisherigen Ausführungen hatte Sartre dazu genutzt, die Möglichkeit der Reflexion überhaupt zu zeigen, wozu er die Verhaltensweisen des Negierens in ihrer doppelten Orientierung – auf das Sein der Welt und das Sein des eigenen Bewußtseins – darstellte. »Das Sein des Bewußtseins, schrieben wir in der Einleitung, ist ein Sein, dem es ›in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‹. Das bedeutet, daß das Sein des Bewußtseins nicht mit sich selbst in einer vollständigen Adäquation koinzidiert. Diese Adäquation, die die des An-sich ist, wird durch die einfache Formel wiedergegeben: das Sein ist das, was es ist. Im An-sich ist keine Seinsparzelle, die nicht ohne Distanz zu sich selbst wäre. In dem so verstandenen Sein gibt es nicht die kleinste Andeutung einer Dualität; […] es gibt nicht die geringste Leere im Sein, den kleinsten Riß, durch den das Nichts hineingleiten könnte. Das Charakteristikum des Bewußtseins dagegen ist es, daß es eine Seinsdekompression ist.« 18
Die kompakte Dichte des An-sich vereitelt jeden internen Bezug, den das Sein zu sich einnehmen könnte, so daß das »sich«, eigentlich begriffliche Anzeige dieser Innen-Relation, in dem Ausdruck des »Ansich« gänzlich gebunden wird. 19 In freier Artikulation seiner selbst erscheint das ›sich‹ hingegen in jenem Seinstypus, der einer Distanzierung von sich fähig ist, der also jene Dualität zuläßt, die erforderlich ist, wenn das Bewußtsein sich selbst begleitende Reflexion sein soll. Ontologisch hatte sich diese bereits als das nichtende Vermögen des menschlichen Seins erwiesen, das nun in seiner Wirkung der »Seinsdekompression« betrachtet wird, als »ein nicht spürbarer Riß«, der in »das Sein gekommen ist« 20.
sur le mode de l’éloignement, ce que nous espérons avoir réussi à montrer, grâce au fil conducteur qui a guidé notre réflexions jusqu’à présent: une inversion symétrique entre les philosophies respectives de Sartre et de Lévinas.« 18 Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, I, S. 164 f. 19 Sartre selbst konstatiert, daß er diesen Ausdruck lediglich der »Tradition entlehnt« habe, Das Sein und das Nichts, II, c.1, I, S. 168. 20 Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, I, S. 170.
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Jean-Paul Sartre
»Das Seinsgesetz des Für-sich, als ontologische Grundlage des Bewußtseins, ist, es selbst zu sein in der Form von Anwesenheit bei sich. […] Die Anwesenheit des Seins bei sich impliziert eine Ablösung des Seins von sich. […] Das Für-sich ist das Sein, das sich selbst dazu bestimmt zu existieren, insofern es nicht mit sich selbst koinzidieren kann.« 21
Dieses Sein, das nicht mit sich in einer alle interne Beziehung vereitelnden Identität übereinstimmt, ist, so zeigt Sartre sofort, aber nicht in einer Isolation vom konkreten Sein, das es umgibt, von Interesse, obwohl es als solches denkbar wäre. Seine eigentliche Bedeutung, die dann auch seine existenzphilosophische Brisanz ausmacht, gewinnt das Für-sich unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auch dieses Für-sich als Sein »ist«, »in eine Welt geworfen«, »einer ›Situation‹ ausgeliefert«, »reine Kontingenz« ist. »[Es] ist, insofern es an ihm etwas gibt, dessen Grund [es] nicht ist: seine Anwesenheit bei der Welt.« 22 Für die Möglichkeit des Menschen, sich selbst in seinem Sein zu reflektieren, folgt hieraus, daß »[…] wir uns mit den Eigenschaften eines nicht zu rechtfertigenden Faktums erscheinen« 23. In dieser ontologischen Doppelstruktur aus kontingentem Sein, dessen Grund der Mensch niemals zu sein vermag, und selbst-bedingendem Existieren zeigt sich Sartres Deutung menschlichen Seins, dessen Bezug zum Begriff der Verantwortung sich bereits hier abzeichnet. »Daher erfasse ich mich selbst als total verantwortlich für mein Sein, insofern ich sein Grund bin, und zugleich total als nicht zu rechtfertigen.« 24
Hatte Sartre bislang jene Relation beschrieben, in der das Bewußtsein sein Sein und sein Wirken reflektiert, wird diese extreme Konzentration auf das Selbst, das sein Für-sich in diesem Prozeß erschließt, nun mit Blick auf das Für-Andere-Sein aufgelöst. Argumentativ konstruiert Sartre diese Ausweitung durch den Begriff des Wertes. Zunächst zeigt sich, daß die vermeintlich egozentrische Exklusivität des Bewußtseins, das bei sich zu verweilen scheint, niemals wirklich gegeben ist. Denn es hatte sich erwiesen, daß menschliches Sein gerade nicht über jene Adäquation mit sich selbst verfügt, die 21 22 23 24
Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, I, S. 169 ff. Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, II, S. 173. Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, II, S. 174. Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, II, S. 179.
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das Sein an sich kennzeichnet, sondern in einem ununterbrochenen Prozeß des sich Entgehens stets sein eigenes Sein überschreitet, was im Vergleich zur Dichte und kompakten Fülle des An-sich als Seinsmangel erscheinen kann. »Ein Sein, das das ist, was es ist, soweit es als das seiend, was es ist, angesehen wird, verlangt nichts für sich, um sich zu vervollständigen. Ein unvollständiger Kreis verlangt Vervollständigung nur, insofern er von der menschlichen Transzendenz überschritten wird.« 25
Diese Überformung erweist sich als eine gerichtete Bewegung, insofern sie auf etwas zielt, das ihr mangelt, nach etwas strebt, das sie begehrt. 26 Dabei ist die Begierde kein zufälliges Verlangen, das sich auf dieses oder jenes Begehrtenswerte richten kann, sondern, als Bestimmung menschlicher Existenz schlechthin, immer schon auf den Wert dessen, das es begehrt, bezogen. Sartre verdeutlicht diesen Umstand, indem er auf die »unmittelbare synthetische Verbundenheit« 27 von Begehrendem und Begehrtem verweist. Wert ist damit, aller moralischen Konnotation vorausgehend, zunächst eine ontologische Bestimmung, die das Korrelat der Überschreitung gegenwärtigen Seinsmangels kennzeichnet. »Der Wert ist jenseits des Seins. […] Der Sinn des Wertes ist, das zu sein, auf das hin ein Sein sein Sein überschreitet: jede valorisierte Handlung ist Losreißen von ihrem Sein in Richtung auf …« 28
Diese letzte Kennzeichnung der Bewegung »in Richtung auf« zeigt nun ganz klar, daß die Überschreitung nicht nur einem inneren Impuls folgt, der losgelöst von äußerem Einfluß wirken könnte, sondern als externe Ursächlichkeit immer schon einen Bruch der internen Relation des Bewußtseins im Modus des Für-sich herbeiführt. Das Begehrte sucht dasjenige Sein heim, das sich selbst dadurch als das Begehrende konstituiert. Von diesem Gedanken aus ist es für Sartre nur noch ein kleiner Schritt, das Externe auch auf das Sein des anderen Menschen auszuweiten, dem als dem Anderen des Für-sich unmittelbar Wert zukommt. Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, III, S. 185. Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, III, S. 187: »Die Begierde ist Seinsmangel, sie wird in ihrem innersten Sein von dem Sein heimgesucht, nach dem sie Begierde ist.« 27 Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, III, S. 189. 28 Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, III, S. 195 f. 25 26
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Jean-Paul Sartre
»Und in dem Auftauchen des Für-Andere ist der Wert wie in dem Auftauchen des Für-sich gegeben, wenn auch nach einem unterschiedlichen Seinsmodus.« 29
In welcher Weise ist aber der Andere dem Bewußtsein gegeben? Sicherlich nicht im Sinne des heideggerschen Mit-seins, jenes Seinstypus, der nicht einen »wechselseitigen Anerkennungs- und Kampfbezug« von Individuen benennt, sondern »eine Art ontologische Solidarität zur Ausnutzung dieser Welt« 30. In Anbetracht dieser Formulierung fällt auf, daß Sartre das Mit-sein immer schon als Struktur sich wechselseitig beeinflussender Seiender betrachtet. Gibt es diese Form von Bestimmung, die Menschen aufeinander in ihrem Sein in der Welt ausüben, bei Heidegger überhaupt? Oder ist nicht die Bezeichnung des ›mit‹ zur Kennzeichnung der Seinsweise Anderer so unbestimmt, wie eine ontologische Anzeige nur sein kann? Sie benennt das Faktum, daß Andere sind, doch scheint Heidegger kein sonderliches Interesse daran zu haben, diese als reale Individuen zu betrachten. In seinen Ausführungen zur Fürsorge favorisiert er jene Form von Zuwendung zum Anderen, die diesen in seiner Eigenständigkeit unterstützt. Hierfür müßte jedoch ein gewisses Maß an SichEinlassen auf den Anderen erfolgen. Heidegger streift dieses flüchtig, ohne ihm weiterführende Bedeutung zuzuschreiben. Wenn Sartre die heideggerschen Ansätze zur Bestimmung einer Relation zum Anderen auch sehr gutwillig interpretiert, sind sie doch selbst in dieser Lesart nicht ausreichend, um seine eigene Auffassung der Gegebenheit des Anderen zu stützen. Sollte diese sich in einem Akt der Erkenntnis erschließen, müßte der Andere dem erkennenden Subjekt stets als Objekt erscheinen, würde damit aber gerade die Existenz dieses Subjektes und seiner Erkenntnis voraussetzen. Die Annahme einer solchen notwendigen Bedingung würde jedoch allenfalls die Existenz des Selbst als Subjekt, nicht aber diejenige des Anderen erweisen, nach der Sartre fragt. In Umkehrung dieser Annahme formuliert er: »Wir haben gelernt, daß die Existenz des Andern in der Tatsache meiner Objektivität und durch sie mit Evidenz erfahren wird.« 31
29 30 31
Sartre, Das Sein und das Nichts, II, c.1, III, S. 199. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, III, S. 445. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, IV, S. 538.
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Wie kann sich das vormalige Subjekt des Erkennens in seiner Objektivität erfahren? Zunächst fällt eine nicht unerhebliche gedankliche Verwandtschaft zu der Weise auf, in der Lévinas versucht, die klassische Funktion des Subjekts als Ausgangspunkt und Zentrum allen Erkennens zu brechen. Erkenntnis würde seiner Überzeugung nach das Erkannte und vor allem den Erkannten auf ein gegenwärtiges Sein fixieren, dessen vermeintliche Totalität der tatsächlichen Faktizität des Anderen niemals gerecht werden könnte. In dem absoluten Willen zur Verhinderung jeglicher Form von Ungerechtigkeit sucht Lévinas, diese nicht nur im Handeln, sondern bereits im Erkennen auszuschließen. Vermeidung von Ungerechtigkeit ist nicht unbedingt auch das Ziel Sartres, der zunächst Verhaltensweisen des Menschen beschreibt, so, wie sie sich real abspielen. Eher analysierend als diagnostizierend oder gar wertend beschreibt er jene Vorgänge im Bewußtsein, die durch die Begegnung mit einem anderen Menschen ausgelöst werden. Eine dieser Veränderungen, die in der Sicht eines Menschen auf die Welt und sich selbst entsteht, ist zum Beispiel die »Desintegration« der Ordnung, in der diese Sicht bisher strukturiert war. Interessant ist die spezifische Folge von Ereignissen, die Sartre in seinem Beispiel zur Illustrierung dieses Begriffes wählt. Erscheint ein Mensch in einer bisher menschenleer wahrgenommenen Szenerie, so wird dieser nicht als menschliches Objekt unter anderen gegenständlichen Objekten erkannt. Vielmehr wird er als Subjekt erfahren, das wie das sich bisher allein wähnende Subjekt alle Dinge auf sich bezieht und ihnen damit eine eigene Ordnung verleiht. Dieser Effekt ist es, dessen sich der erste Mensch bewußt wird und daran begreift, daß er nur von einem Wesen ausgelöst sein kann, das sich wie er selbst verhält. »Erscheint also unter den Gegenständen meines Universums ein Element der Desintegration eben dieses Universums, so nenne ich das das Erscheinen eines Menschen in meinem Universum.« 32
Die Spur, die der Andere im Bewußtsein hinterläßt, verbürgt seine Existenz. Existieren heißt, das Bewußtsein eines anderen Menschen zu verändern, womit Sartre in bisher allenfalls von Lévinas vermittelter Radikalität sein Bekenntnis zur solidarischen Struktur mensch32
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, IV, S. 461.
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Jean-Paul Sartre
lichen Seins formuliert. Desintegration ist eine dieser Veränderungen; eine andere ist die Scham. Beide Formen basieren auf der Möglichkeit, zu sehen beziehungsweise gesehen zu werden. Im Blick des Anderen realisiert dieser sich als Subjekt und läßt den Angeblickten sein eigenes Sein als Objekt-Sein erfahren. »Das ›Vom-Andern-gesehen-werden‹ ist die Wahrheit des ›Den-Andern-sehens‹.« 33 Das vermeintliche Subjekt begreift sich als Objekt im Blick eines Subjektes seiend, das damit Grund dieser Objektivität wird. Der Mensch erfährt sich selbst in diesem Blick fixiert, seiner Möglichkeiten der Verwandlung beraubt, ausgeliefert und ausgesetzt – in einem Sein erstarrt, das als solches nicht selbst gewollt und doch einzig mögliches Sein in dieser einen bestimmten Situation ist. »[…] die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt. Ich kann mich nur meiner Freiheit schämen, insofern sie mir entgeht und gegebenes Objekt wird.« 34
Gerade diesen Aspekt seiner Philosophie hat Sartre verschiedentlich zum Gegenstand seiner Bühnenstücke und Romane gemacht, wodurch er in vielleicht stärkerem Maße als andere Aussagen das öffentliche Bild dieses Denkers prägt. So läßt er zum Beispiel einen seiner Charaktere mit theatralischem Pathos »[…] die Hölle, das sind die andern« 35 proklamieren und gibt einem Gedanken aus seinem theoretischen Werk damit einen anderen Ausdruck, der auf der Bühne vorgetragen exakt in einer Situation erklingt, in der sich Sartre der unbeeinträchtigten Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit seiner Zuschauer gewiß sein konnte. »So läßt mich im Blick der Tod meiner Möglichkeiten die Freiheit des Andern erfahren; er wird nur innerhalb dieser Freiheit realisiert, und ich bin Ich, für mich selbst unerreichbar und dennoch ich selbst, in die Freiheit des Andern geworfen und in ihr verlassen.« 36
33 34 35 36
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, IV, S. 464. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, IV, S. 471. Sartre, Geschlossene Gesellschaft, S. 59. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.1, IV, S. 487.
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Mit dieser existentiellen Charakterisierung ist allerdings nur die erste Hälfte von Sartres Skizzierung des Für-andere-Seins erfaßt. Die zweite Hälfte nicht wirklich registriert zu haben, kann er seinen Kritikern zu Recht vorwerfen. Bis zu diesem Punkt muß es so wirken, als sei der Angeblickte gänzlich dem Blick des Anderen und damit vielleicht sogar dessen Willkür ausgeliefert. Eine Formulierung wie die der »wehrlosen Objektheit«, die er unter Anspielung auf die biblische Schilderung des Sündenfalls wählt, kann diesen Eindruck exemplarisch verstärken. Gibt es eine Möglichkeit, auf den Akt des Angeblickt-Werdens zu reagieren? In der dynamischen Spannung zwischen Verursachung und Verantwortung erkennt Sartre die Voraussetzung dafür, daß die vermeintlich statische Beziehung zwischen zwei Individuen zumindest ansatzweise in eine Interaktion übergehen kann. Der Anblickende, so zeigt er, ist zwar Grund der Objektheit des Angeblickten, ist aber nicht für sie verantwortlich, da dies immer nur als Zeichen einer internen Relation innerhalb des Bewußtsein möglich ist. »In dem Maß also, wie ich mich mir selbst als verantwortlich für mein Sein enthülle, beanspruche ich dieses Sein, das ich bin; das heißt, daß ich es wiedergewinnen will, oder, genauer ausgedrückt, ich bin Entwurf einer Wiedergewinnung meines Seins.« 37
»Wiedergewinnung meines Seins« darf nun aber nicht als ein Versuch verstanden werden, den Anderen zu negieren und ihn seinerseits zu objektivieren, würde doch damit dessen Funktion, Grund für das Sein des Angeblickten als Objekt zu sein, hinfällig. Gleichwohl strebt dieser danach, den Anderen, der ihn objektiviert, zu resorbieren, 38 zu vereinnahmen. Was es wieder zu erlangen gilt, ist nicht das Sein als Objekt-Sein, da dieses niemals seinen Grund im Objektivierten selbst haben kann, sondern das Sein als Frei-Sein, wodurch sich die kausale und temporäre Abhängigkeit des Angeblickten vom Anblickenden, die dieser als permanente Kontingenz erfährt, relativieren sollte. Sartre wählt zur Verdeutlichung dieser Bewegung des Wiedergewinnens das psycho-
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, I, S. 639. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, I, S. 639: »So ist mein Entwurf einer Wiedergewinnung meiner selbst grundlegend Entwurf einer Resorption des andern.« 37 38
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logische Phänomen der Liebe, genauer des Wunsches des Liebenden, geliebt zu werden. »In der Liebe will der Liebende im Gegenteil für den Geliebten ›alles auf der Welt‹ sein: […] er ist Objekt und willigt ein, es zu sein. Doch andererseits will er das Objekt sein, in dem sich zu verlieren die Freiheit des Andern einwilligt, […] er will nicht auf die Freiheit des Andern einwirken, sondern a priori als objektive Grenze dieser Freiheit existieren, das heißt zugleich mit ihr und in ihrem Auftauchen als die Grenze gegeben sein, in die sie einwilligen muß, um frei zu sein.« 39
Das Zufällige und Beliebige, das den Blick auf einen Menschen zieht, diesen als Gegenstand des Blickes erstarren läßt und ihn sofort all seiner Chancen, anders als der Erblickte zu sein, beraubt, soll unter dem Diktat der Liebe aufgehoben werden, indem sie in einer fast zwingend wirkenden Unausweichlichkeit an dieses eine Objekt gebunden wird. »Geliebt werden wollen heißt also den andern […] zwingen wollen, einen fortwährend neu zu erschaffen als die Bedingung einer Freiheit, die sich unterwirft und engagiert; […] Wenn dieses Resultat erreicht werden könnte, ergäbe sich daraus an erster Stelle, daß ich im Bewußtsein des Andern in Sicherheit wäre.« 40
Woher rührte die Verunsicherung, die es hier zu kompensieren gilt? Im Blick des Anderen als zufälliges Ziel objektiviert zu werden, gerade nicht gewählt und bestätigt zu sein, läßt den Menschen die ganze unverschleierte Kontingenz seines Seins erfahren. Was liegt also näher, als diese Erfahrung in ihr Gegenteil verkehren zu wollen? Unter psychologischer Perspektive mag dieses Bedürfnis konsequent sein. »Das ist also das reale Ziel des Liebenden, insofern seine Liebe ein Vorhaben, das heißt ein Ent-wurf seiner selbst ist.« 41 Doch ist es dadurch auch ein geeignetes Beispiel, um das FürAndere-sein zu illustrieren? Wenn dieses als ein Sein des »Konfliktes« betrachtet werden soll, ist es zumindest ein repräsentatives Exempel, das jedoch um Beispiele für das Sein der »Gemeinschaft« ergänzt werden muß. Dieses beschreibt Sartre in zwei Formen des »Wir«. In der Weise des »Objekt-Wir« erfährt sich der Mensch geSartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, I, S. 644. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, I, S. 645. 41 Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, I, S. 650. Als weitere Verhaltensweisen thematisiert er Masochismus, Sprache, Gleichgültigkeit, Begierde, Sadismus und Haß. 39 40
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Existentialismus
meinsam mit einem oder mehreren Anderen im Blick eines Gegenübers versammelt, in dem »der andere und ich als äquivalente, solidarische Strukturen fungieren« 42. In der Weise des »Subjekt-Wir« fühlt sich ein Mensch »inmitten der anderen«. In dieser Form erfolgt kein Bewußtsein gemeinsamer Objektivierung, das als solches Reflexion des Selbst – hier in Solidarität mit anderen – ist. Im Erleben des Subjekt-Wir »erfasse [ich] mich als austauschbar mit irgendeinem meiner Nachbarn. In diesem Sinne verlieren wir unsere reale Individualität, denn der Entwurf, der wir sind, ist genau der Entwurf, der die anderen sind.« 43
Diese Erfahrung psychologischer Natur faßt Sartre als Erfahrung des »Man«, die jedoch nicht dazu geeignet ist, Aufschluß über die ontologische Dimension des Für-Andere zu geben. Diese hatte Sartre befragen wollen, um durch sie Aufschluß über die eigentliche Relation von An-sich und Für-sich zu gewinnen. Eine deutliche Abgrenzung von Heideggers Auffassungen hatte sich bereits anläßlich des Begriffes vom Mit-sein gezeigt, insofern nach Sartres Ansicht aus einer ontologischen Solidarität keine tatsächliche Relation, und sei es diejenige des Konfliktes, entstehen kann. Im vorliegenden Kontext zeigt sich ein weiterer Grund der Distanzierung Sartres. Heidegger unterschätze die tatsächlichen Auswirkungen, die das Seiende auf anderes Seiendes ausübt und ihm damit »ontische Modifikationen« 44 zufügt. »Diese fortwährende Möglichkeit, zu handeln, das heißt, das An-sich in seiner ontischen Materialität, in seinem ›Fleisch‹ zu modifizieren, muß evidentermaßen als ein Wesensmerkmal des Für-sich betrachtet werden; […].« 45
42 43 44 45
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, IIIA), S. 727. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, IIIB), S. 738. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, IIIB), S. 748. Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.3, IIIB), S. 748.
252 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
XVI. Handeln oder Sorge
XVI.1 Jean-Paul Sartre Mit der Formulierung dieser Bestimmung wendet sich Sartre einer Besonderheit menschlichen Seins zu, die Heidegger niemals zu einem tatsächlichen Gegenstand seiner Philosophie erklärt hat, allerdings auch nicht erklären mußte, da er sich auf eine Gleichsetzung von Handeln und Denken berufen konnte. Wenn es eine Veränderung gibt, die er als wertvoll betrachtet, dann ist es keine, die sich an der »ontischen Materialität« vollzieht, sondern die dem Verstehen des Seins, also seiner ontologischen Struktur, gilt. Inwieweit dieses Verstehen des Seins als relational in einem weiteren Schritt auch ein aktives Eintreten für die Bewahrung eben dieser tatsächlichen Verwiesenheit aller auf alles fordert, bleibt in seinen Schriften offen und deutet sich allenfalls, wie an früherer Stelle skizziert, in seinem Gedanken des Gevierts an. So sehr Lévinas auch an der Faktizität menschlicher Bezogenheit auf den Anderen interessiert ist und deren ethische Relevanz zu erweisen sucht, mündet doch auch sein Denken nicht in einer expliziten Theorie des Handelns, wohl aber in einer dezidierten Darstellung menschlichen Verhaltens. Als Weise, sich auf Anderes zu beziehen, kann es sich bereits in der scheinbar flüchtigsten Begegnung mit dem Fremden ausdrücken, in ihr mit dramatischen Folgen scheitern oder in ihr Gerechtigkeit ausüben. Im Gegensatz zu Jaspers, der in extremer Achtsamkeit die Bedeutung der ›Situation‹ für alles existentielle Geschehen betont, ordnet Lévinas seine Ethik des Antlitzes nicht konkret der Faktizität von Situationen, sei es gesellschaftlicher oder politischer Natur, unter, was in seinen Augen wahrscheinlich auch gar nicht erforderlich wäre. Denn jedes Gewahren des Anderen ist losgelöst von historischer oder alltäglicher Bedingtheit Situation in extremis. Eine Überlegung, die etwa nach den Motiven einer Handlung fragt, würde für ihn bereits wieder eine subjekt-zentrierte Artikulation individuellen Strebens bedeuten, selbst dann, wenn es das 253 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Handeln oder Sorge
Motiv einer ethischen Handlung wäre. Ist aber das Begehren kein Motiv? Sartre konstatiert: »[…] 1. kein faktischer Zustand, wie er auch sei (politische, wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft, psychologischer ›Zustand‹ usw.) kann von sich aus irgendeine Handlung motivieren. Denn eine Handlung ist eine Projektion des Für-sich auf das, was nicht ist, und das, was ist, kann in keiner Weise von sich aus das bestimmen, was nicht ist; 2. kein faktischer Zustand kann das Bewußtsein dazu bestimmen, ihn als Negatität oder Mangel zu erfassen.« 1
Das Bewußtsein ist in der Lage, Projektionen von Zuständen als Gegenentwürfe zur aktuellen Situation zu schaffen, die dann die Bewertung dieser Situation erst eigentlich zulassen. Damit derartige Entwürfe erfolgen können, muß das Bewußtsein also dazu befähigt sein, sich selbst als souverän gegenüber einer aktuellen Situation oder auch gegenüber seiner eigenen Vergangenheit zu verhalten, eine Möglichkeit, die Sartre als ein »Sich-Losreißen von sich selbst« als in dieser Situation befindlich bezeichnet. 2 Konkret bedeutet das: Eine quälende Situation ist nicht als solche unerträglich, sondern weil sie als die Negation dessen, was als ihre Nichtung gesetzt ist, bewertet wird. Denjenigen Zustand, der erdacht werden kann, der also das »Nicht-Existierende« im gegenwärtigen situativen Komplex darstellt, bezeichnet Sartre als »Zweck«, der wiederum erforderlich ist, damit sich der Wille als »reflektierter Entschluß« auf etwas richten kann. 3 Unabhängig von psychologischen Deutungen definiert er den Willen als »Seinsweise«. Er ist auf Zwekke bezogen, die er als solche reflektiert. In dieser Funktionsweise muß der Wille Freiheit voraussetzen, um jene Zwecke wählen zu können, deren Wert er als Motive 4 des Handelns setzt.
Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 757. Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 757. 3 Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 769. 4 Sartre definiert: »Wir nennen also Motiv das objektive Erfassen einer bestimmten Situation, insofern sich diese Situation im Lichte eines bestimmten Zweckes als etwas enthüllt, was als Mittel dienen kann, diesen Zweck zu erreichen.« Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 775. 1 2
254 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Jean-Paul Sartre
»Die menschliche-Realität kann ihre Zwecke […] weder von draußen noch von einer angeblichen inneren ›Natur‹ erhalten. Sie wählt sie, und eben durch diese Wahl verleiht sie ihnen eine transzendente Existenz als externe Grenze ihrer Entwürfe. […] Die Setzung meiner letzten Zwecke kennzeichnet also mein Sein und ist eins mit dem ursprünglichen Hervorbrechen der Freiheit, die meine ist. Und dieses Hervorbrechen ist eine Existenz, es hat nichts von einem Wesen oder von der Eigenschaft eines Seins, das zusammen mit einer Idee erzeugt wäre.« 5
Freiheit ist nur innerhalb konkreter Situationen 6 möglich, insofern sie sich als jene Existenz manifestiert, die sich kraft ihrer Freiheit zum Sein bestimmt. Hier könnte sich nun erneut die Stimme der Kritiker erheben und einwenden, daß eine solche Vorstellung von Freiheit letztlich die Legitimierung von Unverbindlichkeit und Willkür zur Folge hätte, da jeder Zweck, der als Motiv eines Handelns ausgewiesen wird, ausschließlich dem reflektierten Entschluß des Individuums entspringt. Prinzipiell könnte also jeder Gegenentwurf, der als Negation einer bestimmten konkreten Situation erfaßt wird, den hierfür erforderlichen Reflexionsprozeß auslösen, weil es kein objektives Kriterium dafür geben kann, welche Situation Handeln verursacht und welche nicht. Unter ausdrücklicher Distanzierung von psychologischen Erklärungsmustern, die das Handeln eines Menschen etwa durch Einflüsse des Unbewußten begründet wissen wollen, entwickelt Sartre seine Theorie der Begründung individueller Verhaltensweisen, die auch Handlungen einschließen können, vom Begriff der Wahl aus. Jede Verhaltensweise eines Menschen kann theoretisch zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation anders ausfallen als in der tatsächlich vorliegenden Form. Und dennoch geschieht es nicht »grundlos«, daß gerade diese bestimmte Handlung realisiert wird. Zur Begründung führt Sartre jedoch keine äußeren Ursachen an, sondern einen Aspekt menschlichen Selbst-Bezuges, den er als »Initialentwurf« bezeichnet, als »Wahl meiner selbst und meiner Zwecke« 7. Damit ist nun gewiß keine ein für allemal getroffene Entscheidung für allgemeine Werte und zu verfolgende Ziele gemeint, sondern eine geSartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 770. »So ahnen wir langsam das Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situationen, und es gibt Situationen nur durch die Freiheit.« Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, II, S. 845. 7 Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 804. 5 6
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Handeln oder Sorge
wisse im Augenblick des Handelns gültige Sicht des Selbst in seiner Relation zu sich und zu seiner Welt. Diese Sicht konditioniert nicht die konkrete Handlungsentscheidung in der betreffenden Situation, sondern liefert ein Tableau von Verhaltensoptionen, die diesem Initialentwurf entsprechen. Der Mensch kann sich jederzeit für ein anderes Tableau entscheiden und ihm entsprechend eine Handlung wählen, müßte dafür jedoch eine »jähe Metamorphose [seines] Initialentwurfs« herbeiführen. »Dann wird evident, daß man nicht annehmen kann, die Handlung hätte modifiziert werden können, ohne gleichzeitig eine grundlegende Modifikation meiner ursprünglichen Wahl meiner selbst anzunehmen.« 8
Diese bestimmte Handlung ist also weder »beliebig« noch »unvorhersehbar« 9 und doch zugleich Anzeichen existentieller Freiheit. Der alleinige Grund, der ihr nicht determinierend, wohl aber ermöglichend vorausgeht, liegt in der Wahl jenes Tableaus von Verhaltensoptionen, das einmal gewählt wurde und jederzeit neu entworfen werden kann. Sicherlich könnten sich an diesem Punkt Fragen nach einer eventuellen Identität des Einzelnen oder nach persönlicher Kontinuität im Sein anschließen, die Sartre selbst jedoch nicht stellt. Wenn es die Vorstellung identischen Selbst-Seins bei ihm überhaupt geben könnte, dann müßte sie sich in dem Spannungsverhältnis zwischen Entwurf und Modifizierung des Selbst platzieren, in der Gewißheit, daß nichts den gegenwärtigen Selbst-Entwurf rechtfertigen kann und er doch in diesem Nichts begründet ist. Sie müßte der Tatsache Rechnung tragen, daß der Mensch in jedem Augenblick über die Freiheit verfügt, weil diese Freiheit ihn existieren läßt, und daß sein Existieren ihm jene Freiheit ermöglicht, die es ihm erlaubt, sich beständig neu zu wählen. »Allein dadurch, daß unsere Wahl absolut ist, ist sie fragil, das heißt, indem wir durch sie unsere Freiheit setzen, setzen wir gleichzeitig ihre fortwährende Möglichkeit, für ein Jenseits, das ich sein werde, ein zu Vergangenem gemachtes Diesseits zu werden. […] ein Existierendes, das als Bewußtsein notwendig von allen anderen getrennt ist, weil sie nur in dem Maß mit ihm in Verbindung stehen, wie sie für es sind, das über seine Vergangenheit in Form von Tradition im Licht seiner Zukunft entscheidet, statt sie schlicht und einfach seine Gegenwart bestimmen zu lassen, und das sich das, was es
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Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 804. Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 786.
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Jean-Paul Sartre
ist, durch etwas anderes als es selbst anzeigen läßt, das heißt durch einen Zweck, der es nicht ist und den es auf die andere Seite der Welt projiziert, das nennen wir ein freies Existierendes.« 10
Mit den Begriffen von Wahl, Freiheit und freiem Existierenden spricht Sartre Grundmotive existentialistischen wie existenzphilosophischen Denkens an. Die Thematisierung des Handelns als Ausdruck der Freiheit, die er in seinem Hauptwerk mit großer argumentativer Entschlossenheit betreibt, scheint ihn von existenzphilosophischem Denken zu distanzieren, da dieses sich als Ausdruck einer Haltung versteht, die nicht zwingend in konkretem situativen Kontext demonstriert werden muß. Ein anderer Terminus, der bei flüchtigerer Betrachtung und allemal im Dafürhalten seiner Kritiker fast als Synonym des Existentialismus erscheint, ist derjenige der Absurdität, für den es allerdings in Sartres bisherigen Ausführungen keine überzeugenden Begründungen gab. Im Zusammenhang seiner Betrachtung der besonderen Relation von Freiheit und Faktizität, die er in unterschiedlichen Situationen beleuchtet, geht Sartre auch auf den Tod als mögliche Grenze menschlicher Freiheit ein. In diesem Kontext verwendet er einige Male den Begriff der Absurdität. Nach einer ersten Bestimmung des Todes als »eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt« 11, wird deutlich, daß diese Nichtung jedem Seins-Entwurf des Menschen, der Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist, »rückwirkend den Charakter von Absurdität« 12 verleihen muß. Absurd ist also ein Geschehen, das nicht vom Menschen herbeigeführt werden kann und das die Bedeutung jener Akte, die dieser zu bewirken vermag, aufhebt. Dieser Aspekt dient Sartre als Ansatz für eine weiterführende Reflexion der Möglichkeitsstruktur menschlichen Seins. Diese findet im Augenblick des Todes ihre Auflösung, wodurch das Leben, das nun in der absoluten Unmöglichkeit, weiterhin sein eigener Entwurf zu sein, erstarrt. »Aber der Sinn irgendeines Phänomens dieses Lebens ist […] von nun an festgelegt, nicht durch es selbst, sondern durch die offene Totalität, die das angehaltene Leben ist. Dieser Sinn ist primär und grundlegend, wie wir 10 11 12
Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, I, S. 805 und S. 786. Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, IIE), S. 923. Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, IIE), S. 926.
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gesehen haben, Fehlen von Sinn. Aber sekundär und abgeleitet kann es zu einem tausendfachen Schillern und Irisieren relativen Sinns auf dieser grundlegenden Absurdität eines ›toten‹ Lebens kommen. […] Das Merkmal eines toten Lebens ist, daß es ein Leben ist, zu dessen Wächter sich der andere macht.« 13
Was Sartre hier in ungewohnt poetischer Weise beschreibt, ist ontologisch betrachtet besonderes Kennzeichen des »Für-Andere-Seins«. Für Andere zu sein heißt, Verantwortung für die Existenz eines Menschen zu übernehmen, die dieser nicht mehr zu beeinflussen und zu verändern vermag. Ist eine dramatischere Form der Machtlosigkeit, des Ausgeliefert-Seins und der Überantwortung des Eigenen an den Fremden vorstellbar? Immer wieder wird deutlich, daß es nach Sartres Auffassung keine äußeren Faktoren sein können, die den Menschen etwa zur Setzung bestimmter Werte veranlassen, daß er keine determinierenden Einflüsse gelten läßt, die dem Existieren Richtung und Rechtfertigung geben könnten. Alle Ausrichtung im Leben und jedes Etablieren in der Welt ist Folge existentiellen Entwurfs und als solche radikal individuell und subjektiv. Mit dem Tod verwandelt sich nun dieser Entwurf in »offene Totalität«, Abgeschlossenheit, ohne jemals vollendet worden zu sein, denn nach Sartres Auffassung gilt der Tod nicht als ein notwendiger Abschluß, der das Leben erst vollständig werden läßt. 14 Offene Totalität, weil sie ja noch immer im Blick des Anderen zum Objekt gemacht werden kann. Objektivierung durch einen anderen Menschen hatte bislang eine Erstarrung in dessen Blick bedeutet, ein Paralysieren der eigenen Möglichkeiten. In der Situation des Todes ist nun der Andere nicht mehr derjenige, der sein Gegenüber fixiert, sondern ganz im Gegenteil: er ist derjenige, der die durch die Faktizität des Todes gesetzte Totalität des fremden Lebens offenhält. Auch wenn er dessen Entwurf natürlich nicht fortsetzen kann, kann er sich selbst doch zu dessen »Wächter« machen, der ein Leben im Sein erhält, dessen Existenz beschlossen ist. Das »tausendfache Schillern und Irisieren relativen Sinns« hat hier seinen Ursprung, in der absoluten Geste der Verantwortung für den Anderen. Interessanterweise sieht Sartre hierin jedoch kein Zeichen besonderer menschlicher Güte, sondern letztlich ein Merkmal einer ontologischen Struktur. Ein Mensch verhält sich nicht dann verantwor13 14
Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1. IIE), S. 929 f. Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, IIE), S. 917.
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Jean-Paul Sartre
tungsbewußt, wenn er das Gedächtnis eines Anderen wahrt, sondern er ist verantwortlich, sich diesem gegenüber zu verhalten. 15 Verantwortung kann nicht gewählt werden, sondern ist von Anfang an Kennzeichen menschlichen Seins. Gegenstand der freien Entscheidung, die jedoch in jedem Fall zu treffen ist, ist dann lediglich, welche Haltung dem Anderen gegenüber eingenommen wird. Unweigerlich drängt sich der vergleichende Blick zu Lévinas auf, der doch auch Verantwortung absolut gesetzt und auf eine Begründung aus »unvordenklicher« Zeit verwiesen hatte. Ihm diente diese Feststellung dazu, ethisches Verhalten aus der Verfügungsgewalt des Individuums zu lösen, das kraft seiner Freiheit jederzeit dazu in der Lage sein könnte, eine Entscheidung gegen die Haltung der Gerechtigkeit zu treffen. Unbestreitbar ist für Lévinas der Motivgrund hierfür aber ethischer Natur und die Aussetzung der Verantwortung dessen Folge. Gilt Gleiches auch für Sartre? Eher nicht, denn obwohl auch er das Verantwortlich-Sein außerhalb menschlicher Wahlmöglichkeit begründet sieht, insofern es Bestimmung von Existenz schlechthin ist, bleibt die Entscheidung über die spezifische Umsetzung dieser Verpflichtung dem Anderen gegenüber Gegenstand freien Entschlusses. Wenn es eine Ausrichtung gibt, die die Verantwortlichkeit über ihre ontologische Kennzeichnung hinaus zeigt, dann verweist diese auf die Frage nach dem Sinn menschlichen Seins. Dieser kann durch den Anderen geschaffen und erhalten werden, wenn er seiner Verantwortung für das Leben des Anderen über dessen Tod hinaus Rechnung trägt. So liegt nach Sartres Ansicht hierin ein Akt paradoxer Güte. Der entfremdete Sinn eines Lebens wird in der Entfremdung begründet. Es bleibt letztlich eine Frage der Interpretation, ob hierin ein ethisches Verhalten zu sehen ist. Wird Ethik als ein aktives Eintreten für den Anderen verstanden, ist die Frage sicherlich positiv zu beantworten, denn ein Mensch tritt für den Anderen in jenem Augenblick ein, in dem dessen eigenes Vermögen im Nullpunkt seiner Möglichkeiten kollabiert. Stellvertretung für den Anderen – dieses Motiv nutzt auch Lévinas, wodurch die Problematik des Respektierens fremder Individualität sichtbar wird. Gibt es ein Maß und im besonderen Fall sogar eine Grenze für Verantwortung? Vielleicht Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, IIE), S. 932: »So ist das Für-sich eben durch seine Faktizität in eine volle ›Verantwortlichkeit‹ den Toten gegenüber geworfen; es ist gezwungen, frei über ihr Los zu entscheiden.«
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Handeln oder Sorge
wird diese Überlegung besonders für Sartres Auffassung wichtig, da ein Leben, das nicht mehr von jenem vertreten und geschützt werden kann, der es führte, in extremer Weise der Verfügung des Anderen ausgeliefert und überantwortet wird. Es ist als offene Totalität unwiderruflich objektiviert. Grenzenlose Verantwortung also, der kein Widerstand mehr geleistet werden kann; unbegrenzte Güte möglicherweise zugleich, die demjenigen gilt, der sie niemals gewollt und niemals gefordert hat. Der Begriff der »Güte«, für Lévinas stärkster Ausdruck der Verantwortung eines Menschen, zählt nicht zu Sartres wichtigster Terminologie. Doch ist es nicht ein Akt nicht zu überbietender Güte, einem fremden Leben Sinn zu verleihen? Ist eine größere Nähe zwischen zwei Individuen vorstellbar, zumal dann, wenn noch einmal Sartres Beschreibung der Liebe als einer Relation des Konfliktes in Erinnerung gerufen wird? Der Wille, die Freiheit des Anderen zu resorbieren, läßt gewiß keine Nähe zu. So deutlich sich Sartre auch in der Auffassung des Todes in seiner Bedeutung für das menschliche Sein von Heidegger unterscheidet 16, klingt doch ein Aspekt heideggerschen Denkens darin an – der Aspekt der schützenden Geste des Menschen. Der »Wächter« über das »tote Leben« und der »Hirt des Seins« sind zwei Metaphern für eine – erstaunlich genug – vergleichbare Funktion des Menschen. Dabei geht es nicht darum, Gewalt über das Andere auszuüben, es zu deuten, zu verfremden, sondern es zu schützen, so wie es ist. Es geht nicht darum, sich an die Stelle des Fremden zu setzen, sondern ihm Raum zu geben, wo kein solcher wäre. Hier ist es faszinierenderweise sekundär, ob es sich um ein tatsächliches Leben oder um das Sein handelt, das hier bewahrt und zum Ausdruck gebracht werden soll. Das Schweigende wird vernehmbar, so scheinbar naiv und doch so grandios gedacht. Die vermeintliche Einzigkeit des Faktischen wird gebrochen, um das Andere laut werden zu lassen.
XVI.2 Martin Heidegger In Heideggers Beschreibung der Fürsorge zeichnet sich ähnliches ab, wie in Sartres Darstellung von Verantwortung – beides sind Kennzeichen menschlichen Seins, als solche unhinterfragbar. Und beide 16
Sartre, Das Sein und das Nichts, IV, c.1, IIE), S. 937 f.
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Martin Heidegger
öffnen ein Spektrum der Auslegung, das Rahmen freier Entscheidung ist. Die Fürsorge kann in Heideggers Denken einen weit größeren Wert beanspruchen als nur den, Teil seiner allgemeinen Konzeption von Sorge zu sein. Formal könnte sie der deutlichste explizit zu Wort gebrachte Ausdruck menschlicher Verwiesenheit aufeinander sein, der die bloß ontologische Bezeichnung des Mitseins in die Ebene tatsächlicher Relationalität überträgt. Natürlich kann auch hier, ebenso wie bei Sartres Begriff der Verantwortung, eingewendet werden, daß es nicht Gegenstand menschlicher Entscheidung ist, sich ›verantwortlich‹ oder ›fürsorglich‹ zu verhalten. Doch bietet sich eine sprachliche Möglichkeit der Präzisierung an: Es ist Ergebnis menschlicher Wahl, sich ›verantwortungsbewußt‹ oder ›fürsorgend‹ zu verhalten. Dieser Ansicht könnte nun der Befund widersprechen, den eine Betrachtung der heideggerschen Darstellung von Fürsorge ergibt. »Die Fürsorge erweist sich als eine Seinsverfassung des Daseins, die nach ihren Möglichkeiten mit dessen Sein zur besorgten Welt ebenso wie mit dem eigentlichen Sein zu ihm selbst verklammert ist.« 17
Zunächst scheint sich hier keinerlei Anknüpfungsmöglichkeit für eine Deutung anzubieten, die ein individuell zu gestaltendes Maß der Fürsorge ermöglicht. Und doch ist an dieser Darstellung eines auffällig. Selten spricht Heidegger von graduellen Unterschieden innerhalb der menschlichen Verhaltung zum Sein; so wie auch Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit keine Abstufungen zulassen. Und ebenso spärlich sind in seinen Texten die Hinweise auf eine Bewertung bestimmter Ausdrucksweisen des Seins. Doch gerade im Kontext der Aussagen zur Fürsorge finden sich wenige, aber doch bemerkenswerte Formulierungen dieser Art. So spricht Heidegger von »defizienten Modi«, von »mannigfachen Mischformen« 18 der Fürsorge und konstatiert: »[…] so ist die Fürsorge geleitet durch die Rücksicht und Nachsicht. Beide können mit der Fürsorge die entsprechenden defizienten und indifferenten Modi durchlaufen bis zur Rücksichtslosigkeit und dem Nachsehen, das die Gleichgültigkeit leitet.« 19
17 18 19
Heidegger, Sein und Zeit, § 26, S. 122. Heidegger, Sein und Zeit, § 26, S. 121 f. Heidegger, Sein und Zeit, § 26, S. 123.
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Handeln oder Sorge
Wie bestimmen sich aber jene mannigfachen Mischformen, jene unterschiedlichen Nuancen zwischen Rücksicht und Nachsicht? Heidegger beabsichtigt hier keinesfalls ein Einschwenken auf eine psychologische Betrachtungsweise. Seine Darstellung der Fürsorge hält sich konsequent auf ontologischer Ebene, die an dieser Stelle genutzt wird, um die Seinsverfassung desjenigen Seins zu analysieren, das sich als Dasein versteht. Doch sind dem Menschen innerhalb dieses Seins offenbar gewisse Variationen der Auslegung möglich. Nicht mehr, aber auch nicht weniger gilt es hier festzuhalten. Nicht weniger will aber auch Sartre für die Auslegung der existentiellen Bedingung von Verantwortung beanspruchen. So könnten Rücksicht und Nachsicht auch als Kategorien des Verhaltens zum Anderen in seinem Denken Einzug halten. Dieses hält sich, so konfliktreich es auch sonst ist, in der einen grandiosen Gewißheit: Der Mensch erfährt seine Existenz als absurd, weil er deren Sinn nicht selbst zu bestimmen vermag, hat aber allen Grund zu der Hoffnung, daß ihr durch den Anderen ein »Schillern und Irisieren« von Sinn verliehen werden kann. Die letzten Bemerkungen dürfen jedoch die Feststellung nicht verwischen, daß Sartre das philosophischen Denken in einem Kontext betrachtet, der Heidegger verschlossen bleibt. In Sartres Auffassung ist der Philosoph aufgerufen zum Engagement. Dieser Begriff erschien in seiner theoretischen Dimension anläßlich der Kennzeichnung des Für-sich-Seins als Für-Andere-Seins. In diesem Umfeld hätte der Gedanke, daß der Mensch immer schon engagiert in das Sein mit Anderen ist, leicht als eine Bestimmung dieses Seins versiegen können, die zwar für dessen phänomenologische Erfassung bedeutsam wäre, doch für eine mögliche praktische Inanspruchnahme eher ungenutzt bliebe.
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XVII. Absurdität
XVII.1 Albert Camus Die sicherlich eindringlichste Darstellung der Absurdität findet sich in den Schriften von Albert Camus, wobei sich Beschreibung und Untersuchung der Ursache dieser radikalen Erscheinungsweise menschlicher Existenz verknüpfen. Von Anfang an wird deutlich, daß Camus nicht an einer Bestimmung von Sein interessiert ist, dessen wesentliche Sinnlosigkeit der Mensch im Gefühl des Absurden erlebt. Weder ontologischen noch phänomenologischen Theorien verpflichtet, fußt sein Denken in einer gewissen abstrakten Voraussetzungslosigkeit, die umso mehr Raum für das unmittelbare Erfassen menschlicher Bezüge zur Wirklichkeit gibt. Sein Ziel sind nicht Analyse und Definition der Bedingtheit von Existenz, da er keine bedingenden Faktoren für sie akzeptiert, die nicht aus dem Geschehen von Existenz als solcher folgen. So wirken seine Betrachtungen grundsätzlicher als die Sartres, mit dem er stets verglichen wird, ohne daß dieser Vergleich ihm zwingend gerecht werden müßte. Sie erscheinen zugleich unmittelbarer, da sie sich einer anderen Form bedienen, ohne daß dadurch ihre philosophische Relevanz geschmälert würde. Sein Denken zeichnet sich durch ein extremes Maß an individueller Entschlossenheit aus, eine Wahrheit zu bezeugen, die keiner theoretischen Begründung und keiner allgemeingültigen Rechtfertigung bedarf, weil sie im besten Sinne so subjektiv ist, wie jedes Erleben nur sein kann. Und obwohl diese wenigen Bemerkungen den Schluß nahelegen könnten, daß Camus nicht unbedingt als philosophischer Denker zu bezeichnen wäre, trifft diese Einschätzung keineswegs zu. Seine Bestimmung des Entstehens von Absurdität basiert auf einem Wissen um die philosophische Tradition des Abendlandes, das ihm ein tiefes Verständnis ihrer Entwicklung erlaubt. Doch ist Camus alles andere als ein Historiker, sondern eher ein Chronist einer Entwicklung zur Gegenwart, die sich seinem Blick in einer Gestalt äußer263 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Absurdität
ster Entfremdung darbietet. Deren Ursache gilt es zu hinterfragen, ohne daß Camus darin bereits seine selbst auferlegte Verpflichtung erschöpft sieht. Es ist ein Teil des Auftrages, dem er als Intellektueller folgt, bestehende Erscheinungen zu erklären, doch ein vielleicht noch wichtigerer Teil, deren Folgen für die menschliche Existenz zu reflektieren. Mit seinen Betrachtungen, die sich im Schnittbereich philosophischer Erörterung und literarischer Beschreibung verorten, demonstriert Camus ein Selbstverständnis, das bei erster Betrachtung eine übergroße Distanz zu den bisher vorgestellten Denkern aufzuweisen scheint, bei näherer Befragung aber zugleich außerordentliche Bezüge zu erkennen gibt. Eine Erinnerung an programmatische Selbstaussagen anderer Vertreter des neuen Denkens, das als Existenzphilosophie bezeichnet wird, zeigt, daß er vielleicht intensiver als alle anderen an dessen Umsetzung arbeitet. Hatte nicht Rosenzweig eine erzählende Philosophie gefordert, die Ausdruck eines völlig neuen Typus des Philosophen zu sein habe? Und hatte er nicht im Gedanken der Allheit, wie sie speziell im Idealismus entwickelt wurde, jene größte Verhöhnung des Menschen gesehen, der als Individuum in der Welt existiert und verzweifelt darum ringt, das Wissen um seine Endlichkeit zu ertragen? Löst Camus nicht exakt die von Rosenzweig geforderte Radikalität einer Erneuerung des Denkens ein, knapp dreißig Jahre später, in einer Zeit, die abermals von den Folgen eines katastrophalen Krieges geprägt ist? Und warnt nicht auch Camus vor einer einseitigen Akzentuierung der Vernunft, die seiner Überzeugung nach nur durch eine partielle Preisgabe der Emotionalität und Empfindsamkeit des Menschen erreicht werden kann? Gerade diese Vernunft, die durch ihre Abstraktionsleistungen dazu befähigt ist, komplexe Strukturen der Wirklichkeit zu begründen, versagt gänzlich, wenn es darum geht, die Empfindung im Dasein zu erklären – immer wiederkehrende Klage der Denker der Existenz, wie sich mittlerweile gezeigt hat. »Verlangt das Absurde den Tod, so müssen wir dieses Problem allen anderen vorziehen – frei von aller Methodik, von allen Spielereien eines unbeteiligten Geistes. Feine Unterschiede und Widersprüche, die ganze Psychologie, die ein ›objektiver‹ Geist auf alle Probleme anzuwenden weiß, haben bei dieser Untersuchung und bei dieser Sache des Herzens nichts zu suchen.« 1 1
Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 13. Ulrich Frey weist mit Nachdruck darauf
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Albert Camus
Ein rückhaltloseres Plädoyer für eine Anti-Methodik, für eine geplante Unwissenschaftlichkeit, ließe sich wohl kaum vorstellen. Liest man diese Selbstauskunft Camus’ etwa im Vergleich zum fundamental-ontologischen Ansatz Heideggers, scheinen kaum größere Divergenzen möglich zu sein. Und trotzdem macht Camus sehr deutlich, daß er sein Denken im Kontext der Existenzphilosophie platziert wissen will, und sei es auch nur, um diesen Zusammenhang sprengen zu können. So attestiert er Heidegger, dem »Philosophie-Professor«, daß er in der »denkbar abstraktesten Sprache« »kalt die Situation des Menschen« 2 beschreibt, womit er selbst artikuliert, wie stark er sich von diesem abgrenzen will. Umso wichtiger ist es für Camus, seine Sicht der Absurdität darzulegen, die er auf einen grundsätzlichen Bruch der Relation zwischen Mensch und Welt zurückführt. Hier gilt es also nicht, die Angst vor einem möglichen Nicht-mehr-Sein zu thematisieren oder Überlegungen über die abstrakten Begriffe des Seins und des Nichts anzustellen, sondern sehr konkret den Ursachen dafür nachzugehen, warum sich einem Menschen der Eindruck aufdrängt, diese Welt »entgleite« ihm. »[…] die Verfremdung ergreift uns: die Wahrnehmung, daß die Welt ›dicht‹ ist, die Ahnung, wie sehr ein Stein fremd ist, undurchdringbar für uns, und mit welcher Intensität die Natur oder eine Landschaft uns verneint. […] Die Welt entgleitet uns: sie wird wieder sie selbst. […] Dieser Grasduft und Sternenschein, die Nacht, Abende, an denen das Herz weit wird – wie könnte ich die Welt leugnen, deren Macht und Stärke ich erfahre? Trotzdem gibt mir alles Wissen über diese Erde nichts, was mir die Sicherheit gäbe, daß diese Welt mir gehört.« 3
Was Camus hier beschreibt, hat nichts mit jenen Formen des Daseins gemein, in denen sich das Zuhandene dem gebrauchenden Zugriff des Menschen fügt oder verweigert. Das Vokabular, mit dem er Existenz darstellt, ist grundsätzlich von jenem zu unterscheiden, mit dem ein Theoretiker wie Heidegger das Sein thematisiert. Hier abstrakte Formel, ontologische Anzeige; dort bildhafter Ausdruck, noch nicht zur Formelhaftigkeit der Metahin, daß das Absurde für Camus der Ausgangspunkt aller weiteren Fragen – auch jener nach Moralität – sei, Von solitaire zu solidaire, S. 35 f. 2 Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 26 und S. 25. 3 Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 17, 18 und 22.
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Absurdität
pher abstrahiert, sondern unmittelbar, so daß man meinen könnte, es handele sich um den einzig angemessenen oder sogar den einzig möglichen Ausdruck für die einzig verbindliche Quelle des Erlebens. Welt ist nicht das vom Menschen konstituierte Funktionsgefüge, nicht die subjektiv organisierte Strukturganzheit, aber auch kein »Utensilitätskomplex« 4. Am ehesten ist der Begriff der Welt noch demjenigen von Lévinas vergleichbar und, scheinbar widersprüchlich zum gerade Gesagten, dem der späteren Schriften Heideggers: Welt als Ort des Menschen. Und die Erde ist das, was sie nur sein kann – Raum, der diesen Ort ermöglicht, elementare Bedingung jedes Existierens schlechthin. In obigen Worten beschreibt Camus die Widerständigkeit der Erde, die den Menschen die Welt als abweisend erleben läßt, eine Erfahrung, die nicht aus der Beschaffenheit der Natur als solcher resultieren kann, die sich stets unverändert gleich bleibt, sondern die allein aus der menschlichen Haltung ihr gegenüber folgt. Die Welt ist nicht fremd, sondern sie erscheint dem Individuum als fremd, weil es sie durch seine Vernunft zu erfassen versucht. Zwei grundsätzlich unvereinbare Elemente treffen somit aufeinander – eine letztlich nur der Sinnlichkeit und dem ihr verschriebenen Gespür des Menschen zugängliche Erde in ihrer ganzen ungebrochenen elementaren Kompaktheit und ein Denken, das sich als rational definiert. Mit diesem kognitiven Instrumentarium versucht der Mensch, eine Welt zu verstehen, die nichts zu verstehen, aber alles zu spüren gibt. Weit davon entfernt, hier einer naiven Form der Naturidylle nachzuhängen, diagnostiziert Camus statt dessen eine Krise der abendländischen Vernunft, wie sie sich in den philosophischen Systemen der Vergangenheit immer stärker etablierte. Diese scheinen seiner Auffassung nach immer kompromißloser auf eine unmittelbare Erfahrung der Welt, in der sich Existenz ereignet, verzichten zu können, weil deren innere Funktionsweise in Form von Gesetzmäßigkeiten und dafür notwendigen Abstraktionen verwaltet wird. Wissen wird somit zu einer stellvertretenden Erfahrung von Welt – und genau hier liegt die Ursache des Empfindens ihrer Absurdität. Wissen kann niemals eine Erfahrung sein. So bleibt das Begehren des Menschen, das nur durch eine unmittelbare Begegnung mit der Natur erfüllt zu werden vermag, fortwährend unbefriedigt, und es drängt 4
Sartre, Das Sein und das Nichts, III, c.2, I, S. 575.
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Albert Camus
sich mit immer massiverem Druck die Gewißheit auf, daß der Mensch sich fremd in einer Welt fühlt, die er sich wissend, doch trotzdem unwissentlich, entfremdet hat. Die Absurdität der Existenz ist also kein Faktum, das ihr als solcher eignet, sondern sie ist ein Gefühl, in dem sich die Diskrepanz zwischen der Welt und der Haltung des Menschen ihr gegenüber ausdrückt. »Das Absurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.« 5
Diese Erklärung artikuliert die Ursache jenes Empfindens, das einen Menschen aus der vermeintlichen Selbstverständlichkeit seines Existierens herausreißen kann, ein Geschehen, das in seiner Auswirkung jenem der Angst bei Heidegger oder der Verzweiflung bei Kierkegaard durchaus vergleichbar ist. Es »[…] stellt den sonderbaren Seelenzustand dar, in dem die Leere beredt wird, die Kette alltäglicher Gebärden zerrissen ist und das Herz vergeblich das Glied sucht, das sie wieder zusammenfügt – […].« 6
Ein Blick zurück zu Sartre zeigt noch einmal, worin Absurdität für ihn bestand. Sie liegt in der Tatsache, daß der Mensch als Individuum nicht in der Lage ist, seiner Existenz selbst Grund und darin Sinn zu verleihen. Dieser kann ausschließlich durch den Anderen geschaffen und bezeugt werden, wodurch sich ein wesentliches Merkmal des Für-Andere-seins zeigte. Absurdität kann also im Gestus der Solidarität gemildert werden. Eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Vernunft und Empfinden, wie sie für Camus ausschlaggebend das Entstehen der Absurditäts-Erfahrung begründet, spielt für Sartre keine vergleichbare Rolle, so wie deren Spannung generell in seinem Denken kaum berücksichtigt wird. Entscheidend für ihn ist die Frage, wie sich das Bewußtsein den Erscheinungsweisen des Seins nähert – eine Deutungshaltung, mit der er sicherlich Heidegger näher steht als Camus. Ist das Gefühl des Absurden nun für diesen integraler Bestandteil der Erfahrung des eigenen Existierens in der Welt, die latent bestehen kann, sich aber auch in Momenten der Verunsicherung und
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Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 29. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 16.
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Absurdität
Verzweiflung unüberhörbar artikuliert, so ist ein eigentliches Aufheben des Absurden nicht möglich. »Das Absurde hängt ebensosehr vom Menschen ab wie von der Welt. Es ist zunächst das einzige Band zwischen ihnen.« 7
So verstanden, scheint es hier keine notwendige Abhängigkeit vom anderen Menschen zu geben, der stellvertretend das erfüllt, was der Andere allenfalls vorzubereiten vermochte. Die Konfrontation des Menschen mit der Welt, der er sich in den beiden widersprüchlichen Haltungen der Rationalität und der Empfindung nähert, bedarf keines Zeugen und keines »Wächters«. Allein und auf sich selbst zurückgeworfen erfährt der Mensch, daß die Welt, der seine Vernunft nicht zu korrespondieren versteht, ihm lediglich ein Gefühl vermittelt, jedoch nicht jenes, das er sich in seinem irrationalen Verlangen nach Sicherheit erhoffte, sondern gerade dessen Verkehrung – das Gefühl des Absurden. Zunächst interessiert Camus also dieses singuläre Gefühl, dessen schwindelerregende Tiefe sich noch dadurch verstärkt, daß es den Menschen radikal vereinzelt, denn kein zweiter Blick, so fürsorglich er auch sein mag, könnte die Härte dieses Erlebens lindern. Welche Konsequenzen fordert aber dieses Erleben? »Es kann sich nicht darum handeln, das Unabweisbare zu maskieren, das Absurde zu unterdrücken, […]. Wir müssen wissen, ob wir damit leben können oder ob die Logik es verlangt, daß wir daran sterben.« 8
In dieser Weise vor eine Frage existentiellen Ausmaßes geführt, ist es naheliegend, andere Denker nach ihren jeweiligen Antworten zu befragen. »Nun, wenn ich mich an die Lehren der Existenzphilosophie halte, so sehe ich, daß ausnahmslos alle mir ein Ausweichen vorgeschlagen haben. Sie gehen, vom Absurden aus, auf den Trümmern der Vernunft in eine geschlossene, auf das Menschliche begrenzte Welt, und durch eine sonderbare Überlegung vergöttlichen sie das, was sie zerschmettert, und sie finden einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflos macht.« 9
Mit dieser eigenwilligen Charakterisierung bezieht sich Camus vor allem auf Søren Kierkegaard und Karl Jaspers. Sie erweckt den Ein7 8 9
Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 23. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 46. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 32.
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druck, als würden beide auf einen Begriff des Absurden Bezug nehmen, der dem seinen vergleichbar ist. Diese Voraussetzung ist jedoch alles andere als zwingend. Es gibt kaum einen Denker, dem die Erfahrung von Welt weniger bedeutet hätte als Kierkegaard, und noch Jaspers steht ihm in seiner Unberührtheit durch die Welt in ihrer elementaren Komplexität kaum nach. So wäre zu fragen, ob Camus nicht zu entschlossen die Voraussetzung seines eigenen Denkens auch auf die Theorien der beiden Autoren überträgt und dann, aus seiner Sicht folgerichtig, auf ein »Ausweichen« vor einer tatsächlichen Bewältigung der AbsurditätsErfahrung verweist. Bei den wenigen Erläuterungen, die Camus seiner Diagnose der existenzphilosophischen Inkonsequenz hinzufügt, finden sich einige Sätze zu Jaspers, den er zum Repräsentanten dieses Denkens ernennt. »Aber JASPERS wird uns, bis zur Karikatur überspitzt, ein typisches Beispiel für diese Haltung liefern. […] JASPERS bleibt ohnmächtig, das Transzendente zu realisieren, unfähig, die Tiefe der Erfahrung auszuloten, behält aber dieses durch die Niederlage eingestürzte Universum im Bewußtsein. Wird er weitergehen oder wenigstens Schlüsse aus dieser Niederlage ziehen? Er bringt nichts Neues. Er ist bei der Untersuchung nur zu dem Eingeständnis seiner Ohnmacht gekommen und hat dabei nur einen Vorwand für die Ableitung irgendeines zufriedenstellenden Prinzips gefunden. Dennoch bejaht er – ohne Rechtfertigung, wie er selber sagt – in einem Zuge zugleich das Transzendente, das Sein der Erfahrung und den übermenschlichen Sinn des Lebens, […].« 10
Dies ist in der Tat eine pointierte Kritik, die eher behauptet als beweist, was sie verwirft. Es trifft zu, daß Jaspers besonders in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit selbst ein kritisches Bild der gegenwärtigen Lage in Gesellschaft, Wissenschaft und Religion zeichnet, das vornehmlich aus einem einseitigen Gebrauch der Vernunft resultiert. Was daraus für Jaspers allerdings nicht folgt, ist das Gefühl von »Ohnmacht« und »Niederlage«. Jaspers stellt fest und sucht Auswege, letzteres sogar in einem gewissen euphorischen Ton, ist er sich doch der Möglichkeit eines ›Neuen Denkens‹ gewiß – kein Anlaß also für ihn, in Ohnmacht zu resignieren und Scheinlösungen dort zu präsentieren, wo verbindliche Angebote erforderlich wären. Das Transzendente bejaht Jaspers ohne Frage, darin trifft Camus’ Charakterisierung gewiß zu, zunächst als Möglichkeit des Transzen10
Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 32 f.
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Absurdität
dierens schlechthin, die Gewährleistung existentieller Bewegung ist, später auch in der Form des Transzendenten. An diesem Punkt berührt Camus eine Besonderheit existenzphilosophischen Denkens, das, obwohl es sich nicht primär als religiös versteht, doch eine mehr oder minder starke Affinität zum Religiösen zuläßt und bisweilen sogar sucht. Dabei wird nicht etwa eine Integration der Vorstellung eines personalen Gottes in den Komplex theoretischer Aussagen über das Sein angestrebt. Doch ähneln sich existentielle und religiöse Haltung des Menschen besonders in einem Merkmal: Beide sehen den Menschen in Bezug auf ein Anderes. Ob dieses Andere im anderen Menschen, im Anderen der Welt oder in der Andersheit Gottes gesucht wird, ist dabei tatsächlich sekundär, weil nicht das Ziel der Bewegung menschlichen Seins dessen Definition bestimmt, sondern die Ausrichtung, die in allen drei Fällen das Eigene auf das Andere hin transzendiert. Seit den frühesten Artikulationen existenzphilosophischen Denkens hatte sich der Versuch gezeigt, in der Form des komplementären Denkens einen Modus zur Reflexion dieser Bewegung zu nutzen. Während die von Camus kritisierten Denker nicht grundsätzlich leugnen, daß die letzte Bewegung des Überschreitens des Eigenen auf ein Fremdes selbst Göttliches einschließen kann, solange dessen Deutung variabel bleibt, weist Camus sie radikal zurück. Dabei ist es höchst bemerkenswert, daß er selbst den Erfahrungsraum des Göttlichen keineswegs ablehnt, wie sich gleich zeigen wird. Zunächst ergibt sich folgendes Bild: Camus geht davon aus, daß die von ihm genannten Philosophen prinzipiell die gleiche Erfahrung des Menschen beschreiben wie er. Umso größer ist seine Resignation, als er feststellen muß, daß sie keine tatsächliche Lehre aus dieser Erfahrung ziehen, sondern sich statt dessen in metaphysische Ausflüchte versteigen, so erscheint es ihm zumindest. Dagegen erklärt er programmatisch: »[…] mich interessiert nicht so sehr die Entdeckung des Absurden wie deren Konsequenzen.« 11 Er selbst legt hier den Ausgangspunkt seines Denkens offen, wenn er die manch philosophischer Theorie inhärierende und dennoch oftmals verschwiegene Frage artikuliert: Was folgt? Was folgt für ihn aus der Erkenntnis der Absurdität? Es sind exakt drei Folgerungen, mit deren Formulierung Camus zugleich seine Position in-
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Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 19.
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Albert Camus
nerhalb des Spektrums existenzphilosophischer und existentialistischer Überzeugungen definiert. Es hatte sich bereits angedeutet, daß ein Ausweichen vor der Erfahrung der Absurdität seiner Ansicht nach nicht akzeptabel ist. Nicht, weil es ein Zeichen von Schwäche oder Hilflosigkeit des Menschen wäre, sondern weil sich der Einzelne im Versuch, das Gefühl des Absurden zu negieren oder zumindest zu verdrängen, den einzigen Sinn nimmt, den seine Existenz haben kann. »Der absurde Mensch kann nur alles ausschöpfen und sich selber erschöpfen. Das Absurde ist seine äußerste Anspannung, an der er beständig mit einer unerhörten Anstrengung festhält; denn er weiß: in diesem Bewußtsein und in dieser Auflehnung bezeugt er Tag für Tag seine einzige Wahrheit, die Herausforderung.« 12
Vor diesem Hintergrund wird noch einmal Camus’ vehemente Ablehnung existenzphilosophischer Theorien deutlich, die gerade diese Herausforderung seiner Ansicht nach nicht ergreifen. Ob seine Deutung dieser Theorien zutrifft oder nicht, ist in diesem Kontext unerheblich. Die zweite Folgerung, die er aus der Erkenntnis des Absurden zieht, gilt dem Verständnis von Freiheit. Wenn der Tod alles planende Gestalten, das sich auf eine Zukunft hin entwerfen will, die als gewiß gesetzt wird, sinnlos erscheinen läßt, verliert der Mensch zwar Freiheit im absoluten Sinn, gewinnt aber individuelle Handlungsfreiheit. »Dieser Verlust der Hoffnung und der Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Verfügungsrecht.« 13 Wenn die finale Determiniertheit menschlichen Handelns ihre Begründung verliert, weil sie sich auf eine kommende Zeit richtete, deren tatsächliches Eintreten ungewiß ist, kann sich das planende und sorgende Denken jenen Augenblicken widmen, die die Gegenwart konstituieren. Unter Anspielung auf Heideggers Begriff des ›Man‹ plädiert Camus hier für die Achtsamkeit, die das Beiläufige vom Gewählten zu unterscheiden lehrt. »Man sieht hier, daß die Ausgangspunkte der Existenzphilosophie durchaus ihre Gültigkeit behalten. Die Rückkehr zum Bewußtsein, die Flucht aus dem täglichen Schlaf stellen die ersten Schritte
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Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 50. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 51.
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Absurdität
der absurden Freiheit dar.« 14 Leise und doch unüberhörbar klingt hier der »Ruf« an, der auch in Heideggers Denken gerade die ›Rückkehr zum Bewußtsein‹ symbolisiert. Absurd ist die Freiheit, die sich darin zeigt, weil sie Freiheit im Wissen ihrer Begrenztheit ist. Eng mit dieser Ansicht ist auch die dritte und letzte Konsequenz verbunden, die sich unter theoretischer Perspektive allerdings stark von den beiden ersteren unterscheidet. Auflehnung gegen die Verdrängung des Absurden und Ergreifen der absurden Freiheit sind Forderungen, die beide dem Verstehen von Existenz gelten und als solche den Forderungen der bisher betrachteten Denker ähneln. Im dritten Fall plädiert Camus für die »Leidenschaft«, mit der im Absurden zu existieren sei. 15 Leidenschaft meint hierbei nicht nur die heroische Geste eines Menschen, der dem Absurden zu trotzen sucht, sondern auch die Leidens-Bereitschaft im Sinne der Einwilligung, es zu ertragen. Hier wird Camus’ Sicht des Menschen besonders deutlich. Es reicht nicht aus, zu verstehen, wenn das Verständnis nicht durch eine emotionale Haltung getragen wird. Kein Wunder also, daß er gerade Sisyphos als den Inbegriff des »absurden Menschen« 16 bezeichnet. Das Entscheidende ist nicht sein Handeln, durch das er den Stein immer wieder von neuem den Berg hinaufwälzt, wie es ihm die Götter zur Strafe für seinen Hochmut auferlegten, sondern die Haltung, mit der er seine Aufgabe erfüllt. Sisyphos erkennt sein Tun in der ganzen Sinnlosigkeit an und nutzt darin seine Freiheit, weil er die Faktizität seines Schicksals mit Leidenschaft ergreift. Es ist nicht die resignierende Haltung eines Menschen, der sich in das Unabänderliche ergibt, sondern die wirkliche Demonstration des Stolzes, dessen sich nur der Freie bewußt ist, weil er sich selbst als Urheber seines Geschickes begreift – »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« 17 Das Glück des Menschen in der Existenz ist gewiß nicht Heideggers vorrangiges Thema, und auch Sartre scheint ihm keine allzu große Aufmerksamkeit zu widmen. Vielleicht ist es am ehesten noch in den Schriften von Lévinas zu finden, jenes Denken, das den Menschen nicht nur als verantwortungsbewußt und dem Anderen zugewandt beschreibt, sondern ihm Glück attestieren will. Camus setzt mit seinem Postulat der Leidenschaft, neben der 14 15 16 17
Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 53. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 54 ff. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 101. Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 101.
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Albert Camus
Auflehnung und der Freiheit letzte Folgerung aus seiner Bestimmung des Absurden, nur den konsequenten Abschluß eines Entwurfes menschlichen Seins, der von einem Gefühl – dem des Absurden – ausging und sich in einer Haltung komplettiert, die gleichermaßen emotional und intellektuell ist. Diese ist aber gerade nicht mit einer Überzeugung zu verwechseln, die das Handeln eines Menschen begleiten sollte, um ihm Authentizität zu verleihen. Sie wirkt sich nicht als ein rechtes Verhältnis von Absicht und Ziel aus, um in den Taten eines Menschen auch seine Haltung erkennen zu können. Wenn Camus von der Leidenschaft spricht, dann meint er vor allem Unmittelbarkeit der Erfahrungen, unverstellte Hingabe an das Erlebte. Diese Bedeutung von Leidenschaft wird speziell in seinen Prosatexten erkennbar, in denen er immer wieder das Sein des Menschen im Angesicht der Natur thematisiert. Ganz gleich, ob es sich um die Beschreibungen der Wüste in Noces – Hochzeit des Lichts oder um die Beschwörung des mediterranen Geistes in L’Été – Heimkehr nach Tipasa handelt, hier fordert Camus keine Leidenschaft als Folge einer Definition des Absurden, sondern beschreibt sie in teilweise fast hymnischer Euphorie. Hier verschmelzen literarische und philosophische Form am deutlichsten, wobei erstere noch immer Ausdrucksweise letzterer ist. Denn, um es noch einmal zu betonen, die Unmittelbarkeit des Erlebens der Elemente hat nichts von Idylle, von Weltflucht oder vom Verdrängen des Absurden. Gerade hier wird dem Menschen immer wieder die Ursache seines Gefühls der Absurdität vor Augen geführt. Sich den Elementen hinzugeben heißt, das Absurde zu begreifen. Denn eines wird immer deutlicher: Camus vertritt ein dezidiertes Bild des Menschen, nicht des Einzelnen, Leidenden und an der Erfahrung des Absurden fast Zugrundegehenden, sondern des Menschen schlechthin. Wäre Revolte denkbar, wenn sie nur einem einzigen Menschen gelten würde? Denkbar vielleicht, doch keinesfalls realisierbar, wie Camus zeigt. Revolte bedeutet bei ihm nicht nur eine Auflehnung ›gegen‹ etwas, sondern vor allem ein Eintreten ›für‹ etwas und, was noch weitaus gewichtiger ist, für ›jemanden‹. »In der Revolte übersteigt sich der Mensch im andern, von diesem Gesichtspunkt aus ist die menschliche Solidarität eine metaphysische.« 18 Hierbei folgt der Revoltierende jedoch nicht einem all18
Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 17.
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Absurdität
gemeinen Wert der Menschlichkeit oder Menschenwürde, der zum Motiv des Agierens auserwählt wird und dessen Umsetzung etwa in politischen und gesellschaftlichen Situationen erkämpft werden soll. Statt dessen zeigt sich der zu erstrebende Wert erst in der Aktion des Revoltierens als erstrebenswert, da erst hier die »Übersteigerung des Einzelnen in einem fortan gemeinsamen Gut« 19 erfolgt. »Es [das Individuum] handelt also im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, daß er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist. […] Die Analyse der Revolte führt mindestens zum Verdacht, daß es, wie die Griechen dachten, im Gegensatz zu den Postulaten des heutigen Denkens eine menschliche Natur gibt.« 20
Der Wert, der im Revoltieren gesetzt wird, läßt sich also nicht abstrakt ermitteln und rechtfertigen, sondern er resultiert aus der unmittelbaren Erfahrung des Menschen im Absurden und seiner Einsicht, daß diese Erfahrung nicht nur individuell sein kann. Durchaus plakativ, aber gerade darum umso eindringlicher, formuliert Camus in bemerkenswerter Parallelität zu einem der bekanntesten Motive der philosophischen Tradition: »Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das ›Cogito‹ auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir [Je me révolte, donc nous sommes].« 21
Ebensowenig wie die zuvor betrachteten Denker vertritt Camus eine Sicht des Menschen, die klassischem Humanismus entspricht, insofern sie sich auf dessen Rationalität oder gar Gottebenbildlichkeit berufen würde. Doch tritt er umso entschlossener für den Wert solidarischen Menschseins ein, der sich aus dessen Existieren selbst begründet. Natürlich kann eingewendet werden, daß dieser Wert letztlich nur subjektiv, nämlich durch das Gefühl der Absurdität, begründet ist. Kann also ein so individuelles Empfinden Grundlage einer allgemeingültigen Definition des Menschen sein? Camus selbst argumentiert sehr zurückhaltend, wenn er davon spricht, daß es »mindestens« den »Verdacht« einer »menschlichen Natur« gibt. Aber reicht 19 20 21
Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 16. Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 16. Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 21 und L’homme révolté, S. 38.
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Albert Camus
dieser Verdacht denn nicht aus, ein Eintreten für den Anderen zu rechtfertigen und, um wie vieles wichtiger, zu initiieren? Denn dieser ungewisse und trotzdem nicht zu leugnende Glaube an einen allgemeinen Wert des Menschseins wirkt gerade im Einzelnen und entfaltet dadurch eine Motivationskraft, die keine philosophische Weisung und kein religiöses Gebot in vergleichbarer Weise aufbringen kann. In einem Text über »Pessimismus und Mut«, der 1945 in der Zeitschrift Combat erschien, sieht sich Camus genötigt, gegen eine öffentliche Diskreditierung der Existenzphilosophie Stellung zu beziehen, die in deren negativer Grundstimmung die Ursache eines vermeintlichen Wertemangels sieht. »Ich fühle mich von der allzu berühmten Existenzphilosophie nicht besonders angesprochen und bin offengestanden sogar der Ansicht, daß ihre Schlußfolgerungen falsch sind. Aber sie stellt immerhin ein großes Abenteuer des menschlichen Denkens dar, […].« 22
Auch wenn die Charakterisierung als »Abenteuer« nicht wirklich eine Aussage über den theoretischen Gehalt der Existenzphilosophie erlaubt, zeigt sich doch, daß Camus zumindest ihre Voraussetzung nicht grundsätzlich ablehnt. Die Intention seines eigenen Denkens artikuliert er in einer Radikalität, die seine Ablehnung ihrer »Schlußfolgerungen« verständlich erscheinen läßt. »Es ist kurz gesagt ein Problem der Entwicklung, und uns geht es darum, zu erfahren, ob der Mensch ohne die Hilfe des Ewigen oder des rationalistischen Denkens, auf sich selbst gestellt, seine eigenen Werte schaffen kann. Dieses Beginnen ist unendlich viel größer als wir alle. Es ist meine feste Überzeugung, daß Frankreich und Europa heute eine neue Kultur schaffen oder untergehen müssen.« 23
22 23
Camus, Pessimismus und Tyrannei, in: Verteidigung der Freiheit, S. 30. Camus, Pessimismus und Tyrannei, in: Verteidigung der Freiheit, S. 30.
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XVIII. Das neue Denken
Die beiden nach herkömmlicher Auffassung wirkmächtigsten Orientierungs- und Normierungsinstanzen innerhalb des Seins weist Camus also zurück. Weder Religion noch Vernunft taugen als Grundlage für eine Ordnung menschlichen Miteinanders, die ihre Berechtigung und sogar Notwendigkeit aber noch keineswegs verloren hat – ganz im Gegenteil. Existieren heißt Sein in Relation. Wenn in diesem Zusammenhang von Ordnung gesprochen wird, dann soll damit keine Assoziation an ein Konstrukt verfügter Regelkonformität oder eine Struktur determinierender Bedingungen geweckt werden. Vielmehr entsteht Ordnung im Sinne Camus’ durch den unmittelbaren Bezug auf Anderes personaler oder elementarer Natur. Entscheidend daran ist, daß so der Anschein von Beliebigkeit und Zufälligkeit menschlichen Existierens in einem Empfinden der Zugehörigkeit aufgefangen wird. Immer schon besteht das, was ist, in unendlicher Vielfalt, ohne daß diese durch eine ebenfalls unendliche Vielzahl von gegenseitigen Verweisungen bereits als Geflecht von Bezügen geformt wäre. Philosophisch findet diese Tatsache ihren wohl deutlichsten Ausdruck im Gedanken der Kontingenz, der Zufälligkeit des Seienden, dessen Besonderheit darin besteht, daß er begrifflich nicht nur ein Testat über das Sein formuliert, sondern zugleich eine bestimmte Reaktion des Menschen provoziert, die sich nicht rational, sondern affektiv artikuliert. Das Kontingente kann zwar gedacht, aber offenbar schwerlich ertragen werden. Immer wieder hat dieser Umstand in der Geschichte des Denkens zu Versuchen geführt, Begründungen für das Sein und Beschreibungen seiner Beschaffenheit zu finden, die das Zufällige in einem Begriff der Bedingtheit auffangen und das nicht Annehmbare in einer Vorstellung von Sinnhaftigkeit auflösen wollten. Camus greift die beiden markantesten Muster dieses Kompensationsstrebens auf, wenn er »das Ewige« und »das rationalistische Denken« nennt, scheinen doch beide eine Verankerung im Absoluten zu ermöglichen,
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Das neue Denken
die seiner Auffassung nach jedoch nur solange wirkt, wie der Mensch an sie zu glauben vermag. Dieses Glauben ist ein Vertrauen auf die Möglichkeit, das Kontingente durch die Annahme von Notwendigkeit zu neutralisieren, wobei es interessanterweise von sekundärer Bedeutung ist, ob sie religiös oder philosophisch fundiert ist. In beiden Fällen wird dasjenige, das menschlicher Erfahrung unmittelbar zugänglich ist, durch den Verweis auf etwas überschritten, das diese Erfahrung ergänzt, erweitert und sie dadurch auf einen möglichen sinnstiftenden Horizont ausrichtet. Transzendenz und Abstraktion wirken, so unterschiedlich ihre Funktion auch sonst ist, mit Bezug auf den Gedanken der Kontingenz vergleichbar. Ob die Welt Werk göttlicher Schöpfung oder Folge metaphysischer Kausalität ist – sie ist nicht grundlos und das Geschehen in ihr kann niemals nur als zufällig betrachtet werden. Über die Fähigkeit, in dieser Form zu glauben, verfügt der moderne Mensch nach Camus jedoch nicht mehr. »Auf sich selbst gestellt« sieht er sich der Grundlosigkeit seiner Existenz unvermindert konfrontiert, ohne noch über die Fähigkeit, vielleicht auch die Naivität zu verfügen, deren Absurdität durch das Vertrauen in Religion oder Rationalität zu bannen. Sicherlich ist Camus der Denker, der mit der größten intellektuellen Passion und der tiefsten Empathie das Empfinden seiner Generation beschreibt und hinsichtlich seiner Konsequenzen befragt. Unabhängig von der Beeinflussung durch ontologische und phänomenologische Problemstellungen, wie sie fast alle anderen hier zu betrachtenden Denkformen charakterisieren, ähnelt die geistige Haltung Camus’ am ehesten derjenigen Franz Rosenzweigs. Beide in einer gewissen Nähe zueinander zu betrachten bedeutet dabei nicht, die Tatsache zu übersehen, daß Rosenzweig als gläubiger Jude jenen Bezug zur Religion bestätigt, den Camus verwirft. Gemeinsam ist ihnen der Ursprung ihres Denkens – die tiefe Not des Menschen im 20. Jahrhundert. Rosenzweig reagiert in seiner Philosophie auf die traumatischen Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges, die ihn und die Menschen seiner Zeit prägen; Camus auf die Erfahrung während des Zweiten Weltkrieges und die Erkenntnis der Desillusionierung, die die Folgezeit kennzeichnet. Beide sind davon überzeugt, daß logische Argumente und idealistische Theorien die Verzweiflung des Individuums in seiner unmittelbaren Berührung mit der Welt nicht wirklich kurieren können. Gerade das erwarten sie aber von einem Denken, das nicht aus277 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Das neue Denken
schließlich als a-personale Theorie wirkt, sondern seinen tatsächlichen Bezug zum Menschen offenlegt. Die Differenz zwischen ontologischem und existentiellem Denken bringt ein jeweils unterschiedliches Selbstverständnis zum Ausdruck – ersteres ist Denken ›über das Sein des Menschen‹, letzteres Denken ›für den Menschen im Sein‹. So ergibt sich für Rosenzweig wie für Camus die einzig sinnvolle Folgerung: Das Denken bedarf einer neuen Form, wenn es Denken im Sinne der Existenz sein soll.
XVIII.1 Existenzphilosophie Die Geschichte der modernen Existenzphilosophie präsentiert sich, wie sich eingangs angedeutet hat, als eine Folge von Distanzierungen. Keiner der hier betrachteten Denker scheint widerspruchslos eine entsprechende Zuordnung zu akzeptieren, wobei es oftmals diffus bleibt, wogegen genau er sich wendet. Ist es die Philosophie selbst, das Bild, das sich von ihr im Bewußtsein der Zeitgenossen gebildet hat, eine unbedachte Vereinnahmung für ein intellektuelles Projekt, dessen Konturen sich selten präzise abzeichneten? Wie exakt war das Bild der vermeintlichen Existenzphilosophie 1929, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, überhaupt, als Fritz Heinemann in seiner Darstellung Geist/Leben/Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart den Terminus der »Existenzphilosophien« 1, bemerkenswerterweise noch in der Pluralform, verwandte? Heinemann charakterisiert so all jene Theorien, die dem Ziel gelten, sowohl gegen eine einseitige Akzentuierung des »abstrakten Denkens« zu argumentieren als auch »das ungeformte, irrationale, chaotische Leben« 2 in einer Struktur zu gestalten, als Philosophien der Existenz, die er entsprechend definiert: dasjenige, »[…] das in sich die Form und die Formungsprinzipien trägt und sich dessen bewußt wird, nenne ich Existenz.« 3 Form ist in seiner Auffassung das einzig geeignete Therapeutikum gegen das Empfinden des ›modernen‹ Menschen, in einer Zeit 1 2 3
Heinemann, Geist/Leben/Existenz, S. XVIII. Heinemann, Geist/Leben/Existenz, S. XIX. Heinemann, Geist/Leben/Existenz, S. XIX.
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Existenzphilosophie
der »Krisis« zu leben, die weite Teile des geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens zu lähmen droht. Der »Mensch im Zustand der Verzweiflung« 4 fordert den Philosophen der Existenz als Wegweisenden – zumindest mit dieser Sicht drückt Heinemann ein Verständnis des »neuen Typus« 5 des Denkers aus, das sich in späteren Darstellungen dieser Philosophie erhalten wird. Der Begriff der Form hingegen, den er in so zentraler Funktion etabliert, verwundert, droht doch durch ihn das Denken der Existenz, das sich gegen Systematisierungen wendet, wiederum selbst in einer theoretischen Erstarrung zu münden. 6 Auch seine Vorstellung verschiedener Stufen der Existenz als Zeichen kontinuierlicher Entwicklung des Lebendigen scheint eher seiner tiefen Verehrung für Stefan George als seiner Beschäftigung mit den Theorien Heideggers zu entspringen, was dessen Skepsis gegenüber der entsprechenden philosophischen Klassifizierung teilweise erklären könnte. 7 Wozu also ein Blick zurück zu den ersten Versuchen, das Phänomen des Neuen Denkens zu erklären? Natürlich gilt es, nach gemeinsamen Merkmalen zu suchen. Nicht minder interessant ist aber auch die Frage, welche Erwartungen, ja vielleicht sogar welche Hoffnungen an eine Philosophie gerichtet wurden, die ganz offensichtlich entschlossen war, bisher unbetretene Wege zu erproben – inhaltlich wie auch konzeptionell. So wie es scheint, decken sich die philosophischen Reflexionen der jeweiligen Autoren und die Erfahrungen ihrer Leser oftmals, was keineswegs für jede Epoche der Philosophiegeschichte festzuhalten Heinemann, Geist/Leben/Existenz, S. 6. Daß diesem Prädikat nur relative Gültigkeit zukommt, zeigt ein Blick in das 5. Jahrhundert, als Boethius in seiner Schrift Trost der Phillosophie exakt diese Aufgabe der personifizierten Philosophie zuwies. Das Bild des Philosophen als Heilkundiger, der der existentiellen Erkrankung des Menschen zu begegnen weiß, findet sich auch in Franz Rosenzweigs Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand von 1921. 6 Emmanuel Mounier in Einführung in die Existenzphilosophie betont dagegen, daß Existenz niemals Objekt einer systematischen Betrachtung sein könne, S. 23. In gleicher Weise verweist Otto Friedrich Bollnow darauf, daß Existenz nie ein Ganzes bilden könne, sondern statt dessen bloßer »Durchgang« sei, in: Existenzphilosophie, S. 14. 7 Heideggers Theorien ordnet Heinemann gänzlich in den von ihm skizzierten Kontext philosophiehistorischer Entwicklungsstadien ein, was sicherlich nicht unproblematisch ist. So wiederholt er seine generelle Bestimmung des Begriffes der Existenz unter direktem Bezug auf diesen: »Heidegger ist uns ein Beispiel der Philosophien des geformten und in sich die Formungs- und Verstehensprinzipien enthaltenden Lebens, also der Existenzphilosophien.« Geist/Leben/Existenz, S. 390. 4 5
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Das neue Denken
ist. Ein Denker artikuliert hier letztlich das gleiche Empfinden, das seine Zeitgenossen teilen – ein Kennzeichen, das speziell auf Rosenzweig, Camus und Lévinas zutrifft. So ist der Theoretiker in dieser Phase der Existenzphilosophie weniger Akteur eines innerphilosophischen Disputes als vielmehr Sprecher für Menschen seiner Zeit. Wenn es eine annähernd vergleichbare Artikulationsdichte existentiellen Denkens gibt, dann ist sie in der Renaissance zu finden. Auch hier scheint sich in den Schriften der Philosophen das Erleben ihrer Generation auszudrücken, das nun euphorisch und selbstbewußt vorgetragen wird. Wird der Fokus auf Kierkegaard, Spinoza, Schopenhauer und Nietzsche gerichtet, muß es hingegen eher so wirken, als hätten hier Einzelne in ahnungsvoller Gewißheit dem Denken ihrer Zeit erst die Richtung weisen wollen – in einsamer Größe und erst sehr viel später folgender Akzeptanz. Und wie steht es mit der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert? Mit Blick auf dessen zwanziger Jahre könnte der Eindruck entstehen, sie sei ein typisches Phänomen der Kultur nach dem Ersten Weltkrieg, geprägt von einem immensen Willen zu Utopie und Neubegründung gesellschaftlicher, künstlerischer und intellektueller Formensprache. Doch hieße das, die Philosophie der Existenz zu einem regional und temporär begrenzten Phänomen zu erklären, was keineswegs zutrifft. Allein die beachtliche Rezeption des heideggerschen Denkens in Frankreich spricht schon gegen eine solche Folgerung, wobei immer berücksichtigt werden muß, daß den Interessenten und Interpreten speziell in den dreißiger und vierziger Jahren nur eine nicht unumstrittene Textgrundlage zur Verfügung stand. Als früheste Übersetzung erschien 1938 eine Sammlung unter dem Titel Qu’estce que la métaphysique, die neben Teilen von Sein und Zeit Auszüge aus Kant und das Problem der Metaphysik enthielt sowie Was ist Metaphysik?, Vom Wesen des Grundes und Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Aufgrund heftiger Kritik dieser Übertragung 8 wurde ihre Publikation 1951 eingestellt, und erst 1964 veröffentlichte der
8 Siehe hierzu Francesco Paolo DeSantis, Die Problematik des Grundes: Der nichtige Abstand zwischen Henry und Heidegger, in: Sein, Existenz, Leben, S. 28. DeSantis geht auf die Übersetzung des Terminus »Dasein« durch »réalité-humaine« ein, die von Sartre als »›monströse[r]‹ Fehler« übernommen wurde. Derrida, der hier zitiert wird, spricht aber lediglich von einer »monströsen Übertragung«, in: Fines hominis, in: Randgänge der Philosophie, S. 138.
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Existenzphilosophie
Verlag Gallimard eine neue Übersetzung der §§ 1–44 aus Sein und Zeit. Unstrittig ist, daß von allen Kommentatoren Heidegger und Jaspers als Vertreter des Neuen Denkens bewertet werden. Persönliche Vorlieben erschweren mitunter eine gleichwertige Klassifizierung. 9 In den Darstellungen nach Kriegsende tritt vermehrt Sartre als weiterer moderner Repräsentant hinzu. Umfang und Intensität, in denen diese drei vorgestellt werden, erscheinen jedoch bisweilen fast verschwindend im Vergleich zu den Darstellungen der Philosophie Søren Kierkegaards. Diese wird von allen Autoren als Vorbild und Ermöglichung späterer Theorien in Anspruch genommen, wobei die Begriffe Existenzphilosophie und Existentialismus zumeist synonym verwendet werden. 10 Dieser kurze Rückblick anhand exemplarisch ausgewählter Stellungnahmen ergibt schließlich doch ein relativ kompaktes Bild jenes intellektuellen Profils, das unter dem Titel der Existenzphilosophie entworfen wurde: Unter Zurückweisung der Rationalität als Kriterium zur Bestimmung des Menschen und zur Erklärung seines Seins in der Welt trägt diese Philosophie in extremem Maße der Situation des Einzelnen und seiner Befindlichkeit Rechnung. 11 Dabei ist dieser niemals als isoliertes Individuum zu betrachten, sondern in seiner Relation zum Anderen. 12 Daß dieser generelle Anspruch an Aufgabe und Ziel des Neuen Denkens nicht mehr ausschließlich unter ZuhilfenahSo betont Jean Beaufret, De l’existentialisme à Heidegger: »Jaspers n’a absolument pas la carrure, la puissance, l’originalité de Heidegger«, S. 14, wohingegen Hannah Arendt in Was ist Existenzphilosophie? Jaspers’ innovative Denkleistung hervorhebt und seine Psychologie der Weltanschauungen als erstes Buch der neuen Schule bezeichnet, S. 39. Franz Josef Brecht bemüht sich um eine allgemeine Gegenüberstellung, indem er Heideggers »Existentialontologie« als »Ergründung des Menschseins«, Jaspers’ »Existenzerhellung« als »Philosophie des Menschseins« charakterisiert und beiden Kennzeichnungen unterschiedliche existentielle Dynamik attestiert, Heidegger und Jaspers, S. 12 ff. 10 Eine Ausnahme macht Max Bense in Was ist Existenzphilosophie?, S. 2, wenn er Existentialismus als die allgemeine Überzeugung bezeichnet, daß der Mensch sich selbst zu gestalten vermag, Existenzphilosophie als Systematisierung dieser Überzeugung begreift und beiden die »existentielle Prosa« als spezifischen Sprachstil hinzufügt. Diesen betonen ebenfalls Régis Jolivet, Französische Existenzphilosophie, S. 9 und Jean Wahl, Esquisse pour une histoire ›l’existentialisme‹, S. 41. 11 Siehe etwa Emmanuel Mounier, Einführung in die Existenzphilosophie, S. 9 oder Reding, Die Existenzphilosophie, S. 60 f. 12 Mounier, Einführung in die Existenzphilosophie, S. 104 betont, daß die Beachtung des Anderen erst in dieser Philosophie erfolgt. 9
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Das neue Denken
me der klassischen Theoreme der Philosophie zu realisieren ist, zeigt exemplarisch das Resümee, mit dem Jean Wahl 1949 seine Kennzeichnung des Existentialismus beschließt: »Une des conséquences du mouvement existentialiste et des philosophes de l’existence est que nous avons à détruire la plupart des idées du sens commun philosophique et de ce qu’on a appelé souvent la philosophie éternelle; en particulier les idées d’essence et de substance; la philosophie, telle est son affirmation, doit cesser d’être philosophie de l’essence pour devenir philosophie de l’existence. En ce sens, nous prenons conscience, grâce à lui, de tout un mouvement qui remet en question les concepts philosophiques, et par l’action duquel notre subjectivité s’aguise, en même temps qu’on nous fait éprouver plus fortement que jamais notre union avec le monde. En ce sens nous assistons et participons au début d’un nouveau mode de philosopher.« 13
XVIII.2 Elemente des neuen Denkens – Funktion und Struktur Dieses Signum eines anderen Philosophierens, das vielleicht nicht mehr jene Faszination des Neuen ausstrahlt wie vor fast hundert Jahren, bewahrt dem Denken der Existenz über die jeweilige epochale Prägung hinausweisende Gültigkeit. Hier von Aktualität zu sprechen, könnte allzu leicht den Eindruck erwecken, als sollte die Modernität eines vermeintlich Überholten restauriert werden, was definitiv weder beabsichtigt noch erforderlich ist. Es sollen jene Elemente festgestellt werden, die dieses Philosophieren nicht nur zu einer neuen Weise, sondern zu einer eigenen Art des Denkens machen. Dabei gilt es, ›Strukturelemente‹ von ›Funktionselementen‹ der Existenzphilosophie zu unterscheiden. Während die Strukturelemente generelle Modifizierungen des philosophischen Diskurses bewirken sollen und entsprechend die Intention des Philosophierenden insgesamt spiegeln, erweisen sich die Funktionselemente als Operatoren des existentiellen Denkens. Sie lassen sich in drei Gruppen gliedern: 1. Darstellung des Menschen in der Existenz – repräsentiert durch die Begriffe von Selbst, Anderem und Einzelnem; 2. Daseinsbeschreibungen – hierzu zählen Gedanken wie Kontingenz, Beliebigkeit, Absurdität, Geworfenheit, Freiheit und Transzendenz sowie 13
Jean Wahl, Esquisse pour une histoire ›l’existentialisme‹, S. 56 f.
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Elemente des neuen Denkens – Funktion und Struktur
3.
Handlungsparameter – wozu die Theoreme von Wahl, Verantwortung, Schuld, Entwurf und Engagement zu rechnen sind. Für sich betrachtet sind fast alle dieser Elemente auch aus anderen, nicht explizit existentiellen Argumentationen der Philosophie bekannt. Ihre Verwendung selbst in verdichteter Form würde ein Denken mithin noch nicht als existenzphilosophisch ausweisen. Um eine solche Bestimmung zu rechtfertigen, muß das zu betrachtende Denken darüber hinaus in seiner Differenzierung vom jeweils herrschenden Philosophieverständnis erkennbar sein. Sollen also nicht nur die Motive des existentiellen Philosophierens benannt, sondern auch deren Motivation befragt werden, bietet sich der Blick auf dessen Strukturelemente an, die gleichsam den Impuls und den Rhythmus eines Denkens zu erkennen geben, und zwar über dessen geschichtliche Einbindung hinaus. Was sich in den Schriften der hier betrachteten Denker manifestiert, ist in der Tat nicht nur das Ersetzen bestimmter Theoreme oder Axiome, die innerhalb der ansonsten akzeptierten Grenzen eines Diskurses fehlerhaft oder untauglich erscheinen, sondern der Versuch, den philosophischen Diskurs als solchen neu zu interpretieren. Warum erscheint dieses Vorhaben, das mit einem nicht unerheblichen Teil der westlichen philosophischen Tradition brechen muß, überhaupt als notwendig? Daß Denken, zumal dann, wenn es Denken der Wahrheit sein soll, Form benötigt, ist eine Tatsache, an der keiner der Theoretiker zweifelt. Aber kann diese Form noch immer und ausschließlich jene sein, die in der Zeit des Aristoteles in grandioser Komplexität begründet wurde? Hier entstand letztlich das Instrumentarium des Denkens, das in den folgenden Jahrhunderten verfeinert, zum Teil verworfen, modifiziert und perfektioniert wurde, das aber im Wesentlichen noch immer in Gebrauch ist. Die Regeln des Denkens speziell in Logik und Metaphysik, so sinnvoll und nützlich sie auch sein mögen, erweisen sich in der Auffassung der Existenzphilosophen als nicht flexibel genug, um den Erfordernissen der Gegenwart gerecht werden zu können. Die existentiellen Erfahrungen des Menschen finden in den Theorien der Philosophie keinen zufriedenstellenden Ausdruck mehr. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß sich als eines der wichtigsten Strukturelemente eine Modifizierung des philosophischen Diskursrahmens selbst zeigt.
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In drastischer Verkürzung, die gerade als solche ihr dramatisches Potential unvermindert entfalten kann, stellt Lévinas den bislang gültigen Kontext des Denkens dar: »Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. […] durch alle Abenteuer hindurch findet sich das Bewußtsein als es selbst wieder, es kehrt zu sich zurück wie Odysseus, der bei allen seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zugeht. […] Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen […].« 14
In dieser durchaus plakativen Gegenüberstellung zweier Archetypen der intellektuellen Haltung drückt sich die angestrebte Modifizierung des philosophischen Diskursrahmens in besonders plastischer Weise aus. Im abendländischen Gestus findet wirkliches Erfahren von Unbekanntem nach lévinasischer Diagnose nicht statt, insofern das erkennende Subjekt das Fremde auf das Eigene und Vertraute zurückführt und jenes dadurch neutralisiert. Kontrastierend hierzu wird nun der mosaische Gestus berufen, der dieser subjektiven Nivellierung des Anderen ein Ende bereiten soll, indem er die Offenheit des Erkennenden repräsentiert. Warum begnügt sich Lévinas nicht mit einer Umdeutung einzelner Begriffe oder Axiome und riskiert durch seine stereotype Charakterisierung der »abendländischen Philosophie« eine Totalisierung, gegen die er sich in anderen Bereichen leidenschaftlich einsetzt? Gibt es so etwas wie ›das‹ Denken der westlichen Tradition, das ein solch komplexes Gefüge von einander begründenden und fordernden Theoremen darstellt, daß es fast aussichtslos wirken muß, es in einzelnen Teilen erneuern zu wollen? Lévinas ist zumindest davon überzeugt. Ebenso fordert Franz Rosenzweig ein »neues Denken« und glaubt, es nicht ausschließlich in vorgegebenem Rahmen entwerfen zu können. Auch er verweist in diesem Kontext auf die
Lévinas, Die Spur des Anderen, VIII, S. 211/215 f. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno berufen sich in ihrer Dialektik der Aufklärung ebenfalls auf Odysseus: »Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung«, S. 41, und zuvor heißt es auf S. 15: »Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben.«
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mosaische Tradition, betont aber zugleich, daß sein Stern der Erlösung deswegen nicht als ein »jüdisches Buch« zu verstehen sei. 15 Handelt es sich bei dem Begründungswillen eines neuen Denkens also letztlich nur um eine moderne Version des alten Streites zwischen Rationalität und Religiosität, so daß Lévinas und Rosenzweig eher als Theologen denn als Philosophen zu betrachten wären? Wohl kaum. Denn das hieße, daß sie einen Weg der Verknüpfung von zwei partiell heterogenen Sichtweisen der Wirklichkeit suchen, dabei aber grundsätzlich an dem philosophischen Diskurs festhalten wollten. Keiner der beiden verfolgt diese Absicht. Das mosaische Denken soll nicht der abendländischen Philosophie amalgamiert werden, sondern es soll diese überformen, so daß nicht eine Verbindung, sondern eine Neuschöpfung entsteht. Eine bemerkenswerte Passage in Rosenzweigs Schrift gibt einen deutlichen Hinweis auf die Begründung dieses gewagten, vielleicht auch vermessenen Anspruches, bei dessen Radikalität jedoch immer berücksichtigt werden kann, daß er nicht Folge intellektueller Hybris, sondern tiefer Sorge um den Menschen ist. »Jene Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten schlägt der Offenbarungsbegriff der Theologie. Der Mensch als Empfänger der Offenbarung, als Erleber des Glaubensinhalts trägt beides in sich. Und er ist, mag sie es nun wahr haben wollen oder nicht, der gegebene, ja wissenschaftlich der einzig mögliche Philosophierende der neuen Philosophie.« 16
Auch wenn es hier so wirken mag, als solle die Philosophie der Theologie subsumiert werden, verweist Rosenzweig doch beide in so entschlossener Weise aufeinander, daß tatsächlich etwas Neues, eine »neue Philosophie« entstehen könnte. Diese würde es dann sogar erlauben, den Begriff der Offenbarung als zentrale Gewißheit des Glaubens in einer Weise zu verwenden, der das sich darin Zeigende nicht ausschließlich religiös definiert. »Eine Offenbarung also muß das sein, die nichts ›setzt‹, nichts aus sich heraus ins Leere schafft; ein solches Offenbarwerden war zwar auch Offenbarwerden, aber nur ›auch‹ ; wesentlich und vor allem war es Schöpfung; das Offenbarwerden, das wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber: es darf nichts
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Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 140. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 117 f.
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Das neue Denken
sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, nichts als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens durch ein lautes Wort, einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick.« 17
Diese Passage ist in der Tat von unschätzbarem Wert. Zuvor hatte Rosenzweig gezeigt, daß die Trennung von Subjekt und Objekt im Prozeß des Begreifens von Wirklichkeit das Hauptmanko der klassischen philosophischen Methodik darstellt, und damit exakt die Auffassung von Emmanuel Lévinas antizipiert. Das Erkennende und das Erkannte stehen sich wie zwei unvermittelbare Kontrahenten gegenüber, was zur Folge hat, daß entweder das Subjekt sich im vermeintlich Erkannten stets nur selbst reproduziert oder daß es niemals sicher sein kann, das Objektive wahrhaftig erkannt zu haben. Ein Erkenntnisschema, das den Subjekt-Objekt-Dualismus aufrechterhält, muß in der Auffassung von Rosenzweig und Lévinas zwangsläufig zu einem permanenten Verfehlen oder, wie letzterer betont, zu einer gewaltsamen Verzerrung der Beziehung von Erkennendem und Erkanntem führen. Wollen beide dieses Risiko, das dem abendländischen Denken ihrer Ansicht nach immanent ist, bannen, müssen sie dieses erkenntnistheoretische Grundmodell außer Kraft zu setzen suchen. Ihre Lösung besteht darin, daß sie den abendländischen Erkenntnismodus im mosaischen Erfahrungsbegriff aussetzen – und dieses ist kein anderer als derjenige der Offenbarung. Rosenzweigs Wortschöpfung der »still ruhenden Immerwährendheit« spricht in diesem Zusammenhang für sich. Es bedarf keines Subjektes im herkömmlichen Sinne, um etwas zu erkennen, das zuvor erschlossen werden müßte, wobei es selbst die Regeln dieser Erschließung vorgibt. Dasjenige, das sich offenbart, ist unmittelbar erfahrbar, so wie es sich zeigt. Von hier aus wird Rosenzweig Kritik, die Philosophie nehme die Dinge nicht so, wie sie seien, verständlich. Auch das klassische Philosophieren ist ein Denken eines Subjekts, eine »Egologie«, wie Lévinas schreibt, und birgt als solches immer die Gefahr, die Welt, der sie gilt, in variierendem Ausmaß zu verfehlen und am Menschen, dem sie gelten sollte, vorbeizuargumentieren. Was Lévinas in seiner mythisch inspirierten Gegenüberstellung von Odysseus und Abraham vor Augen führen will, entspricht diesem Ansatz Rosenzweigs exakt. Der Wille des subjektiven Bewußt-
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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, II, II, S. 179.
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seins, der das zu Erkennende begreifen will, wird in der ununterbrochenen Bereitschaft Abrahams, das Unbekannte, das sich zeigt, unmittelbar erfahren zu wollen, aufgehoben. Die Frage bleibt allerdings, ob dieses enorm engagierte, unendlich ambitionierte Vorhaben wirklich gelingen kann, das das Erkenntnisstreben der abendländischen Philosophie in eine Erfahrungsbereitschaft transformieren will. Hier müßte der Plan seine Realisierbarkeit erweisen und sich als das zeigen, was Jean Wahl skizzierte – »un nouveau mode de philosopher«. In welch klarer Weise Lévinas Rosenzweigs Überzeugung teilt, daß hier eine tatsächliche neue Form des Denkens zu schaffen ist, wird aus einer seiner Bestimmungen des Begriffes der Offenbarung ersichtlich. »Die absolute Erfahrung [l’expérience absolu] ist nicht Entdeckung [dévoilement], sondern Offenbarung [révélation]: Koinzidenz des Ausgedrückten und dessen, der ausdrückt; eben dadurch ist sie ausgezeichnete Manifestation des anderen Menschen, Manifestation eines Antlitzes jenseits der Form.«18
Offenbarung ist in dem Sinne kein Erkennen, sondern ein In-Relation-Treten, das eine Verbindung zwischen etwas zieht, das schon immer Bestand hatte; kein Entdecken also, sondern eher ein Gewahren der »Immerwährendheit«, wie Rosenzweig schreibt, oder eine Koinzidenz, wie es Lévinas formuliert. Die bereits aus der ersten Phase der Existenzphilosophie bekannte Komplementarität des Denkens findet hier einen modernen Ausdruck. Das Selbst erfährt sich im Anderen und das Andere durch sich in jener Variabilität, die sich herausgestellt hatte: Das Andere kann als das Andere des Göttlichen, der Welt, des anderen Menschen oder auch der eigenen psychischen Konstitution verstanden werden – entscheidend ist der Prozeß der verschränkenden Reflexion, der das Selbst aus jener Egozentrik löst, vor deren Gefahr nicht nur im philosophischen, sondern speziell im gesellschaftlichen Kontext Lévinas warnt. Und Heidegger? Gibt es ein vergleichbares Motiv auch in seinem Denken? Auch er zweifelt an den Formen des philosophischen Diskurses, wenn auch aus anderen Gründen als Rosenzweig und Lévinas, und beklagt das »uferlose Seinsgerede« 19, das eine wirkliche AchtLévinas, Totalität und Unendlichkeit, I, B3, S. 87. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, S. 335. Deutungen, die Heideggers Bild einer Verirrung abendländischen Denkens politisch interpretieren,
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samkeit auf das Sein vereitelt. Auch er plädiert dafür, daß das Denken »denkender« werde. Wenn er etwa in Sein und Zeit noch relativ traditionell verfährt und mittels Daseins-Analyse seine Korrektur der Ontologie formuliert, wirkt es so, als wäre ihm selbst diese Vorgehensweise in späteren Jahren nicht radikal genug. In seinem Vortrag zum zwanzigsten Todestag von Rainer Maria Rilke greift Heidegger ein Sprachbild aus dessen Dichtung auf, um daran sein eigenes Verständnis des Begreifens von Sein zu erklären. »Den ganzen Bezug, dem jedes Seiende als ein Gewagtes überlassen bleibt, nennt Rilke gern ›das Offene‹. […] ›Offen‹ bedeutet in Rilkes Sprache dasjenige, was nicht sperrt. Es sperrt nicht, weil es nicht beschränkt. Das Offene ist das große Ganze alles dessen, was entschränkt ist. […] Das Offene läßt ein. Das Einlassen bedeutet jedoch nicht: Eingang und Zugang gewähren zum Verschlossenen, als sollte Verborgenes sich entbergen, damit es als Unverborgenes erscheine. Einlassen bedeutet: einziehen und einfügen in das ungelichtete Ganze der Züge des reinen Bezuges.« 20
Das Offene ist als Synonym für ein Gemeinsames zu begreifen, das ein Erfassen eines Zusammenhanges dort ermöglicht, wo sich in der Theorie von Erkenntnis Subjekt und Objekt scheiden. Zusammengehörigkeit im Sinne des Offenen soll diese Differenzierung nicht überbrücken, sondern sie erst gar nicht als erforderlich erscheinen lassen. Mit Bezug auf die Besonderheit des Sehers Kalchas im Werk Homers verdeutlicht Heidegger diesen Gedanken. »Wenn in der dichterischen Kennzeichnung des Kalchas das Anwesende in der Beziehung auf das Sehen des Sehers gedacht ist, dann bedeutet das, griechisch gedacht, daß der Seher als derjenige, der gesehen hat, ein Anwesender ist, der in einem ausgezeichneten Sinne in das Ganze des Anwesenden gehört. Es bedeutet aber nicht, das Anwesende sei und sei gar nur als das Objektive in der Abhängigkeit von der Subjektivität des Sehers.« 21
Diese knappen Bezüge mögen an dieser Stelle ausreichen, um zu zeigen, daß selbst Heidegger, wie Rosenzweig und Lévinas, darum bemüht ist, das tradierte Verständnis von Erkenntnis zu modifizieren. Dabei verläßt er nicht, wie diese, den Boden abendländischer Philosophie, greift aber hinter die Epoche ihrer thematischen und formalen sind zumal in Anbetracht des Entstehungsjahres dieses Texte 1946 ohne Frage bedenkenswert. Ob sie die einzig legitimen Deutungen sind, muß an anderer Stelle diskutiert werden. 20 Heidegger, Wozu Dichter?, in: Holzwege, S. 284 f. 21 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, S. 350 f.
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Fixierung in Metaphysik und Logik zurück und versucht, an eine Zeit archaischer Unmittelbarkeit anzuknüpfen, die er im Denken des Homer und der Vorsokratiker belegt und in den Worten der Dichter erhalten glaubt. 22 Heideggers Hinwendung zur Dichtung in seinen späteren Schriften ist keine Flucht in das Irrationale der Poesie, was nur ein formales Kriterium wäre. Die Vorstellung, man könne die Wahrheit oder das Sein enthüllen, verfehlt sein Denken grundsätzlich. Insofern ist seine Bemerkung, das Bewußtsein stehe dem Begreifen des Offenen im Wege, 23 verständlich, da dieses seiner Auffassung nach Bewußtsein eines Subjekts wäre. Auch für ihn verwandelt sich das Erkennen in ein Erfahren des Immerwährenden, ist also eine Form des Bezuges zum Sein und nicht dessen Enthüllung. Sicherlich wirkt Heideggers Bestreben, den Diskursrahmen der Philosophie zu modifizieren, weniger radikal als dasjenige von Rosenzweig und Lévinas, weil er die Vorstellung der abendländischen Tradition des Denkens nicht verläßt. Doch sollte sein Weg deswegen nicht als allzu konventionell eingeschätzt werden. Sein Bezug zum dichtenden Wort, exemplarisch mit Blick auf Rilke und immer wieder auf Hölderlin vorgeführt, ist kein literaturhistorischer Blick, 24 sondern der Versuch, das wissenschaftliche Denken der Philosophie selbst in ein dichtendes Denken zu verwandeln, es in dieser Weise noch einmal zu dem zu machen, was es seiner Ansicht nach einst war. 25 Die Versuche dieser Denker, den abendländischen Geist zu erweitern, tragen bisher alle, so berechtigt und notwendig sie auch sein mögen, den Anschein einer Idealisierung ›des Anderen‹, der unbefriedigend wirkt. Der mosaische Gestus des Denkens, die Seins-Archaik Homers fungieren als Gegenentwürfe der klassischen westlichen Philosophie, ohne dabei kritisch hinterfragt zu werden. Diese Formen von Diskurs-Utopien, die eher beschworen denn bewiesen Besonders interessant ist in diesem Kontext Heideggers Text Griechenlandreisen, wo es beispielsweise heißt: »Es bedarf des sinnendem Rück-blickes in jenes, was ein uralt Gedächtnis aufbewahrt hält, […]. Ob wir den Bereich finden, den wir suchen? Ob uns der Fund gewährt ist, wenn wir das noch bestehende Land der Griechen besuchen, indem wir seine Erde, seinen Himmel, sein Meer und seine Inseln, die verlassenen Tempel und heiligen Theater be-grüßen?«, S. 216. 23 Heidegger, Wozu Dichter?, in: Holzwege, S. 286. 24 Heidegger, Wozu Dichter?, in: Holzwege, S. 274. 25 Heidegger, Über den Humanismus, S. 9: »Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, […].« 22
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werden, haben aber gerade die subversive Funktion, das Verlangen nach Beweis und logischer Folgerichtigkeit, das sie so hemmungslos ignorieren, selbst ad absurdum zu führen. So geht von diesen Texten eine sonderbare, unwissenschaftliche und doch extrem direkte Faszination aus, die in Erinnerung ruft, was Rosenzweig mit dem Begriff des Neuen Philosophen benannte. Dieser ist nicht mehr gehalten, sich ausschließlich des methodischen Instrumentariums der Tradition zu bedienen, sondern verfügt über ein Repertoire der Darstellung des Gedachten, das bislang nicht zugelassen wurde. Auch Philosophie soll nicht allein enthüllen und Erkenntnis vermitteln, sondern Bezüge schaffen, offenlegen, was ist. Vor diesem Hintergrund fügt sich das Denken Albert Camus’ bruchlos in das bisher skizzierte Bild, was nicht unbedingt zu vermuten gewesen wäre. Auch er entwirft ein Szenario radikaler Idealität unter der Bezeichnung des »mittelmeerischen Denkens« 26. Im Kontext seiner Betrachtungen der Revolte als unmittelbarem Ausdruck solidarischer Handlungsfähigkeit, die sehr direkt die Bedingungen menschlichen Existierens reflektiert, taucht relativ unvermittelt dieses Motiv des Mittelmeerischen auf. »Aber der geschichtliche Absolutismus hat trotz seiner Triumphe nie aufgehört, mit den unbezwinglichen Forderungen der menschlichen Natur zusammenzuprallen, deren Geheimnis das Mittelmeer mit seiner Verschwisterung von Geist und hartem Licht bewahrt. […] Was uns am Ende dieses langen Abenteuers der Revolte entgegenklingt, sind nicht optimistische Formeln, sondern Worte des Muts und des Geistes, die, nahe am Meer, sogar Tugend sind. […] Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen.« 27
Der Bedeutung dieses Themas im Denken Camus’ wird besonders in letzter Zeit verstärkt Rechnung getragen. Ein Colloquium an der University of Wisconsin-Madison 2006 etwa galt Albert Camus précurseur: Méditerranée d’hier et d’aujourd’hui. Anna-Viktoria Jagersberger in Albert Camus: Moral in einer absurden Welt, S. 204 f. fragt, welche Vorstellungen moralischer Natur Camus mit dem ›Mittelmeerischen‹ verbindet. Und Karl W. Modler schreibt: »Dans cette confrontation des deux civilisations, Camus opte incontestablement pour la Grèce et contre le christianisme. Toutes les grandes problématiques et thématiques qui obséderont Camus durant sa carrière peuvent être réduites à cette dichotomie entre l’hellénisme et le christianisme.« Soleil et mesure, S. 106. 27 Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 243, 245 und 248. 26
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Abermals wird Ithaka als Synonym für eine ganz bestimmte Sicht der Wirklichkeit genannt, allerdings nicht wie bei Lévinas als Inbegriff des zu Überwindenden, sondern des zu Begehrenden. Für Camus läßt der Name Ithaka als verbale Verheißung die Vision des mediterranen Lebens erstehen, das in seiner Sicht die Alternative zum Leben unter dem Primat der Rationalität darstellt. Der Gegensatz beider Formen des Existierens reduziert sich auf eine Gegenüberstellung von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit. Erstere kennzeichnet das Verhältnis des Menschen zur Erde, die als Erde nur berührt, nicht gedacht werden kann, zum Meer, das ihn aufnimmt, und immer wieder zum Licht, das ihn gänzlich einhüllt – auch in exzessivem Maß, wie Camus in seinem Roman L’Étranger – Der Fremde vorführt. Letztere hingegen wird durch die Tatsache charakterisiert, daß ein Mensch sich der extramentalen Realität durch seine Vernunft zu nähern sucht. Um noch einmal daran zu erinnern: Der Grund des Gefühls der Absurdität liegt für Camus in diesem Mißverhältnis von unmittelbarem Bedürfnis nach Sinnerfahrung und den rational immer nur vermittelten Erklärungsversuchen. Vor diesem Hintergrund signalisiert das Symbol »Ithaka«, so wie Lévinas und Camus es verwenden, zweierlei. Für Camus ist es ein Sehnsuchtsbild eines vergangenen Einsseins von Mensch und Erde, eines verloren Zustandes der Beheimatung im Sein, auf den sich nun das Verlangen des vernunftbegabten Individuums richtet. 28 Die Rückkehr zum Vertrauten verbindet auch Lévinas mit dieser mittelmeerischen Region und Odysseus, ihrem mythologischen Herrscher, sieht die Herausforderung an den Menschen der Gegenwart aber darin, die Sehnsucht nach dem Vertrauten in das Begehren des Unbekannten zu verwandeln. So konfrontiert denn auch Camus die Vernunft mit dem Plädoyer für das Andere, das in seiner Überzeugung nur im Mittelmeerischen – Synonym für die existentielle Haltung schlechthin – liegen kann. 29 Dieses Verlangen bedeutet für den Menschen aber keinesfalls eine Abkehr vom Mitmenschen, wie allein schon der Kontext, in dem Camus das Ithaka-Motiv verwendet, bezeugt. 29 Speziell in seinem kleineren Text Licht und Schatten verweist Camus selbst auf seine Erinnerungen an Algerien. Seine gesamte Vorstellung des mittelmeerischen Denkens biographisch zu begründen würde jedoch den theoretischen Anspruch Camus’ und vor allem sein politisches Engagement, das auch auf dieser Vorstellung eines neuen Denkens beruht, unangebracht schmälern. 28
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Es ist nicht unproblematisch, Bilder vermeintlicher Idealität zur Kompensation des Gegenwärtigen zu entwerfen, setzt diese Kontrastierung doch ein hohes Maß an Stilisierung voraus. Die Beschreibung der bestehenden Situation wird ebenso auf wenige charakteristische Merkmale reduziert wie jene ihrer Entgegensetzung. Keine Darstellung erhebt dabei den Anspruch auf historische oder geistesgeschichtliche Korrektheit, da sie letztlich einem anderen Zweck dient. »Das mosaische Denken« oder »Ithaka« sind Projektionsflächen philosophischer Heterogenität, ausdrücklich auf ihre Suggestivkraft bauende Formeln des Denkmöglichen, die alle ein Ziel verfolgen: eine Begrenzung des philosophischen Bewußtseins auf einen einzigen repräsentativen Typus des Denkens zu verhindern. Diese Begrenzung wird primär als eine Selbstbeschränkung des Denkens gewertet, die keineswegs erforderlich wäre. So erscheint immer wieder die vermeintliche Gleichsetzung von westlicher Philosophie und Vernunftgebrauch im Fokus der Kritik, wird zum fast stereotyp formulierten Inbegriff abendländischer Haltung des Denkens. Wie reizvoll bereits in früheren Zeiten der Blick auf andere Formen der Intellektualität gewirkt hat, belegen bereits angedeutete Beispiele. Giovanni Pico della Mirandola beruft sich zur Einführung seines neuen Entwurfes vom Menschen auf das Wissen der Sarazenen, Arthur Schopenhauer schöpft aus der spirituellen Kraft der Veden, um seine Theorie des Willens zu entwickeln, und Friedrich Nietzsche beschwört keinen Geringeren als den persischen Weisheitslehrer Zoroaster, um seinen Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu entfalten. Die Konzentration auf den Glauben, die Augustinus in seiner Abkehr vom Manichäismus vollzog, wird damit immer wieder in Frage gestellt, womit zugleich die generelle Möglichkeit, die philosophische Bestimmung des Menschen im Dasein ausschließlich vor dem Horizont christlicher Religiosität zu beantworten, zur Diskussion steht. Wie schwierig es ist, Kriterien des existentiellen Philosophierens zu nennen, die auf eine möglichst große Anzahl seiner Vertreter zutrifft, zeigt sich auch an dieser Stelle. Denn weder Jaspers noch Sartre halten offensichtlich eine solch grundsätzliche Modifizierung des philosophischen Diskursrahmens für erforderlich, was besonders für Sartre zutrifft, dessen gesamtes Konzept menschlichen Verhaltens und Handelns nur unter Zugrundelegung des klassischen Dualismus von Subjekt und Objekt funktioniert. Für ihn ist dieser gerade der 292 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Impetus interpersonalen Geschehens, nicht dessen Hemmnis. Insofern Sartre sich nicht explizit zu der Notwendigkeit eines Strukturwandels der Philosophie bekennt, nimmt sein Denken eine Ausnahmestellung ein. Zu fragen wäre, ob seine extreme Bereitschaft, philosophische Gedanken auch literarisch zu formulieren, aber nicht auch für seinen Willen zur Diskurserweiterung spricht, wenn auch in anderer Weise? Danach würde er die klassischen Elemente und Regeln dieses Denkens zwar akzeptieren, würde ihm jedoch insgesamt eine nicht ausreichend stark akzentuierte Bereitschaft attestieren, Gedanken in einer prinzipiell jedem Menschen zugänglichen Form zu präsentieren. Dieses Defizit gleicht Sartre in seinen Romanen und besonders seinen Theaterstücken aus. Jaspers scheint hingegen eine mittlere Position zu vertreten. Einerseits hält auch er weitgehend an der Terminologie der tradierten Philosophie fest, löst aber deren Forderung nach einer Letztbegründung alles Realen in einer Vorstellung unendlichen Transzendierens auf. Auch er strebt einen Philosophiewandel an, der sich bei ihm jedoch nicht als Diskurswandel versteht. So kann es hier also nicht um den Nachweis allgemein verbindlicher Merkmale gehen, die sich in gleicher Intensität in jedem Werk, das der Existenzphilosophie zugerechnet wird, finden lassen. Und es ist nicht beabsichtigt, eine Klassifizierung im Sinne philosophiegeschichtlicher Positionsbestimmung vorzunehmen, die das existentielle Denken als Produkt einer bestimmten Epoche fixieren und es damit zu einem Phänomen stempeln würde, das eher unter historischer Perspektive Beachtung verdient. Statt dessen sollen Verbindungslinien gezeichnet werden, die eine markante Übereinstimmungstendenz aufweisen. Sie erlauben es, den Begriff »Existenzphilosophie« als Bezeichnung eines Projektes zu verstehen, dessen Realisierungsanspruch die abendländische Philosophie seit der Spätantike durchzieht, im 20. Jahrhundert in hoher Dichte artikuliert wird und Impulse für die gegenwärtige Sicht von Philosophie in ihrer intellektuellen Verantwortung setzt. Zielt das existentielle Denken also nicht nur auf die Korrektur oder Umdeutung einzelner Theoreme des klassischen Philosophierens, sondern auf dessen strukturelle Modifizierung, gilt es, jene tragenden Elemente des philosophischen Diskurses zu benennen, die einer deutlichen Verwandlung in diesem Sinne unterzogen werden. Es sind acht
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an der Zahl, die verschiedene Felder philosophischen Argumentierens berühren: 1. Das komplementäre Verstehen: Bereits seit den Anfängen der Denkbewegung des Existentiellen hat sich immer wieder das Bestreben gezeigt, eine auf Systematisierung des Erfaßten zielende Erkenntnis, die laut einhelliger Kritik stets nur um den Preis seiner Abstraktion zu erlangen ist, durch eine komplexe Weise des Begreifens zu ergänzen. Diese soll dazu geeignet sein, ein Verstehen des Seins in seiner Struktur zu gewährleisten, was ausdrücklich deren Konkretionen einschließt. Entscheidend ist hierfür die Integration des Anderen in den Prozeß des Denkens, sei es in Form des Göttlichen, des anderen Menschen, der Welt oder des Innerpersonalen, etwa des Unbewußten. 2. Existentielles Sein: Die ontologische Konzentration auf eine formale Analyse des Seins gilt es durch eine situationsbedingte Erfahrung seiner stets variierenden Erscheinungen – als Existenz – zu ersetzen. In dieser Frage reicht den Denkern, die diese Neuerung fordern, eine bloß ergänzende Perspektive nicht aus, da die Betrachtung des Seins um seiner selbst willen die Dimension menschlicher Daseinsprägung verfehlt. Dieser Einwand richtet sich interessanterweise zu einem nicht unerheblichen Anteil auch gegen das Seinsverständnis Heideggers. Da sich in seinem Denken jedoch auch Ansätze existentieller Betrachtung finden, ist seine Berücksichtigung im vorliegenden Kontext nicht sinnlos. 3. Dezentralisierung des Subjekts: Insofern vom Einzelnen abstrahierende Erkenntnis nicht mehr das vorrangige Ziel des Menschen und deren Vermittlung nicht mehr die alleinige Aufgabe der Philosophie ausmachen soll, bedarf die Annahme eines Subjekts als Initiator und Bezugspunkt des Erkennens einer neuen Deutung. Existenzphilosophie erschließt sich diese Deutung in der Erfahrung, sogar in höchst individuellen Momenten emotionaler Affektion, was es nahelegt, die jeweilige Verfassung des Individuums in den Reflexionsprozess des Erfahrenen zu integrieren. In den Funktionselementen der Geworfenheit oder auch der Angst findet dieses Bestreben seinen formgebenden Niederschlag. 4. Ausdruck als Ansprache: Erkenntnis kann nur abstrakt und konzeptuell gebildet und vermittelt werden. Wird sie durch Erfahrung als Geschehen der Existenzerschließung erweitert, bedarf auch die klassische philosophische Begrifflichkeit, die zu einem Großteil als Konzeption der Verallgemeinerung wirkt, einer Ausweitung. 294 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Steht die Unmittelbarkeit von Erfahrung im Vordergrund, modifiziert sich das Verständnis von Sprache in der Weise, daß sie nicht nur dazu dienen soll, Erfahrung stellvertretend zu vermitteln, sondern sie selbst zu initiieren. Drei Phänomene existentiellen Sprachverständnisses bieten sich zur Verdeutlichung dieses Gedankens besonders an: Søren Kierkegaards Bemühen, eine Intensivierung und Individualisierung der Relation von Autor und Leser in dem Sinne zu erreichen, daß ersterer als »Einzelner« zu letzterem als »Einzelnem« spricht – mitfühlend, leidenschaftlich und vorbehaltlos; der zum Teil exzessiv wirkende Wille zu Neologismen oder zumindest sprachlicher Nonkonformität, der die Schriften einiger existenzphilosophischer Autoren kennzeichnet; die generelle Ausdehnung des Begriffes der Sprache als verbale Vermittlung auf ihre Bedeutung intersubjektiven Geschehens, wie sie sich besonders in Karl Jaspers’ Theorie der Kommunikation und in Emmanuel Lévinas’ Bild der Ansprache durch das Antlitz des Anderen nachweisen läßt. 5. Streben als Begehren: Wird nach dem Impuls des Ringens um Wahrheit als Grund des Philosophierens gefragt, zeigt sich, wesentlich an die Vorstellung vom Subjekt gebunden, ein intellektuelles Streben, das entfernt noch immer die aristotelische Setzung eines Strebevermögens als Kennzeichen des Lebendigen reflektiert. Dem subjektiven Streben liegt jedoch zumeist eine Orientierung auf ein angestrebtes Ziel zugrunde und damit, nach der Überzeugung der betrachteten Denker, keine unvoreingenommene Offenheit für das Unbekannte, sich Zeigende. Dessen Besonderheit liegt darin, daß es nicht erzwungen werden kann, sondern daß es nur einer allgemeinen Bereitschaft bedarf, um es gewahren zu können. Wiederum ist der Gedanke der Unmittelbarkeit wichtig. So, wie es ist, kann das Andere nur begegnen, wenn es zwar grundsätzlich als Anderes begehrt, jedoch nicht erstrebt wird. Natürlich sind die Beschreibungen, die Lévinas dem Begehren widmet, besonders aussagekräftig, zeigen sie doch auch, daß dieses im Gegensatz zum Streben niemals wirklich erfüllt werden kann. 6. Kausalität und Relation: Eng mit diesem Punkt ist der Gedanke verbunden, daß es nicht die Absicht existentiellen Philosophierens ist, Ursächlichkeit im Denken zu fixieren, die in der Welt nicht gegeben ist. Aus der Erfahrung der Kontingenz der Wirklichkeit, innerhalb derer der Mensch existiert, folgt der Schluß, die Suche nach bedingenden Faktoren des Seins und des Daseins einzuschränken und statt dessen den Fokus auf die unendliche Vielfalt von Relationen zu 295 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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richten, die in der Welt bestehen, unabhängig davon, ob oder wodurch sie verursacht sind. Hier klingt abermals der Verzicht auf ein Subjekt im tradierten Sinne an. An die Stelle ursächlicher Bedingung von Erkenntnis tritt die Bereitschaft, sich vom Anderen ansprechen zu lassen, was nichts anderes bedeutet, als eine Relation zum Anderen zuzulassen. 7. Prärationale Verantwortung: Eng mit dieser Umstrukturierung der Bedeutung des Subjekts im Prozeß zwischenmenschlicher Bezogenheit ist die Absicht verbunden, Verantwortung zu reflektieren. Diese darf als intensivster Ausdruck menschlicher Relation nicht mehr Produkt einer Begründung sein, selbst dann nicht, wenn diese unter Hinweis auf die Vernunft erfolgt. Denn immer bedarf eine gerechtfertigte Forderung ethischen Verhaltens, dessen Kennzeichen Verantwortlichkeit ist, einer theoretischen Fundierung sowie ihrer Akzeptanz von seiten desjenigen, der ihr gemäß handeln will. Wo Anerkennung möglich ist, ist deren Verweigerung jedoch nicht minder wahrscheinlich. Wenn Denker des Existentiellen die Frage berücksichtigen, ob Verantwortung begründet werden kann, stimmen sie in erstaunlichem Maße in ihrer Überzeugung überein, daß dieses unmöglich ist, da der Mensch als Existierender immer schon verantwortlich ist. Rational kann weder für eine Bestätigung noch Widerlegung dieser existentiellen Fundierung argumentiert werden, da sie faktisch aus der Tatsache des Daseins resultiert. 8. Welt und Erde als Existenzräume: Der letzte Aspekt ist der wohl unauffälligste, was jedoch nicht seine Bedeutung schmälert. Innerhalb der modernen Existenzphilosophie zeigt sich bei Heidegger, Lévinas und vor allem bei Camus der Versuch, dem Begriff der Welt, der in extremer Weise menschliche Verfügungsgewalt über die Elemente impliziert, einen neuen und zugleich alten Begriff der Erde entgegenzustellen. Hier soll ein Raum konkreter Materialität aufgezeigt werden, der sich dem Zugriff menschlichen Tuns widersetzt und dadurch fernab von naturidyllischen Phantasien eine Form von Ursprungshaftigkeit des Seins unter ausdrücklicher Einbeziehung menschlichen Existierens zuläßt. Zugleich spiegelt der Bezug des Menschen zur Welt das Maß der Bewußtheit, das er dem Faktum seiner existentiellen Verantwortlichkeit schenkt. Besonders für die Artikulation dieses Verständnisses erweisen sich die Arbeiten der frühen Vertreter existentiellen Denkens als unverzichtbar. Schrittweise vollzogen sie die Umwandlung der Sicht der Wirklichkeit als gottgeschaffener Realität zu einem einheitlichen 296 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
Elemente des neuen Denkens – Funktion und Struktur
Komplex menschlicher Erfahrung, der als Sein bezeichnet werden kann. Die Implikationen dieses Seinsbegriffes stehen in der Moderne zur Diskussion, insofern es nun die Selbstorganisation dieses existentiellen Raumes in gesellschaftlicher, politischer und mit zunehmender Bedeutung auch ökologischer Hinsicht zu verantworten gilt.
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XIX. Im Geist des Komplementären
XIX.1 Jacques Derrida Wenn es also möglich ist, strukturelle Modifizierungen zu benennen, die dieses Philosophieren zu erkennen gibt, stellt sich die Frage, ob sich eben diese Aspekte auch in neueren Schriften wiederfinden lassen. Denn Existenzphilosophie ist, um es noch einmal zu betonen, alles andere als ein Phänomen der Vergangenheit, dessen Betrachtung bloß von historischem Interesse ist. Statt dessen hat sie sich als Ausdruck des Wunsches erwiesen, die Form des Denkens der existentiellen Verfassung des Menschen anzupassen – nicht zuletzt in kritischer Distanzierung von der Tradition westlicher Rationalität. Wie könnte ein solches Bestreben jemals seine Gültigkeit verlieren? Es fungiert auch als Indikator der jeweiligen Bedeutung, die der Philosophie im Gesamt kultureller und intellektueller Artikulationen des Menschen zukommt. Die bisherigen Überlegungen haben das Bild einer gewissen Zweiteilung innerhalb der sogenannten Existenzphilosophie ergeben: Auf der einen Seite jene Autoren, die unter Verwendung typischer Funktionselemente wie der Wahl, des Einzelnen oder der Geworfenheit die Existenz des Menschen beschreiben, dabei aber, selbst wenn sich die Akzente ihrer Theorien von jenen anderer Denker unterscheiden, innerhalb des philosophischen Diskurses argumentieren. Durch diese Charakterisierung wird die Originalität und Verdiensthaftigkeit von Autoren wie Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre nicht im mindesten geschmälert. Sie trägt lediglich der Tatsache Rechnung, daß sich für sie eine Konsequenz, die für die anderen hier vorgestellten Denker unvermeidlich gewesen ist, ganz offensichtlich nicht ergab – die Konsequenz, den Diskurs insgesamt seinem veränderten Gegenstand anzupassen. Für sie ist die Form des Philosophierens variabel genug, um ihr Ziel, das Denken dem Bedürfnis des Menschen anzugleichen, zu verfolgen. Wo dieses nicht zutrifft, wie im Fall Sar-
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Jacques Derrida
tres, wird dem philosophischen das literarische Medium zur Verbreitung der Theorien zur Seite gestellt. Jaspers scheint dem Philosophieren durch seine Rückgriffe auf psychologische und theologische Denkmuster eine Flexibilität verleihen zu können, die es ihm trotz seines Eintretens für eine neue Philosophie erlaubt, zumindest deren tradierte Struktur weitgehend beizubehalten. Franz Rosenzweig, Martin Heidegger, Albert Camus und Emmanuel Lévinas sind von deren Tauglichkeit jedoch nicht mehr überzeugt und suchen nach einer eigenen Form für das »Neue Denken«. Die Frage, die es nun zu stellen gilt, soll also nicht lauten, ob es in zeitgenössischen Texten weitere Spuren existenzphilosophischer Elemente gibt, sondern ob eine Fortschreibung dieser Formsuche im Geiste der Existenz festzustellen ist. Der Blick fällt dabei auf die Schriften von Jacques Derrida. 1 Eine gedankliche Linie von Rosenzweig zu Derrida zu ziehen mag auf den ersten Blick überraschend, vielleicht sogar gewagt erscheinen. Eine Verbindung, mehr als ein bloß biographisches Detail, stellt ihre jüdische Herkunft dar, die ihr Denken in mehr oder minder expressiver Weise prägt. Das wirklich verknüpfende Element, das dann auch auf die anderen Autoren dieser Reihung verweist, ist ihr Anspruch an das Denken und ihr unbedingter Wille zur Form, nicht als dessen Gerüst, sondern als dessen Adäquation. Daß sich Derridas Intention dabei keineswegs in scheinbar gedanklicher Beliebigkeit seines philosophischen Vorgehens verliert, sondern dieses statt dessen unerläßlich zur Ausbildung seines Begriffes von Menschlichkeit ist, wird sich zeigen. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Theoretikern kreisen Wie bereits in Band I der vorliegenden Darstellung angedeutet, besteht eine besonders in jüngster Zeit fokussierte Aufnahme neuplatonischer Ansichten im Denken Derridas. Siehe dazu etwa: Johanna Schumm, Confessio, confessiones, circonfession. Zum literarischen Bekenntnis bei Augustinus und Derrida oder Stephen Gersh, Being different. More neoplatonism after Derrida. Schumm, S. 25 f.: »›Circonfession‹ steht am Anfang einer Reihe von Arbeiten zu den Confessiones von Denkern, die im Poststrukturalismus verwurzelt sind. Ihr Interesse an Augustinus wurde oftmals geweckt durch die Auseinandersetzung mit Heidegger, dessen Phänomenologie auf augustinischen Motiven beruht: die Zeit, die Memoria, die Unruhe; […] Neben der Ausrichtung auf eine radikale Alterität, in der das augustinische Subjekt durch den Bezug auf Gott steht, wird seine Bestimmung durch die Konversion als ereignishafte Wandlung in der neueren französischen Philosophie rezipiert.« 1
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Im Geist des Komplementären
Derridas Betrachtungen immer wieder explizit um den Aspekt der Formhaftigkeit des Denkens, wie etwa in seiner 1967 publizierten Grammatologie – De la Grammatologie. Ausgehend von linguistischen, semantischen und semiotischen Reflexionen und unter Bezugnahme auf die thematische Vorzeichnung durch Heidegger, entwikkelt Derrida das Motiv der »Dekonstruktion«, weniger als Methodik, sondern als strategisches Instrument der Kritik konzipiert. »Was ist der spezifische Widerstand des philosophischen Diskurses gegen die Dekonstruktion? Die grenzenlose Herrschaft, die ihm die Instanz des eigenen Seins (und des Eigenen) zu sichern scheint; […].« 2
Diese Herrschaft im Sinne einer sich beständig selbst auf der Grundlage der eigenen Festsetzung des zu Denkenden autorisierenden Affirmation des Gedachten funktioniert laut Derrida nur im Rahmen des Diskurses. Entscheidend ist dabei, daß dessen Regeln diesen Rahmen bestimmen und festlegen, wodurch als verbindlich akzeptiert wird, was innerhalb dieser Regelhaftigkeit gar nicht anders sein könnte. Bereits in diesem ersten Blick auf Derridas Verständnis von Philosophie wird seine elementare Nähe zum Neuen Denken erkennbar, mit einer Einschränkung. Bei den anderen Autoren war es offensichtlich, warum sie nach einer Öffnung der scheinbar uneingeschränkten Gültigkeit des Diskurses suchten. Der Impetus, der Derrida zu seiner Kritik veranlaßt, ist bisher nicht offensichtlich. Deutlich ist aber bereits hier, daß der Begriff der Kritik im Grunde nicht ausreicht, um sein Vorhaben zu benennen. Denn Kritik richtet sich im selben Medium an dasjenige wie auch nach demjenigen, das sie kritisiert. Derrida will den Mechanismus philosophischer Argumentationen dekonstruieren, 3 was bedeutet, daß er deren Bedingungen nicht akzeptieren kann. Wie also scheinbar formlos denken? Wie dem Denken Rhythmus und Aussage erhalten, wenn klassische Logik nicht mehr deren Gestalt bestimmt und festlegt? Und wie über einen Autor schreiben, der in solcher Entschlossenheit die Öffnung des Denkens propagiert und, umso erstaunlicher in Anbetracht des Vorhabens selbst, auch praktiziert? Bereits bei den ersten sprachlichen Annäherungen an Derridas Texte zeigt sich, was zu erwarten war. Sie fügen sich nicht Derrida, Tympanon, in: Randgänge der Philosophie, S. 21. Katharina Bauer weist in Einander zu erkennen geben auf die Bedeutung theoretischer Offenheit hin, die in Derridas Denken die Suche nach Wahrheit in der Philosophie ersetzt, S. 213. 2 3
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dem gewohnten und bis zu einem gewissen Grade auch bewährten Muster einer Interpretation, die es sich zum Ziel setzt, das Gedachte im Sinne seines Verfassers zu erschließen. Denn so verfährt Derrida selbst nicht mit den Schriften, auf die er sich in seinen eigenen Werken in bemerkenswerter Vielfalt bezieht. Jene sind für ihn nicht Grundlagen für Deutungen, sondern jeweils ein neuer Anlaß zur Fortschreibung, zum Eindringen in deren Gefüge aus Sprache und Schrift, Eindringen ohne jede negative Konnotation. Damit löst sich die vermeintliche hermetische Struktur überlieferter Texte weitgehend auf, fordert nicht mehr ein Fernbleiben des Lesenden, der den vorgegebenen Argumenten und Theoremen einer Schrift in ihrem autoritativen Gestus mehr oder minder schweigend Folge leistet, um zu erfassen, was der Autor zu denken gibt. Statt dessen fordern Schriften, ganz gleich, welcher Epoche und welcher gedanklichen Herkunft, durch ihre Textualität 4 zum Einschreiben auf, zur Übertretung der Grenze, die die Abgeschlossenheit eines Textes zu signalisieren scheint, zur Invasion im friedfertigsten Sinne: nicht als Einfall, Bemächtigung und dadurch letztlich Gefährdung der Schrift, sondern als Eintreten, zur Seite Stehen und mitdenkend Mitsprechen. Mag diese Weise, mit Schriften, zumal jenen bedeutender Theoretiker der Vergangenheit, umzugehen, befremdlich wirken, so relativiert ein Hinweis auf ihre Begründung vielleicht die Stärke dieses Eindrucks. Derrida beruft sich unausgesprochen auf die jahrhundertealte Tradition der Talmudlesungen, wie sie von jüdischen Gelehrten bis in die Gegenwart vollzogen werden. In höchster Achtung der Schrift wird diese kommentiert und ergänzt, nicht nur aus historischem Interesse, sondern um den Geist und das Bedürfnis des Menschen in jeder Zeit diesem überlieferten Wort hinzuzufügen. Text, nicht nur jener der Torah, ist für Derrida lebendige Struktur, schon allein an der graphischen Form ablesbar. Mäandrisch legen sich die Ergänzungen in eigenen Kolumnen um den tradierten Schriftcorpus, der sich so verändert, wächst und Zeugnis von der ununterbrochenen In The ethics of deconstruction weist Simon Critchley auf die besondere Weise hin, in der Textualität bei Derrida zu lesen ist, zunächst mit Blick auf den Text als solchen, S. 32: »Nothing exists outside a context. […] There is nothing outside context – that is to say, there is no entiry, nothing, that has existence outside of context. One might say that the context is not commanded by a dominant referent, a transcendental signified: God, self-consciousness, or whatever.« S. 39: »Text qua context is glossed by Derrida as ›the entire »real-history-of-the-world«‹ ; […].«
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Zwiesprache zweier Stimmen ablegt – der des Schreibenden und der des Fortschreibenden. In Derridas Lesungen philosophischer Werke zeigt sich dabei immer wieder, daß er nicht eine eigene Perspektive oder ein persönliches Interesse auf diese projiziert und von ihnen lediglich Antwort auf Fragen erwartet, die er zuvor formulierte. Vielmehr folgt er den Möglichkeiten, die ein Text anbietet, der unausgesprochenen Einladung, Motive aufzugreifen und weiter zu verfolgen, durchaus auch über den Rahmen hinaus, den ein Verfasser ihnen ursprünglich zuerkannte. Die Offenheit des Lesenden, der zum Schreibenden wird und das Gelesene damit über sich hinaus öffnet – kein Wunder, daß von konventionellerem Standpunkt aus hierin die Gefahr interpretatorischer Beliebigkeit gesehen wird. Kein Wunder aber auch, daß in dieser Auffassung der Schlüssel zu Derridas Idee menschlichen Miteinanders liegt, wie sich später zeigen wird. Zunächst fällt der Blick abermals auf die Notwendigkeit einer Dekonstruktion, durch die Derrida den von ihm diagnostizierten Herrschaftsgestus des philosophischen Diskurses zu überwinden sucht. »Eine radikale Erschütterung kann nur von einem Außen her kommen. Die, von der ich spreche, rührt daher genauso wenig wie irgendeine von einer spontanen Entscheidung des philosophischen Denkens nach einer inneren Reifung seiner Geschichte her. Jene Erschütterung spielt sich im gewalttätigen Bezug des Ganzen des Okzidents auf sein Anderes ab, […]. Doch die ›Logik‹ eines jeden Bezugs auf ein Außen ist höchst komplex und überraschend. Die Kraft und die Wirksamkeit des Systems gerade transformieren die Überschreitungen regelmäßig in ›blinde Ausgänge‹. Wenn diesen Auswirkungen Rechnung getragen wird, gibt es vom Innen her, wo ›wir sind‹, nur die Wahl zwischen zwei Strategien: a. den Ausgang und die Dekonstruktion zu versuchen, ohne den Standort zu wechseln, […]. b. einen Wechsel des Standortes zu beschließen, auf diskontinuierliche und plötzliche Weise, durch ein brutales Sich-außen-Einrichten und durch die Affirmation absoluten Bruches und absoluter Differenz.« 5
Wenn Derrida hier von jenem »Außen« spricht, das Ermöglichungsraum jener geistigen Intervention sein soll, die als »Wechsel des Standortes« erkennbar wird, gelten seine Aussagen der Arbeit der Dekonstruktion, aber nicht zugleich dem Umgang mit Text, der eben angedeutet wurde. Das Kontrastbild von außen und innen kennzeich5
Derrida, Fines hominis, in: Randgänge der Philosophie, S. 155 f.
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net seiner Ansicht nach jeden Diskurs, also auch den philosophischen, insofern es Geltung und Wirksamkeit von dessen Regeln signalisiert. Man wäre nun versucht, Dekonstruktion als Programm zu verstehen, das unter Anwendung bestimmter Methoden, in diesem Fall der »Affirmation absoluten Bruches und absoluter Differenz«, verwirklicht werden soll. Gerade diese Vorstellung trifft Derridas Konzeption jedoch nicht. Sie würde implizieren, daß ein planendes Subjekt ein Ziel formuliert und die Mittel zu seiner Erfüllung abwägt, dabei als Urheber der so ausgelösten Veränderung auftritt und sich selbst als solchen reflektieren könnte. Eine kausale Verknüpfung dieser Art würde auch eine Verwendung von Begriffen voraussetzen, die als Repräsentanten des Gedachten fungieren, also hier als Zeichen für das Bezeichnete in der Rede und der Schrift exakt jenen Platz einnehmen, in dem sie das Gedachte vertreten. So könnte etwa eine Entscheidung über das Gelingen des Projektes der Dekonstruktion unter Betrachtung der Vorgaben seiner Bedingungen gefällt und sprachlich vermittelt werden. Genau so funktioniert jedoch nach Derridas Auffassung der klassische philosophische Diskurs. In den beiden Optionen des Beibehaltens oder des Wechsels des Standortes deutet sich an, daß erstere Möglichkeit nicht ausreicht. Daher also der absolute Bruch mit der regelgeleiteten Funktionsweise von Philosophie und die absolute Differenz, die das neue Philosophieren zu dieser einnehmen soll. »Man müßte, durch rigorose, philosophisch unnachgiebige Begriffsanalysen und gleichzeitig durch die Einschreibung von Merkzeichen (marques), die nicht mehr dem philosophischen Raum angehören, ja nicht einmal aus der Nähe ihres Anderen kommen, die Einrichtung (cadrage) ihrer eigenen Typen durch die Philosophie verschieben. Anders schreiben.« 6
Hier zeigt sich die Fortführung, ja sogar die Zuspitzung jenes Verlangens, das auch die anderen Autoren dieses Kontextes veranlaßte, das Maßwerk der abendländischen Philosophie in Frage zu stellen, wobei Derrida alle vorherigen Versuche an Radikalität übertrifft. Wie weit kann der von ihm geforderte Wechsel des Standortes aber führen, ohne daß sich die Distanz zwischen dem Betrachtenden und seinem Gegenstand endlos ausweiten würde? Die Antwort scheint für Derrida denkbar einfach zu sein – so weit nämlich, daß der Abstand, der sich zwischen beiden erstreckt, Raum für das Unermeß6
Derrida, Tympanon, in: Randgänge der Philosophie, S. 24 f.
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liche schafft. So gilt sein Interesse nicht der Beschreibung der Pole, die diesen Zwischenraum ermöglichen, die in klassischer Terminologie unter die Begrifflichkeit von Subjekt und Objekt fallen würden, sondern einzig der Erfahrung jenes terminologisch und theoretisch unbesetzten Areals, das sich nun zwischen beiden ausbreitet. 7 In traditionellen philosophischen Texten formieren sich exakt in diesem spannungsgeladenen Kontrast von Subjekt und Objekt als Denkendem und Gedachtem Definitionen von Wahrheit, was verdeutlicht, wie extrem bedeutsam jede Aussage über dieses Areal letztlich ist. Es ist, so oder so, der Ort philosophischer Bewahrheitung, die Derrida nun »anders schreiben« will, nicht »different«, da sich diese Art noch immer an jenem messen lassen müßte, von dem es sich unterscheidet, sondern als »différance«. »Wie fange ich es an, von dem a in der différance zu sprechen? Selbstverständlich kann sie nicht exponiert werden. Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend, offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtig Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens des Anwesenden. […] Indem sie [die différance] sich zurückhält und nie exponiert, übersteigt sie genau in diesem Punkt und geregelterweise die Ebene der Wahrheit, ohne sich indessen, wie etwas, wie ein mysteriöses Seiendes, im Dunkel eines Nicht-Wissens oder in einem Loch zu verbergen, dessen Ränder bestimmbar wären […].« 8
So ist différance nicht Zeichen für etwas anderes, sondern das Andere selbst, in sprachlicher Gestalt ebenso wie in gedanklicher Bedeutung. Nicole Anderson, Derrida: Ethics under erasure, S. 65 bemerkt anläßlich des Begriffes der différance: »In this way, différance, as a deconstructive process, resists all oppositions such as the sensible and the intelligible, speech and writing. Instead, différance takes place in the between of oppositions. […] Derrida disrupts the unity and autonomy of the subject, but because the subject as presence is produced through the play of differences, he does not therefore abandon, as some critics have suggested, the subject altogether.« Die Folgerungen, die sich hieraus für Derridas Auseinandersetzung mit Lévinas’ Konzeption der Alterität ergeben, skizziert sie wie folgt: »However, if Derrida confirms the dissemmetry evident in Lévinas’ notion of separation, he also draws out its implcations, radicalizing Lévinas further by arguing that it is only because of the ›symmetry‹ between same and Other that dissemmetry is possible. In ›Violence and metaphysics‹, Derrida goes on to argue that the ›movement of transcendence toward the other, as invoked by Lévinas, would have no meaning if it did not bear within it, as one of its essential meanings, that in my ipseity I know myself to be other for the other‹«, S. 49. 8 Derrida, Die différance, in: Randgänge der Philosophie, S. 34. 7
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Sie bezeichnet keinen bloßen Unterschied zu etwas, das als ihr Gegenteil wohl definiert wäre, sondern verhindert in dramatisch bildlicher Weise die theoretische Okkupation jenes terminologisch unbesetzten Territoriums, das sich zwischen Subjekt und Objekt öffnet. Sie schützt diesen Raum, hält ihn frei, vereitelt seine ideologische Inbesitznahme, als die Derrida das Sich-Zeigen von Wahrheit begreift. Différance operiert nicht im Sinne einer Negation, da auch diese wiederum Verneinung eines Gegebenen wäre. In all diesen Aspekten zeigt sich, wie sehr Derrida darum bemüht ist, jede Vergleichbarkeit der différance mit etwas Bestehendem zu umgehen, was er schon durch die veränderte Schreibweise kenntlich machen will. Hinsichtlich der Bedeutung des Begriffes hält er folgendes fest: »In diesem Sinne ist das lateinische differre nicht die einfache Übersetzung des griechischen diapherein, und dies wird für uns nicht folgenlos bleiben, da es unser Thema an eine besondere Sprache bindet, die als weniger philosophisch, weniger original philosophisch als die andere gilt.« 9
Die beiden Bedeutungen, auf die Derrida hier verweist und damit einen Übergang zu einer bislang weniger präferierten Sprache nahelegt, sind die des ›Aufschiebens‹ und des ›Unterscheidens‹, in weitergeführter Lesart die der »Temporisation« und der »Verräumlichung«, 10 die entsteht, insofern Unterscheidung von etwas nur mittels der Distanzierung von diesem möglich ist. »Nun hat das Wort différence (mit e) weder auf das différer als Temporisation noch auf das différend als polemos jemals verweisen können. Diesen Sinnverlust müßte das Wort différance (mit a) – ökonomisch – kompensieren.« 11
Das Freihalten jenes Raumes, den die différance bietet, bildet den Hintergrund dieses Wort- und Sprachwandels, den Derrida hier vornimmt. Dabei wendet sich der für ihn so zentrale Gedanke der Temporisation gegen alle Vorstellungen, die Wahrheit als ein Anwesendes und als solches Erscheinendes voraussetzen und damit jede darüber hinausführende Möglichkeit des zu Erfahrenden vereiteln. Insofern erweisen sich Anwesenheit und différance als Begriffe von konträrer Funktion: erstere manifestiert sich und das in ihr Präsente unüberDerrida, Die différance, in: Randgänge der Philosophie, S. 36. Derrida, Die différance, in: Randgänge der Philosophie, S. 36. 11 Derrida, Die différance, in: Randgänge der Philosophie, S. 37. 9
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windlich; letztere setzt jede Form von Präsenz und eindeutiger Präsentation aus. Wie sich schon in Derridas Gegenüberstellung von griechischer und lateinischer Sprache angedeutet hat, verlangt der geforderte Standortwechsel auch ein Überschreiten bisheriger sprachlicher Präferenz. Es gilt nicht, das Griechische als Synonym des philosophischen Diskurses zu verwerfen, sondern dessen historisches Privileg außer Kraft zu setzen. In seiner leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk von Emmanuel Lévinas, die er bereits 1964 veröffentlicht, greift er dessen Bild von Odysseus und Abraham als mythisch-religiösen Repräsentanten zweier unterschiedlicher Denkformen auf und fragt nach der Erklärung für »dieses wechselseitige Überborden zweier Ursprünge und zweier historischer Reden, des Hebräismus und des Hellenismus« 12. Es geht nicht um ein Ersetzen der einen »Rede« durch die andere, sondern darum, beide als »Ursprünge« zu begreifen. Beide also auch als gleichwertige und gleich gültige Wege des Denkens zu akzeptieren ist die daraus resultierende Forderung. Gilt diese Vorstellung Derridas von zwei Ursprüngen und zwei daraus entspringenden Wegen auch bildlich, taucht wiederum die Vorstellung einer räumlichen Erstreckung auf: zwei Pfade umschließen ein Terrain, das die zielgerichtete Erstreckung der Wege durch die von ihnen markierte Örtlichkeit verbindet. Hier ereignet sich nach Derrida Philosophie, nicht in jenem Telos, das als das zu Erstrebende lange definiert ist, bevor es das erste Mal erreicht wurde. Seinen prägnantesten Ausdruck findet der Versuch, diese Verortung des Zwischenraumes nicht nur zu beschreiben, sondern allein schon textimmanent zu signalisieren, in dem – bereits von Heidegger durchgeführten – Durchkreuzen eines Terminus, der zwar nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet wird, aber dennoch die von seiner inhaltlichen Entleerung geschaffene Freistelle im Text kennzeichnen soll. »[…] dies, was X geheißen wird (zum Beispiel der Text, die Schrift, die Spur, die différance, das Hymen, das Supplement, das Pharmakon, das Parergon, und so weiter), dies ›ist nicht‹ dieses noch jenes, nicht sinnlich noch intelligibel, nicht positiv noch negativ […]. Es ›ist‹ nicht und sagt nicht dies, was ›ist‹. Es schreibt sich anders.« 13 12 13
Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Die Schrift und die Differenz, S. 128. Derrida, Wie nicht sprechen, S. 11.
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Bei der Durchkreuzung handelt es sich also nicht um ein rigides Durchstreichen, das als Geste der Aggressivität das Verschwinden eines Begriffes vorbereiten soll. Gerade dadurch, daß das Markierte kenntlich bleibt, soll vermittelt werden, daß dieses nicht für etwas anderes steht und dessen Anwesenheit im Text repräsentiert, sondern daß der Bedeutungsraum, den dieser Begriff früher ausfüllte, nun frei bleibt. Wiederholt weist Derrida darauf hin, daß Heidegger durch das Durchkreuzen des Wortes Sein zugleich fast graphisch die jeweils gegenüberliegenden Elemente des Gevierts verbinden wollte, 14 wodurch auch er einen optischen Verweis auf das tatsächliche Ereignis des Seins zu setzen suchte. Wird Derridas Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff betrachtet, stellt sich nicht in erster Linie die Frage, ob er diesen akzeptiert oder ihm interpretierend gerecht wird, sondern wie er ihn aufgreift und mit ihm weiterdenkt. Unweigerlich fällt bei diesem Vorgehen die zum Teil heftige Kritik auf, die Lévinas an diesem Begriff des Seins übte. Wie sich bereits an früherer Stelle gezeigt hatte, kann durchaus gefragt werden, ob diese Ablehnung uneingeschränkt berechtigt ist. So folgt auch Derrida den lévinasischen Bemerkungen nicht rückhaltlos. »Gegen Heidegger Einspruch erhebend, schreibt Lévinas, neben vielen ähnlichen Stellen: ›In unserem Verhältnis zum Fremden werden wir nicht durch einen Begriff affiziert …‹ (L’ontologie …) Ihm zufolge ist es der absolut unbestimmte Begriff des Seins, der schließlich den Fremden unserem Verstehen, das heißt unserer Macht und unserer Gewalt ausliefert. Heidegger insistiert aber nachdrücklich auf folgendem: das Sein, das zur Frage steht, ist nicht der Begriff, dem das Seiende (zum Beispiel jemand) unterstellt (unterworfen) würde. […] Das Sein ist folglich transkategorial, […]. Verweise hierauf finden sich etwa in: Außer dem Namen (Post-Scriptum), in: Über den Namen, S. 92 und Wie nicht sprechen, S. 100. Zu Heideggers Durchkreuzen des Seins-Begriffes siehe auch Grammatologie, S. 43. Eine generelle Einschätzung Derridas Bewertung des heideggerschen Denkens gibt Georges de Schrijver in The political ethics of Jean-François Lyotard and Jacques Derrida, S. 197: »This assessment is both mild and severe. It is mild because Derrida acknowledges the enormous service Heidegger rendered to philosophy by introducing the ontological difference between ›Being and beings‹ : in its free manifestation Being remains beyond our grasp. On the other hand, Derrida would like to show that Heidegger’s ontological difference is still caught in the schemes of the very onto-theology he sought to demolish. Derrida employs linguistics as a tool in proving his claim.«
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Das Denken oder das Vorverstehen des Seins bedeutet daher nichts weniger als ein begriffliches oder totalitäres be-greifen.« 15
Derrida will Heideggers Sprache ganz offensichtlich für einen eigenen Gedanken in Anspruch nehmen, und dieses notfalls gegen die Deutung von Lévinas. Das Sein, so wie er es in Heideggers Schriften »auf hundert Stellen« 16 beschrieben findet, denkt Derrida in beachtlicher Nähe zur différance, nämlich nicht als Begriff, der durch einen »theoretischen Akt« verstanden werden könnte. Sein also nicht als abstrakte Kategorie erfaßt, die es legitimieren würde, das Denken des Anderen ihrem Diktat zu unterwerfen und es damit seiner Eigenheit als Anderes zu berauben – mit dieser Lesung, die Derrida den heideggerschen Schriften entnimmt, würde jeder Einwand von Lévinas hinfällig. Denn genau das war sein Vorbehalt gegen Heideggers Seinskonzeption: sie autorisiert die Entfremdung des Anderen. Worauf sich diese bemerkenswerte Macht gründen soll, bleibt bei Lévinas relativ vage, so daß der Verdacht sich aufdrängen konnte, seine Kritik bezöge sich eher auf die klassische Deutung des denkenden und kategorisierenden Subjekts als auf diejenige des Seins. Einer Subjektfunktion in diesem Sinne würde Heidegger aber selbst widersprechen. Indem Derrida nun die Ursache für eine solche Auslegung von Heideggers Seinsbegriff in dessen irrtümlicher Identifizierung mit seiner bloßen Begrifflichkeit ausmacht, rückt er das Sein weitaus stärker in die Bedeutung, die er selbst dem Raum des ›Zwischen‹ 17 zugewiesen hatte. Auch dessen Erfahrung läßt sich nicht als Erschließung seiner begrifflich vermittelten Bedeutung denken, ebensowenig wie dieses aufgrund seiner Transkategorialität für die Erfahrung des Seins erfolgen könnte. Ist Sein aber nicht Begriff, ist es auch nicht dem Seienden als – nach lévinasischer Kritik – leere Abstraktion zu kontrastieren. »Da es kein Wissen ist, deckt sich das Denken des Seins nicht mit dem Begriff des reinen Seins als unbestimmter Allgemeinheit. […] Das Denken oder zumindest das Vorverstehen des Seins bedingt (auf seine Weise, die jede ontische Bestimmtheit: Prinzipien, Ursachen, Prämissen usw., aus-
Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Die Schrift und die Differenz, S. 211 ff. Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Die Schrift und die Differenz, S. 211, A.80. 17 Mit Blick auf Arthur Schopenhauers Philosophie hat Daniel Schubbe die Bedeutung des »Zwischen« als Denkfigur untersucht, Philosophie des Zwischen. Hermeneutik und Aporetik bei Schopenhauer. 15 16
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schließt) die Anerkennung der Wesenheit des Seienden (jemandes, zum Beispiel, der als Anderer, als anderes Selbst ist usw.). Es bedingt die Achtung des Andern als das, was er ist: Anderer.« 18
Allein durch die Suspendierung der Begrifflichkeit und der damit korrespondierenden Kategorialität des Seins versetzt Derrida es in einen Zustand der möglichen Konkretion und kann es dadurch als das Andere, nicht als Abstraktum, erfassen. Damit greift er Heideggers Vorstellung des Verstehens wie auch der Überzeugung, daß das Denken denkender, also – nach Derrida – weniger kategorisierend werden müsse, auf und entfaltet auf dieser Grundlage den Gedanken der Achtung des anderen Seienden in seinem Sein. Um es bildlich auszudrükken: Derrida begleitet Heidegger ein beachtliches Stück seines Weges, legt jedoch die – vielleicht entscheidenden – Meter alleine zurück. Heidegger denkt zwar selbst, wie sich in früherem Kontext gezeigt hatte, die Möglichkeit der Beziehung des Seienden zueinander und untereinander, wobei weniger seine Konzeption des Mitseins als vielmehr seine Vorstellung des Gevierts zum Tragen kommt; doch daraus auf ein generelles Eintreten Heideggers für die Achtung des Anderen zu schließen wäre übertrieben. Seine Texte bieten die Möglichkeit dazu, keine Frage, doch bedarf es des wohlwollenden Blickes, um diesen Gedanken so fortzuschreiben wie Derrida. 19 Interessant ist es in diesem Zusammenhang, noch einmal zu verfolgen, wie beide die Möglichkeit bewerten, Sein zu erfassen. Nicht mittels der Ratio, soviel hatte sich für Heidegger erwiesen, und soviel läßt sich auch mit Blick auf Derrida bestätigen. Denn auch er führt die Erfahrung als jenen Zugang zum Sein ein, einen Perzeptionsmodus, den schon Rosenzweig zur Kennzeichnung des Neuen Denkens nutzte. So klingt es fast so, als würde Derrida auch auf ihn Bezug nehmen, was allerdings explizit nicht der Fall ist, da die folgenden Zeilen Nietzsche gelten. »Und da dieses künftige Denken keine Philosophie, zumindest keine spekulative oder metaphysische Philosophie ist, weder eine Ontologie noch eine Theologie, weder eine Repräsentation noch ein philosophisches Bewußtsein, ginge es vielmehr um eine andere Erfahrung des vielleicht: des Den-
Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Die Schrift und die Differenz, S. 211 und 208. Weitere aufschlußreiche Worte Derridas zu Heideggers Seins-Vorstellung finden sich z. B. in Grammatologie, S. 39 sowie in Die différance, S. 50 und in Das Supplement der Kopula, S. 220 f., beide in: Randgänge der Philosophie. 18 19
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kens als einer anderen Erfahrung des vielleicht. Eine andere Form sich an das Mögliche zu richten.« 20
Daß Erfahrung (expérience) für Derrida nicht nur ein passives Aufnehmen eines extern Gegebenen ist, zeigt sich, wenn er sie auch als »Passage, Durchquerung, Aushalten, Versuch der Überschreitung« 21 bezeichnet, durch Weisen der Orientierung und Situierung eines Erfahrenden im Raum des Möglichen, das den Inhalt der Erfahrung nicht erfüllt, sondern öffnet. Erfahrung richtet sich nicht auf dieses oder jenes, das als zuvor Erwartetes immer von der Erwartung eines Subjekts abhängt. Statt dessen will Derrida sie eher als generelle Offenheit des Erfahrenden begreifen. Genau an diesem Punkt verknüpfen sich zwei Linien innerhalb seines Denkens – jene, die das ›wie‹ des Erfahrens thematisiert, und jene, die sich auf sein ›was‹ bezieht. So verbinden sich die Bilder des Zugänglichseins und der Offenheit hier mit jenen der Bereitschaft, der Bereitwilligkeit, des Empfangens und der Gastfreundschaft; in traditioneller Terminologie wäre es exakt der Übergang von der Erkenntnistheorie zur Ethik 22. Wenn dasjenige, das erfahren wird, grundsätzlich nicht von der vorgeordneten Bestimmung und Erwartung des Erfahrenden abhängen soll, dann muß sich diese Forderung auch auf die Erfahrung des anderen Menschen ausweiten lassen. Es wirkt so, als würde von nun an vertrautes Terrain betreten, so eng schließen sich Derridas Gedanken hierzu jenen von Lévinas an. Den Anderen gilt es in seiner Andersheit zu gewahren, was jede Form der fixierenden Erwartung von Anfang an ausschließen muß. Gleichwohl ist der Andere derjenige, auf den sich das Begehren richtet.
Derrida, Politik der Freundschaft, S. 103. Derrida, Aporien, S. 32 f. 22 Geoffrey Bennington befragt in Interrupting Derrida, S. 34 die generelle Möglichkeit einer Ethik im Kontext der Dekonstruktion: »Deconstruction cannot propose an ethics. If the concept – all the concepts – of ethics come to us, as they do, as they cannot fail to, from the tradition it has become commonplace to call ›Western meaphysics‹, and if, as Derrida announces from the start, deconstruction aims to deconstruct ›the great totality‹, the interrelated network of concepts bequeathed to us […], then ›ethics‹ cannot fail to be a theme and an object of decondtruction, to be deconstructed, rather than a subject of its admiration or affirmation. […] Deconstruction cannot be ethical, cannot propose an ethics, but ethics might nonetheless provide a privileged clue for deconstruction, and deconstruction might provide a new way of thinking about some of the problems traditionally posed by ethics.« 20 21
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»Dem Anderen, dem ganz Anderen einen Durchgang, einen Weg frei lassen/ihn bzw. es passieren lassen (laisser le passage à l’autre), das ist Gastfreundschaft.« 23 Und: »Die absolute Gastfreundschaft erfordert, daß ich mein zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden […], sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe (donne lieu), daß ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen […] oder ihn nach seinem Namen zu fragen.« 24
Spätestens in diesem Kontext bestätigt sich, daß Dekonstruktion für Derrida kein bloß formales Unterfangen ist, dessen Anwendung lediglich im Umgang mit Schrift und Text zu suchen wäre. So verwunderlich es vielleicht im ersten Moment klingen mag: Die Bereitschaft, sich Schrift zu öffnen, und jene, den anderen Menschen »passieren« zu lassen, ihn zu begrüßen und zu empfangen, ohne Erwartung, aber in freudigem Willen, gelten für Derrida gleich viel. »Wir haben es hier mit zwei Formen oder zwei Dimensionen der Achtung zu tun, die in jeder Verantwortung impliziert ist.« 25
In beiden Formen erkennt Derrida eine adäquate Weise der Einwilligung, sich von dem Anderen aufrufen zu lassen, und zwar in direkter, unwiderstehlicher und auffordernder Manier. So wie im Text das Zeichen nicht mehr Zeichen für ein Anderes ist, das es zu repräsentieren hat, sondern selbst das Andere des Lesenden ist, wirkt der Mensch in seiner physischen Unmittelbarkeit. In seiner Auseinandersetzung mit der Lyrik Paul Celans thematisiert Derrida die erste Hälfte dieses zwiefältigen Aufrufes: »Das Gedicht spricht selbst dann, wenn keinerlei Bezug zu ihm erkennbar wäre, kein anderer als der Andere (l’Autre), als jener, an den es sich richtet und zu dem es spricht, indem es ihm sagt, daß es zu ihm spricht. Selbst wenn es den Anderen nicht erreicht, so ruft es ihn doch an. Die Anrede findet statt.« 26
Die zweite Hälfte des Aufrufes artikuliert Derrida anläßlich seiner Reflexionen der apophatischen Rede des Dionysios Areopagita:
23 24 25 26
Derrida, Außer dem Namen, in: Über den Namen, S. 109. Derrida, Von der Gastfreundschaft, S. 27. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 340. Derrida, Schibboleth, S. 68.
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»Dieser Ruf des anderen, der stets bereits dem Sprechen vorangegangen, dem er also niemals ein einziges Mal gegenwärtig gewesen ist, er kündigt sich im voraus an als ein Rückruf.« 27
So wie es keinerlei Unterschied bedeutet, ob eine Erfahrung des Angesprochenseins durch eine Schrift oder durch einen anderen Menschen hervorgerufen wird, verlangt auch die Ansprache des Göttlichen in Derridas Sicht keine eigene Berücksichtigung. Sein ist Ansprache und ›sich ansprechen Lassen‹, ›sich einnehmen Lassen‹, was Unvoreingenommenheit zum Synonym der Achtung vor dem Anderen schlechthin werden läßt. Hatte Derrida nicht hierin gerade seinen deutlichsten Bezug zum Denken Heideggers vorgeführt – den Anderen und das Andere ›sein zu lassen‹ ? »Das Abenteuer (aventure) oder das Ereignis (événement) des ganz Anderen kommen (venir) zu lassen.« 28 »Sich auf die Ankunft des Anderen vorbereiten – eben dies kann man Dekonstruktion nennen.« 29 Es bleibt, so würde man folgern, letztlich die Überlegung, ob Derrida in seiner Gleichsetzung von Sein und »ganz Anderem« nicht zu weit über Heidegger hinausdenkt. Ein ›zu weit‹ wäre jedoch nach Derridas Verständnis gar nicht meßbar, da er nicht eine Schrift, in diesem Fall diejenige Heideggers, getreu der Intention ihres Verfasser deuten, sondern ihre Spuren aufgreifen und verfolgen will. So stellt sich hier vielmehr die Frage, welcher Maßstab an Derridas Texte zu legen sei – jener der Interpretation im Sinne traditioneller Philosophie oder jener, den er selbst für seine Arbeit der Dekonstruktion gewählt hat? Gibt es einen Rahmen, der das Fortschreiben eines Textes begrenzt? Wenn hier überhaupt von Grenzen gesprochen werden darf, dann sind dieses allenfalls jene Möglichkeiten, weiter und über ihn hinauszudenken, die ein Text eröffnet. Derridas Lesungen beachten stets die Bindung an das, was die von ihm betrachteten Schriften anbieten, als Gedanke, manchmal auch nur als ein Wort. So verliert sich niemals der Bezug zum Anderen – Fähigkeit und Postulat in einem, das sich jedoch in keiner Theorie fixieren läßt. Natürlich besteht die Versuchung, aus den Aussagen Derridas zur Dekonstruktion eine Theorie der Erkenntnis und aus jenen zur Achtung eine solche der Ethik zu konstruieren, die zum einen nie das 27 28 29
Derrida, Wie nicht sprechen, S. 53. Derrida, Psyche, S. 82. Derrida, Psyche, S. 72.
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Ganze von Derridas Gedanken zu einem Thema erfassen könnte und zum anderen seiner Auffassung vom Denken sogar widersprechen müßte. Denn dieses ist nicht von sich aus strukturiert, systematisch und kategorisierend, sondern sprunghaft, fragmentarisch, performativ. Es bietet an, es gibt – im Sinne einer Gabe. 30 So offerieren Derridas Texte denn auch Gedanken zu Verantwortung und Pflicht, deren bruchstückhafte Form keinesfalls über ihr moralisches Gewicht hinwegtäuschen sollte. 31 »In den allerjüngsten Texten (Passions und Den Tod geben) habe ich diese notwendigerweise aporetische Analyse einer Pflicht als Über-Soll [sur-devoir] verfolgt, deren hybris und wesentliche Maßlosigkeit die Überschreitung nicht nur der Handlung vorschreiben sollen, die pflichtgemäß ist, sondern auch der Handlung aus Pflicht, das heißt dem, was Kant als Bedingung selbst der Moralität bestimmt. Dieses Über-Soll, das die Pflicht sein soll, gebietet, ohne Pflicht zu handeln, ohne Regel oder Norm (also ohne Gesetz), mit dem Risiko, daß ihr die verantwortlich genannte Entscheidung wieder zur einfachen technischen Entfaltung eines Begriffes wird und folglich eines präsentierbaren Wissens. Um verantwortlich und entscheidungsfähig zu sein, darf sich eine Entscheidung aber nicht auf die Verwirklichung eines bestimmbaren und bestimmenden Wissens als Konsequenz irgendeiner vorherbestimmten Ordnung beschränken.« 32
Diese Passage wurde ungekürzt zitiert, um Derrida bei der Beschreibung der Schwierigkeit, die die Bedingung von Verantwortung in sich birgt, zu folgen. Die Verpflichtung, »ohne Pflicht zu handeln«, rührt sicherlich nicht nur an den Wurzeln des kantischen Begriffes von Moralität. Ihre Motivation ist dessen ungeachtet nachvollziehbar, Der Bezug dieses Begriffes zu Texten zeitgenössischer phänomenologischer Philosophie in Frankreich wurde bereits angedeutet. 31 Den komplexen Zusammenhang von Sprache und Denken, der dann Grundlage der Denkmöglichkeit von Moral wird, skizziert Thomas Askani in Die Frage nach dem Anderen, S. 140: »Das Denken denkt nicht, was es denkt: ›ursprünglichste‹ Differenz im Denken selbst, und zwar derart, daß der Gedanke des einfachen Ursprungs selbst eine Dislokation erfährt. Ursprünglichste Differenz, die der Differenz von Denken und Gedachtem selbst noch vorausliegt und diesem Vorausliegen selbst noch vorausliegt, – sich selbst unterbricht: ›différance‹.« 32 Derrida, Aporien, S. 35 f. Daß auch die Gastfreundschaft als die eigentliche Form, den Anderen »kommen zu lassen«, keinem Imperativ folgen kann, würde sie anderenfalls ihre Möglichkeit einbüßen, den Anderen in aller Offenheit zu empfangen, betont Derrida in Von der Gastfreundschaft, S. 64. Hier konstatiert er aber auch den Konflikt zwischen dieser »absoluten« Form von Gastfreundschaft und ihrem gesellschaftlich sanktionierten Pendant, das sehr wohl zur Pflicht erklärt werden kann, S. 96. 30
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wenn denn akzeptiert wird, daß Handeln als »Verwirklichung irgendeiner vorherbestimmten Ordnung« kein Handeln sein kann, das, um es mit einem Schwenk in eine andere Terminologie zu formulieren, der jeweils existentiellen Situation des Menschen angemessen ist. So kann es im engeren Sinne nicht ›das Handeln‹ als solches geben, sondern immer wieder neu zu vollziehende Einzelhandlungen, die trotz ihrer situativen Einmalig- und Erstmaligkeit eines in jedem Fall doch zeigen – eine Begründung. Wo kann diese aber verankert werden, wenn nicht in einem allgemeinen Begriff von Moralität? Wiederum greift Derrida auf den Begriff der Erfahrung zurück. So unzulässig es seiner Auffassung nach ist, aus der Summe einzelner Erfahrungen eine Norm des Verhaltens ableiten zu wollen, so unerläßlich ist es, Handlung als je einzelne auf die ihr zugrundeliegende Erfahrung zu beziehen. Er will also keinesfalls einen Gedanken von Pflicht leugnen, auch wenn er ihn, zum Teil der philosophischen Tradition konträr, doch dem lévinasischen Denken konform formuliert. 33 Wo liegt also der Grund der Pflicht? »Doppelte Verantwortung, die sich noch einmal teilt, die sich endlos verdoppelt: Ich muß für mich einstehen, indem ich für uns einstehe, muß mich vor mir selbst verantworten, indem ich mich vor uns verantworte, muß die Verantwortung für mich selbst übernehmen, indem ich die Verantwortung für uns übernehme, für das gegenwärtige Wir, das ich vor dem zukünftigen Wir verantworten und für es einstehen muß – und dies, indem ich mich in der Gegenwart an euch richte und euch auffordere, euch jenem ›Wir‹ anzuschließen, dem ihr schon und doch noch nicht angehört.« 34
Derrida, Aporien, S. 39: »Die Bejahung [von Pflicht], die sich durch die negative Form hindurch ankündigte, war also die Notwendigkeit der Erfahrung selbst […].« 34 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 68 f. Madeleine Fagan, Ethics and politics after poststructuralism, S. 74 zum Zusammenhang von Entscheidung und Verantwortung: »Derrida’s problematisation of the notion of decision and its link to responsibility places this responsibility at least partially in the experience of the unknown. This translates to a tension in the very way that we might approach an attempt at understanding or theorising responsibility.« Und S. 80 f.: »The tension between the realms of rule and non-rule in Derrida’s discussion of the responsible decision is, I suggest, a reflection, in part, of our situation with many Others. Derrida draws on Lévinas’ concept of the Other and the Third here, and there are clear parallels between the two authors, in that it is the tension between the Other and the Third which both opens the possibility of responsibility and ethics and which also makes them impossible.« 33
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Verantwortung, die immer den Gestus des Antwortens impliziert, wird nicht als ein Sollen verstanden, als ein Diktat der Vernunft vielleicht, sondern als Ausdruck der Bindung an den Anderen. Mehr nicht – doch beileibe auch nicht weniger. So bestehen auch nach Derridas Auffassung für den Menschen weder Notwendigkeit noch Möglichkeit, zu entscheiden, ob er sich verantwortlich verhalten will oder nicht; er ist verantwortlich, da sein Sein Bezug zum Anderen ist, unwählbar, unwiderlegbar, unvermeidlich. »Ich unterstreiche also, wir unterstreichen, oder genauer: wir markieren unsererseits noch einmal, was das Ich selbst […] bereits hervorgehoben haben wird, nämlich die Verantwortung, die Verpflichtung zu antworten, die Verantwortung, die ebensowohl darin besteht, zu rufen, zu heißen, zu appellieren, wie darin, dem Ruf, dem Geheiß, dem Appell zu antworten, zu entgegnen, zu entsprechen – und stets im Namen der singulären und je eigenen Einsamkeit, der Einsamkeit im eigentlichen Sinne.« 35
Wie sehr Derrida in Heideggers Denken und vor allem auch in seinem Schreiben immer wieder Anhaltspunkte des eigenen Sprechens findet, belegen diese Zeilen erneut. 36 Und immer wieder stellt sich die Frage, ob dieses mehr als Anknüpfungspunkte sind, die von geistiger Verwandtschaft eher künden als von interpretatorischer Exaktheit. Derrida scheint sich in ersterem Sinne entschieden zu haben, um so Heidegger als Denker der Relation berufen zu können. Hierfür nimmt er, wie sich bereits angedeutet hatte, sogar eine gewisse Korrektur der lévinasischen Kritik an Heidegger in Kauf. Seine Zeichnung von Verantwortung greift aber noch einen anderen, weitaus gewichtigeren Gedanken auf – den des Namens. Der eindeutig religiöse Bezug, den er damit schafft, ohne ihn als Bezug zur Religion zu begreifen, verknüpft noch einmal die bisher angeklungenen Elemente.
Derrida, Politik der Freundschaft, S. 71. Zu Derridas Betrachtung des Namens siehe auch ebd., S. 310. Zum Gedanken des Antwortens bietet sich ebenfalls an: Passionen, S. 29 f., in: Über den Namen. In Von der Gastfreundschaft artikuliert Derrida jene Frage des Anderen, die zur Verantwortung aufruft, S. 94. 36 Zugleich verweist Derrida auf folgende Schwierigkeit; »Sobald wir eine bestimmte Geste Heideggers in unsere Sprache übersetzen, müssen wir die Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß ›penser‹ (›denken‹) einem lexikalischen System angehört (das stets mehr ist als es selbst), in welchem wir das semantische Netz, das Heidegger mit Denken verbindet, nicht mehr wiederfinden.« Privileg, S. 47. 35
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»Diese Verantwortung, die uns, wenn man so sagen kann, unserer Freiheit überantwortet, ohne sie uns zu lassen, kommt vom anderen aus über uns. Sie wird uns durch den anderen, vom anderen her übertragen, bevor noch die leiseste Hoffnung auf Wiederaneignung es uns erlauben würde, diese Verantwortung zu übernehmen, sie im Namen, in unserem eigenen Namen, in unserem Eigennamen auf uns zu nehmen, im Raum der Autonomie, dort, wo das Gesetz, das man sich gibt, und der Name, den man empfängt, sich miteinander verbünden. Im Zuge dieser Erfahrung erscheint der andere als solcher, und das heißt: Er erscheint als ein Sein, dessen Erscheinung erscheint ohne zu erscheinen, […].« 37
Paradox oder Aporie, formale Verweigerung expliziter Aussage, Dekonstruktion und différance – es wären verschiedene Worte für diese Denk-und Sprachbewegung möglich. Es ist das immer wiederkehrende Ereignis der Öffnung des Anderen und seiner Verbergung, seiner Anwesenheit, die nur in Abwesenheit gedacht werden kann, der Schrift als Verweisung auf das Andere, ohne dessen Zeichen zu sein. Daß Derridas Denken alles andere als nur formales Operieren ist, bestätigen seine Aussagen zu dem Anderen eindeutig. Daß dieses Andere auch der Andere ist, wird spätestens dann begreifbar, wenn Derrida von dessen Namen – und besonders dessen Eigennamen – spricht. Hier öffnet sich der gesamte Hintergrund des biblischen Geschehens, in dem Gott den Menschen bei seinem Namen ruft, als diesen Einen, Einzelnen, Unverwechselbaren, Genannten und Gemeinten, Gewollten, Geliebten und Verstoßenen. Allein durch diesen Bezug zieht Derrida das Bild der Verantwortung, so wie er es bisher in eher unverbindlich wirkender Sprachgewalt entworfen hatte, in die einzigartige Dimension des Konkreten. Dieses bedeutet allerdings nicht, daß er damit eine Wende vom linguistischen zum religiösen Denken vollzöge. In seinen Schriften finden sich Auseinandersetzungen mit Platon und Nietzsche neben solchen mit Angelus Silesius und Dionysius Areopagita und eben auch solche mit Phänomenen der apophatischen Rede oder der negativen Theologie. Was ihn auch Zeugnisse dieser Provenienz aufgreifen läßt, ist nicht der Gegenstand, der dort thematisiert wird, sondern die Weise, in der es geschieht. Die Sprachbewegung der Verneinung, die der negativen Theologie zugrunde liegt, bietet ihm eine Möglichkeit, sei37
Derrida, Politik der Freundschaft, S. 310.
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nen Gedanken der différance zu entfalten. Wird in der religiösen Rede jede Übertragung eines Attributes auf Gott vermieden, weil jeder Begriff der menschlichen Sprache entstammt und daher niemals zur Bezeichnung göttlichen Wesens ausreichen kann, bleibt gleichwohl die Möglichkeit erhalten, von Gott zu sprechen – in der Weise der Negation. 38 Denn es ist nicht das Ziel antiker und mittelalterlicher Theoretiker, jedes Sprechen von Gott zu unterbinden; nur das Sprechen über Gott erweist sich in ihren Augen als höchst unangemessen. Sprechen von dem Anderen will auch Derrida, losgelöst vom religiösen Hintergrund, allerdings ebenfalls nicht im Sinne eines Sprechens über das Andere oder über den Anderen. Offene Verweisung ohne Bezeichnung – in dieser Vorstellung berühren sich die beiden so heterogen wirkenden Postulate des Denkens des Göttlichen und des Denkens der différance. Das Motiv des Namens und in ganz besonderer Weise des Eigennamens ist nun verschiedentlich aufgegriffen worden, um den absoluten Bezug des Nennenden zum Genannten zu bezeugen. Das vielleicht wichtigste Beispiel für die Exemplifizierung dieser Relation ist Walter Benjamins Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, der in mehrfacher Hinsicht tiefe geistige Verwandtschaft zu Derridas Schriften zeigt. Wenn ein Mensch bei seinem Namen gerufen wird, wäre keine intimere Geste des Bezuges vorstellbar. Es ist ja nicht mehr eine allgemeine Ansprache, wie sie Derrida mit Blick auf das Gedicht Paul Celans beschrieben hatte. Das Aussprechen des Namens ruft, ruft auf und verpflichtet in einem einzigen Akt zur Antwort und, wie Derrida ableitet, zur Verantwortung. 39 So ist das Gewicht der Verantwortung, zu der sich ein Mensch in dieser Weise aufgefordert sieht, in Derridas Augen um ein vielfaches schwerer als dasjenige, das durch einen allgemeinen Begriff von Pflicht erzeugt werden könnte – schwerer und vor allem verbindlicher. Daher verweist er, ganz ähnlich wie Lévinas, darauf, daß diese Form von Verantwortung weder gewählt noch verworfen werden kann, da sie, allein dadurch, daß sich Mensch zu Mensch verhält, dessen Sein ausmacht.
Im ersten Teil dieser Darstellung hatte sich gezeigt, wie Aurelius Augustinus und Nikolaus von Kues die Frage göttlicher Bezeichnung thematisierten. 39 In Von der Gastfreundschaft betont Derrida sogar, daß der Eigenname »nicht zur Sprache, zum üblichen Funktionieren der Sprache gehört«, was den fordernden Appell des gerufenen Namens noch unterstreicht, S. 98. 38
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Wenn diese Überzeugung überhaupt eines Beleges bedarf, so würde Derrida sie – wiederum aus dem Motiv des Namens gefolgert – in der Anrede des Menschen durch Gott als der Anrede durch den absolut Anderen finden. Gott, Göttlichkeit als Verweisung schlechthin, nicht auf etwas gerichtet, sondern von etwas ausgehend, dessen Andersheit sich menschlicher Vereinnahmung unendlich entzieht, damit aber nicht Nichts wird, sondern das Andere schlechthin bleibt und als solches denkbar ist. Unter all den Begriffen, die Derridas Denken charakterisieren und zum Teil markante Parallelen zu den Schriften der übrigen Theoretiker aufweisen, findet sich einer jedoch nicht – der Begriff der Existenz. Verläuft sich der Versuch, Derrida in diesem Kontext zu betrachten, also letztlich doch im Fehlen des einen, entscheidenden Bezuges? Keineswegs. Bei der Zeichnung der geistigen Linie, die sich von Rosenzweig über Heidegger, Lévinas und Camus zu Derrida zieht, stand nicht der Nachweis im Vordergrund, daß alle sich der selben Funktionselemente existenzphilosophischen Denkens bedienen. Statt dessen galt es, das Bemühen um einen Strukturwandel zu verfolgen, der den abendländischen philosophischen Diskurs nachhaltig verändern sollte. Hierbei zeigt sich etwas Bemerkenswertes. Jene Denker, die ohne Schwierigkeiten als Existenzphilosophen oder als Existentialisten – was in diesem Fall keiner Differenzierung bedarf – bezeichnet werden können, wie Søren Kierkegaard, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre, thematisieren mit großer argumentativer Leidenschaft den Einzelnen im Sein, das er durch individuelles Engagement zu seiner Existenz modifizieren kann. Die Beschreibung dieser besonderen Möglichkeit ist erforderlich geworden, weil das theoretische Konstrukt der Philosophie, in der das Sein des Menschen thematisiert wird, die Kategorie des einzelnen Existierenden nach Ansicht der genannten Denker nicht in ausreichendem Maße zuläßt. Der klassischen westlichen Philosophie als Bewegung zur Abstraktion müssen die Begriffe des Einzelnen und der Existenz erst assimiliert werden, wobei dieser Vorgang ganz offensichtlich als eine Subsumtion verstanden wird. Dem terminologischen und theoretischen Repertoire werden neue Elemente hinzugefügt. Das Maßwerk der Philosophie als solches bleibt dabei unangefochten gültig. Ganz anders bei Rosenzweig, Heidegger, Lévinas, Camus und 318 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Derrida. Sie sind davon überzeugt, daß eine Erweiterung dieses klassischen Repertoires, so immens wichtig sie auch ist, nicht ausreicht, um Philosophie zum Medium eines Sprechens über den Menschen in seiner Individualität zu machen. Alle fünf Denker versuchen daher in differierendem Umfang und mit unterschiedlicher intellektueller Radikalität, dieses Verständnis von Philosophie zu erweitern, indem sie deren Struktur insgesamt öffnen. Dabei sind die Rückgriffe auf ein dichtendes Sagen des Seins, auf das mediterrane Denken oder den Hebräismus Synonyme jener geistigen Bewegung, die sich dem Hellenismus zur Seite stellen will. Daß diese letztlich idealisierenden Gegenentwürfe jedoch keineswegs willkürlich ausgewählt wurden, wird deutlich, wenn deren Gemeinsamkeit befragt wird. Sie alle stehen für eine Haltung des Menschen zum Sein, die diesen nicht als reines Subjekt repräsentiert. Hier soll hingegen eine Qualität des Menschen akzentuiert werden, die in traditionell philosophischer Sicht, sei sie erkenntnistheoretischer oder anthropologischer Ausrichtung, nicht präferiert wurde, nämlich seine Fähigkeit, ›zu lassen‹. Diese Befähigung, fälschlich als Passivität verstanden, setzt ein seiner selbst bewußtes Individuum voraus, das souverän genug ist, das Unbekannte, Vage, Fremde gelten zu lassen, den Anderen in seiner Alterität sein zu lassen, sich vom Elementaren der Welt betreffen zu lassen – ganz allgemein gesprochen: sein zu lassen. Um sein zu lassen, bedarf es jedoch keiner Kategorisierung, ganz im Gegenteil, sie erweist sich als massives Hindernis. Derjenige, der zur Haltung des Lassens aufruft, ist immer der Einzelne. Insofern ist es durchaus verständlich, wenn weder die Thematisierung des Einzelnen noch seiner Existenz bei diesen Denkern im Vordergrund steht. Sie ist der Strukturmodifizierung des philosophischen Diskurses immer schon eingeschrieben.
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Nachklang
Zu Beginn der Auseinandersetzung mit Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert hatte sich die Frage gestellt, ob diese als eine kontinuierliche Fortsetzung früherer Formen verstanden werden kann. Dabei galt das Augenmerk speziell ihrer Eigenschaft, als Instrument philosophischer Diskurskritik zu fungieren, sowie ihrer Möglichkeit, diese mithilfe des komplementären Denkens zu realisieren. Daneben galt es, die Entwicklung des Begriffes vom Sein zu betrachten und vor allem zu prüfen, ob und inwieweit sich dieses als jener wertfreie Raum erhält, als den es sich am Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert hatte. Wie sich besonders mit Blick auf die Ausbildung der Strukturelemente des existentiellen Denkens gezeigt hat, versteht sich dieses nach wie vor und vielleicht sogar eindeutiger denn je als kritisches Denken. Wann immer es als erforderlich erscheint, muß es in der Lage sein, jene Diskursmodifikationen einzuleiten und zu rechtfertigen, die die Arbeit des Philosophierens zu einer existentiellen Tätigkeit schlechthin werden läßt. Wird Existenzphilosophie in ihrer Entwicklung betrachtet, zeigte sich das Jahr 1900 als Einschnitt, der es nahelegt, dieses Datum als Ende ihrer ersten Phase zu werten. Mit dem Denken Friedrich Nietzsches kommt jene Emanzipation des Begriffes vom Sein zu ihrem Abschluß, die ihn aus der Bindung an religiöse Begründung und Definition löste. Wie sich gezeigt hat, bedeutet diese zunehmende Separation einerseits die Möglichkeit, eine stärkere Konzentration auf die existentielle Verfassung des Menschen in der Welt zu thematisieren. Auf der anderen Seite birgt sie jedoch auch die deutliche Gefahr, mit der Aufgabe menschlicher Bezogenheit auf das Göttliche zugleich die Beziehungsbereitschaft auf ein Anderes insgesamt preiszugeben. Der Ausdruck des ungebundenen Denkens charakterisiert diese Verfassung einer Philosophie, die nach der Negation tradierter Werte vor der Herausforderung steht, neue Wertsetzungen zu schaffen. 320 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Unter Ausklammerung der Gedanken Martin Heideggers kann nun festgestellt werden, daß alle Denker der modernen Existenzphilosophie in unterschiedlicher Akzentuierung diese neue Bindung an den Wert des Anderen vorgenommen haben. Franz Rosenzweig strebt dabei am deutlichsten die Formulierung eines »Neuen Denkens« an, das philosophische und religiöse Komponenten verknüpft. Daß er damit nicht eine Variation jenes Seinsverständnisses präsentiert, das seit der Spätantike vertreten wird, zeigt sich daran, daß er Sein zwar als geschaffen, nicht jedoch als vollendet begreift. Im Gedanken der Fortsetzung des göttlichen Schöpfungsaktes der Welt durch den Menschen skizziert er ein Bild menschlicher Realität, das den Einzelnen fordert, befähigt und verpflichtet – zu lieben, zu schaffen, zu existieren. Eventuell konnte der Eindruck entstehen, daß die Thematisierung moralischer Probleme in seiner Seinskonzeption relativ wenig Berücksichtigung fand. Da Rosenzweigs gesamte Philosophie jedoch in so deutlicher Weise Philosophie der Relation ist, inhäriert ihr die Dimension des Ethischen von Anbeginn an. Stellt dieses Denken die stärkste Bestimmung menschlicher Existenz in ihrem Bezug zu einer Vorstellung personaler Göttlichkeit dar, repräsentieren die Ansichten von Emmanuel Lévinas eine modifizierte Position. Zwar ist auch sein Denken religiös motiviert, löst den Begriff des Göttlichen aber in der Struktur menschlichen Bezogen-Seins auf. So gewinnt der Wert des Anderen eine immense Bedeutungsvariabilität, ist aber in jedem Augenblick menschlichen ›Seins‹ als ›menschlichen‹ Seins präsent. Diese letzte Auffassung teilt Karl Jaspers mit ihm, für den die Vorstellung eines Seins, das sich nicht als Geschehen der Begegnung realisieren würde, ebenso unsinnig wie unnötig wäre. Das Verständnis des Religiösen mündet in seinem Denken im Begriff des Transzendenten. A-personal mag es erscheinen, doch fungiert es in nicht minder ausdrücklicher Weise als Bezugspunkt menschlicher Existenzorientierung. Jean-Paul Sartre geht der Natur seines Denkens entsprechend einen Schritt weiter und konzentriert sich ausschließlich auf eine Darstellung des Daseins, das im Modus des Für-Andere-Seins seine zutiefst relationale Struktur zu erkennen gibt. Eine Notwendigkeit, jenseits des Daseins liegende Markierungen zu setzen, die das Denken, Wollen und Handeln des Menschen ausrichten, besteht hier nicht im mindesten. Für Albert Camus spielt der Gedanke von Göttlichkeit, nicht im 321 https://doi.org/10.5771/9783495808009 .
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Sinne klassischer Religiosität, sondern als Metapher des Gewahrens des Anderen, hingegen eine nicht unwichtige Rolle, gilt es, das menschliche Empfinden der Absurdität des Daseins zu bannen. Existieren heißt für ihn in Relation-Sein – zum anderen Menschen und zur Welt. Die Seinskonzeption des Jacques Derrida ist schließlich am ehesten dieser Auffassung vergleichbar, was sie zugleich in gedankliche Nähe zur lévinasischen Deutung bringt. In keinem Aspekt bietet das Sein für ihn einen Anhaltspunkt, es anders denn als relational zu begreifen. Sein Gedanke der Verantwortung des Menschen, die dessen Sein gleichursprünglich ist, bezeugt diese Tatsache unverkennbar. Für all diese Denker ist das Sein also alles andere als ein wertfreier Raum, so wie es für keinen von ihnen als eine bloß formale Anzeige dafür dient, daß etwas ist. Sie alle setzen in frappierender Entschlossenheit Sein in seiner relationalen Struktur aus, was bedeutet, daß es nicht wirklich ist, solange es sich nicht verwirklicht. Die Signatur des Göttlichen, die seit den Anfängen der Existenzphilosophie als Kennzeichnung eben dieser Tatsache galt, kann in modernen Entwürfen problemlos adaptiert werden, insofern eine eindeutige Akzentuierung des Entwicklungscharakters des Seins mit ihr verknüpft wird. Sie alle haben die Herausforderung, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts an das Denken des Seins stellte, erkannt, ergriffen und bewältigt. Und Heidegger? Bisweilen scheint auch er sie erfaßt zu haben, doch hindert ihn letztlich seine Entschlossenheit, die Relationalität des Seins formal denken zu wollen, an ihrer konsequenten Umsetzung. Denn Formalität und die Überzeugung, im Sein eine Geschehen der Verwiesenheit auf Anderes sehen zu können, schließen einander notwendig aus. Gleichwohl ist Heideggers Philosophie für die Formulierung des modernen Denkens der Existenz von außerordentlicher Bedeutung, nicht weil sie problemlos eingefügt werden könnte, sondern weil sie Möglichkeit und Gefährdung dieses Denkens in dramatischer Eindeutigkeit vorführt. Die Verbindung von Komplementarität des Denkens und ethischer Bindung an den Anderen kennzeichnet hingegen alle anderen Entwürfe in so selbstverständlicher Weise, daß die Tauglichkeit der Existenzphilosophie auch am Anfang des 21. Jahrhunderts außer Frage steht.
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