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German Pages 308 Year 2020
David Jöckel Geistige Erfahrung
Edition Moderne Postmoderne
David Jöckel, geb. 1986, studierte Soziologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Tübingen und Jena.
David Jöckel
Geistige Erfahrung Zeitlichkeit und Imaginativität der Erfahrung nach Adorno und Derrida
Die vorliegende Studie wurde unter Betreuung von Prof. Dr. Thomas Bedorf und Prof. Dr. Hartmut Rosa im Fach Philosophie an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen als Dissertation eingereicht.
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Inhalt
1. Einleitung .............................................................................. 7 1.1 Methodologische Vorbemerkungen ...................................................... 15 1.2 ›Poststrukturalismus‹ und ›Kritische Theorie‹ ......................................... 24 2. Eine Schwierigkeit der Philosophie ................................................... 29 2.1 Derridas Aporien ...................................................................... 30 2.2 Adorno und die Philosophie: Der Weg zur Dialektik..................................... 39 2.3 Menkes Idee.......................................................................... 57 2.4 Desiderate ........................................................................... 69 3. Das Problem der geistigen Erfahrung ................................................. 77 3.1 Das Sinnliche, das Geistige, die Vermittlung: eine dialektische Theorie des Allgemeinen ................................................ 85 3.2 Iterabilität: eine prozessuale Theorie des Allgemeinen................................. 116 3.3 Zwischenresümee ....................................................................170 3.4 Strukturelles Hören und Temporalisierung.............................................176 4. Zwei Bestimmungsstücke geistiger Erfahrung ....................................... 193 4.1 Kant: Imaginativität und Dialektik .................................................... 193 4.2 Freud: Überdeterminierung und Kryptomnesie.........................................210 5. Die Areale der geistigen Erfahrung .................................................. 223 5.1 Das Nichtidentische deuten .......................................................... 223 5.2 Das Kunstwerk erfahren ............................................................. 242 5.3 Am Ende: Dekonstruktion und geistige Erfahrung..................................... 260 6. Schluss .............................................................................. 273 6.1 Geistige Erfahrung: Was und Warum .................................................. 273 6.2 Adorno und Derrida: closing remarks................................................. 277 6.3 Schrift und Theorie .................................................................. 286
7. Literatur ..............................................................................291 Sonstige Siglen ......................................................................... 292 Weitere benutzte Literatur .............................................................. 292 8. Danksagung ......................................................................... 305
1. Einleitung1
Je mehr ich den sogenannten Erfolg zu schmecken bekomme, desto gründlicher werde ich der Nichtigkeit der eigenen Existenz mir bewußt. Denn diese wird zu einer Funktion des Erfolgs. […] ›Der Adorno‹, mit dem man all das anstellt, das ist eigentlich schon ein Toter. Wie man aber diesen Prozeß zu Lebzeiten an sich verspürt, das gibt einen Geschmack davon, wie sehr man, als lebendiges Subjekt, Nichts ist. – Adorno: Graeculus II (Adorno 2003: 15) Der Name ist gemacht, um sich des Lebens des Trägers zu begeben, er ist also immer ein wenig der Name eines Toten. Man vermöchte nicht zu leben, da zu sein, verwahrte man sich nicht gegen seinen Namen, beteuerte man nicht seine NichtIdentität mit seinem Eigennamen. – Derrida: Envois/Sendungen (Derrida 1982: 51) Es ist die Situation oder Quasi-Erfahrung, in der Sie benannt, gerufen, zitiert werden, in der man auf Sie verweist, während Sie abwesend sind oder schweigen. Es ist also ein Experiment in Quasi-Sterben, es ist ein quasi-transzendentaler Tod. – Derrida: Als ob ich tot wäre (Derrida 2000d: 21) Wer mit zunehmendem Alter eine Reihe von Menschen, denen im eigenen Leben eine bedeutsame Rolle zukam, aus dem Leben treten sieht, wird in den Jahren nach ihrem Tod eine bemerkenswerte Erfahrung machen. Denn all dasjenige, was zuvor zu diesen Personen gehörte und sich durch deren Leben zusammengehalten sah – die alltäglich gebrauchten Dinge, die Kleidung, der Nachlass im eigentlichen Sinne wie Geld, Möbel usw. –, löst sich nun von dessen vormaligem Träger ab und gewinnt ein eigenes, zweites Leben. Es gerät in näher- oder fernerstehende, jedenfalls immer fremde, andere Hände, es wird in anderer Weise gebraucht 1
Zur Zitierweise: Die Gesammelten Schriften Adornos werden in Klammern mit Bandnummer und Seitenzahl zitiert (also beispielsweise 6/334). Für seine Vorlesungen und sonstige nachgelassene Schriften, die benutzten Raubdrucke sowie Kants drei Kritiken benutze ich Siglen, die sich eingangs im Literaturverzeichnis finden.
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und zum Fundus neuer Erfahrungen gemacht, es wird als genuiner Schatz von Erinnerungen, als Souvenir bewahrt oder tritt in den Kreis anderer alltäglich benutzter Gegenstände ein, ohne dass sich an es noch die besonderen Spuren der Erinnerung an ihren vormaligen Besitzer hefteten – es wird in jedem Fall zum Gegenstand der Organisation eines Nachlasses und damit von Überlegungen gemacht, die der Verstorbene nicht mehr begleiten, nicht mehr in seinem Sinn und gemäß seiner Absicht zu leiten vermag. Die Hinterlassenschaften eines Verstorbenen lösen sich damit nicht nur von einem unweigerlich singulären Leben ab und treten außer die Möglichkeit, über sie noch über das eigene Leben hinaus zu disponieren; sie übertreten überdies potentiell die Grenzen des Kreises derer, die mit ihnen noch einen mit dem Verstorbenen geteilten Sinn verbinden, sie werden – paradigmatisch in Antiquariaten oder auf Flohmärkten – anonyme2 Objekte, deren ›eigentlicher‹, vormaliger Besitzer und einstiger Sinn sich verdunkelt hat. Ein Termin auf einem nachgelassenen Zettel, eine Grimasse auf einem Urlaubsphoto, ein Kugelschreiber, den der Verstorbene immer in einer für ihn charakteristischen Weise um seine Finger schlängeln ließ: all das kann zum Träger verschiedenerlei Sinns werden, je nach den Geschichten und Kontexten, in die es sich eingeschrieben findet. Diese Eigenarten und Merkmale von Hinterlassenschaften – ihre Eigenschaft, sich aus den je singulären Kontexten eines Lebens lösen und in neue eintreten zu können, die Weise, in der etwas zum Träger geteilten Sinns werden kann, der Umstand, auf mehrfältige, plurale Weise bedeuten und seinen ›ursprünglichen‹, ›eigentlichen‹ Sinn verlieren zu können – hat insbesondere Jacques Derrida zum Gegenstand weitreichender Überlegungen gemacht. Der Nachlass einer verschiedenen Person tritt dort in den theoretischen Brennpunkt solcher Begriffe wie Iterabilität – seine Möglichkeit, sich in anderen Kontexten zu wiederholen –, Dissemination – die Zerstreuung eines intendierten Sinns durch sein Hineintreten in andere Kontexte und Zusammenhänge – oder Spektralität – dass etwas, gleich einem Gespenst (frz. spectre), zu verschiedenen Zeiten wiederkehren kann, ohne sich je als solches, in seiner ›eigentlichen‹ Gestalt zu zeigen, und sich darum eine Vergangenheit potentiell erst von einem zukünftigen Zeitpunkt zu erschließen vermag. Am eingangs genannten generalisierten Sachverhalt des Ablebens eines Menschen und des für seine Nachfahren unvermeidlichen Umgangs mit seinen Hinterlassenschaften vermögen solcherlei Begriffe ihre Fähigkeit, Phänomene theoretisch zu erhellen, aufzuzeigen. Dass ähnliche Phänomene von Adorno – im oben als Motto herangezogenen Zitat – zum Anlass des Nachdenkens geworden sind, ohne
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Für Derrida ist es mithin so, »als ob er [der Tod, DJ] den Namen dem Körper entreißen würde, und als ob wir infolgedessen überall, wo der Name sich vom Körper löst – was uns die ganze Zeit passiert, vor allem dann, wenn wir sprechen, schreiben und veröffentlichen –, den Tod dort (là) bestätigen würden« (Derrida 2007: 225).
1. Einleitung
dass er sie wie Derrida zum Ausgangspunkt eigenständiger Termini genommen hätte, mag erstaunen. Adorno ist aber nicht nur wegen dieser, freilich marginal und Aphorismus gebliebenen, Reflexion und damit einer gewissen Parallelität zu Derrida interessant. ›Der Adorno‹ ist überdies ein nachgerade emblematischer Fall, in welcher Weise ein – in diesem Fall insbesondere: textuelles – Erbe eine Bedeutsamkeit gewinnen und auf Weisen angeeignet werden kann, die der Erblasser zeit seines Lebens abzusehen oder gar vorweg zu dirigieren nicht imstande war. Damit ist nicht nur eine vielfältige, akademische wie nichtakademische, deutschsprachige wie nicht deutschsprachige, theoretische wie literarische Rezeption angesprochen. In der Formulierung ›der Adorno‹ deutet sich überdies die Möglichkeit an, dass eine Person nach ihrem Tod als etwas, als das sie sich selbst nicht hat sehen können, genommen wird: eine individuelle Person kann als die Verkörperung eines gewissen Typus zu figurieren beginnen, als exemplarische Instantiierung eines Stereotyps. So wie man auch herkömmlicherweise spezifische Personen als den oder die Schauspielerin, Musikerin oder Künstlerin einer Epoche oder eines Genres schlechthin deklariert, so mag man über Adorno ebensogut sagen, er sei in der medialen Darstellung seines Lebens zu einer beispielhaften Inkarnation des Typus des bürgerlichen Intellektuellen des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts geworden. Der populäre Twitter-Account ›NeinQuarterly‹, auf dem das comichaft verfremdete Gesicht Adornos zu sehen ist, ist ein Beispiel für die Stereotypisierung Adornos zu einer Intellektuellenfigur. Die Züge, mit denen diese Figur des kritischen Intellektuellen in solchen Aneignungen versehen wird, sind nur noch ein schematischer Rest, der am Ende einer abstrahierenden, typisierenden Kaskade vom singulären Individuum Adorno über ›den Adorno‹ bis zu ›dem kritischen Intellektuellen‹ steht. Solche Anverwandlungen sind weder zu belächeln noch zu beklagen. Sie sind lediglich eine der Varianten, sich ›dem Adorno‹ zu nähern, und nur eben vielleicht eine, die sich eher der Person, nicht dem theoretischen Werk, dessen Träger sie gewesen ist, zuwendet. Denn in jedem Fall der Zuwendung zu einer Person oder zu einem theoretischen Werk sind die Zugangsweisen plural, und sie obliegen immer der Entscheidung des einzelnen Rezipienten, der zwischen ihnen auszuwählen hat. Ob der Person ›Adorno‹ – und damit den als vom theoretischen Werk unterschieden gedachten Textgattungen wie Briefen, Tagebüchern, Notizen, Traumprotokollen und den zahlreichen Photographien und Memorabilien – oder dessen theoretischem Werk die Aufmerksamkeit gelten soll, ob das philosophische, das soziologische, das ästhetische oder das musikphilosophische Werk im Vordergrund stehen, ob eine diese Bereiche synthetisierende Lektüre angestrengt werden soll, ob der Zugang über die als ›Hauptwerke‹ deklarierten Texte wie die Negative Dialektik, die Ästhetische Theorie oder die Philosophie der Neuen Musik zu suchen ist – jedenfalls sind solche Bahnungen durch ein komplexes Werk, wie es nach Derrida für jeden Erbschaftsprozess gilt, immer kritisch, selektiv, filternd.
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Seit einigen Jahren hat sich das um das Jubiläumsjahr 2003 aufflackernde publizistische Interesse an Adorno weitgehend gelegt, in den zentralen Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften stehen andere Autoren und Theorieströmungen im Fokus des Interesses, und auch die Kritische Theorie ist ein inzwischen so stark ausdifferenziertes und diverses Paradigma geworden, dass man eine monographische oder in Form eines Sammelbands erfolgende Zuwendung zu Adorno eher als überraschend empfinden dürfte. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nach der fortlaufenden Publikation weiterer Vorlesungsmanuskripte und Briefwechsel aus dem Nachlass nicht die Möglichkeit gegeben wäre, neue Bahnen und Pfade in das Werk Adornos einzuziehen. Diesem Vorhaben, das Werk Adornos neu aufzuschließen, wendet sich die vorliegende Arbeit zu. Sie ist durch diesen Ansatz nicht nur von der Erwartung getragen, aus einem Einsatzpunkt heraus eine Reihe von Adornos Begriffen und Texten einer Neubelichtung unterwerfen zu können, sondern überdies von dem Glauben, damit einige Gelenkstellen ausweisen zu können, an denen sich Begriffe Derridas zur systematischen Klärung heranziehen lassen. Der Begriff, der innerhalb dieses Vorhabens eine tragende Rolle spielen soll, heißt ›geistige Erfahrung‹. Dieser Begriff war von Adorno zeitweilig dazu ausersehen, eine zentrale Stellung innerhalb der Negativen Dialektik einzunehmen. Deren Einleitung hätte demnach den Titel ›Zur Theorie geistiger Erfahrung‹ getragen (vgl. Tiedemann 2003). Dass dieser Titel von Adorno fallen gelassen worden ist, macht die geringe Aufmerksamkeit verständlich, die der Begriff innerhalb der Rezeption erfahren hat. Wenn einiges für die Annahme spricht, dass der Negativen Dialektik ein zentraler, viele unterschiedliche begriffliche Fäden zusammenführender Stellenwert zumindest im philosophischen Areal des Gesamtwerks Adornos zukommt, so wird dies ebenso für den in Rede stehenden Begriff gelten. Darum ist es in besonderem Maße verwunderlich, dass er, weder dort noch sonst in irgendeinem Text, eine zureichende Charakterisierung und eine Explikation seines Platzes im weiteren begrifflichen Gefüge dieser Philosophie erhalten hat. Dem Vorhaben dieser Arbeit werden durch diese Auslassungen seine Ziele vorgeschrieben: Es kann nicht allein darum gehen, den Bedeutungsgehalt der beiden Begriffe ›geistig‹ und ›Erfahrung‹, für sich stehend und in der Kombination des Syntagmas ›geistige Erfahrung‹, aufzuschlüsseln. Vielmehr soll es darum gehen, die Verästelungen, Verweisungen und Verflechtungen dieser spezifisch definierten Form von Erfahrung mit anderen Begriffen und Themen innerhalb von Adornos Texten durchsichtig zu machen. Zwei Hinweise gibt Adorno selbst für dieses Unternehmen, und folgt man ihnen, wird man auf zwei Dimensionen geleitet, die auch in weiteren Teilen und Arealen seiner Philosophie eine grundlegende Funktion tragen. Dass Erfahrung ›geistig‹ verfasst ist, betont so (I) zum einen ihre zeitliche Struktur: Dass wir Erfahrungen immer ›in der Zeit‹ machen, dass unsere Erfah-
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rung je gegenwärtig stattfindet, ist ihr demzufolge nichts äußerlich Bleibendes, sondern prägt sie zuinnerst, hat also einen Effekt darauf, wie wir Erfahrungen machen und was wir darin erfahren. Wie sich Adorno näherhin diese zeitliche Verfasstheit von Vollzügen der Erfahrung vorgestellt hat, ist insbesondere Gegenstand des ersten größeren Abschnitts der vorliegenden Arbeit (Kap. 3 – Das Problem der geistigen Erfahrung). Darin wird die Temporalität von Erfahrung vor allem durch zwei Momente entfaltet: (i) im Hier und Jetzt stattfindende, also konkrete und singuläre Akte von Erfahrung weisen eine wiederholbare Form auf, sind also in ihrem Stattfinden immer schon auf die zumindest potentiell gegebene Möglichkeit bezogen, zu anderer Zeit und an anderer Statt wiederholt werden zu können. Allgemeine Bedeutungsgehalte sind so verstanden immer Resultat besonderer, individueller Erfahrungsvollzüge, in denen und durch die hindurch sie sich konstituieren. Damit ist theoretisch sowohl ein vermittelndes Verhältnis von Allgemeinem und Singulärem als auch eine dialektische Verschränkung von Gegenwart und Nichtgegenwart impliziert. Überdies (ii) geschehen Erfahrungen immer inmitten eines Kontexts anderer Akte von Erfahrung, die ihnen vorausgehen und die ihnen nachfolgen. Diese Platzierung innerhalb einer zeitlich verstandenen Situation oder eines Kontexts sie umgebender Vollzüge bedeutet keine äußerliche Summation isolierter Akte, sondern die Stellung in einem Netzwerk umgreifender Vollzüge hat Effekte auf den inneren Sinn von Erfahrungen. Dies gilt nicht bloß für den unmittelbaren Kontext, sondern auch für die Beziehungen zwischen Erfahrungsakten, die weiter voneinander entfernt liegen und auf den ersten Blick keine Relation miteinander zu unterhalten scheinen. Während mit dem ersten Themenkomplex eine dialektische, also auf das Verschränkungsverhältnis und auf die Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem abhebende Konzeption angesprochen ist, für die bei Adorno vor allem Hegel Pate steht, handelt der zweite Themenkomplex von einer dialektischen Bestimmung von Text und Kontext, von einzelnem Ereignis und übergreifender, es einbettender Struktur, die Adorno mit dem sich durch seine musiktheoretischen Texte ziehenden Begriff des ›strukturellen Hörens‹ belegt hat. So auseinandergelegt und entfaltet, leitet der Begriff der geistigen Erfahrung schon zu denjenigen Texten, Passagen und vereinzelten Formulierungen über, in denen Adorno einem solchen dialektischen Verständnis von Allgemeinem und Besonderem Kontur zu geben und in denen er den Typus strukturellen Hörens von einem andersgearteten Typus – ›atomistisches Hören‹ – abzugrenzen versucht hat. Wenn man so möchte, figuriert der Begriff der geistigen Erfahrung mithin als Scharnier oder Gelenk zwischen den im engeren Sinne ›philosophischen‹ und ›musiktheoretischen‹ Texten (und macht zugleich deutlich, wie irreführend eine solche Unterscheidung ist, legt man sie streng aus).
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Er ist aber, liest man ihn in der skizzierten Weise, gleichzeitig eine Plattform, auf der wesentliche Begriffe Derridas zu seiner schärferen und systematischeren Explikation herangezogen werden können. Gemeint sind damit die Begriffe Iterabilität und Temporalisierung. Ersterer dient im Vorgehen dieser Arbeit zuvörderst dazu, den Aspekt der Wiederholbarkeit in seinen weittragenden temporalen Konsequenzen besonders scharf auszudeuten, denn Derrida hat diesen eine weitaus größere Beachtung geschenkt und die theoretischen Folgen dieses Aspekts radikaler und zwingender durchdacht als Adorno selber. Der zweite Begriff soll vor allem zu veranschaulichen helfen, wie nah sich Adorno und Derrida in ihrem Rekurs auf Husserls Terminologie von Retentionalität und Protentionalität kommen; wie fruchtbar mithin diese Begrifflichkeit ist, um die zeittheoretischen Konsequenzen des Gedankens, dass sich singuläre Ereignisse stets inmitten eines strukturellen Gefüges anderer Ereignisse vollziehen, zu durchdenken. Mit dem Attribut ›geistig‹ ist für Adorno (II) zum anderen, also über die zeitliche Strukturierung von Erfahrungen hinaus, ein Rekurs auf Kants Bestimmung des Vermögens der Einbildungskraft insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft verbunden. Der zweite, etwas kürzere Hauptabschnitt der vorliegenden Arbeit (Kap. 4 – Zwei Bestimmungsstücke geistiger Erfahrung) wendet sich darum der Aufgabe zu, diesem en passant hergestellten Rückbezug genau nachzufahren und ihn in seinen Motiven zu verstehen. Dass Adorno den Begriff der geistigen Erfahrung unmittelbar in Verbindung bringt mit Kants Charakterisierung der Einbildungskraft, die vor allem im berüchtigten Schematismuskapitel erfolgt, ist darum nicht lediglich Anlass dafür, diesen Rekurs bloß zur Kenntnis zu nehmen und ihm nicht weiter nachzugehen. Dass diese bewusst vorgenommene Liierung und dass der rekurrent auftauchende Bezug auf die Einbildungskraft in anderen Texten Adornos kein Zufall sein kann und dass man darum schlecht beraten wäre, diesen Rekurs nicht in seiner Funktion für das übergreifende theoretische Gefüge von Adornos Philosophie zu erforschen, ist mithin der Ausgangspunkt dieses Abschnitts. Dieser Intuition kommt zupass, dass sich auch Derrida – unter Vermittlung von Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik von 1929 – in unsystematischer, kursorischer, aber auffallend häufiger Weise auf diesen Themen- und Begriffskreis aus Kants Philosophie bezogen hat. Im Ausgang von beiden Autoren dreht es sich in diesem Abschnitt daher darum, unterschiedliche konzeptuelle Aspekte, die mit dem Vermögen der Einbildungskraft zusammenhängen, näher auszuleuchten. Die Einbildungskraft wird so als (i) vermittelnd zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen Allgemeinem und Besonderem ausgewiesen; sie ist daher, wenn man so möchte, das dialektische Vermögen schlechthin. Dieser funktionale Rolle als Mittlerin zwischen zwei für sich bestehenden Vermögen – bei Kant: Verstand und Sinnlichkeit – kommt in Adornos Bezügen auf Kant besondere Aufmerksamkeit zu; sie ist aber desgleichen der eigentliche Grund, weshalb das Sche-
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matismuskapitel für Heidegger, über den sich Derrida der Einbildungskraft zugewandt hat, die schlechterdings zentrale Rolle in der Kritik der reinen Vernunft spielt. In gewisser Weise wird mit diesem Aspekt, zwischen zwei Instanzen oder Vermögen zu vermitteln, das dialektische Verständnis von Allgemeinem und Besonderem nochmals von einem anderen begrifflichen Ausgangspunkt durchgespielt. Die Einbildungskraft ist allerdings nicht lediglich Trägerin dieser Dialektik, sondern sie ist (ii) desweiteren auch ein Vermögen, das unbewusst in uns wirkt und dem wir passiv ausgesetzt sind. Die Unbewusstheit und Unverfügbarkeit der Wirkungsweise der Einbildungskraft sind Aspekte, die sich in Kants Charakteristik zwar schon angedeutet sehen, die aber bei Adorno, Derrida und Heidegger keine weitere Ausarbeitung gefunden haben. Es reicht jedoch nicht, bloß festzuhalten, die Einbildungskraft versehe einzelne Anschauungen mit begrifflichen, kategorialen Strukturen, vermittle also zwischen Allgemeinem und Besonderem, und synthetisiere unterschiedliche sinnliche Anschauungen im Zeitverlauf, stifte also ihren Zusammenhang ohne unser bewusstes und aktives Zutun und Eingreifen. Man muss demgegenüber theoretisch präziser zu elaborieren versuchen, wie sich die fragliche Unbewusstheit und Passivität genauer verstehen lässt und wie sie sich überdies mit dem Thema des ersten Abschnitts – der basalen zeitlichen Dimension unserer Erfahrung – in Verbindung bringen lässt. Die theoretische Intuition, von der ich mich gegenüber diesem Problem leiten lasse, liegt darin, auf die Begrifflichkeit Sigmund Freuds zurückzugehen, dem bei Adorno eine weniger, bei Derrida eine deutlicher profilierte Rolle zukommt. Mit seiner über verschiedene Werke entwickelten Terminologie von Verdichtung, Verschiebung, Kompromissgestaltung und Mischbildung lässt sich erörtern, was es genauer bedeuten könnte, dass unsere einzelnen Wahrnehmungs- und Erfahrungsvollzüge aufeinander verweisen, miteinander assoziiert und unbewusst durch eine synthetische Kraft verbunden sind. Der Einbildungskraft kommt, von dieser theoretischen Ergänzung aus gesehen, eine überdeterminierende Funktion zu. So erst wird verständlich, dass es für Adorno gewisse Erfahrungen gibt, die in einer Weise überdeterminiert sind, dass sie einen genuinen Reichtum, eine spezifische Dichte, eine eigenartige Fruchtbarkeit aufweisen. In ihrem jeweilig gegenwärtigen, punktuellen Geschehen übersteigen sie mithin sich selbst und kommunizieren durch ein subkutanes, latent bleibendes strukturelles Netzwerk mit anderen Erfahrungen. Dass Freuds Werk dafür einen eigenen Begriff parat hält – Kryptomnesie –, werde ich ebenso zeigen wie die Nähe der theoretischen Folgerungen, die Freud mit diesem Begriff verbindet, zu Adornos Überlegungen zu unwillkürlich eintretenden Intuitionen und Einfällen. Dass dieses Netzwerk von aufeinander verweisenden, unbewusst zusammenhängenden Erfahrungen zeitlich verstanden werden muss, ist die Gelenkstelle zwischen erstem und zweitem Abschnitt der Arbeit; dass es allein die Assoziativität, die Dichte und Verweisfülle exzeptioneller Erfahrungen, von denen bei Adorno
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mitunter die Rede ist, erklärlich macht, ist wiederum die Gelenkstelle, an der sich der zweite und der dritte Abschnitt dieser Arbeit verflechten. Die Arbeit schließt in diesem (III) dritten Abschnitt sodann mit der Erörterung, in welcher Weise die vorstehend durch Seitenblicke auf Derrida, Kant und Freud entfalteten Merkmale geistiger Erfahrung in die Philosophie Adornos zurückzubetten sind (Kap. 5 – Die Areale der geistigen Erfahrung). Der Begriff geistiger Erfahrung, dem bei Adorno selbst keine präzisere Erklärung seines theoriesystematischen Sinns beigegeben wird, lässt sich mit zwei für dessen Philosophie wesentlichen Themenfeldern verknüpfen. Das ist (i) zum einen der Begriff des ›Nichtidentischen‹, der Begriff des ›Kraftfelds‹ und die wiederkehrende Formulierung, etwas sei ›mehr als es selbst‹, die allesamt in einer gewissen Nähe zueinander stehen. Wenn das Nichtidentische kein für sich bestehendes Objekt ist, das es zu ›retten‹ gälte, sondern die zeitliche und strukturelle Nichtidentität eines Objektes mit sich selbst – und das ist die Lesart, für die ich mich in dieser Arbeit noch aussprechen werde –, dann kann eine Erfahrung dieser Nichtidentität nur gerecht werden, die selber zeitlich verfasst ist: die das Objekt immer im Kontext seiner Geschichte und seines Zusammenhangs liest, die es auf seinen Stellenwert in einem strukturellen Gefüge durchsichtig zu machen versteht. Genau darin konvergiert der temporal verstandene Begriff geistiger Erfahrung mit Adornos Begriff der ›Deutung‹, die als eines »der wesentlichen Organe einer kritischen Theorie« darin besteht, »Dinge, die sich als daseiend und dadurch als naturgegeben präsentieren, in ihrer Gewordenheit zu begreifen.« (VLEinlSoz: 245) Im Zuge dessen kommen darum andere mit diesem thematischen Komplex liierte Begriffe wie ›zweite Natur‹ und ›Verdinglichung‹ zur Sprache. Der (ii) zweite Einsatzpunkt, an dem der solcherart entfaltete Begriff geistiger Erfahrung seine Tragweite im konzeptuellen Gefüge von Adornos Philosophie zu erweisen vermag, ist Adornos Auffassung von ästhetischer Erfahrung. Im Lichte der als temporalisiert und durch imaginative Leistungen strukturiert verstandenen geistigen Erfahrung rücken auch im Hinblick auf sie andere Begriffe Adornos in den Vordergrund. Besondere Beachtung kommt in diesem Zusammenhang dem Begriff des ›Gehalts‹ zu – von Adorno zumeist als ›Wahrheitsgehalt‹, stellenweise aber auch als ›geistiger Gehalt‹ gefasst. Was Adorno ›Gehalt‹ nennt, ist streng von jeglichem identifizierbaren Inhalt eines Kunstwerks abgegrenzt und bedeutet die innere strukturale Vermittlung derjenigen Momente, die das Kunstwerk ausmachen, ohne dass es auf einen einzelnen von ihnen zu reduzieren wäre. Sonach ist es die Aufgabe geistiger oder ästhetischer Erfahrung, die Dialektik und die Spannung der Relation von Element und Struktur im Kunstwerk auszutragen. Die innere Gesetzlichkeit, mit der die Elemente in diesem verbunden sind, von Adorno ›Formgesetz‹ genannt, bleibt dabei unsichtbar; der Zusammenhang der Elemente lässt sich lediglich in geschichtlich wechselnde Konstellationen bringen, von denen keine die definitive Gestalt des Werks plastisch zu machen vermag. Die Unmöglichkeit der Resumtion des Kunstwerks auf einen bestimmbaren
1. Einleitung
Inhalt ist die Basis von dessen Nachleben, seines Charakters, im Kommen zu bleiben. Mithin sind Kunstwerke in zweifacher Weise zeitlich: in ihrem Inneren entfaltet sich eine zeitliche Dialektik von Element und Zusammenhang; äußerlich sind sie zeitlich, weil sie im geschichtlichen Wechsel nur einander ablösende Lesarten finden, die sie durch ihren Charakter, sich nur als sich entziehende zu lesen zu geben, herausfordern. Diesen Ausführungen folgt schließlich (iii) ein Teil, in dem ich ein bestimmtes Verständnis dessen, was Derrida ›Dekonstruktion‹ genannt hat und was notorisch vage geblieben ist, vorschlage und dies mit dem bis dahin ausreichend geschärften Begriff geistiger Erfahrung in Zusammenhang zu bringen versuche. Darin wird es vor allem um den Charakter von künstlerischen oder philosophischen Werken, immanente, sich nicht schlichtende Spannungen aufzuweisen, und die Funktion geistiger Erfahrung, diese innere Spannungshaftigkeit und Heterogenität zu reaktivieren, gehen. Diesen sich gezielt mit dem Begriff geistiger Erfahrung auseinandersetzenden Abschnitten ist ein Kapitel vorgelagert, in dem ich eine andere Option, Adornos und Derridas Überlegungen aufeinander zu beziehen, vorstelle (Kap. 2 – Eine Schwierigkeit der Philosophie). Hier sind es Aporien, Widersprüche und Paradoxien, die sich als von beiden geteilte Probleme herausstellen lassen. So plausibel und ertragreich es ist, diese gemeinsame thematische Schnittmenge konzentrierter zu verfolgen – es wird sich zeigen, dass den zwei genannten zentralen thematischen Strängen Unbewusstheit und Zeitlichkeit in dieser Lesart zu wenig Aufmerksamkeit zukommt, als dass sich die ›geistige Erfahrung‹ von ihr her aufhellen ließe.
1.1 Methodologische Vorbemerkungen Wie im Vorangegangenen schon deutlich geworden ist, wendet sich die vorliegende Arbeit einer spezifischen theoretischen Figur und ihren Verästelungen mit anderen Begriffen im Zusammenhang von Adornos Philosophie zu. Diese Figur gehört nicht zu den oberflächlich gesehen prominentesten und auf den ersten Blick hervorstechendsten Begriffen und Themen Adornos, wie sie seine Rezeption immer wieder herausgestellt und diskutiert hat. So verstanden, handelt es sich bei den folgenden Ausführungen um exegetisch motivierte Explorationen dieser Philosophie: initial ist die Studie in der Tat vom Bestreben getragen gewesen, diesem Begriff allererst die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er nicht weniger als andere, für zentral gehaltene Begriffe und Themen wie Verdinglichung und Entfremdung, identifizierendes Denken, die autoritäre Persönlichkeit, Mimesis, Adornos Kritik der Naturbeherrschung oder des Positivismus oder seine Verhältnisbestimmung von Kunst und Philosophie verdient. Gerade wenn man des Umstands eingedenk bleibt, dass der Begriff der geistigen Erfahrung eine eminente Rolle innerhalb der Negativen
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Dialektik hätte einnehmen sollen, kann man dessen Bedeutung nicht hoch genug veranschlagen und muss man seine exegetische Explikation für umso dringlicher halten. Diese zu vertagen wäre lässlicher, wenn Adornos Philosophie aus isolierbaren, für sich bestehenden thematischen und konzeptuellen Arealen bestünde, seine soziologischen, ästhetischen, philosophischen und musiktheoretischen Texte und ihre zugehörigen Begriffe untereinander in keiner Kommunikation und außerhalb der Möglichkeit, ineinander zu greifen und sich wechselseitig zu erhellen, stünden. Der Gesamtzusammenhang dieser Philosophie ist aber ebenso wenig in derartige Gebiete aufteilbar wie er in ein methodisches und begriffliches Grundgerüst und seine dem jeweiligen Gegenstand korrespondierenden Applikationen zerfällt. Wie noch deutlich werden wird, hat gerade der Begriff der geistigen Erfahrung den Charakter eines Knotenpunkts und reichen die von ihm ausgehenden Fäden in unterschiedliche Schichten und Zusammenhänge dieser Philosophie hinein. Viele dieser sich in diesem Begriff verschlingenden begrifflichen Fäden erstrecken sich gleichwohl noch über das Gewebe von Adornos Philosophie hinaus und in die Texte und Philosophien anderer Autoren hinein. Wenn sich Adorno für das Durchdenken der Zeitlichkeit auf Husserl und Bergson, für den Charakter der Imaginativität auf Kant, für die nicht völlige Bewusstheit des Denkens auf Freud beruft – unabhängig davon, ob diese Filiationen von Adorno selbst in extenso durch Zitate und Verweise gestützt werden –, dann ist die Lektüre der betreffenden Stellen nicht bloß die Lektüre von Adorno. Die sich daran unmittelbar anschließende Frage, ob es demnach ausreiche, bloß die Texte Adornos zu lesen, oder ob diese auf diejenigen anderen Texte, auf die sie selber schon hindeuten, überschritten werden müssen, ist so eher eine Frage nach der Haltung oder der Strategie der Rezeption. Zumal dann, wenn Adorno es versäumt hat, den begrifflichen Gehalt geistiger Erfahrung klar zu konturieren und den genannten Theoriereferenzen systematisch nachzugehen, muss die erste Option, eine sich auf bloß seine Texte berufende Lektüre, steril bleiben. Man kann es überdies auch schlicht als eine Konsequenz der durch Roland Barthes und Michel Foucault angestoßenen Diskussionen um Autorschaft verstehen, dass ›Adorno‹ nur der Eigenname ist, um den herum ein Textkorpus versammelt worden ist, dessen Sinn keinesfalls in Gänze unter die Autorität des Individuums Adorno fällt. »[D]as ›zentralisierende‹ Privileg, das dem Autor eingeräumt wird« (Barthes 2006b: 79), entpuppt sich aus dieser Perspektive als spätes Erbe des Genieglaubens und sollte nicht dazu verführen, eine exegetisch motivierte Arbeit als Hagiographie misszuverstehen.3
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Ganz ähnlich wie Barthes hat Luhmann die personalisierenden Effekte der Kategorie des Autors beschrieben. Sie führe im Hinblick auf die Arbeit an Texten oder Theorien zu einer »Überschätzung dessen, was ›ich‹ daran tue, während ich mich in Wirklichkeit durch ein Gewebe von Möglichkeiten getragen fühle, in dem ich nun zufällig dies oder jenes verknüpfe. […] Mir
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Das Theorieverständnis – also das Verständnis dessen, was überhaupt eine Theorie ist und wann ein Textzusammenhang als Theorie gelten darf –, das dieser Arbeit zugrundeliegt, motiviert dieses Vorgehen zusätzlich. Obwohl es unüblich ist, dies eigens darzustellen, soll es hier doch deswegen kurz in seinen Eigenarten charakterisiert werden, weil das Vorgehen und in gewisser Weise auch die Gliederung der Arbeit auf ihm basieren. Stichwortartig lassen sich hier drei Merkmale unterscheiden: (i) Relationalität, (ii) ›Text‹ statt Werk und (iii) Instabilität des Korpus. Dass diese drei Charakteristika von Theorien maßgeblich mit französischen Autoren – Pierre Bourdieu, Roland Barthes, Michel Foucault – verbunden sind, ist bloßer Zufall. (i) Relationalität. Als der »wesentliche Beitrag jener zurecht als strukturalistische Revolution bezeichneten Denkbewegung« zählt aus der Sicht Bourdieus, »der sozialen Welt gegenüber ein relationales Denken anzuwenden, das, in der modernen Mathematik und Physik vorherrschend, Reales nicht mit Substanzen identifiziert, sondern mit Relationen. Die ›soziale Wirklichkeit‹, von der Durkheim sprach, ist ein Ensemble unsichtbarer Beziehungen, die einen Raum wechselseitig sich äußerlicher Positionen bilden, Positionen, die sich wechselseitig zu einander definieren, durch Nähe, Nachbarschaft oder Ferne sowie durch ihre relative Position, oben oder unten oder auch zwischen bzw. in der Mitte usw.« (Bourdieu 1992: 138) Diesen Bruch mit dem »substantialistischen Denken« (Bourdieu 1987: 12) hat sich Bourdieu aber nicht nur für seine Analyse der Gesellschaft zunutze gemacht, die sich unter dieser relationalistischen Perspektive als ›sozialer Raum‹ von Elementen darstellt, deren Sinn sich allein aus ihrem Stellenwert, aus ihrer Position gegenüber anderen Elementen innerhalb dieses Raums ergibt. Seine feldtheoretischen Analysen sind von der nämlichen Perspektive getragen. So lässt sich aus seiner Sicht Heideggers Philosophie nur vor dem Hintergrund und durch ihre Einfügung in ein sowohl politisches als auch philosophisches Feld verstehen, das schon durch bestimmte Positionen gekennzeichnet und bestimmte Differenzen strukturiert war. Er selber hält als den »Kern meiner Analyse« fest, »daß die Wörter und, weitergehender, der Diskurs ihre umfassende Determinierung allein in einem pragmatischen Zusammenhang mit einem Feld erfahren« (Bourdieu 1988: 95) – jegliche feldtheoretische, relationalistisch argumentierende Analyse ist also gegen den »Anspruch des philosophischen Texts auf absolute Autonomie und die damit einhergehende Ableh-
erscheint es als eine Vereinfachung eines Beobachters zu sagen, was sich in einem solchen Prozeß einstellt, sei alles unter dem Namen Luhmann etwa abzuheften. In Wirklichkeit ist man demgegenüber doch getragen durch ein, ja, vielleicht kann ich ruhig sagen: durch ein intellektuelles Netzwerk, in dem man irgendeine Kombination selbst strickt. Ich glaube nicht, daß es viel Erklärungswert hat – außer einem ziemlich illusionären –, dies auf personalisierte Begriffe wie früher ›Genie‹ oder heute ›Intellektueller‹ oder was immer zurückzuführen.« (Luhmann 1987a: 21f.)
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nung jedes Außenbezuges« (ebd.: 10) und die »Untersuchung isolierter Individuen« (Bourdieu 1993: 80) gerichtet. Kaum einer der häufig mit dem Label des ›Strukturalismus‹ oder ›Poststrukturalismus‹ verbundenen Theoretiker hat die fundamentale Einsicht in die Relationalität oder Strukturalität des Sozialen derart pointiert formuliert und sie für konkrete Forschungen – eben beispielsweise zum Status Heideggers in einem komplexen kulturellen Feld – fruchtbar gemacht wie Bourdieu. Der Bruch mit dem Substanzialismus in der Wissenschaftstheorie impliziert, soziologisch gewendet, für ihn darüber hinaus ebenso einen »radikale[n] Bruch mit einer an der puren Unmittelbarkeit fixierten Denk- und Wahrnehmungsweise« (Bourdieu 1974: 19f.), die »als Natur auffaßt« (ebd.: 23), was lediglich Resultat des Systems von Positionen ist, in welches das vermeintlich Natürliche gestellt ist. Elemente haben keine an sich bestehende Funktion oder einen in ihnen ruhenden, natürlichen Sinn, sondern Sinn und Funktion sind insoweit variabel, als die Elemente in unterschiedlichen Feldern oder Systemen je andere Positionen innehaben können. Das ist die – von Bourdieu so zwingend nicht artikulierte – deontologisierende oder denaturalisierende Konsequenz seines Ansatzes. Es fehlt von hier aus nicht viel, diese so dezidiert artikulierte relationalistische Perspektive auf das Gegenstandsgebiet, auf das sie als Strukturalismus ursprünglich zurückgeht, zu beziehen: auf Texte, auf Theorien. Diese stellen sich dann, durch dieselbe Optik gesehen, ebenfalls als System oder Raum verschiedener Elemente dar, denen ›an sich‹ nicht der spezifische Sinn oder die bestimmte Funktion zukommt, die sie in diesem Zusammenhang erfahren. Die Antwort mithin auf die Fragen, wie man die Texte Adornos anordnet, welche man ins Zentrum oder in die Peripherie rückt, ob man einzelne Wendungen, Stichworte oder Passagen mit einem herausgehobenen Stellenwert versieht, wie groß man überhaupt den Umfang des Feldes von dessen Texten bemisst, verändert mit dem Stellenwert des Einzelnen auch den Sinn des Ganzen, das hier lediglich Effekt des Einzelnen und keine für sich bestehende Sphäre ist. Diese mit einer räumlichen, topologischen Metaphorik hantierende Konzeption von Relationalität lässt allerdings noch unterbelichtet, dass, in ihrer Verfertigung wie in ihrer Rezeption, Theorien keine derart statischen, in räumlicher Synchronie vorliegenden Gebilde sind. Sie müssen vielmehr sequenziell erarbeitet – also geschrieben und erdacht – und verstanden – also gelesen – werden. Der räumlich vorstellbare Zusammenhang von Begriffen, als der sich eine Theorie konstituiert, muss notwendigerweise in eine lineare, sequenzielle Form gebracht werden, und allein Rück- und Vorgriffe im Text sowie Querverweise auf andere Texte können diese mit der Textform gegebene, unumgängliche Linearität aufbrechen. Soweit ich sehe, hat allein Niklas Luhmann dieses problematische Verhältnis von Linearität und Nichtlinearität im Hinblick auf die Arbeit an einer Theorie reflektiert. Im Vorfeld seines grundlegenden Werks Soziale Systeme hat er in einem Vortrag En-
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de der siebziger Jahre konstatiert, dass sich »[a]nspruchsvolle Theorien […] nicht […] serialisieren« lassen. Die ihm »vorschwebende Gesellschaftstheorie könnte […] von der Theorie des Systems, von der Theorie der Evolution, von der Theorie der Kommunikation oder von Theorien über Sinn und Selbstreferenz aus«, also von je verschiedenen Elementen oder Teilgebieten der Theorie aus, geschrieben werden. »Jeder Einstieg, jeder Anfang ist mit nichtexplizierbaren Voraussetzungen belastet und daher für den, der bloß am Text entlangliest, kaum verständlich zu machen.« (Luhmann 2005: 197) So wie beim Schreiben der Theorie jeder punktuelle Einstieg, so setzt auch beim Lesen jedweder spezifische Anfang die im Moment inaktuellen theoretischen Elemente voraus, die erst im Nachgang expliziert werden können; das räumlich Gleichzeitige muss in eine Sequenz, in ein Nacheinander gebracht werden. Dieses mit so viel Aufmerksamkeit auf die kontingente, von Entscheidungen abhängige Gestalt einer Theorie verbundene Bewusstsein führt Luhmann in Soziale Systeme dann zum Zugeständnis, dass »[d]ie Theorie selbst […] auch in anderen Sequenzen dargestellt werden« könnte. »[S]ie erhofft sich Leser, die dafür hinreichend Geduld, Phantasie, Geschick und Neugier mitbringen, um auszuprobieren, was bei solchen Umschreibversuchen in der Theorie passiert.« (Luhmann 1987: 14) Bezieht man dieses temporalisierte Verständnis der Relationalität einer Theorie auf die Philosophie Adornos, so ergibt sich als Befund zunächst ein Problembewusstsein dafür, dass, je nachdem, welche Route die Lektüre durch sein Werk nimmt, sich andere Begriffe in den Vordergrund spielen und andere Vernetzungen als offensichtlich anbieten, sich je nach Kenntnis der Voraussetzungen bestimmte Wendungen verdunkeln und andere Formulierungen aufhellen werden. Die Abblendung alternativer Pfade und die Blindheit gegenüber anderen Möglichkeiten, Begriffe zu konfigurieren oder zu hierarchisieren, sind demnach gleichermaßen unvermeidlich wie problematisch. Und die Aufgabe besteht dann erneut lediglich darin, diese Problematik zu reflektieren und zu kontrollieren. Während diese Sichtweise Bourdieus und Luhmanns noch von einer zu einem Zeitpunkt gegebenen Vorstellung der Grundanlage einer Theorie und ihrer wesentlichen Begriffe ausgeht, hat Foucault stärker den problematischen Bezug von Leben und Theorie bedacht. Darauf komme ich gleich. (ii) ›Text‹ statt Werk. Zuvor möchte ich noch auf eine Position zu sprechen kommen, die die verbreitete Rede von ›Hauptwerken‹ zu problematisieren hilft. In Barthesʼ Rauschen der Sprache gibt es einen eigens der Stoßrichtung Vom Werk zum Text gewidmeten Abschnitt, in dem er nicht nur die Figur des Autors problematisiert, sondern auch dem Begriff der Intertextualität deutlichere Konturen verleiht. In einer gewissen Parallelität zur relationalen oder strukturalen Vorgehensweise Bourdieus ging es auch in der inzwischen weithin vergessenen Diskussion um Intertextualität darum, die Vorstellung des Werks als in sich abgeschlossenes, monolithisches und in seinem Sinn durch seinen Autor vollauf bestimmtes Gebilde zu
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problematisieren. So impliziert die Rede von Hauptwerken eines Autors oder einer Theorie zum einen, dass sie entweder das ›Zentrum‹ oder den ›Grund‹ bilden, von dem ausgehend sich der Sinn der anderen Texte dieses Autors oder dieser Theorie absehen und beherrschen lässt. Zum anderen liegt in diesem Modell die Folgerung nahe, dass ein solches wie ein Monolith einsam und selbstgenügsam dastehendes Hauptwerk isoliert verständlich ist. Demgegenüber macht Barthes darauf aufmerksam, »daß ein Text nicht aus einer Wortzeile besteht, die einen einzigen gewissermaßen theologischen Sinn (das wäre die ›Botschaft‹ des ›AutorGottes‹) freisetzt, sondern aus einem mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen: Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen.« (Barthes 2006 61) Das Modell des Texts ist – analog der Sprache – dezentriert: »ein System ohne Ende noch Zentrum« (Barthes 2006a: 67), ein Gewebe oder ein Netz von sich kreuzenden Fäden, »vollständig aus Zitaten, Verweisen und Echos gesponnen« (ebd.: 68), deren Sammlung in einem Werk immer nur der wehrhafte Versuch ist, ihrer Zerstreuung entgegenzuwirken.4 Das bedeutet jedoch nicht alsogleich, dass man im Falle Adornos die als Hauptwerke verstandene Negative Dialektik, die Ästhetische Theorie, die Philosophie der neuen Musik oder die Minima Moralia nicht als thematische Herde, begriffliche Knotenpunkte oder Sammlungen definitiver Formulierungen gewisser Fragestellungen verstehen kann. Es bedeutet zunächst lediglich ein Problembewusstsein solcher Zentrierungen und der mit ihnen einhergehenden Peripherisierungen anderer Texte. Ob und wieso diese implizit vonstatten gehenden Abdrängungen gerechtfertigt sein mögen, ist dann zumindest Gegenstand eines Reflexions- und Rechtfertigungsprozesses. Warum etwa die Metakritik der Erkenntnistheorie, die Drei Studien zu Hegel oder einzelne Texte aus den Noten zur Literatur keinen solchen verdichtenden, zentrierenden Charakter haben sollten, wäre dann eine offene Frage. Die Problematisierung der Kategorie des Hauptwerks und seiner zentrierenden, sammelnden Effekte sind umso triftiger für Derridas Texte. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass sich schon in der Grammatologie ein 4
»Text, Gewebe und Geflecht, das ist dasselbe«, schreibt Barthes andernorts (Barthes 1998: 160). Diese Metaphorik kehrt auch in der aus der Ästhetischen Theorie bekannten Wendung von der »der Penelope, die nächtens auftrennt, was sie des Tages gewirkt hat« (7/278) wieder oder in der Redeweise aus der Minima Moralia, Texte seien idealerweise »wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was da kreucht und fleucht.« (4/97) Die Zentrumslosigkeit oder Azentrizität des als Gewebe verstandenen Texts hat sowohl Luhmann (Luhmann 1987 15; Luhmann 2005: 197) als auch Adorno (VLEinfDia: 242ff.) dazu bewogen, überdies auf die Metaphorik des ›Labyrinths‹ zurückzugehen. Ich will dies hier nur im Vorbeigehen festhalten, da es gegen Ende der Arbeit nochmals, im Hinblick auf den Begriff des ›Kraftfelds‹ wichtig werden wird und es sich nicht um ›bloße‹ Metaphorik handelt.
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Abschnitt über das ›Ende des Buchs‹ (Derrida 1983: 16-48) findet, auf den Derrida wenige Jahre vor seinem Tod in einer Diskussionseröffnung mit dem Titel Das kommende Buch zurückkommt.5 Wenn er dort auf diesen Abschnitt der Grammatologie zu sprechen kommt, so macht er nicht nur klar, dass dort die geläufige Form des Buchs als kultureller Gegenstand, aber auch das theologische Modell des Buchs der Welt und der enzyklopädischen Sammlung des Wissens gemeint war. (vgl. Derrida 2006e: 28f.) Er weist überdies auf etwas hin, das heute, zwanzig Jahre später, erst vollauf Aktualität gewonnen hat: »Wird man noch lange fortfahren, einen Ort Bibliothek zu nennen, der in seinem Depot im Wesentlichen keine Bücher mehr versammeln würde«, sondern »elektronische Texte ohne Träger aus Papier, Texte, die kein abgeschlossenes und abgrenzbares corpus oder opus/œuvre/Werk mehr wären, Ensembles, die nicht einmal mehr Texte bilden würden, sondern offene textuelle Prozesse […], mit aktiver oder interaktiver Intervention des nun zum Co-Autor gewordenen Lesers« (ebd.: 21)?6 Diese Frage nach der Zukunft und nach den zukünftigen Funktionen von Bibliotheken ist heute im selben Maße virulent, wie die Effekte des neuen »Raum[s] des Schreibens und Lesens der elektronischen Schrift, die mit vollem Tempo von einem Punkt der Welt zum anderen reist« (ebd.: 29), heute zahllose ungeklärte Fragen aufwerfen etwa hinsichtlich der Umschlaggeschwindigkeit des Wissens, der Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen, der Legitimität von Sprecherpositionen etc. Derrida hatte also ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Transitorik der kulturellen Kategorie ›Buch‹ und für die potentiell problematischen, nämlich zentrierenden Effekte, die aus ihr hervorgehen können. Darum sind auch die vielfach als ›Grundlegung‹ oder als ›Hauptwerke‹ verstandenen drei Bücher Grammatologie, Die Schrift und die Differenz und Die Stimme und das Phänomen »anything but a great matrix work. What I wrote were articles, not books; it was all a sort of confluence of 5
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Foucault hat nur wenige Jahre später, ohne Verweis auf Derrida, eine ähnliche Kritik an der Einheit des Buchs artikuliert: »Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz. Und dieses Spiel der Verweise ist nicht gleichförmig, wenn man es mit einem mathematischen Traktat, einem Textkommentar, einer historischen Erzählung, einer Episode in einem Romanzyklus zu tun hat; hier und da kann die Einheit des Buches, selbst wenn sie als Bündel von Beziehungen verstanden, nicht als identisch betrachtet werden.« (Foucault 1981: 36) »Und der vorliegende Text ist denn auch die lineare Version – eine Version unter möglichen anderen – eines zunächst in ›Hypertext‹ geschriebenen Buches, das keine bestimmte Reihenfolge seiner Lektüre vorschreibt und später auf Diskette erscheinen wird«, schreibt Geoffrey Bennington (1994: 22) über seinen in engem Kontakt mit Derrida entstandenen Text Derridabase aus der Frühzeit des Internet Anfang der neunziger Jahre. Darin bestätigt sich nochmals die Relevanz von Luhmanns oben zitierter Überlegung zur Sequenzialität der Produktion und Rezeption von Theorien.
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small texts, none of which on its own was sufficient to make up a book.« (Derrida/Ferraris 2001: 29) Wenn er später in diesem Gespräch erklärt: »I always operate through small oblique essays. […] I think the form of the systematic, encyclopedic or circular book is impossible; and in Of Grammatology I started off by saying: that’s it, no more books« (ebd.: 81), dann ist das nichts anderes als die Konsequenz einerseits aus der Infragestellung eines von einem Zentrum ausgehenden Philosophierens oder Aufbaus einer Theorie und andererseits aus der erwähnten Problematisierung der Form ›Buch‹. Daraus erklärt sich auch die verbreitete Schwierigkeit, die Hauptbegriffe Derridas anzugeben, die einzelnen Texte in eine Rangfolge nach Relevanz zu bringen oder eine konsistente, in Form eines Aufbaus gestaltete theoretische Entwicklung in seinem Werk nachzuzeichnen. (iii) Instabilität des Korpus. Abschließend möchte ich als dritten Gesichtspunkt von Theorien die Frage nach der Einheit eines Werks und seinem Bezug zum Leben seines Autors antippen. Michel Foucaults bereits angesprochener Vortrag Was ist ein Autor? von 1969 ist vor allem für seine Problematisierung der Autorkategorie bekannt geworden. In ihm – und in der im selben Jahr veröffentlichen Archäologie des Wissens – findet sich aber ebenso eine Kritik an der naiven Rede von der Einheit des Werks eines Autors. Foucault formuliert dort eine Reihe von Fragen, die zumeist außen vor bleiben, für die Befragung der Homogenität einer Theorie jedoch von besonderer Relevanz sind. Er fragt dort: »Was ist ein Werk? Worin besteht diese merkwürdige Einheit, die man als Werk bezeichnet? Wie lässt sich aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?« (Foucault 2003: 240) Zählen dazu neben den veröffentlichten Werken nicht nur, wie bei Adorno, die Tonbandmitschnitte der Vorlesungen, sondern auch die Briefwechsel? Nicht nur die Aphorismen und Sentenzen, sondern auch eher alltagszugewandte Notizen? Die Randbemerkungen bei den Stichwörtern zu seinen Vorlesungen? Aufzeichnungen aus Gesprächen und Mitschriften aus Vorlesungen, die Adorno womöglich nicht autorisiert hat? Aufsätze aus der Schulzeit? »Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen bibliographischen Nachweis, einen Hinweis auf eine Verabredung, eine Adresse oder einen Wäschereizettel findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht?« (Ebd.) Die Reihe von Fragen, die von Foucault in dieser Weise aufgeworfen werden, betreffen nicht nur das alte Problem des Verhältnisses von Biographie und Werk, von Leben und Text. Sie richten die Aufmerksamkeit ebensosehr darauf, welche Texte, Passagen, Wendungen, Textsorten etc. in der Rezeption eine besondere Würdigung finden. Denn die Vorgänge solcher Relevanzzuweisungen beruhen, so Foucault, auf einer Reihe von stillschweigend vorgenommenen Entscheidungen und impliziten Normen. »Die Konstitution eines Gesamtwerks oder eines opus setzt eine bestimmte Anzahl von Wahlmöglichkeiten voraus, die nicht einfach zu rechtfertigen, ja nicht einmal einfach zu formulieren ist«, schreibt er in der Archäologie des Wissens (Foucault 1981: 37) in einem exakt derselben Problematik gewidmeten
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Abschnitt.7 »Das Wort ›Werk‹ und die Einheit, die es bezeichnet«, sind darum genauso »problematisch wie die Individualität des Autors.« (Foucault 2003: 241) »Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden«, so Foucault noch resoluter in der Archäologie des Wissens (Foucault 1981: 38). Was sich von diesen Fragen Foucaults her jedenfalls entwickeln lässt, ist zunächst ein Bewusstsein für die Schwierigkeit, im Falle verschiedener Autoren jeweils in der gleichen Weise von ›einer‹ ›Theorie‹ oder ›Philosophie‹ zu sprechen. Ein Autor, bei dem Leben und Werk eine schwer aufzulösende Verbindung eingegangen sind, ist der von Foucault selbst (ebd.) genannte Wittgenstein. In seinem Fall erweist sich auch die Antwort auf die Frage, in welcher Weise sein – auch in den von ihm veröffentlichten Werken vornehmlich aus ›Zetteln‹ und ›vermischten Bemerkungen‹ bestehendes – Werk eigentlich eine einheitliche, konsistente Theorie ist, als besonders schwierig. Die eigenartige Insistenz, mit der dort immer wieder dieselben Probleme und Fragen inmitten von mitunter banalen Alltagsnotizen oder rätselhaften Aufzeichnungen auftauchen, spiegelt womöglich getreulicher die Wechselfälle und Irrsale des Lebens wider als die so stark durchkomponierte Theorie Luhmanns oder die von architektonischen Erwägungen durchzogene Philosophie Kants. Die Formen von Theorien sind also an akademische, kulturelle und insbesondere textuelle Voraussetzungen (die sich, wie allerorten diskutiert, im digitalen Zeitalter in einem raschen Wandel befinden) gebunden, die man nicht einfachhin universalisieren sollte. Dass die Einleitung in die Negative Dialektik schlussendlich doch nicht das Syntagma von der ›geistigen Erfahrung‹ im Titel trägt, muss deshalb keinen sachlichen, inhaltlich belegbaren Grund haben. Es ist eine Frage der Interpretation, ob man Adorno unterstellt, bewusstermaßen anders vorgegangen zu sein, oder ob man meint, er habe dies – also ob nun ›geistige Erfahrung‹ im Titel steht oder nicht – für nachrangig gehalten. Auch dass es keinen dezidiert diesem Begriff gewidmeten Text von Adorno gibt, also einen Aufsatz mit diesem Begriff im Titel, muss
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Auch hier kehrt das Problem der Eingrenzung der unter die Kategorie ›Werk‹ zu subsumierenden ›Spuren‹, die ein Individuum nach seinem Tod hinterlässt, wieder: »[G]enügt es, den vom Autor veröffentlichten Texten diejenigen hinzuzufügen, die er in Druck zu geben vorhatte und die nur unvollendet geblieben sind, weil er gestorben ist? […] Muß man die verworfenen Skizzen hinzufügen? Und welchen Status soll man den Briefen, den Anmerkungen, den berichteten Gesprächen, den von Hörern niedergeschrieben Äußerungen, kurz: jenem ganzen Gewimmel sprachlicher Spuren geben, die ein Individuum bei seinem Tode hinterläßt und die in einem unbestimmten Verkreuzen so viele verschiedene Sprachen sprechen?« (Foucault 1981: 37) Man hat häufig – und Derrida selbst ebenfalls – den »gemeinsamen Gebrauch des Wortes Spur« (Derrida 2004b: 23) bei Lévinas und Derrida herausgestellt. Dass Foucault diesen Begriff ebenso benutzt, und auch noch in einem der ›Testamentarität‹ iterabler Elemente vergleichbaren Aspekt, scheint mir nicht so bekannt zu sein.
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nicht daran liegen, dass ihm eine bloß vernachlässigbare Bedeutung zukommt. Wenn Adorno sich zwar oft mit dem Gedanken getragen hat, eine Arbeit über den ihm so wichtigen Gedankenkreis von Musik und Dialektik – unter dem Titel ›dialektische Logik und Musik‹ – zu schreiben, diese aber nie in Angriff genommen hat (Adorno 2001a: 24, 35; VLPhilTerm: 865 Fn. 369), dann mag es generell so sein, dass das universitäre Eingebundensein und die den aktuellen Anfragen und Gelegenheiten nachkommenden Texte die Entwicklung solcher systematischer Begriffe und konzeptueller Zusammenhänge immer wieder unterbunden haben. Eine gewisse Konsistenz in der Verwendung und eine koordinierende Abstimmung der Begriffe aufeinander mögen also Kriterien einer Theorie sein. In welchem Grade diese allerdings vorliegen müssen, damit ein Textzusammenhang als Theorie gelten darf, ist eine interpretatorische Frage. In welchem Maße sie überhaupt gewährleistet werden können, ist eine Frage, die in Adornos Falle vielleicht seine Lebensumstände – seine biographische Doppeldisposition zu Musik und Philosophie, die Emigration, der frühe Tod etc. –, mehr als seine Option gegen eine abstrakte Definition von ›Grundbegriffen‹ und seine vermeintliche Abneigung gegen jegliche Form der ›Systematik‹, entschieden haben.
1.2 ›Poststrukturalismus‹ und ›Kritische Theorie‹ Die im Vorstehenden in unüblicher Breite dargelegten Gesichtspunkte, die bei der Untersuchung eines als Theorie deklarierten Textensembles im Auge zu behalten sind, haben nicht nur eine orientierende Funktion hinsichtlich des Vorgehens in der vorliegenden Arbeit. Sie betreffen ebensosehr die Frage der Zuordnung von Adorno und Derrida als den beiden Autoren, auf die ich mich hauptsächlich stütze, zu den Strömungen ›Kritische Theorie‹ und ›Poststrukturalismus‹. Obwohl in Sachen Theorie die so bewegten achtziger und neunziger Jahre mit ihren Polemiken und Verfemungen vorbei sind, werden beide Labels nach wie vor weitergeschleppt und zählen, zumindest innerhalb eines bestimmten akademischen Segments, zu den attraktiveren der auf dem Markt zirkulierenden Theorieangebote. Herkömmlicherweise würde man daher eine Arbeit wie die vorliegende als die Konfrontation dieser beiden Paradigmen verstehen. Solche Konfrontationen nicht anders als ihre Schlichtungsversuche sind seinerzeit oftmals aus einem der beiden ›Lager‹ heraus erfolgt. ›Kritische Theoretiker‹ und ›Postmodernisten‹ oder Poststrukturalisten lagen in einem verworrenen und unversöhnlichen Streit – um die Vernunft, das Subjekt, die Philosophie selber usw. Oftmals überschnitten sich die Linien des Disputs mit denen zwischen Deutschen und Franzosen, Verteidigern der Vernunft und Postmodernen, Aufklärung und Obskurantismus usw. Bei allem, was über solche Zuordnungen, Grenzziehungen und thematischen Festlegungen noch alles zu sagen wäre, wird man wohl sagen dürfen, dass es nicht mehr
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unsere Trennlinien und Dispute sind. Die nähere Untersuchung dieses Großzerwürfnisses mit all seinen Nuancen und in all seinen Einzelheiten ist darum, soweit ich sehe, eher von historischem Interesse; und einer kampflustigen Positionierung auf einer der beiden Seiten müsste eine Reise an ein von den Protagonisten schon seit längerem verlassenes Schlachtfeld vorausgehen. Heute beeindruckt es darum vielmehr, wie leicht von der Hand damals die Selbstzuordnung zu einem wahlweise ›deutschen‹, aufklärerischen, kritischen oder die Fremdzuordnung zu einem ›französischen‹, obskurantistischen oder reaktionären Denken ging. Dass es überhaupt ›deutsch-französischer Gedankengänge‹ (Waldenfels 1995) oder der Präsentation eines offenbar durch und durch ›französischen‹ ›Nietzsche aus Frankreich‹ (Hamacher 2003) bedurfte, erstaunt, denn gerade die Kritische Theorie hatte, zumindest in der von Jürgen Habermas fortgeschriebenen Traditionslinie, in den auf die sechziger Jahre folgenden Jahrzehnten eine offen ausgesprochene ›Westorientierung‹ erlebt. Wenn man überdies in Betracht zieht, dass Habermas diese Westorientierung gerade entgegen einer in der Nachkriegszeit im Theoriediskurs zu befürchtenden Deutschtümelei durchzuziehen bestrebt war, verwundert die homogenisierende Skepsis gegenüber jeglichem ›französischen‹ Denken umso mehr.8 Dabei hätten – und darum spreche ich bewusst von ›Homogenisierung‹ – all die oben ins Feld geführten Gesichtspunkte bei der Auseinandersetzung mit Theorien die Interpreten zu mehr Vorsicht, mehr Behutsamkeit, mehr Geduld veranlassen können. Denn, erstens: Die Begriffe einer Theorie erhalten ihren Stellenwert und ihren Sinn nur aus dem relationalen Zusammenhang mit anderen Begriffen – und darum macht es einen markanten Unterschied, wie man diesen Zusammenhang
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In seinem Brief an Christa Wolf aus den frühen neunziger Jahren (Habermas 1995: 101-111), um nur ein Beispiel zu geben, spricht er von der intellektuellen Stimmung nach dem Ende des zweiten Weltkriegs als einer »als Emanzipation erfahrene[n] Orientierung nach Westen«. Dazu zählten zwar einerseits, wie er danach aufzählt, der Pragmatismus, die analytische Philosophie und der Positivismus, andererseits aber »waren für uns die aus dem Westen zurückkehrenden Emigranten von größerer Bedeutung als das verquaste Eigene, das sich durch die NS-Zeit hindurch erhalten hatte.« (Ebd.: 108f.) Adorno war nun genau deshalb der für Habermas wohl wichtigste »Kritiker des Falschen im Eigenen«, weil er dazu verhalf, das »westlichhumanistische Erbe aus der deutschen Tradition selbst heraus[zu]heben« (ebd.: 130f.) und so den »antiwestlichen Popanz einer ›deutschen‹ Philosophie« zu denunzieren. Wenn Albrecht Wellmer 1984 (Wellmer 1986: 27) über die Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie meinte, sie habe sich damals als eine Position erwiesen, »von der her sich einerseits die reaktionären, repressiven und kulturfeindlichen Aspekte der deutschen kulturellen Tradition analysieren ließen; von der her sich aber andererseits auch die subversiven, aufklärerischen und universalistischen Züge dieser Tradition sichtbar machen ließen«, dann liegt das auf einer Linie mit Habermas Interpretation von Adornos Rolle in der Vermittlung zwischen ›Deutschland‹ und ›dem Westen‹.
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komponiert und welche Elemente in den Zusammenhang wechselseitiger Erhellung eintreten. Und, zweitens: Die Kategorie des Hauptwerks ist ein historisches Institut und kein Absolutum – und deshalb sollte die Auseinandersetzung mit ihm stellvertretend für die mit einer Theorie zumindest von einem Bewusstsein der Grenzen, die eine so angelegte Auseinandersetzung hat, begleitet werden. Drittens: Ebenso ist das Unterschiedensein von Individuum und Text und das komplizierte Einzirkeln desjenigen, was von den über das Leben des Individuums hinausreichenden Spuren dessen Werk ausmacht, ein Hindernis für die Suche nach allzu simplen Verflechtungen und durch Lebenszeugnisse vermeintlich legitimierten Interpretationsentscheidungen. Warum etwa sollte gerade der Umstand, dass Adorno und Derrida ›jüdisch‹ waren, für die Interpretation von deren Texten relevant sein, während um die ›christliche‹ Abkunft von Theoretikern zumeist nicht ein solches Gewese gemacht wird? Zumal die leichtsinnige Redeweise von ›jüdischen Philosophen‹ alle Differenzen unter den Tisch fallen lässt, indem sie suggeriert, die jüdische Identität meine im Falle von Adorno, Derrida, Lévinas oder, warum nicht, Hermann Cohen stets dasselbe, wo es doch keine sonderliche Einsicht ist, dass diese plural, schwierig zu bestimmen und ihre Effekte auf die jeweilige Theorie nochmals schwerer zu beurteilen sind. Der Poststruktralismus, die französische Mentalität, die Kritische Theorie, der Westen – dass solche Kategorien vereinheitlichende, oft von impliziten Normen oder Interessen (theorie-)politischer Art gesteuerte Konstrukte sind, dürfte so sehr in verschiedenste Theorieströmungen und Diskussionszusammenhänge eingegangen sein, dass man es kaum noch als genuin poststrukturalistische Einsicht ansehen können wird. Das hat, wenn man so möchte, die unfreiwillige Hilflosigkeit und Komik der Diskussion der letzten Jahre, worin nun genau die gemeinsame ›deutsche‹ Identität – ›preußische‹ Tugenden wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Ehrlichkeit, der Handschlag als Grußform, Brezeln und Bier usw. – bestehen mag, gezeigt. Wenn es jedoch etwas gibt, das man mit dem ›Poststrukturalismus‹ womöglich zurecht assoziiert, dann ist es erstens die Insistenz solcher Problematisierungen und zweitens ein besonders wachsames Bewußtsein für die Kontingenz und Nicht-Natürlichkeit von Grenzziehungen jedweder Art. Es kann daher kaum verwundern, dass sich Derrida an mehreren Stellen in seinem Werk mit dem Argument mangelnder Präzision gegen solche Etikettierungen gewehrt hat.9 An einer 9
»Ich bin auch über eine gewisse Voreiligkeit schockiert, mit der man über Marxʼ Gespenster oder meine Arbeit im Allgemeinen als eine bestimmte Art spricht, als einen Fall oder ein Beispiel der ›Gattung‹ Postmodernismus oder Poststrukturalismus. Es handelt sich da um sehr dehnbare Begriffe, unter die die am wenigsten informierte öffentliche Meinung (und meistens die große Presse) so ziemlich alles fasst, was sie nicht mag oder nicht versteht, angefangen mit der ›Dekonstruktion‹. Ich betrachte mich weder als einen Poststrukturalisten noch als einen Postmodernisten. Ich habe oft erklärt, warum ich diese Wörter fast nie benutze, außer um zu sagen, dass sie für das, was ich zu tun beabsichtige, unangemessen sind.« (Der-
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für diese Diskussion bemerkenswertesten Stellen hat er überdies darauf aufmerksam gemacht – und das dürfte im deutschsprachigen Raum ja immer noch ein wichtiger, diskutierenswerter Umstand sein –, dass das Wort ›Poststrukturalismus‹ »in Frankreich unbekannt ist, außer wenn es aus den Vereinigten Staaten ›zurückkommt‹« (Derrida 2013: 18). Während das in den deutschsprachigen Texten der achtziger und neunziger Jahre vorherrschende Klima dem Eindruck Vorschub leisten konnte, es handele sich bei den Autoren aus Frankreich um eine (auch ›politische‹) ›Bewegung‹10 , nimmt es sich bei den heutigen Verwendungen des Etiketts in den disziplinär nicht mehr so strikt getrennten Sozial- und Kulturwissenschaften so aus, als gehe es, trotz der zugestandenen Disparatheit, beim Poststrukturalismus um eine Art sozialwissenschaftliche ›Forschungsheuristik‹ (vgl. Moebius/Reckwitz 2008). Es könnte aber doch sein, dass es sich dabei primär um ein Rezeptionsartefakt handelt, das sich vor allem über den Umweg durch die Aufnahme französischsprachiger Autoren in den USA herausgebildet hat, wie Derrida nahelegt. Wenn es richtig ist, dass sich der Poststrukturalismus genauso wie »der Dekonstruktivismus hauptsächlich im Bereich der literary studies entwickelt hat« (Derrida 1997: 52), dann könnte dies nicht nur zum Missverständnis der Dekonstruktion als lehrbarer Technik oder Methode zur Analyse von Texten geführt haben.11 Ebenso könnte es den Effekt gehabt haben, dass man dem Poststrukturalismus einen falschen Stellenwert im Feld der französischen universitären Kultur zugesprochen und die zu ihm gezählten Autoren nicht mehr in ihren anderen, vielleicht bedeutsameren und ebenso möglichen Zugehörigkeiten gesehen hat. Hätten die Texte von Julia Kristeva, Michail Bachtin und Roland Barthes eine breitere und
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rida 2004a: 42) »Der Erfolg des Wortes Dekonstruktion ist zweifellos auf die Tatsache zurückzuführen, daß man die Dekonstruktion offenbar wie einen Antistrukturalismus empfunden hat, einen Poststrukturalismus, wie man in den Vereinigten Staaten oft sagt. Ich habe mich niemals dieses Wortes bedient.« (Derrida 1987a: 72) Das betrifft auch das – in Deutschland nicht so verbreitete – Etikett des ›Achtundsechzigerdenkens‹. (Derrida 2005: 36; Derrida/Roudinesco 2006: 21f., 32-35). Dieser Eindruck ist gewiss auch auf den Einfluss Nietzsches und Heideggers zurückzuführen, denen man einen massiven, durchdringenden Einfluss auf sämtliche Poststrukturalisten unterstellt hat. (vgl. dazu Derrida selbst 1987a: 67f.) Auch die populäre Übersichtsdarstellung von Vincent Descombes (1981) mit ihren drei ›H’s‹ (Husserl, Heidegger, Hegel) und ›Meistern des Zweifels‹ (Nietzsche, Freud, Marx) stützt diesen Glauben. Dieses Verständnis der Dekonstruktion gehört vermutlich zu den am weiten verbreitetsten Vorurteilen überhaupt, und Derrida selbst schon hat sich verschiedentlich dagegen verwahrt. Ich komme ganz am Schluss dieser Arbeit nochmals darauf zurück. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass selbst ein sich nur stellenweise auf Derrida beziehender Leser wie Luhmann (1995: 371 Fn. 86) bereits 1993 mokant anmerkte, »daß Amerikaner mit ihrem aufs Praktische gerichteten Sinn ›Dekonstruktion‹ für eine Methode halten und sie, vor allem in den Literaturwissenschaften, aber auch in einigen Rechtsschulen, anzuwenden versuchen. Das widerspricht jedoch dem ursprünglichen Sinn des Begriffs«. Welcher dieser ›ursprüngliche Sinn‹ ist, erklärt Luhmann jedoch nicht.
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nachhaltigere Rezeption in Deutschland erfahren, so wäre Derrida vielleicht vor allem als Intertextualitätstheoretiker – oder, wie Manfred Frank es in seinen diesbezüglichen Texten in den achtziger Jahren nannte: als ›Texttheoretiker‹ – rezipiert worden. Hätte man die gegenüber de Saussure dominierende Rolle Husserls und das von Lévinas inspirierte Thema der Alterität in den Texten Derridas noch stärker prononciert, die Konflikte mit Lacan, Lévi-Strauss und Focault hervorgehoben und den Mangel an Bezügen zu Gilles Deleuze zur Kenntnis genommen, dann firmierte Derrida heute vielleicht eher als Phänomenologe denn als Poststrukturalist.12 Das nämliche gilt für die Figuren des ›Unmöglichen‹ und des ›Kommens‹, des im Kommen Bleibens, die eher auf Georges Bataille und Maurice Blanchot zurückweisen – und das wäre nochmals eine andere Traditionslinie, eine andere Zugehörigkeit Derridas.
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Hans-Dieter Gondek forderte in einer Rezension denn auch einmal: »Die häufige Titulierung Derridas als ›Strukturalisten‹ (bzw. ›Post-‹ oder ›Neostrukturalisten‹) setzt falsche Akzente und ist im Verhältnis zum phänomenologischen Strang zu relativieren.« (Gondek 1993: 163)
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
Nebenbei bemerkt, ist dieses Motiv von der Notwendigkeit der Widersprüche, das bei Kant zwar auf der einen Seite aus der Vernunft und ihrer Natur abgeleitet, dann aber in der Behandlung dieser Widersprüche nicht streng durchgehalten ist, eines der Motive, und ich würde sagen, weiß Gott, nicht das geringfügigste Motiv, an dem der Begriff einer philosophischen Dialektik überhaupt seinen Ansatzpunkt hat. Das heißt, nur wenn die Vernunft in Widersprüche notwendig gerät und wenn sie fortschreitet im Prozeß der Auflösung dieser Widersprüche, anstatt daß diese Widersprüche ein für allemal und so wie bloße Denkfehler sich wegräumen ließen, nur dann wird ja der Gedanke einer Dialektik als des Mediums des Denkens und der objektiven Wahrheit selber überhaupt zureichend motiviert, und deshalb möchte ich gerade auf dieses Moment so einen großen Wert legen. – Adorno: Probleme der Moralphilosophie (VLProbMoral: 51f.) Auf einem Bein stehend, würde ich sagen: Bei einer Analyse würde sich ergeben, daß die von Kant analysierten Phänomene ›nicht da‹ sind. Aber Kant ist auf Schritt und Tritt durch die Widersprüche der Gegenstände, auch wenn sie sich in der Erfahrung nicht vorfinden lassen […] hindurchgedrungen. […] Ich habe solche Begriffe, denen keine Erkenntnis entspricht, aporetische Begriffe genannt. Es ist das Maß für die Tiefe einer Philosophie, inwieweit sie aporetische Begriffe enthält, d.h. Begriffe, die Widersprüche in sich entfalten. Die tiefsten Denker sind diejenigen, bei denen die Widersprüche der Realität, in die jede Bewußtseinsphilosophie geraten muß, ausgetragen, aber nicht geglättet werden. – Adorno: Der Begriff der Philosophie (1992: 86)
Bevor ich in den Hauptteil einsteige, möchte ich hier einen Abschnitt einschieben, der sich mit einer anderen, in dieser Arbeit nicht zentral verfolgten Option befasst, Adorno und Derrida aufeinander zu beziehen. Diese Option mit etwas schärferen Umrissen zu versehen, bietet zugleich die Möglichkeit, sich von einem der luzidesten und fruchtbaresten Versuche der Zusammenschau der beiden Autoren abzusetzen. Die Sichtung der Desiderata, der ungeklärt bleibenden konzeptuellen
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Dimensionen im Werk beider Autoren, dient dann der Überleitung in den eigentlichen Hauptteil der Arbeit.
2.1 Derridas Aporien Adorno wie Derrida haben vielfach von Aporien (eher Derrida) und Antinomien (eher Adorno) sowie von ›Paradoxien‹, ›Unentscheidbarkeiten‹, ›Widersprüchen‹, ›Spannungen‹ oder ›double binds‹ gesprochen. Diese Begrifflichkeit geht, wie Derrida an zumindest drei Stellen seines Werks klargestellt hat, auf Aristoteles (Aporie) und Kant (Antinomie) zurück (Derrida 1998j: 176; Derrida 2006d: 203 Fn. 39; Derrida 1998k: 29ff.; Derrida 1993: 40ff.).1 Derrida bekennt sich dort zum einen zu dem »Privileg […], das ich beständig dem aporetischen Denken gebe«, und erkennt auch an, »was dieses Denken zweifellos den Aristotelischen Aporien schuldet beziehungsweise […] den Kantischen Antinomien.« Er weist jedoch ebenso darauf hin, diesen bei Aristoteles und Kant, also im Herzen der philosophischen Tradition schon auffindbaren aporetischen bzw. antinomischen Konstellationen »eine ganz andere Wendung gegeben« (Derrida 2006d: 203 Fn. 39) zu haben. Das betrifft zum einen das Gebiet, in dem sich Aporien auftun. Das sind bei Derrida nicht mehr die zeittheoretischen Aporien Aristoteles’, auf die Derrida selber verweist.2 Es sind aber ebensowenig diejenigen Antinomien, die sich in Kants Kritik der reinen Vernunft analysiert finden. Vielmehr sind es die aporetischen, spannungsvollen Konstellationen zwischen dem singulären Ereignis und seiner Wiederholbarkeit, zwischen dem einzigartigen Geschehnis und dem iterablen Datum, zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit des Idioms, die in der Übersetzung zum Austrag kommt, zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, zwischen Vergebung und Verzeihen, zwischen der Ökonomie des Möglichen und der unmöglichen Gabe usw. Überdies sind viele der von Derrida verwendeten
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Einige der wichtigeren Stellen für die Begrifflichkeit von Antinomie und Aporie bei Derrida sind Derrida 1988: 14; Derrida 1988e: 127, 131ff., 179ff.; Derrida 1991: 33ff., 44ff., 53ff.; Derrida 1992: 33, 52f., 58, 91; Derrida 1994a: 163ff.; Derrida 1997a: 56, 128, 144f.; Derrida 1998e: 364; Derrida 1998i: 71f., 120f.; Derrida 1998j: 176; Derrida 1999: 83f., 99; Derrida 2000: 31, 37f.; Derrida 2000a: 84, 113f.; Derrida 2001a: 11, 17; Derrida 2003: 50f.; Derrida 2003d: 19ff., 128f.; Derrida 2003f: 136; Derrida 2006l: 111f.; Derrida 2006c: 55, 58, 73ff., 76ff., 117, 123f.; Derrida 2006d 162f.; Derrida 2007c: 60ff. Bemerkenswert ist dabei, dass sie in den früheren Schriften (also etwa Die Stimme und Phänomen, Die Schrift und die Differenz, Grammatologie usw.) kaum auftaucht. Vgl. die ursprüngliche Stelle zur aristotelischen Aporie der Zeit in Ousia und Gramme (Derrida 1988b: 64ff., 77, 80f.), später in Falschgeld (Derrida 1993: 41f.) und in Aporien (Derrida 1998k: 30ff.).
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
figürlichen Begriffe selber aporetisch strukturiert: Das Gespenst ist zugleich sichtbar und unsichtbar, das Hymen und der Parasit sind zugleich innen und außen, das Pharmakon vagiert unentscheidbar zwischen Gift und Heilmittel usw.3 Diese nach einzelnen Figuren differenzierbare Aporetik strukturiert nicht nur die zeittheoretischen – ein Ereignis, das eintrifft, ohne anzukommen; eine Vergangenheit, die, geschehen, doch niemals Gegenwart war; eine Trauer, die gedenkt, ohne anzueignen – und die auf den Begriff der Iterabilität bezogenen Areale – eine authentische, originäre Signatur, die zugleich wiedererkennbar, reproduzierbar sein muss; ein unauslöschliches, einzigartiges Geschehnis, das in einem Datum dennoch eine markierte, wiederholbare Form erhält; das traumatische Ereignis, das sich in eine Pluralität von Wiederholungen, die es ausagieren, übersetzt – von Derridas Philosophie. Ebenso sind diejenigen Texte, die man der praktischen Philosophie zuschlagen könnte, von Situationen gekennzeichnet, in denen es eine »Probe der Antinomie (in Form etwa des doppelten Zwangs, der Unentscheidbarkeit, des performativen Widerspruchs usw.)« (Derrida 1992: 59) auszuhalten gilt und in denen es sich »um Widersprüche oder Antagonismen zwischen […] imperativen Gesetzen« (Derrida 1998k: 35) handelt, denen gleichermaßen nachgekommen werden muss. Diese praktischen Aporien lassen sich wiederum – ohne Vollständigkeitsanspruch – in drei Figuren oder Gebiete untergliedern: (i) démocratie à venir; (ii) Gerechtigkeit, Vergebung und Gabe; (iii) Gastfreundschaft. Derrida hat insbesondere die letzten vier Figuren – also Gerechtigkeit, Vergeben oder Verzeihen, Gabe, Gastlichkeit – in einem seiner letzten Vorträge nochmals unter einer vereinheitlichenden Perspektive gewürdigt und als »metonymische[] Figuren des Unbedingten« markiert (Derrida 2006d: 199ff.).4 Ich will die drei davor genannten Themenkreise hier skizzenhaft charakterisieren, weil Derrida an jedem einzelnen von ihnen charakteristische Züge von Aporien hat hervortreten lassen, die er systematisch gesammelt nicht nochmals formuliert hat.
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»Was für ›hymen‹ gilt, gilt mutatis mutandis für alle Zeichen, die wie pharmakon, Supplement, différance und einige andere einen doppelten, widersprüchlichen, unentscheidbaren Wert haben«, so Derrida in Die zweifache Séance (Derrida 1995a: 247). Ähnliche zusammenschauende Formulierungen zu solchen aporetischen, unentscheidbaren Figuren finden sich in Derrida 1998a: 95; Derrida 2009a: 67f. Vgl. zum pharmakon Derrida 1995: 106ff., 141ff. In seinem Vortrag Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen (Derrida 2003: 25-40) wiederum hat Derrida fünf exemplarische Figuren angeführt, um seinen spezifischen Begriff des Unmöglichen zu konturieren: das Geständnis, die Gabe, die Vergebung, die Erfindung und die Gastlichkeit. All diese Figuren sind Wege, sich diesem Begriff eines nicht negativen und nicht rundweg als den bloßen Gegensatz des Möglichen zu verstehenden Unmöglichen zu nähern. Darum stellt Derrida diese Figuren dessen, »was ich unter den Titel des Un-möglichen stelle, dessen, was auf (auf nicht-negative Weise) dem Bereich meiner Möglichkeiten […] fremd bleiben muß«, in Schurken (Derrida 2006c: 120) auch dem Kantischen Begriff der regulativen Idee entgegen.
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(i) Die ›démocratie à venir‹ als exponierteste Figur der politischen Philosophie Derridas ist gleich von zwei, einander wechselseitig hervortreibenden Aporien gekennzeichnet. Aporetisch ist diese Form des Politischen zum einen deswegen, weil sie »immer unzugänglich bleibt, nicht einfach als eine regulative Idee, sondern auch, weil sie strukturiert ist wie ein Versprechen und wie ein Verhältnis zur Andersheit, weil sie nie die identifizierbare Form der Präsenz oder der Selbstpräsenz besitzt.« (Derrida 1994e: 140; Hervorhebung DJ) Sie ist also nicht allein zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt unzugänglich, unidentifizierbar und nicht präsent; sondern sie bleibt 5 impräsentabel, sie ist nur in der Weise des Entzugs gegeben. Das bedeutet zunächst einmal nur, dass sie einen überschießenden Gehalt in sich verwahrt, dass sie, schlichter gesagt, ein Ideal ist, das, als Ideal, mit keiner seiner empirischen Realisationsformen übereinstimmt.6 Es ist diese Uneinholbarkeit der ›démocratie à venir‹ für sich selbst, ihre dilemmatische Konstitution als etwas, das sich in seiner empirischen Konkretion nur verfehlen kann, die dazu führt, dass sie im Kommen, aufgeschoben, in ›différance‹ bleibt. Allerdings ist sie noch in einer zweiten Weise aporetisch strukturiert, also zwischen zwei Polen oder Forderungen aufgespannt. »Das ›Kommende‹ [l’à venir‹] bezeichnet« in diesem Fall, so Derrida in Schurken (Derrida 2006c: 123f.), »nicht nur das Versprechen, sondern auch, daß die Demokratie niemals existieren wird im Sinne von gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird (Gewalt ohne Gewalt, nicht kalkulierbare Singularität und berechenbare Gleichheit, Kommensurabilität und Inkommensurabilität, Heteronomie und Autonomie, unteilbare und teilbare, nämlich teilhabbare Souveränität, ein leerer Name, ein leeres Nomen, ein verzweifelter oder verzweifelnder Messianismus usw.).« Diese zweite Form der Aporetik der kommenden Demokratie betrifft nun weniger ihren zeitlichen Status (»weil sie
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Zu diesem Bleiben vgl. etwa Derrida 2006c: 129: »Wenn mir gelegentlich die Formulierung unterlaufen ist, daß sie im Kommen ›bleibt‹, so bleibt dieses Bleiben – wie stets in meinen Texten, zumindest seit Glas –, bleibt diese ausbleibende, unerledigte Demokratie jeder Abhängigkeit von einer Ontologie entzogen.« Ich komme weiter unten nochmals auf diese wichtige, insbesondere zeittheoretisch intrikate terminologische Pointierung zurück. Vielfach hat sich Derrida gegen eine Konfundierung zwischen dem zeitlichen Status des àvenir, des Im-Kommen-Bleibens und Kants Redeweise von einer regulativen Idee gewandt. So würde er »zögern, wenn es darum ginge, diese ›Idee der Gerechtigkeit‹ mit einer regulativen Idee im Sinne Kants […] gleichzusetzen« (Derrida 1991: 52; vgl. auch Derrida 2006k: 331). Dennoch scheint mir für eine erste Annäherung diese Begrifflichkeit zweckmäßig, wenn man denn kenntlich macht, dass sie Derridas Überlegungen in ihrer Spezifik nicht vollumfänglich gerecht wird. Derrida selber scheut sich denn auch nicht, in Marxʼ Gespenster (Derrida 2004: 89) von »einer Idee der Gerechtigkeit […] und einer Idee der Demokratie« zu sprechen – ohne die komplizierenden Vorkehrungen, die er sonst solchen unbedarften Formulierungen beigesellt. (vgl. dafür etwa Derrida 1992: 57)
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
aufgeschoben wird« – weil sie nur als sich Entziehendes gegeben, nur als Unzugängliches zugänglich ist), sondern vielmehr ihre innere »Struktur«, wie Derrida sagt, denn sie muß zwei miteinander widerstreitenden Forderungen nachkommen, zwei sich ausschließende Imperative übereinbringen. Sie muss vergleichen – und die Singularität achten; sie muss berechnen, kalkulieren – und sich dem Unberechenbaren öffnen; sie muss ein leerer Name bleiben – und sich dennoch in wechselnden Strukturen, Bestimmungen und Konkretionen manifestieren. Diesen die politische Form der kommenden Demokratie durchziehenden Imperativen zu gehorchen kann dabei nicht meinen, sie in Bereiche oder nach Zuständigkeiten aufzuteilen (Instanzen für jeweils einen der Imperative) oder sie nacheinander abzuarbeiten (Perioden oder Sequenzen für jeweils einen der Imperative). Für Derrida bilden sie mitsammen vielmehr deswegen eine Aporie, weil sie sich immer zugleich stellen, weil wir das eine nicht ohne das andere, weil wir – und diese mediale Formulierung (›durch…hindurch‹) der Aporie wird bei Adorno gleich noch belangvoll werden – das eine nur durch das andere hindurch zu vollziehen vermögen. Die Aporie nimmt so die Konstellation zweier Züge an, die sich wechselseitig unterminieren. »Das kalkulierbare Maß gestattet auch den Zugang zum Unberechenbaren und Inkommensurablen, einen Zugang, der notwendigerweise zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren unentschieden bleiben muß; und dort liegt die Aporie des Politischen und der Demokratie.« (Derrida 2006c: 80; Hervorhebung DJ) Die Aporetik der ›démocratie à venir‹ liegt, um diesen Abschnitt abzuschließen, also in diesem unauflöslichen double bind zweier einander ausschließender Forderungen. Weil sie aber unauflöslich oder »unentschieden« bleiben muss, kann diese Form des Politischen keine finale, definitive, in der Zukunft auffindbare Manifestation gewinnen. Die Aporetik ihrer inneren Struktur resultiert in ihrer temporalen Aporetik, da zu sein, ohne da zu sein. Das ist das wechselseitige Ineinandergreifen der beiden Aporien – der praktischen oder ›strukturellen‹ und der zeitlichen –, das ich im Zuge der skizzenhaften Erläuterung von Derridas Überlegungen zu einer kommenden Demokratie habe deutlich werden lassen wollen. (ii) Es gibt noch einen zweiten Bereich von Derridas Problemen der praktischen Philosophie gewidmeten Texten, der in der nämlichen Weise von einer inneren Aporetik strukturiert ist. Das ist das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, das – genau wie die Rede von der kommenden Demokratie und der unbedingten Gastfreundschaft – in der Rezeption seiner Philosophie eine besondere Aufmerksamkeit gefunden hat (vgl. exemplarisch Haverkamp 1994, Bonacker 2001).7
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Die Aporetik der Gerechtigkeit ist zudem einer der wenigen Punkte, an dem Derrida selber auf Adorno zu sprechen kommt. Wichtig und brisant ist dies nicht nur, weil Derrida sich selten auf Adorno bezogen hat (vgl. Derrida 2003d: 100 Fn.; Derrida 2003b; Derrida 1998l: 255, 262). Von besonderer Relevanz ist es deswegen, weil er dort ein Thema anspricht, das
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Den maßgeblichen Ausgangspunkt für dieses aporetische Verhältnis bildet Derridas vielfach gewürdigter Vortrag über Gesetzeskraft. Dort unterscheidet er drei Aporien oder drei Aspekte derselben Aporie (vgl. Derrida 1991: 46-59): die Spannung (i) zwischen allgemeiner Regel und singulärem Fall, (ii) zwischen Entscheidung und Unentscheidbarkeit und (iii) zwischen Dringlichkeit und Aufschub bzw. Im-Kommen-Bleiben der Gerechtigkeit. »Im Grunde« allerdings, wie Derrida selber vermerkt, »handelt es sich um eine einzige Aporie« (ebd.: 44) Diese Aporie folgt aus der Unterscheidung zwischen einer Gerechtigkeit, »die unendlich ist, unberechenbar, widerspenstig gegen jede Regel«, und ihrer »Ausübung in Gestalt des Rechts, der Legitimität oder Legalität« als einem »System geregelter, eingetragener, codierter Vorschriften« (ebd.: 44f.). Das Besondere an der Unterscheidung zwischen dieser unendlichen, jede bestimmte und endliche Ordnung übersteigenden Gerechtigkeit und der je besonderen, spezifischen und begrenzten Ordnung des Rechts liegt darin, dass sie nicht voneinander getrennt, nicht separat voneinander befolgt werden können, sondern auf aporetische, spannungsvolle Weise aufeinander bezogen sind. Schärfer noch als in der Aporie der ›démocratie à venir‹ hat Derrida hier darauf aufmerksam gemacht, dass Recht und Gerechtigkeit, das Mögliche und das Unmögliche, das Endliche und das Unendliche hier nicht durch einen Unterschied getrennt oder von einem Gegensatz auseinander gehalten sind: »Das Recht enthält aber den Anspruch einer Ausübung, die im Namen der Gerechtigkeit geschieht; die Gerechtigkeit wiederum erfordert, daß sie in einem Recht sich einrichtet« (ebd.: 46). Mithin schließt die »Heterogenität zwischen Gerechtigkeit und Recht […] ihre Unzertrennlichkeit keineswegs aus«, sondern fordert sie
viele Interpretinnen für eines der wesentlichen Themen von Adornos Philosophie gehalten haben: Auschwitz. Da ich darauf sonst in dieser Arbeit nicht mehr eingehe – und weil ich zögern würde, ›Auschwitz‹ zu einer Art Generalschlüssel für Adornos Philosophie hochzustilisieren –, möchte ich hier eine längere Passage aus Derridas Gespräch mit Elisabeth Roudinesco zitieren, in der er über den Zusammenhang seiner Gedanken zu einer von einer Idee der Gerechtigkeit inspirierten Form von Trauer mit der Frage nach der Möglichkeit von Literatur nach Auschwitz, also Adornos bekanntem Diktum, spricht: »Ich nenne ein Denken ein gerechtes Denken, das von da aus, von dieser Einzigartigkeit ohne Norm und ohne Begriff aus, sich an so etwas wie einer Gerechtigkeit versucht. Wie kann man etwas bewahren, das man freilich weder bewahren noch assimilieren noch verinnerlichen noch klassifizieren kann? Paradox der Treue zum Anderen: das Ganz-Andere an sich nehmen, bewahren und empfangen, ohne daß dieses Ganz-Andere aufgelöst und im Selbst mit dem Selbst gleichgesetzt wird. Nach Auschwitz wieder zu denken beginnen, beginnen, eher anders zu schreiben als nicht mehr zu schreiben, was widersinnig wäre und den schlimmsten Verrat riskieren würde.« (Derrida/Roudinesco 2006: 229f.) Vgl. desweiteren zum Topos ›Auschwitz‹ das wenig bekannte Gespräch Einzigartigkeit, Verjährung und Vergebbarkeit (Derrida 2006b) und exemplarisch zu Derridas Haltung zu ›Heideggers Schweigen‹ seinen so betitelten kleinen Vortrag (Derrida 1988f), der im Vergleich zu Vom Geist (Derrida 1992b) oder Heidegger, die Hölle der Philosophen (Derrida 1998m) weniger Aufmerksamkeit gefunden hat.
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gerade: »keine Gerechtigkeit ohne die Anrufung juridischer Bestimmungen und der Gewalt des Rechts« (Derrida 2006d: 204). Aporetisch oder paradoxal ist das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit wegen genau dieses Zugs: heterogen und unzertrennlich, getrennt und dennoch eins. Ganz ähnlich wie im Falle der wegen ihrer aporetischen Konstitution im Kommen, ausstehend bleibenden Demokratie hat Derrida in der Aporetik der Gerechtigkeit nichts Lähmendes, keine Blockade oder etwas rundweg Problematisches gesehen. Denn »es gäbe kein Werden, keine Transformation, keine Geschichte und keine Vervollkommungsfähigkeit des Rechts, wennn es dabei nicht an eine Gerechtigkeit appellierte, die es dennoch stets übersteigt.« (Derrida 2006d: 204) Dass das Recht als das Mögliche den unmöglichen Anspruch der Gerechtigkeit nicht außer sich weiß, sondern dass dieser unmögliche Anspruch unveräußerbar zum Recht und als Äußeres in das Recht gehört – diese unauflösliche Paradoxie ist es allererst, die dem Recht eine endogene Unruhe aufzwingt (weshalb es, zunächst und für ein erstes Verständnis, gerechtfertigt scheint, von einem ›Ideal‹ zu sprechen). Deswegen sind, ganz generell, die unzähligen von Derrida exponierten Aporien nicht einfachhin »akzidentielle Sackgassen, die es, herkömmlichen theoretischen Modellen gemäß, um jeden Preis aufzubrechen gälte«, denn die »Prüfung, die diese Aporien auferlegen, ist auch die Chance des Denkens.« (Derrida 1998i: 72) Wäre der Übergang vom Recht zu Gerechtigkeit auf irgendeine Weise gesichert, gäbe es eine bestimmte Vollzugsweise des Rechts, die es ermöglichen würde, solcherlei Vollzüge als gerecht auszuzeichnen, dann wäre der Unterschied von Recht und Gerechtigkeit nichtig und die Aporie aufgelöst. Weil es aber immer neu, in jeweils singulären Situationen zur Aushandlung der beiden Pole oder Ordnungen kommen muss und weil sich die Gerechtigkeit als das Unmögliche nicht durch das Recht als das Mögliche in einem technischen Sinne gewährleisten lässt, hat die Aporetik der Gerechtigkeit einen transformativen Effekt.8 Es ist gerade so, dass sie »aufgrund ihrer lähmenden Wirkung schöpferisch ist, in Bewegung setzt […] und zu denken gibt« (Derrida 1988e: 184), denn der unendliche Anspruch der Gerechtigkeit erwächst je neu in einzigartigen Situationen, in denen die historisch etablierte Rechtsordnung eine dem adäquate Antwort finden muss – die Prüfung oder das Problem, das sich als Aporie stellt, eröffnet erst die Chance der Weiterentwicklung des Rechts. Die Alternative dazu wäre, dass die einzelnen Akte oder Vollzüge des 8
Besonders pointiert hat Derrida den Zusammenhang der Aporetik der Gerechtigkeit mit ihrem transformativen Potential für jede institutierte Rechtsordnung, der mich hier interessiert, in einem Gespräch formuliert. Dort sagt er: »Das Recht wird der Gerechtigkeit nie adäquat sein. Diese beiden Begriffe sind heterogen, aber es ist ebenso wahr, daß sie untrennbar sind. Im Namen der Gerechtigkeit transformiert, verbessert, bestimmt, ja dekonstruiert man das Recht – gibt es also eine Geschichte des Rechts. Aber eine Gerechtigkeit, die nicht versuchen würde, sich in der Wirksamkeit eines Rechts, das heißt auch einer Kraft zu verkörpern, wäre nicht gerecht.« (Derrida 2006h: 314)
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Rechts »der beruhigende Gegenstand oder die logische oder theoretische Konsequenz eines abgesicherten Wissens wäre[n] (also euphorisch, ohne Paradox, ohne Aporie, ohne Widerspruch, ohne zu entscheidende Unentscheidbarkeit)« (Derrida 2006k: 329). Dann aber wäre das Recht nichts anderes als eine »Maschine«, ein von selbst ablaufendes Programm – und keine Entscheidung, keine Übernahme von Verantwortung vor einer einzigartigen Herausforderung wäre vonnöten. (iii) Auch die Aporie9 der Gastfreundschaft beginnt mit einem Unterschied. Dieser tut sich auf zwischen dem unbedingten Gesetz und den bedingten Gesetzen der Gastfreundschaft. Die Differenz zwischen dem Singular und dem Plural ist nicht zufällig, sondern weist auf eine weitere Dimension der von Derrida bedachten Aporien hin. Denn der Unterschied bedeutet keine Trennung, sondern abermals eine unauflösliche aporetische Zusammengehörigkeit von einander Widersprechendem. So bricht »[d]ie wahre Gastfreundschaft […] mit der rechtlich geregelten Gastfreundschaft«, »sie ist ihr gegenüber in ebenso seltsamer Weise heterogen, wie die Gerechtigkeit dem Recht gegenüber heterogen ist, dem sie dennoch so nahe und mit dem sie in Wahrheit unlöslich verbunden ist« (Derrida 2007c: 27f.). Dennoch ist diese Heterogenität von unbedingter und bedingter Gastlichkeit keine Trennung, keine Separierung, denn der unendliche Anspruch der unbedingten Gastfreundschaft muss sich in irgendwelchen endlichen, konkreten, bestimmten Ordnungen und Gesetzen der bedingten Gastfreundschaft manifestieren; das Unendliche muss sich in das Endliche verkehren, ohne seines überschießenden Anspruchs verlustig zu gehen. So »braucht das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft die Gesetze, es erfordert sie. […] Das Gesetz wäre nicht wirklich unbedingt, wenn es nicht wirklich, konkret, bestimmt werden müßte […]. Es würde Gefahr laufen, abstrakt, utopisch, illusorisch zu sein und sich somit in sein Gegenteil zu verkehren. Um zu sein, was es ist, braucht das Gesetz die Gesetze, die es dennoch negieren, die es jedenfalls bedrohen, bisweilen korrumpieren oder pervertieren.« (Ebd.: 62) Der Singular des unendlichen, unverfügbaren Anspruchs der unbedingten Gastfreundschaft (›das Gesetz‹) steht genau deswegen einer Pluralität von bedingten Ordnungen der Gastfreundschaft (›die Gesetze‹) entgegen, weil diese nur die historisch etablierten und historisch einander ablösenden Versuche sind, diesem Anspruch nachzukommen. Der Anspruch erheischt immer neue Antworten, fordert immer weitere Versuche ein, ihm gerecht zu werden; und doch kann keiner dieser Versuche ihn je ganz erfüllen. Wenn der Unterschied immer wieder neu 9
Derrida spricht hier allerdings – entgegen seines sonstigen Votums für den Begriff der Aporie – explizit und wiederholt von einer ›Antinomie‹: »Bei dieser Aporie haben wir es in der Tat mit einer Antinomie zu tun.« (Derrida 2007c: 61) Wie immer man auch sonst die spezifischen Unterschiede von Aporie, Antinomie, Paradoxie usw. in Derridas Texten bestimmen mag – dass Derrida selber sich über solche Unterschiede in der Verwendung nicht erklärt, gewährt das Recht, über solche Nuancen zunächst hinweg zu sehen. ›Zunächst‹ heißt dann: dass man das einer spezifischeren Untersuchung überlassen muss.
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
aufzuklaffen fortfährt und man ihn unmöglich zu tilgen vermag, kann es auch hier nur darum gehen, vermittelnde Antworten zu finden, Kompromisse, die beide Pole zusammenführen und im gleichen Zuge distinkt halten – eben das, »was man in Kantischer Sprache als vermittelnde Schemata bezeichnen könnte« (ebd.: 104f.). Worauf Derrida im Weiteren besonders insistiert – und präzise darin liegt ja das Aporetische –, ist, dass die unbedingte der bedingten Gastfreundschaft nicht von außen gegenübertritt. Das Unendliche ist in das Endliche derart eingefaltet, dass es ihm notwendigerweise, strukturell zugehört; es muss nicht eigens von einer kritischen Operation oder einem ethischen Gebot von außen an es herangetragen werden. Beide sind »also zugleich widersprüchlich, antinomisch und untrennbar verbunden. Sie implizieren einander und schließen sich gleichzeitig gegenseitig aus.« (Ebd.: 62) »Das eine erfordert, impliziert das andere oder schreibt es vor.« (Ebd.: 105) An diesen Punkt schließt sich eine intrikate, schwierige und von Derrida, soweit ich sehe, nur an einer Stelle angegangene Frage an: Wenn es richtig ist, dass die »reine Unbedingtheit« der wahren Gastfreundschaft »unerreichbar nicht nur als regulative Idee – eine Idee im Kantischen Sinne, unendlich fern, der man immer nur in unangemessener Weise näher kommt –, sondern aus strukturellen Gründen, weil sie durch die von uns analysierten Widersprüche ›blockiert‹ wird« (ebd.: 105f.), ist, dann ist doch sehr die Frage, inwiefern diese aporetische Konstellation dann noch eigens einer Ethik bedarf. Anders gesagt, wenn es schon zur Struktur, zu der Art, wie die Gastfreundschaft verfasst ist, gehört, einem unendlichen Anspruch zu unterstehen, also durch eine Aporie ›blockiert‹ zu sein – welchen weiterreichenden Sinn könnte dann die ethische Einforderung eines solchen Anspruchs haben? Derrida hat an der fraglichen Stelle, wo er auf diese Schwierigkeit eingeht – im selten rezipierten Gespräch mit Maurizio Ferraris –, selbst, genau wie viel Interpreten seiner Schriften nach ihm, lapidar von einer »ethic of hospitality« (Derrida/Ferraris 2001: 83) gesprochen. Gleich darauf präzisiert er allerdings skrupulös: »›Leaving room for the other‹ does not mean ›I have to make room for the other‹. The other is in me before me: the ego (even the collective ego) implies alterity as its own condition. There is no ›I‹ that ethically makes room for the other, but rather an ›I‹ that is structured by the alterity within it, an ›I‹ that is itself in a state of self-deconstruction, of dislocation. This is why I hesitated just now to use the word ›ethical‹. This gesture is the possibility of ethical but is not simply the ethical, which is why I speak of the messianic: the other is there in any case, it will arrive if it wants, but before me, before I could have foreseen it.« (Ebd.: 84; Hervorhebung DJ) Auf diese Nuance, diese Schwierigkeit hinzuweisen, ist keine Spitzfindigkeit gegenüber Derrida; es bedeutet ebensowenig einen nebensächlichen Aspekt seines Bedenkens von Aporien oder eine Eskamotage oder ›Entkernung‹ der ethischen Gehalte von Derridas Texten. Denn Derrida hat diese Komplikation ja selber, wie ich eben verdeutlicht habe, bemerkt. Ich tippe diese Frage hier deswegen schon
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an, weil ich sie später wieder aufnehme, wenn es um die Begriffe der ›Autoimmunität‹ und der ›(Selbst-)Dekonstruktion‹ geht. Denn dann klafft abermals die Frage auf, ob wir diese Begriffe als ethische, kritische, nachträglich und von außen an ein Gebilde (einen Text, eine Rechtsordnung, ein Institutionengefüge usw.) herangetragene Operationen verstehen sollen, oder ob es nicht vielmehr Beschreibungsformeln für die strukturelle Verfasstheit und die Seinsweise solcher Gebilde sind. Die Vielzahl der aporetischen oder paradoxalen Konstellationen, die Derrida in Aporien selbst (Derrida 1998k: 33ff.) in seinem bisherigen Werk detektiert – eine der wenigen Stellen übrigens, an denen Derrida derart explizit auf eine ganze Reihe anderer seiner Werke zu sprechen kommt und tentativ eine gewisse Einheitsperspektive anbietet –, führt die Schwierigkeit herauf, ob all diese Aporien denn nun tatsächlich als normative oder praktische Aporien gelten sollen und ob ihre Fluchtlinie in einer ethischen oder normativen Perspektive liegt. Dann wäre es tatsächlich eher gerechtfertigt, dass der Aufweis der eben skizzierten aporetischen Konstellationen einen vornehmlich ethischen oder normativen Index hätte. Derrida scheint darüber, wie die gerade herangezogene Stelle deutlich macht, allerdings wenn nicht anderer Meinung, dann doch zumindest im Zweifel gewesen zu sein. Dass Gerechtigkeit, Demokratie und Gastlichkeit, als reine und strikte, unmöglich sind und daher im Kommen bleiben, mag man also auf die in ihnen inhärenten praktischen, im Vorangegangenen ›strukturell‹ genannten Aporien zurückführen, wie ich insbesondere im Hinblick auf die ›démocratie à venir‹ zu erläutern versucht habe. Es mag aber ebenso sehr so sein, dass sie sämtlich als »Erbe eines Versprechens« (Derrida 2000a: 113; Derrida 2006c: 117f.) zu verstehen sind. Als ein solches Erbe und folglich als ›zeitliche‹ Aporien kann man ihnen den Status, im Kommen zu bleiben und unerreichbar zu sein, attestieren, ohne die ihnen strukturell eignenden Aporien zu entfalten. Sie so zu verstehen, verlangt schon nach einer zeittheoretischen Herangehensweise (denn Temporalität ist ein Implikat dieser beiden Begriffe Derridas: Erbe und Versprechen) und gibt überdies die Möglichkeit frei, ihren Zusammenhang mit anderen Begriffen Derridas, die formaler, abstrakter angelegt sind und zunächst keine ethischen Konnotationen mit sich führen, zu klären. Diese zeittheoretische Lesart der von Derrida herausgestellten Aporien möchte ich also als Alternative zu der ethischen oder normativitätstheoretischen Lesart nennen. Dies werde ich im Folgenden immer wieder dann zumindest streifen, wenn es um den Begriff des Ereignisses oder um das ›Kommen‹ geht. Jedenfalls, und bei allen Nuancierungen, die man in der Diskussion solcher Aporien vornehmen kann, sollte klar geworden sein, dass das Bedenken von Aporien, Paradoxien oder Antinomien kein marginales Thema, sondern, wäre die Metaphorik nicht so verfänglich, ein ›Herzstück‹ in Derridas Philosophie bildet. Aber falls diese Begriffe in Adornos Philosophie ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen, ja wenn Adorno die Philosophie und das Denken unvermeidlicherweise sich in solche Antinomien verstricken sieht, dann geht man wohl nicht fehl, wenn man gera-
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de dieses Thema – Aporie, Paradoxie etc. – als Relais versteht, das beide Theoretiker in eine, wie immer man dann genau zu verstehende, Nähe zueinander bringt.
2.2 Adorno und die Philosophie: Der Weg zur Dialektik Für Adorno ist die Philosophie deswegen unübersehbar und unausweichlich in eine »aporetische Situation (wie man das gebildet ausdrückt)« (VLNegDia: 96) verstrickt, weil sie gezwungen ist, lediglich »mit Begriffen und über Begriffe zu reden« (ebd.: 95). Damit bringt sie sich aber selbst unaufhebbar um das, worum es ihr geht. »Sie bringt sich […] durch ihr eigenes Medium, durch ihren eigenen Ansatz um das, was sie eigentlich sollte: nämlich um die Möglichkeit, über das zu urteilen, was sie nicht selber, was nicht Begriff ist.« (Ebd.) Das ist für Adorno die Ausgangskonstellation der Philosophie: sie operiert mit ihr eigenen Mitteln – Begriffen, Gedanken, unseren Verstandesvermögen –, aber genau der Einsatz dieser Mittel verwehrt es ihr, das zu erreichen, worum es ihr geht: das Nichtbegriffliche, das Nichtidentische, das Objekt. Zur Beschreibung dieser der Philosophie grundsätzlich innewohnenden Paradoxie oder Aporie verwendet Adorno die verschiedensten Begriffspaare: das Rationale widerstreitet dem Irrationalen, um das es ihm doch eigentlich geht; der Begriff hintertreibt den Zugang zum Nichtbegrifflichen, auf das er abzielt; das Subjekt schiebt sich vor das Objekt, das es doch zu erkennen angetreten war; die Kultur oder die Aufklärung entwindet sich der bloßen Herrschaft und dem blinden Walten der Natur, inauguriert aber anstatt ihrer eine neue Form von blinder, jetzt: naturvergessener Herrschaft und wird darob selber zu einem wie Natur ablaufenden Zwangsmechanismus10 usw. Das sind
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Vgl. etwa die relativ pointierte Stelle zum dem, was eigentlich mit der ›Dialektik‹ der Aufklärung gemeint sein soll: »Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus.« (3/56) Das völlig aufgeklärte, der Natur entfremdete Denken hat darum für Adorno etwas von einer Maschine, einem Automatismus, einem von selbst ablaufenden Programm. Dass aus einem so verstandenen oder so verfassten Denken nichts Neues entstehen kann, versteht sich von selbst. Es wundert daher auch nicht, dass sich Adorno zufolge, recht grobkörnig, die Naturbeherrschung und Kants kritische Philosophie derselben Verfehlung schuldig machen: sie tautologisieren die Erkenntnis, lassen sie zu bloßer Wiederholung abstumpfen: »Naturbeherrschung zieht den Kreis, in den Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte. Auf das Neue zielt nach Kant das philosophische Urteil ab, und doch erkennt es nichts Neues, da es stets bloß wiederholt, was Vernunft schon immer in den Gegenstand gelegt.« (Ebd.: 43) Darauf komme ich weiter unten ausführlich zurück, denn dieser Tautologisierung ist nicht nur Adornos Erfahrungsbegriff entgegengesetzt, sondern auch Derridas Begrifflichkeit von Iterabilität und Ereignis zielt auf den nämlichen Sachverhalt.
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unterschiedliche Formulierungsweisen für die beiden Pole, die in der Aporie der Philosophie spannungsvoll zusammengezwungen sind. Die Beschreibung des eigentlich Aporetischen an dieser Konstellation nimmt dann bei Adorno wiederum die Gestalt unterschiedlicher Formulierungen an, die einzelne Nuancen der Aporie deutlicher herausheben. Gegen Wittgenstein gerichtet heißt es etwa, in der Vorlesung über Negative Dialektik: »[D]ie Philosophie besteht gerade in der Anstrengung, das zu sagen, was nicht sich sagen läßt« (ebd.: 112).11 In seinen Drei Studien zu Hegel beschreibt Adorno die Situation der Philosophie, wiederum in Auseinandersetzung mit Wittgenstein und als Würdigung Hegels, so: »Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert.« (5/336) Und in der Einleitung zur Negativen Dialektik, vermutlich als eine der bekannteren Formulierungen und ebenfalls mit adversivem Wittgensteinbezug: Es wäre »gegen Wittgenstein zu sagen, was sich nicht sagen läßt. […] Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« (6/21) Darum ist es die »Anstrengung« der Philosophie, wie es kurz darauf heißt, »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.« (Ebd.: 27) Man könnte noch mehr derlei Formulierungen heranziehen, und man würde dennoch immer wieder an demselben Punkt zu stehen kommen: für Adorno muss die Philosophie etwas, was sie nicht kann; sie laboriert an etwas Unmöglichem. Und mehr noch: die Philosophie ist nicht bloß auf dieses für sie Unmögliche gerichtet, sie unterminiert ihr eigenes Ziel (oder sein Erreichen) mit den Mitteln, durch die sie dieses Ziel zu erreichen unternimmt. Aber wenn die Philosophie ihr Projekt solcherart selbst vereitelt – was, mit einer Sonntagsphrase gesprochen, soll uns dann noch die Philosophie? Wie kann Philosophie, hat sie einmal ihre aporetische Situation reflektiert, weiter gehen, wenn sich ihre Aporie doch gerade als das sie Blockierende erweist? Besteht sie womöglich in nichts anderem als darin, diese Aporie – traditionell – zu perpetuieren oder – dialektisch – zu reflektieren? Zunächst muss man sehen, dass es für Adorno nicht darum gehen kann, diese Aporie – in einem herkömmlichen Sinn verstanden – ›aufzulösen‹. Denn der Widerspruch, das Nichtbegriffliche durch den Begriff, das Objektive durch das Subjektive vertreten zu müssen – und es, gerade so, nicht vertreten zu können –, siedelt ja am Grunde der Philosophie; er gehört zu ihrer Anlage. Die Philosophie ist »ihrem eigenen Begriff nach widerspruchsvoll, […] in sich selbst dialektisch« (VLNegDia: 112). Sie kann deswegen nicht einfach einen Entscheid für entweder den
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Genauso, ebenfalls in Auseinandersetzung mit Wittgenstein: VLPhilTerm1: 55f.; 8/337f.; 5/336. An einer Stelle (8/301f.) attestiert er Wittgenstein ein der Dialektik ähnliches Problembewusstsein: über die »Nötigung zur Paradoxie«, durch Sprache etwas Nichtsprachliches auszudrücken, sei er an »die Schwelle eines dialektischen Bewußtseins« gekommen.
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Begriff oder das Objekt treffen; sie kann nicht schier in sich oder bei sich bleiben – denn nach Adorno zeichnet sie es genuin aus, sich auf etwas anderes als sich selbst zu richten – oder sich auf die Seite des Objekts schlagen – denn dann müsste sie sich selber aufgeben, und es gäbe mithin keine Philosophie mehr.12 So heißt es in den Stichworten zur Vorlesung über philosophische Terminologie (VLPhilTerm: 793): »Phil als Ausdruck vertritt im Denken das was nicht Begriff ist, nicht zurichtend, einordnend. […] Aber sie vertritt das Nichtbegriffliche durch den Begriff. Das was nicht gedacht werden kann durchs Denken. […] Dies ist der Widerspruch im Ansatz der Phil. Daher ist sie – nicht das Sein an sich – notwendig Dialektik.« Die aporetische Situation fällt der Philosophie oder dem Denken also nicht einfach zu, sie ist nichts von außen akzidentiell und kontingenterweise Hereinbrechendes, sondern ist im Ansatz der Philosophie impliziert oder vorgezeichnet. Diese ist darum notwendigerweise Dialektik, weil Dialektik für Adorno nichts anderes heißt, als diesen Widerspruch zu verzeichnen, ihn zu bemerken und zu reflektieren. Als Dialektik bedeutet Philosophie demnach nichts anderes als: »die Vermittlungen von S und O bestimmen«, wie es kurz davor in den Stichworten heißt. Dialektik ist also »keine Weltanschauung, kein Schema der Triplizität (Hegel hat das selbst kritisiert) sondern die Entfaltung des Bewußtseins der Nichtidentität, des nicht in einander Aufgehens der Pole« (ebd.: 730). Wenn sie kein philosophischer Standpunkt ist und ebensowenig etwas, das von selbst ›in‹ der Gesellschaft stattfindet, wie man häufig gemeint hat, ist sie also dem Anschein nach wenig mehr als das Bewusstsein der aporetischen Situation der Philosophie: sie ist reflektierte und damit in irgendeinem Sinn veränderte Philosophie. Aber in welchem Sinn? Was folgt für Adorno aus der Reflexion dieser Aporie?
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Bekannt ist etwa die Formulierung aus der Einleitung in die Negative Dialektik, die Philosophie meine »ihr eigenes Ende« (6/39). In der Vorlesung zur Philosophischen Terminologie spricht Adorno deswegen von einem »rationalen Revisionsprozeß gegen die Rationalität«, was den paradoxalen und gegen sich selber arbeitenden Zug der Philosophie nochmals deutlicher macht. Er sagt dort (VLPhilTerm1: 87): »Gegenüber der Kunst vertritt die Philosophie das Nichtbegriffliche immer und bloß durch den Begriff, oder sie vertritt das, was nicht gedacht werden kann, durch das Denken. Die Philosophie hat in dem Sichabarbeiten an dieser Paradoxie, an dem Versuch, das, was hier wie ein unauflöslicher Widerspruch scheint, so auseinanderzulegen, daß es doch zu einem Möglichen wird, eigentlich überhaupt ihr Leben […]. Die Philosophie ist also insofern immer eine Art von rationalem Revisionsprozeß gegen die Rationalität […].«
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Mir scheint, dass man zwei unterschiedliche Konsequenzen, die Adorno aus dieser heiklen Situation zieht, unterscheiden kann (er selber hat sie nicht, jedenfalls nicht in dieser Systematik, unterschieden). Die (i) erste Konsequenz betrifft die traditionelle Erkenntnistheorie – oder eben die Philosophie vor der Reflexion ihrer Aporie, die sie als Dialektik betreibt – als immanente Kritik; die (ii) zweite Konsequenz die Dialektik selbst. An der traditionellen Erkenntnistheorie übt Adorno Kritik; die Dialektik dementgegen ist die Vollzugsform, die Erkenntnistheorie durch ihre Kritik annimmt. (i) Immanente Kritik. Adorno hat sich kritisch, soweit ich sehe und abgesehen von einigen vernachlässigenswerten Einlassungen, mit drei Erkenntnistheorien befasst: der von Kant, von Husserl und von Heidegger. In jeder der einzelnen Auseinandersetzungen mit diesen drei Autoren weist Adorno auf etwas hin, das er wiederkehrend ›aporetische Begriffe‹ nennt; im zumeist in der Rezeption übersehenen Text Zur Philosophie Husserls ist diesen sogar ein eigener Abschnitt gewidmet (vgl. 20/82ff.) Im Falle Kants sind die aporetischen Begriffe, zu denen Kant sich aus Adornos Sicht genötigt sieht, diejenigen der transzendentalen Sphäre (vgl. VLKant: 329ff.; 6/178), aber ebenso auch die Annahme eines positiven Freiheitsbegriffs (vgl. 6/249f.); in der sich so nüchtern und konziliant mit Heidegger befassenden Vorlesung Ontologie und Dialektik ist es Heideggers Begriff des ›Seins‹ (vgl. VLOntDia: 69, 83; 6/84), in dem sich eine Aporie verschlüsselt; und bei Husserl meint Adorno gleich eine ganze Reihe aporetischer Begriffe aufweisen zu können, nämlich »kategoriale Anschauung, Satz an sich und Erfüllung« (20/83).13 13
Aporetische Begriffe weist Adorno allerdings nicht nur bei den erwähnten, prominenten Autoren der philosophischen Tradition auf. Sondern die »aporetische Theorie des Epikurischen Materialismus« ist für Adorno »ein relativ frühes Modell für das, was ich mit aporetischen Begriffen bezeichne und wofür es aus der späteren Geschichte der Philosophie bis hinauf zu Kant und Hegel erhabenere Beispiele gibt« (VLPhilTerm2: 213). Auch hier sind es wieder die »ungelösten Widersprüche[]«, die Epikur zu den beanstandeten Konstruktionen nötigen. Und auch in diesem Falle weist Adorno auf die unweigerliche Perpetuierung der Aporetik hin: »Immer sind die aporetischen Begriffe aporetisch, nicht nur, weil sie aus einer Aporie kommen, sondern sie bereiten wieder neue Aporien. Das ist eine Art von Kreditsystem des Denkens; wo man das eine Loch zumacht, macht man dafür das andere auf.« (Ebd.: 214) Für eine extensivere Analyse des Stellenwerts, den Adorno aporetischen Begriffen und Aporien in der philosophischen Tradition zuerkennt, müsste man auch seine Würdigung der »Darstellungsform der ›aporetischen‹ Dialoge« (8/319) Platons miteinbeziehen. Denn nicht nur in den Vorlesungen über Metaphysik (VLMeta: passim) oder über Das Problem des Idealismus (Adorno 1998) kommt Adorno auf Platon zu sprechen. In seiner Ästhetikvorlesung von 1958 gesteht Adorno Platon zu, dass »noch auf ihrer höchsten Höhe, auf der Hegelschen Höhe, […] die ästhetische Spekulation nicht weiter gekommen [ist] als eben zu jener Bestimmung des Schönen, die das Schöne selbst – anstatt es statisch, dinghaft, als ein Sein zu bezeichnen – als ein solches Spannungsverhältnis bezeichnet hat zwischen subjektiven und objektiven Momenten« (VLÄsth58: 151f.). Diese aporetische Bestimmung des Schönen als Einheit widerstreitender Momente ist nun, so Adorno wiederholt, genau diejenige Platons (vgl. ebd.:
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Interessanter allerdings, als sich diese Passagen noch einmal im einzelnen anzusehen, ist es, Adornos Begründung dafür zu verfolgen, weshalb sich diese Philosophien zu aporetischen Konstruktionen oder aporetischen Begriffen genötigt sehen. Denn Adorno macht den drei Autoren daraus keinen Vorwurf, er kreidet ihnen dieses Vorgehen nicht als bloßen Fehler an, und insoweit wäre es auch verfehlt, davon zu sprechen, Adorno ›kritisiere‹ Kant, Heidegger oder Husserl in einem herkömmlichen, polemisch aufgeladenen Sinn. Es ist nicht »subjektive Insuffizienz«, die in die »Denkfehler aporetischer Art« mündet. Vielmehr sind diese Resultat einer Nötigung, sie sind »erzwungen […] dadurch, daß dieses Denken eine bestimmte Intention hat, etwas Bestimmtes will […], andererseits aber bei dem Versuch, diese Intention zu realisieren, auf innere sachliche Schwierigkeiten stößt, die dann […] zu dergleichen Manövern führt.« (VLOntDia: 125) Die beanstandeten begrifflichen Manöver Heideggers, Husserls und Kant sind also nichts anderes, so will Adorno sagen, als Produkte der, wie ich zu verdeutlichen versucht habe, zur innersten Struktur der Philosophie gehörigen Aporie. Wieder geht es dann um die widersprüchliche Lage, etwas Nichtbegriffliches durch einen Begriff erfassen, das Unendliche durch etwas Endliches ausdrücken oder sich des Transzendenten im Immanenten versichern zu müssen. Im Zuge seiner Rede von aporetischen Begriffen hat Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Kant und Husserl dafür auch eine öfters wiederkehrende Metapher gefunden (vgl. 5/32ff., 214f., 276; VLEinlErk: 173ff., 188f.; VLKant: 329ff.).14 Demnach führt die primordiale Unzulänglichkeit der Erkenntnis oder des Geistes, als die sich die Irreduzibilität des Objekts auf die geistigen Operationen des Subjekts kenntlich macht, zu einer immer weiter perpetuierten »Schuldverschreibung« (VLKant: 330). Die Aporie des Denkens – durch den Begriff hindurch das Objekt erfassen zu wollen und es im selben Zug und durch ebendiesen Zug zu verstellen – kehrt mit jedem seiner Akte wieder. Wie in den von Derrida reflektierten Aporien lässt die Unendlichkeit des Anspruchs alle Versuche, ihm nachzukommen, historisch werden und einander immer wieder ablösen. Es ist dieser Tatbestand, von dem ausgehend man von einer ›Prozessualisierung‹ der Aporie sprechen könnte, denn es scheint doch sehr so, als würde sich der Sachverhalt, auf den Adorno zielt, ähnlich verhalten, wie wir es bei den einerseits strukturellen, andererseits zeitlichen Aporien Derridas gesehen haben: die Form der Demokratie ist durch strukturelle Widersprüche gekennzeichnet, und genau darum kann sie durch keine empirisch
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139ff., 158f., 163ff., 171f.). Wenn gerade der für Adorno so wichtige Hegel nicht viel weiter gekommen sein soll – was immer das genau besagen mag –, muss das wohl etwas heißen. Adorno weist an der betreffenden Stelle seiner Kantvorlesung darauf hin, dass die Rede von Schuld und Schuldverhältnissen bei Kant selbst eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Kenner werden sich dabei auch an Benjamins pathetisches Diktum vom Schicksal als dem ›Schuldzusammenhang des Lebendigen‹ erinnert fühlen. Adorno kommt darauf selber zu sprechen, vgl. VLEinlErk: 65f.; VLOntDia: 248f.
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konkretisierte Gestalt definitiv realisiert werden, sondern entzieht sich fortdauernd. Für Adorno ist jedenfalls darum »die ganze Geschichte, die innere Geschichte der Erkenntnistheorie, […] eigentlich die immerwährende Geschichte dieses Schuldverhältnisses; also die Geschichte des Immer-weiter-Verschiebens dieser Schuld, dieses nicht einzulösenden Anteils des Objekts an der Erkenntnis auf ein anderes Moment der Erkenntnis, das dann immer weiter von dem Einzulösenden, von dem durch Erkenntnis zu Erfüllenden sich verschiebt« (ebd.: 331). Ob Adorno damit den von ihm diskutierten Erkenntnistheorien bis in alle Nuancierungen hinein gerecht wird, mag eine offene Frage sein. Erkennbar wird allerdings, zieht man diese Metapher heran, dass sich daraus ein positives Programm seiner eigenen Herangehensweise ergibt und dass von hier aus ein Begriff von Dialektik Gestalt gewinnen kann. Die von ihm als in seinem Werkzusammenhang für so wichtig befundene Metakritik der Erkenntnistheorie bedeutet dann, als kritisches Programm, nichts anderes als »die konstruierende Reflexion ihres Zusammenhangs [der historischen Erkenntnistheorien, DJ] als eines von Schuld und Strafe, von notwendigem Fehler und vergeblicher Korrektur.«15 (5/32) Jede der Lektüren Adornos weist so immer aufs Neue die fundamentale Aporetik in ihren einzelnen Vertretern nach; jede ermisst Untrennbarkeit gleichwie Differenz zwischen den beiden Polen: Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Begriff und Nichtbegriffliches. Deswegen hatte ich eben davon gesprochen, dass es Adorno darum auch weniger um eine Kritik – oder, wie man im Falle Heideggers, aus nachvollziehbaren Gründen und auf der Grundlage des ›Jargons der Eigentlichkeit‹, oft gedacht hat: um bloße, abfertigende Polemik – des jeweiligen Autors gehen kann. So sind denn auch »die Widersprüche der Husserlschen Logik […] keine zufälligen und korrigibeln [sic!] Irrtümer. Sie sind dem Idealismus ursprünglich und inhärent: keine Korrektur eines Fehlers der idealistischen Erkenntnistheorie ist möglich gewesen, die nicht einen neuen Fehler notwendig produziert hätte. In strenger Folge wird zur Korrektur der Widersprüche ein Begriff aus dem andern entwickelt,
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In der verklausulierten Höchsthöflichkeit, die Adorno zueigen war, klingt das in seiner Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie so: »[U]nd das ist, wenn ich das hier einmal sagen darf, eigentlich auch die Idee meines erkenntnistheoretischen Buches, der Metakritik, die ja manche von Ihnen werden zur Hand genommen haben, und in der eigentlich der Versuch gemacht ist, ja ich möchte beinahe sagen, das Epos der Erkenntnistheorie zu schreiben, wenn das nicht ein zu prätentiöser Ausdruck ist. Also die Geschichte der Schuldverschreibungen, der Nötigungen, der Zwänge und der Unmöglichkeiten zu schreiben, an einem bestimmten Modell, in das sich die Erkenntnistheorie verstrickt, und schließlich damit auf die Momente zu gelangen, an denen sie selber eigentlich ihre Grenzen hat.« (VLEinlErk: 175) Ich zitiere dies hier nur, um nochmals auf die Bedeutsamkeit der genannten Metapher (›Schuldverschreibung‹) und von Adornos dahinterstehender Rede von Aporien für das Verständnis der Metakritik hinzuweisen.
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während doch keiner der ›Sache‹ näherkommt als der erste, ja während jeder tiefer ins Dickicht der Invention gerät.« (5/214) Aber wenn dies nun das kritische Vorhaben von Adornos Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition ist, stellt sich aufs Neue die Frage, worauf dieses denn nun eigentlich positiv zuläuft. ›Ja wie jetzt?‹, möchte man irritiert fragen – geht es fortgesetzt um den negativen Aufweis der Unzulänglichkeit des Denkens, um die Exposition von dessen Differenz zum Gedachten? Es mag ja die unweigerliche Konsequenz dieser Kritik sein, dass »wahr« die Erkenntnistheorie nur ist, »insofern sie der Unmöglichkeit des eigenen Ansatzes Rechnung trägt und in jedem ihrer Schritte von dem Ungenügen der Sache selber sich treiben läßt.« (5/33) Und dass, im Umkehrschluss, sie »unwahr« ist »durch die Prätention, es sei gelungen, und ihren Konstruktionen und aporetischen Begriffen entsprächen jemals schlicht Sachverhalte.« (Ebd.) Aber was, so doch eine naheliegende Frage, könnte es denn genauer heißen, dass das Denken unablässig seiner Verfehlungen gedenkt, dass es die Reflexion seiner Aporetik betreibt? Wie müssten die einzelnen Operationen, Akte oder Vollzüge eines solchen Denkens verfasst sein, um diesem Anspruch genüge zu tun? Schließlich kann es, nach einer solch insistenten Sondierung der erkenntnistheoretischen Kalamitäten, nicht darum gehen, es dabei bewenden zu lassen oder schlicht einen Begriff des Denkens zu entwerfen, der sich von dieser Aporetik befreit glaubt. Zunächst möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass, anders als es den Anschein haben mag, die aporetischen Konstellationen, in die Adorno die Philosophie münden sieht, ebenfalls (wie aus Sicht Derridas) keineswegs etwas Lähmendes, Blockierendes oder bloß Negatives haben, das es in irgendeinem Sinn zu überwinden oder ›aufzulösen‹ gälte. Indem sie einerseits das Missverhältnis und die Unzulänglichkeit – die Differenz – zwischen Subjekt und Objekt offenlegen, und indem sie andererseits verdeutlichen, in welchem Sinn das Denken seine eigenen Ziele hintertreibt und unterminiert, sind sie, in ihrer Negativität, zugleich der Einsatzpunkt eines gewandelten positiven Begriffs von Philosophie. Das ist der Grund, weshalb die »Schwierigkeiten innerhalb von Philosophien nicht wegzuräumen und auch nicht bloß zu bekritteln […]; sondern […] aus der Not des Denkens, aus der Aporie des Denkens, aus den Schwierigkeiten, in die es in sich selbst gerät, kurz: aus seiner eigenen Dynamik heraus, zu entwickeln« (VLOntDia: 74f.) sind. Die fundamentale Aporie der Philosophie spiegelt sich daher in den unterschiedlichen und einander widerstreitenden Motiven einzelner Texte, denen Adorno in seinen Lektüren minutiös nachspürt. Statt einer Darstellung jeweiliger Philosophien, ihrer wesentlichen Werke, Themen und Begriffe sind diese Lektüren ihrem eigenen Anspruch nach wesentlich Formen der Problementfaltung.16 Ihr Ziel ist es mithin, 16
Der englische Text über Husserl, Husserl and the Problem of Idealism, beginnt denn auch damit, darauf hinzuweisen, dass »[t]he merits of a philosopher […] should not be defined by
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Probleme oder ›Schwierigkeiten‹ auf unterliegende Problemstellungen zurückführen, die zugleich die Möglichkeit veränderter Problemlösungen aufscheinen lassen. Demgemäße methodologische Bemerkungen durchziehen die Auseinandersetzungen Adornos mit der philosophischen Tradition, und insbesondere in der schon herangezogenen Vorlesung über Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ verdichten sie sich. Dem müssen wir jetzt etwas eingehender nachgehen, um verstehen zu können, in welchem Sinn die Dialektik in Kants Philosophie schon keimhaft enthalten ist. In der erwähnten Vorlesung geht es ganz wesentlich, wie er in seinen methodologischen Reflexionen pointiert (vgl. VLKant: 94ff., 123ff.), um den »Nachweis eben der immanenten Spannung, die ein solches Denken hat« (ebd.: 124). Das sind bei Kant etwa die Spannungen zwischen der transzendentalen und der empirischen Sphäre, zwischen Sinnlichkeit und Verstand oder zwischen Erscheinung und Ding an sich. Adorno hat für die Gestalt, die eine Philosophie durch das Offenlegen ihrer immanenten Aporetik, ihres spannungsvollen Charakters erhält, einen Begriff parat, der in seinen Texten vielfach wiederkehrt: Kraftfeld.17 Seine primäre, wenn
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the ›results‹ he has achieved in his thinking.« Vielmehr, so muss man Adorno verstehen, sind gerade diejenigen Weisen, ein Problem zu entfalten, philosophisch verdienstvoll – merits –, die die Unlösbarkeit des Problems nicht verdecken, sondern, als Lösungen, zugleich exponieren. »It is possible that there are philosophical tasks which, although arising necessarily in a coherent process of thinking, can not be fulfilled; thus, they lead to an impasse which is not the fault of the philosopher, nor an accident which can be accounted for only by the contingencies of the history of philosophy, but which has its roots in inherent antagonisms of the problem itself.« (20/119) Husserl nun »has set for himself a task which, in his terms, is insoluble« (ebd.: 133), seine Philosophie ist also ein ausgezeichneter Analysegegenstand für die Effekte, die der Tatbestand der Unlösbarkeit von Problemen in eine Philosophie einführt. »The paradoxical terms«, also die aporetischen Konstruktionen Husserls, »are but the expression of the insolubility of his problem.« (Ebd.) Die inhaltliche bzw. sachliche Aporetik, auf die Husserl in seinen philosophischen Problemen trifft, spiegelt sich also textuell bzw. konzeptionell in den widerstreitenden Motiven und paradoxalen Termini seiner Philosophie. Ich komme auf diesen Begriff weiter unten ausführlich zurück, denn auch Kunstwerke begreift Adorno, in einem klarer konturierten Sinne als im Falle der Philosophien, als Kraftfelder. Seine eminente Bedeutsamkeit kann ich hier lediglich andeuten. Allerdings möchte ich jetzt schon notieren, dass etwa im so wichtigen Text Vers une musique informelle die Ästhetik die primäre Funktion zugewiesen bekommt, Werke als Kraftfelder zu ›entziffern‹: Die Ästhetik sei weder »von oben her aus Philosophie zu deduzieren noch empiristisch-deskriptive Kunstwissenschaft. Ihr Medium wäre die Reflexion der musikalischen Erfahrung auf sich selbst, derart, daß deren Gegenstand nicht als einfach zu Beschreibendes hingenommen, sondern als Kraftfeld entziffert wird.« (16/539) Wie genau eine solche Entzifferung ablaufen und was der Begriff des Kraftfelds genauer besagen soll, darüber schweigt sich Adorno jedoch oftmals aus. Es gehe ihm jedenfalls gegenüber Widersprüchen in Kompositionen oder Kunstwerken »genauso, wie es mir in der Philosophie geht, wo dann immer so eine ganz beliebte Art des Verhaltens ist, daß man sagt, ja aber Nietzsche oder Hegel oder sonstwer, die widersprechen sich ja an der und der Stelle. Ich pflege dann darauf nicht etwa, wie es gewisse Philologen tun, so vorzugehen, daß ich diese Widersprüche ableugne und aus der Welt
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nicht einzige, Aufgabe im Durchkämmen der philosophischen Tradition bestehe darin, »Philosophie überhaupt und die Kantische im besonderen Ihnen als eine Art von Kraftfeld zu zeigen« (ebd.: 95). Kraftfelder sind philosophische Theorien genau dann, wenn sie nicht geschlossen, einheitlich und ohne innere Widersprüche sind. Sondern nur, wenn sie als Manifestation einer latenten Aporetik lesbar sind: »[I]ndem man […] diese Widersprüche nicht einfach als Unstimmigkeiten des Denkens hinnimmt, sondern indem man versucht zu zeigen, wie diese Widersprüche in der Schichtung eines solchen Denkens motiviert sind, kommt man allerdings dazu, ein solches Denken als mehr zu verstehen denn als das, als was es sich gibt: nämlich als den Niederschlag eben eines solchen Kraftfelds.« (Ebd.: 124) Ein Kraftfeld ist die kantische Philosophie also dadurch, dass sich in ihr widersprüchliche Motive – oder eben ›Kräfte‹ – aneinander abarbeiten. Dieser Widerstreit der Kräfte bringt es mit sich, dass dessen Theorie nicht glatt aufgeht, kein schlichtes Set von in ihr selbst ohne Widerspruch bleibenden Thesen ist. Diese innere Komplexität von Kants Philosophie erlaubt es Adorno auch allererst, die Probleme, die zu einander entgegengesetzten Lösungen führen, zu rekonstruieren und die der kantischen Moralphilosophie gewidmete Vorlesung ›Probleme der Moralphilosophie‹ zu nennen. Adornos Ziel besteht auch hier, ganz ähnlich wie in der eher der theoretischen Philosophie gewidmeten anderen Vorlesung über Kant, in dem Aufweis, dass »hinter diesen Argumentationen […] aneinander sich abarbeitende, oft sehr schwierige und oft miteinander inkompatible Motive stehen.« (VLProbMoral: 56) Und ebenfalls greift er auf die Metapher des Kräftespiels, Kraftfelds oder Kräfteparallelogramms zurück, um seinen methodischen Ansatz zu illustrieren. Die eigentliche »Hauptaufgabe des philosophischen Verständnisses« ist demnach, »daß Sie unterhalb der scheinbar logisch plausiblen und in sich einstimmigen Theoreme das Kräfteparallelogramm gewahren, das dann eben zu der jeweils vorgetragenen Lehrmeinung vergleichsweise in dem Verhältnis steht wie das Kräfteparallelogramm der Physik zu seiner Resultante.« (Ebd.) An welche inkompatiblen Motive oder widerstreitende Gedanken dabei zu denken wäre, werden wir weiter unten noch sehen, wenn wir dem Übergang von den bei Kant virulenten Antinomien zur Dialektik konkreter nachfahren. Mit Blick auf diese Probleme spricht Adorno an vielen Stellen von der besonderen ›Tiefe‹18 Kants, diese Widersprüche und Aporien ›stehen gelassen‹ oder ›ausge-
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schaffe, sondern ich suche dann zu zeigen, was diese Widersprüche ausdrücken, das heißt, welches Kraftfeld, welche Kräfte, die hinter dem Gedanken oder hinter der Komposition wirksam sind, in diesen Widersprüchen zutage kommen« (VLKranich: 292f.). Ob man Kompositionen, Werke der bildenden Kunst, literarische Werke und philosophische Theorien jedoch alle gleichermaßen als Kraftfelder erschließen kann und ob dies nicht einen spezifischeren, jeweils modifizierten Begriff des Kraftfelds erfordert, erwägt Adorno nicht. Dieser Begriff findet sich vielfach sowohl in der Vorlesung über Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. VLKant: 115, 203, 280ff., 313f., 331) als auch in der Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnis-
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halten‹ zu haben, also ihre Unauflöslichkeit aufgezeigt und eingestanden zu haben. Tiefe ist Adornos Begriff für den eben erläuterten positiven, konstruktiven Effekt, den die Exposition von in einer Philosophie virulenten Problemen haben kann. Mit ihm meint Adorno, zugespitzt gesagt, dass sich das Nichtgelingen als eigentliches Gelingen darstellt, dass die Fehler und Unaufgelöstheiten einer Philosophie wie der Kants zumindest dies für sich haben, dass sie die Prätention, Probleme definitiv lösen zu können, zu vermeiden zwingen. Er ist daher »der Ansicht, daß die Tiefe einer Philosophie überhaupt nur nach der Tiefe ihrer Fehler sich bemessen läßt, – und nicht etwa nach dem runden Gelingen der einstimmigen Resultate, in denen sie etwa terminieren würde.«19 (VLKant: 331) Im Falle der kantischen Philosophie liegt dieses Eingeständnis der Unauflösbarkeit – oder der ›Fehler‹ von dessen Philosophie – im Oszillieren zwischen der Welt der Phänomene und der Welt der Noumena, zwischen einerseits dem Votum für Aufklärung und einen subjektivierten Vernunftbegriff und andererseits der Anerkennung eines darüber hinausweisenden Moments. Darum meint Adorno, dass
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theorie (vgl. VLEinlErk: 247, 287), in der ebenfalls vor allem Kants Theorie als Exemplar einer solchen ›Tiefe‹ gehandelt wird. In der ersten der Vorlesungen zur philosophischen Terminologie verwendet Adorno überdies mehrere Vorlesungssitzungen auf diesen Begriff (vgl. VLPhilTerm1: 133-147, 169ff., 174-184). Da der Begriff auch in der Negativen Dialektik (6/28) und in der Minima Moralia (4/83, 162) eine gewisse, allerdings nicht mehr terminologisch präzisierte Rolle spielt, sollte man Adornos Perspektivierung von Kant als Repräsentanten einer solchen Tiefe und damit auch den Begriff der ›Tiefe‹ wohl nicht vernachlässigen. Da der Begriff allerdings aus meiner Sicht wenig mehr zu meinen scheint als die Reflexion der Aporien der Philosophie und, heute vielleicht noch mehr als zur Zeit Adornos, etwas von einer »Bildungsphrase« (VLEinlErk: 287) oder einer »Sonntagsphraseologie« (VLKant: 281), wie Adorno selbst argwöhnt, hat, werde ich ihn dieser Arbeit nicht weiter verfolgen oder verwenden. Dieser paradoxale Begriff des Gelingens – das eigentliche Gelingen bestehe in einer Form des Mißlingens, das wahrhaftige Können in einer bestimmten Form des Nichtkönnens – kehrt dann auch in Adornos ästhetischen Überlegungen wieder. Christoph Menke hat diese Begrifflichkeit präziser auszudeuten unternommen (vgl. vor allem Menke 2007); darauf komme ich gleich noch zurück. Deutlicher als in den betreffenden Stellen der Ästhetischen Theorie (7/84, 87, 219, 240ff., 280ff. et passim) formuliert Adorno diesen Gelingensbegriff in den BeethovenFragmenten. Wegen der Nähe zur oben behandelten Thematik gebe ich diese luzide Stelle (Beethov: 149f.; Hervorhebungen bis auf die letzte DJ) im ganzen wieder: »Die Kunstwerke obersten Ranges unterscheiden sich von den anderen nicht durchs Gelingen – was ist schon gelungen? – sondern durch die Weise ihres Mißlingens. Denn es sind die, deren Probleme so gestellt sind, daß sie mißlingen müssen, während das Mißlingen der minderen zufällig, Sache des bloßen subjektiven Unvermögens bleibt. Groß ist ein Kunstwerk wenn sein Mißlingen objektive Antinomien ausprägt. Das ist seine Wahrheit und sein ›Gelingen‹: auf die eigene Grenze stoßen. Jedes Kunstwerk das sie nicht erreicht und gelingt ist demgegenüber mißlungen. Diese Theorie stellt eigentlich das Formgesetz dar das den Übergang des ›klassischen‹ zum späten Beethoven bestimmt und zwar derart, daß das objektiv in jenem angelegte Mißlingen von diesem aufgedeckt, zum Selbstbewußtsein erhoben, vom Schein des Gelingens gereinigt und eben damit ins philosophische Gelingen erhoben wird.«
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
»in ihr eine Zweideutigkeit des aufklärenden Denkens selber zum Äußersten sich vollendet und bis zu einer Antinomie kommt: daß nämlich das aufklärende und aufgeklärte Denken auf der einen Seite wirklich auf die Utopie abzielt, also auf die Verwirklichung der Vernunft; daß es aber auf der anderen Seite dabei auch kritisch gegen den Begriff der Vernunft wird und damit sich selbst in seiner Geltung einschränkt und […] das Absolute eigentlich sich verbietet.« Es setze dann gerade einen »ganz bestimmt gearteten […] Begriff von Tiefe voraus, wenn man gerade in dieser eigentümlichen Zweideutigkeit, in diesem merkwürdigen Zurückbleiben der Philosophie vor dem, was dem Gedanken nun einmal aufgegeben ist [….] sein besonderes Verdienst sehen will.« (Ebd.: 115) Kants eigentliches Verdienst – oder eben seine ›Tiefe‹, eventuell auch seine ›Radikalität‹ oder ›Konsequenz‹ – besteht also darin, nicht bloß die eine Seite des Problems – subjektzentrierte Vernunft, Aufklärung, begriffliche Strukturierung der Erfahrung – bedacht zu haben, sondern zugleich auch aufmerksam auf die Irreduzibilität dessen gewesen zu sein, worauf sich der erste Pol – das Subjekt, der Begriff, die Aufklärung – richtet. Das sind die beiden Seiten, Momente oder Pole, die in Kants Philosophie widerspruchsvoll zusammengezwungen sind und ihre immanente Aporetik ausmachen. So sehr also sich die kantische Philosophie darum dreht, »jede organisierte Erfahrung […] auf die Analyse des Bewußtseins des Subjekts […] zurückzuführen«, so sehr sie also darauf abhebt, dass uns Erscheinungen, nicht Dinge an sich gegeben sind, ist sie doch zugleich »ein Denken, das das Moment des Nichtidentischen aufs allernachdrücklichste zur Geltung bringen will. Es ist ein Denken, das sich nicht darin erschöpft, alles was ist auf sich zurückzuführen.« (Ebd.: 104) In der kantischen Begrifflichkeit des Noumenalen, des Dings an sich oder des ›Blocks‹, wie Adorno es dann insbesondere in der Negativen Dialektik nennt (vgl. 6/377ff.; desweiteren 5/323f.; VLKant: 34, 117ff., 263ff.), sind die zentralen Konzeptionen des Nichtidentischen und des Vorrangs des Objekts mithin bereits vorgebildet. Daran läßt sich nun auch präzisieren, inwiefern genau Adornos Kritik der philosophischen Tradition – also die Reflexion ihrer inneren Aporien – in die Dialektik mündet. Denn in dem Widerspruch, dass wir zwar die Dinge an sich nicht erkennen können, wir aber auf irgendeine Art doch von ihnen wissen müssen, in der Reflexion des Ungenügens oder der Unzulänglichkeit, in »diesem scheinbaren Denkfehler der ›Kritik der reinen Vernunft‹« ist für Adorno darum »die ganze Frage der Dialektik […] eigentlich angelegt […] als die zwei Seiten der Aufklärung: nämlich auf der einen Seite die Beseitigung eines erkenntnistheoretischen Dogmatismus, der irgend etwas annimmt, was sich nicht in Vernunft ausgewiesen hat; auf der anderen Seite aber auch die Einschränkung des vom Menschen Gemachten, das nicht sich selbst als eine Objektivität verkennen darf, sondern das sich seiner selbst als eines bloß Innermenschlichen und als eines insofern Beschränkten eigentlich bewußt sein darf.« (VLKant: 106)
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(ii) Dialektik. Optiert man in der Lektüre von Adornos Philosophie so, wie ich es im Vorstehenden getan habe, fällt es mithin nicht schwer nachzuzeichnen, welche ihrer Gehalte in Kants Theorie schon in impliziter, embryonaler Weise enthalten sind. Die zwei für unseren Fragezusammenhang interessanten, miteinander verquickten und gerade eben ausführlich behandelten Punkte sind: (i) das Bewusstsein der Aporetik der Philosophie und (ii) die Einsicht in ihre eigene Unzulänglichkeit gegenüber den sich ihr selbst stellenden Aufgaben.20 Adorno streicht nun die bei Kant auffindbare Antinomik oder Aporetik nicht deswegen heraus, um die Abstammung seiner Philosophie von der Kants zu verdeutlichen; ebensowenig wie man ihn, wie es allerdings vielfach geschehen ist, als – kritischen – Hegelianer qualifizieren kann, geht er als Kantianer durch. Vielmehr will er darauf hinaus – und darum sind aporetische Begriffe ja nicht allein bei Kant, sondern auch bei Hegel, Husserl oder Heidegger notierbar –, dass sich von dieser Perspektive aus die Geschichte der Philosophie vor allem als »Problemzusammenhang« (ebd.: 89) erschließt: gerade die Unauflösbarkeit und damit das Weitertreibende der Aporien ermöglichen, dass »die Geschichte der an Kant anschließenden Philosophie […] als in Kant selbst inhärent aufgezeigt wird, anstatt daß nun monadologisch eine jede derartige philosophische Konzeption isoliert, bloß für sich abgehandelt würde.« (Ebd.: 109; Hervorhebung DJ) Genauer bedeutet dies, das Verbindende, das sich Durchziehende in der Tradition der Philosophie nicht als einen Vorrat von problemauflösenden Begriffen oder als ein Arsenal verbürgter
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Ich komme gleich noch darauf zurück, aber man wird hier unmittelbar an die von Kant verschiedentlich angesprochene Notwendigkeit und Nötigung der Vernunft zu sie übersteigenden Ideen bzw. Aufgaben denken müssen. Wichtig ist mir hier vor allem, dass die Vernunft (i) durch sich selbst dazu genötigt wird und (ii) konsequenterweise dazu keines Anstoßes von außen bedarf (weil dieses Außen, durch ihre Selbst-Differenz, in sie eingefaltet ist). In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant etwa, die transzendentalen Ideen seien »nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, und beziehen sich daher notwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transzendentalen Idee adäquat wäre.« (KrV A327/B384; Hervorhebung DJ) Vorher (KrV A255/B310f.) heißt es ganz explizit und sehr ähnlich: »[d]er Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet« oder erst nachträglich in einer kritischen Operation an das Denken herangetragen worden, sondern durch das menschliche Denken selber gesetzt. Denn der Verstand »setzt sich […] selbst Grenzen, sie [die Noumena bzw. Dinge an sich, DJ] durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.« (KrV A256/B312) Vgl. die Überlegungen zur Notwendigkeit der Aporien und besonders zur kantischen »Bestimmung des Widerspruchs und seiner Notwendigkeit, die eigentlich die Schlichtung verbietet« und die »gegenüber dem späteren Idealismus auf seiner Seite die unversöhnlichere Wahrheit« ausmacht (5/37), etwa VLKant: 330; VLEinlErk: 319ff.; VLEinfDia: 86ff., 99f.; 6/238, 244, 374ff.
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
Lehrsätze zu sehen, sondern in gewissen, sich immer wieder neu stellenden Problemen. »Die Einheit der Philosophie liegt nicht in ihren Lösungen«, sondern »daß zwischen ihnen ein Problemzusammenhang besteht« (ebd.: 89). Dass etwa die bei Kant anhängige Frage nach dem Ganzen aller Erscheinungen als eine der Antinomien der Kritik der reinen Vernunft ein, wie Kant selbst sagt, »Problem ohne alle Auflösung« (KrV A328/B384) ist, lässt ihn diese Frage für keineswegs nichtig oder müßig erklären. Kant wendet sich ja verschiedentlich und ganz vehement gegen die abschätzige Redeweise, etwas sei »nur eine Idee« (ebd.). Im Kontext seiner würdigenden, lobenden Worte über Platons Ideenlehre etwa heißt es daher: »Daß niemals ein Mensch demjenigen adäquat handeln werde, was die reine Idee der Tugend enthält, beweiset gar nicht etwas Chimärisches in diesem Gedanken.« (KrV A315/B373) Die Undarstellbarkeit, Negativität oder Problematizität solcher Begriffe generiert auch nach Kant vielmehr eine unerwartete Fruchtbarkeit. Denn ganz entgegen geläufiger Lesarten und auch entgegen der Vorbehalte Derridas21 , impliziert Kants Redeweise von Ideen nicht eo ipso eine unendliche Vertagung oder einen unendlichen Aufschub. Dann hätte ihre Schmähung als bloßer Ideen – ›nur eine Idee‹ – ihren guten Sinn; sie wären eine bloße Vertröstung, ein Herzenswärmer, müßig. Vielmehr, so präzise und so affirmativ gegenüber der Antinomik des Denkens formuliert Kant es nur in der Kritik der praktischen Vernunft, ist »die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der Tat die wohltätigste Verirrung […], in die die menschliche Vernunft je hat geraten können« (KpV A193). Denn wie er im Hinblick auf Platon schon in der Kritik der reinen Vernunft feststellte, hat »unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis […], als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können« (KrV A314/B370f.), und die Ideen sind nun eben
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Derridas zentraler Vorbehalt gegenüber der Rede von Idee oder regulativer Idee besteht gerade in dieser naheliegenden Verzeichnung des Status des à-venir. Ich bin darauf oben schon eingegangen, möchte hier aber noch einmal pointieren: für Adorno wie für Derrida ist dieser Status wesentlich komplizierter; Ideen sind also weder schier transzendent noch schier präsent, sondern durch eine aporetische Spannung zwischen diesen Polen gehalten. Deshalb bedeutet die Zukunftsform des à-venir »nicht Ferne oder endloser Verzug, die durch irgendeine regulative Idee autorisiert wären. Diese Zu-kunft schreibt hier und heute eilige Aufgaben und dringliche Verhandlungen vor.« (Derrida 2006i: 343) In Schurken hat Derrida dann in Auseinandersetzung genau mit Kant diese Begrifflichkeit weiter profiliert und besonders die Momente der Dringlichkeit und der Präsenz, die dem à-venir ebenso irreduzibel eignen, prononciert (vgl. Derrida 2006c: 119-123). »Die Zukunft [à-venir] der Demokratie ist«, wie er dort weiter vorher sagt, »zugleich, wenn auch ohne Präsenz, das Hic et nunc der Dringlichkeit, des Gebots als absoluter Dringlichkeit. Selbst dort, wo die Demokratie aussteht oder auf sich warten läßt.« (Ebd.: 50) Man ersieht hieran sehr gut die aporetische Fassung dieses Begriffs: zugleich präsent und zukünftig, zugleich dringlich und aufgegeben; also nur in dieser aporetischen, spannungsvollen Form ›real‹.
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schlicht die Manifestation dessen, was natürlicherweise in der Vernunft als dieses ›höhere Bedürfnis‹ angelegt ist. Die Antinomik des Denkens hat, als Verirrung, dann darin ihr Positives, dass sie uns »antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen« (KpV A193). In dieser aus der Unauflösbarkeit sich speisenden Fruchtbarkeit liegt es, dass sich der von Adorno angedeutete Problemzusammenhang, der die Tradition der Philosophie für ihn ist, als eine Geschichte wechselnder Lösungen und Wiederentfaltungen von Problemen darstellt. So wird »[e]in Problem […] von einer Philosophie an die andere weitergegeben, wodurch vielfach die Tradition des Problems in Gestalt der Termini bewahrt wird, während sie sich die Veränderung […] niederschlägt in dem neuen Gebrauch, in den die Termini kommen.«22 (VLPhilTerm1: 16) Ganz dem gemäß läßt sich ja, wie wir gerade eben gesehen haben, mit einiger Plausibilität davon sprechen, das Problem der Unerkennbarkeit des Ding an sich kehre wieder im oder bilde den Vorläufer des Problems des Vorrangs des Objekts und der Verfehlung des begrifflich verfaßten Denkens, das Nichtidentische zu erkennen. Man versteht nur vor diesem Hintergrund genauer, was Adorno mit der eigentümlichen Formulierung meinen könnte, die Geschichte des nachfolgenden Denkens ebenso wie die Dialektik sei Kant ›inhärent‹. Das reproduziert hier keine lapidare Bildungspreziose – die nachfolgenden Philosophien seien etwa ›Fußnoten‹ zur kantischen – oder impliziert wenig Überzeugendes und von Adorno vermutlich nicht Gemeintes – nach Kant sei nichts Wesentliches, Bedenkenswertes mehr geschehen. Die Geschichte der nachkantischen Philosophie hat für Adorno – vermutlich nicht: vollständig, gänzlich, aber doch in manchen ihrer wesentlichen Züge – die bei ihm auffindbaren Problemstellungen wieder und wieder adressiert und in wechselnden Terminologien buchstabiert. Denn wenn sich auch, wie sich im 22
In den sich vom Mai 1962 bis zum Februar 1963 erstreckenden, ausführlichen Vorlesungen über philosophische Terminologie kommt Adorno mehrfach, jeweils zu Beginn des Semesters auf diese problembezogene Analyse der Geschichte der Philosophie zurück, denn zwischen den Begriffen und den Problemen herrsche ein intimer Zusammenhang. »Philosophische Termini«, so Adorno, »sind eigentlich geschichtliche Knotenpunkte des Gedankens, die übrig geblieben sind […]. Oder lassen Sie mich es so umformulieren, daß jeder philosophische Terminus die verhärtete Narbe eines ungelösten Problems sei.« (VLPhilTerm2: 10f.) So wie er in seiner Kantvorlesung den Versuch unternahm, die kantische Philosophie als Kraftfeld, das um ungelöste Probleme herum zentriert sei, zu erschließen, so bestimmt er hier seine Absicht als den Versuch, »diese Probleme, die sich gewissermaßen in den Termini verkappt haben, wieder lebendig zu machen«, denn »[d]ie Geschichte der Philosophie ist eben im Unterschied zu der Geschichte andere fachwissenschaftlicher Disziplinen nicht einfach die eines Fortschritts im Sinn der eindeutigen Lösung von Problemen; die Philosophie löst zwar Probleme, aber indem sie Probleme löst, wirft sie diese weg und vergißt sie und setzt andere an ihre Stelle, in denen jene wieder hervorkommen.« (Ebd.: 11f.) Notwendig sei daher auch »eine Geschichte des Vergessens in der Philosophie« (VLEinlErk: 78; VLPhilTerm1: 116f.).
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
Vorangegangenen schon angedeutet hat, bei Kant die Diagnose der dem Denken eigentümlichen und ihm qua Natur aufgegebenen Antinomien, Aporien oder Widersprüche finden lässt, so scheint er doch zumindest stellenweise für Adorno in eine dichotomisierende Perspektive zurückgefallen zu sein. Diese Auflösung der Widersprüche in zwei klar voneinander separierbare Seiten oder Pole – als Dualismus oder Dichotomie – lässt ihre aporetische Bezogenheit außer Acht und invisibilisiert damit auch das fortdauernde Problem ihrer dialektischen Vermittlung. Hegels Kritik an Kant besteht für Adorno im wesentlichen im erneuten Etablieren dieser Problemstellung.23 Wir müssen im folgenden noch genauer rekonstruieren, welche Gründe sich ausmachen lassen, weshalb Adorno nicht bruchlos an die bei Kant bereits vorgeformte Problemlösung anschließen konnte. Die Redichotomisierung der widersprüchlichen Dopplung der Vernunft – etwa, um nochmals beispielhaft einige dieser Begriffspaare zu nennen, zwischen Erscheinung und Ding an sich, zwischen Transzendentalem und Empirischem, Gesetz und Freiheit – führt vor allem zwei Probleme herauf: (i) zum einen führt die strikte (›dualisierende‹) Scheidung zweier Vermögen in das Desiderat, theorieintern ein vermittelndes Vermögen auszusinnen, das zwischen beiden zugleich vermittelt und sie dennoch distinkt hält; Urteilskraft und Einbildungskraft haben bei Kant genau diese mediale Funktion; (ii) zum anderen wiederholt sich damit auch der Vorwurf des bloß aufschiebenden, vertagenden oder resignativen Effekts, der, je nach Auslegung, in Kants »Exemption [sic!] der intelligibeln Sphäre von jeglicher Immanenz« (VLNegDia: 181) ebensosehr enthalten ist. Auf das erste Problem kommen wir noch ausführlich dann zu sprechen, wenn es um die Relevanz der kantischen Bestimmung der Einbildungskraft als zwischen Verstand und Sinnlichkeit, Begriff und Anschauung vermittelndem Vermögen gehen wird. Denn in diese Bestimmung ist von Kant überdies ein zeittheoretisches Moment eingefaltet worden, das für die Erläuterung des Begriffs geistiger Erfahrung von eminenter Bedeutung ist. Das zweite Problem führt nun genau in die an Kant unmittelbar anschließende, positive Bestimmung von Dialektik, die Adorno vornimmt und deren Erläuterung ich bis hierhin, für einen Umweg, aufgeschoben habe.
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Adorno wiederum steht selber gleichsam zwischen Kant und Hegel. Ich kann auf diesen Punkt nicht ausführlich eingehen, möchte allerdings ganz schematisch sagen: von Kant übernimmt er den Gedanken des im Ding an sich verkapselten Nichtidentischen; von Hegel die gegen Kants Resignation gerichtete Nobilitierung des Widerspruchs, mit endlichen Mitteln ein Unendliches darstellen zu müssen; gegen Hegel wiederum bringt er die Unauflöslichkeit dieses Widerspruchs in Stellung, deswegen: negative Dialektik. »Es ist […] in der Ästhetik so, wie es in der Lehre von der Erkenntnis ist, daß der Prozeß zwischen Kant und Hegel ein offener Prozeß ist und daß die beiden immerwährend gegeneinander rechtzuhaben scheinen.« (VLÄsth68: 49)
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Kant war, wie ich bis hierhin ausführlich zu erweisen versucht habe, für Adorno vor allem derjenige, der nachdrücklich »die Idee der Andersheit« (VLOntDia: 335; 6/185), also die Irreduzibilität des Nichtbegrifflichen auf den Begriff oder des Objekts auf das Subjekt, in die Philosophie eingeführt hat. Aus dieser Einsicht können aber mehrere unterschiedliche Folgerungen gezogen werden, die sich teilweise schon angedeutet haben. Zunächst (i) führt sie zu einer Selbstbeschränkung des Denkens: es kann eben, ganz simpel und banal gefasst, das Unendliche nicht im Endlichen abbilden. Kant rekurriert – also schon lange vor dem ›jüdischen‹ Philosophen Adorno – in der Kritik der Urteilskraft etwa auf die Idee des jüdischen Bilderverbots als Vorläuferin dieser Konsequenz (vgl. KU A123/B124f.). So wie das Bilderverbot, so schneidet »die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit […] aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab« (KU A124/B125). Was es sonach allein geben kann, ist eine »negative Darstellung der Sittlichkeit«, womit alle darüber hinausreichende »Schwärmerei« (ebd.) blockiert ist. Diese Folgerung aus der Einsicht in die ›Idee der Andersheit‹ ist wesentlich von negativem Charakter: es geht um eine Selbsteinschränkung des Denkens, um die Abwehr von »Wahn und Blendwerke« (KrV A238/B297), darum, dass »[d]er Verstand […] die Sinnlichkeit [begrenzt, DJ], ohne darum sein eigenes Feld zu erweitern, und […] jene warnet, daß sie sich nicht anmaße, auf Dinge an sich selbst zu gehen, sondern lediglich auf Erscheinungen« (KrV A288/B344). Solcherlei bei Kant selber zu findende Schlüsse aus der Anerkenntnis der Idee des Noumenalen zeigen eine unmittelbare Nähe zu ebenfalls negativ gehaltenen, also die Grenze des Denkens und die Unmöglichkeit der definitiven Lösung ihrer Aufgaben reflektierenden Bestimmungen der Dialektik, die Adorno stellenweise vornimmt. Beide sind mithin darin konkordant, nicht die »Identität von Sein und Denken […], sondern […] gerade das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit, artikulieren« (VLNegDia: 15f.) zu wollen. Man mag daher nicht fehlgehen, Kants Philosophie tatsächlich als Dialektik avant la lettre aufzufassen.24 24
Eine Passage aus Adornos wichtigem Text über Fortschritt, die er auch in seinen Vorlesungen Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit verliest, bringt dieses Kantverständnis auf den Punkt: »Dialektisch, im strengen unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, Eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen. Das eine Moment schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft auf sich Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert. Kants unvergleichliche Größe bewährte nicht zuletzt sich darin, daß er die Einheit der Vernunft noch in ihrem widerspruchsvollen Gebrauch, dem naturbeherrschenden der nach seiner Sprache theoretischen, kausalmechanischen, und dem versöhnlich der Natur sich anschmiegenden der Urteilskraft, unbestechlich festhielt und ihre Differenz strikt in die Selbsteingrenzung der naturbeherrschenden Vernunft verlegte. Eine metaphysische Interpretation Kants hätte diesem keine latente Ontologie zu imputieren, sondern
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Allerdings gibt es auch (ii) eine scharf formulierte Kritik Adornos an einer anderen, ebenso möglichen und bei Kant auch tatsächlich vorhandenen Folgerung aus der Idee des Ding an sich bzw. der Andersheit. Diese schließt aus der Unzugänglichkeit und Unerkennbarkeit dieser Sphäre, dass das gesamte Problem falsch gestellt sei und die Unzugänglichkeit jeden Versuch, sich doch dieser Sphäre zu nähern oder die Differenz theoretisch komplizierter zu fassen, als nichtig erscheinen lasse. Die Unauflösbarkeit des Problems hat hier keinen begriffliche Lösungsvorschläge katalysierenden Effekt, sondern mündet in die Resignation, es überhaupt noch versuchen zu wollen. Die strikte Scheidung zwischen Subjekt und Objekt, Sphäre der Erscheinungen und noumenaler Sphäre läuft für Adornos daher auf eine von ihm mehrfach an Kant beanstandete Tautologisierung der Erkenntnis hinaus (vgl. etwa VLKant: 105f., 195ff., 207f.; 5/22, 305f.). »Daß Erkenntnis ausschließend aufs Subjekt oder aufs Objekt soll reduziert werden können«, also die dualistische Tendenz in Kants Philosophie, »erhebt die Isolierbarkeit, das Zerlegen, zum Gesetz der Wahrheit. Das ganz Isolierte ist die bloße Identität, die in nichts über sich hinausweist, und die integrale Reduktion aufs Subjekt oder aufs Objekt verkörpert das Ideal solcher Identität. […] [I]st die Erkenntnis nicht unbedingt, so soll sie sogleich hinfällig sein« (5/95), wie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie schreibt. Wird das Subjekt bei Kant tatsächlich strikt vom Objekt – oder jedenfalls von dem am Objekt, das seine erkenntnisleitenden Strukturen übersteigt – geschieden, die Form rein vom Inhalt separiert und die Erkenntnis auf das Reich der Erscheinung zurückgeschnitten, so läßt dies zwar die noumenale Sphäre intakt, die Integrität der Idee der Andersheit bleibt gewahrt, aber es gibt auch keinerlei Wechselwirkung zwischen den beiden Sphären mehr.25 Alles Denken wäre, so
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die Struktur seines gesamten Denkens als eine Dialektik von Aufklärung zu lesen, die der Dialektiker par excellence, Hegel, nicht gewahrt, weil er im Bewußtsein der Einen Vernunft deren Grenze tilgt und damit in die mythologische Totalität gerät, die er für ›versöhnt‹ hält in der absoluten Idee.« (10/627f., Hervorhebung DJ; vgl., mit geringfügiger Modifikation, VLGesFrei: 221f.) Besonders simpel und nachvollziehbar drückt Adorno diesen vielleicht etwas kompliziert anmutenden Gedanken in seiner Kantvorlesung aus. Diese Stelle sei hier deswegen der Verständlichkeit halber zitiert: »Es [das Ding an sich, DJ] mag eben dann doch fungiert haben als jenes andere, auf das Erkenntnis schließlich sich bezieht, – nur daß dieser Trost etwa so trostreich ist wie der, den man im allgemeinen bei Beerdigungen erfährt; nämlich von der Art, daß zwar gesagt wird: ja, also alle unsere Erkenntnis bezieht sich schließlich auf das Ding an sich, denn die Erscheinungen, die ich konstituiere, die ich ordne, werden ja in letzter Instanz verursacht von dem Ding an sich; aber da auf der anderen Seite der Erkenntnisprozeß und der Inhalt der Erkenntnis von diesem schlechthin unerkennbaren Ding an sich radikal durch einen chorismos im Platonischen Sinn getrennt ist, so nutzt mir für meine tatsächliche Erkenntnis dieser Gedanke an das Ding an sich überhaupt nichts. Das heißt: das, was ich als Objekt erkenne, ist eben doch nur Gegenstand, ist doch nur Objekt […] und gerade nicht Ding an sich und bleibt damit eben immer subjektiv Konstituiertes.« (VLKant: 195)
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Adorno, lediglich »eine einzige gigantische Tautologie«: das Subjekt würde »immer wieder nur sich selber erkennen […]; und dieses bloße Sich-selbst-Erkennen des Subjekts, das wäre eben genau ein Rückfall in jenes mythologische Denken, dem der Aufklärer Kant entgegengearbeitet hat.« (VLKant: 105f.) Dass Adorno dieser Tendenz in Kants Philosophie nicht affirmativ gegenüberstehen kann, dürfte wohl nach dem bisher Ausgeführten auf der Hand liegen. Wo er etwa vom »kritische[n] Element der Philosophie als Vertagung und Versagung« (11/241), von der »Vertagung der Erkenntnis« (ebd.: 23) durch die ›erwachsene Pedanterie‹ gegenüber der studentischen Naivität oder vom »Aufschiebende[n] und Vertröstende[n]« (ebd.: 359) des Geistes gegenüber der sinnlichen Erfüllung spricht, meint Adorno immer diese Tendenz. Denn wo sich diese bei Kant selbst andeutet, chiffriert sie für Adorno stets eine Gesamttendenz der Kultur oder der Aufklärung insgesamt. Darum heißt es, diese Frontstellung pointierend, im Essay als Form (ebd.: 30): Während Glück der Zweck aller Naturbeherrschung sein soll, stellt es dieser zugleich immer als Regression in bloße Natur sich dar. Das zeigt sich bis in die höchsten Philosophien, bis in Kant und Hegel hinein. Die Vernunft, an deren absoluten Idee sie ihr Pathos haben, wird zugleich von ihnen als naseweis und respektlos angeschwärzt, sobald sie Geltendes relativiert. […] Während die Vernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen, sich selbst begründen soll, dichtet sie sich dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue und gegen die auch von der Existentialontologie beschimpfte Neugier, das Lustprinzip des Gedankens. Was Kant inhaltlich als den Zweck der Vernunft einsieht, die Herstellung der Menschheit, die Utopie, wird von der Form der Erkenntnistheorie her verwehrt, welche der Vernunft es nicht gestattet, über den Bereich der Erfahrung hinauszugehen, der im Mechanismus von bloßem Material und unveränderlicher Kategorie zu dem zusammenschrumpft, was von je schon war. Während Adorno und Kant also in der ersten Folgerung – die negative Selbstbegrenzung des Denkens auf das ihm Zugängliche umwillen des Unbestimmtseinlassens des Anderen – übereinkommen, muss sich Adorno aus erkennbaren Gründen von dieser zweiten bei Kant virulenten Folgerung distanzieren. Es gibt allerdings (iii) noch eine letzte Option, eine dritte Lektüremöglichkeit der bei Kant so prominent platzierten Einsicht in die Unzugänglichkeit der noumenalen Sphäre bzw. der Anerkennung der Idee der Andersheit. Ansätze und Motive zu dieser Folgerung findet Adorno bei Kant selber schon auf – der hiesige Abschnitt der Studie hat bis hierhin ja den Weg verfolgt, in welchem Sinne genau die Dialektik als eine immanente Kritik der traditionellen Philosophie zu verstehen ist und was es genauer bedeuten könnte, sie sei in Kants Philosophie bereits ›angelegt‹. Verständlicher wird anhand dieser potentiellen Folgerungen nun hoffentlich auch, was es mit Adornos Auffassung der kantischen Philosophie als ›Kraftfeld‹ widerstreitender Motive auf sich hat: solcherlei Motive sind eben diejenigen Passagen
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und Gedankengänge, in denen sich etwa die gerade eben skizzierten kontroversen, gegenläufigen Folgerungen andeuten. Kant habe selber verschiedentlich bemerkt, dass die vollständige, restlose »Subjektivierung des Erkenntnisbegriffs« (VLKant: 204) ein Problem zeitigen könnte. Das ist eben das bereits angesprochene Problem, dass die Erkenntnis in diesem Falle so präformiert wäre, dass sich nichts außerhalb der erkenntniskonstitutiven Strukturen Liegendes erkennen ließe, »daß wir gewissermaßen von der Natur immer nur soviel erkennen, wie wir beherrschen können.« (Ebd.: 267) Dann wäre Erkenntnis in der Tat nichts anderes als eine Tautologie; bloße Wiederholung und gefangen im Netz ihrer eigenen Formen und Strukturen. »[D]ie in sich dialektische oder antinomische Gestalt des Kantischen Denkens«, und damit auch die Einsatzstelle für eine positive Umbestimmung dieser kantischen Antinomik, »besteht eigentlich darin, daß es zugleich ein System sein will, daß es also von einem zentralen Punkt, der der des Gedankens ist, die Realität konstruieren will, – und dennoch nicht die Welt als ein mit dem Gedanken Identisches begreifen will.« (Ebd.: 269; Hervorhebung DJ) Dialektik heißt dann einen widersprüchlichen, in sich aporetischen Begriff davon zu entwickeln, wie es dem Denken oder der Erkenntnis gelingen könnte, sich selbst zu überschreiten. Dass dieses Denken endlich ist und nicht an sein Anderes heranreicht, also dass es eine Grenze hat und um diese Begrenztheit weiss – das habe ich im Vorstehenden ausführlich diskutiert und es als jedoch lediglich negative Konsequenz markiert. Die weitergehende Konsequenz kann nun nicht sein: diese Endlichkeit einfachhin zu übersteigen und das Denken als unendliches zu konzeptualisieren. Das ist nicht nur nicht der Weg, den Adorno weiter beschreitet; es tilgt ja auch schlicht die aporetische Problemlage, wie das Denken sich selbst übersteigen soll, wie die »Erkenntnis mehr erkennen soll als eigentlich bloß sich selbst; als eigentlich bloß widerzuspiegeln die Formen von Erkenntnis überhaupt.« (Ebd.: 197) Denn wäre das Denken selber einfachhin unendlich, gäbe es naheliegenderweise gar keine Differenz mehr zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen; dann aber bestünde auch kein Widerspruch, mit begrifflichen, endlichen Mitteln das Nichtbegriffliche dennoch erfassen zu müssen. Vielmehr muss »[d]as Denken selber […] also gewissermaßen suchen, das zu begreifen, was es nicht selber ist. Und diese Paradoxie: daß es etwas muß, was es eigentlich gar nicht kann« (VLEinfDia: 104), diese Paradoxie oder Aporie zwingt nun zu einem anderem Verständnis der inneren Struktur des Denkens bzw. von Vollzügen der Erkenntnis.
2.3 Menkes Idee Exakt diese Problemlage und die Notwendigkeit, ihre theoretischen Konsequenzen auszuloten, hat eine Lektüre von Adornos (und Derridas) Philosophie aufgedeckt,
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die ich jetzt kurz erläutern möchte. Christoph Menkes Arbeiten zu Adorno und Derrida haben es nicht nur für sich, diese von beiden geteilte Problematik luzide rekonstruiert, sondern sie auch in einen umfassenderen Kontext eingeschrieben zu haben. Somit sind sie nicht bloß hilfreich, um den Stellenwert aporetischer und paradoxaler Konstellationen in beider Theorien zu ermessen – und die vorstehenden Ausführungen sollten ja erweisen, dass man das Bedenken von Aporien mit einigem Recht als Knotenpunkt in deren begrifflichem Netz verstehen kann –; sie machen überdies verständlich, dass dies kein idiosynkratisches Thema von Adorno und Derrida, sondern der Ansatzpunkt ist, diese Theorien auf andere hin zu überschreiten und für deren Verständnis fruchtbar zu machen. Dieser, über die engere Diskussion hinausreichende, Ertrag wird gleich noch deutlich werden. Menkes Arbeiten jedenfalls gehen von der »Herausstellung« einer »Differenz im Subjekt, zwischen seiner Macht und seinem Ideal« (Menke 2007: 62) aus. Wie gesehen, besteht diese Differenz bei Adorno und Derrida zwar zwischen unterschiedlichen Sachverhalten – bei Derrida etwa zwischen Recht und Gerechtigkeit oder zwischen Wiederholung und Singularität, bei Adorno zwischen Begriff und Nichtbegrifflichem oder zwischen Erscheinung und Ding an sich –, die Diagnose einer Aporie stellen beide aber gleichermaßen. Entscheidend ist dabei, deutlich zu machen, dass die Verwirklichung des einen Pols – des Ideals, etwa der Gerechtigkeit – zwar des anderen Pols – der Macht, also der Vermögen, Fähigkeiten oder Verfahren des Subjekts oder der Philosophie – bedarf, von diesem aber zugleich verunmöglicht wird. Ein Ideal benötigt zu seiner Verwirklichung notwendigerweise gewisse Vermögen oder Bedingungen, ist aber auf diese allein nicht zurückführbar, reduzibel. Nur durch diese Vermögen oder Bedingungen allein lässt es sich daher nicht verwirklichen; es wird, in seiner Reinheit, in seiner Vollständigkeit oder als es selbst, von diesen zugleich unmöglich gemacht. »Die Aporie, in die Dekonstruktion und Negative Dialektik führen, besteht«, wie Menke verdeutlicht, also »darin, dass Gelingen durch Können nicht ermöglicht werden kann, aber auch nur durch Können ermöglicht werden kann.« (Ebd.: 67) Daraus folgt nun für Menke genau die oben, in anderen Worten, wiedergegebene problematische Konsequenz: wenn einerseits das Können – die Vermögen, die Gelingens- oder Möglichkeitsbedingungen, um ein Ideal zu realisieren – unerlässlich ist, es gleichwohl andererseits die Realisierung des Ideals zugleich hintertreibt oder unterminiert – also, in einem spezifischen Sinn, ›unmöglich‹ macht –, muss das Können anders verstanden werden: es geht darum, zu klären, »wie eine Praxis […] aussehen kann, die […] nach Adorno und Derrida diese Aporie auszuhalten vermag.« (Ebd.) Hier ist es nun nötig, Zweierlei kurz einzuschieben, um die Weise, in der Menke die geteilte Problematik Adornos und Derridas, beschreibt, verstehen zu können. Denn allein aus meinen bisherigen Ausführungen heraus ist nicht direkt ersichtlich, weshalb man dabei so stark auf die Vermögen oder Fähigkeiten (oder eben: die ›Macht‹) eines Subjekts abheben sollte. Es hat sich zwar angedeutet, dass Kant
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bei Adorno als exemplarischer Vertreter der Aufklärung und damit eines Denkens, welches das Subjekt als die Natur beherrschende Instanz einsetzt und es damit mit gewissen Fähigkeiten versieht, figuriert.26 Bei Adorno – wie auch bei Derrida – gibt es aber keine derart zugespitzte, dezidierte Redeweise von Vermögen. Man muss allerdings (i) zunächst sehen, dass im transzendentaltheoretischen Ansatz der Philosophie – also in der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von etwas – sich nicht bloß eine Fragestellung, die verschiedene Phänomene und Ereignisse auf ihren modalen Status, auf ihre Wirklichkeit, Möglichkeit oder Unmöglichkeit befragt, verschlüsselt. Wenn Derrida von Möglichem und UnMöglichem spricht, geht es daher – nicht nur, aber auch – darum, wie etwas möglich gemacht werden kann und welche Voraussetzungen oder Bedingungen dazu erfordert sind; es geht nicht allein um wirkliche, mögliche oder unmögliche Vorkommnisse in der Natur, sondern um das mir oder uns Mögliche und Unmögliche. Derrida geht es somit auch um »ein anderes Denken des Möglichen (der Macht, des beherrschenden und souveränen ›Ich kann‹, der Selbstheit selbst) und eines Umöglichen, das nicht einfach negativ wäre.« (Derrida 2006d: 191) Das Unmögliche ist daher nicht das einfache, das schiere Unmögliche, sondern das einem Selbst oder einem Subjekt Unmögliche: dasjenige, was durch die Möglichkeiten oder Vermögen des Subjekts allein nicht erwirkt werden kann.27 Und ebensowenig ist das Unmögliche ›negativ‹ in einem herkömmlichen Sinn, denn für Derrida ist es nicht dasjenige, was, aufgrund irgendwelcher natürlicher Gesetzmäßigkeiten, nicht geschehen
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Zweifellos ist das ein sehr spezifischer Begriff von Aufklärung, denn bei Adorno fallen tendenziell Aufklärung, die überkommene Philosophie und diejenige Kants ineins. Ob man das problematisch finden muss, steht dahin. Wie Menke in Onkel Adorno schreibt, ist »der Grund für Adornos Weigerung, eine philosophische Theorie des Gelingens zu formulieren, […] seine Kritik der Aufklärung. Aufklärung versteht Adorno kantisch, als Gewinn von Mündigkeit, also: von Subjektivität. Subjekt im Sinn der Aufklärung zu sein, heißt, Fähigkeiten zu haben […]. Adornos Kritik der Aufklärung und der Philosophie, beides ist hier dasselbe, betrifft diesen Punkt.« (Menke 2004: 122; Hervorhebung DJ) Diese vermögenstheoretische Bedeutungsdimension in der Rede von Möglichem und Unmöglichem ist allerdings, soweit ich sehe, lediglich in den späteren Texten Derridas virulent. Vgl. etwa Derrida 2002a: 19, 50ff., 87, wo Derrida von einem »Macht- oder Könnenstrieb[] [pulsion de pouvoir]« (ebd.: 50) handelt; weiterhin Derrida 2001: 73ff., wo Derrida die Dekonstruktion vom »jedem Souveränitätsphantasma, vom Phantasma der souveränen Verfügung« (ebd.: 75) absetzt; oder Derrida/Roudinesco 2006: 87, 91ff., 207, 291. In diesem Gespräch wenige Jahre vor seinem Tod wird überdies klar, dass die Scheidung des Unbedingten vom Souveränen lediglich eine andere Terminologie für die Unterscheidung des Unmöglichen vom Möglichen ist: »Man muß außerdem anerkennen, daß man, wenn man fordert, nicht bedingungslos für die Souveränität zu sein, bereits das Prinzip der Souveränität in Frage stellt. Damit beginnt die Dekonstruktion. Sie fordert eine diffizile, beinahe unmögliche, aber unerläßliche Spaltung zwischen Unbedingtheit (Gerechtigkeit ohne Macht) und Souveränität (das Recht, die Macht oder das Können).« (Ebd.: 157)
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kann. Es ist vielmehr das, dessen Geschehen oder Sichereignen durch Bedingungen und Vermögen allein nicht bewerkstelligt werden kann. In welchem Sinn das Unmögliche dann aber ebensowenig ein schlechthin ›positives‹ Unmögliches ist – also ein Unmögliches, das es, in einem schlichten Sinn, ›gibt‹ und ›möglich‹ ist –, das werden wir noch im Zuge der Diskussion um den Begriff der Iterabilität sehen.28 Auch die (ii) kritische Neubestimmung der Transzendentalphilosophie und des transzendentalen Subjekts – als Träger oder Instanz der Vermögen als Möglichkeitsbedingungen – findet sich bei Derrida deutlich vorgebildet. Dass, in bestimmten Feldern und in Bezug auf bestimmte Phänomene, die Bedingungen der Möglichkeit zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit von etwas sind, ist ein vor allem in dessen späteren Texten häufig auftauchender Gedanke. Die von dieser Einsicht geleitete Analyseform nennt Derrida ›ultra-‹ oder ›quasi-transzendental‹.29 Das prominenteste Beispiel, an dem Derrida diese quasi-transzendentale Struktur illustriert – und das auch Menke zur Erläuterung heranzieht (vgl. Menke 2002: 245) –, ist die Möglichkeit (oder eben: unmögliche Möglichkeit) von Signaturen. Derrida fragt hier zunächst: »Kommt die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichungsereignisses jemals vor? Gibt es Signaturen?« Und er antwortet: »Ja sicher, tagtäglich. Die Wirkungen der Signatur sind die alltäglichste Sache der Welt. Aber die Möglichkeitsbedingung dieser Wirkungen ist gleichzeitig, wieder einmal, die Bedingung ihrer Unmöglichkeit, der Unmöglichkeit ihrer strengen Reinheit. Um
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Wenn Derrida etwa in seinem verschiedenen Figuren des Unmöglichen (Gabe, Verzeihung, Erfindung, Gastlichkeit, Geständnis) gewidmeten Vortrag Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen (Derrida 2003: 35) sagt: »Bevor es sich ereignet, kann das Ereignis mir nur als unmögliches erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es nicht stattfinden kann, dass es nicht existiert; es heißt nur, dass ich es weder auf theoretische Weise aussagen noch es vorhersagen kann« – dann ist damit nicht gemeint, dass das Ereignis nun einfach möglich, dass sein Stattfinden wiederholbar, bemeisterbar und durch ein Subjekt oder bestimmte Vermögen reproduzierbar geworden ist. Das Unmögliche bleibt auch als Mögliches unmöglich – wie man diese Paradoxie, diesen Widerspruch genauer verstehen soll, werden wir dann weiter unten klären. Allerdings ist der Begriff des Ultratranszendentalen wesentlich seltener und eher in früheren Texten zu finden (vgl. Derrida 2003f: 24f.; Derrida 1983: 107) und verweist auf die »Dimension transzendentaler oder sogar ultratranszendentaler Geschichtlichkeit« (Derrida 1994e: 115), die Derrida bei Husserl aufdeckt (vgl. Derrida 1987: 88ff., 117, 155). Man kann wohl kaum sagen, dass dieses begriffliche Gewebe – Ultratranszendentalität und transzendentale Geschichtlichkeit – besonders viel Aufmerksamkeit in der Sekundärliteratur erfahren hat. In welchem Sinne sich Derrida auf einen »Hyper- oder Ultratranszendentalismus (der doch auch ein Hyperrationalismus ist), um den empiristischen Positivismus zu vermeiden, seit der Grammatologie ausdrücklich berufen« (Derrida 2006d: 203 Fn. 39) hat, scheint auch nicht wirklich deutlich zu werden; eine systematischere Erläuterung jedenfalls findet sich bei Derrida nicht.
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zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muß eine Signatur eine wiederholbare, iterierbare, imitierbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion loslösen können.« (Derrida 2001b: 43) Derrida zielt nun zwar an dieser Stelle darauf, dass die Authentizität, Singularität und Gegenwärtigkeit einer Unterschrift (oder: eines Unterschriftsereignisses) nur durch eine wiederholbare, iterierbare Form hindurch möglich, dadurch zugleich aber in ihrer strengen, reinen oder gänzlichen Authentizität, Singularität und Gegenwärtigkeit unmöglich ist.30 Eingedenk der eben skizzierten, auch für Derrida gegebenen semantischen Nähe von Möglichkeit, Vermögen und Macht ist es allerdings unproblematisch, diese paradoxale Gleichzeitigkeit von Ermöglichung und Verunmöglichung auf die Wirkungsweise von praktischen Vermögen, um die es Menke vornehmlich geht, zu beziehen. Die Form der Praxis nun, die diese Aporie ›auszuhalten‹ vermag und auf deren Menkes Beschreibungen abzielen, kann nicht durch gewisse Vermögen – als Möglichkeitsbedingungen – allein gewährleistet sein, sondern es muss etwas nicht auf das Subjekt Zurückführbares hinzutreten, damit sie gelingt. »Dass mir etwas gelingt, ist niemals ganz mein Verdienst, weil es stets darauf angewiesen bleibt, dass ich Glück gehabt habe. Worauf ich also hoffe, ist, dass die beiden Seiten alles Gelingens, mein Selbertun und mein Glückhaben, zusammentreten. […] Dann ist eingetreten, was ich erhofft habe und wofür ich tätig war, ohne es dadurch, dadurch allein, hervorbringen zu können.« (Menke 2007: 69) Glück – oder, bei Menke, Hoffen auf und Glauben an etwas Kontingentes, durch das Subjekt nicht Gewährleistbares – ist also dasjenige Moment an solcherlei praktischen Vollzügen, das zum Können und den Fähigkeiten des Subjekts hinzutreten muss, damit solche Vollzüge nicht einfach das repetieren, was durch diese Fähigkeiten schon hervorgebracht und gewährleistet werden kann. Die Reduzibilität der Praxis – etwa des Denkens (Adorno) oder des Rechts (Derrida) – auf subjektive Vermögen oder rechtliche Verfahren würde in das münden, was beide kritisieren und was ich bereits an verschiedenen Stellen gezeigt habe: das Denken wäre eine tautologische Wiederholung dessen, was ich schon weiß; das Recht würde die Gestalt einer Maschine, eines Automats annehmen, der in jedem (immer minimal verschiedenen, darum 30
Ich komme darauf weiter unten – in der Diskussion des Begriffs der Iterabilität – zurück. Denn unabhängig davon, welche der sich um das aporetische Verhältnis von Singularität und Generalität drehenden Figuren Derridas man in den Vordergrund rückt – Datum, Zeugnis, Ereignis, Eigenname, Signatur, das Ja etc. –, handelt es sich stets darum, eine prinzipielle Komplizierung der Pole zu denken: Singularität gibt es nur durch generalisierende Formen, Generalität nur durch singuläre Instantiierungen; beide Pole sind vom jeweils anderen verunreinigt, kontaminiert oder geteilt. Deshalb sind Begriffe oder Figuren wie das zugleich sichtbare und unsichtbare Gespenst, der sich nur als sich Entziehender gebende Andere oder »das Möglich-Unmögliche, das Einzigartige, insofern es substituierbar ist, die Singularität als wiederholbare Widersprüche, die sich nicht dialektisch auflösen lassen.« (Derrida 2003: 51f.)
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singulären) Fall immer dasselbe Urteil fällt.31 »Dass Hoffnung konstitutiv für eine Praxis ist, die gelingen will«, in der sich das Denken also zu überschreiten oder das Recht die Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht, »liegt daran, dass alles Gelingen davon abhängt, dass meinem Können und Tun, über meine Vermögen und Vollzüge hinaus, etwas entgegen oder zur Hilfe kommt, über das ich nichts vermag und auf das ich nur hoffen kann.« (Ebd.: 70) Diese Praxisform ist also grundlegend geteilt oder komplex; es kann sie nur geben, wo beide Seiten, Pole oder Momente zusammentreten: »mein Selbertun und mein Glückhaben« (ebd.: 69), das Wissen und die Vermögen des Subjekts und dasjenige, worüber das Subjekt nichts vermag, das Kontingente. Daher hebt Menke, um den Entstehungsgrund dieses Kontingenten oder Nichtmachbaren schärfer zu konturieren, zum einen auf den sowohl bei Adorno wie auch bei Derrida prominenten Begriff der Erfahrung ab – denn klarerweise »nicht nur die Einstellung der Hoffnung oder des Glaubens, auch die Erfahrung gilt dem Nichtmachbaren, dem Unverfügbaren« (ebd.: 71). Der andere Ansatzpunkt, um zu erläutern, wie und wodurch dieses Kontingente zu dem durch unsere Vermögen hervorgebrachten Moment der Praxis hinzutritt, liegt im Begriff der dem Subjekt ebensowohl eignenden Kräfte. Das Subjekt versteht Menke als gekennzeichnet nicht allein durch übend angeeignete, in der Sozialisation vermittelte Vermögen, sondern auch durch natürlich gegebene Kräfte, aus denen die Vermögen zwar hervorgehen, die sie aber nicht restlos, durch und durch beherrschen.32 31
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Die entscheidende und sehr verständliche Stelle für diese Kritik Derridas in Gesetzeskraft (Derrida 1991: 48) lautet: »Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf. Wenn eine solche Regel ein ausreichender, ein ausreichend sicherer Garant für die Deutung ist, erweist sich der Richter als eine Rechenmaschine […] und kann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewußt gelten.« Darum besteht die Paradoxie oder der »innere Widerspruch jedes normativen Begriffs darin, daß er die Regel und die regellose Erfindung impliziert.« (Derrida 2000: 23) Derrida spricht deswegen desöfteren, wo es um die Entscheidung oder das Ereignis geht, von Maschine oder Automat (Derrida 2006j: 36ff., 60, 73, 109; Derrida 2006k: 329; Derrida 2006l: 106f., 123f.), Programm (Derrida 1999: 146f.; Derrida 1994c: 21f.) oder Technik (Derrida 2000c: 287ff.; Derrida 2006l: 49ff, 76f., 104f., 110ff.). Diese Phänomene spricht Derrida allerdings explizit nur in seinen späteren Schriften und Vorträgen an, obwohl Wiederholbarkeit und damit eine gewisse maschinelle Regelbarkeit schon im frühen Begriff der Schrift impliziert sind. Obwohl dies nur eine Differenz in der Akzentuierung ist, verhält es sich also so, dass im (i) Falle der Erfahrung das Kontingente, Hinzutretende von Außen kommt und dass (ii) im Falle der Kräfte dieses Außen bereits Teil des Innen ist. Der Begriff der Kraft oder der Kräfte macht also darauf aufmerksam, dass es ein Missverständnis wäre, das Verhältnis von Vermögen und Kontingentem als das zweier voneinander rein und strikt getrennter Seiten zu verstehen. Vielmehr gehen die Vermögen aus Kräften hervor, die sie zugleich überborden; also gibt es weder reine Vermögen noch reine Kräfte. »Das Hervorgehen der praktischen Vermögen aus
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Als Blaupause oder paradigmatisches Modell einer solchen aporetischen, also durch die Einheit zweier in Spannung zueinander befindlicher Momente gekennzeichneten Praxis dient hier vornehmlich die Kunst. Denn sie »besteht nach Adorno darin, ›Dinge [zu] machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind‹ – und die gerade darin und dadurch glücken.« (Ebd.: 75) Die Kunst hat – für Menke, für Adorno – diesen ausgezeichneten Stellenwert, weil sie in ganz eminenter, hervorstechender Weise eine Praxis ist, in der das Produkt nicht bloß das Resultat bestimmter stets in gleicher Weise wirkender Verfahren, Bedingungen oder Fähigkeiten ist; an Kunstwerken lässt sich mithin am plausibelsten verdeutlichen, dass es in der Tat schwierig wäre, alles durch subjektives Tun Hervorgebrachte als restlos auf dieses Tun zurückführbar aufzufassen. Die eben zitierte prominente Formel Adornos von den Kunstwerken als Dingen, von denen wir nicht wissen, was sie sind, verdeutlicht gerade, dass wir Kunstwerke nicht als aus bestimmten Fertigungsrezepten, psychischen Entstehungsgründen oder sonstigen Ursachen und Faktoren – also, resümierend: Bedingungen der Möglichkeit – in eindeutiger und erschöpfender Weise hervorgehend verstehen können. Adorno bringt diese Formel der »Paradoxie von Kunst« (7/174) mehrfach an – in der Ästhetischen Theorie (7/174), in seinem Aufsatz über Die Kunst und die Künste (10/450), aber auch in einigen musiktheoretischen Texten wie Vers une musique informelle (16/540) oder Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei (16/634). In seinen, bislang nur als Raubdruck erhältlichen Vorlesungen über Ästhetik zum Ende seines Lebens im Winter 1967 (VLÄsth68: 73; Hervorhebung DJ) formuliert er diese Idee so, dass ihr Zusammenhang mit unserer bisherigen Diskussion der bei Adorno vorfindlichen Aporien noch deutlicher und dass überdies der Zweifel genährt wird, ob diese Aporetik ästhetischer Praxis nicht lediglich das Modell oder das Paradigma der Aporetik anderer Praktiken – wie der Philosophie bzw. des Denkens – ist: Kunst ist auf der einen Seite genötigt, das zu sagen, was nicht gesagt, noch nicht gewesen ist, andererseits aber kann sie durch ihre Materialien und Techniken nicht [sic!]. Daß sie darüber hinausgehen will und doch nicht kann, das ist eine
ihrem Anderen, aus dunklen Kräften, bleibt dem Vermögen eingeschrieben; dem Vermögen bleibt also sein Anderes, die dunkle Kraft, aus der und gegen die es hervorgeht, eingeschrieben. […] Was wir Vermögen nennen, spaltet sich eben dadurch […] in Vermögen und Kraft.« (Menke 2008: 105f.) Wir hatten ja weiter oben schon gesehen, dass Recht und Gerechtigkeit (Derrida) oder Begriff und Nichtbegriffliches (Adorno) nicht zwei absolut voneinander geschiedene Sphären sind, sondern in sich selbst den Bezug auf ihr Anderes immer schon enthalten. Deswegen heißt Dialektik oder Dekonstruktion lediglich: diese innere, eingefaltete Differenz zu reflektieren oder, mit anderen Worten, die »Paradoxie, daß dieses Auseinanderweisen von der Welt und dem Denken eben doch wiederum nur vermittelt ist durch das Denken« (VLEinfDia: 104), zu exponieren.
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Aporie der Kunst. Extrem läßt sich das so ausdrücken, daß dies die prinzipielle Unvollkommenheit aller Kunstwerke ist. […] Etwas wie die Kantische Erfahrung der Unerkennbarkeit des ›Dings an sich‹ ist hier mit hineingenommen. […] Und das liegt eben in dem Begriff des Unbekannten, des ›inconnue‹, der am Anfang der Moderne steht und den ich versucht habe, neu zu formulieren als die Nötigung, Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Der Widerspruch der Kunst verhält sich also darin spiegelbildlich zu demjenigen der Philosophie, dass sie sich zu etwas gezwungen, zur Lösung einer Aufgabe und zum Erfüllen eines Anspruchs genötigt sieht, dem sie mit ihren eigenen Mitteln widerstreitet: zu dem, was sie will, sind ihre Mitteln nicht allein unzureichend – so als könnte es andere Mittel geben, die diese Defizienz nicht aufwiesen –, diese Mittel sind für diese Aufgabe vielmehr zugleich unerläßlich wie unterminierend. Der »Widerspruch des Gemachten und Seienden«, zwischen den Fähigkeiten des Künstlers und dem auf diese irreduziblen Kunstwerk, »ist das Lebenselement der Kunst«, so Adorno in der Minima Moralia (4/258). Die kantische Figur des Ding an sich ist als das philosophische Korrelat des Unsagbaren oder Unbekannten der Kunst aufzufassen. Bemerkenswerterweise könnte man sich, weil sie Adorno hier in unmittelbare Nähe zueinander rückt, fragen, ob das ›Ding an sich‹ und das ›Ding‹, von dem wir nicht wissen, ›was es ist‹, nicht nur strukturell, theoriesystematisch denselben Stellenwert haben, sondern auch ob das kantische Ding an sich Adorno zu dieser für ihn so wichtigen Formel inspiriert hat. Die Kunst jedenfalls hat zwar also zwar auf der einen Seite eine ausgezeichnete, singuläre Position inne, aber sie bekommt schon bei Adorno in der Gestalt der Philosophie ein Analogon an die Seite gestellt. Für die Erläuterung dieser Paradigmatik der Kunst hebt Menke die an der Kunst aufgewiesene aporetische Struktur – also das spannungsvolle Zusammenspiel von Vermögen und Kräften – eigens als ›ästhetisch‹ ab. Das Programm der Ästhetik lautet nun, »in allen Bereichen der menschlichen Praxis die Selbstentzweiung des Vermögens in Vermögen und Kraft aufzuspüren und danach zu fragen, welche besondere Gestalt diese Entzweiung in jedem Bereich der menschlichen Praxis annimmt.« (Menke 2008: 106) Eine solche Entzweiung – oder zumindest die Forderung einer solchen Entzweiung – konnten wir ja in der Tat in Derridas Philosophie vielfach nachzeichnen: die endliche Gastfreundschaft sieht sich darauf verwiesen, sich auf ein in ihr bereits angelegtes Ideal unendlicher Gastfreundschaft zu überschreiten; die instituierten demokratischen Ordnungen müssen von einem nachdrücklichen Bewusstsein, die im Kommen bleibende democratie à venir nicht ausfüllen zu können, durchzogen sein33 ; 33
Das mag, gerade bei dieser Figur, etwas kurzschlüssig formuliert, etwas hastig und damit wenig plausibel erscheinen, denn gerade bei einer politischen Ordnung wie der Demokratie wirkt diese Selbstentzweiung etwas rätselhaft. Derrida jedoch hat diese in sich geteilte oder entzweite Struktur demokratischen Handelns mehrfach ausdrücklich so formuliert; etwa im
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das Recht kann den durch es selbst aufgestellten Anspruch der Gerechtigkeit nicht erfüllen, ohne ein hinzutretendes, ereignishaftes Moment einzubegreifen usw. – es werden uns noch weitere von einer immanenten Spannung durchzogene Figuren und Phänomene, die Derrida bedacht hat, begegnen. Menke selber geht es gar nicht so sehr um eine solche Figuren sondierende Lektüre der Philosophien Derridas oder Adornos, sondern er versteht die offengelegte, nun schon mehrfach formulierte aporetische Struktur als etwas, dem wir noch in weiteren Bereichen der menschlichen Praxis begegnen können; deswegen dreht es sich bei seinen Arbeiten auch weniger um exegetisch motivierte Auseinandersetzungen mit nur diesen beiden Autoren, sondern um eine ›ästhetische Anthropologie‹ (Menke 2008); und deswegen treten weitere Theorien (wie diejenigen Nietzsches, Herders und Foucaults) in den mit diesem ästhetischen Programm abgesteckten Gesichtskreis. »In der ästhetischen Perspektive, in einer Betrachtung der menschlichen Tätigkeit ›unter der Optik des Künstlers‹ tritt« mithin »das Moment der Neuerung in allem praktischen Gelingen hervor – auch noch dem alltäglichsten und gewöhnlichsten Tun. Allem Gelingen eignet ein wie auch immer minimales Hinausgehen übers Bezweckte und daher vorweg Bekannte, das es dem ›unerwarteten Erfolg‹ annähert. […] Gelingen ist nicht nur Können, sondern Glücken« (ebd.: 119). Zwar gilt diese Möglichkeit der Ausweitung, diese Universalisierbarkeit der Struktur des Ästhetischen, wie Menke selber vermerkt, nur oder vor allem dann, »wenn die Fähigkeit zur Neuerung, zur Erfindung eine wesentliche Bestimmung des gelingenden Vollzugs von Handlungen ist« (ebd.: 118), und darüber mag man uneins sein. Für die aporetischen Problemlagen, die Adorno und Derrida diagnostizieren, ist diese ästhetische Struktur allerdings in höchstem Maße instruktiv. Mehr noch: sie hilft ebenfalls zu verstehen, was ›Dialektik‹ (bei Adorno) und ›Dekonstruktion‹ (bei Derrida) beschreiben. Wie wir ja ausführlich besprochen haben, besteht Dialektik in nichts anderem als in der Reflexion aporetischer Problemlagen und widersprüchlicher Strukturen. Dialektisch zu denken bedeutet dann immer, eine Differenz zwischen zwei Polen oder Momenten zu denken und diese Differenz dabei so zu konzipieren dass sie sich in den Polen spiegelt: die Pole sind nicht dualistisch voneinander geschieden, sondern verweisen wechselfältig aufeinander. Darum stellt sie im Blick auf das Denken oder die Philosophie nichts Gespräch mit Michael Sprinker (Derrida 1984: 157): »Man muß auch demokratisch etwas bewältigen und kalkulieren; es muß Stimmabgaben geben, also identifizierbare Subjekte, Subjekte qua Recht, Mehrheiten, bestimmbare Gesetzlichkeiten usw. – ein beständig unabdingbares Aushandeln zwischen der singulären Öffnung zum Unmöglichen, die es zu sichern gilt, und der Methode, dem Recht, der Technik, der demokratischen Kalkulation; zwischen der democratie à venir und der begrenzten Gegenwart demokratischer Realität.« Deswegen müssen die Formen dieses Handelns und die »gegenwärtigen Gegebenheiten der Demokratie, die unbefriedigend sind«, stets des »Versprechens der démocratie à venir ›eingedenk‹« (ebd.: 140) bleiben.
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anderes als »den Versuch dar, das was der Philosophie heterogen ist, ihr Anderes, man könnte vorgreifend sagen: das Nichtbegriffliche in die Philosophie mit hineinzunehmen« (VLNegDia: 87). Und wie wir haben bemerken können, führt diese dialektische Struktur auch im Hinblick auf das mit Begriffen wie Können, Vermögen, (›Natur‹-)Beherrschung umrissene Feld zu einer gewandelten Idee der Praxis (in Adornos Fall: der Philosophie34 ). Betreffend die Dekonstruktion haben wir uns bisher vorrangig darüber unterhalten, welche Figuren oder Sachverhalte (Gerechtigkeit, Demokratie, Gastlichkeit) sie als von einer Aporetik strukturiert untersucht und welche Gründe – nämlich die ›strukturellen‹ oder ›praktischen Blockaden‹ – sie aufführt, weshalb es zu solchen intrikaten Aporien kommt. Das ist aber nochmal unterschieden davon, was die Dekonstruktion selbst ist. Und auch hier, also in der Frage, was Dekonstruktion ist, wie sie verfährt und ob oder wie wir sie ›machen‹ können, erweist sich die von Menke aufgewiesene ästhetische Form der Praxis als instruktiv, denn sie trifft sich mit zumindest einer Bestimmung, die Derrida der Dekonstruktion gegeben hat. Ich sage bewusst: eine Bestimmung, denn der methodische Status und die Grenzen der Dekonstruktion – also: was fällt eigentlich alles unter ›Dekonstruktion‹? – ist notorisch unklar geblieben und von Derrida selber auch mit verschiedenen Formulierungen und Definitionen bedacht worden. Eine der häufigsten Kennzeichnungen der Dekonstruktion im Spätwerk ist allerdings ihre Distanzierung von einer Methode: sie ist »keine Doktrin […], sie ist keine Methode, noch ist sie ein Set von Regeln oder Werkzeugen.« (Derrida 2000d: 23) Die gegenläufige Antwort, die Derrida in dem prominent gewordenen Vortrag über Die unbedingte Universität gegeben hat, lautet: die Dekonstruktion ist »keine Methode, keine Lehre, keine spekulative Meta-Philosophie […], sondern das, was geschieht.« (Derrida 2001: 73) Die andere, weniger prominente, Antwort, die sich in dem kleinen Band As if I were dead (Derrida 2000d: 25; erste zwei Hervorhebungen DJ) findet, liegt sehr viel näher an der die ästhetische Form der Praxis auszeichnenden Inventivität, also an der Einsicht, dass 34
Diese muss in gedanklichen Vollzügen operieren, die einerseits die Differenz zwischen ihnen und der Sache reflektieren – negative Dimension der Dialektik – und andererseits sich passiv gegenüber dieser Sache verhalten – positive Dimension der Dialektik. Durch ihre Passivität kann diese Form des Denkens nie vollständig absehbar, kontrollierbar und methodisierbar sein. Deshalb kehrt bei Adorno verschiedentlich die Wendung wieder, wonach wahr nur diejenigen Gedanken seien, ›die sich selber nicht verstehen‹. Am bekanntesten ist dafür die Stelle in der Minima Moralia (4/218). Während sie dort ein kontextloses, schwer verständliches Aperçu bleibt, hat sie Adorno in seiner Vorlesung über Negative Dialektik (VLNegDia: 179, 204) zu erläutern unternommen. Mit diesem Aperçu sei zunächst einmal nichts anderes ausgedrückt, als dass solcherlei Denken immer ein Moment von »Blindheit« (ebd.: 204) einbegreifen muss; es ähnele folglich einer »bewußtlose[n] Versenkung des Bewußtseins in die Phänomene« (ebd.: 179). Auf die von Adorno in der Vorlesung über Dialektik (VLEinfDia: 242f.) formulierte Selbstinterpretation dieser Sentenz aus der Minima Moralia komme ich später noch zu sprechen, denn sie sticht deutlich von dieser ersten Lesart ab.
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dort, wo das Tun nicht allein durch unsere Vermögen gewährleistet wird, es unweigerlich eine wie auch immer minimale Heraufkunft eines Neuen, Unbekannten oder Anderen bedeutet: Wenn sie also ›Dekonstruktion tun‹ wollen […] dann müssen Sie etwas neu aufführen, in Ihrer eigenen Sprache, in Ihrer eigenen singulären Situation, mit Ihrer eigenen Signatur. Sie müssen das Unmögliche erfinden und mit der Anwendung im technischen, neutralen Sinn des Wortes brechen. Also, einerseits gibt es keine ›angewendete Dekonstruktion‹. Andererseits aber gibt es nichts anderes, weil die Dekonstruktion nicht aus einem Set von Theoremen, Axiomen, Werkzeugen, Regeln, Techniken oder Methoden besteht. Wenn die Dekonstruktion an sich also nichts ist, dann ist alles, was sie tun kann, anwenden, angewendet werden auf etwas anderes. Und das nicht nur in mehr als einer Sprache, sondern auch mit etwas anderem. […] Dekonstruktion hat kein spezifisches Objekt. Sie kann nur Bezug nehmen auf, angewendet werden, beispielweise auf das irische Problem, die Kabbalah, das Problem der Nationalität, das Gesetz, die Architektur, die Philosophie, unter anderem. […] Dekonstruktion kann nicht angewendet werden und kann nicht nicht angewendet werden. Mit dieser Aporie also müssen wir umgehen, und darum geht es bei der Dekonstruktion. Mit diesem Aufweis, dass Menkes Arbeiten nicht allein den von Adorno und Derrida (oder: ›Negativer Dialektik‹ und ›Dekonstruktion‹) erkundeten Phänomenbereich aufzuhellen vermögen, sondern sie triftig auch dafür sind, das (wenn man so will: ›methodische‹) Vorgehen dieser beiden Philosophien nachzuvollziehen, möchte ich diesen ersten Abschnitt beschließen.35 In diesem ging es also vornehmlich darum aufzuzeigen, wie weitreichend diese von Menke formulierte Lesart ist, also wieviele unterschiedliche Passagen, Themengebiete und etwaige Vernetzungen in den Texten Adornos und Derridas sich durch sie aufhellen und verständlicher werden. Ich habe dabei zwar unterschiedliche Routen durch deren Texte genommen, andere
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Es ist natürlich eigenartig, dass sowohl die Dekonstruktion selber als auch die von ihr untersuchten Phänomene ›unmöglich‹ in diesem spezifischen Sinne sind. Diese Seltsamkeit löst sich auf, wenn man im Blick hält, dass die Dekonstruktion nicht einfachhin die ›Methode von Derrida‹ ist, die er auf verschiedene Sachverhalt appliziert hat. Darauf komme ich gegen Ende dieser Arbeit noch zu sprechen. Besonders explizit hat Derrida diese eigenartige Ko-Implikation in Über den Namen (Derrida 2000a: 73) formuliert: »Weit davon entfernt, eine methodische Technik, eine mögliche oder notwendige Prozedur zu sein, die das Gesetz eines Programms abspult und Regeln anwendet, das heißt Möglichkeiten entfaltet, ist die ›Dekonstruktion‹ oft als die Erfahrung selbst der (unmöglichen) Möglichkeit des Unmöglichen, des Unmöglichsten, definiert worden, eine Situation, die sie mit der Gabe, dem ›ja‹, dem ›komm‹, der Entscheidung, dem Zeugnis, dem Geheimnis und so weiter teilt. Und vielleicht mit dem Tod.«
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Passagen und Texte in den Vordergrund gerückt und im einzelnen andere Akzente gesetzt, aber ich komme mit Menkes Lektüre in den weitaus meisten Aspekten überein. Wie sich en passant zumindest schon schwach angedeutet hat, ist diese Lektüre nicht nur von exegetischer Relevanz. Die Rezeption von Adornos Philosophie hat sich zumeist in deren eigenem oder dem Bannkreis der ›Kritischen Theorie‹ bewegt; das hat es mit sich gebracht, dass die überexegetische Relevanz dieser Philosophie nicht wirklich hat deutlich werden können und die Kritische Theorie allzu oft eine, wenn man so sagen darf, ›inzestuöse‹ Angelegenheit geblieben oder doch zumindest für externe Beobachter häufig so erschienen ist. Dementgegen lassen sich, optiert man in der Lektüre wie Menke, durchaus erhellende und weiterreichende Anschlüsse auffinden: das betrifft etwa die bei Adorno und Derrida lancierte Kritik des »Könnensbewußtsein[s]« (Menke 2002: 246), in der sich auf nicht immer präzis explizierte Weise eine Kritik der Philosophie überhaupt – oder zumindest der Philosophie in ihrer neuzeitlichen, aufklärerischen Gestalt – chiffriert.36 Wenn das Können unweigerlich sozial angeeignete und übend erworbene Fähigkeiten und damit einen Prozess der sozialen und kulturellen Subjektivation zur Voraussetzung hat und wenn die dieses Können überschreitenden Kräfte im Subjekt das Moment unverfügbarer Natur markieren, liegt es nahe – um zwei Anschlüsse zu nennen –, von dieser Einsatzstelle aus einerseits der Differenz von Kultur und Natur (vgl. Menke 2005; Menke 2014) im allgemeinen nachzugehen und andererseits Michel Foucaults Kritik des disziplinär präformierten Subjekts daraufhin zu befragen, ob sich in der foucaultschen Rede von der Ästhetik der Existenz nicht die aufgewiesene Struktur ästhetischer Tätigkeit oder Praxis nachweisen lässt (vgl. Menke 2003). Denn auch die Differenz von Kultur und Natur, von Geist und Materialität unterliegt einer Dialektik, ist also kein bloßer Gegensatz oder Dualismus. Aus diesem Grund lässt sich die Naturbeherrschung, die der Geist auch immer ist, nicht einfachhin revozieren. »Eingedenken der Natur im Subjekt« (3/58), die bekannte Bestimmung aus der Dialektik der Aufklärung, bedeutet ja präzise diese Aporie: durch den Geist oder das Subjekt, das die Naturbeherrschung veranstaltet, hindurch der Natur als dem Anderen des Geistes gerecht werden; also mit keinen anderen Mitteln als denjenigen der Naturbeherrschung diese zu subvertieren. Darum lässt sich auch für die gegenwärtige Diskussion um die richtige Verhältnisbestimmung dieser beiden Pole die Relevanz und das unabgegoltene Potential der bei Adorno re36
Ich hatte weiter oben schon bemerkt/, dass bei Adorno tendenziell Aufklärung, Philosophie, Naturbeherrschung und Kants Philosophie konfundiert sind. Das spiegelt sich etwa in der bereits zitierten Bemerkung aus der Dialektik der Aufklärung (3/43), »Naturbeherrschung zieht den Kreis, in dem Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte. /Auf das Neue zielt nach Kant das philosophische Urteil ab, und doch erkennt es nichts Neues, da es stets bloß wiederholt, was Vernunft schon immer in den Gegenstand gelegt.« Im Lichte dessen scheint die Rede von einem ›Könnensbewußtsein‹ nachvollziehbar.
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flektierten Dialektik von Kultur und Natur aufweisen. Wenn Freiheit ein Moment der Unverfügbarkeit und der Überschreitung innewohnt, dann, so Menke (2014: 1092), »ist der Geist nicht allein durch sich selbst, aus eigenem Vermögen« frei, also durch seine sozial hervorgebrachten Vermögen. »Er ist es nur durch die Wirksamkeit einer natürlichen Kraft: gegen den Geist, aber im Geist.« Nichts anderes als diese dialektische Komplikation des Verhältnisses von Geist und Natur, von durch Vermögen geleiteter und kontrollierter Freiheit und der Freiheit zur Überschreitung dieser Vermögen »ist das Programm einer negativen oder materialistischen Dialektik.« (Ebd.)
2.4 Desiderate Die Selbstunterscheidung des Geistes oder des Subjekts in Vermögen und Kräfte, die »Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur« (3/57), deutet nun nicht allein in die Richtung dieser aktuellen Diskussion der Differenz von Natur und Kultur. Die als Natur dem Subjekt unverfügbaren Kräfte weisen auch auf die Idee des Unbewussten zurück, denn: »Kräfte sind unbewußt« (Menke 2008: 112), das ästhetische Tun daher nicht nur bewußt ausgeübtes Können, sondern zugleich immer auch unkontrollierbar erlebter Rausch. Die Differenz von Bewusstem und Unbewusstem, von Ich und Es, von bewusstem Wollen und unbewussten Trieben wiederholt die Differenz von Geist und Natur im Geist; und wenn die wahrhaft gelingenden ästhetischen oder kognitiven Vollzüge auf ein ihnen unverfügbares natürliches Moment verwiesen sind, kann das Denken nicht nur bewusst, sondern muss es zugleich in irgendeinem Sinn unbewusst sein. Für Adorno ist daher »das Ich […] von seiner Kardinalsünde, der blinden, sich selbst verzehrenden und das Naturverhältnis ewig wiederholenden Herrschaft über die Natur nicht zu heilen, indem es auch die inwendige Natur, das Es sich unterwirft, sondern indem es mit dem Es sich versöhnt, wissend und aus Freiheit es dorthin begleitet, wohin es will.« Der »richtige Mensch«, so fährt Adorno fort, wäre nicht der, »welcher den Trieb unterdrückt, sondern einer, der ihm ins Auge sieht und ihn erfüllt, ohne ihm Gewalt anzutun und ihm als einer Gewalt sich zu beugen« (11/444). Derlei Stellen werfen die Frage auf, wie das Unbewusste des Subjekts richtig zu verstehen ist und welchen theoretischen Stellenwert man dieser Kategorie innerhalb von Adornos Philosophie attestieren sollte. Ich habe sie gerade eben nochmal absichtlich als den Vorlauf zur Darstellung zweier Punkte, in denen ich mich von Menkes Lesart absetzen möchte, aufgerufen. Das ist zum einen eben (i) die Dimension des Unbewussten, und zum anderen ist es (ii) die bei Adorno wie bei Derrida virulente Thematik der Zeitlichkeit. Beide sind bislang offen gebliebene oder verkürzt behandelte Problemareale; für beide erhält man durch diese Lesart zwar Anregungen, aber wie genau man ihren Stellenwert in Adornos Texten verstehen sollte und
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wie ihr Zusammenspiel beschaffen sein mag, kann durch sie alleine nicht geklärt werden. Das ist jedoch, wie wir noch sehen werden, unabdingbar, um den Begriff der geistigen Erfahrung rekonstruieren zu können. (i) Unbewusstes. An der eben zitierten Stelle, an der Menke Adornos dialektischen Freiheitsbegriff heranzieht (Menke 2014: 1092), um ein anderes, weder dualistisches noch von Kontinuitäten überbrücktes Verständnis der Differenz von Kultur und Natur zu formulieren, bezieht er sich auf dessen Diskussion von Kants Spontaneitätsbegriff in der die Negative Dialektik vorbereitenden Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. Adorno hebt dort, wie Menke zitiert, an diesem kantischen Begriff hervor, dass sich in ihm »in einer sehr seltsamen Weise gerade die äußerste Erhebung des Ichs mit dem Abgrund des Ichs sich zusammenfindet« (VLGesFrei: 299). Spontanes Handeln ist für Adorno mithin von einer Dopplung durchzogen: es ist zugleich bewusst und unbewusst, der jähe, impulshafte Ruck zum Handeln gleichzeitig somatisch und mental; wir sind in ihm »genausowenig mehr blinde Natur, wie […], auf der anderen Seite, mehr unterdrückte Natur« (ebd.: 330). Damit ist der Begriff der Spontaneität präzise an der Differenz zwischen Kultur und Natur angesiedelt, die in ihm zusammentreten, ohne ineinander aufzugehen; er ist »eine Einheit […] einander widersprechende[r] Momente[] und verweist damit auf einen sehr strengen Begriff von Dialektik.« (Ebd.: 300) Sowohl der Begriff der Spontaneität als auch der des Impulses spielen, als das ›Hinzutretende‹, in der Negativen Dialektik, im Kapitel zu Kants praktischer Philosophie, aber auch andernorts in Adornos Philosophie eine eminente Rolle (vgl. etwa 6/226ff.). Menke versteht den Begriff der Kraft, auf dessen Folie sich der Begriff des passiv empfundenen Impulses verstehen lässt, weniger entlang von Adornos Verständnis eben dieses kantischen Spontaneitätsbegriffs, sondern greift zu seiner Erläuterung auf Herder und Nietzsche sowie auf einen allgemeinen Begriff der Einbildungskraft zurück. Adorno gleichwohl legt an der herangezogenen Stelle der Freiheitsvorlesung sowie an weiteren Stellen nahe, sich eng auf das kantische, recht spezifische Verständnis der Einbildungskraft zurückzubeziehen. Was Kant sich unter Spontaneität vorstelle, »das ist ja nun zwar eine Tätigkeit, aber zugleich – und das bezeugt eben unausdrücklich das dialektische Wesen […] – auch ein Unwillkürliches: zugleich etwas, was geschieht, ohne daß ich mir selber darüber klar bin; was, wie es im Schematismus-Kapitel heißt, in den verborgenen Tiefen der Seele geschieht.« (VLGesFrei: 296f.) Diese kantische Auffassung einer Teilung des Subjekts in eine willkürlich, aktiv, bewusst vollzogene Tätigkeit des Denkens und unwillkürlich, passiv und unbewusst vonstatten gehende Operationen innerhalb des Subjekts kehrt bei Adorno immer dort wieder, wo er auf diese, prominent gewordene Formel von den ›verborgenen Tiefen der Seele‹ zurückgreift. Was dort aber wirkt, ist nach Kant die Einbildungskraft. Warum diese darum kein bewusst ausgeübtes, aktiv gesteuertes Vermögen ist, welche Rolle sie näher-
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hin im Gefüge kantischen Vermögenslehre spielt und weshalb sie sowohl bei Kant als auch bei Adorno einen tiefliegenden Bezug zur Zeitlichkeit des Bewusstseins aufweist, werden wir zu klären haben. Es wird uns dabei gelegen kommen, dass sich der zumeist als Antipode Adornos gehandelte Heidegger, unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit 1927, mit der Kritik der reinen Vernunft und darin genau mit dem Schematismuskapitel sowie der Einbildungskraft beschäftigt hat. Das Resultat dieser Beschäftigung mit Kant – Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik (Heidegger 1973) – hat wiederum Derrida dazu bewogen, sich diesem kantischen Themenkomplex zuzuwenden. Es wird noch klar werden, dass sich Adorno und Derrida – dieser eben vermittelt über Heidegger – für die Einbildungskraft besonders als (i) zwischen Begriff und Anschauung, Allgemeinem und Besonderem vermittelnde und als (ii) zeitliche Synthesen und Bezüge stiftende Instanz interessiert haben. Wir schließen durch die Prononcierung des Unbewussten zudem an ein Programm an, das Adorno in seiner Frühschrift Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre von 1927 als die »Gewinnung einer transzendentalen Theorie des Unbewußten« (1/104) formulierte. Allerdings müssen wir in einem entscheidenden Punkt anders als Adorno disponieren: während in diesem frühen Werk die Einbildungskraft nicht auftaucht, werde ich zu plausibilisieren versuchen, dass wir für die Gewinnung eines in Adornos Werk virulenten Begriffs des Unbewussten unvermeidlicherweise an dieses Vermögen verwiesen sind. (ii) Zeitlichkeit. Dass Zeit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen und Bezügen in Adornos Philosophie eine hervorgehobene Rolle spielt, ist weder aus dem Vorhergehenden noch aus Menkes Adorno-Interpretation ersichtlich; und man kann wohl kaum davon sprechen, dass sie, isoliert, ein zentrales Thema der sonstigen Rezeption gewesen ist. Ohne Zweifel haben Adornos Reflexionen über den Begriff des Fortschritts, der eigentümliche Begriff des Zeitkerns, die geschichtsphilosophische Diagnose der Dialektik der Aufklärung oder auf konkretere Phänomene gerichtete Überlegungen wie diejenigen über den Wandel des musikalischen Materials, das historische Aufkommen der Kulturindustrie oder des Spätkapitalismus in der Erforschung von Adornos Philosophie mal mehr, mal weniger Beachtung gefunden. Befragt nach einer tieferreichenden Analyse von Zeitlichkeit und nach einem elementaren Bezug von Erfahrung und Zeit bei Adorno, wüsste man von diesen Forschungen ausgehend allerdings schwerlich eine Antwort zu geben. Der Ansatzpunkt für eine Verschiebung dieses Bildes liegt allerdings nicht nur im Begriff geistiger Erfahrung; schon der aller kleinteiligeren Interpretation vorausliegende Umstand, dass Musik und Musikphilosophie in Adornos Werk eine so deutliche, herausgehobene Position einnehmen, nährt Zweifel an dem Befund, darin seien kein spezifischerer Begriff von Zeitlichkeit oder keine Überlegungen zum Zusammenhang von Zeit und Erfahrung aufzufinden – denn Musik und Zeit stehen, mehr noch als andere Themen und ganz generell, in einem intimen Be-
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zug zueinander. In seiner berühmt gewordenen autobiographischen Mitteilung an Thomas Mann etwa meinte Adorno ja: »Ich studierte Philosophie und Musik. Anstatt mich zu entscheiden, hatte ich mein Leben lang das Gefühl, in den divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche zu verfolgen.« (Adorno/Mann 2002: 33) Da uns Adorno den bereits erwähnten Text über Musik und dialektische Logik schuldig geblieben ist, können wir nur mutmaßen, worin dieses ›Gleiche‹ bestanden haben mag. Die Häufung etwa der Bezüge und Analogien, die Adorno in seinen Beethoven-Fragmenten (Beethov: 31f., 33ff., 37f., 44, 99f., 231 et passim) genauso wie in seinen Drei Studien zu Hegel (5/366f.) oder in der Philosphie der neuen Musik (12/25f., 180f.) zwischen Beethoven und Hegel detektiert, lässt die Ahnung eines solchen ›Gleichen‹ zwar aufscheinen, bleibt jedoch vage und vielsagend hinsichtlich seiner spezifischeren Konturierung. Es könnte, so lässt sich im Ausgang von der nachgelassenen Notiz im Graeculus I mutmaßen, darin bestehen, dass »Musik und Philosophie […] Versuche das Unsägliche zu sagen« sind. »Beide sind Entfaltungen dieser Paradoxie. Beide möchten die Sprache vom Begriff heilen; die Phil[osophie] durch dessen Selbstreflexion, die Musik durch Unbegrifflichkeit.« (Adorno 2001a: 32) Aber dann wäre die Musik wohl lediglich eine Spielart der Kunst, die, wie wir oben kurz verfolgen konnten, der Philosophie insoweit alliiert ist, als sie sich ebenfalls der Paradoxie verschrieben hat, das Unmögliche zu realisieren, das Unendliche mit endlichen Mitteln darzustellen; ein Spezifisches ebensowohl wie ihr doch naheliegender Bezug zur Zeit ginge der Musik so verlustig. Wir können also nicht klären, ob das Gemeinsame von Musik und Philosophie bloß in dieser Aporetik liegt; oder ob es lediglich das war, was Adorno etwa in einer seiner Kranichsteiner Vorlesungen meinte, wenn er sagte, »in meinem Leben sehr viele philosophische Innervationen durch die musikalische Erfahrung eigentlich gewonnen [zu] habe[n]« (VLKranich: 323). Die Gründe für dieses Unvermögen zu klären sind naturgemäß vielfältig; einer liegt, einmal mehr, in der wenig systematisierten Gestalt, in der Adornos Philosophie vorliegt: die philosophischen und die musikalischen Themen, Begriffen und Überlegungen gewidmeten Bände stehen für sich und verraten an ihrer Oberfläche nichts über ihre wechselseitigen Verbindungslinien. Ein anderer Grund liegt darin, dass die Rezeption beider Themenblöcke und Textkorpi vielfach nebeneinander her gelaufen ist und sich somit das Problem der Vermittlung gar nicht erst gestellt hat. Im Folgenden werde ich mich zu zeigen bemühen, dass geistige Erfahrung für Adorno in einem spezifischen Sinn zeitlich strukturierte Erfahrung bedeutet. Das bedeutet zunächst, dass sie nicht punktualisiert werden und man von ihren zeitlichen Bezügen absehen kann, sondern dass sie inmitten eines Prozesses oder eines Verlaufszusammenhangs, der ihr nicht äußerlich bleibt, zu situieren ist. Hier unterscheide ich zweierlei Prozesse oder Sequenzen: (i) Vollzüge der Erfahrung sind begrifflich strukturiert, in ihrem konkreten Statthaben entbinden sich also Bezüge zu anderen Akten, die derselben, zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschied-
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lichen Orten wiederholbaren Typik unterliegen; (ii) Erfahrungsvollzüge finden inmitten konkreter Kontexte von ihnen vorausgehenden und ihnen nachfolgenden Vollzügen statt, die sie in ihrem Sinn modulieren; schlicht gesagt: sie haben einen Stellen-, keinen intrinsischen Wert. Die erste zeitliche Dimension werden wir anhand der Stichworte Dialektik von Allgemeinem und Besonderem (Adorno) und Iterabilität (Derrida) verfolgen; die zweite Dimension werde ich im wesentlichen über den Begriff der Temporalisierung (Derrida) und die Unterscheidung strukturellen und atomistischen Hörens (Adorno) erschließen. Die theoretische Artikulation dieser zwei zeitlichen Dimensionen geistiger Erfahrung wird es uns dann später erlauben, drei Konzeptionen Adornos, isoliert und in ihrem Zusammenhang, besser zu verstehen. Diese drei Konzeptionen sind: (i) Das Nichtidentische. Es gibt vielerlei Stellen in Adornos Werk, von denen ausgehend sich der Begriff des Nichtidentischen im Sinne dessen, was wir im vorigen Kapitel erschlossen haben, verstehen lässt: das Nichtidentische ist eine theoriesystematisch dem Ding an sich analoge Figur; in ihm reflektiert sich – deswegen spricht Adorno in der Kantvorlesung auch von ›Block‹ – die Unzulänglichkeit des Denkens oder des Geistes, dem Objekt anders als durch seine Begriffe habhaft werden zu können: Denken ist endlich. Oftmals hat man deswegen das Nichtidentische grosso modo mit Begriffen wie ›Besonderes‹, ›Rest‹, ›Singularität‹, dem ›Konkreten‹ oder dem ›Ding‹, wie es eben abzüglich unserer geistigen Operationen sein mag, gleichgesetzt. Das normative Programm läßt sich dann leicht formulieren: es gilt, die Singularität vor dem Begriff zu ›behüten‹; richtig oder ›wahr‹ wäre weitergehend ein Verhalten, das seine Begriffe dem Objekt anähnelt, sie gleichsam schmiegsam macht. Da Begriffe immer Generalität implizieren und da unsere Erfahrung nicht anders als begrifflich verfasst prozessieren kann, wird man über diese Konzeption des Nichtidentischen zu den bereits diskutierten Aporien zurückverwiesen. Allerdings zeigen gewisse Passagen der Negativen Dialektik, dass diese (wohl doch sehr verbreitete) Deutung des Begriffs ihm nicht ganz gerecht wird. Dort – an der bedeutsamen Stelle über das Verhältnis von Nichtidentischem und Konstellation – heißt es vielmehr, das »Innere des Nichtidentischen« sei »sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist«, es sei die »immanente Allgemeinheit des Einzelnen«. Diese immanente Allgemeinheit sei näherhin zu verstehen als »sedimentierte Geschichte«; »[n]ur ein Wissen vermag« deswegen diese immanente »Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderem gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt.« Die »Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation« ist denn auch nichts anderes als »die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.« (6/165) Man mag einwenden, diese eine Stelle falle interpretatorisch nicht ins Gewicht; man fahre weiterhin gut mit der herkömmlichen Konzeptualisierung des Nichtidentischen als Singularität des Objekts.
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Mir will aber scheinen, dass diese Stelle derart deutlich von dieser geläufigen Auffassung des Nichtidentischen absticht, dass es unausweichlich wird, die für diesen gewandelten Begriff des Nichtidentischen charakteristischen Merkmale zu klären – was also heißt hier ›immanente Allgemeinheit‹, ›sedimentierte Geschichte‹, eine dem Objekt immanente ›Prozessualität‹? Ersichtlich lassen sich derlei Fragen ohne zeittheoretische Überlegungen nicht klären. (ii) Die Deutung, das Kraftfeld. Wir sind dem Begriff des Kraftfelds schon zweifach begegnet, einmal in der Einleitung, einmal im Hinblick auf Kants Philosophie: in der Einleitung hatte ich auf Adornos Begriff der Deutung verwiesen. Deutung ist »ein zentrales Moment der Soziologie«, so Adorno in der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie (VLEinlSoz: 244). »Das deutende Vermögen« aber besteht wiederum in nichts anderem als darin, »des Gewordenseins oder der stillgestellten Dynamik in den Phänomenen innezuwerden«. Denn diese Phänomene sind keine statischen, dinggleichen oder auf einen Zeitpunkt reduzierten Objekte, so die Stelle weiter: es sind Phänomene, die nur »scheinbar innehalten, die scheinbar ein Gegebenes, ein womöglich Momentanes sind«, in denen aber gleichwohl »Geschichte sich aufgespeichert hat« (ebd.). Deutung heißt also, eingedenk der eben schon herangezogenen Passage der Negativen Dialektik: Phänomene als nichtidentisch erschließen; oder, mit einer anderen Formulierung, die zeitliche Nichtidentität des Phänomens gegen den Schein seines unmittelbaren Soseins offenzulegen. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass sich die kritische Stoßrichtung dieser Operation der Deutung gegen dasjenige richtet, was Adorno wechselweise ›Verdinglichung‹, ›zweite Natur‹ oder schlicht ›Unmittelbarkeit‹ nennt. Denn in einem noch sehr unspezifischen Sinn heißt Deutung hier das, was man heute gemeinhin ›De-‹ oder ›Entnaturalisierung‹ nennt; das was als Natur erscheint, sei demnach gar keine Natur, sondern Geschichte. »Deutung […] ist Kritik an den stillgestellten Phänomenen dadurch, daß an dem Stillgestellten die in ihm aufgespeicherte Dynamik, also daß Geschichte an dem, was zweite Natur ist, enthüllt wird; aber andererseits auch dadurch, daß das Gewordene den Schein seines Ansichseins verliert und in seiner Gewordenheit dargestellt wird«, so Adorno pointiert in einer dezidiert dem Begriff der Deutung gewidmeten Sitzung der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (VLGesFrei: 190). Adorno bleibt in diesem Punkt gleichwohl notorisch vage; er klärt uns nirgendwo darüber auf, was es genauer heißen könnte, diese Deutungsoperationen zu vollziehen. Immerhin sind es sehr voraussetzungsvolle, wiewohl abstrakt bleibende Bestimmungen, mit denen er die mit dem Begriff der Deutung verbundenen spezifischeren Begriffe versieht. Denn was bedeutet es näherhin, dass etwas Geschichte in sich ›aufgespeichert‹ hat? Und wie können wir dieser Geschichtlichkeit oder Dynamik ›innewerden‹? Nicht sonderlich klarer wird Adornos Konzeption der Deutung, wenn man den Begriff des Kraftfelds heranzieht. Wo er mitteilt, »die Aufgabe der Dialektik« sei es, »das, was als bloß dinghaft gegeben, seiend, daseiend
2. Eine Schwierigkeit der Philosophie
erscheint, in ein Kraftfeld zu verwandeln« (VLEinfDia: 285), fällt es leicht, diese Aufgabe vor dem bisher über Deutung und das Nichtidentische Gesagten zu verstehen: auch die Dialektik muß also deutend verfahren, auch die Dialektik muß Phänomene als nichtidentisch erschließen. Ob aber ›Kraftfeld‹ nun einfach dasselbe wie ›sedimentierte Geschichte‹ oder immanente ›Prozessualität‹ besagen soll, wird nicht wirklich deutlich. Nichtsdestotrotz vermögen wir von hier aus zu erkennen, dass solcherlei gehaltvolle und zentrale Konzeptionen wie die Deutung, das Nichtidentische und der entnaturalisierende Zug der Kritik eng assoziiert sind mit dem Begriff des Kraftfelds und dass alle diese Begriffe einen noch zu artikulierenden, weil bei Adorno selbst unartikuliert gebliebenen Bezug zur Dimension der Temporalität – oder zu zeitinvolvierenden Begriffen wie ›Prozess‹, ›Geschichte‹ oder ›Dynamik‹ – haben. (iii) Das Kunstwerk (in seiner immanenten Zeitlichkeit). Diese Aufgabe – also: die zeittheoretische Dimension von Adornos Philosophie markanter hervortreten zu lassen – wird noch einmal dringlicher, hält man sich vor Augen, dass dieser, offenbar zeittheoretisch ausdeutbare, Begriff des Kraftfelds auch für Adornos kunsttheoretische Überlegungen eine kardinale Rolle spielt. Auch das »Kunstwerk«, so Adorno in der Ästhetischen Theorie, ist nämlich »in sich kein Festes, Endgültiges, sondern ein Bewegtes«: es besitzt eine »immanente Zeitlichkeit«, einen »Prozeßcharakter[]« (7/266). Besieht man diese Bestimmung vor der Folie des eben Skizzierten, so wird man sich doch wohl zurecht fragen: wenn das Kunstwerk immanent zeitlich, prozessual oder bewegt ist, müssen wir es dann auch ›deuten‹? Ist es unsere Aufgabe, es als nichtidentisches aufzufassen oder als ein Kraftfeld zu erschließen? Bedeutet das zeittheoretische Vokabular (Prozess, Bewegung, Zeitlichkeit) hier auch wieder dasselbe oder etwas anderes? Man wird mit diesen Fragen zwar zumindest auf die richtige Fährte geleitet – zur Durchsicht kommt es gleichwohl nicht. Denn in der Tat spricht Adorno in der Ästhetikvorlesung von 1958 davon, »daß das Kunstwerk aufgrund seiner eigenen Konstituentien des ästhetischen Prozesses überhaupt in sich ein Kraftfeld ist, in sich ein Bewegtes ist, in sich eigentlich ein Prozeß ist, und daß infolgedessen die Erfahrung des Kunstwerks eigentlich damit zusammenhängt oder darin besteht, daß einem das Kunstwerk – das als ein Artefakt in seinem geschlossenen Bereich zunächst wie ein Sein auftritt – unter den Augen gewissermaßen wieder lebendig wird« (VLÄsth58: 168f.; Hervorhebung DJ). Es wird aber durch solcherlei abstrakte, programmatisch klingende Überlegungen nicht wirklich klarer, wie nun wiederum auch das Kunstwerk als ein Kraftfeld verstehbar sein können soll oder wie dieser – der Operation der Deutung oder denaturalisierenden Kritik doch recht ähnliche – Vorgang des ›Lebendigwerdens‹ genauer aufzufassen sei. Der Begriff des Kraftfelds überdies verliert zusätzlich dadurch an Kontur, dass Adorno ihn auch auf Kunstwerke appliziert. Wir hatten doch gesehen: die kantische Philosophie ist ein Kraftfeld (von widerstreitenden Motiven und Überlegungen nämlich, besonders im
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Hinblick auf die kantischen Dualismen, wie wir nachgezeichnet haben); aber ist sie dann in demselben Sinne ein Kraftfeld wie ein Kunstwerk? Adorno weist nun hier auch einen Ausweg: einen Ausweg abermals in zeittheoretischer Richtung zum einen und – er sagt es ja selbst – in Richtung des Begriffs geistiger Erfahrung zum anderen. Adorno, später in derselben Vorlesung, definiert: »Ein Kunstwerk erfahren oder ein Kunstwerk mitvollziehen, würde also nichts anderes heißen, als alle diese Momente des Kraftfelds, die das Kunstwerk darstellt, die es zugleich ist und übersteigt, an dem Kunstwerk mitvollziehen. Und insofern kann man wohl sagen, daß die ästhetische Erfahrung selber eigentlich eine geistige Erfahrung ist« (ebd.: 226; Hervorhebung DJ). Was es mit dieser geistigen Erfahrung auf sich haben soll, werden wir nun zu klären haben. Denn wenn er mit diesen in Adornos Philosophie äußerst wichtigen, gleichwohl, zumal in ihrem Zusammenspiel, nicht gerade deutlich artikulierten Begriffen wie ›Deutung‹, ›Nichtidentisches‹ und ›Kraftfeld‹ in einem intimen Zusammenhang steht, tut man wohl gut daran, ihn nicht zu übergehen.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Bis hierhin haben wir lediglich Zweierlei über den Begriff der geistigen Erfahrung notieren können: (i) wie ich unterstellt habe, weist er die beiden eben unterschiedenen Dimensionen – Zeitlichkeit und Unbewußtheit – auf; (ii) er ist mit einer Reihe von in Adornos Werk häufig wiederkehrenden, allerdings für sich genommen wie im Zusammenhang gesehen undeutlich gebliebenen Begriffen – Nichtidentisches, Kraftfeld und Deutung, dem Kunstwerk – assoziiert. Wir haben stattdessen nur nachgezeichnet, dass sowohl in Adornos als auch in Derridas Schriften aporetische oder paradoxale Konstellationen vielfach wiederkehren. Das haben wir bei Derrida an einer Reihe von Theoriefiguren und exemplarisch an den drei Themenkomplexen Gerechtigkeit, Demokratie und Gastfreundschaft, bei Adorno insbesondere an seiner Weise, die Dialektik als aus den kantischen Antinomien hervorgehend zu verstehen, rekonstruieren können. Beider Fürsprache für das ›Aushalten‹ oder eine andere Entfaltungsweise solcher Paradoxien und Aporien rührt aus dem Argwohn gegen zwei alternative Strategien her, mit ihnen umzugehen: weder überzeugt die schiere, dualisierende Entgegengesetzung (Differenz bzw. Dichotomie), noch lässt sich einer der zwei Pole oder Momente einer solchen Konstellation auf den anderen reduzieren (Identität).1 Das Aporetische besteht in beiden Fällen vielmehr präzise
1
Besonders pointiert formuliert Adorno diesen Punkt mit Blick auf Kant in der Negativen Dialektik. Wie oben schon skizzenhaft hat hervortreten können, finden sich in dessen Philosophie mehrere einander widerstreitende Tendenzen: einerseits haben die Begriffe der Idee und des Ding an sich den theoriesystematischen Sinn, die Endlichkeit der menschlichen Praxis und des menschlichen Denkens zu reflektieren; andererseits finden sich bei Kant vielfach Formulierungen, die es sich mit der Unerkennbarkeit des Ding an sich und der Unrealisierbarkeit der Ideen nicht zu einfach machen, weshalb diese Philosophie ja gerade zur Exposition der Antinomien getrieben wird. Die Stelle bei Adorno (6/244; Hervorhebung DJ), an die ich denke, lautet jedenfalls: »Der Kantische transzendentale Idealismus enthält das antiidealistische Verbot, absolute Identität zu setzen. Erkenntnistheorie solle nicht so sich gebärden, als sei der unabsehbare, ›unendliche‹ Gehalt der Erfahrung aus positiven Bestimmungen der Vernunft an sich zu erlangen.« Es geht also gerade um eine Trennung, um eine Differenz zwischen dem Unendlichen und den Bestimmungen der Vernunft. »Andererseits hat die gleichsam systemfremde Notwendigkeit im unendlichen Fortgang der nach Bedingungen suchenden Vernunft ihr Authentisches, die Idee des Absoluten, ohne die Wahrheit
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in diesem Zugleichsein: etwa im Falle der Gerechtigkeit darin, sie im Recht zu realisieren, ohne ihren Charakter einer uneinholbaren, unendlichen Forderung zu unterminieren; im Falle der dialektisch modifizierten Philosophie darin, die Aufgabe des Erkennens des Objekts zu realisieren, ohne dies anders als durch ein Medium tun zu können, in dem das Objekt unweigerlich verfehlt wird, und ohne diese primordiale Unzulänglichkeit zu invisibilisieren. Und wir hatten auch bemerken können, dass derlei Aporien nicht eine besondere Nische, ein spezielles Areal oder einen isolierten Sektor in beider Philosophien besetzen, sondern mit ihren zentralen Begriffen und Intentionen verflochten sind. Ebensowenig lassen sie sich gemäß der Dreigliederung in theoretische und praktische Philosophie und philosophische Ästhetik voneinander abgrenzen. Obwohl es so anmutet, als träten die Aporien für Derrida vornehmlich im Bereich der praktischen Philosophie auf, lassen sie sich keineswegs darauf beschränken. Und wenngleich ich den Fokus darauf gelegt habe, dass Adorno die Gemeinsamkeit – oder jedenfalls eine Gemeinsamkeit – von Philosophie und Kunst darin sieht, sich einer unmöglichen Aufgabe zu verschreiben und mithin in eine Aporie getrieben zu werden, hat Adorno vielerorts auch den Aporien der praktischen Philosophie – ebenfalls wieder im Ausgang von Kant – nachgespürt. Die gesamte Diskussion des kantischen Freiheitsbegriffs in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit ebenso wie ihr Nachhall in der Negativen Dialektik genauso wie die gesamte sich Kant widmende Vorlesung über die Probleme der Moralphilosophie stehen im Zeichen eines solchen Bedenkens aporetischer Problemlagen. Denn »die gesamten Schwierigkeiten der Kantischen Freiheitslehre haben eben zum Grund, auf der einen Seite dieses Nichtsein der Freiheit zu respektieren, auf der anderen aber […] sie auch nicht zu leugnen; und schließlich doch zwischen ihrem Nichtsein und dem auf sie Verwiesensein so etwas wie eine Vermittlung herzustellen, – wobei das Problem dieser Vermittlung Kant eben auf antinomische und aporetische Verhältnisse geführt hat« (VLGesFrei: 245). Welche Möglichkeiten Adorno zur »Entfaltung dieses Widerspruchs« (ebd.: 338) im Freiheitsbegriff Kants visiert hat, kann uns hier nicht mehr interessieren. Denn wir müssen die gezielte Diskussion des Stellenwerts der Aporien zurücklassen und werden aporetischen Figuren im weiteren Verlauf dieser Arbeit ohnehin noch an unterschiedlichen Punkten begegnen. Stattdessen müssen wir uns nun an einer nicht zu denken wäre, im Gegensatz zur Erkenntnis als bloßer adaequatio rei atque cogitationis. Daß der Fortgang, und damit die Antinomie, der gleichen Vernunft unabdingbar sei, die doch als kritische in der transzendentalen Analytik derlei Auschweifungen unterdrücken muß, belegt, mit unabsichtlicher Selbstkritik, den Widerspruch des Kritizismus zu seiner eigenen Vernunft als des Organs emphatischer Wahrheit.« Die Antinomie – oder der Fortgang, das Weitergetriebenwerden zum Absoluten oder Unendlichen hin – ist für Kants Philosophie also gleichermaßen charakteristisch wie ihre Selbsteinschränkung auf ihre vernünftigen Vermögen. Wegen dieses inneren Widerspruchs eben ist sie ein ›Kraftfeld‹.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
kurzen, vorgreifenden Charakteristik des Begriffs geistiger Erfahrung versuchen. Dazu müssen wir die Gehalte dieses Begriffs auseinanderlegen und nachschauen, ob er sich immanent, also ausgehend von Adornos Schriften, überhaupt zureichend erläutern lässt. Die Sekundärliteratur nun ist auf den Begriff der geistigen Erfahrung durchaus stellenweise aufmerksam geworden. Beispielsweise nennt Axel Honneth ihn in seinem Artikel zum für die Lektüre der Negativen Dialektik zentralen Sammelband (Honneth 2006: 19) und hebt ihn als »im Text stets wiederkehrend« hervor, ohne dass er jedoch seinem Gehalt weiter nachspürt oder der Begriff sonst in diesem Band auftaucht (vgl. Honneth/Menke 2006). Desweiteren gibt es zwei, in unmittelbarer Nähe voneinander gehaltene Aufsätze von Inga Römer (Römer 2012) und Laszlo Tengelyi (Tengelyi 2012), die jedoch Ausnahme geblieben sind und weder auf bisherige Ansätze zur Deutung dieses Begriffs zurückgreifen noch eine weitergehende Diskussion anstoßen konnten. Wie ich in der Einleitung vermerkt hatte, sollte, wie Rolf Tiedemann (2003) berichtet, die gesamte Einleitung in die Negative Dialektik von diesem Begriff handeln. Detlev Claussen geht sogar noch weiter: »Zeitweilig spielte Adorno mit dem Gedanken, die ›Negative Dialektik‹ schon ›Zur Theorie der geistigen Erfahrung‹ zu nennen.« (Claussen 2003: 381) Ob es nun lediglich die Einleitung oder gleich das ganze Werk sein sollte: in dem einen wie in dem anderen Fall kann man irritiert sein, dass der Begriff in ihm zwar verschiedentlich auftaucht, aber dort keine systematische Bestimmung erhält. Die Vielzahl weiterer Belegstellen des Begriffs hilft über diesen Notstand nicht hinweg. Denn an diesen taucht der Begriff nur als Stichwort, nur en passant auf, ohne eigens bestimmt zu werden. Zudem verwendet Adorno das Attribut ›geistig‹ hier in einem unspezifischen, gröberen Sinn, ersichtlich hätten also andere Begriffe wie ›intellektuell‹ oder ›kognitiv‹ an dessen Stelle treten können. Die alleinige Funktion des Begriffs scheint hier unter anderem darin zu liegen, eine Philosophie oder das Denken eines Autors in einer Weise zu würdigen2 , der man auch außerhalb von Adornos Werk begegnet. So spricht man desöfteren von einer geistigen oder denkerischen ›Kraft‹ oder ›Tiefe‹, wenn man ein Charakteristikum eines Autors oder einer Philosophie würdigen möchte, für das man keine deutlicheren, klarer artikulierten Begriffe zu finden vermag. »Die gesamte Hegelsche Philosophie« etwa sei »eine einzige Anstrengung, geistige Erfahrung in Begriffe zu übersetzen.« (5/368) 2
Diese würdigende, rühmende Funktion des Attributs ›geistig‹ wird vor allem an der folgenden Passage der Ästhetikvorlesung von 1958 deutlich: Kant, Hegel und Schopenhauer seien »sicherlich nicht das gewesen, was man ›feinsinnig‹ nennt, aber die Kraft ihrer Erfahrung, der geistigen Erfahrung, ist so tief gewesen, daß sie dadurch auch Bereiche gewissermaßen in sich hereingerissen hat, die ihrem Inhalt nach ihnen noch gar nicht so offenbar waren.« (VLÄsth58: 31) Wie man sich genauer vorzustellen hat, was Adorno hier meint (›in sich hineingerissen‹) und weshalb man in diesem Zusammenhang von ›geistiger Erfahrung‹ sprechen sollte, erläutert er nicht.
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Siegfried Kracauer »folgte geistiger Erfahrung als einem Individuellen, entschlossen, nur das zu denken, was er zu füllen vermochte, was ihm selber an Menschen und Dingen sich konkretisiert hatte.« (11/391) Die »gesellschaftliche Gesamtverfassung« garantiere zwar »formale Gleichheit der Rechte«, »konsumier[e]« aber »das Bildungsprivileg und gewährt die Möglichkeit differenzierter und fortgeschrittener geistiger Erfahrung nur wenigen«, wie es in Kultur und Verwaltung (8/143) heißt. Und »[p]hilosophisch« denke im allgemeinen, »wer geistige Erfahrung erhärtet an der gleichen Konsequenzlogik, deren Gegenpol er inne hat.« Sonst bleibe geistige Erfahrung »rhapsodisch« (10/606). Was es nun aber genauer heißen mag, Hegel habe geistige Erfahrung in Begriffe übersetzen wollen, Kracauer sei einer individuellen geistigen Erfahrung gefolgt, philosophisch sei Denken bloß oder vornehmlich dann, wenn geistige Erfahrung an einer ›Konsequenzlogik‹ erhärtet werde, und worin das ›Differenzierte‹ von geistiger Erfahrung liegt, macht Adorno an solchen Stellen in keiner Weise klar. Es steht außer Frage, dass man Versuche unternehmen könnte, am Begriff geistiger Erfahrung, wie er uns in solchen Passagen entgegentritt, herumzurätseln; da der Begriff hier aber insular bleibt, ist allzu weitreichenden und vielfältigen Interpretationen das Tor geöffnet. Eine terminologische Präzision wird man so nicht erreichen. Andere Stellen, an denen der Begriff auftaucht – aber auch hier: auftaucht, um sogleich wieder zu verschwinden –, lassen den Leser zumindest ahnen, welche Dimensionen er aufweisen und mit welchen anderen Begriffe in Adornos Philosophie er im Zusammenhang stehen könnte – könnte! So »mag zuweilen, wie einst in der Hegelschen Phänomenologie, zwischen der Konkretion geistiger Erfahrung und dem Medium des allgemeinen Begriffs jäh der Funke zu zünden, derart, daß das Konkrete nicht als Beispiel illustriert sondern die Sache selbst ist« (7/392f.). Es gehe in der Philosophie darum, »daß man die eigene Erfahrung von den Gegenständen, die geistige Erfahrung in ihrer Gesamtheit mit aufnimmt in das, was man denkt, anstatt sie abzuschneiden durch […] logische[] Operationen.« (VLPhilTerm2: 108) Und »Unheil« drohe »der geistigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich verfestigt und gebärdet, als habe sie den Stein der Weisen in Händen. Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen Sinn nach solcher Objektivierung zu.« (11/27) Hier könnte man Adorno so verstehen, dass geistige Erfahrung, was sich von Kracauer her ja schon angedeutet hat, individuelle, singuläre Erfahrung bedeutet und somit nicht unvermittelt übereinzubringen ist mit Begriffen und Theorien, denen notwendigerweise ein allgemeiner Charakter eignet. Eine solche Interpretation wäre auch vor dem Hintergrund einer fehlgehenden, gleichwohl oft mit Adorno verbundenen Frontstellung zwischen Besonderem und Allgemeinem, Erfahrung und Begriff oder Wahrnehmung und Theorie allzu verständlich. Sie wäre auch triftig für solche Formulierungen Adornos, die von der »Ungedecktheit nicht reglementierter geistiger Erfahrung« (8/263) sprechen oder einfordern, »Theorie und geistige Erfahrung bedürf[t]en ihrer Wechselwirkung.«
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
(6/41) Während sich der Begriff und die Theorie in dieser Lesart als das Allgemeine, das Bestimmbare und Gesicherte ausnehmen, gerät geistige Erfahrung in die Rolle des Individuellen, des Unbestimmbaren und Ungesicherten. Das ist eine einfache Opposition, in der es dem hergebrachten Adornoverständnis leicht fällt, positive und negative Wertungen zu vergeben. Abermals wird jedoch deutlich, dass auf der Basis solcher Passagen eine terminologische Zuspitzung des Begriffs recht schwer fallen dürfte. Eine dritte Gruppe isoliert bleibenden Auftauchens des Begriffs geistiger Erfahrung sei hier abschließend und um die Vielzahl der verstreuten Verwendungen des Begriffs noch weiter anzureichern genannt. Hier scheint sich geistige Erfahrung vor allem durch Passivität auszuzeichnen; da Erfahrung aber prinzipiell in einem minimalen Sinn Passivität impliziert, wird nicht recht deutlich, welche Funktion der Begriffszusatz ›geistig‹ haben soll. An einer frühen Stelle der Ästhetischen Theorie erläutert Adorno eine für sein Verständnis von Kunstrezeption wichtige Unterscheidung mit Hilfe dieses Begriffs: »Bis zur Phase totaler Verwaltung«, so Adorno dramatisierend, »sollte das Subjekt, das ein Gebilde betrachtete, hörte, las, sich vergessen, sich gleichgültig werden, darin erlöschen. Die Identifikation, die es vollzog, war dem Ideal nicht die, daß es das Kunstwerk sich, sondern daß es sich dem Kunstwerk gleichmachte. Darin bestand ästhetische Sublimierung; Hegel nannte solche Verhaltensweise generell die Freiheit zum Objekt. Damit gerade erwies er dem Subjekt Ehre, das in geistiger Erfahrung Subjekt wird durch seine Entäußerung, dem Gegenteil des spießbürgerlichen Verlangens, daß das Kunstwerk ihm etwas gebe.« (7/33; Hervorhebung DJ) Geistige Erfahrung ist hier, so läßt sich Adorno verstehen, das Gegenteil eines Verhaltens, welches das Kunstwerk auf das Subjekt reduziert. Das Subjekt, der Rezipient des Kunstwerks, soll sich vielmehr dem Kunstwerk öffnen, ihm gegenüber passiv sein, sich ihm anzubilden versuchen – oder ›erlöschen‹ –, statt es auf das zurückzubeziehen, was es schon kann und weiss. Diese Lesart nun trifft sich mit einer der wichtigeren Belegstellen des Begriffs, nämlich Adornos oftmals als programmatisch verstandenem Essay als Form. Ohne den Begriff eigens einzuführen und ohne irgend etwas Klärendes zu deren Verhältnis zu sagen, geht Adorno darin unvermittelt vom ›Essay‹ zur ›geistigen Erfahrung‹ über: »[M]ehr als das definitorische Verfahren urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im Prozess geistiger Erfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln.« (11/20f.; Hervorhebung DJ) Selbst wenn unklar bleibt, ob nun bloß die geistige Erfahrung oder auch der Essay in dieser Weise prozessual vorgehen und wie sich eine solche nicht-kontinuierliche Verflechtung genauer verhalten mag, scheint Adorno hier zumindest anzudeuten, geistige Erfahrung müsse weniger als etwas vom Sub-
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jekt – vom Denkenden – aktiv Vollzogenes, sondern eher als etwas, das in ihm vorgeht und zu dem er sich passiv verhält, verstanden werden. Wir werden nachher noch sehen, dass diese Stelle durchaus den Fundus für einen gehaltvollen Begriff geistiger Erfahrung zu bieten vermag – nämlich entlang solcher Aspekte wie Prozessualität, Verflechtung und Verdichtung –, aber wenn diese Stelle aus den Noten zur Literatur und die vorherige aus der Ästhetischen Theorie gleichermaßen erratisch bleiben – also der Begriff weder auf den vorhergehenden noch auf den folgenden Seiten auftaucht noch es Querverweise zwischen den Texten Adornos gibt –, dürfte doch nachvollziehbar sein, dass solche Stellen nicht als Ausgangspunkt für seine pointierende Bestimmung zu verwenden sind. Ich habe all diese verschiedenen Stellen nun einerseits aufgeführt, um – ohne Anspruch auf Vollständigkeit3 – zu erweisen, dass der Begriff sich tatsächlich über das ganze Werk Adornos verstreut; andererseits wollte ich zeigen, dass es Adornos Philosophie hier an systematischer Klärung ihrer Begriffe gebricht. Dem Begriff der geistigen Erfahrung begegnet man darin, als würde man in unregelmäßigen Abständen die Wege einer Person in der Stadt kreuzen, von der man, wie von so vielem, keine Notiz nimmt. Nach einiger Zeit nach ihr befragt, wüsste man sich ihrer ebensowenig wie irgendwelcher ihrer spezifischen Merkmale wie Kleidung oder Aussehen zu erinnern. ›Hätte sie doch eine neonfarbene Warnweste getragen oder mir durch einen eindringlichen, kryptischen Blick wie in einem Godardfilm zu verstehen gegeben, ich könnte von ihr Aufschluß über mein Leben erhalten, ich hätte ihr sicherlich die gebührende Beachtung geschenkt‹, würde man antworten. Insoweit auch Adorno den Begriff geistiger Erfahrung nicht mit solchen warnwestenähnlichen Hinweisen, es handele es sich um einen zentralen Begriff seiner Philosophie, versehen hat, ist es nur allzu verständlich, dass die Rezeption dem Begriff keinerlei besondere Aufmerksamkeit hat zukommen lassen. Wie sollte man auch all die verschiedenen Stellen, an denen der Begriff ersichtlich deponiert ist, im Gedächtnis behalten – einmal vorausgesetzt, man hält es als Interpret von Adornos Werk für nötig, so heterogene Texte wie den Essay als Form, Kultur und Verwaltung, den zweiten Band der Philosophischen Terminologie und Der wunderliche Realist, eine Würdigung Siegfried Kracauers, zu lesen und dann auch noch die Verbindungslinien zwischen ihnen zu sondieren. Nein: wir stehen mit diesem Begriff vor einem Rätsel und müssen uns andere Einsatzpunkte für unser Unterfangen wählen, dem Gehalt dieses Begriffs nachzufahren. Als die wichtigste, weitreichendste Passage zur Erläuterung des Begriffs muss Adornos im Winter 1965 gehaltene und erst 2003 publizierte Vorlesung über
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Weitere Belegstellen, auf die es mir aber nicht ankommt – denn es mag ermüdend sein, sie bloß der Vollständigkeit halber nacheinander abzuklappern, wenn sich kein konsistentes Bedeutungsgewebe des Begriffs zu bilden scheint –, sind: Adorno 2001a: 29; VLEinfDia: 120, 143; 19/584; 4/52; 15/374; VLPhilTerm2: 128; 5/342; VLProbMoral: 153.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Negative Dialektik gelten. In dieser ist ihm eine ganze, nämlich die achte Sitzung gewidmet. Diese stellt gleichwohl über weite Strecken eher Überlegungen zum Verhältnis von Endlichem und Unendlichem an. Über geistige Erfahrung lässt uns Adorno lediglich wissen, sie sei getragen von der »vage[n], dunkle[n] Erwartung, daß jedes Einzelne und Partikulare, das ihr zufällt, schließlich doch jenes Ganze in sich […] vorstelle, das ihr immer wieder entgleitet« (VLNegDia: 124). Diese Verflochtenheit von Einzelnem und Ganzem, von Partikularem und einem übergreifenden Zusammenhang erfährt sodann eine nähere Charakterisierung durch die Illustration an Kunstwerken. Die seien zwar einerseits ein »in sich Endliches, Umrissenes, Gegebenes in Raum oder in Zeit«, andererseits beschlössen sie in sich »ein unendliches Maß an Implikationen […], das ohne weiteres sich gar nicht erschließt und das der Analyse erst bedarf.« (Ebd.: 125) Wegen dieser Dopplung des Kunstwerks zwischen Endlichem und Unendlichem ist es der paradigmatische Fall für ein Verständnis geistiger Erfahrung, wonach sie diese innere Verflochtenheit von Einzelnem und Ganzem zu artikulieren vermag: sie muss und sie kann diese »im Kunstwerk verschlossene Unendlichkeit […] artikulieren.« (Ebd.) Wie sich diese allerdings noch konkreter und präziser ausnehmen mag, erfährt man weder an der betreffenden Stelle in dieser Sitzung noch sonstwo in der Vorlesung. Adorno beeilt sich bloß noch, keinem Verständnis geistiger Erfahrung Vorschub leisten zu wollen, das diese auf ästhetische Erfahrung verengt – geistige Erfahrung ist nicht eo ipso ästhetische Erfahrung. Dennoch sei das »Verfahren, das die Betrachtung der Kunstwerke uns vorzeichnet, in einem gewissen Sinn prototypisch […] für die Erkenntnis, für die philosophische Erkenntnis der Wirklichkeit«, denn Adorno meint, »daß nur, wenn man über diese Art Möglichkeit der Erfahrung verfügt, die ich versucht habe, Ihnen an den Kunstwerken anzuzeigen, […] nur dann überhaupt das sich konstituieren kann, was ich versucht habe, mit dem Begriff einer geistigen Erfahrung« (ebd.: 126) zu umreißen. Allerdings gibt es eine, in den Stichworten dieser Vorlesung vorfindbare Passage elliptischer Ausführungen zum Begriff geistiger Erfahrung, ja, wie Adorno sagt, zum »Kern eines Begriffs geistiger Erfahrung« (ebd.: 221). Diese Stelle, so dunkel, so sperrig sie zunächst anmutet, ist der Nukleus eines gehaltvollen Verständnisses dieses Begriffs und damit zugleich der Einsatzpunkt der vorliegenden Studie. Ich gebe sie (ebd.) deswegen im Ganzen wieder: Aber Tradition ist der Erkenntnis immanent als Vermittlung ihrer Gegenstände. Sie hat kategorial teil an Erkenntnis qua Erinnerung: keine Erkenntnis […] ohne Festhalten von Vergangenem. Kants Deduktion. (herrschende Verdummung = Erinnerungslosigkeit) Denken ist die Verinnerlichung von Geschichte. Weil aber keine Zeit ist ohne Zeitliches, Seiendes, bleibt die innere Historizität des Denkens keine reine Form.
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Sie ist mit ihrem Inhalt verflochten und eben das heißt Tradition. Das reine, absolut sublimierte Subjekt wäre ein Punkt d.h. absolut traditionslos. Zeitlosigkeit ist die Höhe der Verblendung des Bewußtseins. […] Denken muss die immanente Tradition mobilisieren; eben das heißt geistige Erfahrung. Das traditionale Moment als Konstituens, als ›verborgener Mechanismus in der Tiefe der Seele‹. Bergson als der Versuch, der Entzeitlichung des Denkens zu widerstehen. Hier der Kern eines Begriffs geistiger Erfahrung. Nun finden wir hier den Begriff in einer Gestalt vor, die uns Schwierigkeiten bereitet, sie zum einen mit der Reihe der oben wiedergebenen Passagen und zum anderen mit der Liierung ›geistiger‹ Erfahrung und ›ästhetischer‹ Erfahrung in einen durchsichtigen Zusammenhang zu bringen. Adornos Formulierungen machen dennoch unmissverständlich klar, dass geistige Erfahrung in einem spezifischen Sinn zeitlich strukturierte Erfahrung sein muss: es gebe eine der Erkenntnis oder der Erfahrung ›immanente‹ Tradition und es finde eine ›Verinnerlichung von Geschichte‹ statt. Mehr noch: diese dem Denken und der Erfahrung immanente Tradition sei das eigentliche ›Konstituens‹, sie bringe Erfahrung in einem genuinen Sinn erst hervor. In ihrer Elliptik und ihrer Erratik sind diese Zeilen der Stichworte der Vorlesung gleichwohl wenig mehr als ein Hinweisschild oder eine Handvoll Fingerzeige; sie sind eine Landkarte – wandern müssen wir selber, und die vorliegende Arbeit muss unser Reiseführer sein. Sie erlegen es uns auf, innerhalb von Adornos Werk nach dezidierteren und gehaltvolleren Erörterungen der in ihnen auftauchenden Begriffe und Themen – wie Vermittlung, Tradition, Zeit, Gedächtnis oder anderen Stellen des kantischen Zitats – zu suchen; sie eröffnen Fragen, die man herkömmlicherweise nicht mit Adornos Philosophie verbindet: Was mag es heißen, der Erfahrung und dem Denken sei Zeit innerlich? Wie darf man vor dieser zeittheoretischen Folie die Fähigkeit geistiger Erfahrung, die unendlichen Implikationen eines Kunstwerks auseinanderzulegen, verstehen? In welchem Verhältnis mögen die kantisch verstandene Einbildungskraft und geistige Erfahrung für Adorno stehen? Und wie verhalten sich nun eigentlich solcherlei zeittheoretische Überlegungen zum Attribut ›geistig‹?
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
3.1 Das Sinnliche, das Geistige, die Vermittlung: eine dialektische Theorie des Allgemeinen Einen ersten Zugang zu dem damit umschriebenen Fragekreis gewinnt man, indem man Adornos Auffassung des Begriffs des ›Geistes‹ oder des ›Geistigen‹ auszuloten versucht. Die einzige mir bekannte Stelle, an der diese über ein längeres Textstück hinweg ausgebreitet wird, ist eine Stelle in im zweiten Band seiner Philosophischen Terminologie (VLPhilTerm2: 127ff.). Obwohl er hier ebenfalls wieder explizit von geistiger Erfahrung spricht, ist seine Bestimmung des Geistesbegriffs wenig aufschlussreich. Um die begrifflichen Verschiebungen im Begriff der Vernunft und im Begriff des Geistes zwischen Kant und Hegel zu resümieren, meint Adorno: »Geist ist der Inbegriff der Welt oder der Inbegriff der Realität, soweit sie durch die spezifische geistige Erfahrung des Einzelmenschen hindurchgegangen sind. Welt oder Realität werden dadurch, daß der Geist durch sie hindurchgegangen ist, gewissermaßen von innen her beleuchtet; so steckt die Erkenntnis ihren Gegenstände eine Art von Licht auf, und indem sie dies tut, erleuchtet sie auch sich selber« (ebd.: 129). Das ist der »neue Begriff des Geistes«, den Adorno bei Hegel diagnostiziert. Dass »alles Erfahrene durch den Geist […] vermittelt« werde, ist die bündige, essentielle Bestimmung des Begriffs geistiger Erfahrung, die man dieser Stelle entnehmen kann. Aber – einmal abgesehen davon, wie immer kompliziert Hegel diese Vermittlung gedacht haben mag – dass Erfahrung durch das Subjekt als den Träger geistiger, intellektueller Vermögen vermittelt sei, ist trivial; dass uns die Objekte unserer Erfahrung – das Erfahrene – nur durch das Medium unserer Erfahrungsvollzüge zugänglich werden, ist banal. Die eigentlich fruchtbare Stelle zur Klärung des Geistesbegriffs findet sich daher nicht in den philosophischen Schriften Adornos, sondern in seiner Ästhetikvorlesung von 1958. Denn dort erfährt der Begriff des ›geistigen Gehalts‹ eine sehr viel umfänglichere und präzisere Bestimmung, die die Ästhetische Theorie, in der dieses Syntagma ebenfalls mehrfach und abwechselnd mit dem Begriff des Wahrheitsgehalts auftaucht, nicht zu bieten vermag. Der geistige Gehalt eines Kunstwerks – das mögen Gemälde, Musikstücke, Filme sein, denn Adorno spezifiziert hier nicht – ist das Verhältnis all seiner einzelnen Elemente, konkreten Stellen oder als Gegenwart individuierbaren Ereignisse zueinander, meint er. Er ist das »Verhältnis seiner sinnlichen Momente zueinander in der Art, daß durch ihren Zusammenhang, durch ihr Verhältnis zueinander, die Stoffmomente oder die sinnlichen Momente des Kunstwerks über sich hinausgehen« (VLÄsth58: 222). Der Begriff des geistigen Gehalts erschließt das Kunstwerk uns also so, dass es uns als eine geordnete, strukturierte, also in einen spezifischen Zusammenhang gebrachte Menge von individuierbaren Elementen entgegentritt. In welcher Weise dann ein solcher Gehalt überhaupt fassbar, artikulierbar, referierbar sein könnte, ist von hier aus gesehen zwar nicht recht deutlich – wir müssen diese Frage aber auf später verschieben.
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Denn unmittelbar relevanter ist, dass Adorno dieser Auffassung des Kunstwerks als geistigem Strukturzusammenhang, als »Sinnzusammenhang« (ebd.: 135, 184, 199, 224f., 261, 280, 295ff.) eine besonders konzise, wie er sagt, ›handfeste‹ Definition des Geistesbegriffs folgen lässt (ebd.: 222f.): Und der Begriff des Geistigen, um den es sich hierbei handelt, läßt sich wirklich – ich möchte beinahe sagen: sehr handfest – bestimmen. Wir dürfen nämlich bei diesem Strukturmoment deshalb von einem Geistigen reden, das mehr ist als das bloß Sinnliche, weil es an keinem isolierten Sinnlichen allein dingfest zu machen, weil es nicht irgendein sinnliches Moment des Kunstwerks an sich genommen ist, sondern weil es eigentlich ein Relationsbegriff ist, also etwas, was überhaupt nur durch das Verhältnis der verschiedenen sinnlichen Momente zueinander greifbar wird, oder, wie ich es in der Sprache der Hegelschen Philosophie auszudrücken liebe: weil es ein Vermitteltes ist. Es ist zwar, wie angedeutet, schwierig, sich vorzustellen, wie dieser geistige Gehalt denn nun tatsächlich ein ›Gehalt‹ sein könnte. Denn dieser ist, wie es in den Stichworten dieser Vorlesung heißt, explizit nicht, »was der Autor an Ideen, Bedeutungen hineingesteckt hat«, er sei, als Zusammenhang, »keine einfache Ganzheit, Gestalt, sondern in sich antagonistisch, gespalten, ein Kraftfeld« (ebd.: 367f.). Wenn er aber keine Gestalt zu finden vermag, wenn wir ihn nicht in irgendeiner Weise und in irgendeinem Medium – unserem eigenem Denken, der Sprache oder wiederum in anderen Kunstwerken – fixieren können, scheint dieser Gehalt von einer gewissen Ephemerität gekennzeichnet zu sein. Und das macht es schwierig nachzuvollziehen, weshalb hier die Rede von einem ›Gehalt‹ ist, denn herkömmlicherweise verbindet man mit diesem Begriff eine umgrenzte Gestalt, wie immer offen oder durchlässig sie sich erweisen mag. Gleichwohl ist Adorno hier darin sehr dezidiert, den Begriff des Geistes von seinem Antonym, von seinem Gegenbegriff abzuheben. ›Geistig‹ ist der Gegenbegriff zu ›sinnlich‹; sinnlich gegenwärtig oder erfahrbar sind uns die einzelnen Momente oder Elemente eines Kunstwerks, geistig ist der Zusammenhang, der sie übergreift, integriert und in ein Verhältnis zueinander setzt, und diesen können wir nicht – jedenfalls nicht als solchen, so dass wir ihn uns vor Augen stellen könnten – erfahren. Diese Gegenüberstellung der beiden Begriffe ist für uns deswegen wichtig, weil Erfahrung und Wahrnehmung gemeinhin, und wohl zurecht, mit Sinnlichkeit assoziiert werden. Das Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem ist allerdings intrikater, als es sich bis jetzt auszunehmen den Anschein haben mag. Es wäre abermals undialektisch – und insoweit führt die Rede von Antonymen in die Irre –, diese beiden Begriffe als Pole einander abstrakt entgegenzusetzen, sie voneinander zu isolieren. An der eben zitierten Stelle der Stichworte (ebd.: 368; Hervorhebung DJ) sagt Adorno über den geistigen Gehalt deshalb, er sei »der Gehalt des Kunstwerks, der
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ihm nicht abstrakt gegenübersteht sondern konstituiert wird durch die spezifische Konfiguration seines hic et nunc. Gebunden an die Erscheinung ohne in ihr sich zu erschöpfen. Sein Träger ist der Strukturzusammenhang, den man auch Sinnzusammenhang nennen kann, als der Inbegriff der Phänomene der mehr ist als diese, keine pure Unmittelbarkeit.« Einerseits überschreitet mithin das Geistige das Sinnliche, es erschöpft sich nicht im sinnlich Gegenwärtigen und Zugänglichen; andererseits ist es gebunden an das Erscheinende und Wahrnehmbare, wir können es nicht einfachhin jenseits des Sinnlichen situieren, denn es wird durch das ›hic et nunc‹, das uns hier und jetzt, das uns in seiner Konkretion Wahrnehmbare allererst konstituiert. Genau dieses Zusammenspiel der beiden Pole macht ihre Dialektik aus. Wie man sich diese Dialektik näherhin vorzustellen hat oder sich an einem Beispiel illustrieren könnte, wird aus diesen den Begriffen des ›Geistes‹ und des ›geistigen Gehalts‹ gewidmeten Passagen nicht klar. Adorno hat sie jedoch, vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Husserl, sehr viel eingehender erörtert und mehrfach an einem Beispiel – der sinnlichen Wahrnehmung von Röte, also von roten Gegenständen – erläutert. Wir können hier freilich nicht diese Auseinandersetzung in Gänze aufrollen, sondern uns lediglich Adornos Kritik an Husserls Begriffen der ›ideierenden Abstraktion‹ und der ›kategorialen Anschauung‹ zuwenden. Er meint nämlich daran monieren zu dürfen, dass Husserl damit weniger auf eine Dialektik als auf den unvermittelten Übergang vom singulären, hier und jetzt Wahrnehmbaren zum allgemeinen, begrifflichen oder ideellen Gehalt zielt. Ideierende Abstraktion bedeute, dass »an einer reinen Singularität deren Wesen soll erfaßt werden können« (5/113), »daß bereits die elementaren Formen des Bewußtseins, ohne jede Rücksicht auf ein zu Vergleichendes, ihren Stoff derart vergegenständlichen, wie unter einer optischen Linse fixieren, daß ihnen die absolute Singularität zum ›Identischen‹ gerät« (ebd.: 105). Husserl, so Adorno, glaube uns fähig, das Wesen oder den Begriff – also ein Allgemeines, sich über eine Mehrheit von Vollzügen identisch Durchhaltendes – aus einer singulären Wahrnehmung ›herauszuschauen‹ (vgl. ebd.: 108, 210). Dieses Herausschauen würde heißen, »daß ich, wenn ich ein Rot sehe, aus diesem Rot gewissermaßen die Rotheit heraushebe, anstatt auf dies eine individuierte, beschränkte Rot mich zu beschränken.« (VLOntDia: 90) Und es würde, so versteht Adorno Husserl, schon an bloß einem, singulären Objekt möglich sein; wir könnten mithin den Begriff der Röte oder der Rotheit ausgehend von nur einem einzigen Phänomen her bilden. Ideierende Abstraktion, so Adorno, meine »nichts anderes als daß ich, wenn ich etwa ein Rot mir ansehe, wie das Rot der Bluse der Dame in der dritten Reihe, daß dann in der Anschauung dieses Rots nicht nur diese spezifische rote Bluse mir gegeben ist, sondern Rotheit schlechthin; daß also diese Anschauung einer solchen bestimmten Farbe exemplarisch ist für die Gattung Rot überhaupt, auch unter der Bedingung, daß ich keine anderen roten Blusen in diesem Saal etwa sehen würde, als deren Gemeinsames ich Rot-
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heit konstatiere.« (Ebd.) Ob sich Husserl das tatsächlich so simpel vorgestellt hat, mag fraglich sein; dennoch ist die von Adorno hier kritisierte Konzeption aus im wesentlichen zwei Gründen unplausibel. Sie legt (i) ein statisches Verständnis von Begriffen und Allgemeinheiten nahe. »[D]er Glaube, es lasse aus einem singulären Phänomen dessen statisches, von Raum und Zeit emanzipiertes Wesen unvermittelt sich herausschauen« befördert nämlich den sich anschließenden Irrglauben, solcherlei allgemeine Gehalte seien »selbstständige[], vom Menschen, von seiner Aktivität, von seiner Geschichte unabhängige[] und dennoch in ihrer ›Reinheit‹ von ihm zu erfassende[] Wesenheiten« (5/209f.). Was wir oben von Adorno als das Geistige charakterisiert gesehen haben, wäre dann so völlig losgelöst vom Sinnlichen, von Raum und Zeit, von Geschichte und menschlicher Aktivität, wie Adorno sagt, dass es in vollendeter Statik und unaffizierbar von seinen konkreten Instantiierungen überdauern würde.4 Wenn das »Vermittelte, Gedachte, eben Geistige gleichzeitig ein Unabhängiges sein soll« (VLOntDia: 266), wie es sich von dieser Konzeption ideierender Abstraktion oder kategorialer Anschauung für Adorno nahelegt, dann ist damit nicht nur dessen »Reinheit« (ebd.: 267) impliziert, sondern überdies eine Verdinglichung von geschichtlich hervorgebrachten Gebilden.5 Ideale Allgemeinheiten wären dann Produkte ohne Produktion, passiv Hinzunehmendes statt aktiv Hervorgebrachtes. So meint Adorno, Husserls »Verblendung gegen die Produktion verführ[e] ihn, das Produkt für gegeben zu halten«, die »je
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Adorno weitet diesen Kritikpunkt sodann, in seiner Ästhetikvorlesung von 1967 (VLÄsth68: 38f.), zu einer Kritik an sowohl Husserl als auch Heidegger aus: »Das, was man gegen die phänomenologische Methode einzuwenden hat, ist, so scheint es mir, das Fazit aus dem, was ich Ihnen in der letzten Stunde versucht habe auseinanderzusetzen, daß nämlich die Ästhetik des reinen Gegenstandes es nicht mit einem Urphänomen zu tun hat, das man nun aus ihr herausschauen könnte. Sondern sie hat es mit einem Gegenstand in eben jener Weise zu tun als einer Konstellation von Begriffen um das Phänomen herum. Im übrigen ist das Verfahren der Phänomenologie, von dem ich Ihnen sagte, daß es weder beansprucht, von oben her noch durch bloße empirische Konkretion zu verfahren, nur scheinbar ein dritter Weg, in Wahrheit ist es doch ein Weg von oben her, in Wahrheit wird eben doch von den reinen Begriffen deduziert, was man sich am einfachsten dadurch klar machen kann, daß der Begriff des Wesens, bei Husserl und bei allen seinen Nachfolgern, vor allem bei Heidegger, als ein von der Faktizität, von dem Tatsächlichen, oder wie es bei Heidegger genannt wird, von dem Ontischen, radikal ungeschieden sein kann.« Die ideelle Reinheit – die Idealität von logischen Gebilden bei Husserl – ist für Adorno dann ein Beispiel für eine Verdinglichung, wenn sie hypostasiert, als an sich bestehend aufgefaßt wird. »Das gleiche Postulat der ›Erfahrungsunabhängigkeit‹, das auf die ›realistische‹ Konstruktion des logischen An sich hinausläuft und Logik und Mathematik behandelt, als wären sie schlechterdings da, gebietet zugleich die Idealität von Logik und Mathematik als ihre Reinheit von Faktischem. Verdinglichung und Idealisierung werden dieser Philosophie – und nicht ihr zum erstenmal – zu Korrelaten.« (5/64; Hervorhebung DJ)
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existenten verdinglichten Formen als endgültig, als Kategorien [zu] hypostasieren«. Darum »sind Husserls Wesenheiten ›zweite Natur‹« (5/146), und darum fühlt sich Adorno berechtigt, Husserl – und in gewisser Weise auch Heidegger – eine Verdinglichung vorzuwerfen. Denn Verdinglichung hat hier den genauen Sinn, dass vom Tun, von der Aktivität, vom Prozess abgesehen und das Resultat isoliert, wie Adorno oft sagt, ›stillgestellt‹ wird. Aus präzise diesem Grund »ist alle Verdinglichung ein Vergessen« (5/222), wie er im Hinblick auf Husserl mehrfach (ebd.: 74, 175f.) mit dieser bekannten Wendung sagt. »Das transsubjektive Sein der logischen Sätze […] impliziert die Verdinglichung der Denkleistung, das Vergessen der Synthesis« – vergessen wird die »›geronnene Arbeit‹« (ebd.: 197).6 Die undialektische, dichotomisierende Entgegensetzung von Sinnlichem und Geistigem, einzelner Wahrnehmung und begrifflichen, idealen Strukturen mündet also in genau dieses Vergessen oder diese Verdinglichung. Es sind mithin zwei unterscheidbare, aber miteinander zusammenhängende Aspekte, die Adorno hier zu kritisieren findet. Wenn durch Husserls problematische Konzeption erstens suggeriert wird, »als ob nicht reale Geschichte im Kern alles dessen aufgespeichert wäre, was zu erkennen ist« – wenn Husserl mithin Begriffe oder ideale Allgemeinheiten von der Geschichte loslöst –, so wird dadurch zweitens gleichfalls suggeriert, »als ob nicht jede Erkenntnis, welche im Ernst der Verdinglichung widersteht, die erstarrten Dinge in Fluß brächte und eben dadurch in ihnen der Geschichte gewahr würde« (VLOntDia: 324) – so wird ebenfalls von der inneren Prozessualität und Geschichtlichkeit der Erfahrung abgesehen.7 6
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Dass Adorno im Hinblick auf Husserl zu Begriffen wie ›zweite Natur‹, ›Verdinglichung‹ oder ›Fetischisierung‹ (5/58f., 71f., 197f.) greift, lässt erkennen, dass Marxʼ Überlegungen hier im Hintergrund gegenwärtig sind. Beim späten Husserl findet aber Adorno Motive vor, die in genau die kritische Richtung der Verdinglichungskritik deuten: »Sobald das Gegebene als ›forderndes‹ über sich hinausweist, wird es damit nicht nur zum bloßen Teilmoment des übergreifenden Erkenntnisprozesses herabgesetzt, sondern erweist sich als prozessual in sich selber. Der deskriptive Sachverhalt hat, nach den Worten des späten Husserl, seine ›genetischen Sinnesimplikate‹. Das aber rührt an die seit den Prolegomena unterstellte Dichotomie von Genesis und Geltung: dieser ist ihre Entstehung nicht mehr äußerlich, nicht mehr unabhängig also von ihrem eigenen Wahrheitsgehalt, sondern Genesis fällt in jenen Wahrheitsgehalt selber, der ›fordert‹. Nicht ist, wie der Relativismus es will, Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit. ›Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.‹« (Ebd.: 140f.) Adorno macht allerdings selber auf Momente in Husserls Schriften aufmerksam, die seiner eigenen Position recht nahe kommen. Es wäre darum auch hier verfehlt, Adorno beziehe in einer simplen Weise ›gegen‹ Husserl Stellung. Natürlich herrscht in seiner Lektüre Husserls das kritische Moment vor, sie ist, genauso wie die Vorlesung über Ontologie und Dialektik, aber sehr viel komplexer, als es eine solche Frontstellung ›gegen‹ die Phänomenologie suggeriert. Nach Adorno ergänzen »›Logik‹ und ›Cartesianische Meditationen‹ […] die statische Phäno-
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Die andere dadurch nahelegte problematische Konsequenz ist (ii) die Isolation singulärer, konkreter Wahrnehmungsvollzüge einerseits aus dem Zusammenhang, in dem sie eingebettet sind, und ihre Separierung andererseits von den begrifflichen Allgemeinheiten, die sich erst von ihnen ausgehend entspinnen. Die unterstellte husserlianische Trennung von Sinnlichem und Geistigem deutet nicht nur die Hypostasierung von Idealitäten an, sondern auch die Separierung von Wahrnehmungsvollzügen von jeglichen anderen, mit denen sie in Zusammenhang stehen mögen. Das Abstrakte und das Konkrete, der Begriff und die einzelne Erfahrung sind so rein voneinander geschieden, dass auch darin Adorno eine Verdinglichung sehen möchte: »der Pol der reinen Synthesis, des reinen Begriffs, und der Pol der puren unqualifizierten Gegebenheit, sind« – bleibt ihrer dialektischer Bezug aufeinander außer Acht – »gleich verdinglicht.« (VLOntDia: 296f.) Gegen diese Dichotomie gerichtet, meint Adorno: so wie »kein Erlebnis ›singulär‹ ist, sondern, verflochten mit der Totalität des individuellen Bewußtseins, notwendig über sich hinausweist, so gibt es auch keine absoluten Sinne oder Bedeutungen. Ein jeglicher Sinn, dessen Denken überhaupt inne wird, enthält kraft des Gedankens ein Element von Allgemeinheit und ist mehr als bloß er selber.« (5/99f.) Es gibt mithin keine absolut singulären Wahrnehmungserlebnisse, keine nur auf ihr konkretes, unmittelbares Hier-und-Jetzt vereidigten Erfahrungen, sondern es gibt sie nur im Lichte oder vor dem Hintergrund begrifflicher oder kategorialer Allgemeinheiten, die unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen instruieren. Desgleichen gibt es, in dieser dialektischen Optik, auch keine absoluten, für sich stehenden begrifflichen Bedeutungen. Diese »beiden polaren Momente, das Einzelne und die Einheit« müssen demfolgend als »wechselseitig einander produzierend« (5/101) verstanden werden. Diese wechselfältige, reziproke Beziehung aufeinander menologie ausdrücklich durch die genetische als die konstituierende.« (5/219) Husserls Verdienst sei es darum in diesen Werken gewesen, »daß er Synthesis und Geschichte dem erstarrten Ding und gar der abstrakten Urteilsform abzwang« (ebd.: 218f.). »Das Ding, als identischer Gegenstand des Urteils« öffne sich durch diese theoretischen Revirements in Husserls Theorie und »präsentiert für einen Augenblick, was seine Starrheit verbergen soll: den geschichtlichen Vollzug.« (Ebd.: 219) Mehr als diese innere Synthetizität oder Geschichtlichkeit dem Objekt zuzuerkennen, wollte Adorno, wie ich begreiflich zu machen versucht habe, auch nicht. Ich will – als Theorienotiz – hier nur noch darauf aufmerksam machen, dass Adorno direkt im Anschluss (ebd.: 220) genauso wie Derrida am Ende von Die Stimme und das Phänomen (Derrida 2003f: 139) auf Husserls Beispiel des Besuchs in der Dresdner Galerie aus den Ideen (Husserl 2009: §100) zu sprechen kommt. Husserl will daran das »Ineinander von Vorstellungen und […] Mittelbarkeiten hinsichtlich der erfaßbaren Gegenständlichkeiten« illustrieren. Wenn ich Adorno und Derrida in ihren recht dunklen Ausführungen um dieses Zitat herum richtig verstehe, weisen sie damit bei Husserl auf das Moment hin, wonach in unserer wahrnehmenden Erfassung immer schon latente Verweisungen auf andere Vorstellungen und Wahrnehmungen am Werk sind. Diesen Gedanken können wir aber von klareren Stellen beider Autoren ausgehend besser entfalten.
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gilt nach Adorno sowohl für den konkret vorfindlichen Zusammenhang unserer Erlebnisse – also das unmittelbare Aneinanderschließen von vergangenen Wahrnehmungen an folgende Wahrnehmungen – als auch für den Zusammenhang von singulärer Wahrnehmung und allgemeinem Begriff. Der Zusammenhang und die Elemente, aus denen er sich komponiert, sind genauso relational aufeinander bezogen wie der Begriff und seine konkreten Instantiierungen, ausgehend von denen er sich konstituiert. Diese Doppeldeutigkeit kommt in der folgenden Passage (ebd.: 106f.; Hervorhebung DJ) deutlich zum Ausdruck: Von kategorialer Leistung kann indessen nur sinnvoll die Rede sein, wo Unmittelbares auf Vergangenes und Zukünftiges, auf Erinnerung und Erwartung bezogen wird. Sobald das Bewußtsein nicht beim reinen begriffslosen Dies da stehenbleibt, sondern einen wie immer auch primitiven Begriff bildet, bringt es das Wissen von nichtgegenwärtigen Momenten ins Spiel, die nicht ›da‹, nicht anschaulich, kein absolut Singuläres sind, sondern von Anderem abgezogen. Zum ›eigenen Sinn‹ eines Aktes, dem Kanon von Husserls Methode, gehört immer mehr als sein eigener Sinn. Jeder Akt transzendiert seinen Umfang, insofern das Gemeinte, um gemeint werden zu können, das Mitmeinen von Anderem stets verlangt. Adorno macht diese Ambivalenz zwar nicht explizit, obwohl es doch zwei unterscheidbare Aspekte sind. Deutlich wird allerdings die zeittheoretische Dimension dieser Dialektik von Sinnlichem und Geistigem, die für unseren Zusammenhang, die Elaboration des Begriffs geistiger Erfahrung, entscheidend ist. Dass das Sinnliche vermittelt ist, bedeutet eben nicht nur, dass es nicht anders als durch seinen Bezug auf Geistiges oder Allgemeines bestimmbar ist, es bedeutet darüber hinaus, dass nichtgegenwärtige Momente in die Gegenwart hineinreichen. Das gegenwärtige Sichereignen von Erfahrungen ist mithin nicht in sich selbst abgeschlossen, sondern geöffnet auf und verunreinigt durch den Verweis auf nichtgegenwärtige, allgemeine und nicht direkt anschaulich gegebene Strukturen. Damit ist die »Unmittelbarkeit, mit der man ein Rotes wahrnimmt« nicht gänzlich bestritten, sondern nur der Hinweis darauf verbunden, »daß […] dabei das Sinnliche nicht isoliert, sondern nur mit Denken verflochten vorkommt« (ebd.: 106). Es gibt zwar mithin keine »absolute Singularität«, die »wie eine Insel im Bewußtseinsstrom« (ebd.: 112) isolierbar ist, aber es gibt eine relative Unmittelbarkeit und Singularität der Wahrnehmung. Was Adorno hier ›Denken‹ nennt, sind demnach diejenigen in der Wahrnehmung latent fungierenden, nicht thematisch verfügbaren Strukturen, die erst einzelne Wahrnehmungserlebnisse mit anderen synthetisieren. Wendet man sich also an die Erörterung dessen, wie wir rote Gegenstände wahrnehmen und wie dabei das abstrakte, typische Wissen von Röte und die konkrete Wahrnehmung eines Gegenstands zusammenspielen, so können wir gar nicht vom zeitlichen Verlauf einzelner Erlebnisse absehen, denn eine begriffliche, ideelle Struktur wie die ›Röte‹ bildet sich nur ausgehend von einer Vielheit von
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zeitlich unterschiedenen Wahrnehmungen. »Es läßt sich«, so Adorno, »von einem Identischen sinnvoll bloß reden in Beziehung auf eine Vielheit. ›Identisches Rot‹ gibt es überhaupt nur an mehreren Gegenständen, die miteinander gemeinsam haben, rot zu sein« (ebd.: 104). Ein vorläufiges Resümee: Die Konstitution von Allgemeinheiten entspinnt sich also (i) ausgehend von Besonderem – darin sind beide Pole dialektisch aufeinander bezogen –, (ii) diese Konstitution findet innerhalb eines zeitlichen Verlaufs statt, und (iii) dies hat nicht zu vernachlässigende Konsequenzen für die Reinheit oder pure Gegenwärtigkeit von sinnlichen Wahrnehmungserlebnissen. Besonders pointiert und verdichtet hat Adorno diese Aspekte in der folgenden Passage (ebd.: 108f.; Hervorhebung DJ) formuliert, weshalb sie hier im ganzen wiedergegeben sei: Das hervorgehobene ›Rotmoment‹ sondert von der gegenwärtigen Wahrnehmung das Moment ›Farbe‹ ab. Indem diese einmal als selbständige Einheit isoliert ist, gerät sie in Beziehung zu anderen Farben. Sonst wäre das Farbmoment als selbständiges gar nicht hervorzuheben, da es ja in der gegenwärtigen Wahrnehmung gerade mit anderem verschmolzen ist. Selbständigkeit erlangt es erst dadurch, daß es mit einer völlig verschiedenen Erfahrungsdimension, nämlich mit vergangener Kenntnis von Farbe schlechthin, zusammengebracht wird; erst als Repräsentant von ›Farbe‹, wie sie dem Bewußtsein jenseits der bloß gegenwärtigen Erfahrung vertraut ist. Ihr Begriff, mag er noch so primitiv, mag er noch so wenig aktualisiert sein, wird vorausgesetzt, und er kommt nicht aus dem hic et nunc. Zu glauben, daß das Subjekt rein aus diesem die ›Röte‹ herausschauen könnte, wäre pure Selbsttäuschung, auch wenn man die Möglichkeit solcher Erlebnissingularitäten hypothetisch unterstellte: Röte – ›Rotheit‹ – ist Farbe, nicht Empfindungsdatum, und das Bewußtsein von Farbe verlangt Reflexion und hat nicht an der Impression sein Genügen. Husserl verwechselt das Meinen der Röte hier und jetzt mit dem Wissen von der Röte, dessen jenes Meinen notwendig bedarf. Das singuläre Meinen allgemeiner Gegenstände unterschiebt er für die Konstitution von Allgemeinheiten, für das begründete Wissen von solchen; das Meinen von Abstraktem setzt er einsichtigen Urteilen über Abstraktes gleich, während der scheinbar nur dem Einzelakt eigene ›ideale‹ Gehalt auf Mannigfaltigkeiten, auf Erfahrung zurückverweist. Wir müssen an dieser sehr dichten Passage und an den vorangegangen Zitaten noch zweierlei festhalten und in den Fokus rücken: (i) Wenn Adorno Reflexion und Impression einander entgegensetzt, so ist damit nicht der wenig plausible Gedanke gemeint, unsere Reflexion auf einen allgemeinen Typus wie Röte finde abgesetzt von unseren Wahrnehmungsimpressionen statt, sondern diese ist in unserer Wahrnehmung latent am Werk – dass er Begriffe wie ›Reflexion‹ oder ›Denken‹ mitunter anstelle von ›Wissen‹ verwendet, legt eine solche Fehlauffassung allerdings nahe. Das wird später vor allem dann wichtig, wenn wir geistige Erfahrung
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
an der Erfahrung von Kunstwerken exemplifizieren, also Adornos Ineinssetzung von ästhetischer Erfahrung und geistiger Erfahrung (s.o.) zu verstehen versuchen werden. Denken und Anschauung, Reflexion und Wahrnehmung sind in der ästhetischen Erfahrung nämlich dialektisch ineinander verflochten. Nur so lassen sich zum Beispiel die, isoliert genommen kryptischen, Stichworte der Ästhetikvorlesung von 1958 verstehen: »Kunst mutet Synthesis, Vollzug zu, nicht bloße Passivität: diese kunstfremd. Kunst erfahren heißt sie erkennen. Erkenntnis der Kunst aber keine dieser äußerliche Reflexion, sondern in ihr. Grenze von Reflexion und Anschauung fließend (Erinnerung und Sukzessivgestalt).« (VLÄsth58: 382) (ii) Was im vorangegangenen größeren Zitat ›Mitmeinen von Anderem‹ genannt wurde, bedeutet diejenige Art von zeitlicher Verweisung oder zeitlichem Bezug auf andere Akte und Vollzüge unserer Erfahrung, auf die Adorno es abgesehen hat, wenn er davon spricht, in das konkrete Wahrnehmen eines Objekts gehe immer schon ein typisierendes Wissen ein, ohne das wir diese Objekte nicht als so oder so bestimmte wahrzunehmen fähig wären. »Ein jeglicher Sinn, dessen Denken überhaupt inne wird, enthält kraft des Gedankens ein Element von Allgemeinheit und ist mehr als bloß er selber«, so formuliert Adorno in dem eben bereits zitierten Passus (5/99f.) diesen Aspekt bündig. Diese Formulierung des ›Mehr als…‹ will Adorno nicht nur im Hinblick auf den geistigen Zusammenhang der Wahrnehmungen – die Seite des Subjekts – verstanden wissen, sondern sie gilt desgleichen für die Seite des Objekts. Nur so, also nur eingedenk dieser Doppeltriftigkeit der Mehr-als-Struktur, können wir uns später in dieser Studie (a) den Zusammenhang von Deutung und
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Nichtidentischem und (b) die Erfahrung des geistigen oder des Wahrheitsgehalts verständlicher machen.8 Denn im Hinblick auf diese Themenkreise in Adornos Werk ist es unabdinglich, den für beide grundlegenden Umstand nachvollziehen zu können, dass die Erkenntnis der inneren Geschichtlichkeit von Objekten die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung voraussetzt. Unsere Erfahrung ist also nur dann fähig, der zeitlichen Nichtidentität des Objekts mit sich gerecht zu werden, sie vermag nur dann das Objekt so zu erfahren, dass es ›mehr als es selber‹ ist und über sich hinausweist, wenn unsere Erfahrung selber nicht in voneinander isolierte, statische Atome zerfällt. Denn »[n]ur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderem gegenwärtig hat«, es ist »Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt« (6/165); im Subjekt muss schon das »Potential jenes Wissens warte[n], das erst durch die Versenkung in den Gegenstand sich aktualisiert.« (5/319) Wie man sich ein solches ›Entbinden‹, eine solche ›Aktualisierung‹ oder ›Konzentration‹ von Wissen im konkreten Wahrnehmungsvollzug – und damit die oben im Ausgangszitat aus der Vorlesung über negative Dialektik zitierte ›Mobilisierung der immanenten Tradition‹ – näherhin vorstellen könnte, werden wir später ebenso aufzuklären versuchen wie Adornos Bestimmung, wonach dieses Wissen »jenem Gedanken selber verborgen« (ebd.) sein müsse. Adorno hat diese Dialektik von Geistigem und Sinnlichem, von Allgemeinem und Besonderem jedoch nicht allein in seinen Auseinandersetzungen mit Husserl
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Das gilt ebenso für die immer recht kryptisch und vielsagend gebliebene Formulierung am Ende der Negativen Dialektik, Adornos oder das dialektische Denken sei »solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« (6/400). Hier geht es ja, wie Adorno selber sagt, nicht darum, das Einzelne vor dem Begriff in irgendeiner Weise zu schützen, sondern die »Schalen des […] Vereinzelten« zu »zertrümmern«, seine »Identität« zu »sprengen« (ebd.). Diese Konzeption von Metaphysik – Überschreitung der Grenzen des Einzelnen – verweist aber zurück auf den Begriff der Deutung. Denn dass »[a]uch Einzelnes kein Letztes« sei, wie der Abschnitt der Negativen Dialektik (ebd.: 163-164) dazu heißt, dass es also nicht einfach isoliert für sich genommen werden dürfe, heißt eben, dass sich »Kommunikation mit Anderem […] im Einzelnen, das in seinem Dasein durch sie vermittelt ist«, kristallisiert: »Was ist, ist mehr, als es ist.« (Ebd.: 164) Wegen dieses Zusammenhangs dieser Mehr-als-Struktur mit Deutung und Metaphysik heißt es in der Einleitung in die Negative Dialektik: »Der Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist, säkularisiert die Metaphysik.« (Ebd.: 38f.) Deutung ist säkularisierte Metaphysik; und Deutung meint nichts anderes als eine Erfahrung von Objekten – oder eben ›Phänomenen‹ –, in der sich uns diese immer als zugleich mehr, als sie bloß im konkreten Hier-und-Jetzt erscheinen, darstellen. Wenn Adorno also von Metaphysik spricht, nimmt er diese recht wörtlich: es geht darum, dass das physisch Einzelne, Konkrete über sich hinausgeht, auf etwas anderes als auf sich selbst verweist.
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zu entfalten gesucht. Wir können zwei weitere theoretische Quellen dieses Gedankens ausfindig machen und ihn sodann noch an einem von Adorno verschiedentlich diskutierten Beispiel erläutert sehen. Das wird uns helfen, die vorstehend entfalteten Überlegungen noch einmal von anderen Ausgangspunkten zu erhellen und sie somit vielleicht noch verständlicher werden zu lassen. Der eine dieser Ausgangspunkte liegt in Adornos häufigem Rekurs auf die Gestalttheorie (vgl. VLEinlErk: 98f., 104ff., 290f.; VLKant: 153ff.; 5/121f., 163f., 253f., 298f.; VLKranich: 356ff.; VLEinfDia: 128ff.; VLÄsth58: 223f.; VLPhilTerm2: 142ff.). Wenn Adorno diese »Forschungen von Wertheimer, von Köhler und von meinem verstorbenen Lehrer Ademar [sic!] Gelb« (VLEinlErk: 104) aufgreift, geschieht dies zumeist lediglich im Vorbeigehen und unter kritischen, distanzierenden Vorzeichen. An denjenigen Stellen, an denen er zugleich über Kant und die Gestalttheorie spricht, erfolgt dieser Rekurs allerdings in keiner Weise kritisch, sondern Adorno meint hier eine intime Nähe beider ausmachen zu können. Die Gemeinsamkeit liege darin, das Verhältnis von einerseits Empfindungen, Anschauungen und Wahrnehmungen – Adorno benutzt derlei Begriffe unsystematisch alternierend – und andererseits den kategorialen, begrifflichen, allgemeinen Strukturen, die uns als Medium der Erfahrung dienen, durcheinander vermittelt zu verstehen. »Dieses Problem der Gestalt besagt«, so Adorno lapidar, »nichts anderes als daß das unmittelbar Gegebene, also das, was bei Kant durch Begriffe wie Empfindung oder auch unter Umständen Wahrnehmung, Erscheinung eines Objekts bezeichnet wird, daß das nicht, wie man früher gemeint hat, etwas ganz und gar Unqualifiziertes, etwas ganz und gar Chaotisches ist, dem wir dann erst, indem wir es denken, indem wir es uns vorstellen und durch unsere Vorstellung in Zusammenhänge bringen, so etwas wie eine Struktur aufprägen. Sondern das, was wir unmittelbar wahrnehmen, hat selber bereits eine bestimmte Strukturiertheit« (ebd.). Eine dichotomisierende Fassung dieser beiden Pole würde suggerieren, wir könnten sie voneinander separieren, und sie würde implizieren, es gäbe hier eine Art von Nacheinander: erst die singulären, ungeformten Wahrnehmungen, dann die kategorialen, begrifflichen Strukturen. Wogegen sich Adorno mit der Gestalttheorie und Kant richtet, ist eben auch hier, dass es doch wesentlich plausibler ist, von einer inneren, dialektischen Vermittlung der beiden Pole auszugehen. »[W]ir können, sofern wir nicht geistesgestört sind, Kant zufolge überhaupt anders nicht gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit wahrnehmen, als indem wir sie in gewisser Weise unter eine solche Einheit bringen und durch diese Einheit organisieren. Diese Einheit ist nichts erst Hinzugefügtes«, also nichts Nachträgliches, »sondern sie ist die Bedingung, unter der eine jegliche Wahrnehmung a priori steht, – würde er sagen; das heißt also: er würde hier praktisch mit der Gestalttheorie (so kommt es mir jedenfalls vor) übereinstimmen.« (VLKant: 153f.) Diese Synthesis oder Formung in der Wahrnehmung legt Adorno – jetzt aber: nur mit Kant – in zweierlei Weise aus: als simultane Synthesis – die kantische Ap-
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prehension in der Anschauung – und als sukzessive Synthesis. Das ist für uns besonders interessant, denn ich hatte oben ja bereits angedeutet, dass Adorno in der Erörterung der Vermittlung zwischen Geistigem und Sinnlichem manchmal changiert: das Sinnliche ist durch einen Zusammenhang, der es unmittelbar, wie ein Gespräch ein einzelnes Wort, wie ein Lied den einzelnen Ton, umgibt, vermittelt; es ist aber ebenso durch typisierende, begriffliche Strukturen vermittelt. Die Unterscheidung von simultaner und sukzessiver Synthesis verdeutlicht nun genau diesen Unterschied noch einmal. Adorno (ebd.: 154) pointiert dies wie folgt: Und die Philosophie fügt der modernen Psychologie an dieser Stelle nur gewissermaßen noch etwas, nämlich das Moment der subjektiven Vermittlung oder, wie Kant gesagt haben würde, der subjektiven Bedingungen hinzu; ohne daß man aber mit Grund sagen könnte, daß Kant etwa (wie man es den Engländern mit Recht vorgeworfen hat) einer atomistischen Psychologie verhaftet gewesen wäre, weil bei ihm bereits die elementarste Stufe der Erkenntnis – nämlich die unmittelbare Wahrnehmung als Apprehension des Zerstreuten in der Anschauung – eine Synthesis, eine Einheit ist; und zwar eine unbewußte Synthesis: also eine Synthesis, die wir nicht etwa denken, reflektieren, an diesem Chaotischen vollbringen. Sondern: indem wir es überhaupt zu unserem machen, indem wir es zueignen, indem wir es als etwas denken, bringen wir es zugleich bereits unter diese Einheit; wir können von dieser Einheit genausowenig absehen, wie man der Gestalttheorie zufolge von der strukturellen Einheit der Phänomene absehen kann. – Soviel zu der simultanen Einheit, wie sie in der Erfahrung vorliegt. Was die sukzessive anlangt, so besteht sie einfach darin, daß wir die Phänomene miteinander vereinheitlichen, indem wir sie nicht einfach als ein Jetzt-und-hier wahrnehmen, sondern indem wir sie in Beziehung setzen zu dem, was wir gesehen haben oder gehört haben, und zu dem, was wir sehen werden oder was wir hören werden; das also, daß die Gegebenheit selber innerhalb des Horizonts der Zeit sich abspielt. Die simultane Synthesis in der Wahrnehmung strukturiert diese also schon vor jedem bewussten, aktiven Eingreifen des Subjekts; sie geschieht ›unbewußt‹, wie Adorno sagt. »[E]s gibt eine Art von passiver Synthesis, und man möchte glauben, daß der Kantische, übrigens sehr schwierige, Begriff der Apprehension in der Anschauung eigentlich darauf abzielt«, heißt es andernorts (VLPhilTerm2: 142). Wenn also die »Gegebenheiten meines Bewußtseins bereits in ihrer Unmittelbarkeit strukturiert sind« (ebd.: 143), so bedeutet dies, dass wir, betreffend jenes obigen Beispiels, nie einfach Stoffe oder Materialien – eine Bluse in ihrer schieren, bloßen Materialität –, sondern eben als rote, in bestimmter Weise geschnittene und uns womöglich an andere erinnernde Blusen sehen. Da sich solche Synthesen und Verweisungen passiv und unbewußt einstellen, mögen uns solche Bezüge zunächst verborgen bleiben; mitunter wird aber auch der implizite Verweis zu einer expliziten Erinnerung, die uns sodann spontan überkommt.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Die zweite zeitlich verstandene, sukzessive Synthesis belegt Adorno nicht eigens mit einem kantischen Terminus, und da sie später ohnehin noch – dann unter dem Stichwort des strukturellen Hörens – belangvoll wird, brauchen wir ihr hier keine weitere Beachtung zu schenken. Wir müssen lediglich kurz wegen des Umstands aufmerken, dass Adorno sie ausnahmslos entlang musikalischer Beispiele erörtert (weshalb im Zitat eben auch vom ›Hören‹ die Rede war). Denn »eine Melodie ist […] nicht etwa die bloße Folge ihrer Töne, sondern eine Art Relation zwischen diesen Tönen in der Zeit, die mehr als die einzelnen Elemente ist« (VLEinlErk: 104), sie stellt »einen in sich einheitlichen Komplex aufeinanderfolgender Einzelmomente [dar] – in der Psychologie nennt man das einen Sukzessivkomplex – und [besteht] in den Relationen […], die diese Töne eben als Töne einer Melodie miteinander bilden« (VLPhilTerm2: 143). Synthesen bilden sich mithin nicht nur zwischen exemplarischen Instantiierungen eines allgemeinen Typus, sondern auch beim Hören von Musik: durch Erinnerung und Erwartung, durch Bewusstsein des Vergangenen und Aufmerksamkeit für das Kommende. Beide Modi der Synthesis sind erkennbar schwerlich anders als zeittheoretisch präzise zu erörtern. Wir kommen auf beide, wie angedeutet, ohnehin noch einmal zurück. Die zeitliche Synthesis findet ihre terminologische Zuspitzung im Begriff des strukturellen Hörens; die simultane Synthesis wird uns dort wiederbegegnen, wo wir uns Kants Begriff der Einbildungskraft und dem Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft widmen werden. Denn »[d]ie gesamte Konzeption des Schematismuskapitels ist objektiv dadurch motiviert, daß Kant […] des kategorialen Wesens dessen, was ihm Sinnlichkeit heißt, innewird«, also der Dialektik von Sinnlichem und Geistigem, wie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie (5/152) schreibt. Adorno hat die Gestalttheorie nicht nur mit Kants, sondern auch mit Hegels Philosophie ins Verhältnis gesetzt. Hier geschieht das nicht allerdings nicht so umfänglich wie im Falle von Kant. Von den beiden Stellen, an denen Adorno Hegel nun gegen die Gestalttheorie ins Felde führt (5/253f., 298f.), ist nur die eine der beiden für uns interessant. Deswegen nämlich, weil sie unterschiedliche bisher diskutierte oder auch nur bloß angeklungene Aspekte zusammenzieht: Kants Dualismus von Form und Inhalt, die Gestalttheorie, das Beispiel der sinnlichen Rotwahrnehmung und den Begriff des Geistes. Diese Stelle (ebd.: 298f.) lautet nun: Hat die Kantische Philosophie, die Hegel bei aller Polemik voraussetzt, Formen des Geistes als Konstituentien aller gültigen Erkenntnis herauszuschälen versucht, dann hat Hegel, um die Kantische Trennung von Form und Inhalt zu beseitigen, ein jegliches Seiendes als ein immer zugleich auch Geistiges interpretiert. Unter seinen erkenntnistheoretischen Funden ist nicht der geringfügigste der, daß noch jene Momente, an denen die Erkenntnis ihr Letztes, Irreduktibles zu besitzen wähnt, ihrerseits immer auch Produkte von Abstraktion, damit von
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›Geist‹ sind. Einfach läßt sich das daran verdeutlichen, daß etwa die sogenannten sinnlichen Eindrücke, auf welche die ältere Erkenntnistheorie alles Wissen zurückführte, selber bloße Konstruktionen waren, rein als solche im lebendigen Bewußtsein gar nicht vorkommen: daß also etwa, außer in den veranstalteten, der lebendigen Erkenntnis entfremdeten Bedingungen des Laboratoriums, kein einzelnes Rotes wahrgenommen wird, aus dem dann die sogenannten höheren Synthesen komponiert würden. Jene vermeintlich elementaren Qualitäten der Unmittelbarkeit treten immer schon als kategorial geformte auf, und dabei lassen sinnliche und kategoriale Momente nicht sich säuberlich als ›Schichten‹ voneinander abheben. […] Diese antipositivistische Einsicht Hegels ist von der modernen Wissenschaft nur insoweit eingeholt worden, als die Gestalttheorie dargetan hat, daß es das isolierte, unqualifizierte sinnliche Da nicht gebe, sondern daß es immer bereits strukturiert sei. […] Darüber ist Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes weit hinausgegangen. Er hat die These von der bloßen Unmittelbarkeit als der Grundlage der Erkenntnis demoliert und den empiristischen Erfahrungsbegriff gestürzt, ohne doch das Gegebene als sinnhaft zu glorifizieren. Hegel wird an dieser Stelle nun also ganz besonders ausgezeichnet. Im Lichte dessen, was wir eben von Adorno über die gemeinsame Einsicht von Kant und der Gestalttheorie erfahren durften, mag es fraglich erscheinen, ob es denn nun tatsächlich an Hegel und nicht schon an Kant war, den Dualismus von Form und Inhalt, von Geistigem und Sinnlichem aufzulösen. Wie immer es damit nun genauer bestellt sein mag, von Hegel entlehnt Adorno jedenfalls explizit an den meisten der Stellen, wo er ihn verwendet, den eminent wichtigen Begriff der Vermittlung. Dieser ist nicht nur deswegen so wichtig, um überhaupt zu verstehen, was es mit der Idee der Dialektik auf sich hat – dialektisch ist die Vermittlung zweier Pole, ihr wechselfältiges Aufeinanderverweisen oder durcheinander Vermitteltsein –; sondern auch deshalb, weil diejenigen Stellen, an denen Adorno von einer Tradition – oder genauer: dem Subjekt immanenten Tradition – spricht, stets auch diesen Begriff aufführen. Der Begriff der Vermittlung kann mithin auf zweierlei Weise ausgedeutet werden: die eine kritische Spitze des Begriffs richtet sich gegen Dualismen oder Dichotomien, die andere gegen ein unzeitliches, ›verdinglichendes‹, statisches Verständnis von Objekten. Im Vorstehenden ging es nun um die Dichotomie von Sinnlichem und Geistigem – die Adorno stellenweise, und doch wohl zurecht, mit anderen Dichotomien wie unter anderen Anschaulichem und Unanschaulichem, Element und Zusammenhang, Empfindung und Begriff überblendet –, und wir hatten nachzuvollziehen versucht, wie Adorno uns in seiner Auseinandersetzung mit Husserl und in seinem Rekurs auf Kant und die Gestalttheorie von einer dialektischen Kritik einer solchen Dichotomie überzeugen möchte.
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In Adornos Werk finden sich noch zahllose andere Dualismen und deren dialektische Vermittlung. So sind Individuum und Gesellschaft, Form und Materie, das Konkrete und das Abstrakte usw. durcheinander vermittelt, aufeinander bezogen. Adorno zeigt sich an solcherlei Stellen verschiedentlich bemüht, uns gegenüber zu präzisieren, die Vermittlung finde nicht zwischen zwei Polen statt, sondern in den Polen selber. Es ist zunächst nicht direkt ersichtlich, welches zusätzliche Moment der Präzisierung in dieser Formulierung liegt. Ein dialektisches Verständnis des Verhältnisses zweier Pole sieht diese ja eben nicht als voneinander separiert und isoliert, sondern in jedem der beiden Pole ist schon der Verweis auf den anderen enthalten; und überdies perspektiviert es die Pole als auseinander hervorgehend: wie gesehen gehen geistige Allgemeinheiten auf sinnliche Wahrnehmungen genauso zurück, wie sinnliche Wahrnehmungen durch geistige Allgemeinheiten strukturiert oder instruiert werden. Wie gesagt, gehört auch diejenige von Form und Inhalt zu den Oppositionen, die Adorno von einer dialektischen Warte her anders zu verstehen gesucht hat. Das geschieht nicht nur an mehreren Stellen im Bezug auf Kant, sondern schon bei Aristoteles erblickt Adorno ein problematische Tendenz zu einer dichotomisierenden Optik einer solchen Opposition. Ich gehe darauf nun ein, weil Adorno den Begriff der Vermittlung in einer kritischen Weise vor allem gegen Aristoteles gerichtet hat; in seinen Einlassungen zu Hegel gibt es keine so gehaltvollen Ausführungen zu diesem Begriff. Das wird uns zugleich eine Möglichkeit an die Hand geben, zur zeittheoretischen Komponente des Vermittlungsbegriff überzuleiten. Aristoteles jedenfalls verstehe das »Verhältnis der beiden Kategorien von Form und Stoff […], obwohl beide bei ihm aufeinander verwiesen sind, äußerlich. Das will sagen: er versteht das Seiende als aus Form und Stoff zusammengesetzt, additiv. Und dadurch erscheinen bei ihm, trotzdem beide nicht ohne einander sein sollen, schließlich doch die beiden Kategorien als voneinander absolut trennbar, – anstatt daß er sie ihrerseits als Abstraktionen erkennen könnte, die nur Momente bezeichnen, von denen keines unabhängig von dem ihm konträren gedacht werden kann und deren jedes seinem eigenen Begriff nach des anderen bedarf.« (VLMeta: 74f.) Das ist nun genau eine solche dichotomisierende, trennende und vereinzelnde Konzeption, die Adorno aus ähnlichen Gründen kritisierenswert erscheint wie Husserls Separierung von Geistigem und Sinnlichem und die ein additives, nachträglich aneinanderfügendes Bild der beiden Pole nahelegt, das Adorno schon einvernehmlich mit der Gestalttheorie unplausibel erschien. Aristoteles habe »zwar gesehen […], daß beides nicht ohne einander ist«, aber Adorno scheint, »daß er dieses Ineinander-Sein fast wie ein quantitatives Agglomerat, daß er es additiv, wie ein Zusammenkommen dieser beiden Momente gesehen hat, die zwar nicht chemisch-rein voneinander gedacht werden können […], die aber doch nicht ihrem eigenen Sinn nach, ihrer eigenen Beschaffenheit nach, auf das jeweils andere verweisen.« (Ebd.: 75) Der »Gedanke[] der Vermittlung, der im Aristoteles angelegt,
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aber nicht wirklich ausgeführt ist: daß also die beiden Momente Form und Materie wirklich Momente sind, die nur aufeinander bezogen gedacht werden können« (ebd.: 66), ist es also, der für Adorno hier den richtigen Weg ebnet. Man kann nun ohne größere Schwierigkeiten – und Adorno tut es selbst – die Dialektik von Geistigem und Sinnlichem und von Form und Materie überblenden. Der Pol der Form ist dann derjenige des Allgemeinen, des Begriffs und des Geistigen; und der Pol der Materie derjenige des Singulären, des Einzelnen und des Sinnlichen. Denn Formen müssen stets wiedererkennbar und darum gegenüber ihren einzelnen Instantiierungen oder Verwendungen allgemein sein. So instruiert die Form Burg, um es an einem naheliegenden Beispiel kurz zu illustrieren, unsere Wahrnehmung beim Bauen einer Sandburg derart, dass wir überhaupt erst aus einem strukturlosen, nicht individuierten Haufen Sand Burgen praktisch formen und kognitiv (oder ›theoretisch‹) erkennen können. Während wir uns gegenüber dem Sand in den meisten seiner Aspekte indifferent verhalten – es mag ein Sand an irgendeinem Strand, von irgendeiner Zusammensetzung und Konsistenz, von irgendeiner Feuchtigkeit und Farbe usw. sein – und uns so auch an nichts an ihm zu erinnern vermögen, das wir nicht vorher in bestimmter, identifizierender Weise wahrgenommen hätten, kann uns die Form der Sandburg auf ein bestimmtes Modell – etwa die Spielzeugburg des Kindes, mit dem wir zusammen den Sand formen – verweisen, sie kann uns an andere, früher gebaute Sandburgen erinnern oder wir können unsere Sandburg mit denen anderer Eltern vergleichen und in einen albernen Konkurrenzkampf eintreten. Freilich können wir auch eine Menge an Sand – etwa den Strand oder die feuchte Linie nach dem Sichzurückziehen einer Welle – als eine oder im Rahmen einer Form wahrnehmen, aber dann erfassen wir eben wieder den Sand nicht in seiner schieren, bloßen Faktizität, Materialität oder Sinnlichkeit, sondern wir individuieren ihn entlang einer allgemeinen Form. Die vermittlungslose Dissoziation der beiden Pole, der sich Aristoteles für Adorno schuldig macht, bringt nun genau dasselbe Problem wieder herauf, dem wir schon bei Husserl begegnet sind: die Separierung der Pole unterschlägt, dass das eine aus dem anderen hervorgeht, und damit wird das Allgemeine oder der Begriff hypostasiert. Völlig losgelöst vom Einzelnen oder dem Sinnlichen wird so einerseits unverständlich, wie das Allgemeine überhaupt auf das Einzelne einwirken können soll9 , und desgleichen wird unverständlich, wie dem Allgemeinen 9
An diesem Punkt macht Adorno eine genaue Parallelität der Problemlage bei einerseits Platon und andererseits Kant aus. Aristoteles habe dieses Problem zumindest reflektiert – und insoweit ist der Begriff der Vermittlung bei ihm bereits vorgeformt –, und wir haben bereits skizzenhaft nachgezeichnet, dass es sich bei Kant mit dem Dualismus von Allgemeinem und Einzelnem auch nicht so simpel verhält. Adorno meint in der Metaphysikvorlesung (VLMeta: 45f.): »Schließlich: werden die Ideen als absolut choris vorgestellt, wie das bei Platon war, als absolut getrennt, so ergibt sich daraus eine weitere Ungereimtheit, die Aristoteles Platon vorwirft und die dann den Angelpunkt der ›Metaphysik‹ des Aristoteles bildet; nämlich: es ist
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Geschichtlichkeit attestiert werden könnte, wenn es sich nicht auf der Ebene des Sinnlichen als veränderbar erweist. Was Aristoteles verkennt, ist, so Adorno (VLMeta: 88), »ganz einfach das Abstraktive der Begriffe; das heißt, daß die Begriffe, damit sie überhaupt zustande kommen, auf ein Sinnliches verweisen, von dem dann abgezogen wird, – in der Art, daß der Begriff die einer Mannigfaltigkeit von sinnlichen Daten gemeinsamen Merkmale festhält und nicht in sich hineinnimmt diejenigen Merkmale, die den unter dem Begriff befaßten Einzelobjekten […] nicht miteinander gemeinsam sind.« Begriffen können wir nach Adorno nicht so habhaft werden, dass wir einfach unvermittelt vom Sinnlichen zu ihnen aufsteigen, sondern sie gehen – und dies prozessual, über einen zeitlichen Verlauf hinweg – aus sinnlichen Wahrnehmungen so hervor, wie wir uns das eben kurz anhand von Sandburgen überlegt haben. Von Platon wie von Aristoteles werde zwar »analysiert, wie sich das Denken zu diesen Begriffen erhebt, aber dabei ist allemal der Begriff schon als das Ansichseiende vorausgesetzt« (ebd.), außer Betracht bleibt mithin genau der Prozess der Abstraktion, der Prozess der Bildung von Begriffen, und dieser Prozess oder dieser Weg ist »selber ein notwendiges Moment des Begriffs […], das seinem eigenen Sinn innewohnt und von dem deshalb auch die Betrachtung des Begriffs nicht einfach absehen kann.« (Ebd.) Adorno hat nun an einer Stelle diesen Prozess der Begriffsbildung einerseits minutiös dargestellt sowie an einem Beispiel veranschaulicht und andererseits zum Ausgangspunkt genommen, um zu klären, weshalb schon in diesem Prozess die Tendenz impliziert sei, die bei Husserl und bei Aristoteles dann zu einem statischen, unzeitlichen, deprozessualisierten Verständnis von Allgemeinheiten führt. Diese Passage ist aus mehrerlei Gründen besonders dicht und relevant, nicht zuletzt, weil hier Adorno exakt und verständlich darlegt, was er unter einem Begriff (und seiner Bildung) versteht. Weil wir von ihr ausgehend zugleich zur
dann nicht vorzustellen, wieso – wie es doch Platon gelehrt hat und wie es dann mit sehr viel größerem Nachdruck Aristoteles selbst lehrt – das Allgemeine, die Ideen bewegende Kraft haben könnten, wie weit die Ideen dann Ursachen ihrer Erscheinung überhaupt sein könnten; denn sie wären ja schlechterdings getrennt von eben der Erscheinungswelt, die sie gleichzeitig bewegen sollen. Auch dieses Problem: wie es also möglich sein soll, daß die reine Idee überhaupt eine wirkende Kraft sei, die sich auf die Erscheinungen erstrecke, hat sich als Problem die ganze Geschichte der Philosophie hindurch behauptet. Ich möchte Ihnen das nur illustrieren (und zwar auch wieder mit Rücksicht auf die Nachhaltigkeit dieser Idee gerade für die Geschichte der Metaphysik) damit, daß ja bei Kant in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ es auch so ist, daß eigentlich das Problem, an dem dieses moralphilosophische Werk in erster Linie sich abarbeitet (obwohl das nie so kraß gesagt wird, daß es darum eigentlich geht; aber es geht darum), das ist, wie es eigentlich das Sittengesetz, das also ein rein Geistiges, aus der intelligiblen Welt stammendes und von der jeder empirischen Bestimmung unabhängiges ist, – wie es das eigentlich fertigbringen soll, in die empirische Welt hineinzuwirken; nämlich als Nötigung oder als Sollen, eben im Sinn der Ideen zu handeln.«
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zeitlichen Dimension der Vermittlung übergehen können, gebe ich sie jetzt, trotz ihrer Länge, ganz wieder. Adorno meint (ebd.: 110ff.): Ich glaube, wir müssen dazu kurz reflektieren auf das Wesen des Begriffs. Der Begriff ist bekanntlich die Einheit, die Merkmalseinheit der unter ihm jeweils befaßten Elemente. Also: wenn ich drei Elemente habe, A mit dem Index I, B mit dem Index I und C mit dem Index I, dann ist I der Begriff für diese drei Elemente, weil er das an ihnen Gemeinsame hervorhebt, und zwar lediglich nach Rücksicht dessen, was ich dabei als das Identische an diesen Elementen zu bezeichnen wünsche. Nun hat diese Abstraktion von dem besonderen Inhalt, die hier vollzogen wird, eine überaus merkwürdige Qualität, die wahrscheinlich auf dem Grunde von ungezählten, gerade auch metaphysischen und ontologischen Überlegungen ruht. Indem ich nämlich dieses, was ich eben ›I‹ genannt habe, als den Begriff oder unter Umständen auch als das Wesen der darunter befaßten Elemente bezeichne, sehe ich dabei im allgemeinen von der besonderen Raum- und Zeitstelle der Elemente ab, die unter diesem Begriff befaßt werden. Und selbst wenn ich etwa unter dem Begriff des Zeitgenossen einander vollkommen, extrem entgegengesetzte Leute, sagen wir: Hitler, Stalin und Churchill, befasse, dann ist dabei ihre Zeitgenossenschaft – wenn ich also sage: all die Menschen, die in der Periode zwischen 1930 und 1950 eine entscheidende individuelle Rolle gespielt haben – selbst wieder ein allgemeiner Begriff, der von der besonderen Existenz dieser Menschen unabhängig ist. Das heißt: ich kann, um es ganz plump zu sagen, von dieser Zeitgenossenschaft oder von diesen drei Zeitgenossen reden, auch nachdem sie längst tot sind […]. Es liegt also in dem Begriff eine merkwürdige Entzeitlichung des darin Gemeinten. Der Begriff als solcher, einmal statuiert, ist nicht zeitlich; er bezieht sich zwar auf Zeitliches, hat seinen zeitlichen Inhalt, und eine kritische Analyse wird dadurch auch in ihm selbst schließlich, als sein Sinnesimplikat, Zeit entdecken. Aber zunächst einmal ist der Begriff dadurch, daß er gebildet ist, von der Zeit unabhängig. Das hängt sicherlich zusammen mit denkpraktischen Vorgängen, die sich in bestimmten Phasen der Menschheit abgespielt haben: daß man nämlich gesucht hat, um überhaupt in sukzessive Verhältnisse irgendwelche Ordnung zu bringen, Nomenklaturen oder Denksysteme zu schaffen, die sich mit einer gewissen Konstanz gegenüber dem Zeitlichen behaupten, das sie in sich einfangen. Nun scheint mir an dieser Stelle – und überhaupt in der gesamten Tendenz auf Ontologie als einer Lehre von Invarianten, von zeitlos Beharrendem – das vorzuliegen, daß diese Zeitlosigkeit des Begriffs, die ihrerseits vermittelt ist, nämlich vermittelt durch die Abstraktion; also die eigentlich eine steresis, ein Bedürftigsein, ein Mangel des Begriffs ist; nämlich einfach das, was aus dem Begriff herausfällt, damit er überhaupt gebildet werden kann, damit er sich als konstanter erhält, – daß das nun dem Begriff als sein Ansichseiendes und womöglich als seine ›Positivität‹, als seine Überlegenheit zugeschrieben wird. […] Und das, was man
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nun als den großen Paralogismus überhaupt der Metaphysik, überhaupt der traditionellen Philosophie bezeichnen könnte, als den entscheidenden Fehlschluß, das ist wohl nichts anderes, als daß diese Entzeitlichung des von den Begriffen Gemeinten, die durch die Begriffsbildung erst hervorgebracht wird, den Begriffen als den Formen des darunter Befaßten an sich zugeschrieben wird. Das also ist der Mechanismus, würde ich denken, der dahinter steht, daß Aristoteles die Formen, die Begriffe als ein Ewiges und Unveränderliches gesetzt hat. Er hat das, was ihnen sozusagen durch die Abstraktion weggenommen wird, dieses Moment der Entzeitlichung, das hat er ihnen als eine positive Qualität, nämlich als ihre ontologische Priorität, als ihr reines Ansichsein zugeschlagen. Wir sehen an dieser Stelle nun sehr viel klarer, als es Adorno im Hinblick auf Husserl gemacht hat, wie die Hypostasierung des begrifflichen, allgemeinen Pols und seine Entzeitlichung miteinander zusammenhängen. Zugleich wird erkennbar, dass das kritische, dialektische Antidot gegen diese Gefahr in der Beachtung des prozessualen Charakters der Abstraktion liegt: Begriffe bilden sich durch Abstraktion, und Abstraktion ist ein Prozess. Deshalb spricht Adorno hier, mit einer husserlschen Terminologie, von Zeit als einem ›Sinnesimplikat‹ des Begriffs.10 Mitunter benutzt Adorno nicht diesen Begriff zur Kennzeichnung dieses Sachverhalts, sondern desöfteren spricht er auch von einer Allgemeinheiten oder Begriffen ›impliziten Geschichte‹. So sei, wie es am Ende der Einleitung in die Negative Dialektik heißt, »die Vermittlung der Materie deren implizite Geschichte«, ihr »So-und-nicht-anders-Sein […] ein Fetisch«. Dieser Fetisch »zergeht« durch die »Einsicht, daß es nicht einfach so und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde. Dies Werden verschwindet und wohnt in der Sache, so wenig auf deren Begriff stillzustellen, wie von seinem Resultat abzuspalten und zu vergessen. Ihm ähnelt zeitliche Erfahrung.« (6/62) Wieder deutet sich, ausgehend von dieser durch ihre Vermittlung der Sache eingefalteten impliziten Geschichtlichkeit, diejenige Ambivalenz an, auf die ich hingewiesen hatte: vermittelt und damit geschichtlich sind für Adorno einerseits die Sachen, die Objekte, die Materie, andererseits genauso die Erfahrung, die Subjekte, die Formen. Deswegen ›ähnelt‹ dem Werden der Sache die Zeitlichkeit
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Das ist eine bei Adorno häufig auftauchende Begrifflichkeit – und abermals kann sie uns vor Augen führen, dass Adorno nicht einfach ›gegen‹ Husserl gestellt werden kann. Früher in dieser Vorlesung (VLMeta: 72) etwa sagt Adorno: »Ich darf noch hinzufügen, daß die genetischen Momente – und das führt auf den Gedanken der Vermittlung zurück – nicht, wie es dem vulgären Vorurteil erscheint, den Erkenntnissen ein schlechterdings Äußerliches sind, sondern daß sie in dem Geltungscharakter selbst drinstecken; daß also die Wahrheit, um es so zu formulieren, einen Zeitkern oder, wie Husserl, der darauf aufmerksam wurde, das in seiner Spätphase genannt hat: daß die Wahrheit selber in ihrer Objektivität zugleich ein ›genetisches Sinnesimplikat‹ hat.«
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der Erfahrung. Was es mit dieser ›zeitlichen Erfahrung‹ auf sich haben soll, sagt Adorno an dieser Stelle und auch sonst in der Negativen Dialektik nicht. Aus dem, was wir bislang erörtert haben, dürfte sich zumindest eine Ahnung einstellen, inwiefern die Erfahrung zeitlich verfasst ist. Denn in der Diskussion von Adornos Husserlkritik hatte sich ja herausgestellt, dass etwa das Wissen von Röte der Wahrnehmung konkreter, einzelner roter Gegenstände insofern vorgängig ist, als es sich nur innerhalb einer Sequenz von Rotwahrnehmungen hat herausbilden können. Es gibt allerdings, ganz am Ende der Metaphysikvorlesung (VLMeta: 216f.), eine Passage, die wir, obwohl sie auch wieder etwas länger ausfällt, in Gänze zitieren müssen, denn sie weist in vielen Punkten auf unser Ursprungszitat zum Begriff geistiger Erfahrung zurück. Adorno spricht dort nämlich explizit von einer geistigen Operationen und sinnlichen Wahrnehmungen immanenten Tradition, impliziten Geschichte und Vermittlung, und er weist diese überdies als konstitutiv, als ermöglichend für unsere Erfahrung aus. Gleichzeitig übt er Kritik an der gegensätzlichen Vorstellung des Subjekts als eines völlig traditionslosen, entzeitlichten ›Punkts‹. Er räsoniert tastend: Es ist immerhin eine Frage (und ich werfe heute nur diese Frage auf), ob der dabei zugrunde liegende Gedanke, daß die Tradition, also das was man nicht aus erster Hand hat, gegenüber der Unmittelbarkeit der lebendigen Erfahrung zu verwerfen sei, – ob dieses uns fast selbstverständliche Motiv so triftig ist angesichts der Tatsache, wie viel an solchen traditionalen, nur ihrer selbst nicht bewußten Elementen in all dem auch enthalten ist, was wir als nicht traditionale, das heißt als reine, autonome Erkenntnis empfinden. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß jenes Subjekt, das als eine Art von actus purus, von reiner Aktualität, der Erkenntnis mächtig sein soll, wie sie implizit das Erkenntnisideal der gesamten neueren Philosophie darstellt, – daß dieses in reiner Aktualität bestehende Subjekt eine Abstraktion sei, der nun tatsächlich ein erkennnendes Subjekt überhaupt nicht entspricht; und daß in Wahrheit das traditionale, das heißt das geschichtliche Moment auch die dem Anschein nach noch so verbürgten Erkenntnisse unvergleich viel tiefer durchsetzt, ja, überhaupt sie möglich macht, als es im allgemeinen zugestanden wird. Man könnte darauf verfallen, daß jenes Moment, das ich Ihnen immer wieder unter dem Titel des Vermitteltseins der Gedanken nahegebracht habe, daß das eben in diesem traditionalen Moment, also in der impliziten Geschichte steckt, die in einer jeden Erkenntnis enthalten ist. Wir können diese tentative, tastende Gestalt von Adornos Gedankengang entschiedener, nachdrücklicher formulieren. Die Vermittlungen, die als ihre implizite Geschichte unsere Erfahrung strukturieren, sind dasjenige traditionale Moment oder die ›immanente Tradition‹, von der im Hinblick auf geistige Erfahrung als dem ›Konstituens‹ die Rede war. Diese genetische, traditionale Vermittlung konkreter Erfahrungen finden wir auch an dieser Stelle als etwas vor, das dem Subjekt nicht
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bewußt ist: es ist darin ein, mit der kantischen Formulierung gesprochen, ›verborgener Mechanismus in den Tiefen der Seele‹, als seine Konstitutivität für gewöhnlich implizit bleibt und subkutan wirkt. Die Explizierung kann nun einerseits so geschehen, dass wir, aus welchen Umständen immer, auf die implizite Vermittlung in der Praxis unserer Wahrnehmung aufmerksam werden. Es kann sich ja zutragen, dass wir etwas wahrnehmen und zugleich bemerken, dies schon einmal wahrgenommen zu haben, oder bemerken, dass das Wahrgenommene in gewissen Zügen vom Erwartbaren und Typischen abweicht. In beiden Fällen bemerken wir schon in der gewöhnlichen Erfahrungspraxis, dass wir typisiert wahrnehmen, im Rahmen allgemeiner kategorialer Strukturen. Andererseits kann es auf einer theoretischen Ebene zur Explizierung der vermittelnden Strukturen der Erfahrung kommen, eben zu dem, was wir hier mit Adorno tun: eine explizite Reflexion des Verhältnisses von geistiger Vermittlung und sinnlicher Wahrnehmung im Kontext theoretischer Überlegungen. Die zitierte Passage bietet sodann auch den Ausgangspunkt, eine weitere, für sich genommen kryptisch anmutende Komponente des Begriffs geistiger Erfahrung in einem ersten Anlauf aufzuklären. Adorno bestimmte ja in dem Zitat, auf das ich immer wieder zurückkomme, patzig, die ›herrschende Verdummung‹ sei ›Erinnerungslosigkeit‹, und zog als Gewährsmann für eine zeittheoretische Analyse der Erfahrung nicht Hegel, Marx oder Kant heran, sondern Bergson. Von diesem ist in Adornos Werk zwar desöfteren im Kontext des Begriffs der Intuition die Rede, er hat gleichwohl Adornos Augenmerk ebenso auf die Rolle des Gedächtnisses und der Erinnerung für das Denken gelenkt. Schon in der Frühschrift von 1927 Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre ist davon, sehr kurz allerdings, die Rede. »Bergsons Satz, Bewußtsein bedeute Gedächtnis«, sei, so Adorno, zwar zu »akzeptieren«. Mehr aber als »der gestaltqualitative Zusammenhang, der zwischen den Einzelerlebnissen besteht«, könne damit nicht gemeint sein. Und wenn Bergson glaube, Erinnerungen seien uns unmittelbar, durch Intuitionen zugänglich, so sei dies keineswegs plausibel: es gelte »völlig deutlich zu machen: daß zwar die Erinnerungserlebnisse selbst unmittelbar gegeben sind, das Erinnerte, auch das rudimentär Erinnerte jedoch mittelbar, nämlich durch sie; und daß die Funktion des Gedächtnisses eine vermittelnde, symbolische ist« (1/206). Das Gedächtnis, insoweit es lediglich zwischen einzelnen Erlebnissen vermittelt, also Relationen zwischen ihnen herstellt, ist dann nur eine analoge Formulierung dafür, dass diese Erlebnisse in einem ›gestaltqualitativen‹ Zusammenhang stehen, wie es der frühe Adorno durch die Gestalttheorie beeinflußt ausdrückt. Und dieser sich zwischen unseren Impressionen entspinnende Zusammenhang konstituiert sich unbewußt, wie Adorno es dezidiert will: »Als unbewußt« sei »weiter zu charakterisieren die Form der unbemerkten Erinnerung, bei der durch ihre Gestaltqualität eine gegenwärtige Impression sich von einer vergangenen ›beeinflußt‹ zeigt, ohne daß die vergangene ausdrücklich erinnert wäre; im oben angeführten Beispiel
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des Melodieschrittes c-a ist uns also die Erinnerung an c unbewußt gegeben.« (ebd.: 211) Selbst wenn der in diesem frühen Text entfaltete Begriff des Unbewußten sperrig und dunkel bleibt, und selbst wenn man zögern würde, dies sofort mit Freuds Begriff des Unbewußten überein zu bringen, wird doch einleuchten, dass die vermittelnden Leistungen des Gedächtnisses zumeist latent und implizit bleiben; und insbesondere das Hören von Musik oder das Verfolgen eines Gesprächs sind Beispiele, welche diese These zu stützen vermögen.11 Dass Adorno die Verdummung der ›Erinnerungslosigkeit‹ zeiht und dramatisch formuliert, Bergson sei der Versuch, der Entzeitlichung zu ›widerstehen‹, leitet uns nun zu einem Aspekt weiter, der sich bislang schon mehrfach jeweils dort gemeldet hatte, wo von Verdinglichung als einer solchen entzeitlichenden, etwas statisch werden lassenden Operation die Rede war. Dies ist der Grund, weshalb – und das ist die zweite der drei Stellen zum Thema Bergson und Gedächtnis12 – Adorno von einer gegen »Verdinglichung gewandte[n] Konzeption Bergsons und Prousts« spricht, »derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich konstituiert, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals« (4/189). Verdinglichung hieße dann auch hier: Reduktion sowohl der Erfahrung wie des Objekts auf eine unmittelbare, ausdehnungslose und unzeitlich gedachte Gegenwart. Und die besondere Dignität des Gedächtnisses muss denn wohl auch hier bedeuten, dass die gedächtnishaft strukturierte Zeitlichkeit der Erfahrung einer 11
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Mit Bergson ist Adorno auch darin im Einvernehmen, dass das Bewußtsein und die Erinnerung nicht atomistisch zu verstehen sei. Ich zitiere diesen Passus vor allem wegen des Begriffs ›Atomistik‹ oder ›atomistisch‹; denn das strukturelle Hören, dem wir nachher noch begegnen werden, grenzt Adorno scharf gegenüber dem atomistischen Hören ab. Adorno schreibt 1927 (1/204f.): »Daß die Erinnerung nicht atomistisch zu denken ist, sondern daß uns Erinnerungen auch bloß durch Gestaltqualitäten gegeben sein können, ist für unsere Auffaßung nicht minder evident als für die Bergsons und gewiß evidenter als für die phänomenologische, die stets und stets wieder in Merkmalatomisitk gerät; dies eben nötigt uns ja zu einem Ansatz des Begriffs des Unbewußten, der zwischen unseren Erlebnissen, auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum gleichen Bewußtseinszusammenhang, mehr Beziehungen bestehen läßt, als sie durch Erinnerung, Erkenntnis der Identität, Erkenntnis der Ähnlichkeit allein und im Sinne der Cartesianischen clara et distincta perceptio gegeben wären.« Die dritte ist in unserem Zusammenhang nicht derart relevant wie die beiden anderen. Ich gebe sie hier, der Vollständigkeit halber und wegen ihrer Kürze, dennoch wieder. Betreffend die Gemeinsamkeit von Durkheim und Bergson bemerkt Adorno: »Eines der Hauptthemen von beiden ist das Gedächtnis; möglicherweise darum, weil es bereits in ihrer Periode zu zerfallen begann; weil jener Verlust an Kontinuität des Bewußtseins sich abzeichnete, der heute akut ward. Zuweilen findet man bei Durkheim Formulierungen, die man in Matière et mémoire erwartete: ›Wenn das psychische Leben zu jedem Zeitpunkt ausschließlich in den momentanen Zuständen des klaren Bewußtseins besteht, kann man ebensogut sagen, daß es in Nichts zerrinnt… Was uns lenkt, sind nicht die wenigen Ideen, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit beanspruchen; es sind die Residuen, die unser bisheriges Leben hinterlassen hat.‹« (8/256)
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solchen Entzeitlichung gerade entgegensteht. Diese konflikthafte Opposition – die schlechte Entzeitlichung und die normativ gebotene Verzeitlichung – taucht lediglich (oder lediglich so konzise) in den Stichworten zu Adornos Vorlesung Das Problem des Idealismus auf; sie sei daher abschließend zu diesem Themenkomplex zitiert. Dort (Adorno 1998: 119; Hervorhebung DJ) heißt es, stenographisch: »Zum Begriff der Erinnerung[.] Kraft des Denkens ist Erinnerung. Reproduktion. Verdinglichung ist Vergessen. Sie ist in der Tat die Vermittlung. Aber: Erinnerung als Intuition. 2 Typen Gedächtnis. Spontaneität. Gegenwart wird durch Erinnerung konstituiert.« Bis auf die rätselhafte, weil nicht ausgeführte Unterscheidung zweier Typen von Gedächtnis kommen uns hier doch wohl alle Bestimmungen bekannt vor: das Eigene oder die ›Kraft‹ des Denkens bestehe in der Erinnerung, diese reproduziere Eindrücke und vermittle zwischen ihnen, zwischen dem ›Jetzt und Damals‹, und dies sei die konstitutive Funktion des Gedächtnisses; Verdinglichung dagegen liege im Vergessen – nämlich der inneren Vermitteltheit der Erfahrung. Wir haben nun den Begriff geistiger Erfahrung in einem ersten Versuch von verschiedenen Ausgangspunkten in Adornos Werk her zu belichten versucht. Durch die Begriffe des Geistes und des Sinnlichen als seines Antonyms waren wir zu Adornos Versuch einer dialektischen Verhältnisbestimmung dieses Duals in seiner Diskussion Husserls gekommen, darauf folgend hatten wir das nämliche Thema von Kant und der Gestalttheorie aus anzugehen versucht, und schließlich leitete dies uns zum dialektischen – wenn man es lieber möchte: Hegelschen – Begriff der Vermittlung, den Adorno sich in seiner Kritik an Aristoteles zunutze macht und von dem aus sich ein vorgreifendes Verständnis der immanenten Tradition des Subjekts und der Erfahrung gewinnen ließ. Wie sich gezeigt hat, ist dieser Begriff ebenfalls dazu gedacht, ein kritisches, besonders auf zeitliche Aspekte abhebendes Verständnis von Vorgängen der Verdinglichung zu entwickeln. Abschließend will ich noch, wie erwähnt, auf ein bei Adorno mit eigentümlicher Häufigkeit wiederkehrendes Beispiel zu sprechen kommen. Dieses sei, etwas altmodisch, das Diktionärsbeispiel genannt. Es taucht in der Vorlesung Einführung in die Dialektik (VLEinfDia: 281ff.), im ersten Band der Philosophischen Terminologie (VLPhilTerm1: 33ff.; vgl. auch die Stichworte dazu VLPhilTerm: 694), im Essay als Form (11/21) und in den Drei Studien zu Hegel (5/341) auf. Keiner von diesen Texten dürfte zu den marginalen in Adornos Werk zu zählen sein, und nicht nur dieser Umstand, sondern schon die auffällige Rekurrenz kann einen, besonders im Falle einer so wenig systematisierten Philosophie wie der Adornos, aufmerken lassen. Ich gehe auf dieses Beispiel nicht deshalb ein, weil man es als den sprachtheoretischen Nukleus in Adornos Werk verstehen könnte – also wegen des eventuellen Gedankens, von ihm her ließe sich eine genuin Adornosche Sprachphilosophie entfalten –, sondern weil es in ihm um die sich latent entspinnenden Verweisungen zwischen Wörtern oder Begriffen geht. Adorno möchte insbesondere darauf hinaus, dass nur so die Assoziativität und Konnotativität erklärlich wird, die für den
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Sprachgebrauch typisch ist. Die Sprache figuriert so als ein weiterer exemplarischer Fall für die dialektische Vermittlung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen dem konkreten, hier und jetzt verwendeten oder wahrgenommenen Wort und den generellen, nicht unmittelbar gegenwärtigen Strukturen, die es instantiiert. Wenn nun die nämliche Dialektik in unserer Erfahrung am Werk ist, weshalb sollte man dann die der Sprachverwendung zuschreibbare Assoziativität und ihren potentiellen Verweisungreichtum nicht auch ihr attestieren? Nicht lediglich dann, wenn wir Worte wahrnehmen – hören oder lesen –, sondern auch, wenn wir andere Objekte wahrnehmen, könnten diese von einem Hof von nicht artikulierten und thematischen Verweisungen und Assoziationen umgeben sein. Dies ist die argumentative Folgerung, die ich durch dieses Beispiel und Adornos Bemerkungen zu ihm nahegelegt sehe. Überdies lässt es uns von einer Ambiguität Notiz nehmen, die im Kontext von Derridas Begriff der Iterabilität nochmals zu beachten sein wird, nämlich: gilt die dialektische (Adorno) oder aporetische (Derrida) Beziehung von Singulärem und Allgemeinem nur für die Sprache oder auch für die Wahrnehmung? Handelt es sich also – wie man oft im Zusammenhang mit Derridas Schriften geglaubt hat – um eine eng begrenzte sprachtheoretische Begrifflichkeit oder um eine Terminologie, die so abstrakt angesetzt ist, dass sie Sprache und Erfahrung übergreift und also für beide erhellend ist? Derlei Fragen liegen in diesem Beispiel in impliziter, unentfalteter Form vor. Adorno hat es seinem eigenem Leben entnommen, wie er lediglich in der Philosophischen Terminologie (VLPhilTerm1: 33f.) deutlich macht. In seiner Emigrantenzeit in England habe er sich gezwungen gesehen, sich »englische Kenntnisse so rasch wie nur möglich anzueignen«. Er habe dies »getan, indem ich ungezählte Kriminalromane las, und zwar ohne dabei ein Wörterbuch zu benutzen.« Adorno erzählt seinen Studierenden davon einerseits, um ihnen einen Weg in die spezifisch philosophische Terminologie zu ebnen, und andererseits, um ihnen das Problematische an lexikalischen Definition solcher Termini vor Augen zu führen. Das Spezifikum eines solchen Erlernens von Worten oder Begriffen erläutert er daher wie folgt (ebd.): Wenn man demselben Ausdruck an ungezählten Stellen immer wieder begegnet, dann weiß man schließlich, was der Ausdruck bedeutet, und man weiß es dann nicht nur abstrakt, nicht nur in dem allgemeinsten begrifflichen Umfang, sondern man lernt dabei zugleich auch das, was für den Gebrauch der philosophischen Terminologie das Wichtigste ist, nämlich die Gestaltqualität der Worte oder ihren Stellenwert. Man lernt also dabei, daß diese Worte nicht eine sich selbst gleichbleibende, unveränderliche Bedeutung haben, sondern daß sie je nach dem gedanklichen und sprachlichen Zusammenhang, in dem sie auftreten, sich auch modifizieren. Natürlich hat auch dieses Vorgehen den Nachteil, den mein Verfahren,
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Englisch zu lernen, hatte; es bleibt nämlich auf der anderen Seite vieles im Vagen, und man kann sehr danebengreifen. Mir scheint aber, dieser Nachteil ist gering im Vergleich mit dem Vorteil, von vornherein der philosophischen Sprache als einer lebendigen gegenüberzutreten. Ich glaube also, daß man wirklich – abgesehen von den theoretischen Überlegungen, die wir hier anstellen – in die philosophische Terminologie am besten hereinkommt durch die philosophischen Texte und dadurch, daß man bei einem ungewohnten oder bei einem Ausdruck, für den man keine ganz präzise Vorstellung gewinnt, die genaue Bedeutung an dieser Stelle extrapoliert aus dem Zusammenhang, in dem er steht. Es scheint mir ungewiß zu sein, ob Adorno hiermit nicht einfach den herkömmlichen, faktisch gegebenen Weg sowohl in die philosophische Terminologie als auch in die Sprache beschreibt. Man könnte den beschriebenen Zugang nur dann auszeichnen und normativ geboten sein lassen, würde der gewöhnliche Erwerb von Sprache und Terminologie tatsächlich auf der Grundlage von Wörterbüchern und Glossaren ablaufen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Was Adorno aber zurecht – und häufig in seinen Schriften – kritisiert, ist die Anmutung, die von Begriffsdefinitionen ausgeht. Diese (i) zeichnen ein sprachlich verengtes, undifferenziertes Bild des Bedeutungsumfangs, (ii) suggerieren eine unzeitliche Statik und Stabilität des Begriffs und (iii) verstellen die Möglichkeit, sich die Nuancen, Assoziationen und gewisse Obertöne eines Begriffs – also das, was man Sprachgefühl oder ein Gespür für Terminologie nennen könnte – anzueignen. In der Passage gerade eben sind es vor allem die beiden Aspekte der zeitlichen Modifikation der Begriffe und ihrer semantischen Nuancen – ihr Stellenwert und ihre ›Gestaltqualität‹, worin abermals ein Verweis auf die Gestalttheorie liegt –, die Adorno hervorheben möchte. Im hier interessierenden Passus aus seinen Drei Studien zu Hegel (5/341) lenkt er unser Augenmerk hingegen vor allem auf die Verengtheit von Definitionen, auf ihren festsetzenden Charakter: Vergleichbar wäre ein rechtes sprachliches Verfahren damit, wie ein Emigrant eine fremde Sprache lernt. Er mag, ungeduldig und unter Druck, weniger mit dem Diktionär operieren, als soviel lesen, wie ihm nur erreichbar ist. Zahlreiche Worte werden dabei zwar im Kontext sich aufschließen, aber doch lange von einem Hof der Unbestimmtheit umgeben sein, selbst lächerliche Verwechslungen dulden, bis sie, durch die Fülle der Kombinationen, in denen sie erscheinen, sich ganz enträtseln und besser, als das Diktionär erlaubte, in dem allein schon die Auswahl der Synonyma mit aller Beschränktheit und sprachlichen Undifferenziertheit des Lexikographen behaftet ist. Die »aufgezählten Bedeutungen« in einem Diktionär sind mithin »meist zu eng […] gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet.« (11/21)
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Der Spracherwerb entlang eines Wörterbuchs und das Abgrasen von Definitionen verwehren also, worum es Adorno geht: sprachliche oder terminologische Differenziertheit. Diese liegt genau darin, dass die Worte Nuancen mit sich führen, von einem Hof der Unbestimmtheit umgeben sind, eine nicht lexikalisch aufgliederbare Gestaltqualität an sich haben. Diese Differenziertheit können wir aber nur erwerben, indem wir die Worte in unterschiedlichen Konstellationen wahrnehmen und dadurch, dass sich in unserem Gedächtnis ein mehr oder minder kontinuierlicher Zusammenhang zwischen diesen einzelnen Wahrnehmungen entspinnt. Adornos Begrifflichkeit von Konstellation und Konfiguration, seine Kritik an Definitionen und die vorstehend veranstalteten Überlegungen zur Zeitlichkeit von Begriffen hängen mithin intim zusammen, weshalb das Diktionärsbeispiel stets in einem Kontext auftaucht, in dem es von diesen Aspekten und Themen umgeben ist. Das möchte ich jetzt gerne noch weiter ausführen. Wie bereits gesagt, hat das Diktionärsbeispiel in Adornos Texten eine normative Komponente – so sollen einerseits, gemäß dem Ideal des Essay, Texte verfaßt sein und so soll andererseits die Lektüre philosophischer Texte vor sich gehen –, und Adorno greift mit ihm zugleich an mehreren kritischen Punkten an. Ob wir diese Auszeichnung der Hegelschen Texte wie auch der Form des Essay mitmachen müssen, kann man für eine offene Frage halten. Wesentlich bedeutsamer als diese Frage sind aber die Folgerungen, die Adorno an diese beispielhafte Illustration des Sprach- und Terminologieerwerbs anschließt. Im Falle Hegels sind es die begrifflichen Äquivokationen, denen Adorno minutiös (5/343ff.) nachgeht, die von diesem Diktionärsbeispiel aus gesehen eine andere Bedeutung und Funktion erhalten. Diese müssen so nicht als sprachliche Ungenauigkeiten abgetan werden, sondern das mehrdeutige Schillern und die Vagheit der Worte vermögen das Augenmerk darauf zu lenken, dass die mit ihnen beschriebenen Sachverhalte mitunter subkutan oder latent zusammenhängen; es »vertuschen Äquivokationen nicht absolute Verschiedenheiten, sondern bezeugen auch die Einheit des Verschiedenen« (ebd.: 349). Die von Hegel verwendeten Worte, die »Elemente, die bei ihm zusammentreten, Begriffe, Urteile und Schlüsse« weisen demnach »über sich hinaus«, sie sind nicht »als einzelne erfüllbar« (ebd.: 341), weil sie sich nur relational auf einen sie unmittelbar umgebenden Kontext einerseits und nur relational auf andere, semantisch und begrifflich anders geladene Verwendungen andererseits erschließen. Deswegen ist die sprachliche »Bestimmtheit von Philosophie« – Adorno meint hier also: der Philosophie generell, nicht nur derjenigen Hegels – »als einer Konfiguration von Momenten […] qualitativ verschieden von der Eindeutigkeit eines jeglichen auch in der Konfiguration, weil die Konfiguration selber mehr und ein anderes ist als der Inbegriff ihrer Momente. Konstellation ist nicht System. Nicht schlichtet sich, nicht geht alles auf in ihr, aber eines wirft Licht aufs andere« (ebd.: 342). Ein solcher textueller Zusammenhang ist also weder völlig und eindeutig bestimmt – er ist kein System aus vollkommen unzwei-
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deutigen Definitionen –, aber auch nicht völlig unbestimmt, die Bedeutungen und Nuancen sind also nicht einfachhin beliebig. Texte in diesem Sinne konstellativ oder konfigurativ aufzufassen oder zu schreiben zum einen, Texte gemäß dem Diktionärsbeispiel aufzuschließen und zu lesen zum anderen oszilliert demnach für Adorno auch unweigerlich zwischen einer »exemplarischen Evidenz«, dem »›So ist es‹« und einer »untilgbare[n] Vagheit«, zwischen dem »Bann des schlaghaften Augenblicks« und dem »ausgreifenden Gedankengefüge« (ebd.).13 Die Begriffe präzisieren sich mithin wechselseitig oder relational, durch ihren Zusammenhang und den Stellenwert, den sie darin erfahren – »[p]räzisiert werden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander«, wie es Adorno im Essay als Form ausdrückt (11/20). Bemerkenswert an seinen Formulierungen dort ist, dass er das konstellative Verfahren – oder genauer: den Umstand, dass Sprache und Texte Konstellationen sind – in prozessualen Termini erläutert und unser Augenmerk nicht allein auf den Konnex von Konstellativität und Prozessualität lenkt, sondern auch auf den Tatbestand, um den es mir im Vorangegangen schon stellenweise gegangen ist: um die unbewusste Verdichtung von anderen Wahrnehmungen in einem Augenblick. Schon eben war ja davon die Rede, dass das Eingebettetsein in einen konstellativen Zusammenhang den ›schlaghaften Augenblick‹ sprengt. Dass es für Adorno eine Dialektik von Zusammenhang und Element, von, zeittheoretisch formuliert, Prozess und Augenblick gibt, hatten wir ja ohnehin schon verschiedentlich bemerkt, und darum sind die folgenden Formulierungen des Essay als Form (ebd.: 20f.) von besonderem Interesse: Das Wie des Ausdrucks soll an Präzision erretten, was der Verzicht aufs Umreißen opfert, ohne doch die gemeinte Sache an die Willkür einmal dekretierter Begriffsbedeutungen zu verraten. Darin war Benjamin der unerreichte Meister. Solche Präzision kann jedoch nicht atomistisch bleiben. Weniger nicht, sondern mehr als das definitorische Verfahren urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im Prozess geistiger Erfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von 13
Wie es Adorno in dem recht unbekannt gebliebenen Text Zum Studium der Philosophie (20/323) formuliert, ist das Changieren zwischen diesen beiden Momenten oder Polen unauflöslich; es ist eine Aporie: »Mit solchen Aporien fertig zu werden, bedarf es der Geistesgegenwart: man muß ans Ganze und an den Augenblick, an die Präzision der Aussage und ihren Stellenwert in der Konstruktion zugleich denken – ja man muß stets zugleich in der Sache, als ein ihr Hingegebener, und außerhalb der Sache, als ein kritisch Distanzierter sein.« Denn es gebe »in der Philosophie nicht nur die Gefahr des Vagen, Unbestimmten, vom spezifischen Gedanken zu weit Distanzierten, sondern auch eine des Zu Nah.« In ihr nämlich sei alles »wörtlich und doch nicht ganz wörtlich« (ebd.: 321), weshalb es auch hier für Adorno nur um ein nicht genauer pädagogisch spezifizierbares Vorgehen zwischen dem einzelnen Wort oder Begriff und dem übergreifenden sprachlichen und gedanklichen Gefüge gehen kann.
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Gedanken ab. Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln. Auch die Stilform des Essay verfährt mithin so, wie es Adorno an Hegels Texten zu illustrieren gesucht hat. Der Essay relationiert konfigurativ, die Worte erschließen sich konstellativ, ohne am Anfang je einzeln systematisch in ihrem Gehalt bestimmt zu sein. Er »koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren« (ebd.: 31f.), er »muß an einem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug die Totalität aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtig behauptet würde« und »korrigiert das Zufällige und Vereinzelte seiner Einsichten, indem sie, sei es in seinem eigenen Fortgang, sei es im mosaikhaften Verhältnis zu anderen Essays, sich vervielfachen, bestätigen, einschränken; nicht durch Abstraktion auf die aus ihnen abgezogenen Merkmaleinheiten.« (Ebd.: 25) Dieser »Fortgang«, der »Prozeß geistiger Erfahrung«, die »Bewegung«, als die sich die Elemente »[a]ls Konfiguration […] kristallisieren« (ebd.: 21f.), verweisen schon darauf, dass sich auch der Begriff der Konstellation zeittheoretisch genauer aufschließen lässt. Es kommt schließlich auch nicht von ungefähr, dass Adorno zwischen sowohl der Form der Hegelschen Texte (5/366f.) als auch der Form des Essays einerseits und der »musikalische[n] Logik« (11/31) andererseits Analogien sieht.14 Verflechtung und Verdichtung, die Wechselwirkung und das Fruchtbarsein von einzelnen Gedanken und Erfahrungen spielen sich in einem Prozess ab; die Vorstellung, das Konstellieren und Konfigurieren sei ein statisches oder räumliches Verfahren des Aneinanderfügens von Elementen, führt dagegen die in die Irre. Was man sich genauer unter dieser Fruchtbarkeit vorzustellen hat und weshalb Benjamin in dieser Form konstellativer, relationaler Präzisierung der ›unerreichte Meister‹ war, wird an der eben zitierten Stelle nicht ganz klar. In seiner Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie verdeutlicht Adorno jedoch anhand von Benjamins Definition von »›Schicksal als de[m] Schuldzusammenhang des Lebendigen‹« (VLEinlErk: 65), was damit gemeint sein könnte; zugleich wird an ihr klar, weshalb Adorno die Definition »in diesem höheren Sinn als das Instrument par excellence des dialektischen Denkens« (VLEinfDia: 285) bezeichnet. Denn trotz oder entgegen 14
An dieser Stelle im Essay als Form (11/31) kommen denn auch wieder die Äquivokationen zur Sprache. »Assoziation, Mehrdeutigkeit der Worte, Nachlassen der logischen Synthesis« werden hier nicht für negativ befunden, sondern aus einem spezifischen Grund positiv gewendet. Der Essay »benutzt Äquivokationen nicht aus Schlamperei, nicht in Unkenntnis ihres szientifischen Verbots, sondern um heimzubringen, wozu die Äquivokationskritik, die bloße Trennung der Bedeutungen selten gelangt: daß überall, wo ein Wort Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganz verschieden sei, sondern daß die Einheit des Worts an eine wie sehr auch verborgene in der Sache mahnt«. Das ist die »Einheit des Verschiedenen«, die Adorno schon an Hegel beobachtete (5/349), und, wie wir noch sehen werden, die »Kommunikation alles zerstreuten Einzelnen mit einander« (7/488), die »Kommunikation mit Anderem« (6/164), die sich »im Einzelnen, das in seinem Dasein durch sie vermittelt ist«, »kristallisiert«.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
seiner Kritik am Definieren führt Adorno Benjamin seinen Studierenden gegenüber als denjenigen an, »der eine höchst merkwürdige Kraft des Definierens besessen hat« (VLEinlErk: 65) – und das mutet zunächst, vor dem Hintergrund dieser Kritik, ja sonderbar an. Im Hinblick auf die eben genannte eigenartige Definition des Schicksals führt Adorno daher aus (ebd.: 66): [E]s handelt sich um einen Satz, in dem eine ganze explizite Philosophie, in der Begriffe wie der des Mythos, der des Schuldzusammenhangs, der Begriff des Immergleichen, der Begriff des Tausches, auf der anderen Seite der Begriff der Versöhnung ihre entscheidende Stelle haben, und die Kraft der Evidenz, die von einer solchen Defintion ausgeht, rührt eigentlich daher, daß in einem solchen Satz nun wirklich die ganze Philosophie, die ganze Konstruktion also der Einheit der in einer solchen Definition zusammengefaßten Momente aufgespeichert ist. […] Mit anderen Worten also: wohl müssen die Begriffe erhellt werden, müssen anfangen aufzuleuchten, aber das geschieht nicht dadurch, daß man sie isoliert defininiert [sic!]. Das ist die einzelwissenschaftliche Praxis und ist jedenfalls ein vorphilosophisches Verfahren, sondern es ist nur dadurch möglich, daß die Begriffe in eine solche Konstellation treten, wie hier, so daß sie einen Stellenwert im gesamten der philosophischen Erfahrung gewinnen und vermöge dieses Stellenwertes dann schließlich deutlich werden. Und dem allein verdankt dann die Definition ihr Schlagendes und ihre eigentliche Gewalt. Adorno möchte also sagen, dass diese, isoliert genommen rätselhafte, Definition ihre eigentliche Valenz, ihre ›Gewalt‹, nur dadurch gewinnt, dass sich in ihr das gesamte Gefüge von Benjamins Philosophie verdichtet, dass sie darin ›aufgespeichert‹ ist oder sich darin kristallisiert. Atomistisch bleibt sie genau dadurch nicht, und ihre Bestimmtheit gewinnt sie nicht durch Abtrennung von ihrem Kontext, sondern durch ihre Verflochtenheit mit ihm.15 Diese Definition Benjamins greift Adorno noch an einer zweiten, nämlich an genau der letzten der oben aufgeführten Stellen auf, an denen er auch auf das Diktionärsbeispiel zu sprechen kommt. Das ist die 19. Sitzung der Vorlesung Zur 15
Wegen dieser ›Nicht-Atomistik‹, wenn man es einmal so nennen darf, spricht Adorno in seiner Charakteristik Walter Benjamins auch von einer »Energie intellektuellen Atomzerfalls«, von »Konfiguration«, davon, »in der Erkenntnis sei das Individuellste das Allgemeinste« (10/239). Das verweist zum einen auf Benjamins Bestimmung der »Phantasie« als »die Fähigkeit zur ›Interpolation im Kleinsten‹«, wonach »eine Zelle angeschauter Wirklichkeit den Rest der gesamten Welt« aufwiegt, die Adorno in seiner Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹ (11/570) zitiert. Zum anderen auf die verschiedentlich von Adorno benutzte – in ihrer Metaphorik sprechende, aber auch etwas eigenartige – Wendung von der geistigen oder intellektuellen ›Atomzertrümmerung‹ (vgl. etwa VLEinfDia: 60, 172). Auch Proust »bemühe sich um geistige Atomzertrümmerung, trachte, kleinste Elemente des Wirklichen als Kraftfelder aufzuschließen, in denen alle Gewalt des Lebens zusammenschießt.« (11/671)
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Einführung in die Dialektik (VLEinfDia: 278-293). Adorno führt dort Benjamins Definition und im selben Atemzug seinen »kurzen Spruch, Kunst sei ›Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein‹« (ebd.: 284) aus der Minima Moralia (4/254) an, um seinen Hörern begreiflich zu machen, was es mit solchen – wenn einem denn daran gelegen ist: ›dialektischen‹ – Definitionen auf sich habe. Beide Definitionen, so gesteht Adorno unumwunden zu, lassen jemanden ohne alles Vorwissen »natürlich jämmerlich im Stich« (VLEinfDia: 284), bleiben also völlig nichtssagend oder in einem unzweckmäßigen Ausmaß vielsagend. Das gilt, blickt man nochmal kurz auf Adornos Gesamtwerk, genauso für all die kurzen Sentenzen, Aperçus oder ›kurzen Sprüche‹, die sich an unterschiedlichen Stellen der Minima Moralia (4/54f., 123-128, 216-218, 253-255) finden, wie für andere, besonders gewichtig oder kryptisch auftretende elliptische Bestimmungen in anderen Texten. Oft waren es ja gerade solche, schon – ohne dass man sie aus ihrem Kontext isoliert – vereinzelt auftauchende Aperçus, die in der Rezeption besondere Aufmerksamkeit erfahren haben wie »Das Ganze ist das Unwahre« (ebd.: 55), »Fremdwörter sind die Juden der Sprache« (ebd.: 125) oder »Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen« (ebd.: 218) – und man könnte freilich noch etliche mehr anführen (›kein richtiges Leben im falschen‹ usw.). Adorno meint zwar, wie gesagt, selbst, dass solche Definitionen für sich genommen überhaupt nicht weiterführen, es sei, mit Blick auf die letztgenannte Definition, »ja sehr leicht, dann zu sagen: ›Na ja, man merkt das eben dieser Art Philosophie auch an, sie ist eben eine, die sich eigentlich selber nicht versteht‹« (VLEinfDia: 242). Aber zugleich meint er, dass es keine »Aperçus sind, oder daß sie bloße Pointen sind, sondern daß ihren recht genauen Ort innerhalb der Kontinuität dieser Gedanken haben.« (Ebd.) Das Schroffe, Statuarische und das unbeleckte Verständnis Abweisende rührt nun genauer daher, dass auch diese Adornoschen Definitionen einen solchen verdichtenden, eine Reihe anderer begrifflicher und textueller Fäden zusammenführenden oder aufspeichernden Charakter an sich haben. Von der Leserin, sei es von Adornos oder von Benjamins Definitionen, sei es dafür allerdings erfordert, dass sie »all diese Dinge«, also weitere Belegstellen von Begriffen, die mit denen der Definition auf irgendeine Weise vernetzt sind, »schon irgendwie auch gegenwärtig hat, die sich dann aber um eine solche Definition gewissermaßen wie um einen Magneten ordnen.« (Ebd.: 285) Die Funktion oder der Sinn dieses dialektischen Definitionsverfahrens sei es präzise, »solche Magnetfelder herzustellen, nicht aber die Begriffe stillzustellen; das heißt, sie dienen eigentlich dazu, das latente Leben, das in den Begriffen selbst waltet, das, was an Kraft in ihnen aufgespeichert ist, aufzusprengen und sie als Kraftfelder eigentlich zu entbinden.« (Ebd.) Und »wenn die Aufgabe der Dialektik überhaupt es ist, das, was als bloß dinghaft, gegeben, seiend, daseiend erscheint, in ein Kraftfeld zu verwandeln«, wenn es also an der Dialektik ist, Objekte zu deuten und in ihrer Geschicht-
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lichkeit zu erschließen, dann sei »geradezu die Definition in diesem höheren Sinn als das Instrument par excellence des dialektischen Denkens« (ebd.) zu bezeichnen. Die Definition erhält diese Stellung also dadurch, dass sie genau die Dialektik von Element und Zusammenhang, Augenblick und Prozess so zum Austrag bringt, dass sich in der komprimierenden Pointierung, in der aperçuhaften Verdichtung verschiedener Bestimmungen zugleich der ganze Zusammenhang entbindet oder darin zusammenschießt. Das »Kriterium der Wahrheit« sei daher auch: »wieviel zusammenschießt«; es gehe nicht darum, ein Phänomen einem Begriff zu subsumieren, aber auch nicht darum, begrifflos dem Phänomen gerecht zu werden zu versuchen, sondern um »Ausstrahlen, nicht subsumieren«, wie es in den Stichworten dieser Vorlesung heißt (ebd.: 332). Mit derlei Formulierungen – dem Ausstrahlen, den Magnetfeldern, der Aufspeicherung und Verdichtung, der »Kommunikation aller Gedanken miteinander« (ebd.), dem »Aktuellwerden des potentiellen Wissens« (ebd.: 325) – haben wir zumindest einen Ausgangspunkt gewonnen, um die sich bislang schon hie und da bemerkbar machende Frage anzugehen, was Adorno genauer damit meinen könnte, in der geistigen Erfahrung ›entbinde‹, ›konzentriere‹ oder ›aktualisiere‹ sich ein verborgenes, latent schon vorhandenes Wissen. Wir haben uns deswegen jetzt so ausgiebig mit dem Diktionärsbeispiel und Adornos Bemerkungen dazu abgegeben, weil ich wie gesagt meine, dass das von Adorno hier für sprachliche oder textuelle Zusammenhänge – also für den Erwerb von Sprache und philosophischer Terminologie und die besondere Rolle von Definitionen – geltend Gemachte in nämlicher Weise auch für unsere Erfahrung oder Wahrnehmung triftig ist. Adorno changiert schließlich selber, wie an manchen der Zitate hat deutlich werden können, in seinen Ausführungen zwischen der Sprache und den Texten auf der einen und den Erfahrungen und Gedanken auf der anderen Seite. Ich hatte hier, unabhängig von solchen Mängeln an Genauigkeit bei Adorno, sowohl die (i) Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Zusammenhang und einzelnem Element in den Blick heben wollen, als auch (ii) die zeittheoretische Begrifflichkeit, die Adorno selber verwendet und an der deutlich wird, dass die sprachlichen Verweisungen und Assoziationen zeitliche Verweisungen und Assoziationen sind. Das (iii) letzte Moment, das auf das in dieser Arbeit bislang schon Elaborierte zurückweist, ist die Unbewusstheit, mit der sich solche Verdichtungen einstellen. Adorno hatte ja in dem Zitat aus dem Essay als Form davon gesprochen, der ›Denkende‹ mache sich zum ›Schauplatz geistiger Erfahrung‹. Die Verflechtungen, Synthesen und Assoziationen werden nicht vom Denkenden aktiv gestiftet, sondern stellen sich ohne sein Zutun ein; es handelt sich nicht um ein aktives Erinnern und um eine aktiv betriebene Relationierung unterschiedlicher Elemente, die hernach zusammengefügt werden, sondern die Verdichtungen sind von anderem Charakter. Dass der Denkende ›nicht denkt‹ oder dass die ›wahren‹ Gedanken ›sich selber nicht verstehen‹ zielt auf dieses, zunächst schwierig zu artikulieren-
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de Moment ab. Adorno wollte »damit sagen, daß wahr eigentlich nur die Gedanken sind, deren Kommunikation aus ihrer eigenen Schwerkraft heraus erfolgt mit anderen Gedanken« (ebd.: 242), dass derlei Gedanken oder Erfahrungen »als ein Einzelnes, das auf einen konkreten Gegenstand bezogen ist, zugleich über sich hinausweist und die Kraft entbindet, die nun die einzelnen Momente in ihrer subkutanen Struktur, eigentlich verborgenen Struktur miteinander zusammenhängen läßt.« (Ebd.: 244) Das Entbinden unterirdischer ›Kräfte‹ verweist uns so zurück auf Adornos Ausführungen über das Gedächtnis und seine implizite Beteiligung an Erfahrungsprozessen, und es verweist uns vor auf Freuds Begriffe des Unbewussten und der Verdichtung. Denn die »Gedanken kommen nicht angeflogen, sondern kristallisieren sich, auch wenn sie plötzlich hervortreten, in langwährenden unterirdischen Prozessen« (VLPhiSoz: 69; 8/212), sie sind »Früchte der unterirdisch fortarbeitenden und dabei gar nicht ihrer selbst bewußten Gedanken« und haben »die Kraft unbewußt weiterlaufender Denkprozesse in sich aufgespeichert« (VLPhilElem: 158), wie Adorno es an Stellen in zwei eher marginal gebliebenen Vorlesungen sagt. Wir kommen darauf ohnehin noch zurück, deshalb müssen wir diesen gedanklichen Faden nun nicht noch weiter ausspinnen. Stattdessen soll es im Folgenden wieder stärker um Derridas Überlegungen gehen; wir müssen prüfen, ob der Begriff der Iterabilität die vorstehend vor allem von Adornos Schriften aus entfalteten Überlegungen nicht noch einmal von einer anderen Warte her zu erschließen verhilft.
3.2 Iterabilität: eine prozessuale Theorie des Allgemeinen Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, dass Adorno in verschiedenen Anläufen und im Bezug auf und in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Autoren eine Dialektik von Allgemeinem und Besonderem zu entfalten versucht. Demnach bilden sich allgemeine Gehalte – etwa die Farbe Rot – nur dadurch heraus, dass wir verschiedene, jeweils unmittelbar gegebene und in einem konkreten Kontext verortete rote Gegenstände wahrnehmen. Der allgemeine Gehalt oder Typus ist mithin von seinen konkreten Instantiierungen abhängig und geht diesen nicht derart voraus, dass er unabhängig von ihnen bereits vorläge; und genauso sind die konkreten, singulären Wahrnehmungen nicht wie Atome voneinander separiert, sondern durcheinander vermittelt und so Träger allgemeiner Strukturen. Um diese unauflösliche dialektische Interdependenz des Allgemeinen und des Besonderen zu formulieren, haben wir auf Hegels, von Adorno vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit Aristoteles geschärften Begriff der Vermittlung zurückgegriffen. Das Gedächtnis, so war darauf zu sehen, versieht die einzelnen Akte der Wahrnehmung implizit und latent mit generellen Strukturen, die für sie eine konsti-
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tutive und instruierende Funktion haben, aber unthematisch bleiben. Der Aspekt der Zeitlichkeit oder Prozessualität hat sich dabei schon mehrfach, durch Adornos eigene Formulierungen und durch meine Versuche, Adornos Ausführungen verständlich zu machen, bemerkbar gemacht. Denn nur durch das Abstellen auf die jener Dialektik des Allgemeinen und Besonderen inhärente Zeitlichkeit ließ sich erklären, wie es (i) überhaupt zu der unserem Sprachgebrauch eignenden Assoziativität und Konnotativität und zu dem Adorno insbesondere interessierenden Aspekt der Verdichtung oder des Zusammenschießens kommen mag und (ii) wie eine zeittheoretische Deutung des Begriffs der Verdinglichung beschaffen sein könnte. Es ist zunächst nicht direkt, nicht unmittelbar ersichtlich, in welcher Weise oder auf welchem Wege hier nun Derridas Überlegungen Platz greifen könnten. Vor allem dann nicht, wenn man sich ihnen unter der Vorannahme nähert, Derrida sei ein Sprachphilosoph oder ein Philosoph der ›Schrift‹ im herkömmlichen Sinne. Bevor man also darüber nachdenkt, ob sie überhaupt irgendetwas Erhellendes zum hiesigen Gang der Argumentation beizutragen vermögen, muss man diese Präsupposition überprüfen. Wenn sie auch an keinem einzelnen Text der Rezeption allein dingfest zu machen ist, so scheint sie doch eine verbreitete Tendenz, eine Neigung zu bezeichnen, die sich im Verlauf der Befassung mit Derridas Werk herausgebildet hat. Denn es dürfte nicht von ungefähr kommen, dass sich Geoffrey Bennington in Derridabase als dem Text, der in unmittelbarer Nähe zu Derrida verfasst worden und in einem gemeinsam herausgegebenen Buch enthalten ist, bemüßigt gesehen hat, beharrlich dieses Bild zurechtzurücken. Es werde sich, so heißt es redundant an zwei Stellen, »zeigen, daß das Denken Derridas im wesentlichen keine Sprachphilosophie ist« (Bennington 1994: 35), denn Derridas verallgemeinerter Schriftbegriff schließt »eine gewisse Überschreitung der Grenzen der Sprache« ein, »aus der auch erhellen wird, warum das Denken Derridas […] keine Sprachphilosophie ist.« (Ebd.: 58) Bennington profiliert dieses Denken daher in Auseinandersetzung mit diesem als verbreitet unterstellten Missverständnis, ohne es jedoch im weiteren Verlauf an gewissen Texten und Reaktionen auf Derrida aufzuzeigen und ohne es auf gewisse Bahnungen, auf bestimmte am Anfang stehende Ausrichtungen der Rezeption zurückzuführen. Ich meine, dass die Entstehung dieses Vorurteils (i) zum einen mit der Konzentration auf bestimmte, sich der oberflächlichen Lektüre als sprachphilosophisch darstellende Texte Derridas zu tun hat und es (ii) zum anderen auf gewisse, aus dem Kontext isolierte und zu Schlagworten verkommene Wendungen zurückgeht. Derrida gibt darauf, im Gespräch mit russischen Wissenschaftlern in Rückkehr aus Moskau, zumindest einen Hinweis. »Überlicherweise«, so meint er mit Blick auf ein nicht näher einzukreisendes Präjudiz in der Diskussion seines Werks, »stellt man Dekonstruktion als das dar, was alles im Verhältnis zur Sprache Äußere negiert, als eine Weise, alles in die Sprache einzuschließen. Diejenigen, die es vorziehen, das als ›Sprache‹ zu bestimmen, was ich ›Text‹ nenne – da ich einmal ge-
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schrieben habe: ›Es gibt nichts außerhalb des Textes‹ –, übersetzen und interpretieren meine Aussage für gewöhnlich als: ›Es gibt nichts außerhalb von Sprache‹.« (Derrida 2005a: 92f.) Man habe Derrida so die »Suspendierung des Referenten« (ebd.: 93) unterstellen können, die simple Leugnung dessen, was außerhalb der Sprache liegt, und »Foucault beispielsweise versuchte, Dekonstruktion auf den textuellen Raum zu beschränken, indem er Text auf Buch reduzierte, auf das, was auf Papier aufgeschrieben ist.« (Ebd.: 94) Derridas hiesiges Bemühen um die Korrektur einer Fehlstellung der Rezeption deutet also auf die – aber doch, wie man vielleicht einwenden darf, recht naheliegende – Verwechslung eines gewöhnlichen Sprachund seines spezifischen Textbegriffs. Man »darf aber Text nicht auf Sprache reduzieren« (ebd.: 93), wenn man Derridas Überlegungen in ihrer Spezifik richtig verstehen und nicht dem Missverständnis erliegen will, ihm sei es vordringlich um eine Philosophie der Sprache und dann auch noch um die Behauptung, es gebe ›nichts außerhalb der Sprache‹, gegangen. Neben dieser Interviewäußerung kommt Derrida noch in einem zweiten Gespräch, in der I have a Taste for the Secret betitelten Konversation mit Maurizio Ferraris von 1994 (Derrida/Ferraris 2001: 76), auf präzise dieselben problematischen, miteinander zusammenhängenden Fehlinterpretationen seiner Gedanken zu sprechen und führt sie vor allem auf die Einschreibung seines Werks in den linguistic turn zurück. Dort gibt er zugleich einen Ausblick darauf, wie wir seine schwierigen, weil vom gebräuchlichen Verständnis abweichenden Begriffe wie ›Text‹, ›Markierung‹ oder ›Spur‹ verstehen können. Deswegen sei diese Stelle hier ebenfalls zitiert: The first step for me, in the approach to what I proposed to call deconstruction, was a putting into question of the authority of linguistics, of logocentrism. And this, accordingly, was a protest against the ›linguistic turn‹, which, under the name of structuralism, was already well on its way. The irony – painful, at times – of the story is that often, especially in the United States, because I wrote ›il n’y a pas de hors-texte‹ [there is nothing outside the text], because I deployed a thought of the ›trace‹, some people believed they could interpret this as a thought of language (it is exactly the opposite). Deconstruction was inscribed in the ›linguistic turn‹, when it was in fact a protest against linguistics! And that gave rise to a great many misunderstandings, not only in philosophy and literary criticism, but also in history […]. […] As you know, I take great interest in questions of language and rhetoric, and I think they deserve enormous consideration; but there is a point where the authority of final jurisdiction is neither rhetorical nor linguistic, nor even discursive. The notion of trace or of text is introduced to mark the limits of the linguistic turn. This is one more reason why I prefer to speak of ›mark‹ rather than of language. In the first place the mark is not anthropological; it is prelinguistic; it is the possiblity of language, and it is everywhere there is relation to another thing or relation to another. For such relations, the mark has no need of language.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Diese und die vorige Äußerung Derridas allein dürften auch heute noch verblüffen, denn – und das gilt natürlich nicht für das Milieu der Derrida-›Kenner‹, sondern für allgemeiner verbreitete Überzeugungen und Vorannahmen im akademischen Diskurs, wenn man einmal so homogenisierend reden darf – man wird wohl kaum sagen können, der Glaube, ›die Dekonstruktion‹ sei Teil des ›linguistic turn‹ und beinhalte die simple, ziemlich banale Behauptung, es gebe nichts außerhalb der Sprache16 , sei einfach verschwunden. Dazu hätte es einer gewissen Vorsicht und eines ausgeprägteren Problembewusstseins bedurft, und ausgehend etwa von solcherlei Passagen hätte man darüber nachzudenken beginnen können, worauf Derrida denn stattdessen hinauswollte. An beidem aber hat man es – abgesehen natürlich von einem spezialisierten Kreis von Interpreten – allzu oft fehlen lassen, und Stereotype und Klischees haben es nun einmal an sich, unbesehen und unbefragt weiter tradiert zu werden. Derrida nun gibt in dem zitierten Gesprächsabschnitt selber einen Fingerzeig: wo er von Markierungen oder von Marken spricht, ziele er auf eine nicht nur prälinguistische, sondern auch nicht-anthropologische Struktur. Seine Überlegungen beziehen sich mithin auf ein Feld, das der Sprache und der menschlichen Sphäre vorausgeht. Das ist der Grund, weshalb Derrida (i) desöfteren auf die Differenz zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen zu sprechen gekommen ist und (ii) sich vielerlei Phänomenen zugewandt hat, die mit der Sprache im engeren Sinne in keiner Verbindung stehen – dem Datum, der Gabe, dem Bild und der Photographie – oder zunächst und zumeist nicht zentraler Gegenstand der Sprachphilosophie gewesen sind – der Unterschrift, dem Zeugnis, der Geometrie oder mathematischen Notation. Aus gewissen Gründen, auf die ich gleich zu sprechen komme, ist der Rezeption durch die Vielzahl dieser oft ›ästhetisch‹ anmutenden Figuren und Phänomene der innere Zusammenhang von Derridas Text undurchsichtig geworden. 16
In seinen erläuternden Antworten auf die Fragen, die Gerald Graff ihm im Nachgang zu seiner ›Debatte‹ mit Searle gestellt hat, meint Derrida, diese Äußerung – es gebe kein Außerhalb des Textes – sei für viele gleichsam zum schockierenden Slogan der Dekonstruktion geworden, und ich meine, dass sich daran im Gros der akademischen Milieus nichts geändert haben dürfte: »Der Satz, der für manche gleichsam zum Slogan der Dekonstruktion geworden ist und im allgemeinen völlig falsch verstanden wurde (›es gibt kein außerhalb des Textes‹ [›il n’y a pas de hors texte‹]), heißt nichts anderes als: Es gibt kein außerhalb des Kontextes [il n’y a pas de hors contexte].« Wenn er daraufhin weiter meint, dass die Formel »[i]n dieser Form, die genau dasselbe besagt, sicher weniger schockiert«, aber vielleicht nicht so viel »zu denken gegeben hätte« (Derrida 2001b: 211), kann man sich fragen, ob es im Hinblick auf eine von ihm selbst nicht kontrollierbare Rezeption eine gute Strategie war, diese Formel nicht schon früher präzisiert zu haben; nämlich etwa an der Stelle der Grammatologie (Derrida 1983: 274), an der sie erstmals auftaucht. ›Viel zu denken zu geben‹ – das ist gewiss ein feiner, aber vielleicht nicht ein Anspruch, den sich jeder, der Derridas Texte liest, gerne und in jeder Situation zueigen machen möchte oder – kann.
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(i) Ausgehend von einem veränderten, verallgemeinerten Begiff der Schrift gibt es für Derrida »keine schriftlose Gesellschaft (ohne genealogische Kennzeichen, Auflistungen, Archivierungen…), nicht einmal eine sogenannte tierische Gesellschaft ohne Spuren, ohne territoriale Kennzeichnung« (Derrida 1998a: 93). Schrift in diesem gewandelten Sinn gibt es überall dort, wo es wiederholbare Markierungen, Spuren oder ›Kennzeichen‹ gibt, die den Augenblick ihrer Einschreibung überdauern und für eine Mehrheit von Instanzen identifizierbar und, wenn man so will, lesbar sind. Die Rede von schriftlosen Gesellschaften oder die Verengung der Schrift auf die menschliche Sphäre impliziert demgegenüber einen problematischen Vorentscheid für ein »bestimmte[s] Schriftmodell« (ebd.), für einen zu engen Begriff von Schrift, den Derrida vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss in der Grammatologie analysiert hat. Indem er demgegenüber zeigt, »daß die Schrift sich nicht dem gesprochenen Wort unterwerfen läßt, kann ihr Begriff ausgeweitet und verallgemeinert werden, kann er bis auf die Stimme ausgedehnt werden, auf sämtlichen Spuren der Differenz und jegliche Beziehung zum Anderen« (ebd.) – bis hin eben zu tierischen Spuren. In diesem Sinne gelten die in der Grammatologie unternommenen Überlegungen nicht nur einem problematischen Ethno-, sondern auch einem ebenso problematischen Anthropozentrismus. »Seit De la grammatologie«, so Derrida rückblickend gegen Ende seines Lebens, »sollte sich die Ausarbeitung eines neuen Begriffs der Spur auf das gesamte Feld des Lebenden […] erstrecken, jenseits der anthropologischen Grenzen der ›gesprochenen‹ (oder ›geschriebenen‹, im geläufigen Sinne) Sprache, jenseits des Phonozentrismus oder des Logozentrismus, die sich stets auf eine einfache Grenze in Gestalt eines Gegensatzes zwischen dem MENSCHEN und dem TIER verlassen.« Er habe damals geltend machen wollen, »daß die ›Begriffe Schrift, Spur, Gramma oder Graphem‹ über den Gegensatz ›menschlich/nicht menschlich‹ hinausgehen würden.« (Derrida/Roudinesco 2006: 110f.) Nun wird man allerdings zögern, Derrida zuzustimmen, wenn er insinuiert, für derlei dem Gegensatz des Menschlichen und des Tierischen unter dem besonderen Aspekt eines verallgemeinerten Schriftbegriffs gewidmete Überlegungen seien »explizite Zeichen in allen meinen Texten« (ebd.: 110) zu finden. Denn soweit ich zu sehen vermag – unbenommen bleibt es natürlich jedem, implizite Hinweise auf diese Thematik in allen möglichen Texten Derridas aufzufinden –, beschränken sich schon die dem Tier oder dem Tierischen im allgemeinen gewidmeten Überlegungen auf eine kleine Gruppe von Texten; und dies gilt umso mehr für den noch spezifischeren Aspekt oder die engere Frage, ob der Begriff der Schrift im verallgemeinerten Sinne die Differenz von Mensch und Tier übergreift. Wie immer es damit, mit der ›Tierphilosophie‹ Derridas, nun genauer bestellt sein mag – der verallgemeinerte Schriftbegriff reicht über die menschliche, anthropologische Sphäre jedenfalls hinaus und kann schon von diesem Ausgangspunkt her nicht auf Sprache verengt werden.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
(ii) Es gibt zudem noch ein zweites Ensemble von Phänomenen, mit denen sich Derrida intensiv und verstreut über eine Vielzahl von Texten befasst hat und bei denen man Schwierigkeiten entgegen sehen müssen wird, sie unter das Etikett der Sprachphilosophie zu rubrizieren. Damit sind nicht nur die Figuren des Unmöglichen gemeint, denen wir schon früher in dieser Arbeit begegnet sind und die eher in späteren Etappen von Derridas Werk aufzutauchen beginnen.17 Ich meine vielmehr Phänomene wie das Datum, das Zeugnis, das (photo- oder videographische) Bild oder die Unterschrift, aber auch die Gabe und das Ereignis genauso wie Formen der mathematischen Notation, von denen Derrida zumindest indirekt handelt, wenn er sich in einer seiner frühen Husserllektüren der Frage »geometrische[r] Idealisierung« (Derrida 1987: 141) und der »Bewegung mathematischer Idealisierung überhaupt« (ebd.: 180) zuwendet. Andere mögen es können – ich vermag es nicht: zu verstehen, wie all dies noch im Rahmen einer Sprachphilosophie zu behandeln sein sollte. Disponiert man aber so, wird der innere Zusammenhang, oder anders: die mehrfältigen Zusammenhänge, die man in der Lektüre der Texte Derridas potentiell zu stiften vermag, kaum noch erkennbar. Neben einem sprachphilosophischen ›Zentrum‹, das man gerne in die ›Hauptwerke‹ verlegt, wird man nachgerade gezwungen zu konstatieren: und damit habe sich Derrida auch beschäftigt, und damit auch noch – das textuelle Ensemble erscheint als eine Reihe von in sich verkapselten Addenda, die den Durchblick auf übergreifende begriffliche Dispositionen verwehren. Diese Tendenz wird durch zwei problematische Neigungen noch befördert: zum einen (i) gibt es eine Art schöngeistiger, vermutlich auch auf die oftmals unterstellte Nähe von ›Dekonstruktion‹ und Literaturwissenschaft zurückgehende Herangehensweise, die die als solche18 auch veröffentlichten Texte kleineren Umfangs 17
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Auch in der Rede zur Verleihung des Adorno-Preises, in der Derrida Adornos im Hinblick auf Walter Benjamin formulierte Wendung vom »Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen« (10/252) aufgreift – die ihm vermutlich, wenn man so sagen darf, recht gelegen gekommen ist –, verweist er kurz auf diese Gruppe von Figuren. Erinnern wir uns kurz an den von Derridas Aporetik handelnden Teil der vorliegenden Arbeit, wird ersichtlich, dass diese Gruppe keine absolut konsistenten, unverbrüchlichen Grenzen aufweist. Mal gehören ihr gewisse Figuren zu, mal nicht – und dies differiert von Passage zu Passage, die man in Derridas Texten finden kann. »Die Möglichkeit des Unmöglichen, sagt Adorno. […] Ob es sich um die Zeit, die Gabe, die Gastfreundschaft, die Vergebung, die Entscheidung handelt – oder um die kommende, im Kommen bleibende Demokratie –, ich versuche auf meine Weise, eine Reihe von ethischen, rechtlichen und politischen Konsequenzen aus ihr zu ziehen, aus dieser Möglichkeit des Unmöglichen und aus dem, was zu tun wäre, wollte man den Versuch wagen, sie anders zu denken, den Versuch, das Denken anders zu denken, in seiner Unbedingtheit ohne unteilbare Souveränität, jenseits dessen, wovon unsere metaphysische Überlieferung beherrscht wurde.« (Derrida 2003b: 18f.) Ich hatte weiter oben schon eine Äußerung Derridas wiedergegeben, in der er – ganz entgegen eines bis heute weiter bestehenden Vorurteils – darauf aufmerksam macht, dass selbst
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wie kostbare Preziosen und Kleinodien behandelt, ohne zu verdeutlichen, welche argumentativen und konzeptuellen Bewegungen darin vonstatten gehen mögen. Zum anderen (ii) gibt es eine schon lange bestehende und mit der eben beschriebenen zusammenhängende Neigung, Derridas Texte als Literatur, als ästhetische Gebilde, und das heißt: als nicht philosophisch aufzufassen. Es war, meine ich, auch im Hinblick auf Adornos Werk eine verbreitete Strategie – oder vielmehr ein Affekt –, philosophische, also mit bestimmten Begriffen operierende und Argumente vorbringende Texte als literarisch zu etikettieren. Dann ist es ein Leichtes, wie Derrida in seiner langen Fußnote zu Habermasʼ Polemik zitiert, ihn nicht zu den ›argumentationsfreudigen Philosophen‹ (Derrida 2001b: 257 Fn. 11) zu zählen. Man hätte sich aber ebensogut, von einer gewissen Vorsicht getragen, zunächst die Frage vorlegen können, was überhaupt ein Argument ist und was innerhalb eines bestimmten universitären Sektors der Philosophie und zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als Argument zu gelten vermag. Mit Blick auf Habermas, stellvertretend für gewisse Tendenzen insbesondere der deutschsprachigen und der US-amerikanischen Rezeption, hat Derrida bemerkt, »that when philosophers speak of argument they very often have a certain model of argument in mind, and when they fail to recognize that familiar model, they hasten to conclude that there is no argument. I myself say, rather, that there is argument, in another form.« Aufgrund dieser prekären, nicht natürlicherweise bestimmten, sondern zu bestimmenden Grenze der Philosophie und ihrer argumentativen Normen, sind »the discussions between philosophers throughout history […] not only discussions – thus, argumentations – about theses or thetic contents, but […] also about argumentative norms« (Derrida/Ferraris 2001: 54) gewesen. Und das ist keine akzidentielle, beiläufige oder marginale Frage, sondern sie führt ins Herz dessen, was Philosophie ›ist‹ und wodurch, durch welche definierenden Kriterien, sie sich von anderen Texttypen abgrenzen lässt. Sein Interesse auf die »Konventionen, Institutionen und Interpretationen, durch die dieser Abgrenzungsapparat erzeugt und aufrechterhalten wird, inklusive aller Normen«, zu richten und sich zu fragen, ob die »Regeln der Beweisbarkeit bei Platon, Aristoteles, Descartes, Hegel, Marx, Nietzsche,
die ›Hauptwerke‹ nichts anderes als »a sort of confluence of small texts, none of which on its own was sufficient to make up a book« (Derrida/Ferraris 2001: 29) waren. Eine Vielzahl von Texten und Vorträgen Derridas wurde allerdings nicht gebündelt, sondern isoliert und für sich veröffentlicht – man denke an die Texte zu Blanchot, zu Celan, zur negativen Theologie, zur Chōra, zur Gesetzeskraft usw. Das mag den Glauben bestärkt haben, sich solchen Texten nähern zu können, ohne noch den textuellen Zusammenhang, in den sie eingebettet sind, im Blick haben zu müssen. Dass es heute eine eigenständige ›Tierphilosophie‹ Derridas zu geben scheint, könnte ein Effekt dieses Glaubens sein.
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Bergson, Heidegger oder Merleau-Ponty die gleichen sein mußten« (Derrida 1998d: 230), heißt darum, sich im selben Zuge zu fragen: Was ist das – die Philosophie?19 Ich möchte diesen Punkt kurz noch genauer anhand einer, ebenfalls mit dem erweiterten Schriftbegriff verknüpften, Figur aus Derridas späteren Texten erläutern, an der er selbst sich nochmals auf diese Problematik einzulassen gezwungen gesehen hat. Insbesondere die, nicht allein in Marxʼ Gespenster, sondern in einer Vielzahl weiterer Texte auftauchende, Figur des Gespensts ist dazu angetan gewesen, die Texte, in denen sie auftaucht, auf einen literarischen Einfall zu reduzieren und als ästhetische Spielereien abzutun. So verbleibt man in weiter Entfernung zu der Frage, was Derrida bewogen hat, sich auf diese Figur zu beziehen, ob das Gespenst, das weder völlig sichtbar, noch völlig unsichtbar ist, vielleicht etwas mit einer Kritik an einer ›Metaphysik der Präsenz‹ zu tun haben könnte20 ; oder ob sein Insistieren auf der Pluralität – Marxʼ Gespenster, nicht: Marxʼ Gespenst oder Geist (Derrida 2004: 16, 22, 139, 150f., 184) – nicht im Zusammenhang mit dem Gedanken stehen könnte, dass Eigennamen immer in einer Mehrheit von Kontexten zitiert, aufgegriffen, wiederholt werden können und dass ein theoretisches Werk wie dasjenige Marxʼ immer einer historischen und synchronen Multiplizität von Aneignungen, Lektüren, Interpretationen stattzugeben vermag. Im Hinblick
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Diese Stelle aus dem für diese Thematik so eminent wichtigen Gespräch Gibt es eine philosophische Sprache? in Auslassungspunkte korrespondiert mit der vorher zitierten aus A Taste for the Secret. Im letzteren heißt es daher nach der zitierten Stelle weiter (Derrida/Ferraris 2001: 54f.): »Kant critiques the way in which Descartes argues and the fact that he is not faithful to what argumentation ought to be, according to Kant. Intraphilosophical discussion is a discussion about argumentation. Aristotle says to Plato: here you are no longer arguing. If within philosophy itself there is no consensus on the subject of argumentation, one has to accept the fact that outside of philosphy the same dissent exists.« Ich komme auf diese Figur noch zurück, möchte aber hier kurz bemerken, dass – und das scheint mir für Theorien generell gültig zu sein – ein solcher Begriff wie der des Gespensts in mehrere textuelle Richtungen deutet oder ausstrahlt. So etwa auf die Kritik der Präsenzmetaphysik, aber desgleichen auf Figuren der Unentscheidbarkeit wie das pharmakon, das hymen oder der Parasit, und ebenso auf die Unterscheidung von Wissen und Glauben. Wenn Derrida über das Gespenst sagt: »Es ist eine Form, eine gespenstische Gestalt, die zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit unentschlossen bleibt. Geister sind das, was man zu sehen denkt, wobei ›denken‹ hier den Sinn von ›glauben‹ hat« (Derrida 2011: 325) – dann verweist das einerseits auf diese Unterscheidung, andererseits auf die häufig im Hinblick auf das Ereignis genutzte Wendung ›wenn es das gibt‹. Wenn sich das Gespenst und das Ereignis nie als solche zeigen, wenn sie impräsentabel bleiben, ohne direkt gar nicht oder gar nichts zu sein, dann können wir nur an ihre Existenz glauben, dann sind sie nur vielleicht da: unentscheidbar in der Schwebe zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. »Das, was es gibt, wenn es dergleichen gibt«, so präzisiert Derrida diesen Zusammenhang im Hinblick auf Figuren wie die Gabe, die Freundschaft und die Erfindung in der Politik der Freundschaft (Derrida 2002: 71), »ist nicht notwendigerweise. Vielleicht existiert es nicht, vielleicht gegenwärtigt und zeigt es sich niemals – und doch gibt es das, kann es das geben.«
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insbesondere auf seine ›marxistischen‹ Kritiker im Nachgang zur Diskussion von Marxʼ Gespenster, die »glauben, die Dinge ›reästhetisieren‹ zu können, die Begriffe (beispielsweise den des ›Gespensts‹) auf rhetorische Figuren oder meine Argumentationen auf literarische Forschungen und auf Stilwirkungen zurückführen zu können«, sagt Derrida darum in Marx & Sons (Derrida 2004a: 77f.), dass »[d]ie Anzahl, die Dauer und manchmal die Heftigkeit der Diskussionen, die diese Texte hervorrufen, […] den Eindruck entstehen [lassen], daß es im Grunde nicht um etwas Ästhetisches geht […]. Es geht darum, wie man schreibt und argumentiert, was in dieser Hinsicht die Normen sind (insbesondere die akademischen Normen); diese Frage ist alles andere als ›ästhetisch‹; sie ist besonders und vielleicht vor allem ›politisch‹.«21 In exemplarischer Weise haben das Gespenst als Figur oder der Begriff der Spektralität mithin einen genauen theoretischen und begrifflichen Stellenwert und sind verknüpft mit einem Ensemble anderer Begriffe, aus dem entnommen sie zwar ›ästhetisch‹ oder ›rhetorisch‹ anmuten, aber keineswegs auf eine solche Anmutung zu reduzieren sind. In nämlicher Weise gilt das für das oben erwähnte Feld anderer theoretischer Figuren, deren Sinn nur recht zu verstehen ist, erschließt man sie von dem von Derrida formulierten verallgemeinerten Begriff der Schrift her.
3.2.1 Ein generalisierter Begriff der Schrift Diesen spezifischen Schriftbegriff hat Derrida in wünschenswerter Klarheit in Signatur Ereignis Kontext präzisiert. Bevor Derrida drei zu unterscheidende, aber wiederum auch miteinander zusammenhängende Prädikate des gängigen, klassischen
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Wegen dieser ›Heftigkeit‹ habe ich oben bewusst von einem ›Affekt‹ gesprochen, denn der Begriff der Strategie setzt schon zuviel Überlegtheit in einem solchen Vorgehen voraus. Derrida haben – schon lange vor der Diskussionen um sein Buch über Marx – genau diese Wut, das Ressentiment und die Rabiatheit der Angriffe gegen ›die Dekonstruktion‹ immer wieder seltsam irritiert, so etwa am Ende der Fußnote zu Habermas in Limited Inc.: »Angst wovor eigentlich? Warum? Das ist die Frage. Was geht zur Zeit vor, vor allem rund um die ›Dekonstruktion‹, um diese Angst und diesen Dogmatismus zu erklären? Angesichts der geringsten Schwierigkeit, der geringsten Komplikation, der geringsten Transformation der Regeln beklagen die selbsternannten Sachwalter der Kommunikation das Fehlen der Regeln und die Konfusion.« (Derrida 2001b: 259 Fn. 11) Oder im Gespräch mit Peter Engelmann 1986: »Die Strategie, auf die Sie angespielt haben, erlaubt manchen Kritikern zu verfügen, dass ich unlesbar sei. Das heißt, wenn ich wirklich so unlesbar wäre, wie man sagt, sehe ich nicht ein, warum das so viel Verärgerung auslösen sollte, warum man so sehr darüber diskutieren sollte. Wenn man darüber redet, wenn es ungehalten macht, dann heißt das, dass man beginnt, schon etwas zu verstehen. Man versteht zunächst Folgendes: dass die künstlichen und historisch festgelegten Normen, die die eigene Rhetorik, die eigene Axiomatik der konventionellen Diskussion bestimmen, dass diese Normen von mir einer strengen Prüfung unterzogen werden. Daher die Verärgerung. Wenigstens verstehen sie das.« (Derrida 2009b: 141f.)
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Schriftbegriffs sondiert, erläutert er kurz sein Vorgehen. Schon an diesem argumentativen Punkt wird klar – und deswegen nehme ich diesen Text für alles Folgende als Ausgangspunkt –, dass der erweiterte Schriftbegriff von Derrida als ebenso triftig für jegliche Form von Erfahrung oder Wahrnehmung aufgefasst wird. Die Prädikate oder »Züge, die man im eng definierten klassischen Schriftbegriff erkennen kann« sind aus seiner Sicht nicht allein prinzipiell in dem Sinne »verallgemeinerbar«, als sie »nur für alle Ordnungen von ›Zeichen‹ [signes] und für alle Sprachen [langages] im allgemeinen gelten, sondern sogar über die semio-linguistische Kommunikation hinaus, für das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung, sogar Seinserfahrung nennen würde« (Derrida 2001b: 26f.). Welches sind nun diese Züge eines Schriftbegriffs, der sowohl die geschriebene als auch die gesprochene Sprache genauso wie die Wahrnehmung abdeckt? Jegliches geschriebene Zeichen muss de jure (i) die Situation oder den Kontext seiner Einschreibung überdauern können und in Abwesenheit von diesem Kontext lesbar sein, (ii) mit diesem originären Kontext brechen und in anderen Kontexten wiederholbar – also sowohl lesbar als auch wieder zu schreiben – sein, und es muss (iii) schon im Akt seines Geschriebenwerdens von sowohl der Intention, mit der es vom Autor belegt wird, als auch von dem Referenten, auf den es verweist, ablösbar sein. Diese drei Züge, für gewöhnlich allein geschriebenen Zeichen zugesprochen, sind nun für Derrida für das Feld dessen, was er ›Grapheme‹, ›Marken‹ oder ›iterable Elemente‹ nennt, insgesamt gültig. Er fragt daher im Anschluss an die Klärung dieser Züge (ebd.: 28): Bleiben diese drei Prädikate mit dem ganzen System, das zu ihnen gehört, der ›schriftlichen‹ Kommunikation, im engen Wortsinn, vorbehalten, wie man oft annimmt? Findet man sie nicht in jeder Sprache [langage] wieder, zum Beispiel in der gesprochenen Sprache [langage] und letztlich in der Totalität der ›Erfahrung‹, sofern sie nicht von diesem Feld des Zeichens [marque] getrennt ist, das heißt vom Raster der Löschung und der Differenz, von Einheiten der Iterabilität, Einheiten, die von ihrem internen oder externen Kontext und auch von sich selbst ablösbar sind, da die Iterabilität selbst, die ihre Identität konstituiert, ihnen niemals erlaubt, gegenüber sich selbst eine Identitätseinheit zu sein? Jegliches Element in diesem Feld hat mithin eine wiedererkennbare, identifizierbare, wenn man so will, lesbare oder kodierte Form; es ist einem »iterierbaren Muster« (ebd.: 40) konform. Das versieht es mit der Möglichkeit, sich in einer von Rechts wegen nicht begrenzten, unendlichen Zahl von Kontexten zu wiederholen, wie immer stark auch die empirischen, physischen Differenzen, also im Falle der geschriebenen oder gesprochenen Sprache in seiner graphischen oder lautlichen Gestalt sein mögen. Zeichen begegnen uns in graphischer, optischer oder in lautlicher, akustischer je verschiedener Form: per Hand oder am Computer geschrieben, mittels Neonröhren hergestellt, in Zeitungen gedruckt, auf Straßenschildern
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zu beachten, undeutlich hingekritzelt, besoffen gelallt, lieblich gehaucht, unwirsch geschrien oder skrupulös artikuliert, aus Lautsprechern, dem Fernseher oder dem Handy kommend. Trotz dieser jedesmaligen Differenzen, trotz der Singularität des Kontextes und des Augenblicks, in denen wir diese Zeichen wahrnehmen, müssen diese – als Zeichen – durch ihre kodierte Form hindurch wiedererkennbar sein. Ohne Zweifel gibt es besondere Fälle wie zunächst unleserliche Handschriften – man denke beispielsweise an die zum ›Bleistiftgebiet‹-Komplex gehörigen Manuskripte Robert Walsers (Walser 1985ff.) – oder die hervorgestoßenen Laute eines Kindes, die wir noch nicht oder nur durch besondere Übung mit einer kodierten, identifizierbaren Form versehen können. Als Ausnahmephänomene führen diese aber lediglich vor Augen, dass es zum Wesen von sinnhaften Zeichen gehört, einem wiederholbaren, generalisierbaren Muster konform zu sein. Das verweist uns schon darauf, dass sich in diesem Augenblick – des Lesens, des Hörens – eine iterable Form vom konkreten, materiellen und singulären Akt oder Vollzug der Wahrnehmung zum einen und der ebenso konkreten, materiellen und singulären Gestaltung des Zeichens zum anderen abzulösen beginnt. Ein reidentifizierbares, wiederholbares Zeichen und seine materielle, empirische Instantiierung treten auseinander; dieser Augenblick oder diese Gegenwart ist daher strukturell geteilt oder aufgespreizt. Wir schreiben etwa das Wort ›Dekonstruktion‹, und im Akt des Schreibens treten die materielle Gestalt der Buchstaben und der reiterierbare Sinn des Wortes auseinander: wir schreiben das Wort, und im selben Moment erweist es sich als, durch uns, durch andere, lesbar; und Selbiges – diese Art Teilung der Gegenwart – gilt, wenn wir Worte aussprechen oder etwas wahrnehmen. Weil Iterabilität auch Kommunizierbarkeit und Imitierbarkeit bedeutet, und weil Sozialität, auf einem sehr basalen Niveau, solche Formen der Teilung, der Generalisierung und der Sozialisierung des Sinns impliziert, gibt es in diesem Sinne kein einsames Schreiben, Sprechen und, in gewisser Weise, Wahrnehmen. Denn »[s]chon in der Struktur des Sprechens ist impliziert, daß der Sprechende sich hört, sich versteht: daß er zugleich die sinnliche Form der Phoneme wahrnimmt und seine eigene Ausdrucksintention versteht.« (Derrida 2003f: 106) Als Schreiber ist man sein eigener Leser, als Sprechender sein eigener Hörer, als Wahrnehmender derjenige, der sich der Möglichkeit nach solcher Wahrnehmungen erinnern kann; das Intervall zwischen zwei unterschiedenen Gegenwarten meines Lebens, zwischen mir und mir, figuriert darum als Analogon zum Intervall zwischen zwei Subjekten, zwischen dir und mir. Denn »[n]och bevor es zwischen mehreren Individuen erkannt und mitgeteilt wird, wird das ›Selbe‹ im Innern des individuellen Bewußtseins erkannt und mitgeteilt«22 ; »[n]och bevor der Sinn Idealität eines identischen 22
Ich gebe kurz den Kontext dieser Passage (Derrida 1987: 113f.) wieder, weil ich glaube, dass diese Überlegung, so isoliert, nicht auf den ersten Blick verständlich und plausibel sein mag: »Wenn die Möglichkeit der Sprache dem urstiftenden Geometer bereits gegeben ist, genügt
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Gegenstandes für andere Subjekte ist, ist er es für andere Augenblicke desselben Subjekts«, weshalb aus der Perspektive Derridas »in gewisser Weise die Intersubjektivität zuerst die nicht-empirische Beziehung zwischen mir und mir, zwischen meiner aktuellen Gegenwart und anderen Gegenwarten als solchen« (Derrida 1987: 113f.) ist. Derrida hat nun diese, letztlich in den Begriff der Iterabilität mündenden, Gedanken durch zwei Beispiele zu illustrieren unternommen, die ich hier auch deshalb kurz aufgreifen will, weil ich es nicht bei einer abstrakten Analyse von Derridas Überlegungen belassen, sondern vielmehr zeigen will, dass er selbst sie an recht prosaischen, alltäglichen Phänomenen vorgeführt hat. Das (a) eine findet sich sowohl in Signatur Ereignis Kontext als auch in Die Stimme und das Phänomen. Es kann uns dabei helfen, das eben Skizzierte nochmals von anderen mit ihm verknüpften Aspekten und Begriffen – wie Tod, Abwesenheit und Anonymisierbarkeit von Sender und Empfänger, Idealität des Sinns – zu erhellen. Das (b) andere ist ein von Derrida in seiner Antwort auf John Searle aufgegriffenes, zitiertes Beispiel, auf das ich hier auch deswegen eingehe, weil es implizit in einem Zusammenhang mit den mit der Iterabilität von Graphemen verbundenen Aspekten des Gedächtnisses, des Erbes und des Archivs, die für Derrida stets eine zentrale Rolle gespielt haben, steht. (a) In Die Stimme und das Phänomen (Derrida 2003f: 124f.) formuliert Derrida nun seine Überlegungen ausgehend von einem Beispiel wie folgt: Betrachten wir den Extremfall einer ›Wahrnehmungsaussage‹. […] Ich sage ›Ich sehe jetzt durch das Fenster jene Person‹ zu dem Zeitpunkt, da ich sie wirklich sehe. In meiner Operation ist strukturell impliziert, daß der Inhalt dieses Ausdrucks ideal ist und daß seine Einheit durch das Fehlen einer Wahrnehmung hic et nunc nicht angetastet wird. Derjenige, welcher, neben mir oder in einem unendlichen Abstand in Zeit und Raum, diesen Satz hört (entend), muß de jure verstehen, was ich zu sagen beabsichtige (entends). Wenn diese Möglichkeit die Möglichkeit der Rede ist, dann muß sie eben auch den Akt desjenigen strukturieren, der, während er wahrnimmt, spricht. Meine Nicht-Wahrnehmung, meine Nicht-Anschauung, meine Abwesenheit hic et nunc werden genau dadurch gesagt, daß ich sage, durch das, was ich sage, und weil ich sage. […] Die Abwesenheit der Anschauung – und damit auch des Subjekts der Anschauung – wird durch die Rede nicht nur geduldet, es, daß dieser in sich selbst Identität und ideale Dauerhaftigkeit eines Gegenstandes erzeuge, um ihn mitteilen zu können. Noch bevor es zwischen mehreren Individuen erkannt und mitgeteilt wird, wird das ›Selbe‹ im Innern des individuellen Bewußtseins erkannt und mitgeteilt: nach lebendiger und vorübergehender Evidenz, nach Abklingen einer endlichen und passiven Retention kann der Sinn in einer Wiedererinnerung aktiv als der ›selbe‹ reproduziert werden; er ist nicht dem Nichts anheimgegeben. In eben dieser Wiedererlangung der Identität bekundet sich – in einem egologischen Subjekt – die Idealität als solche.«
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sondern von der Struktur der Bedeutung im allgemeinen gefordert, sofern man sie in sich selbst betrachtet. Sie wird radikal gefordert: Die vollständige Abwesenheit des Subjekts und des Objekts einer Aussage – der Tod des Schreibers oder/und das Verschwinden der Gegenstände, die er hat beschreiben können – hindern einen Text nicht daran zu ›bedeuten‹. Diese Möglichkeit läßt im Gegenteil das Bedeuten als solches entstehen, gibt es zu verstehen und zu lesen. […] Inwiefern ist die Schrift – der geläufige Name für Zeichen, die trotz der vollständigen Abwesenheit des Subjekts durch seinen Tod und über seinen Tod hinaus funktionieren – bereits in der Bewegung der Bedeutung im allgemeinen, insbesondere des sogenannten ›lebendigen‹ Sprechens, impliziert? […] Inwiefern sind schließlich der Tod, die Idealisierung, die Wiederholung und die Bedeutung in ihrer reinen Möglichkeit bloß von einer einzigen und selbigen Öffnung her denkbar? Die Inexistenz oder Abwesenheit des (i) Referenten oder Objekts, (ii) des Signifikats oder der Intention genauso wie (iii) des Senders und Empfängers ist mithin durch die Iterabilität des Zeichens potentialiter impliziert, denn es kann fortfahren, identifizierbar und kommunizierbar zu sein, selbst wenn das Objekt nicht mehr besteht, die Intention des Senders nicht mehr rekonstruierbar oder sowohl der Sender als auch ein Kreis von Empfängern tot ist. Ich sage bewußt: dem Vermögen oder der Möglichkeit nach, weil sich Derrida stets bemüht zeigt, solcherlei Möglichkeitsbedingungen unbeschadet des faktischen, empirischen Gegebenseins etwa der Abwesenheit des Empfängers oder des Verlöschens der Intention eines Autors zu formulieren. Daher ist es zunächst einmal unerheblich, nicht belangvoll, ob sich der Empfänger einer solchen Nachricht in der Nähe oder in einem unendlichen Abstand zum Sender befindet: der Möglichkeit nach gibt es eine unendlich ausweitbare und generalisierbare Kommunizierbarkeit der Nachricht, und das je verschiedene Überdauern ihres materiellen Trägermediums verschlägt in diesem Zusammenhang nichts, denn auch der Bericht einer Wahrnehmung, der im selben Moment verklingt, der wie der Hauch einer Stimme erlischt, wäre de jure unendlich kommunizierbar.23 Die Rede, hier und anderswo häufiger bei Derrida, vom Tod 23
Diese Differenz zwischen empirischer Eventualität und struktureller Möglichkeitsbedingung präzisiert Derrida verschiedentlich gegenüber Searle. Dass (i) ein völlig einsames Individuum einen Satz äußert oder schreibt oder dass (ii) ein Satz anmutet, als sei er völlig singulär und ein Einzelfall ohne jegliche Verwandte, tut der strukturellen Möglichkeit, dass er von anderen Individuen, in anderen Kontexten und mit anderem Sinn belegt verwendet wird, keinen Abbruch. Deswegen spricht Derrida von Iterabilität, nicht von Iteration, von strukturell gegebener Wiederholbarkeit, nicht von faktischer, empirischer Wiederholung. Mithin ist »die Iterabilität, die nicht Iteration ist, sogar in einem Zeichen [marque] erkennbar, das tatsächlich nur ein einziges Mal vorgekommen zu sein scheint. Ich sage bewußt scheint, denn dieses einzige Mal ist durch seine Struktur der Wiederholbarkeit von vornherein in sich selbst geteilt oder vervielfacht. Es ist tatsächlich sogleich [aussi sec] in dem einzigen Mal; und gerade da verwischt die Graphik der Iterabilität die klassischen Gegenüberstellungen von Tatsache und
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des Senders oder des Empfängers ist daher auch von gar keiner Dramatik oder rhetorischem, effekthascherischem Wert. Dass »[j]edes Graphem […] seinem Wesen nach testamentarisch« ist, wie es eine der bekannteren Stellen der Grammatologie (Derrida 1983: 120) formuliert, verweist uns einfach auf diese strukturelle Möglichkeitsbedingung: de jure, dem Wesen nach ist ein iterables Zeichen, ein Graphem, auch im Falle des Todes als der völligen, unumkehrbaren Abwesenheit des Senders wiederholbar und übermittelbar. »Wenn ich aus dem Fenster schaue und sage: ›Der Himmel ist blau‹«, so greift Derrida dieses Beispiel in Signatur Ereignis Kontext (Derrida 2001b: 29) wieder auf, »wird diese Aussage verständlich (sagen wir vorläufig, wenn Sie so wollen, kommunizierbar) sein, auch wenn der Gesprächspartner den Himmel nicht sehen kann; und auch wenn ich ihn selbst nicht sehe, wenn ich ihn schlecht sehe, wenn ich mich täusche oder wenn ich meinen Gesprächspartner täuschen will.« Dem Empfänger der Aussage gleichwie dem Sender muss also der Referent, das Objekt, auf das die Aussage referiert, nicht gegenwärtig sein, damit die Aussage kommunizierbar ist. Das bedeutet jedoch nicht sogleich, dass ihr Sinn und die Intention, mit welcher der Sender sie verbindet, verständlich ist: es gibt die Möglichkeit, jemanden zu täuschen, Ausdrücke ironisch zu gebrauchen oder mittels einer Aussage auf etwas anzuspielen, das in ihrem allgemeinen Sinn nicht gegenwärtig ist. Derlei kommunikative Finten setzen gerade voraus, dass intendierter Sinngehalt und kommunizierter Sinn, das Gemeinte und das Gesagte nicht zur Deckung kommen. Müsste man immer meinen, was man sagt, und wüsste man tatsächlich immer, was man sagt, gäbe es weder die Möglichkeit des Missverstehens noch die Möglichkeit, dass ein anderer Bedeutungen in dem Gesagten freizulegen vermag, die dem Sender nicht vor Augen standen. »[E]ine gewisse Iterabilität, hier eine gewisse Lesbarkeit über das Verschwinden des vermutlichen Autors hinaus, das Erkennen eines gewissen semantischen und syntaktischen Codes« gewährleisten so zwar eine generelle Kommunizierbarkeit, die Übermittlung eines gewissen Sinns, nicht jedoch »ein volles Verstehen der meaningfulness […], das heißt der vollständigen und ursprünglichen Intentionalität seines Sagen-Wollens« (ebd.: 104). Exemplarisch lässt sich dies wiederum an einem in den unveröffentlichen Schriften Nietzsches stehenden Satz: ›Ich habe meinen Regenschirm vergessen‹ verdeutlichen, den Derrida kurz darauf (ebd.: 104f.) aufgreift und an anderer Stelle (Derrida 2003a: 212ff.) mit umfänglicheren Überlegungen begleitet. Wir können in diesem Falle, so wie uns der Satz entgegentritt: ohne weiteren Kontext, nicht sicher wissen, welchen Sinn Nietzsche mit dieser Aussage verbunden hat; die Aussage bleibt unverständlich, ohne unkommunizierbar zu sein. Es gibt mithin eine gewisse »Schicht der Lesbarkeit« (ebd.: 215), denn jedes der Wörter des Satzes ist für sich genommen lesbar Recht, von Tatsache und Möglichem (oder Virtuellem), von Notwendigkeit und Möglichkeit.« (Derrida 2001b: 82f.)
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und trägt einen mehr oder weniger generalisierten Sinn. Es mag aber immer sein, dass Nietzsche damit gar nichts sagen wollte, oder dass dieser Satz den Sinn eines Beispiels hatte, dass es ein Zitat war oder ein Teil eines geheimen Codes, innerhalb dessen unterhalb des allgemeinen Sinns eine kryptierte, nur für einen bestimmten Adressaten entzifferbare Botschaft versteckt wäre usw.: »[t]ausend Möglichkeiten werden immer offen bleiben, auch wenn man in diesem Satz etwas Sinnvolles versteht« (Derrida 2001b: 104). Und diese Verstelltheit und Unzugänglichkeit der Intention des Autors oder des Senders gilt für diesen Satz gleichermaßen wie für die obige ›Wahrnehmungsaussage‹; sie gründet mithin nicht in empirischen Umständen – wie etwa der historischen Distanz zu Nietzsches Lebzeiten –, sondern in der generellen Struktur iterabler Marken. (b) Das zweite Beispiel entlehnt Derrida Searles Reply auf Signatur Ereignis Kontext: das Erstellen einer shopping-list, eines Einkaufszettels. Daran lassen sich einige Aspekte beleuchten, die mitunter vorstehend schon skizziert worden sind, vor allem deutet es jedoch auf den Derrida stets interessierenden Zusammenhang von Gedächtnis und Wiederholbarkeit. Er (ebd.: 83f.) schreibt: Im selben Augenblick, in dem ›ich‹ eine ›shopping list‹ mache, weiß ich […], daß sie eine solche nur sein wird, wenn sie meine Abwesenheit impliziert, wenn sie sich schon von mir ablöst, um jenseits meines ›anwesenden‹ Aktes zu funktionieren, und wenn sie zu einem anderen Augenblick brauchbar ist, in meiner Abwesenheit, in Abwesenheit des jetzt-anwesenden-Ich […]. So spitz er [der Augenblick, DJ] auch ist, teilt er sich schon, wie das stigmè jedes Zeichens [marque]. Der Sender und der Empfänger der shopping list sind nicht derselbe: selbst wenn sie denselben Namen tragen und sich auf die Identität des Ich stützen können. Übrigens, wenn diese Selbstidentität oder Selbst-Präsenz so gesichert wäre, würde selbst die Idee einer shopping-list ziemlich unnötig sein oder einem eigenartigen Zwang entspringen. Werde ich denn an eine shopping list denken, wenn die Präsenz des Empfängers für den Sender so gesichert wäre? Warum gerade dieses Beispiel der Gedächtnishilfen oder Merkhilfen? Warum wurde nicht irgendein anderes Beispiel genommen? Es wäre ebenso stichhaltig oder ebenso wenig stichhaltig gewesen; selbst in dem Grenzfall, wenn ich schreibe, um mich in dem Augenblick (wieder) lesen zu können: Dieser Augenblick wird konstituiert, das heißt geteilt eben durch die Iterabilität dessen, das sich darin ereignet. Selbst wenn der Sender und der Empfänger dasselbe Subjekt wären, bezieht sich jeder von ihnen auf ein Zeichen [marque], bei dem sie spüren, daß es dafür geschaffen ist, ohne sie, den Augenblick seiner Produktion oder seiner Rezeption auszukommen; und daß das keine negative Grenze ist, sondern die positive Möglichkeitsbedingung des Zeichens [marque], die Bedingung seines Funktionierens. Ohne die es keine shopping list gäbe: diese wäre nicht möglich.
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Wir hatten im Zuge der Lektüre des ersten Beispiels schon bemerken können, dass die Wiederholbarkeit von Graphemen und ihr Vermögen, einen Kontext zu transzendieren, eine Form multipler Abwesenheit implizieren: der Referent mag vernichtet, der Sender tot und die Intention hinter der Mitteilung unbefragbar geworden sein. Ein Einkaufszettel, so dieses Beispiel nun, stellvertretend für andere alltägliche Notate, führt vor allem vor Augen, dass iterable Grapheme die Funktion haben, sinnhafte Konsistenzen zwischen verschiedenen Zeitpunkten zu sichern. Gerade weil man vergisst, was in einem vorausliegenden Moment noch gegenwärtig war und mit Aufmerksamkeit begleitet wurde, bedarf es eines materialisierten, durch die Zeit hindurch mehr oder weniger gleichbleibenden Korrelats, um eine gewisse Identität sicherzustellen und eine Koordinierung alltäglicher Abläufe gewährleisten zu können. Dabei mag es sein, dass ich mir der Intention und der Gedanken, die ich während der Niederschrift hatte, noch erinnerlich bin. Keinesfalls – und hier sehen wir, dass Derrida von einer strukturellen Dimension, unbeschadet der empirischen, faktischen Gegebenheiten, handelt – ist dies aber notwendig und unumgänglich, um den Einkaufszettel lesen zu können. Schließlich, auch das kam gerade eben schon zur Sprache, kann ich den Einkaufszettel ebenso einer anderen Person aushändigen, damit sie, stellvertretend für mich, einkaufen geht, ohne jemals wissen zu können, welche gedanklichen Regungen ich beim Notieren hatte.
3.2.2 Iterabilität: Sozialität, Anonymität Iterabilität bedeutet, so möchte ich diesen Umstand terminologisch präzisieren, eo ipso und der Möglichkeit nach: (i) Sozialität und (ii) Anonymität. (i) Ich kann, wie gesagt, Notizen anderen Personen aushändigen, die sie als Notizen identifizieren und lesen werden können, wenn diese einem iterablen Muster oder einem generellen Code konform sind. Dieser Kreis von Personen ist aber strukturell nicht begrenzt; die Adressatenschaft weder klar umschrieben noch überhaupt durch den Sender kontrollierbar. Derrida hat deshalb häufig über die Bedeutung und die Implikationen, sich an jemanden zu wenden (s’adresser), also Worte zu äußern, Texte zu schreiben, aber auch andere iterable Grapheme zu emittieren, nachgedacht. »Das typische Profil des potentiellen Lesers zeigt sich«, so Derrida in einem Gespräch, zwar »anhand von Beispielen existierender Leser« (Derrida 1998e: 354). Aber die »Gemeinschaft« der Leser »steht immer aus, sie hat eine wesentliche Beziehung zur Singularität des Ereignisses, zu dem, was bevorsteht« (ebd.: 355). Außer in relativ sicher zu überblickenden Situationen – etwa wenn man seine Dissertation den Gutachterinnen übergibt –, ist die Menge der Adressaten unklar, oft sehr heterogen, potentiell unbegrenzbar. Überdies erschließt sie sich nur durch projektive, imaginierende, unterstellende Akte: ausgehend von exemplarischen bekannten Adressaten tut sich die Gruppe anderer Leser auf; man schreibt auf einen lediglich angenommenen Kreis von Personen
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hin und richtet sich eventuell in seiner Textgestaltung – wie man formuliert, wie häufig man Semikola benutzt etc. – an den unterstellten Normen dieser Leserschaft aus. Diese Gemeinschaft hat aber nicht allein diesen projektiven Charakter, sondern sie ›steht immer aus‹, wie Derrida sagt, und dies hat mit der Singularität des Ereignisses der Äußerung zu tun – wieso das?, mag man sich fragen. Denken wir nochmal an das oben erwähnte Beispiel aus Nietzsches Werk: der insulare Satz über den Regenschirm. Er war auf vielfältige, multiple Weise deutbar. Die eine Gruppe von Lesern mag ihn mithin so, die andere so interpretieren. Dies hat mit dem, bei Derrida besonders ausgezeichneten Status des Ereignisses zu tun, den wir nachher noch detaillieren werden; soviel können wir hier aber schon sagen: in seiner Singularität hat dieser nietzschesche, als Ereignis begreifbare Satz ein unausschöpfbares sinnhaftes Potential; er trägt eine Potentialität von Lektüren und Interpretationen in Reserve – und dies gerade wegen des seiner Insularität geschuldeten Mangels an kontextueller Bestimmung. Wenn also, so Derrida in diesem Gespräch weiter, eine Gemeinschaft »glaubt, den Text verstanden, aufgenommen, interpretiert und bewahrt zu haben, entweicht etwas von ihm oder widersteht ihr etwas, etwas ganz anderes in ihm, das eine andere Gemeinschaft erfordert, das sich niemals im Gedächtnis einer gegenwärtigen Gesellschaft völlig verinnerlichen läßt.« (Ebd.: 359) Ein Text – oder eben der erwähnte Satz, oder gar ein mit besonderer Bedeutung belegter Einkaufszettel – kann so zwar einen sozialen Kreis von Adressaten stiften, das Potential seines Sinns wird dadurch jedoch nicht ausgeschöpft: das in der Vergangenheit liegende Ereignis steht darum wesensmäßig noch bevor, seine Bedeutung bleibt unentschieden, und so fährt es potentialiter fort, neue Gemeinschaften von Adressaten zu stiften. Die Vergangenheit – diese komplizierte Form von Temporalität charakterisiert das Ereignis für Derrida in besonderer Weise – harrt so noch der Deutung; es wird von der Zukunft her geschrieben, es bleibt ›im Kommen‹. (ii) Während dies nun die mit dem Merkmal der Iterabilität verquickte Dimension der Sozialität ist, müssen wir uns noch der Eigenschaft von iterablen Elementen, anonym werden zu können, zuwenden. Man kann auch diese Eigentümlichkeit im Grunde schon im besprochenen Satz Nietzsches ausmachen: wäre dieser nicht im Korpus von Nietzsches Schriften auf uns gekommen, so könnte er schlicht ein als Beispiel herangezogener Satz der Sprache sein, der niemandem ›gehört‹ und an keinen Autor gebunden ist. Schließlich begegnen wir im Internet, aber auch in Sagen, Märchen, Volksliedern und gewissen altehrwürdigen Schriften Texten, die keinen Autornamen tragen und die wir überdies auf keinen Autor mehr zurückzuführen vermögen. Derrida hat dieses Merkmal iterabler Marken nun nicht so extensiv wie andere Züge bedacht; aber schon in seinem frühen Text Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie können wir den grundlegenden Gedanken erkennen. »Ohne die endgültige Objektivierung, die die Schrift erlaubt, bliebe jede Rede in der faktischen und aktuellen Intentionalität eines sprechenden Sub-
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jekts oder einer Sprechergemeinschaft gefangen«, schreibt Derrida (Derrida 1987: 117). So »erschafft die Schrift eine Art autonomes transzendentales Feld, aus dem jedes aktuelle Subjekt verschwinden kann. […] Das Feld der Schrift hat die Eigentümlichkeit, seinem Sinne nach auf jede aktuelle Lektüre überhaupt verzichten zu können« (ebd.: 117f.). Paradigmatisch ist dafür das Feld mathematischer Notationen und Symbole, aber Derrida weitet dieser Charakteristikum auf das Feld der Schrift im allgemeinen Sinne aus. Jedwedes Graphem impliziert Wiederholbarkeit und Lesbarkeit in anderen Kontexten, wie wir gesehen hatten. Das bedeutet aber zugleich, dass es sich von jeglichem Leser und jeglicher Gemeinschaft zu entbinden vermag und in diesem Sinne autonom oder anonym ist. Die »Schrift sichert die absolute Überlieferungsfähigkeit des Gegenstandes, seine absolute ideale Objektivität […], indem sie den Sinn von seiner aktuellen Evidenz für ein wirkliches Subjekt und von seiner aktuellen Zirkulation innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft emanzipiert.« (Ebd.: 116) Ein gestaltloses ›Man‹, so könnte man dies in einer heideggerianisierenden Diktion beschreiben, kann also den Satz Nietzsches lesen und schreiben, ihn in anderen Kontexten und zu anderen Zeiten wiederholen.24 Sozialität und Anonymität iterabler Marken hängen, um diese Überlegungen resümierend abzuschließen, in gewisser Weise zusammen.25 Häufig und zurecht, meine ich, hat man soziale Institutionen, Normen und Sitten, Gebräuche und Rituale, Mentalitätsstrukturen, also all diejenigen Phänomene, die für unterschiedliche Theorietraditionen mitsammen das Feld des Sozialen bilden, als Feld sozialer Tatsachen beschrieben, die gegenüber dem einzelnen Individuum unabhängig und auf kein einzelnes von ihnen zurückführbar sind. Der Begriff der Iterabilität
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Nüchterner hat dies Heinz Schlaffer einmal in seinem Vorwort zu dem für die Erforschung der Schrift wichtigen Band Entstehung und Folgen der Schriftkultur ausgedrückt: »Während mündliche Überlieferung nur bestehen kann, wenn sie unablässig und lückenlos weitergegeben wird, besitzt der schriftlich fixierte Text, sobald er – auch ungelesen – archiviert wird, die Chance, in der Zukunft, selbst nach einer langen Periode der Verschüttung, zu wirken. Insofern ist er autonom.« (Schlaffer 1986: 20) In einem Passus aus Lyotard und wir (Derrida 2007a: 268), um ein Beispiel zu geben, hat Derrida diese beiden eben diskutierten Aspekte einmal in besonderer Nähe zueinander formuliert: »Ein Satz kann lesbar sein, er muß es werden können, bis zu einem bestimmten Punkt, ohne daß der Leser oder die Leserin oder irgendein Ort der Lektüre die letzte Instanz seiner Bestimmung ist. […] Ich weiß immer noch nicht, heute nicht mehr als damals, wie ich diesen Satz lesen soll, von dem ich mich doch nicht abwenden kann. […] Er läßt mich nicht los, gerade da, wo er mich als Empfänger oder als Erben nicht braucht, gerade da, wo er gemacht ist, um mich schneller entbehren zu können, als er durch mich hindurchgegangen ist.« Der Satz Lyotards, von dem Derrida spricht – ›Es wird keine Trauer geben‹ –, ist mithin (i) für verschiedenste Adressaten lesbar, ohne an einen bestimmten Kreis gebunden zu sein, er (ii) harrt noch der Deutung, er drängt sich in seiner Mysteriosität der Interpretation auf, und (iii) er ist in dem Sinne autonom, als er an keinen einzelnen Leser gebunden ist oder keinen dieser Leser ›braucht‹.
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lenkt unser Augenmerk demgegenüber lediglich auf ein dabei implizit mitgeführtes, wenngleich selten systematisches expliziertes Merkmal – eben die Wiederholbarkeit, die man als diese Phänomene, sollen sie sozial sein, notwendig kennzeichnend annehmen muss.26
3.2.3 Gedächtnis: Selektivität, Pluralisierung Ich hatte weiter oben schon gesagt, dass der längere Passus, der von der shoppinglist handelt, uns überdies auf den Zusammenhang von Iterabilität und Gedächtnis aufmerksam machen kann. Dabei geht es nicht um eine Unterscheidung eines personalen, individuellen und eines kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses. Iterabilität und Gedächtnis werden von Derrida vielmehr deswegen in ein Verhältnis gesetzt, weil das Vermögen iterabler Marken, sich von Kontexten zu lösen und in anderen wiederholt zu werden, triftig auch für Phänomene, die man gemeinhin mit Gedächtnis und Erinnerung in Zusammenhang bringt, erscheint. Damit sind recht allgemeine Fragen und Begriffe angesprochen wie die Bildung und Fortschreibung von Traditionen, die Eingrenzung von Hinterlassenschaften, die Integration und Koordination zeitlicher Horizonte, die Stabilisierung und der Wandel von kulturellen und sozialen Identitäten usw. Derrida hat sich insbesondere für die Begriffe der Spur, des Zeugnisses, des Überlebens, des Archivs, des Erbes, der Trauer, des Datums und der restance oder des Bleibens interessiert, denen sich wiederum zahlreiche Texte aus seiner Hand zuordnen lassen, die sich fokussierter diesen Begriffen und Themen verschreiben: Mémoires, Marxʼ Gespenster, Dem Archiv verschrieben, einzelne Texte in Maschinen Papier und Schibboleth. Diese Begriffe sind jedenfalls mit einem terminologischen Gepräge versehen und kehren in seinen Texten – nicht allein in den genannten – häufig wieder. Irrig wäre es allerdings, sie abgesetzt vom Begriff der Iterabilität zu erläutern, denn – wie Derrida auch stellenweise explizit verdeutlicht – sie heben vielmehr unterschiedliche Dimensionen und Konsequenzen, die mit dem Merkmal der Iterabilität verknüpft sind, hervor.27 Wir sind bisher schon 26
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Darum läge es nahe, hier Ähnlichkeiten sowie Differenzen zwischen Derridas Ausführungen zur Iterabilität und beispielsweise Gabriel Tardes Überlegungen zur Imitation zu sondieren, denn dieser räumt Nachahmung und Wiederholung im Hinblick auf die Konstitution des Sozialen einen zentralen Platz ein. Vgl. dazu etwa Moebius 2009. Um für diese innertheoretische Verflochtenheit all dieser Begriffe, die ich nicht in extenso und für jeden einzelnen erweisen kann, ein Beispiel zu geben: Im Gespräch Spur und Archiv, Bild und Kunst gibt Derrida eine Bestimmung des Spurbegriffs, an der ersichtlich wird, dass er sich nicht losgelöst von den anderen zureichend verstehen lässt. Die Spur, die Ablösung von einem Kontext oder Ursprung, das Archiv und die restance – derlei Begriffe erhellen sich reziprok. »[D]ie Spur – das ist die Definition ihrer Struktur – ist etwas«, sagt Derrida, »das von einem Ursprung ausgeht, aber das sich sogleich vom Ursprung trennt und das in dem Maße als Spur bleibt, wie es vom Ziehen der Spur, vom spurziehenden Ursprung getrennt ist. Da gibt es Spur und gibt es den Anfang eines Archivs. Nicht jede Spur ist ein Archiv, aber ohne
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eine ganze Reihe solcher sich aus dem Iterabilitätsbegriff entspinnender theoretischer Folgerungen abgeschritten, und so sind einige dieser gedächtnisbezogenen Konsequenzen bereits angeklungen. Ich möchte hier nun noch auf zwei gedächtnisbezogene Gesichtspunkte eingehen, die ich (i) Selektivität und (ii) Pluralisierung nenne. Man muss zunächst sehen, dass dies Derrida schon in seiner Jugend, vor seinem akademischen Werdegang, umtrieb. Im Zuge seiner jugendlichen Lektüre von Sartre, Gide, Nietzsche und Rousseau stellte er sich Fragen, die er 1989 in dem Gespräch Diese seltsame Institution genannt Literatur so formuliert: »Was ›bleibt‹, wenn das Begehren gerade etwas eingeschrieben hat, ›das bleibt‹, wie ein Objekt, das anderen zur Verfügung steht, eines, das sich wiederholen lässt? Was heißt ›bleiben‹? Diese Frage nahm später elaboriertere Formen an, aber immer schon, seit Beginn meiner Jugend, […] war ich wirklich erstaunt über die Möglichkeit, Dinge dem Papier anzuvertrauen.« (Derrida 2015: 8) Dies war ein eminenter Gedanke seines jugendlichen Ichs – der »Traum meiner Jugend, eine Spur von all den Stimmen zu bewahren«, das »Begehren, die eine oder andere Erinnerung einzuschreiben.« (Ebd.: 6) Etwas einschreiben, um es zu bewahren und es für andere Personen lesbar werden zu lassen; etwas auf das Trägermedium Papier notieren, um einen Abdruck davon zu archivieren, der sich in anderen Kontexten wiederholen lässt – man kann Derrida so verstehen, dass solcherlei Überlegungen damals schon in nuce vorhanden waren und später lediglich eine stärker terminologisch kontrollierte Fassung erhielten. Wenn er überdies bekundet, damals schon gefühlt zu haben, »dass es eine unmögliche und endlose Aufgabe sein würde« (ebd.), dass das »›Alles-Versammeln-Wollen‹« (ebd.), das »Nichts-Aufgeben-Wollen[]« (ebd.: 7) lediglich der Anreiz zu einem unerfüllt bleibenden Begehren und zu einer »enzyklopädische[n] Versuchung« (ebd.) sei, kann man darin schon die Paradoxie oder Aporie des Gedächtnisses angelegt sehen. Diese Aporie liegt darin, dass die Mittel,
Spur gibt es kein Archiv. Also, die Spur, das geht immer von mir weg und das trennt sich. In Texten, über die ich hier jetzt nicht sprechen kann, versuche ich, die Semantik des Wortes ›reste‹ [›bleibt‹/›Rest‹] der Ontologie zu entziehen Die Spur bleibt, aber das bedeutet nicht, dass sie ist, substantiell, oder dass sie wesentlich ist; aber es ist die Frage der Bleibendheit [restance], die mich interessiert, Bleibendheit der Spur jenseits aller Ontologie.« (Derrida 2017: 86) Auch in diesem Gespräch macht er wieder deutlich, von welcher Generalität dieser Begriff der Spur ist: er erstreckt sich auf die menschliche Wahrnehmung, und er übergreift die Differenz des Menschlichen und des Tierischen: »Der Spurbegriff ist so allgemein, dass ich in Wahrheit für ihn keine Grenze sehe. Der Spurbegriff, ich sage das mit einem Wort, weil es lange Ausarbeiten verlangen würde, hat keine Grenze, er ist koextensiv mit der Erfahrung des Lebendigen im Allgemeinen. Nicht nur des menschlichen Lebendigen, sondern des Lebendigen im Allgemeinen. Die Tiere ziehen Spuren, alles Lebendige zieht Spuren.« (Ebd.: 93)
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etwas zu bewahren, dasjenige, was sie in seiner Singularität zu bewahren versuchen, auslöschen (vgl. luzide Khurana 2007). Singuläre, an einen konkreten Augenblick gebundene Geschehnisse lassen sich – in einem psychischen Gedächtnis, mittels Zeichen auf Papier, aufgezeichnet auf Video oder photographisch – nur durch Medien bewahren, die seinen Abdruck oder seine Aufzeichnung in anderen Kontexten wiederholbar werden lassen. So gibt es für Derrida zwar den perennierenden »Wunsch, dieses Einzigartige als solches zu bewahren«, doch »das, was es als das, was es ist, zu bewahren erlaubt, löscht es sofort aus.« (Derrida 1998f: 383) »Über die Schrift« nachzudenken hieß daher für Derrida stets ebenso »über das Auslöschen zu meditieren – die Schriftproduktion ist auch die Produktion eines Systems des Auslöschens: die Spur schreibt sich ein und löscht sich gleichzeitig aus« (ebd.: 393). Etwas kann also nur eingeschrieben, aufgezeichnet, gespeichert oder archiviert werden, indem es seines singulären, einzigartigen Stattfindens zugleich verlustig geht. »Die Auslöschung ist nicht einfach das Gegenteil der Einschreibung«, sagt Derrida (ebd.: 222), sondern eine der Einschreibung unaufhebbar innewohnende Eigentümlichkeit. Der selbstunterminierende Zug, der dieser Aporetik oder Paradoxalität eignet, hatte uns, in anderer Weise, schon durchgehend im ersten Kapitel dieser Arbeit beschäftigt. Hier finden wir ihn in einer anderen Wendung und im Zusammenhang mit der inneren Struktur von Medien der Bewahrung und Aufzeichnung – also von Gedächtnis in einem abstrakten Sinn – vor. Das Gedächtnis unterminiert sich oder arbeitet in dem Sinne prinzipiell gegen sich, als es das, was es zu bewahren sucht, nur dadurch bewahren kann, dass es mittels wiederholbarer Medien aufgezeichnet wird. Eine solche Aufzeichnung kann jedoch prinzipiell nur selektiv verfahren, sie kann das Singuläre nur durch wiederholbare Formen, das Konkrete bloß vermittelt durch abstrahierende, von gewissen Zügen des Konkreten absehenden Medien bewahren. Ein endliches Gedächtnis ist ein selektives Gedächtnis; und insofern inhäriert allem Erinnern ein Vergessen. »Das Gedächtnis ist seinem Wesen nach endlich«, so formuliert es Derrida sehr deutlich schon in Platons Pharmazie (Derrida 1995: 121). »Ein Gedächtnis ohne Grenze wäre im übrigen kein Gedächtnis, sondern die Unendlichkeit einer Selbstgegenwart. Stets also braucht das Gedächtnis Zeichen, um sich des Nicht-Gegenwärtigen zu erinnern, zu dem es notwendig Bezug hat.« (Ebd.) Das Gedächtnis benötigt also unweigerlich gewisse vermittelnde Medien, Träger oder Marken, um sich durch sie hindurch auf Vergangenes zu beziehen. Zwei Folgerungen daraus werden wir jetzt noch durchgehen. (i) Selektivität. Die selektive Dimension des Gedächtnisses nun stellt den prävalenten Zug von Derridas Überlegungen zum Begriff des Archivs dar. Dieser Begriff ist so abstrakt dimensioniert oder angelegt, dass er sich nicht vordringlich
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auf Archive im herkömmlichen Sinne28 bezieht, sondern auf jegliche Medien, denen das Vermögen eignet, etwas aufzuzeichnen, zu bewahren oder zu archivieren. So betrifft die Selektivität, die »Filtrierung durch das Archiv […] nicht nur die öffentlichen Dokumente, die Archive des Fernsehens, des Radios oder die offiziellen Dokumente«, sondern »das betrifft zum Beispiel auch die Kunstwerke. Es gibt Kunstwerke, die überleben, und andere, die nicht überleben.« (Derrida 2017: 96) Es ist ja diese Generalität des Archivbegriffs, die es uns erlaubt, ihn im Zuge der Erläuterung des Begriffs der Iterabilität abzuhandeln. Diese Verbindung von Iterabilität und Archiv ermöglicht es uns überdies, den Gesichtspunkt der Selektivität in zweierlei Weise zu verstehen. Einerseits ist jegliche Aufzeichnung in dem Sinne selektiv, als sie eine Auswahl zu treffen genötigt ist. Man kann nicht alles bewahren – klar. Das ist zugleich die Gewalt, das Schlechte oder das Übel des Archivs wie sein Begehren oder sein Verlangen: le mal d’archive, das den Titel von Derridas Text bildet, den man häufig als Kondensationspunkt seiner Überlegungen zum Begriff des Archivs aufgefasst hat.29 Dieses »Archivübel« ist »zugleich […] nicht zwangsläufig ein Übel, weil ohne diese Selektivität überhaupt nichts bliebe« (ebd.: 97), es ist eben ein unumgängliches, weil der Struktur des Archivs eignendes Übel. Die »selektive Archivierung« ist deswegen »stets zugleich wohltuend und ungeheuerlich […], eine Chance und eine Drohung« (ebd.). Dabei verhalten sich beide im französischen Wort mal implizierten Bedeutungen interdependent zueinander: das Archiv ist selektiv und endlich, und weil es dies ist, gibt es ein darüber hinausreichendes Begehren nach dem, was durch diese Selektivität und Endlichkeit verlustig geht; und es kann – andere Richtung der Interdependenz – nur dort ein Begehren nach dem, was dem Archiv entschlüpft, geben, wo das Archiv endlich und beschränkt ist. »Mit Sicherheit«, so Derrida, »gäbe es ohne die radikale Endlichkeit, ohne die Möglichkeit eines Vergessens, das sich nicht auf die Verdrängung beschränkte, kein Begehren nach einem Archiv.« (Derrida 1997a: 40) Dieses Begehren oder Verlangen nach dem, was Derrida mitunter das »›Archiv-Außerhalb‹« (Derrida 1998h: 28) nennt, wirkt in sei-
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Es gibt allerdings zwei Formen von Archiven in diesem geläufigen Sinne, die bei Derrida häufiger zur Sprache kommen, nämlich die Bibliothek und das Museum (Derrida 2003c: 16, 19, 28f., 35, 53, 73f., 80ff.). Derrida schreibt dazu etwa: »Man wird die Bibliothek im allgemeinen als jenen Ort definieren, der dazu bestimmt ist, das Geheimnis zu wahren/aufzubewahren (garder le secret), aber als sich verlierendes. Ein Geheimnis verlieren, das kann wohl bedeuten, es zu enthüllen, es publik zu machen, es unter die Leute zu bringen, als auch, es darauf tief in der Krypta eines Gedächtnisses zu bewahren, daß man es vergißt oder sogar aufhört, es zu verstehen und Zugang zu ihm zu haben. In diesem Sinne ist ein gewahrtes/aufbewahrtes Geheimnis stets ein verlorenes Geheimnis.« (Derrida 2006: 27) Gemeint ist Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression (Derrida 1997a). Vgl. dort die Seiten 26, 40, 57, 148, 158ff., die explizit von diesem Begriff handeln.
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ner Unerfüllbarkeit30 zugleich wie ein Gegen-Gedächtnis. So wie uns, ganz alltäglich, die nostalgische Sehnsucht und das melancholische Bewusstsein vor Augen führen können, dass die Vergangenheit unaufhebbar vergangen und gewisse Episoden, Szenen und Personen, die uns lieb waren und mit denen wir selige Tage zubrachten, nie mehr wiederkehren, hat das archivarische Verlangen für Derrida eine reflexive Funktion, indem es uns auf die Selektivität dessen, was im Gedächtnis bewahrt worden ist, aufmerksam macht.31 Eine solche Reflexion auf die Grenzen des Archivs bedeutet, ein Bewusstsein für die »politische Dimension des Archivs« (Derrida 2017: 64) zu haben, und führt Derrida zu einer »Politik des Archivs« (Derrida 1997a: 14 Fn.), gar einer generelleren »Gedächtnispolitik« (Derrida 2006l: 78). Mit einer derartigen ›Politik‹ oder ›Ethik‹ sind Fragen danach verknüpft, in welcher Weise die unvermeidliche Selektivität der Archivierung konkret ausgestaltet wird: Wie werden die Grenzen des Archivs gezogen, wie wird entschieden und wer entscheidet, was aufgezeichnet und bewahrt wird, wer erhält Zugang zum Archivmaterial und wo wird es deponiert? Wo beispielsweise »soll das öffentliche 30
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Die Einzigartigkeit jenseits wiederholbarer Marken und die Vergangenheit jenseits aufzeichnender und entstellender Medien muss, soll es nicht zur Tilgung der Differenz und zur Erfüllung des Begehrens kommen, immer aufgeschoben oder versprochen bleiben. Derrida hat dies in einem Gespräch im Hinblick auf die Differenz zwischen idiomatischer, einzigartiger Stimme und den wiederholbaren, teilbaren Markierungen einmal so formuliert: »Es ist unmöglich, daß es diesen Traum nicht gibt, dieses geträumte Begehren nach einer rein idiomatischen Stimme, die so wäre, wie sie ist und die in gewisser Weise unteilbar wäre; selbst wenn der Traum dazu bestimmt ist, ein Traum, ein Versprechen zu bleiben, so ist das Versprechen als Versprechen ein Ereignis, es existiert; es gibt das Versprechen von Einheit und dies setzt das Begehren in Gang; es gibt das Begehren.« (Derrida 1998b: 147) Die Photographie, so Derrida in Bleibe Athen (Derrida 2010: 40f.) – einem kleinen Text mit zahlreichen Photographien Athens –, steht im »Dienste […] der Melancholie, die ein bestimmtes Wesen der historischen Erfahrung auszeichnet. Den Sinn für Geschichte, wenn Sie so wollen, die Photographie verfügt über den Sinn der Geschichte«. Dass es gerade Photographien sind, die einen derartigen Sinn für den Verlust und eine solche Sensibilität gegenüber der Grenze der Erinnerbarkeit erzeugen oder beinhalten, ist eine Einsicht, die man vor allem mit Roland Barthesʼ Die helle Kammer verbindet. Denn, so Barthes in einem seiner letzten Interviews, »[j]ede Lesehandlung eines Fotos, und dazu kommt es milliardenfach im Verlauf eines gewöhnlichen Tages, jedes Erfassen und Lesen eines Fotos ist implizit, in verdrängter From, eine Berührung mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod.« (Barthes 2002: 385f.) Derrida hat diese Art reflektierter Erinnerung – oder ein ›Gegen-Gedächtnis‹ – vor allem im Zusammenhang mit dem Phänomen der Trauer näher bedacht. In Der ununterbrochene Dialog (Derrida 2004c: 46) bestimmt Derrida ebenfalls die Melancholie als gegen die introjizierende, den Anderen an das Ich angleichende Tendenz der Erinnerung und der Trauer arbeitend: »Die Melancholie würde das Scheitern und die Pathologie dieser Trauer aufnehmen. Doch wenn ich den anderen in mir tragen muß (darin besteht Ethik), um ihm treu zu sein, um seine einzigartige Alterität zu respektieren, dann muß sich noch eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer auflehnen. Sie darf sich niemals mit der idealisierenden Introjektion abfinden.«
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Archiv aufhören?« (Derrida 2017: 92) Wie wird im Hinblick auf ein solches öffentliches oder nationales Gedächtnis die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Feld gezogen? Wenn, eine weitere Frage, »die technische Struktur des archivierenden Archivs […] auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft« (Derrida 1997a: 35) bestimmt – welche an der Aufzeichnung zum Beispiel eines Ereignisses wie dem 11. September 2001 beteiligten Instanzen werden dann in welcher Weise darin involviert sein, ein bestimmt geartetes Bild dieses Geschehnisses für die Nachwelt aufzubereiten? Und wer – wenn man daran denkt, dass auch Photographien unter diesen stark generalisierten Begriff des Archivs fallen – »hat das Recht, wen zu fotografieren? Wo? Unter welchen Umständen? Wo ist die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem?« (Derrida 2000c: 295) Diese politische Frage der Speicherung und Zirkulation von Photographien wurde von Derrida in hellsichtiger Weise mit dem Aufkommen neuer Technologien der Verbreitung und Archivierung verbunden, denn »[d]iese Fragen erweitern sich und spitzen sich zu in dem Maße, wie der öffentliche Raum zugleich ausgedehnt und neu strukturiert wird durch die Tele-Technologien der Kommunikation und durch die Möglichkeit, das Bild mit beschleunigter Geschwindigkeit von einem Kontinent zum anderen zu schicken.« (Ebd.) Dass die Frage des Archivs eine politische Dimension aufweist, ist heute umso deutlicher und brisanter geworden, in einer Zeit, wo man allenthalben merkt, dass das Internet ›nichts vergisst‹. Andererseits ist das Archiv in dem spezifischeren, weniger oberflächlicheren Sinne selektiv, als die archivierenden Medien die Wiederholbarkeit dessen, was sie archivieren, implizieren und es so nicht vermögen, singuläre, an einen einmaligen Augenblick gebundene Geschehnisse aufzuzeichnen. Die Möwe am Meer in ihrem anmutigen Flug, und darunter ein lustig spielendes Kind – wir können sie in Worten beschreiben, sie photographieren, sie malen oder in eine bronzene Skulptur bannen, das laute Flattern ihrer Flügel als Sprachnachricht bei WhatsApp versenden oder als Klangmaterial in einer neoklassischen Komposition verwenden, den Flug in einem ornithologischen Kalender mit einem Datum versehen, um uns hernach an diesen Tag zu erinnern usw. Wie immer wir es anstellen: immer muss dieses einzigartige, hic et nunc stattfindende Geschehnis eine Spur hinterlassen, die sich von diesem physisch und zeitlich bestimmten Kontext ablöst und sich in anderen Kontexten reproduzieren, also wiederholen lässt. Somit herrscht hier nicht eine generelle Differenz zwischen dem Aufgezeichneten und dem nicht Aufgezeichneten, sondern eine spezifischere Differenz zwischen Singularität und generalisierbaren, wiederholbaren Medien. Zwar bewahren die beispielhaft aufgereihten Aufzeichnungsmedien – photographisch, sprachlich, Speicherung von Geräuschen, Datierung des Ereignisses – je unterschiedliche Züge dessen, was sich zuträgt, und sie lassen sich auch in je anderer Weise und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit
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vervielfältigen und in andere Kontexte deportieren, die Differenz zwischen Singularität und Generalität ist für sie alle aber in gleichem Maße kennzeichnend. Es kommt uns nun sehr gelegen, dass wir uns zur Erläuterung dieses Sachverhalts nochmal den Titel von Derridas Text Mal d’archive zunutze machen können. Denn dieser lautet, in Gänze: Mal d’archive. Une impression freudienne, zu deutsch Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Es gibt also nicht nur die Selektivität des le mal d’archive: als das Übel oder das Schlechte des Archivs ebenso wie dessen Verlangen oder Sehnsucht nach dem, was mittels dieser Selektivität verloren geht und vergessen wird. Sondern das Problem des Eindrucks oder der Impression scheint ebenfalls im Hinblick auf den Archivbegriff bedenkenswert zu sein – wieso das jetzt? Derrida sondiert in diesem Text drei Bedeutungsschichten, die sich für ihn in diesem Wort ›Impression‹ »übereinanderlegend […] verdichteten« (Derrida 1997a: 48). Den Vortragstext auf seinem Computer tippend, fragte er sich, »welches der eigentliche Moment des Archivs […], der Augenblick der Archivierung stricto sensu wäre.« (Ebd.: 49) War es nicht, so überlegt er, »jener Augenblick, in dem ich, als ich dieses oder jenes auf dem Schirm geschrieben hatte […], auf eine bestimmte Taste drückte, um aufzuzeichnen […] zu speichern, zu akkumulieren und […] so den Satz für den Druck (impression) und für den Nachdruck (réimpression), für die Reproduktion verfügbar zu machen?« (Ebd.: 49f.) Derridas Gedanken richteten sich also abermals auf die Problematik der Einschreibung von Spuren, der Notation, um etwas hervorzubringen, was sich vom Augenblick der Notierung loslösen und in anderen Kontexten reproduzieren ließe. Die spezifische Gestalt, die dieser Gedanke hier erhält, kreist um das, was in diesem Augenblick vor sich geht: um den konkreten Sachverhalt der Loslösung, der inneren Differenz zwischen dem Akt oder dem Ereignis des Schreibens oder Archivierens und dem, was davon bleibt und hinterlassen wird. Derrida handelt also vom »Schnitt zwischen dem Abdruck, dem einzigartigen Augenblick der als einzigartig unterstellten Anwesenheit des Eindrucks, und, beinahe am Eindruck klebend, dem hinterlassenen Abdruck, der freilich schon nicht mehr der Eindruck ist.« (Derrida 2017: 89) Eindruck und Abdruck, der Akt des Eindrückens und das Eingedrückte sind also durch einen Schnitt oder eine Differenz getrennt; und dies präzise stellt den Augenblick der Archivierung dar.32 32
Dabei kann es sich naturgemäß um Eindrücke verschiedenerlei Art handeln: um psychische Eindrücke, um das Schreiben auf einem Papier, um Ritzungen auf Holz oder, im Falle der Photographie, um das Licht, das sich auf eine entsprechend präparierte Platte eingezeichnet oder abgedrückt hat. Für Roland Barthes ist die Photographie in ihrer Spezifik erst möglich geworden, »da eine wissenschaftliche Gegebenheit, die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten. Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin« (Barthes 1985: 90f.). Ich zitiere diese Stelle
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Wegen der Konzentration auf genau diese Differenz interessiert sich Derrida in diesem Vortrag besonders für Freuds Analyse von Wilhelm Jensens Novelle Gradiva. Denn deren Protagonist, Norbert Hanold, ein Archäologe, ist nach Pompeji gereist, um Spuren der von ihm affektiv besetzten Gradiva zu suchen. Was Derrida hier aufmerken lässt, ist, dass Hanold so gesehen eine Personifikation des Begehrens nach dem Nichtarchivierbaren darstellt. Er träumt davon, wieder lebendig zu machen. […] Dadurch, daß er den einzigartigen Druck oder Eindruck, den Gradivas Schritt, der Schritt selbst, der Schritt von Gradiva selbst an jenem Tag, dieses eine Mal, an jenem Datum in dem, was er an Unnachahmlichem hatte, in der Asche hatte hinterlassen müssen, wieder lebendig macht. Er träumt diesen unersetzlichen Ort, die Asche selbst, in der der einzigartige Abdruck sich wie eine Signatur kaum vom Eindruck unterscheidet. […] Das ist die Bedingung für die Einmaligkeit des Eindrückenden-Eingedrückten, des Eindrucks und des Abdrucks, des Drucks und seiner Spur, in dem einmaligen Augenblick, wo sie sich noch nicht voneinander unterscheiden […]. Die Spur würde sich nicht mehr von ihrem Träger unterscheiden. (Derrida 1997a: 172f.) Hanold träumt also vom Unnachahmlichen, Einzigartigen, Unersetzlichen als demjenigen, was seinem Abdruck in archivierenden Spuren vorausgeht. Denn das würde es ja bedeuten, wieder lebendig zu machen und wieder auferstehen zu lassen: etwas Vergangenes ließe sich in seiner unangetasteten Integrität und reinen Präsenz, jenseits aller vermittelnden Aufzeichnung, wieder verlebendigen. Es wäre ein »Augenblick, in dem das eingedrückte Archiv sich in seinem einzigartigen, nicht reproduzierbaren und archaischen Ursprung noch nicht vom ersten Eindruck abgelöst hat. […] Ein Archiv, das alles in allem mit der arché verschmolzen wäre, mit dem Ursprung, von dem es dennoch nur die Type, der týpos, der Buchstabe oder der iterierbare Charakter wäre. Ein archivloses Archiv, da, wo, völlig ununterscheidbar vom Eindruck seines Abdrucks, Gradivas Schritt von selbst spricht.« (Ebd.: 170) Nun habe ich zu erweisen gesucht, dass es keine archivierenden, iterablen Elemente gibt, die einen unvermittelten Zugang erlaubten zu dem, wonach es Hanolds zunächst plausibel anmutendes Begehren verlangt; Gradivas Schritt kann nicht mehr ›von selbst‹, sondern lediglich durch Aufzeichnungen aus der Hellen Kammer, weil Derrida in den Aufzeichnungen eines Blinden (Derrida 2003e: 22, 54) von einer Skia- und Photographie, einer Schrift des Schattens bzw. des Lichts spricht. »Was man als ein Spiel von Schatten und Licht beschreibt, ist schon eine Schrift«, so erläutert Derrida diese Redeweise an anderer Stelle (Derrida 2000c: 287). »Mit dieser Unterscheidung in der Natürlichkeit, das heißt dem Schatten im Licht, dem Schwarz-Weiß, erscheint so die erste technische Möglichkeit für die Wahrnehmung selbst. Der Unterschied im Licht, der Belichtungsunterschied, wenn Sie so wollen, das ist vielleicht die erste Möglichkeit der Spur, des Archivs und von alledem, was darauf folgt: das Gedächtnis, die Techniken des Gedächtnisses, die Mnemotechnik etc.« (Ebd.)
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hindurch zu Hanold sprechen. Denn die »Möglichkeit der archivierenden Spur […] kann die Einmaligkeit nur spalten. Indem sie den Eindruck vom Abdruck trennt.« (Ebd.: 174) Die Möglichkeit, etwas im Gedächtnis zu behalten – und gleichermaßen: etwas wahrzunehmen, das seine Reproduktion im Gedächtnis impliziert –, impliziert desgleichen die Unmöglichkeit, es in seiner singulären Präsenz und Unmittelbarkeit zu erinnern. Die Iterabilität führt mithin in die reine Präsenz des Augenblicks und der Wahrnehmung einen Schnitt oder eine Spaltung ein. Und dies tut sie nicht akzidentiellerweise, sie überkommt33 nicht additiv eine solche reine Gegenwart und bleibt ihr äußerlich, sondern sie stellt die Bedingung der 33
Ich benutze dieses sprechende Wort – ›überkommen‹ – bewusst, denn in Derridas Texten taucht es häufiger auf, und ich meine, dass es durch seine räumliche Metaphorik überaus gut veranschaulicht, in welchem Verhältnis Iterabilität und Gegenwart zueinander stehen. Denn indes eine präsenzmetaphysische Konzeptualisierung dieses Verhältnisses zwei geschiedene Pole annähme, ist mit dem Gedanken der Iterabilität impliziert, dass diese der Gegenwart stets innewohnt und ihre transzendentale Möglichkeitsbedingung bildet. Mit diesem zeittheoretischen Gedanken ist überdies eine paradoxale Konzeption des Zusammenhangs von Innen und Außen verknüpft, weshalb ich davon spreche, die Iterabilität bleibe der Gegenwart nicht ›äußerlich‹. Um dies – den Gebrauch von ›überkommen‹ und das Äußerlichbleiben der Wiederholbarkeit – kurz durch Passagen Derridas zu belegen: In Die Stimme und das Phänomen (Derrida 2003f: 14) meint er im Hinblick auf die zwei Husserlschen Begriffe der Re- und Appräsentation, dass schon von ihnen her eine solche Beziehung der Gegenwart auf Nichtgegenwärtiges nahegelegt wird. »In beiden Fällen überkommt das, was als Modifikation der Präsentation sich einen Namen macht (Re-präsentation, Ap-präsentation) (Vergegenwärtigung* oder Appräsentation*), nicht die Präsentation, sondern bedingt sie, indem es sie apriori zerspaltet.« Und er insistiert, viele Seiten später, wieder mit diesem Wort: »Dieser Bezug auf die Nicht-Gegenwärtigkeit überkommt nicht unvermutet, umschließt nicht und verhehlt nicht die Gegenwärtigkeit der Urimpression, sondern ermöglicht deren immer wieder neu entstehende Heraufkunft und Jungfräulichkeit. Aber er zerstört radikal jede Möglichkeit einer Selbstidentität in der Einfachheit.« (Ebd.: 90) In der Grammatologie (Derrida 1983: 281), wo Derrida häufiger noch den Begriff der Supplementarität benutzt, wiederum heißt es: »Der indefinite Prozeß der Supplementarität hat immer schon die Präsenz angeschnitten, darin seit je – schreibend – den Raum der Wiederholung und der Selbstentzweiung entwickelt. Die in unendlicher Widerspiegelung statthabende Repräsentation der Präsenz ist nicht ein Akzidenz der Präsenz; das Verlangen nach der Präsenz entsteht im Gegenteil aus dem (vorgespiegelten) Abgrund der Repräsentation, der Repräsentation der Repräsentation usw.« Ich glaube, dass wir ohne größeren Umstand aus dieser Passage des frühen Derrida im ›immer schon‹ den quasi-transzendentalen Status der Iterabilität, im ›angeschnitten‹ die Spaltung der Gegenwart und im ›Verlangen nach Präsenz‹ das archivarische Begehren Hanolds und die inkriminierte Form einer präsenzmetaphyischen Konzeption erkennen können. Die Formulierungen in der Grammatologie sind noch sehr viel deutlicher als spätere Texte Derridas gegen die mit einer Präsenzmetaphysik verknüpften Vorstellungen einer Selbstgenügsamkeit, Reinheit, Fülle und Präsenz der Gegenwart lanciert. Für ihn besteht diese Fehlkonzeption genau in einer Veräußerlichung der Iterabilität und damit der Reinigung der Gegenwart – nämlich »darin, die Nicht-Präsenz dadurch auszuschließen, daß sie das Supplement als einfache Exteriorität, als reine Addition oder als reine Abwesenheit bestimmt. Was hinzugefügt
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Möglichkeit von Wahrnehmbarkeit und Erinnerbarkeit dar. »[M]an kann davon«, so Derrida über die reine Gegenwärtigkeit des Eindrucks, »nur nachträglich in dem Maße träumen, wie ihre Iterierbarkeit, das heißt ihre immanente Spaltbarkeit, die Möglichkeit ihrer Spaltung, sie von Beginn an heimsuchte.« (Ebd.) Von Anfang an war der Augenblick des Lebens der Gradiva der Möglichkeit ausgesetzt, durch wiederholbare Elemente zerteilbar, aufzeichenbar zu sein, und insofern war er unweigerlich durch diese strukturelle Möglichkeit verunreinigt oder ›heimgesucht‹. Das ist der nämliche Sachverhalt, den wir vorhin, im Passus aus Limited Inc. über die shopping-list, von dem wir unseren Ausgang genommen haben, schon detektieren konnten: die gegen eine ›präsenzmetaphysische‹ Konzeption gerichtete innere Teilbarkeit der Gegenwart oder des Augenblicks. Dort hatte es ja geheißen, der Augenblick werde »konstituiert, das heißt geteilt eben durch die Iterabilität dessen, das sich darin ereignet.« (Derrida 2001b: 84) Über den Umweg, den wir genommen haben, sehen wir uns nun in der Lage, sehr viel genauer zu verstehen, was es für Derrida damit auf sich hat. Denn indem die Wiederholbarkeit in jeder Gegenwart – wenn wir etwas wahrnehmen, wenn wir sprechen oder schreiben – am Werk ist, ist diese kontaminiert durch etwas, das aus der Perspektive Derridas durch verschiedene Theorietraditionen und Autoren draußen gehalten werden sollte. Die, subsumtiv formuliert, ›Metaphysik der Präsenz‹ bedeutet eine Vorstellung der Gegenwart, wonach diese sich durch Selbstgenügsamkeit, Unmittelbarkeit, Reinheit und Präsenz auszeichnet. Sie würde schlicht, so muss man dies wohl verstehen, mit sich selbst zusammenfallen – Präsenz –, sie wäre – Reinheit – abgesetzt und isoliert von allen anderen Gegenwarten, und sie wäre aller Bezüge auf anderes ledig – bloße Selbstgenügsamkeit. Das impliziert eine zweiwertige oder eine Gegensatzlogik: es gibt die Gegenwart oder den Augenblick, und die Wiederholbarkeit schlösse sich einfach daran an oder fügte sich hinzu. Als einen exemplarischen Vertreter einer solchen fehlgehenden Konzeption kann man beispielhaft Artaud34 aufführen. Derridas jedenfalls kritisiert ihn dafür,
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wird, ist nichts, da es einer erfüllten Präsenz hinzugefügt wird, welcher es äußerlich ist.« (Ebd.: 286) Vgl. für weitere solcher Stellen ebd.: 250f., 348, 370f., 501, 536f. Derrida hat sich in mehreren Texten mit Artaud auseinandergesetzt. Für den in Rede stehenden Punkt – die Kritik an einem präsenzmetaphysisch imprägnierten Begriff von Gegenwart – sind aber vor allem die beiden Texte in Die Schrift und die Differenz relevant: Die soufflierte Rede und Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. Ich gehe auf den erstgenannten Text im Fließtext nicht weiter ein. Was man aber von ihm aus stärker entwickeln und deutlicher profilieren könnte, wäre der mit der Iterabilität verbundene Aspekt der Entwendbarkeit oder des Diebstahls von wiederholbaren Marken. Das ist das beherrschende Thema dieses Texts, das womöglich durch das eigenartige, im Titel genannte Phänomen des Soufflierens zunächst schwer zu sehen ist. Derrida ist aber darin sehr deutlich, dies abermals mit der Struktur der Wiederholbarkeit in Verbindung zu bringen. »Souffliert: wir verstehen darunter Entwendung«, definiert er anfangs (Derrida 1976c: 267). Er geht dann weiter, und sagt: »Vom Augenblick an, wo ich spreche, gehören die Wörter, die ich gefunden habe, mir
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einer derartigen Vorstellung reiner Präsenz Fürsprache oder ihr jedenfalls Vorschub geleistet zu haben. Artaud hatte es abgesehen auf eine »Gegenwart, die sich nicht wiederholt« (Derrida 1976e: 376), er wollte »die Reinheit einer Präsenz ohne innere Differenz und ohne Wiederholung […] retten« (ebd.: 378). Das ist seine, wie Derrida es nennt, »historisch-metaphysische Entscheidung« (ebd.: 372). Darum wollte »Artaud […] die Wiederholung überhaupt tilgen«, denn »[d]ie Wiederholung scheidet die Kraft, die Präsenz und das Leben von sich selbst.« (Ebd.) Dieses Begehren nach einer unverstellten und integren Präsenz ist, einmal mehr, insoweit verständlich, als es sich für Derrida konstitutiv dadurch auszeichnet, einer solchen Unmöglichkeit nachzuhängen. Problematisch ist es also insofern, als es insinuiert, sich von dieser Art eines durch wiederholbare, typisierbare Formen mediatisierten Zugangs dispensieren zu können. Artaud wusste gleichwohl – und so gesehen ist Derridas Artaudlektüre keine bloße Kritik, sondern findet gewisse Motive schon im Kritisierten vor –, »daß das Theater der Grausamkeit weder in der Reinheit der einfachen Präsenz beginnt, noch sich in ihr vollendet, sondern immer schon in der Repräsentation« (ebd.: 376). Seine Überlegungen figurieren so als exemplarische Reflexion »der Möglichkeit und der Unmöglichkeit des reinen Theaters« (ebd.: 377) und haben dadurch Derrida auf einen Aspekt geleitet, den er, ein wenig später, die Quasi-Transzendentalität der Iterabilität genannt hat: eine aporetische Verflechtung von Möglichkeit und Unmöglichkeit, von Ermöglichung und Verunmöglichung, »eine Art irreduzible und ›quasi-transzendentale‹ Teilbarkeit« (Derrida 2001b: 234). Die Iterabilität ermöglicht es, etwa Wörter über einen begrenzten Kontext hinaus zu emittieren, eine Unterschrift zu hinterlassen, Ereignisse aufzuzeichnen oder durch Wiederholung typische Sinngehalte zu stabilisieren. Aber in ihrer Ablösung von Intention und Kontext sind die Wörter immer zugleich der Gefahr des Missverständnisses ausgesetzt, eine Unterschrift ist durch ihre Wiederholbarkeit gleichzeitig immer auch imitierbar und nicht-eigen, die Ereignisse können nicht in ihrer Integrität aufgezeichnet werden und die Stabilisierung semantischer Strukturen impliziert wesensmäßig die Möglichkeit der Destabilisierung.
nicht mehr, weil sie Wörter sind; sie werden in ursprünglicher Weise wiederholt (Artaud will ein Theater, in dem die Wiederholung unmöglich ist). Die entäußerte oder niedergeschriebene Rede, das Schriftzeichen ist immer gestohlen. Sie ist nie Eigentum ihres Autors oder ihres Empfängers, und es liegt in ihrer Natur, niemals der Bahn, die von einem eigentlichen Subjekt zu einem anderen eigentlichen Subjekt führt, zu folgen.« (Ebd.: 271f.) Wir können hier, meine ich, wieder sehen, wie, unbenommen die terminologischen Differenzen, verwandt die Texte Derridas sind. Im Kontext der Texte, die wir hier zur Lektüre versammeln, kann man bemerken: hier handelt Derrida von der Kraft der Wörter, sich vom Sender, vom Kontext und Ursprung abzulösen; vom Artaudschen Begehren nach einer Singularität ohne Wiederholbarkeit; von der Nichtkontrollierbarkeit dessen, was kommuniziert oder übermittelt wird, und von der Autonomie der iterablen Elemente.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Möglichkeit und Unmöglichkeit genauso wie der Augenblick und seine Wiederholbarkeit sind demgemäß gleichermaßen dem unterworfen, was Derrida eine Komplikation oder Kontamination nennt. Während die Präsenzmetaphysik auseinander rückt und trennt, erkennt Derrida eine irreduzible Verflechtung; wo die Präsenzmetaphysik von einem Begehren nach Purifizierung getragen ist, lenkt der Begriff der Iterabilität den Blick auf Verunreinigungen, Heimsuchungen und Verweisungen. »Die Dehiszenz (wie die Iterabilität)« – die Dehiszenz ist ein anderer Name für die Öffnung und Spaltung der Gegenwart oder eines Elements – »begrenzt eben das, was sie erlaubt, ermöglicht das, dessen Strenge oder Reinheit sie unmöglich macht. Es gibt da so etwas wie ein Gesetz unentscheidbarer Kontamination, das mich seit langem interessiert«, so Derrida in Limited Inc. (ebd.: 99). ›Unentscheidbar‹ ist die Kontamination deswegen, weil sie es nicht erlaubt, die beiden in ihr aporetisch zusammengezwungen Terme voneinander zu ›scheiden‹ und theoretisch eine Entscheidung zu treffen, ob sie lediglich ermöglicht oder ob sie nicht zugleich auch verunmöglicht. Nur die präsenzmetaphysische Traditionslinie meinte entscheiden zu können, ob etwa die Wiederholung stabilisierend, also gut, oder destabilisierend, also schlecht, wirkt. Ebenso verführt sie dazu, das Ereignis als entweder anwesend oder abwesend und Verweisungen auf anderes als entweder innerlich oder äußerlich zu perspektivieren.35 Vor allem in ihrer initialen, formativen Phase waren Derridas Überlegungen genau gegen eine derartige Konzeption gerichtet.36 35
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Sehr viel weiter oben hatte ich bereits auf Figuren der Unentscheidbarkeit wie das Parergon, das Hymen, das Pharmakon oder den Parasiten verwiesen. Für all diese Begriffe ist charakteristisch, dass sie sich »der Autorität des ontologischen Diskurses, der Alternative von Existenz oder Nicht-Existenz, die immer einen einfachen und entscheidenden Diskurs über die Anwesenheit und/oder Abwesenheit voraussetzt« (Derrida 2001b: 134), entziehen. Auch auf das ›vielleicht‹ hatte ich schon verwiesen. Obwohl ich später noch auf die Frage der ›Dekonstruktion‹ zurückkomme, sei hier darauf aufmerksam gemacht, dass Derrida diesen Gedankenzug verschiedentlich sogar als ihr Definiens aufgefasst hat. In Die Einsprachkigeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese (Derrida 2003d: 79) lässt er uns wissen, dass »die erste Bewegung dessen, was man ›Dekonstruktion‹ nennt, […] selbige auf diese ›Kritik‹ des Phantasmas oder des Axioms der Reinheit oder auf die analytische Dekomposition einer Purifizierung, die zur nicht weiter zerlegbaren Einfachheit des Ursprungs zurückführen soll«, lenkt. Auch in einer Einlassung in einem Gespräch weist er darauf hin, dass dies ein primäres Motiv der Dekonstruktion war: So besteht eines der »Gesetze, denen sich die Dekonstruktion unterwirft und mit dessen Kenntnisnahme sie beginnt, darin, daß es am Ursprung (einem Ursprung ohne Ursprung also) nichts Einfaches gibt, sondern eine Komposition, eine Kontamination, zumindest die Möglichkeit einer Aufpropfung und einer Wiederholung.« (Derrida 2006i: 342) Und in Vergessen wir nicht (Derrida 1998j: 173) lässt er sich, noch etwas skeptischer gegenüber ›der Dekonstruktion‹, so vernehmen: »Wenn es denn – gebe Gott, es wäre nicht so – eine und nur eine Dekonstruktion und eine These ›der Dekonstruktion‹ gäbe, sie würde die Teilbarkeit behaupten: die différance als Teilbarkeit. Was paradoxerweise darauf hinausläuft, ein Denken, das mit großer Aufmerksamkeit
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(ii) Pluralisierung. Ich glaube, dass der mit dem so eng zusammenhängenden Begriffskomplex Iterabilität-Archiv verbundene Aspekt der Selektivität – in seinen beiden denkbaren Ausformungen, als geläufige Form von Begrenztheit und Endlichkeit und als Teilung der Singularität – hinlänglich deutlich geworden ist. Bevor wir die vorstehenden Überlegungen resümierend bündeln und zur Frage übergehen können, ob und in welcher Weise die Iterabilität sich ebenso auf die Wahrnehmung erstreckt, will ich hier noch eine weitere Komponente des Iterabilitätsbegriffs nennen. Wenn jeder Marke oder jedem Graphem, wie ich das bislang mit Derrida genannt habe, durch seine Wiederholbarkeit eine Kraft zur Ablösung von seinem Entstehungskontext eignet, ist es im selben Zuge immanent vervielfältigbar. Es lässt sich in dem Sinne pluralisieren, als es weder an seinen ›ursprünglichen‹ noch an irgendeinen weiteren der Kontexte, in denen es reaktualisiert und von neuem aufgerufen werden mag, zu binden ist. Ich hatte weiter oben schon darauf hingewiesen, dass die Adressatenschaft etwa einer sprachlichen Äußerung potentiell unbegrenzt ist. Denn so singulär diese Äußerung anmuten und so sehr man darauf bedacht sein mag, den Kreis der Empfänger zu kontrollieren – da sie sich nicht vom Feld der Iterabilität freistellen lässt, da sie nur durch ihre iterable Struktur übermittelbar ist, lässt sie sich potentiell von jedwedem, von beliebigen Adressaten empfangen. Es ist mithin »nicht möglich, sich an einen einzigen, an eine einzige zu richten. Denn dazu müßte man es, trocken und unpathetisch formuliert, jedes Mal ein einziges Mal tun, und müßte die Struktur der Spur jede Iterabilität ausschließen. Auch ein einziger kann aber ein einziges Mal eine einzige Markierung nur empfangen«, so Derrida in der Politik der Freundschaft (Derrida 2002: 290), »wenn diese in wie immer geringem Maße iterierbar, also in ihrem Auftreten und jedenfalls in ihrem Ereignischarakter zuinnerst vielfältig und gespalten ist.« Dieses strukturelle Merkmal lässt sich sowohl in räumlicher und zeitlicher Weise explizieren als auch in zweierlei Richtung ausdeuten. Zeitlich in dem Sinne, als die Kontexte sich als voneinander unterschiedene Gegenwarten, Augenblicke oder Situationen auffassen lassen. Der Satz Nietzsches oder die ›shopping-list‹, die wir zur Exemplifikation herangezogen haben, lassen sich auch im nächsten Moment, nach Jahren oder gar nach Jahrhunderten noch übermitteln und lesen; das faktische, empirisch gegebene Zeitintervall ist einmal mehr unerheblich, als es Derrida lediglich um die strukturelle Möglichkeit der transsituativen Wiederholbarkeit zu tun ist. Dass diese Pluralisierung sich auch im Hinblick auf den Raum verstehen
in Rechnung stellt, was sich der Analyse stets verweigert (die ursprüngliche Komplizierung, das Nicht-Einfache, der durchgestrichene Ursprung, die Spur), in eine analytistische Überbietung einzubinden.« Ersichtlich ist es ein eminentes Merkmal der Dekonstruktion, diese Art kontaminative, den Augenblick oder den Ursprung zu etwas nicht-einfachem und nichtgeschlossenem machende Teilbarkeit in Rechnung zu stellen.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
lässt, lenkt den theoretischen Blick wiederum auf das räumliche Korrelat der eben beschriebenen Struktur. In diesem Fall ist von Orten statt Situationen, vom Hier statt vom Jetzt der Äußerung, von einem trans-, einer Fähigkeit zu übersteigen, die sich auf Räume, Orte und Gebiete bezieht, zu handeln. Zwar ist es empirisch notgedrungen so, dass Instantiierung und Artikulation von iterablen Elementen räumlich desgleichen wie zeitlich verfasst sind, was in dem Ausdruck des hic et nunc, des Hier-und-Jetzt, terminologisch zusammengespannt ist. Analytisch lässt sich dies aber auf eine fruchtbringende Weise dekomponieren. Mit den beiden Richtungen, welche die Ausdeutung dieser Pluralisierbarkeit und Vervielfältigbarkeit nehmen kann, ist ein etwas komplizierter Sachverhalt angesprochen, dem wir später, im Kontext von Freuds Begriffen ›Überdetermination‹ und ›Verdichtung‹, noch eine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen müssen. Wenn sich jedes iterable Element wesensmäßig durch Wiederholbarkeit auszeichnet, kann es nicht nur durch andere Instantiierungen wiederholt werden, sondern in sich selbst auch anderes wiederholen und zitieren oder auf anderes referieren; und dies kann sich auf implizite oder explizite Weise zutragen. Es ist in seiner Singularität gespalten durch Verweisungen auf zukünftige und vergangene Wiederholungen seiner selbst. Diese müssen nicht offen zutage liegen und sich unmittelbar dem Blick darbieten, sie sind aber immer schon potentiell im Herzen des Singulären am Werk. Nachträglich etwa lassen sich im Falle von zunächst einzigartig und unvergleichlich anmutenden Ereignissen ihre Vorläufer, durch die sie sich angekündigt haben mögen, entdecken. Damit sind solcherlei Ereignisse nicht in sich geschlossen und verkapselt, sondern geöffnet auf anderes hin, auf das sie verweisen und das sich ihnen spektral wiederholt. Diese Art immanenter Verwandtschaft ist dabei ebenfalls de jure, potentiell nicht begrenzbar: stets kann es möglich sein, dass sich immer noch andere, weitere iterable Elemente auffinden lassen, die sich in einem Ereignis verdichten, kreuzen, übereinandergeblendet werden. Die Pluralisierung verläuft mithin – dies sind die beiden Richtungen der Interpretation – (i) in Vergangenheit und Zukunft zugleich, denn vorangegangene und künftige Instantiierungen derselben generellen, iterierbaren Marke stehen in einer Beziehung inhärenter spektraler Verwandtschaft und Ähnlichkeit; und die Pluralisierung (ii) schreibt sich als Verdichtung in das Herz, in die immer singuläre gegenwärtige Instantiierung einer solchen Marke ein. Wenngleich jede Instantiierung eines allgemeinen Typus singulär ist und an einem konkreten Ort und Zeitpunkt auftaucht, kommt ihr dieser verdichtende, in sich plurale Charakter gleichermaßen zu. Singularität und Pluralität sind damit paradoxal aufeinander bezogen. Selbst also bei veritablen Ereignissen, die bei Derrida häufig als neu und unvorhersehbar, als absoluter Bruch mit dem Bekannten, als den bisherigen geschichtlichen Verlauf unterbrechend dargestellt werden, führt die Iterabilität dazu, dass sie nie absolut unvorhersehar, ein gänzlicher Bruch, eine reine Unterbrechung sind. Sie sind nie
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das reine Außen oder das absolut Andere, sondern immer zugleich auf das Innen oder das Selbe bezogen. Darum kann ein »Ereignis, wenn es erscheint, nur um den Preis erscheinen, dass es bereits in seiner Einzigartigkeit selbst wiederholbar ist. […] Dass es in der absoluten Singularität, in der absoluten Einzigartigkeit, sofort, von […] dem ersten Auftauchen des Ereignisses an, Iterabilität und Wiederkehr gibt – das macht, dass die Ankunft des Ankömmlings – oder das Eintreten des inauguralen Ereignisses – nur als Wiederkehr, Heimsuchung oder Spuk erlebt werden kann.« (Derrida 2003: 36) Präzisierend müsste man anfügen, dass es darum keine absolute Singularität oder Einzigartigkeit geben kann, sondern nur eine relative oder durch die Iterabilität kontaminierte; und ebenso müsste man das Wörtchen ›nur‹ so verstehen, dass es nicht reduktiv gemeint ist, sondern dass ein Ereignis immer nur auch als Wiederkehr, das heißt durch generelle, typisierende Strukturen hindurch, erlebt werden kann. Derrida jedenfalls hat diese paradoxale Gleichzeitigkeit von Singularität und Pluralität verschiedentlich durch ein sprechendes französisches Syntagma formuliert, durch dessen Ambiguität der Sachverhalt pointiert zum Ausdruck kommt: plus de, das bedeutet zugleich ›keiner/nicht mehr‹ und ›mehr als (einen)‹. Das taucht etwa als ›plus de métaphore‹ in Die weiße Mythologie (Derrida 1988g: 239ff.), als ›plus-de-nom‹ in Pas (Derrida 1994: 115), als ›plus de vouyou/plus d’États vouyous‹ in Schurken (Derrida 2006c: 135, 145, 149) oder als ›plus-de-vue‹, als überschüssiges/›(Nicht-)Mehrsehen‹ in den Aufzeichnungen eines Blinden (Derrida 2003e: 52) auf. Er hat es überdies zu einer weiteren Definition der Dekonstruktion verwendet, die uns meines Erachtens auf die richtige Fährte bringt, dieses Syntagma zu verstehen und in den hiesigen gedanklichen Kontext einzubetten. »Wenn ich das Risiko eingehen müßte«, so heißt es in Mémoires (Derrida 1988e: 31), »eine einzige knappe, elliptische und sparsame Definition der Dekonstruktion als ein Losungswort auszugeben, so würde ich einfach, ohne einen Satz zu bilden, sagen: mehr als eine Sprache/nichts mehr, was einer Sprache angehört (plus d’une langue).« Jedwedes Element einer Sprache ist in seiner Einheit, in seiner Unizität (une langue), geöffnet auf andere Wiederholungen und lässt sich so nicht mehr in den Grenzen einer Sprache einschließen. Der kontaminative Transfer, die Migration und der Austausch sprachlicher Elemente kann beispielsweise zwischen der französischen, der englischen oder der deutschen Sprache derart stattfinden, dass sich fremde in einheimische Elemente und Strukturen einschreiben: das Selbe ist durch das Andere verunreinigt, das Eigene und das Fremde vermischen sich. Wegen solcher Überlagerungsprozesse sind die Grenzen der Sprachen nie gesichert, und es kann keine reinen, in sich völlig von jeglichem Fremden dekontaminierten sprachlichen Zonen geben. Die romanischen Sprachen durch ihre zahlreichen Verwandtschaften, aber auch etwa Adornos häufig durch französische und lateinische Wendungen geprägter Stil legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Dieses aporetische Zugleich von Eigenem und Fremden hat Derrida – dies dürfte die etwas bekannter gewordene Gestalt dieser Definition der ›Dekonstruktion‹ sein – in die Form zweier, antinomisch oder widersprüchlich aufeinander bezogener Sätze gebracht. »Man spricht immer nur eine einzige Sprache – oder vielmehr ein einziges Idiom«, so die erste Seite der Antinomie. Aber zugleich: »Man spricht niemals eine einzige Sprache – oder vielmehr, es gibt kein reines Idiom.« (Derrida 2003d: 21) Jedes spracherwerbende Individuum spricht eine Sprache, die sie sich in singulärer, unverwechselbarer Manier angeeignet hat; bei aller Gleichförmigkeit und Typizität gibt es minimale, idiomatische Differenzen. Und: jedesmal, wenn wir eine sprachliche Äußerung tätigen, trägt sich dies in einem singulären Hierund-Jetzt zu. Gleichwohl gehört keinem Individuum diese Sprache, sie ist immer von anderen übernommen, und insoweit spricht es immer, selbst bei einer starken stilistischen Idiomatisierung, mit fremder Stimme, genauer: mit fremden Stimmen, die sich in sein Sprechen hineinmischen.37 Die Sprache stellt sich damit als stets zugleich singulär und in sich plural dar, ich spreche eine und meine Sprache, aber die Sprache beherbergt immer mehrere, plurale semantische Schichten und kommt immer von anderen. Sie gehört mir und gehört mir nicht, sie ist singulär
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»›[I]ch spreche nur eine einzige Sprache, (und, aber, nun) das ist nicht die meinige‹«, so lautet eine spätere Formulierung der Aporie im selben Text (Derrida 2003d: 49). Das ›und, aber, nun‹ bringt die genannte aporetische Spannung sprachlich zum Ausdruck. Von diesem Text ausgehend könnte man über zwei bei Derrida auch sonstwo auftauchende Gesichtspunkte sprechen: (i) der begriffliche Komplex von Ex-appropriation, Enteignung und Entfremdung, den ich schon oben durch den Hinweis auf die mit der Iterabilität gegebene Entwendbarkeit gestreift hatte; (ii) die spezifischere Redeweise von einer ›Zugehörigkeitsklausel‹, die Derrida im Hinblick auf die Antinomie der beiden oben zitierten Sätze verwendet (ebd.: 21). Denn diese verweist auf die »Gattungsklausel« (Derrida 1994b: 261), von der in Das Gesetz der Gattung die Rede ist. Dieser gemäß eignet es allen iterablen Elementen, sich durch eine »Teilhabe ohne Zugehörigkeit« (ebd.: 252) auszuzeichnen: Sie partizipieren stets an gewissen Kontexten, Gattungen, Sprachen oder Mengen, gehören diesen aber nie so zu, dass sie nicht von ihnen losgelöst werden könnten. Jeglicher so begrenzte Bereich, also eine Gattung oder eine Sprache, ist so durch ein »Gesetz der Unreinheit oder ein Prinzip der Kontamination« strukturiert oder regiert, das dazu führt, dass es »unmöglich« ist, »die Gattungen nicht zu vermischen« (ebd.: 250). Das bedeutet nicht sogleich, dass man nicht umhin kann, alle Gattungen und Sprachen willentlich zu vermengen, sondern nur, dass die Kontamination strukturell immer möglich ist und dass sich unbemerkt und implizit etwas Fremdes, Nichtzugehöriges in etwas mischen kann, von dem man glaubt, es sei etwas Eigenes. Das gegenwärtig gern herangezogene ›christliche Abendland‹ oder die Kultur des ›Westens‹ zum Beispiel haben Wurzeln, die über die römische und griechische Antike bis in den mediterranen Raum und den vorderen Orient reichen. Das Eigene und das Fremde so klar voneinander zu trennen, dürfte darum schwieriger sein, als es manchem scheint. »[D]ie Phantasmen von Eigentum, Aneignung und kolonialistischer Aufzwingung«, so Derrida in seinem letzten Interview, rückblickend auf Die Einsprachigkeit des Anderen, gibt es eben nur wegen dieses Umstands, dass »[e]ine Sprache/ nichts, was einem gehört« (Derrida 2005: 46f.), ist.
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und sie ist nicht singulär, denn sie wird von anderen wiederholt und ist wiederholbar – Antinomien. Zwei Derridasche Figuren solch einer Pluralisierung möchte ich nun noch abschließend aufrufen: (i) das Gespenst und (ii) das Erbe. An ihnen erläutert, wird, so hoffe ich, auch die gedächtnishafte Dimension solcher Pluralisierungsprozesse deutlicher. Beide Begriffe finden sich eher in den späteren Texten Derridas, und er hat sie alternierend für Überlegungen herangezogen, die sich meistens dem Erbe Marxʼ, also dessen Texten und Ideen, dem kulturellen Raum Europa, der politischen Form Demokratie und den Menschenrechten widmen. Für alle diese Phänomene ist kennzeichnend, dass sie als Erbschaft und als iterable Archive zwar aus der Vergangenheit kommen, ihr Sinn aber noch aussteht, im Kommen bleibt, und sie darum ebensosehr in eine nicht präfigurierte Zukunft weisen. Ganz explizit weist Derrida in Marxʼ Gespenster (Derrida 2004: 33) aus diesem Grund etwa ›Marx‹ den Status eines Ereignisses in der Geschichte zu. Und ein ›seit Marx‹ fährt fort, den Ort der Zuweisung zu bezeichnen, von dem her wir verpflichtet sind. Wenn es aber Verpflichtung oder Zuweisung gibt […], dann bezeichnet das ›seit‹ oder ›von…her‹ einen Ort und eine Zeit, die uns zwar zweifellos vorausgegangen sind, die aber, ebensogut räumlich wie zeitlich noch vor uns liegen. Von der Zukunft her also, aus der Vergangenheit als absoluter Zukunft, vom Nicht-Wissen und Nicht-Eingetretenen eines Ereignisses her, dessen, was zu sein (to be): zu tun und zu entscheiden bleibt […]. Wenn ein ›seit Marx‹ oder ›von Marx her‹ ebenso eine Zukunft wie eine Vergangenheit bezeichnet, die Vergangenheit eines Eigennamens, dann deswegen, weil das Eigene eines Eigennamens immer zukünftig bleiben wird. ›Marx‹ wird hier als Zäsur, als Bruch in der Geschichte verstanden, der in seiner ereignishaften Singularität dem Allgemeinen, den Deutungen und Rezeptionen inkommensurabel bleibt und deshalb fortfährt, Versuche solcher Deutung und Aneignung zu inspirieren. Wegen des (i) iterablen Charakters des marxschen Werks und seiner (ii) inneren Heterogenität – es gibt eine Vielzahl von Texten, die sich widersprüchlich zueinander verhalten mögen – teilt sich das Ereignis ›Marx‹ bereits von seinem ersten Auftauchen an in seinem Inneren; darum ist es out of joint, von sich selbst abgetrennt, uneins mit sich, wie Derrida in diesem Text häufig sagt. Wir hatten ja gesehen, dass dies aus Derridas Sicht allen iterablen Elementen notwendigerweise eignet. Darum sind die Gespenster Marxʼ plural: ein in seiner Einzigartigkeit iterables Ereignis kehrt stets der Möglichkeit nach mehrfach wieder, zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten. Dabei gibt es keine Stätte und keine Gegenwart, an der sich dieses Gespenst von Marx – oder eben, nüchterner: sein Werk, sein Name – vollends phänomenalisieren lassen würde. Die Figur des Gespensts war für Derrida vor allem auch deswegen interessant, weil es sich stets zwischen Gegenwart und Nicht-Gegenwart und zwischen Sichtbar-
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keit und Unsichtbarkeit hält. Darin erweist sich einmal mehr der Stellenwert einer aporetischen oder dialektischen Komplikation: das Gespenst lässt sich nicht binär aufteilen, es ist nicht entweder gegenwärtig oder nichtgegenwärtig, sichtbar oder unsichtbar, sondern beides zugleich.38 In der folgenden Passage aus Marxʼ Gespenster (Derrida 2004: 139) formuliert Derrida diese Charakteristika des Gespensts in einer gedrungenen Weise: Das Gespenst kennt mehrere Zeiten. Das Eigene des Gespensts, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals lebenden oder von einem künftig Lebenden zeugt, denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespenstes eines verheißenen Lebendigen bedeuten. Unzeitigkeit, noch einmal, und Uneinssein des Gleichzeitigen. In dieser Hinsicht ist der Kommunismus immer gespenstisch gewesen und wird es auch bleiben: Er bleibt stets zukünftig und unterscheidet sich, wie die Demokratie selbst, von jeder lebendigen Gegenwart als Fülle einer Gegenwärtigkeit mit sich, als Totalität einer wirklich mit sich identischen Gegenwärtigkeit. […] Ein Phantom stirbt niemals, es bleibt stets zu-künftig und wieder-künftig. Solange das marxsche Erbe also in unterschiedlichen Kontexten wiederkehren kann – dies hängt freilich auch von seiner materiellen Persistenz durch die Zeiten hindurch ab –, steht sein Sinn fortwährend aus und bleibt stets zukünftig. Es lässt sich niemals in eine reine Gegenwart einschließen oder auf diese reduzieren. In der Vergangenheit, man kann es so paradoxal und chiasmatisch formulieren, gibt es also mitunter Zukunft, und in der Zukunft mag Vergangenes wiederkehren. Vergangenheit und Zukunft verflechten sich auf komplizierte, unentwirrbare Weise, denn die Zukunft remoduliert nachträglich die Vergangenheit, und die Vergangenheit entläßt in ihrer Unbestimmtheit das Potential einer offenen Zukunft – eine »anachronische Komplikation« (ebd.: 102). Wenn es nun prinzipiell eine solche Pluralität der Gespenster gibt, gibt es auch eine Mehrheit von Nachfahren und Erben, von Filiationen und Doppelgängern. Dieses Thema durchzieht Marxʼ Gespenster auf untergründige Weise, und das schmale Nachfolgebüchlein Marx & Sons (Derrida 2004a) trägt diesen mokanten Titel auch deswegen, weil sich Derrida darin mit den selbsterklärten Söhnen und Töchtern von Marx auseinandersetzt. »Wenn ich so oft behaupte, daß es mehr 38
Das ist der Kern dessen, was Derrida eine »Logik der der Spektralität und des Gespenstigen« (Derrida 2004: 18 Fn. 5, 50, 109) nennt. Diese »Logik des Gespensts« deutet auf ein »Denken des Ereignisses/], das eine binäre oder dialektische Logik notwendig überschreitet, jene Logik, die Wirklichkeit (präsent, aktuell, lebendig, empirisch – oder nicht) und Idealität (regulative oder absolute Nicht-Präsenz) unterscheidet oder einander gegenüberstellt.« (Ebd.: 93f.) Weil diese Logik, so Derrida in Echographien, »sämtliche Oppositionen zwischen sichtbar und unsichtbar, sinnlich und unsinnlich überschreitet« ist sie präzise eine »dekonstruktive Logik« (Derrida 2006l: 133). Vgl. genauso Derrida 2004a: 71f.
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als ein Gespenst oder einen Geist von Marx gibt, erkenne ich an, daß die Erben zahlreich, manchmal verborgen und illegitim sind und es auch sein müssen, wie überall«, so Derrida (Derrida 2004a: 47). »Wer sind die Marxisten heute, was heißt das, ›erben‹?«, fragt sich Derrida in Marx, das ist jemand [Besonderes] ebenso wie, ob dieses Erbe, soll es nicht doktrinär verengt werden, »mehr durch illegitime Erben als durch legitime Erben reanimiert und reaffirmiert werden kann« (Derrida 2017a: 310). Abermals kommt damit das Problem zutage, wer darüber entscheidet, wer die legitimen Erben sind, wie eine legitime Lektüre auszusehen hat, welches die Grenzen dafür sind, mit welchen anderen Erbschaften es gekreuzt und kombiniert werden darf.39 Dem Begriff des Erbes und den mit ihm verbundenen, eben angedeuteten Topoi hat Derrida in seinen späteren Schriften noch an einem weiteren Gegenstandsfeld Profil verliehen. Insbesondere in den beiden kleinen Texten Das andere Kap und Die vertagte Demokratie gilt ›Europa‹ als eine solche Erbschaft. Das Erbe Europas ist dort der Ausgangspunkt, um zu plausibilisieren, dass sich eine Kultur nur durch Prozesse der Wiederholung bilden und stabilisieren kann, womit ineins gilt, dass sich stabile kulturelle Strukturen und Identitäten in solchen Prozessen als gleichzeitig immer auch destabilisierbar und wandelbar erweisen. Eine kulturelle Identität ist mithin prinzipiell von einer Differenz gekennzeichnet – sie ist nicht, oder nicht vordringlich, durch eine Differenz zu anderen Kulturen, sondern durch eine Differenz zu sich selber ausgezeichnet. Iteration meint stets diese paradoxe Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz, von Stabilisierung und Variierung durch Wiederholung. Eine Kultur, beispielhaft ›Europa‹, ist also »nicht mit sich selber identisch« (Derrida 1992: 12), es gibt ein »Von-sich-selber-sich-Unterscheiden[]« (ebd.: 13), ein »maßlose[s] ›Mit-sich‹-Differieren[]« (ebd.: 36), das in ihr am Werk ist. Die europäische Kultur »bezieht sich auf sich selbst nicht allein, um sich im Mit-sichselber-Differieren zu sammeln, sondern auch, um sich zu öffnen« (ebd.: 55). Sie 39
Nicht von ungefähr kommt Derrida in Marx & Sons (Derrida 2004a: 34f.) auf die andere größere Erbschaftsstreitigkeit zu sprechen, nämlich seine Lektüre von Austin und seinen Konflikt mit Searle. Denn er hat Austins Überlegungen nicht im selben Duktus fortgeführt, sondern in einem genauen Sinn ›überdeterminiert‹, nämlich mit anderen Motiven und Einsichten gekreuzt. Wo immer er sich auf die Theorie des Performativen oder der Sprechakte berief, so erklärt er, handelte es sich um etwas anderes »als bloß um die Anwendung eines Austin’schen Begriffs (auch hier hoffe ich treu-untreu gewesen zu sein, untreu aus Treue gegenüber einem Erbe, gegenüber ›Austin‹, gegenüber einem Gedanken oder einem wichtigen theoretischen Ereignis, wohl einem der fruchtbarsten unserer Zeit). Ich habe seit langem versucht, die Theorie des Performativen von innen heraus zu transformieren, sie zu dekonstruieren, d.h. sie selbst überzudeterminieren, sie auf andere Weise, mit einer anderen ›Logik‹ umzusetzen – und zwar, indem ich eine bestimmte ›Ontologie‹ ablehnte, so nämlich den Wert der erfüllten Gegenwart, der (phänomenologisch betrachtet) die intentionalistischen Motive der Aufrichtigkeit, des ›Gelingens‹, des einfachen Gegensatzes zwischen Gelingen und Nichtgelingen etc. prägt.«
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kann sich nur schließen, als ein homogenes, identifizierbares Ensemble von Elementen fungieren, soweit diese ihre einzelnen Elemente iterabel sind und sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht verstreuen können. Diese Schließung ist aber prinzipiell prekär, nie lässt sich die Möglichkeit ausräumen, dass ihr Erbe anders anverwandelt wird, und in diesem Sinne ist sie auf die Gefahr ihrer eigenen Alteration geöffnet. Diese einer Kultur eignende Aporetik von Identität und Differenz ist einer der prävalenten Züge in Derridas Europa gewidmeten Überlegungen in den genannten Texten. Diese Form der Selbstdifferenz oder der Nichtidentität mit sich lässt sich allerdings in zweierlei Weise auslegen, und während die erste Lesart in der Rezeption zumeist im Vordergrund steht, ist die zweite, von Derrida in einem Gespräch erläuterte Lektüreoption nicht weniger interessant. Um die beiden Verständnisweisen von Selbstdifferenz zu unterscheiden: (i) Wenn es plausibel ist, dass eine Kultur sich über Prozesse der Wiederholung bildet, Wiederholung aber unweigerlich mit einer minimalen Verschiebung des Wiederholten einhergeht, sind kulturelle Identitäten immer zugleich nichtidentisch. Demgemäß muss man eine stetig mitlaufende minimale Differierung und eine strukturell implizierte, aber nur eventuell auftretende massivere Form der Variation einräumen. Diese Art der Selbstdifferenz ist, möchte ich sagen, in dem Sinne einfach oder roh, als dies, jedenfalls für Derrida, im Begriff der Stabilisierung oder Stabilität impliziert ist. »[D]aß es keine absolute, ewige, unantastbare, natürliche Stabilität gibt« ist demnach schlicht »im Begriff der Stabilität selbst impliziert. Stabilität ist nicht Unveränderlichkeit, sie ist per definitionem immer destabilisierbar.« (Derrida 2001b: 233) (ii) Die zweite Form der Selbstdifferenz einer Kultur oder einer Erbschaft ähnelt zunächst der ersten, ist aber komplizierter angelegt und verweist uns statt an Begriffe wie Identität, Stabilität und Differenz an den vorderhand eigenartig anmutenden Begriff der Autoimmunität. Dieses Verständnis von Selbstdifferenz liegt überdies mehr noch als das erste enger an einer Auffassung der Dekonstruktion, die diese nicht als einen nachträglich erfolgenden Akt, sondern als etwas, das bereits in den zu dekonstruierenden Gebilden vorgeht, versteht. Die Selbstdifferenz besteht hier näherhin darin, dass in der europäischen Kultur latent ein Potential enthalten ist, das diese selbst überschreitet. Die Nichtidentität mit sich wird hier nicht so sehr entlang zeitlicher und räumlicher Wiederholungsprozesse erläutert, sondern es handelt sich um eine Differenz zwischen einem in Reserve behaltenen, unausgeschöpften Potential und seiner bis dato erfolgten Realisierung. Derrida erläutert dies nun – obwohl selber nicht derart systematisierend vorgehend – am Ende des Gesprächsabschnitts ›Sein Erbe wählen‹ in einem besonders ausführlich gehaltenen Gespräch mit Elisabeth Roudinesco, Woraus wird morgen gemacht sein? Er sagt dort zunächst, »[a]uch wenn die Philosophie eine Wurzel hat (Griechenland), so besteht ihr Entwurf doch gleichzeitig darin, die Wurzeln zu kappen und dafür zu sorgen, daß das, was auf griechisch gesagt wird in ›mehr als
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einer Sprache‹ freigesetzt wird.« (Derrida/Roudinesco 2006: 38) Die Philosophie und die Menschenrechte gelten ihm hier als Sprößlinge der europäischen Kultur, und demgemäß ist das über sie Gesagte zugleich eine Thematisierung Europas. Was wir hier bereits sehen und wiedererkennen können, ist die durch die Iterabilität gegebene Ablösbarkeit und Dislozierbarkeit von einem Ursprung oder einer Wurzel und zudem die dadurch gewährleistete Möglichkeit von Pluralisierung und Übersetzung. Besonders wichtig ist aber das darauf Folgende – Derrida sagt (ebd.: 38f.): Über fünfundzwanzig Jahrhunderte hat dieses Projekt einer Universalisierung der Philosophie niemals aufgehört, sich zu wandeln, sich zu verschieben, mit sich selbst zu brechen, sich auszudehnen. Heute muß es sich weiter entfalten, um sich immer mehr von ihren ethnischen, geographischen und politischen Grenzen zu befreien. Das Paradox ist tatsächlich, daß man sich im Namen der Philosophie und ihrer europäischen Abstammung vom Ethnozentrismus und unter Umständen auch vom Europazentrismus befreit. Es liegt darin ein lebendiger Widerspruch, der Widerspruch von Europa selbst, gestern und morgen: Es verschafft sich nicht nur Waffen gegen sich selbst und gegen seine eigene Beschränkung, sondern es verschafft auch allen Völkern und allen Kulturen, die der europäische Kolonialismus versklavt hat, politische Waffen. Dies ähnelt, einmal mehr, dem Prozeß einer Autoimmunisierung. […] Nehmen wir das Beispiel des internationalen Rechts. In seinen Begriffen ist es in der Substanz europäisch, aber es trägt in sich eine Transformation des Rechts, die stets vervollkommungsfähig, also unvollendet bleibt. Man muß ein wachsames Auge darauf haben, daß der europäische Anteil an diesem internationalen Recht es letztlich nicht limitiert, so daß man das Recht aus seinen eigenen europazentrischen Grenzen befreien kann, doch ohne deswegen das Gedächtnis dieses Rechts zu zerstören, denn dieses Gedächtnis ermöglicht auch seine Transformation, seine unendliche Vervollkommungsfähigkeit und schreibt sie vor. Es liegt darin folglich noch eine Aufgabe endloser Dekonstruktion: Man muß aus dem Gedächtnis des Erbes die begrifflichen Werkzeuge schöpfen, die es ermöglichen, die Grenzen anzufechten, die dieses Erbe bisher auferlegt hat. In dieser Passage verschlingen sich nochmal unterschiedliche mit der Iterabilität verbundene Aspekte, die wir bereits angetippt hatten: das Erbe, das Gedächtnis, die Differenz in der Wiederholung, die Möglichkeit von Migration und Verstreuung kultureller Elemente. Wesentlich bedeutsamer ist, dass Derrida hier recht pointiert und exemplarisch an Europa illustriert vor Augen legt, was es heißen mag, dass dekonstruktive Prozesse schon selbst in einem Gebilde, einer Kultur oder einem Werk vonstatten gehen. Dass Europa hier von einer Autoimmunität gekennzeichnet ist, bedeutet präzise, dass es in sich selber ein Potential bereithält, das über seine bisherigen Realisierungen hinausreicht. Transformation, Modifikation und Variation
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einer Erbschaft fallen dieser nicht von außen zu, sondern speisen sich aus ihrem Inneren. Weil es in sich heterogen und disparat ist – different mit sich40 –, lässt sich ein Europa gegen ein anderes Europa aufrufen, die Menschenrechte gegen die Menschenrechte in Stellung bringen – im »Namen einer Idee des Rechts […], die bereits im Entwurf einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gegenwärtig war« (ebd.: 39f.). ›Europa‹ ist hier also nicht nur ein paradigmatischer Ausgangspunkt, um die Nichtidentität von Kulturen zu erläutern, sondern ebenso für ein spezifischeres Verständnis der Dekonstruktion, für welches Autoimmunität lediglich ein spät eingeführter Begriff ist. »Europa«, so Derrida deshalb später in diesem Gespräch (ebd.: 294), »ist in meinen Augen das schönste Beispiel und auch die Allegorie der Auto-Immunität.« Denn »[w]as exportiert wird, in einer europäischen Sprache, sieht sich sogleich im Namen dessen, was in diesem europäischen Erbe selbst potentiell am Werk war, im Namen der Möglichkeit einer Auto-HeteroDekonstruktion – oder noch, wie ich sagen würde, einer Auto-Immunität – in Frage gestellt.« Die Dislokation oder der Export des europäischen Erbes – wir können auch sagen: seine Teilung, seine Pluralisierung – führte also nicht nur zu Differenzierung und Variation, sondern auch zu einer potentiellen Kritik dieses Erbes – von sich selber gespeist, aus seinem eigenen Vorrat, durch sich selbst motiviert: autoimmun.
3.2.4 Psyche, Wahrnehmung und Iterabilität Einmal mehr können wir so sehen, dass die Begrifflichkeit Derridas derart intern vernetzt ist, dass wir über die Reihe Iterabilität-Gedächtnis-Erbe bis zu den Begriffen Autoimmunität und Dekonstruktion geführt werden. ›Nun ja‹, mag man jetzt gleichwohl einhaken, ›es ist ja schön und gut, dass wir am Leitfaden der Iterabilität zu einem solchen mäandernden Parcours durch das Œuvre Derridas geführt worden sind – aber: sind die bisherigen Äußerungen Derridas, wonach sich die Iterabilität bis auf Erfahrung und Wahrnehmung erstreckt, nicht lediglich programmatischer oder deklaratorischer Natur geblieben?‹ Wir haben zwar die konzeptuelle 40
In dem – neben den Stellen in Glauben und Wissen (Derrida 2001a: 40f. Fn. 20, 45, 69, 72 Fn. 33, 76, 84f., 106) – einschlägigen Text zum Begriff der Autoimmunität Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde (Derrida 2006a) exemplifiziert Derrida denn auch den Begriff an der dichotomisierenden und homogenisierenden Gegenüberstellung von Westen und Orient: »Dann muß man all die ›Ensembles‹, denen wir gerne die Verantwortung für den Terrorismus zuschieben würden, unterteilen oder jedenfalls unterscheiden. Es sind dies weder die Araber im allgemeinen noch der Islam oder der arabisch-islamische Nahe Osten. Jedes dieser Ensembles ist nämlich heterogen und leidet unter Spannungen, Konflikten, grundlegenden Widersprüchen und auch dort unter selbstzerstörerischen, fast selbstmörderischen, kurz: autoimmunitären Prozessen. Das gleiche gilt für den ›Westen‹.« (Ebd.: 153f.)
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Reichhaltigkeit des Begriffs der Iterabilität gesehen, aber tatsächlich war die Behauptung, auch die Wahrnehmung sei derart durch Wiederholbarkeit strukturiert, nur an einer Stelle, nämlich in Signatur Ereignis Kontext, zu belegen. Die Iterabilität würde demzufolge »für das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung, sogar Seinserfahrung nennen würde, gelten« (Derrida 2001b: 27), man würde sie »in der Totalität der ›Erfahrung‹ sofern sie nicht von diesem Feld des Zeichens [marque] getrennt ist, von Einheiten der Iterabilität, Einheiten, die von ihrem internen oder externen Kontext und auch von sich selbst ablösbar sind« (ebd.: 28), finden. Und auch später in Limited Inc. »behält die Iterabilität einen Allgemeinheitswert, der die Gesamtheit dessen deckt, was man Erfahrung oder Beziehung zu etwas im allgemeinen nennen könnte. Sie deckt nicht nur, sondern deckt im besonderen das, was man intentionale Erfahrung nennt, ab.« (ebd.: 200) Die konzeptuellen Folgerungen aus dem Iterabilitätsbegriff würden sich demnach bis auf die Wahrnehmung von Gegebenheiten in der Welt erstrecken. Auch unsere Wahrnehmung wäre in diesem Sinn durch verallgemeinerbare, wiederholbare Grapheme strukturiert und ihre Gegenwart – der jeweilige, singuläre Akt oder Vollzug der Wahrnehmung – strukturell geteilt, insoweit sie auf frühere und spätere Instantiierungen verwiese. Zunächst könnte der husserlianische Begriff der Intentionalität den richtigen, gehaltvollen Ausgangspunkt abgeben, um dies präziser zu modellieren – denn Derrida sprach ja eben selber von ›intentionaler Erfahrung‹. Aber diejenigen seiner Texte, die sich explizit der Auseinandersetzung mit Husserls Werk widmen, greifen diesen Begriff nur verstreut und beiläufig auf. In Texten wie Die Stimme und das Phänomen, Die Form und das Bedeuten, Husserls Weg in die Geometrie am Leitfaden der Schrift und ›Genesis und Struktur‹ und die Phänomenologie (Derrida 1976b) stehen andere konzeptuelle Differenzen, Themen und begriffliche Probleme im Vordergrund, der Begriff selbst spielt eine untergeordnete Rolle. Lediglich in zwei der die Philosophie Lévinasʼ aufgreifenden Texte kommt Derrida ausführlicher und unter einem systematischen Blickwinkel auf ihn zu sprechen. Beide rekonstruieren indessen vor allem die Kritik, die Lévinas an der Intentionalität vorgebracht hat, und die alternativen begrifflichen Optionen, die sich als ›Gastlichkeit‹ oder ›Empfang‹ in dessen Texten finden. Die Intentionalität »öffnet sich gleich an der Schwelle ihrer selbst in ihrer allgemeinsten Struktur als Gastlichkeit, als Empfang des Antlitzes, Ethik der Gastlichkeit, Ethik also ganz allgemein«, wie es in Das Wort zum Empfang (Derrida 1999: 72) heißt. Indem der bestimmende und aktiv geleistete intentionale Bezug auf Andersheit von Derrida und Lévinas an solcherlei Stellen mit dem Motiv eines passiven Ausgesetztseins gekreuzt wird, erhält die Intentionalität eine ethische Komponente. Das Thema der Erfahrung von Alterität verbindet mithin wahrnehmungstheoretische und ethische Reflexionen, und diesem Faden zu folgen, würde uns wieder bei den aporetischen Problemstellungen des ersten Kapitels anlangen lassen. Wie, so wäre dann die Frage, wäre der intentionale Bezug auf den Anderen, seine phänomenale Bestimmung oder Thematisierung auf eine
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Weise zu denken, die darin zugleich seine irreduzible Fremdheit oder Andersheit zu wahren verstände? Wie vom Anderen reden oder es erfahren, ohne es dem Selben zu assimilieren? Die andere Stelle, an die ich denke, eine Passage aus Gewalt und Metaphysik von 1964, also 32 Jahre vor dem eben genannten Vortrag über Lévinas, resümiert zwar ebenfalls dessen Kritik am Intentionalitätsbegriff und seinen eventuell problematischen Konsequenzen, nimmt aber Husserl demgegenüber in Schutz. »Die Husserlsche Intentionalität sei als Erschauung und theoretische Anschauung Adäquation. Sie erschöpfe und verinnerliche jede Distanz und jede wahrhaft Andersheit« – das resümiert recht gedrängt Lévinasʼ Vorbehalte (Derrida 1976a: 180). Die Intentionalität reduziert demfolgend das Andere auf das Selbe, sie lässt die Singularität des Anderen in allgemeinen begrifflichen Strukturen erlöschen, sie verinnerlicht das Außen und homogenisiert das Heterogene. Aber Derrida lässt sich hier offenkundig nicht zu rückhaltloser Beistimmung bewegen; er fragt gleich darauf verdrießlich, ob es denn »ein strengeres und vor allem wortgetreueres Husserlsches Thema als das der Inadäquation« (ebd.: 182f.) gebe. »Wenn das Bewußtsein der unendlichen Inadäquation an das Unendliche (und an das Endliche sogar) das Eigentliche eines um die Achtung der Äußerlichkeit besorgten Denkens ist, dann versteht man schlecht, wie sich Levinas an diesem Punkt wenigstens von Husserl trennen kann. Ist die Intentionalität nicht die Achtung selbst? Die ewige Irreduzibilität des Andern auf das Selbst, des Andern aber, der dem Selbst als anders erscheint?« (Ebd.: 184) Man kann, so lässt sich Derridas Verteidigung Husserls gegen Lévinas verstehen, auch den Husserlschen Begriff der Intentionalität gemäß der alteritätstheoretischen Forderungen deuten, oder ihn jedenfalls so modifizieren, dass in den intentionalen Bezug immer zugleich auch die Anerkennung von Irreduzibilität und Inadäquation eingetragen ist. Wo »Levinas zufolge […] Husserl die unendliche Andersheit des Andern verfehlt und ihn auf das Selbst reduziert« (ebd.: 186) hätte, sei für diesen frühen Derrida keiner für eine primordial in der Intentionalität gegebene, »ursprüngliche Nicht-Phänomenalität […] empfänglicher gewesen als Husserl.« (Ebd.: 188) So interessant nun dieses wechselvolle Schicksal der ›Intentionalität‹ von Husserl über Lévinas und Derrida philologisch sein mag, ist der Begriff selber nicht zur Plausibilisierung dessen angetan, dass auch die Wahrnehmung durch Iterabilität strukturiert sei. Denn wie zu sehen wird er von Derrida mit einem anderen Problembezug versehen: es dreht sich um das Problem des intentionalen Bezugs auf Alterität; die Frage indessen, welche Auswirkungen Wiederholbarkeit für die Gegenwärtigkeit und Singularität von intentionalen Akten haben könnte, wird an den betreffenden Stellen nicht berührt. Auch die Passagen aus Signatur Ereignis Kontext und Limited Inc. orientieren den Intentionalitätsbegriff auf ein anderes Problem hin: hier steht die Mitteilungsabsicht einer Sprecherin oder einer Autorin im Fokus, ihre kontrollierbare »Bedeutungsintention [intention de
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signification]« (Derrida 2001b: 29, 30) und die Gegenwärtigkeit und Reinheit meines »Sagen-Wollens, meiner Bedeutungsintention [intention-de-signification], meines Dies-Mitteilen-Wollens [vouloir-communiquer-ceci]« (ebd.: 26). Die Iterabilität, durch die sich sprachliche Mitteilungen auszeichnen müssen, gewährleistet nicht die Identität von intendiertem und kommuniziertem Sinn, sondern sorgt dafür, dass das Gesagte oder Geschriebene der Möglichkeit nach andere, der Sprecherin latent bleibende Sinngehalte aufruft und es von den Empfängern in anderer Weise verstanden wird, als es gemeint war. Das ist durch unseren langen Streifzug durch den Iterabilitätsbegriff deutlich geworden, und darum brauchen wir darauf hier nicht mehr zurückzukommen. Wenn es sich nun exegetisch so darstellt, dass der Begriff der Intentionalität in den Texten Derridas nicht unmittelbar unter dem Blickwinkel der Iterabilität diskutiert wird, muss man sich nach einem anderen Ankerpunkt umsehen, um zu eruieren, wie Derridas Überlegungen zum Konnex von Iterabilität und Wahrnehmung und Erfahrung genauer lauten mögen. Wir können dafür auf einen weiteren der vielen Texte Derridas zu Freud zurückgreifen, jetzt aber nicht Dem Archiv verschrieben, sondern den prominenten, aber komplizierten Freud und der Schauplatz der Schrift sowie Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur, ein abseits publiziertes Gespräch mit Hubertus von Amelunxen und Michael Wetzel von 1992. Entgegem dem oberflächlichen Anschein – das Gespräch findet sich in einer vierbändigen Anthologie zur Theorie der Photographie – behandeln beide Texte ähnliche Fragestellungen. Dies rührt daher, dass Derrida den psychischen und den photographischen ›Apparat‹, die Technik oder Struktur der Wahrnehmung und die der Photographie unter gemeinsamen Vorzeichen analysiert. Beide zeichnen sich demnach gleichermaßen durch Wiederholbarkeit und Technizität aus. So wie Photographien reproduzierbar, vervielfältigbar und von ihrem Entstehungskontext ablösbar sind, so sind auch die durch Wahrnehmungen erschlossenen Erlebnisse nie derart einzigartig und an ihre Gegenwart gebunden, dass sie nicht in anderen Augenblicken erinnerbar sein oder mit anderen Erlebnissen in Beziehungen der Verwandtschaft und Ähnlichkeit stehen könnten. In der Wahrnehmung sind wir demnach auch nicht rein passiv den Gegebenheiten ausgesetzt, sondern bestimmte implizit fungierende Strukturen greifen so in sie ein, dass uns das Wahrgenommene immer nur derart strukturiert und vermittelt gegenübertritt. Derrida sagt in dem erwähnten Gespräch (Derrida 2000c: 287): [M]an kann nicht mehr Wahrnehmung und Technik gegenüberstellen; es gibt keine Wahrnehmung vor der Möglichkeit der prothetischen Wiederholbarkeit [itérabilité]; und diese einfache Möglichkeit markiert im voraus die Wahrnehmung und die Phänomenologie der Wahrnehmung. Es gibt bereits in der Wahrnehmung Verfahren der Auswahl, der Belichtungsdauer, des Filters, der Entwicklung; der psychische Apparat funktioniert auch wie ein fotografischer Einschreibungs- und
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Archivierungsapparat. Erinnern wir uns an den Wunderblock [dt. im Original] von Freud. Was ich darüber vor langer Zeit zu sagen versucht habe, und zwar in bezug auf die Schrift, betraf genauso die Fotografie. Selbst wenn nicht unmittelbar klar und plausibel werden mag, welches die Korrelate der photographischen ›Belichtungsdauer‹ und der ›Entwicklung‹ im Bewusstsein sein mögen, kann man hier doch sehr deutlich sehen, dass für Derrida sich auch die Wahrnehmung durch Wiederholbarkeit auszeichnet.41 Darum kommen hier abermals die Topoi des Gedächtnisses, der Archivierung und Einschreibung, der Selektivität und der verallgemeinerte Schriftbegriff zum Zuge. Deswegen können wir es uns hier nun auch zunutze machen, derlei Aspekten im Vorangegangenen so ausführlich Beachtung geschenkt zu haben. Diese Begrifflichkeit hier nochmals im Hinblick auf Wahrnehmungsvollzüge vorzuführen, erlaubt es außerdem, sie in anderer Formulierung zu resümieren und zu bündeln. Das angesprochene Gespräch beginnt zunächst mit einer längeren Überlegung Derridas (ebd.: 280) über die Gegenwärtigkeit, die augenblickliche, zumeist als punktualisiert verstandene Präsenz einer Wahrnehmung oder Erfahrung. Sie sei hier ganz wiedergegeben – alle mit der Wiederholbarkeit verknüpften theoretischen Folgerungen dürften uns bekannt vorkommen: Wie kann man sich ein unmittelbares Archiv vorstellen, gewissermaßen eine Gegenwart, die aus ihrem eigenen Gedächtnis oder ihrer eigenen Reproduktion bestünde? In diesem Fall, der mehr und etwas anderes als ein Fall ist, würde sich die Erfahrung selbst, die Erfahrung von dem, was man Gegenwart nennt, als Selbstbewahrung herausbilden, sicherlich aber auf eine Weise, bei der etwas verloren ginge und etwas vom selben Ereignis sich bewahrte, vom Punkt des Ereignisses, von seiner Pointe. […] Denn im allgemeinen wird der Augenblick als eine Pointe, als stigmé, als Punkt [dt. im Original] konzipiert, und die Punktualität des Punktes wäre zunächst unteilbar. In der Situation nun, auf die wir angespielt haben, ginge es paradoxerweise um eine Erfahrung des Einzigartigen, des NichtWiederholbaren, des Einmaligen, das dennoch in dem Maße teilbar wäre, wie sich ein Archiv davon gewissermaßen abhöbe: Ein Archiv bliebe, es überlebte, während dasjenige, wovon es Archiv ist, verschwunden ist – ein normales Phä-
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Diese Metaphorik oder analogisierende Übertragung geht indessen auf Freud zurück, den Derrida diesbezüglich auch zitiert. In Freud und der Schauplatz der Schrift (Derrida 1976d: 329f. Fn. 42) lautet es daher: »In Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse werden die Beziehungen des Bewußtseins zum Unbewußten mit dem photographischen Vorgang verglichen: ›Das erste Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photographische Bild muß den ›Negativprozeß‹ durchmachen, und einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden haben, werden zu dem ›Positivprozeß‹ zugelassen, der mit dem Bilde endigt‹ […].«
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nomen, aber ohne daß gleichwohl hier das Archiv einfach nur Kopie wäre, Reproduktion oder Abdruck einer anderen Gegenwart. Der in einem einzigartigen Augenblick stattfindende Eindruck und die Spur, die er hinterlässt; das irreversibel Vergehende, Unwiederholbare, das sich teilt und sich auf verschiedenerlei Weise auf Trägern archivieren mag; die Wahrnehmung eines singulären, unersetzlichen Ereignisses, von dem sich eine Erinnerung bewahrt, so dass man seiner noch in entlegenen Kontexten gedenken kann – man kann hier die nämliche Aporie, die paradoxe Gleichzeitigkeit von Singularität und Verallgemeinerbarkeit, von Punktualität und Teilbarkeit, von Einmaligkeit und Pluralisierbarkeit wiederfinden, die uns im Zusammenhang mit der Iterabilität schon in vielen Wendungen begegnet ist. Wogegen sie gerichtet ist, macht Derrida in dem vorliegenden Zusammenhang nochmals klar: eine dichotome Fassung würde einer unteilbaren, atomistischen, unauflöslichen Gegenwart eine Wiederholbarkeit und damit einen möglichen Verweis auf andere Instantiierungen lediglich äußerlich gegenüberstellen oder additiv hinzufügen. Gegen eine solche »unauflösliche Einfachheit [simplicité indécomposable] einer Zeit des Augenblicks« wird hier eine »Teilbarkeit des ersten Mal« (ebd.: 283) gesetzt. Und gegen einen »phänomenologischen Naturalismus« und »die unveränderbare und un-wiederholbare [in-itérable] Erfahrung einer vor-technischen Wahrnehmung« (ebd.: 284) setzt Derrida wie gesehen den Gedanken einer Iterabilität, die bereits im Herzen der Erfahrung latent am Werk ist und die keine ungebrochene, naturalistische Abspiegelung der Wirklichkeit verstattet. So wie für Adorno die einem Subjekt immanente Tradition die Erfahrung latent informierte und strukturierte und das Gedächtnis mithin zwischen allgemeinen kategorialen Strukturen und konkreten Akten der Erfahrung vermittelte, so stellt auch für Derrida das Gedächtnis zwischen den einzelnen Wiederholungen, den konkreten Instantiierungen einer typischen Form, erst die Verweisungen her, von denen her sie innerhalb einer Reihe oder einer Serie erscheinen. Deswegen sagt Derrida in dem zitierten Abschnitt, dass es eine ›Unmittelbarkeit‹ des Archivs gibt und die Gegenwart gleichsam aus ihrem eigenen Gedächtnis besteht.42 Das Gedächtnis teilt die Gegenwart – und dies einmal mehr in zwei Richtungen, nämlich gerichtet auf bisherige, vergangene, eventuell implizit zitierte Instantiierungen und auf künftige Erinnerungen als Wiederholungen des Abdrucks des Wahrgenommenen.
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Die Parallelformulierung zu dieser Gesprächsäußerung lautet in Mémoires, fast wortgleich: »Aber was würde geschehen, wenn ein derartiges Gedächtnis bereits in der Beziehung der Gegenwart auf seine eigene Gegenwärtigkeit am Werk wäre? Wenn es ein Gedächtnis der Gegenwart gäbe, und wenn dieses Gedächtnis der Gegenwart, weit entfernt davon, ihn an sich selbst anzuschließen, den Augenblick zerteilen würde?« (Derrida 1988e: 84)
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Die photographietheoretische Terminologie ist für diese Konzeption des Bewusstseins und des Gedächtnisses bloß der Ausgangspunkt. Derrida abstrahiert von den Spezifika der Photographie, um ein allgemeineres Vokabular vorzustellen. Die von ihm in diesem Gespräch adressierte Frage mithin ist, ob eine solche Überlegung in »die spezifische Fragestellung der Fotografie einführt und ob dieses allgemeine Gesetz nicht für jedes Archiv gilt« (ebd.: 281). Wenn er den Gedanken erwägt, »[j]eder Originaleindruck teil[e] sich als Archiv« (ebd.: 281), so lässt sich daran nachvollziehen, dass ihm die Photographie lediglich als ein Modell oder als ein Paradigma gilt, um ein darüber hinausreichendes Vokabular zu formulieren, das für andere durch Iterabilität gekennzeichnete Medien – wie eben die Sprache im geläufigen Sinne, das Bewusstsein, verschiedene Formen herkömmlicher Archive – gleichermaßen geltend gemacht werden kann. Jedwedes solches Medium fiele unter den erweiterten, verallgemeinerten Schriftbegriff; jedes wäre eine Graphie – was sich ja schon durch durch die herkömmliche Bezeichnung wie Photographie, Videographie, Ikonographie, Phonographie oder »Echographie« (Derrida 2006l) usw. andeutet – und würde Grapheme, oder eben iterable Marken, als ihre Elemente beinhalten. Ganz in diesem Sinne beginnt der, für bewusstseins- und wahrnehmungstheoretische Fragen als grundlegend aufzufassende Text Derridas Freud und der Schauplatz der Schrift mit der Behauptung, wonach die Psyche als ein sich durch graphische Strukturen ausweisender zeitlicher Zusammenhang aufzufassen sei. In der Psyche, so ist diese metaphorische Übertragung zu verstehen, lagern sich Spuren wie Dokumente in einem Archiv ab, Aufzeichnungen von Wahrnehmungen, die aufeinander verweisen und so einen Zusammenhang bilden. Im Ausgang von Freuds Entwurf einer Psychologie (1895) und seiner Notiz über den Wunderblock (1925) wird folglich »[d]er Inhalt des Psychischen […] von einem Text, der von unreduzierbar graphischer Wesensart ist, repräsentiert werden. Die Struktur des psychischen Apparates wird durch eine Schriftmaschine dargestellt werden.« (Derrida 1976d: 306) Demgemäß gibt es keine »textlose Psyche« (ebd.: 306), sondern eine genuine »psychische Schrift« (ebd.: 306, 320, 324, 325). Diese Ausweitung des Schriftbegriffs auf Bewusstsein und Wahrnehmung – mitunter spricht Derrida von einer metaphorischen Übertragung, manchmal aber auch von einer Analogisierung – hat im wesentlichen drei theoretische Konsequenzen, die uns nicht völlig unvertraut sein dürften und die ich hier vorgreifend stichworthaft anzeige, um sie hernach kurz zu erläutern: (i) Psyche als Gedächtnis, (ii) Iterabilität und Teilung der Gegenwart, (iii) Nachträglichkeit. (i) Psyche als Gedächtnis. Soweit das Bewusstsein in wesentlicher Hinsicht als zeitlich verstanden wird, ist es nötig zu erklären, wie überhaupt zeitlich unterschiedene Augenblicke miteinander in Beziehung gesetzt werden – es muss, bei aller Diskontinuität und Differenz, in irgendeiner Weise zur Bildung von Kontinuitäten und Identitäten kommen. Insofern das Bewusstsein primär unter die-
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sem Blickwinkel aufgefasst wird, liegt es nahe, dem Gedächtnis für derlei Leistungen einen ausgezeichneten Rang beizumessen. Die Konsequenz, die Derrida von Freud übernimmt und die für unsere Problematik einer für die geistige Erfahrung vorauszusetzenden ›immanenten Tradition‹ besonders relevant ist, liegt darin, Psyche und Gedächtnis ineins zu setzen. Direkt an Freuds Vorbehalt gegen eine neurologische Differenzierung von Wahrnehmungs- und Erinnerungszellen und seine alternativen Überlegungen zu dieser Problematik anknüpfend, erklärt Derrida daher entschieden, »das Gedächtnis ist also keine psychische Eigenschaft unter anderen, sie ist das Wesen des Psychischen selbst.« (Ebd.: 308) Wenn das Psychische ganz wesentlich ein Zusammenhang von einzelnen, konkreten, an eine Gegenwart gebundenen Wahrnehmungen, gedanklichen Regungen und Erfahrungen ist, muss man eben erklären können, wie sich solche konkreten, diskret voneinander geschiedenen Elemente dennoch aufeinander beziehen können. Wären die Wahrnehmungen des Bewusstseins tatsächlich derart rein für sich und in sich abgeschlossen, könnte das Bewusstsein von ihnen nichts zurückbehalten und auch keine Identitäten bilden, die solcherlei Einzelheiten integrieren und strukturieren. »Gäbe es nur Wahrnehmung, reine Durchdringlichkeit der Bahnungen, dann gäbe es keine Bahnungen«, so formuliert Derrida dies in einer etwas eigenartigen Diktion. »Wir wären geschrieben, nichts aber wäre verzeichnet, keine Schrift würde entstehen, sich zurückbehalten und sich als Lesbarkeit wiederholen. Die reine Wahrnehmung aber gibt es nicht: wir werden nur als Schreibende durch die Instanz in uns, die immer schon die Wahrnehmung, ob sie nun äußerlich oder innerlich ist, überwacht, geschrieben.« (Ebd.: 344) Das Modell, das Freud für diese skripturale Gedächtnishaftigkeit des Bewusstseins anbietet und von Derrida aufgegriffen wird, ist sodann der ›Wunderblock‹ – ein Aufzeichnungsmedium, auf dem sich auf der Oberfläche etwas schreiben lässt, dessen Spur in tieferen Schichten einbehalten wird. Darum »beschreibt die Notiz über den ›Wunderblock‹ den Wahrnehmungsapparat und den Ursprung des Gedächtnisses« (ebd.: 337) im selben Zuge: Wahrnehmung und Gedächtnis, der »Wahrnehmungsapparat« und der »Schreibapparat« (ebd.) sind einander koimpliziert. Und diese Verflochtenheit beider Pole ist nicht nur triftig für die Frage, wie sich von Wahrnehmungen etwas erinnern lässt und wie sich kontinuierliche Strukturen im Bewusstsein herausbilden mögen. Sondern das Gedächtnis, insoweit es wiederholbare, schematische Strukturen erzeugt, erlaubt es Wahrnehmungen allererst, etwas wahrzunehmen, das sich nicht, als bloße Singularität, in sich selber verzehrt, sondern vermittelt durch eine gewisse generalisierbare Typik erlebt wird. Aufgrund dieser Unmöglichkeit, Gedächtnis und Wahrnehmung zu dichotomisieren, tritt »[d]ie Wiederholung […] nicht unvermutet zum ersten Eindruck unerwartet hinzu« (ebd.: 310), gibt es »nicht zunächst präsentes Leben, das sich anschließend […] im Aufschub vorzuhalten begänne« (ebd.: 311), vielmehr ergänzt »[d]ie Schrift […] die Wahrnehmung, noch bevor diese sich selbst erscheint. Das ›Gedächtnis‹
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
oder die Schrift sind die Eröffnung dieses Erscheinens selbst.« (Ebd.: 341) Wiederholbare, sich als Gedächtnis sedimentierende kategoriale Strukturen eröffnen erst eine Form der Wahrnehmung, die nicht Phänomene in ihrer jeweiligen Singularität erfasst, sondern wiederkennbare Strukturen ausbildet und so Ähnlichkeitsbeziehungen und Verweisungen zu stiften vermag. (ii) Iterabilität und Teilung der Gegenwart. Der Aspekt der Teilung, der Verunreinigung, Heimsuchung und Spreizung der Gegenwart auf Ungegenwärtiges hin, der uns ohnedies schon geläufig ist, ist durch den vorstehenden Punkt schon vorbereitet worden. Es sind aber doch zwei, umwillen der analytischen Klarheit zu unterscheidende Fragen, wie sich durch Wiederholbarkeit Kontinuitäten im Bewusstsein herausbilden und welche Effekte dies nun auf die jeweilige Gegenwart von Wahrnehmungen hat. Für Derrida war nun dieser, gegen eine ›metaphysische‹ Tradition gerichtete Zweifel an der reinen Präsenz der Gegenwart eines der ganz wesentlichen Motive von Freuds Werk. »Daß die Präsenz im allgemeinen nicht ursprünglich, sondern rekonstituiert ist, daß sie nicht die absolute, vollauf lebendige und konstituierende Form der Erfahrung ist, und daß es keine Reinheit der lebendigen Präsenz gibt, das ist das für die Geschichte der Metaphysik ungeheure Thema, das Freud uns durch eine dem Gegenstand selbst unangemessene Begrifflichkeit zu denken auffordert«, resümiert Derrida diesen ihn primär interessierenden Punkt bei Freud (ebd.: 324). Wir hatten gesehen, dass nur durch die Beteiligung des Gedächtnisses an Wahrnehmungen Spuren aufgezeichnet werden können, die den Augenblick ihres Eindrucks zu überdauern vermögen. Derrida (ebd.: 343f.) drückt dies so aus: Die Spuren erzeugen also den Raum ihrer Niederschrift nur, indem sie sich die Periode ihrer Tilgung setzen. Von Anfang an, in der ›Gegenwart‹ ihres ersten Eindrucks, werden sie durch die doppelte Kraft der Wiederholung und der Auflösung, der Lesbarkeit und der Unlesbarkeit gebildet. Ist eine Maschine, die zweier Hände zu ihrer Bedienung bedarf, eine Vielheit von Instanzen oder Ursprüngen, nicht das Verhältnis zum Andern und zur ursprünglichen Zeitlichkeit der Schrift, ihre ›primäre‹ Verwickelung: Verräumlichung, ursprünglicher Aufschub und Auflösung des einfachen Ursprungs, Polemik, die an der Schwelle dessen, was man hartnäckig Wahrnehmung nennt, anhebt? […] Man muß zu mehreren sein, um schreiben, aber auch schon um ›wahrnehmen‹ zu können. Die einfache Struktur der Handhabung, Jetzigkeit und Handschrift, wie auch die jeder originären Anschauung ist ein Mythos, eine ebenso ›theoretische Fiktion‹ wie die Idee des Primärprozesses. Diese längere Passage erinnert uns daran, dass es Aufzeichnung – oder ›Niederschrift‹ – nur in selektiver Weise geben kann: etwas wird bewahrt, dadurch aber zugleich anderes gelöscht oder ›getilgt‹. Etwas wird dadurch auch in anderen Kontexten als lesbar erhalten geblieben, anderes aber unlesbar geworden sein. Und sie
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erinnert uns an die Dopplung oder das aporetische Zugleich von Ursprung und Delokalisierbarkeit, von singulärer Konkretion und wiederholender Abstraktion – das ist die ›primäre Verwicklung‹: Auflösung der ›Einfachheit‹ der Gegenwart, eine potentielle Pluralität und Sozialität, die prinzipiell keimhaft in der Iterabilität gegeben ist. Die »Handhabung (und Jetzigkeit) (maintenance) ist nicht einfach. Die ideale Jungfräulichkeit des Jetzt wird durch die Arbeit des Gedächtnisses gebildet«, so Derrida kurz zuvor (ebd.: 343), mit der Polyvalenz des französischen maintenance spielend. Dieses gegen eine präsenzmetaphysische Konzeption gerichtete freudsche Motiv hat eine Tragweite, die auch den für Derrida so gewichtigen Begriff des Ereignisses nochmals unter einem besonders fruchtbaren Aspekt erschließt. Ereignisse sind demgemäß nicht nur in sich durch ihre Iterabilität teilbare, spaltbare Gegenwarten, sondern überdies Geschehnisse, deren Wirkungen und Effekte sich erst verzögert, mit Verspätung zeigen. Sie sind in dem Augenblick ihres Auftretens nicht vollauf zu begreifen, einzuverleiben oder assimilierbar und in diesem Sinne rein gegenwärtig, sondern behalten in sich ein gewisses Moment von Nichtgegenwärtigkeit, von Überschuss und Entzug. Darum hat Derrida an vielen Stellen von einer strukturellen Traumatizität von Ereignissen gesprochen. Traumatisch sind sie nicht als im gemeinen Sinne ›negative‹ oder ›pathologische‹, sondern weil Bedeutsamkeit und Tragweite von Traumata – wie von Ereignissen im strengen Sinne Derridas – aufgeschoben bleiben und ihre spätere Deutung insistierend, nachdrücklich einfordern. Ein in diesem Verstande traumatisches Ereignis trägt sich zwar an einer Zeitstelle zu, zieht sich aber nicht in diesen Punkt der Vergangenheit zurück, sondern sucht denjenigen, dem es geschehen ist, auch in der Zukunft heim. Somit findet sich in dieser traumatischen Qualität des Ereignisses genau diejenige Komplizierung der zeitlichen Bezüge angezeigt, die Derrida später oftmals in die Formel, wonach etwas im Kommen bleibt, gekleidet hat. »Das Trauma bleibt traumatisierend und unheilbar, weil es aus der Zukunft auf uns zukommt«, drückt dies Derrida in Schurken (Derrida 2006c: 147) aus. Als unleugbar irreversibel vergangenes, nie als solches mehr restituierbares entschlüpft es zwar in eine nicht mehr gegenwärtige Vergangenheit, aber es hört nicht auf, Wirkungen zu zeitigen, es fährt fort, Formen seiner Deutung und Weisen seiner Aneignung zu inspirieren. Das Nicht mehr und das Noch nicht eines Ereignisses verschlingen sich mithin auf aporetische Weise in dieser komplexen Form der Temporalität. Einmal, im Gespräch mit Giovanna Borradori (Derrida 2006a: 130f.), hat Derrida dies im Hinblick auf die Frage, ob wir den elften September als Ereignis auffassen können oder sollten, besonders ausführlich und zugleich pointiert erläutert: Was ist ein traumatisches Ereignis? In erster Linie bewahrt jedes Ereignis, das den Namen verdient, selbst wenn es ein ›glückliches‹ ist, in sich etwas Traumatisierendes. Immer fügt es dem Zeitlauf der Geschichte eine Wunde zu, eine Wunde der
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Wiederholung ebenso wie eine der gewöhnlichen Antizipation aller Erfahrung. Ein traumatisches Ereignis ist nicht nur als Ereignis markiert durch die, wenn auch nur unbewußte, Erinnerung dessen, was sich zugetragen hat. Wenn ich dies sage, scheine ich einer Evidenz zu widersprechen, derzufolge ein Ereignis unleugbar an die Gegenwart oder an die Vergangenheit, an das Stattfinden dessen bindet, was sich, ein für allemal, zugetragen hat, so daß der Wiederholungszwang, den es nach sich ziehen kann, nur reproduziert, was schon geschehen ist. Nun glaube ich aber, daß wir dieses Schema (selbst wenn es in Teilen nicht falsch ist) etwas komplexer anlegen müssen; wir müssen dessen ›Chrono-Logie‹ in Verdacht ziehen, sprich: das Denken und die Ordnung der Temporalisierung, die es zu implizieren scheint. […] Ich präzisiere. Es handelt sich um ein Trauma und also um ein Ereignis, dessen Temporalität weder vom gegenwärtigen Jetzt noch von der gegenwärtigen Vergangenheit ausgeht, sondern von einem Un-Darstellbaren, das noch kommen wird. Mitunter wirken Erfahrungen – eben von traumatisierenden Ereignissen – wie Zäsuren im psychischen Kontinuum, die sich zunächst als nicht in das etablierte Netz des sich aus Wahrnehmungen speisenden Wissens integrierbar und assimilierbar erweisen. Nun muss man dann allerdings – und das verknüpft die Rede von der traumatischen Qualität von Ereignissen mit dem gerade entwickelten Zusammenhang von Psyche und Gedächtnis – präzisieren, in welcher Weise solche Erfahrungen dennoch bewahrt werden können. Mit Derrida sind wir ja gerade auf die Spannung zwischen dem singulären Vorkommnis und den Weisen seiner identifizierenden, es verarbeitenden Aneignung aufmerksam geworden. Etwas aufzuzeichnen oder zu bewahren, so habe ich darzulegen gesucht, impliziert jedoch, dass sich etwas in anderen Kontexten zu wiederholen vermag. Insofern müssen auch solcherlei traumatisierende Erfahrungen in irgendeiner Weise bewahrt und wiederholt werden können, ohne als solche schon aneigenbar und in das Gedächtnis eingliederbar zu sein. Wenn die »Wiederholung eines Traumas der Versuch ist, mit ihm fertig zu werden« (Derrida 1998f: 386), erfordert dies eine besondere Form der Bewahrung im Gedächtnis, die das bewahrte Trauma nicht sogleich seiner restlosen Identifikation, Bewusstwerdung und Beherrschung preisgibt; es muss sich um eine Verarbeitung einer Erfahrung handeln, die sie in der Wiedererinnerung nicht vollauf präsent zu machen vermag, aber »ohne das Trauma völlig zu vergessen« (ebd.). »Damit es ein Ereignis […] gibt, muß sich etwas zutragen, und zwar in einem Augenblick, der ganz gewiß nicht zur Ökonomie der Zeit gehört […], so daß das Vergessen vergißt, […] aber auch so daß dieses Vergessen, ohne etwas Präsentes, Präsentierbares, Bestimmbares, Sinn- oder Bedeutungsvolles zu sein, doch nicht nichts ist.«, formuliert Derrida es in Falschgeld (Derrida 1993: 29) kompliziert, aber genau: das Ereignis muss also stattfinden, jedoch in einer Gegenwart, die nicht vollauf bestimmbar und erinnerbar ist. Darum muss dieses Gegenwart
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in gewissem Sinne ›vergessen‹ sein, aber nicht so, dass überhaupt nichts von dem geschehenen Ereignis verbleibt. Genau deshalb muss es sich um eine »Bewahrung im Unbewußten« (ebd.: 28) handeln.43 Das führt uns nun zum letzten Aspekt, den Derrida in Freuds Texten vorgefunden hat und der für seine eigenen weiterreichenden Überlegungen von besonderem Belang gewesen ist. (iii) Nachträglichkeit. Obwohl bei Freud nicht eigentlich ein terminus technicus, ist dieser mit einigen anderen seiner Begriffe recht eng assoziiert – ganz wesentlich eben mit dem Begriff psychischer Traumata, aber auch mit der Latenzzeit und Verdrängung. Dieses konzeptionelle Feld machte die Beschäftigung mit Freud für Derrida – eingedenk seines präsenzmetaphysik-kritischen Impetus – erst eigentlich interessant, und so war das Motiv der Nachträglichkeit der eigentliche Brennpunkt in dieser Rezeption der Psychoanalyse. Rückblickend klärt uns Derrida (Derrida/Roudinesco 2006: 283) über seine damaligen Beweggründe so auf: Mein Anliegen war es, in einer ›Logik des Unbewußten‹ (doch habe ich mir diesen Ausdruck niemals zu eigen gemacht) etwas zu finden, um einen Diskurs zu unterstützen, dessen Notwendigkeit ich von einem anderen Ort her und einem anderen Vorgehen gemäß verspürte. Es ging um die Motive der Nachträglichkeit, der Verspätung oder der ›ursprünglichen‹ différance, um all das, was die absolute phänomenologische Autorität der ›lebendigen Gegenwart‹ in der Bewegung der Zeitigung und der Konstitution des ego oder des alter-ego, der Gegenwärtigung des Sinns, des Lebens und der Gegenwart in der Phänomenologie zerstörte oder bedrohte – die damals für mich gleichsam das eigentliche Element des Denkens und des Diskurses war, selbst wenn mein Verhältnis zur Husserlschen Phänomenologie auch der bevorzugte Ort dekonstruktiver Fragen war. Es mag nun werkgeschichtlich schwierig auszuloten sein, ob Freud ihm gewisse, seine Kritik an Husserl inspirierende Motive geliefert hat oder ob er nicht von bestimmten Fragen, die sich von seiner Lektüre Husserls her gestellt haben, auf diese Motive erst aufmerksam geworden ist und sie sich zunutze hat machen können. Jedenfalls kann man wohl festhalten, dass Freud ein ganz eminenter Gewährsmann 43
Derrida insistiert auf diesen Seiten aus Falschgeld auf der Differenzierung von Vergessen und Verdrängen, »[d]enn das Vergesssen der Gabe darf kein Vergessen im Sinne der Verdrängung sein« (Derrida 1993: 28), denn die Verdrängung impliziere immer noch eine Form der Bewahrung und damit eine identifizierende Reduktion der Gabe oder des Ereignisses. Es gehe ihm vielmehr um ein »absolute[s] Vergessen« (ebd.). Wenn aber dieses hyperbolische Vergessen wiederum »kein bloßes Nicht-Erscheinen sein« darf, die »mit dem, was sie löscht, einfach verschwindet« (ebd.: 29), frage ich mich, ob es präzise ist, davon zu sprechen, das Vergessen sei ›absolut‹. Reicht es nicht aus, davon zu sprechen, »die Verdrängung« sei »eine Archivierung«, die aber ganz anders »als nach den Weisen der geläufigen, bewußten, anerkannten Archivierung« (Derrida 1997a: 116) vor sich geht? Denn dann kommt es ja gerade nicht zu einer Phänomenalisierung oder Identifizierung dessen, was bewahrt wird.
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und der Begriff der Nachträglichkeit ein ausgezeichnetes Fundament für die Kritik an einer präsenzmetaphysischen Schicht des überkommenen philosophischen Diskurses gewesen ist.44 Aber was heißt das nun – ›Nachträglichkeit‹? Im Grunde ist die Stoßrichtung dieses Begriffs durch unsere Befassung mit Figuren wie dem Gespenst, dem Charakter des im Kommen Bleibens und durch die Charakterisierung von Ereignissen als traumatisch schon vorbereitet worden. In ihm sind allerdings zwei gedankliche Bewegungen enthalten, die Derrida an diesen verwandten, eher in den späteren Texten auftauchenden Begriffen nicht mehr so stark profiliert oder in ihrer Diskussion schlicht unthematisiert vorausgesetzt hat. Denn (i) Nachträglichkeit als strukturelles Merkmal wird schon bei Freud derart verallgemeinert, dass es den Unterschied psychischer und sozialer oder kultureller Prozesse übergreift. Diese theoretische Intuition ist so gesehen der Ausweitung und Verallgemeinerung des Schriftbegriffs alliiert. Und, das zweite Moment, der (ii) Begriff der Nachträglichkeit lenkt den Blick eher auf die Instanzen und Agenten, die an der Deutung und Identifikation und damit der Assimiliation von Ereignissen an etablierte, normal gewordene Erwartungen und Wissensbestände beteiligt sind. Wenn Derrida also diagnostiziert, dass »die Begriffe der ›Nachträglichkeit‹ und der ›Verspätung‹, jene leitenden Begriffe des Freudschen Denkens«, von diesem selbst schon »über die Individualpsychologie hinaus ins Werk« (Derrida 1976d: 312) gesetzt werden, korreliert dies mit einer Stoßrichtung, die sowohl das Soziale als auch das Psychische durch Iterabilität charakterisiert sieht. Der zentrale Text, in dem Freud diese Ausweitung des psychoanalytischen Vokabulars vornimmt und den Derrida an dieser Stelle auch im Vorübergehen zitiert, 44
Derrida meint zwar in Freud und der Schauplatz der Schrift, Freuds »Denken« sei »gewiß das Einzige [sic!], das sich nicht in der Metaphysik oder in der Wissenschaft erschöpft.« (Derrida 1976d: 324) Einige Seiten später ist er gleichwohl überzeugt, der »Freudsche Begriff der Spur« müsse »radikalisiert werden und aus der Metaphysik der Präsenz, die ihn noch (inbesondere in den Begriffen des Bewußtseins, des Unbewußtseins, des Gedächtnisses, der Realität, das heißt auch in einigen weiteren) festhält, herausgelöst werden.« (Ebd.: 348f.) Dass sich Freuds Überlegungen zwar nicht in der »Metaphysik« erschöpfen, muss man wohl so verstehen, dass gewisse theoretische Verschiebungen darin schon über deren Grenzen hinausweisen. Wenn aber viele – und wesentliche – Begriffe dennoch präsenzmetaphysisch imprägniert seien, wird man sich vielleicht fragen dürfen, ob Derrida sich hier nicht widerspricht. In dieser Frage würde ich es eher mit Derridas Position aus Ousia und gramme halten. Im Hinblick auf den Begriff der Zeit meinte er dort (Derrida 1988b: 85), dass »jeder Text der Metaphysik sowohl den sogenannten ›vulgären‹ Zeitbegriff als auch die Mittel [...], die man diesem metaphysischen System entnehmen muß, um eben jene Begriffe zu kritisieren«, in sich trägt. Es kommt demnach darauf an, wie man Texte liest und welche ihrer Motive und konzeptionellen Dispositionen man in den Vordergrund rückt und gegen andere in ihnen stellt. Denn es gibt ebensowenig einen völlig von einer ›Präsenzmetaphysik‹ beherrschten wie einen Text, der dieser einfachhin entkommt.
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ist das Spätwerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion von 1939. Dort macht uns Freud den Vorschlag, der Begrifflichkeit der Neurosenlehre und der Konzeption des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung eine kultur- oder sozialtheoretische Wendung zu geben.45 Ein traumatischer Eindruck, der zunächst verdrängt wird, in einer Latenzperiode, die sich zeitlich verschieden lang oder kurz ausnehmen mag, klandestin das Gedächtnis durchwandert und sodann, eventuell durch gewisse auslösende Bedingungen wachgerufen, unversehens und unerbeten wiederkehrt – das würde sich im Leben eines Individuums desgleichen wie in der Entwicklung einer Kultur abspielen. Der Leser wird von Freud »eingeladen, den Schritt zur Annahme zu machen, daß im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen. Also daß es auch hier Vorgänge gegeben hat […], die bleibende Folgen hinterlassen haben, aber zumeist abgewehrt, vergessen wurden, später, nach langer Latenz zur Wirkung gekommen sind und Phänomene, den Symptomen ähnlich in Aufbau und Tendenz, geschaffen haben.« (Freud 1950a: 185f.) Das bedeutet indes nicht, beide Bereiche schlicht zu vermengen. Im Hinblick etwa auf Problem der Spezifizierung dessen, was es für eine Kultur im Unterschied zu einem Individuum heißen würde, etwas Vergessenes und Verdrängtes zu bewahren, so dass es wieder irgendwann wieder zum Vorschein kommt, behilft sich Freud mit der Unterscheidung einer schriftlich fixierten und kontrollierten Traditionsbildung von einer mündlichen, subkutanen Überlieferung, um nicht einfach von einem ›kollektiven Unbewussten‹ zu sprechen.46 Aber dennoch scheint mir, wie Freud und Derrida offenbar selbst schon, eine solchartige Übertragung und Ausweitung der Begrifflichkeit überzeugend und fruchtbar zu sein. Blickt man nochmals auf die intern zusammenhängende Begriffsstafette Freuds, die hier das ganze theoretische Unternehmen tragen soll – also »Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten« (ebd.) –, so kann man daran ebenso etwas lernen, das bedeutungsvoll auch für Derridas Begriff des Ereignisses und dessen Weise, latent fortzuwirken, ist. Denn obzwar, allerdings mit deutlichen Fragezeichen
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Vgl. für die ›Analogie‹ zwischen sexueller und kultureller Entwicklung in dem in Rede stehenden Buch Freud 1950a: 176ff.; für den allgemeinen Sachverhalt der ›Zweizeitigkeit‹ der Sexualentwicklung in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie vor allem Freud 1942b: 100f., 135. »Für das Phänomen der Latenz in der jüdischen Religionsgeschichte, das uns beschäftigt, bietet sich nun die Erklärung, daß die von der sozusagen offiziellen Geschichtsschreibung absichtlich verleugneten Tatbestände und Inhalte in Wirklichkeit nie verloren gegangen sind. Die Kunde von ihnen lebte in Traditionen fort, die sich im Volke erhielten.« (Freud 1950a: 173) Diese Unterscheidung zwischen einem eher formalisierten, offizielleren und kodifizierten und einem ›darunter‹ liegenden, mündlichen Gedächtnis ähnelt der später von Jan und Aleida Assmann getroffenen Unterscheidung eines kulturellen und eines kommunikativen Gedächtnisses (vgl. Assmann 1992: 48ff.).
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umgeben, Derrida von den Anschlägen des elften September 2001 in New York als einem Ereignis handelt, korreliert die Traumatizität von Ereignissen nicht mit deren katastrophischem, desaströsem Äußeren. Im Sinne Freuds und Derridas ›traumatisierend‹ wirken Begebnisse nicht, weil sie von einer Plakativität und Drastik sind, die man für gewöhnlich mit einem emphatischen Begriff des Ereignisses und mit dem Begriff des Traumas in Verbindung bringt. Wiewohl bei Freud verschiedentlich von frühkindlichen sexuellen Traumatisierungen die Rede ist und der Traumabegriff mit Unfällen – wie Eisenbahnzusammenstößen oder Verletzungen auf Baustellen – oder kriegerischen Auseinandersetzungen – damals paradigmatisch: der erste Weltkrieg – in Zusammenhang gebracht wird, wäre es schon in dessen Werk unzweckmäßig, den Begriff derart zu verengen. Denn die mosaische Religionsstiftung und das monotheistische Gedankengut, die in dem in Rede stehenden Text als Trauma figurieren, hatten ja nichts von einer Katastrophe im hergebrachten Sinne. Wenn in den Texten Derridas, nebst anderem, Marx (Derrida 1994e: 149), gewisse ausgestellte Werke Artauds (Derrida 2003c: 90, 107), das Werk von James Joyce (Derrida 1988d: 13, 17, 19, 79), eine gegen die Apartheid gerichtete Ausstellung in Simbabwe und Südafrika (Derrida 2013a: 78) und die Psychoanalyse selbst (Derrida 1998g: 8f., 13f.; Derrida 1998i: 69, 110f.; Derrida 1998j: 152; Derrida/Roudinesco 2006: 277) als ›Ereignisse‹ – mit all den spezifischen semantischen Gehalten, die wir in diesem Begriff Derridas vorgefunden haben – begriffen werden, zeigt sich auch im Hinblick auf dessen Werk, dass Traumatizität, Latenz und das Merkmal des Ausstehens und im Kommen Bleibens sehr formale, abstrakte Charakteristika sind. Es sei mir gestattet, dies noch an einem Beispiel zu belegen, an dem Ereignis, dem man im Hinblick auf die Theoriegeschichte des Strukturalismus – oder vielleicht: des französischen Theoriediskurses – eine gewisse Bedeutsamkeit schwerlich absprechen kann: die Konferenz The Languages of Criticism and the Sciences of Man an der Johns Hopkins-Universität in Baltimore 1966, auf der neben Derrida auch Lacan, Barthes, Todorov, Girard und andere zusammenkamen. Derrida schreibt darüber im Rückblick (Derrida 1997: 35f.; die letzten beiden Hervorhebungen von mir): ›Man sagt‹ immer öfter, daß das Johns-Hopkins-Kolloquium mit dem Titel ›The Languages of Criticism and the Sciences of Man‹ im Oktober 1966, vor mehr als zwanzig Jahren, ein Ereignis war, das in der amerikanischen Szene – die immer mehr als bloß die amerikanische Szene ist – vieles veränderte (ich belasse diese Formulierungen absichtlich etwas im Vagen). […] Wenn dort etwas passiert ist, was den Wert eines theoretischen Ereignisses hat, eines Ereignisses innerhalb der Theorie, oder eher den Wert der Ankunft eines neuen theoretisch-institutionellen Sinns von ›theory‹ […], dann steht fest, daß dieses Etwas erst im Nachhinein ans Licht kam und heute immer noch klarer und klarer wird. Ebenso steht aber fest, daß keiner,
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weder die Teilnehmer noch ihre unmittelbare Umgebung, sich dieses Ereignisses in irgendeiner Weise bewußt waren. Niemand konnte es ermessen; vor allem aber hätte niemand es vorausberechnen können – niemand hätte gewagt, es als ein solches Ereignis vorauszuberechnen, anzukündigen oder zu präsentieren. Die genannte Konferenz kann man also deswegen als Ereignis begreifen, weil sie (i) im Moment ihres Stattfindens, ihres Sichereignens nicht völlig in ihrem Sinn zu vergegenwärtigen und nicht vollends zu deuten war und (ii) weil ihre Wirkungen und ihre Bedeutung erst nachträglich und mit Verspätung ans Licht gekommen sind. Was sie, als sie stattfand, gewesen sein wird, stellte sich erst im Verzug heraus und wird ›immer noch klarer und klarer‹, ohne dass es womöglich jemals völlig durchsichtig zu machen sein mag. Das Ereignis wirkte also unbewusst fort, erzeugte – wie ein psychisches Trauma seine Symptome und Abkömmlinge – unvorhersehbare Einflüsse und erheischte Interpretationen und Aneignungen, die seine Assimilation an den normalen theoretischen Diskurs bewerkstelligten – ganz so, wie auch ein Trauma Formen seiner Verarbeitung einfordert.47
3.3 Zwischenresümee Nach dem vorstehenden gewundenen Streifzug durch Derridas Werk sei hier ein intermittierendes, pausierendes Resümee eingeschaltet. Ich hatte zunächst damit begonnen, verständlich zu machen, wieso Derridas Begrifflichkeit für uns überhaupt relevant sein könnte. Die Ausweitung des Schriftbegriffs bildete dafür die Basis. Um ihn in einem ersten Schritt mit Konturen zu versehen, war es notwendig, das als Iterabilität bezeichnete Merkmal der Wiederholbarkeit von seinen weittragenden theoretischen Folgerungen her genauer zu beleuchten. Die Herauslösung von iterablen Marken aus Kontexten und ihre prinzipiell mögliche Anonymisierung und Sozialisierung waren die beiden dominierenden Konsequenzen, um diesem Begriff ein vorläufiges Profil zu verschaffen. So expliziert, sind wir auf diesem Pfad unterschiedlichen, für Derridas gesamtes Werk kardinalen Begriffen wie Ereignis, Gespenst bzw. Spektralität, die Zeitlichkeit des im Kommen Bleibens usw. begegnet. Diese sind sodann nochmals verschiedentlich zur Sprache gekommen, als ich in einem zweiten Schritt den Bezug von Iterabilität und Gedächtnis zu beleuchten versucht habe. Die Selektivität der Archivierung und die Pluralisierung von im Gedächtnis bewahrten Spuren waren zwei der gedächtnistheoretischen Aspekte, die 47
Es wäre – etwa im Hinblick auf die Geschichte des Theorietransfers zwischen Deutschland und Frankreich – interessant, ob man durch akribische Archivarbeit ausfindig machen könnte, was Adorno dazu bewog, ein Seminar über den Strukturalismus, namentlich über LéviStrauss und Lacan, zu konzipieren, wie er es am 25. Juni 1968 in seiner Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie (VLEinlSoz: 174f.) ankündigte.
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sich als im Begriff der Iterabilität implizit enthalten herausgestellt haben. In einem letzten Schritt ging es darum, die Triftigkeit dieses Begriffs ebenso für Wahrnehmung und psychische Zusammenhänge vorzuführen. Das hatte uns dazu geführt, Derridas Rekurs auf Freud detaillierter nachzuspüren. So konnte sich zeigen, dass das Bewusstsein als gedächtnishafter Zusammenhang begriffen werden kann, in dem mitunter traumatische, ereignishafte Erfahrungen ihren Niederschlag finden und der durch unbewusste Prozesse, durch Latenz und Nachträglichkeit gekennzeichnet ist. Ich hatte diesen längeren Parcours zu Derrida deswegen an den Versuch, den Begriff der geistigen Erfahrung immanent, aus Adornos Werk allein her zu erläutern, angeschlossen, weil ich glaube, dass die Iterabilität und ihr konzeptioneller Umkreis hilfreich sind, um wesentliche Motive geistiger Erfahrung genauer zu verstehen. Dem vorläufigen Verständnis dieses Begriffs nach sollte sich geistige Erfahrung durch (i) eine jeweils spezifisch verstandene Unbewusstheit und Zeitlichkeit sowie (ii) durch eine, vom Gedächtnis implizit gewährleistete Vermittlung von Geistigem und Sinnlichem auszeichnen. Wenn es sich tatsächlich so verhält, dass für Adorno die dialektische Vermittlung dieser Pole – Geistiges und Sinnliches, Allgemeines und Konkretes, begriffliche Strukturen und singuläre Wahrnehmungen – präzise darin liegt, dass die Pole nicht dichotomisiert und starr einander entgegenstellt werden dürfen, dann scheint mir im Begriff der Iterabilität genau eine solche dialektische Verflechtung prägnant formuliert zu sein. Worauf durch Derridas Überlegungen das Augenmerk noch schärfer gerichtet wird, ist die darin implizierte Zeitlichkeit: das Allgemeine bildet sich ausgehend von konkreten, jeweils singulären Akten der Wiederholung, und die singulären, konkreten Instantiierungen eines idealen, allgemeinen Typus sind damit nie isoliert voneinander, sondern sind in sich bezogen auf anderes – andere Instantiierungen, die ihnen vorausgegangen sein oder ihnen künftig folgen mögen. Überdies war es mir ein wesentliches Anliegen, die für gewisse Erfahrungen kennzeichnende Assoziativität, Dichte oder ihren Verweisungsreichtum schon von Adorno her konzeptionell einzuholen. Ich meine, dass einerseits Wiederholbarkeit und andererseits Derridas insistierende Aufmerksamkeit auf die Bezogenheit von Gegenwärtigem auf Nichtgegenwärtiges den Gedanken verständlich zu machen helfen, dass sich etwas in etwas anderem wiederholen und dass etwas den Verweis auf anderes in sich tragen kann und welche basale Struktur dem zum Grunde liegen mag. Blicken wir einmal mehr auf das als definitorischen Nukleus zu verstehende Zitat zum Begriff geistiger Erfahrung zurück, so kann uns das helfen, die vorstehenden gedanklichen Windungen in diesen Fragekontext zurückzubetten. Dort hatte es geheißen, »Tradition« sei »der Erkenntnis immanent als Vermittlung ihrer Gegenstände«, sie sei ein »Konstituens« der Erfahrung und sei »keine reine Form«, sondern »mit ihrem Inhalt verflochten« (VLNegDia: 221). Sie ist keine reine Form: denn mit Adorno haben wir gesehen, dass es plausibel ist, von einer dialektischen
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Vermittlung von Form und Materie auszugehen. Sie ist konstitutiv an der Wahrnehmung und Erfahrung beteiligt: wie Derrida gezeigt hat, bilden sich allgemeine begriffliche Strukturen ausgehend von Wiederholungen, und weil wir selbst völlig singulär anmutende Ereignisse nur durch oder vermittels solcher Strukturen wahrnehmen können, sind diese prinzipiell in unserer Erfahrung am Werk – ›traditionale‹ Verweise und Bezüge sind ihr immanent. »Denken« überdies, so Adorno in diesem Passus weiter, sei »die Verinnerlichung von Geschichte« und müsse »die immanente Tradition mobilisieren« (ebd.). Dass es eine dem Bewusstsein immanente Tradition gibt, die man als Gedächtnis ansprechen kann, und dass es ertragreich ist, diese psychische Prozessualität genauer in Augenschein zu nehmen, hatte sich bisher schon gezeigt. Aber es ist auch durch die Erkundung der Iterabilität noch nicht klarer geworden, was Adorno im Sinn gehabt haben könnte, als er von einer ›Mobilisierung‹ dieser immanenten Tradition sprach und dies mit der kantischen Formulierung verband, wonach die immanente Tradition als ›verborgener Mechanismus in der Tiefe der Seele‹ zu verstehen sei. Klar scheint nur zu sein, dass geistige Erfahrung nicht in dem Sinne passiv ist, wie eben jede Erfahrung minimal rezeptiv oder passiv sein muss, wenn sie sich ganz wesentlich auf etwas richtet, das sie nicht schon kennt oder aus sich selber spontan und aktiv hervorbringen könnte. Passivität würde dementgegen hier heißen, dass die Mobilisierung unwillkürlich geschieht, dass das Subjekt der geistigen Erfahrung zwar daran beteiligt, aber die Mobilisierung und Aktualisierung der immanenten Tradition sich eher in ihm zutragen denn aktiv gesteuert würde. Ich will darum vorschlagen – und das ist ein ganz entscheidender Zug im Gedankengang dieser Studie – den Begriff der immanenten Tradition, wie Adorno ihn entwickelt, sehr schwer zu nehmen. Würde man bloß lapidar konstatieren, das sei ein anderer Ausdruck für Gedächtnis, so würde man sich einer entscheidenden Möglichkeit, den Begriff verstehen und seine Tragweite absehen zu können, begeben. Denn Adorno kommt im Hinblick auf diesen Begriff mehrfach – und das halte ich für nicht zufällig – selber auf eine Stelle aus Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu sprechen.48 Er macht sie sich einerseits zunutze, um den Begriff der Tradition im Hinblick auf sowohl individuelle als auch kollektive, mit Freud gesprochen ›massenpsychologische‹ Zusammenhänge auszuarbeiten. Und 48
Die zitierte Passage Freuds lautet: »Eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der den religiösen Phänomenen zukommt. Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen, erreichte nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens. Sie muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann, wie wir es an der religiösen Tradition mit Erstaunen und bisher ohne Verständnis gesehen haben.« (Freud 1950a: 208f.)
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andererseits versteht er die immanente Tradition des Subjekts als wesentlich unbewusst, als etwas latent und subkutan in seinem Inneren Fortarbeitendes. Nach Adorno ist eine Tradition oder »das Band der Überlieferung […] schwerlich die simple Verwandtschaft dessen, was in der Geschichte aufeinanderfolgt, sondern ein Unterirdisches.« Sie sei die »Erinnerung an ein Unbewußtes, ja Verdrängtes. Wo sie in der Tat ›mächtige Wirkungen‹ entfaltet, gehen diese nicht vom vordergründigen und geradlinigen Bewußtsein der Fortsetzung aus sondern eher von dort, wo das unbewußt Erinnerte die Kontinuität aufsprengt.« (10/159f.) Es ist also nicht so, dass das Subjekt aktiv und bewusst an der Ausbildung der immanenten Tradition beteiligt ist und die in ihm geschehenden Synthesen aufmerksam begleitet, sondern dies spielt sich vielmehr von ihm nicht kontrollierbar in ihm ab. Wenn sie mithin, wie Adorno Freud erneut zustimmend zitiert, »Wiederkehr eines Vergessenen« ist, dann ist es folgerichtig, dass sie sich nicht »unterm Blickstrahl willkürlicher Erinnerung« mobilisieren und aktualisieren lässt – sondern »geborgen wäre sie einzig im unwillkürlichen Gedächtnis.« (14/132) Damit sind wir zurückverwiesen an die Kristallisation, die Ausformung von Gedanken in den »langwährenden unterirdischen Prozessen« (VLPhiSoz: 69; 8/212) und an »die Kraft unbewußt weiterlaufender Denkprozesse« (VLPhilElem: 158), die ich bereits herangezogen hatte, bevor wir uns Derridas Begrifflichkeit gewidmet haben. Ich möchte das nun so deuten, dass geistige Erfahrung bedeutet, dass wir einzelne, zeitlich voneinander unterschiedene Erfahrungen machen und dies und jenes wahrnehmen, dass aber – und darin liegt das Geistige – sich unbewusst Synthesen, Assoziationen und Verweisungen zwischen diesen einzelnen Erfahrungen ausbilden, die dazu führen, dass in der jeweiligen Erfahrung immer schon mehr im Spiel ist, als wir uns bewusst sind und absehen können. Da es wenig plausibel ist, dass es nur eine psychische Traditionslinie oder nur eine Erinnerungsspur ist, die in der Gegenwart einer solchen einzelnen Wahrnehmung oder Erfahrung am Werk ist, ist diese immer schon insoweit überdeterminiert, als sie unbewusst eine Mehrzahl von psychischen Prozessen und Schichten ins Spiel bringt. Sie ist, mit Derrida gesprochen, innerlich plural. Das entlang von Freuds Annahme unbewusster Vorgänge gemodelte Verständnis des Begriffs der immanenten Tradition geleitet uns also zu elementaren freudschen Begriffen wie dem ›Unbewussten‹, ›Überdeterminierung‹ und ›Verdichtung‹. Und eingedenk von Adornos Verweis auf »Kants Deduktion« und den »verborgenen Mechanismus in der Tiefe der Seele«, müssen wir uns auch noch bei Kant, vor allem im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft, nach etwaigen erhellenden Überlegungen umtun. Bevor wir dazu kommen, gliedert sich noch ein Abschnitt an, in dem ich Derridas und Adornos fruchtbare Rezeption von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Husserl 2013) erörtere. Die Temporalität geistiger Erfahrung wird darin in anderer, ergänzender Weise verstanden, als es bislang der Fall war. Und zudem versetzt uns das Aufrollen die-
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ser Rezeption in die Lage, zu verstehen, dass der Begriff der geistigen Erfahrung sich ebenso in die kunst- und musiktheoretischen Überlegungen Adornos hinein erstreckt. Zuvor sei der spätere Übergang zu Freud und Kant noch durch eine Äußerung Adornos motiviert. Ich meine die Stelle aus der Einleitung in die Negative Dialektik, welche die in der vorliegenden Studie notorische, stichworthafte Definition geistiger Erfahrung aus der Vorlesung über Negative Dialektik (VLNegDia: 221) ausformuliert, aber auch charakteristisch gewandelt wiedergibt. Adorno schreibt dort (6/63f.): Was im Denken geschichtlich ist, anstatt der Zeitlosigkeit der objektivierten Logik zu parieren, wird dem Aberglauben gleichgesetzt […]. Die Kritik an Autorität hatte allen Grund. Aber sie verkennt, daß Tradition der Erkenntnis selbst immanent ist als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstände. […] Sie hat an sich, noch in ihrer dem Gehalt gegenüber verselbständigten Form, teil an Tradition als unbewußte Erinnerung; keine Frage könnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbewahrt wäre und weiterdrängte. Die Gestalt des Denkens als innerzeitlicher, motiviert fortschreitender Bewegung gleicht vorweg, mikrokosmisch, der makrokosmischen, geschichtlichen, die in der Struktur von Denken verinnerlicht ward. Unter den Leistungen der Kantischen Deduktion rangiert obenan, daß er noch in der reinen Form der Erkenntnis, der Einheit des Ich denke, auf der Stufe der Reproduktion in der Einbildungskraft, Erinnerung, die Spur des Geschichtlichen gewahrte. Weil jedoch keine Zeit ist ohne das in ihr Seiende, kann, was Husserl in seiner Spätphase innere Historizität nannte, nicht inwendig, nicht reine Form bleiben. Innere Historizität des Denkens ist mit dessen Inhalt verwachsen und damit der Tradition. Das reine, vollendet sublimierte Subjekt dagegen wäre das absolut Traditionslose. […] Zeitlosigkeit, der das bürgerliche Bewußtsein, vielleicht zur Kompensation der eigenen Sterblichkeit, zustrebt, ist die Höhe von dessen Verblendung. […] Wenngleich Widerspiel des transzendentalen Moments, ist das traditionale quasi transzendental, nicht die punktuelle Subjektivität, sondern das eigentlich Konstitutive, der laut Kant verborgene Mechanismus in der Tiefe der Seele. Unter den Varianten der allzu engen Ausgangsfragen der Kritik der reinen Vernunft dürfte die nicht fehlen, wie Denken, das der Tradition sich entäußern muß, verwandelnd sie aufbewahren könne; nichts anderes ist geistige Erfahrung. So ausformuliert, lenkt Adorno noch entschiedener den Blick auf eine eventuelle Kombination von kantischen und freudschen Motiven, als dies durch die stichworthafte Profilierung der geistigen Erfahrung geschehen konnte. Indes lässt er uns ohne Anhalt, wie diese Juxtaposition der beiden Autoren näherhin auszudeuten sei. Der Vorschlag, von einer unbewußten inneren Tradition des Denkens und der Erfahrung zu sprechen und dies als Folie der Lektüre von Kants Begriff der
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Einbildungskraft zugrunde zu legen, bleibt vage. Und wir verbleiben daher mit der Aufgabe, diesen Bezügen nachzugehen. Bevor es weitergeht, sei hier noch auf eine andere, ebenso mögliche Lesart dieser Passage aufmerksam gemacht. Hier scheint es zunächst so, als fuße geistige Erfahrung zwar auf traditionellen Bezügen, verhalte sich aber im selben Zuge kritisch gegen sie.49 Darauf hin deutet die ›Kritik an Autorität‹ und die Entäußerung der Tradition, die sie zwar ›bewahren‹, aber auch ›verwandeln‹ muss. Tradition wäre hier ein anderer Begriff für Gesellschaft, unter besonderer Berücksichtigung ihrer zeitlichen oder geschichtlichen Dimension. Gemeint wäre nicht die innere, immanente Tradition des erfahrenden und denkenden Subjekts, sondern die äußere, dem Subjekt transzendente Tradition des geschichtlich und sozial hervorgebrachten Wissens. Und die dialektische Note läge darin, auf die Verflechtung und Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, von subjekteigenen Leistungen des Erkennens und Denkens und den sozialen epistemischen Strukturen, Mustern und Kategorien abzuheben. Dieses Verständnis der in Rede stehenden Passage könnte sich sogar auf Adorno selber berufen, sie könnte vorführen, wie sich dies in seinem Werk motivieren ließe. Denn er selbst hat aufgedeckt, dass sich von Freud her von einer Vermittlung zwischen Innen und Außen, Subjekt und Gesellschaft, die bis ins Unbewußte reicht, sprechen lässt. Freud sei schon darauf »gestoßen […], daß der innerste Kern, auf dem die Psychologie des einzelnen Individuums beruht, selber gerade ein Allgemeines ist: nämlich gewisse, ganz allgemeine Strukturen, allerdings archaischer Art, des gesellschaftlichen Zusammenhanges, in denen die Einzelwesen stehen.« (VLEinlSoz: 194) Das sind zum einen die archaischen Bilder als »Erbschaft des Kollektivs, als das im einzelnen Individuum sedimentierte ›kollektive Unbewußte‹« (ebd.: 190), die er natürlich bei C.G. Jung, aber auch bereits bei Freud erkennt. Zum anderen ist es das Über-Ich oder das Gewissen, von dem Adorno seinen Studenten zu verstehen gibt, es sei nichts »Auswendiges, sondern es ist eine psychische Instanz« (ebd.: 195); es ist ein interiorisierter Bezug auf Soziales und damit die Überkreuzungsstelle zwischen Innen und Außen – eine »Dialektik von Besonderem und Allgemeinem […], die in dem großartigen wissenschaftlichen Entwurf von Freud […] wiederentdeckt worden ist« (ebd.: 194). 49
An einer Stelle in seiner Metaphysikvorlesung (VLMeta: 217) sagt Adorno ganz auf dieser Linie, dass es keineswegs darum gehe, diese immanente Tradition unkritisch zu mobilisieren oder sie sich gar passiv aktualisieren zu lassen. Bewahren und verwandeln, instrumentalisierend einsetzen und Distanz wahren – das wäre das richtige Verhältnis zu ihr. Dieser Passus lautet: »Und es ist wahrscheinlich (möchte ich heute jedenfalls denken) so, daß die entscheidende Schwelle gegenüber dem positivistischen Denken darin liegt, ob der Gedanke dieses unabdingbar traditionalen Moments in sich selbst mächtig wird, ob die Erkenntnis es in sich reflektiert oder ob sie es einfach verleugnet, – was selbstverständlich nicht behaupten will, daß die Erkentnnis diesem traditionalen Moment einfach sich überlassen kann.«
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Allein so interessant es nun wäre, diesen Bezug weiter auszugestalten, von ihm her kommt man nur unter großen Schwierigkeiten dazu, die Kombination von Freud und Kant, die Adorno vornimmt, nachvollziehbar zu machen. Man versteht so nicht: was hat ihn motiviert, diese beiden Autoren an der zitierten Stelle der Negativen Dialektik so engzuführen; und man versteht so nicht: welche Konsequenzen ergeben sich innertheoretisch aus dieser Liaison. Ich möchte überdies gleich klarstellen, dass es einen noch gewichtigeren Grund gibt, sich gegen diese Deutungsoption zu stellen und in der Interpretation anders zu entscheiden. Dieser Grund ist, dass so der Begriff des Geistes oder des Geistigen unerhellt oder jedenfalls unterbelichtet bleiben muss. Das Geistige wäre hier als die gesellschaftliche, dem Subjekt einverleibte Tradition zu verstehen. Ich hatte aber schon deutlich zu machen versucht – und es wird im Folgenden noch deutlicher –, dass das Geistige an vielen und gerade an vielen wichtigen kunsttheoretischen Stellen eher einen anderen Bedeutungsgehalt hat. Es ist, spezifisch gefasst, ein zeitlich erstreckter Sinnoder Strukturzusammenhang, den man interpretatorisch nicht auf gesellschaftliche Strukturen verengen sollte. Deshalb scheidet diese Lesart aus – wir brauchen uns um sie nicht mehr zu bekümmern und können mit unserem davon abweichenden Versuch, den Begriff der geistigen Erfahrung zu erschließen, fortsetzen.
3.4 Strukturelles Hören und Temporalisierung Hochorganisierte Musik heißt immer Gegenwart des Nichtgegenwärtigen, also Erinnerung und Vorblick, und dies ist vom Interpreten her stets eine geistige, kategoriale Funktion. Nur wer Musik nicht bloß fühlt sondern denkt, fühlt sie richtig. […] Wer sich rein überläßt, verfehlt die Sache, der er sich überläßt. – Adorno: Theorie der musikalischen Reproduktion (MusikRepr: 127) Ich hatte im Zuge der Erläuterung von Adornos Vorschlag, von einer dialektischen Vermittlung von Geistigem und Sinnlichem zu sprechen, immer wieder im Vorübergehen eine Differenzierungsmöglichkeit nahegelegt. Demnach ist es ein analytischer Unterschied, ob die Vermittlung (i) zwischen generellen begrifflichen Strukturen und ihrer konkreten Instantiierung im Sprechen oder Wahrnehmen stattfindet oder (ii) ob Teile oder Elemente eines Zusammenhangs oder Kontexts mit ihm vermittelt sind. Im Unterschied dazu war der Begriff der Iterabilität triftig nur für den ersten Bereich: Wiederholungen finden zwar in je unterschiedlichen,
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zeitlich und räumlich voneinander geschiedenen Kontexten statt, aber in diesen sind um sie herum andere Elemente gelagert, die wiederum in andere Serien von Wiederholungen eingereiht sind. Wörter in Sätzen, Äußerungen in Gesprächen und Wahrnehmungen in Situationen unterliegen typisierenden Strukturen, sind aber umgeben von anderen Wörtern, Äußerungen oder Wahrnehmungen, die nicht von derselben Typik sind. Die Serien, Reihen oder Sequenzen von Wiederholungen erwiesen sich so als transsituativ oder transkontextuell, obwohl ihre konkrete Aktualisierung nur in Kontexten geschehen kann. In diesem Abschnitt soll es sich nur um die zweite Form der Vermittlung drehen – Vermittlung durch einen das Element umgebenden Zusammenhang oder Kontext. Damit erschließt sich eine zweite Schicht präsenzkritischer Motive in den Texten sowohl Derridas aber auch Adornos. Sie wird uns, nach den Abschnitten zu Kant und Freud, als Stützpunkt dienen, um Ausflüge zu Gebieten in Adornos Werk zu unternehmen, nämlich zu den beiden thematischen Komplexen Nichtidentisches-Kraftfeld-Deutung und dem Kunstwerk in seiner spezifischen Zeitlichkeit. Beide hatte ich weiter oben schon als interpretatorische Desiderata genannt und betont, sie würden sich erst nach dem Durchgang durch die begrifflichen Gehalte geistiger Erfahrung in entscheidender Weise anders auffassen lassen. Den Hintergrund dieser zweiten Schicht bildet für Derrida und Adorno gleichermaßen ihre ausführliche, vor allem im jeweiligen Frühwerk erfolgende Beschäftigung mit Husserl, näherhin mit dessen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Ich werde mich nur kurz den diesbezüglichen Überlegungen Derridas widmen; denen Adornos muss ein größerer Platz deswegen eingeräumt werden, weil sie werkimmanent eine bedeutsamere Rolle, besonders für die musik- und kunsttheoretischen Texte, spielen. Derridas Auseinandersetzung mit den genannten Vorlesungen Husserls findet im Wesentlichen im fünften Kapitel, Das Zeichen und das Augenzwinkern, aus Die Stimme und das Phänomen (Derrida 2003f: 83-94) statt. Die Bezüge darauf in dem anderen Husserl gewidmeten größeren Text, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie (Derrida 1987: 75f., 113f. Fn. 19, 190), sind eher passagerer Natur; die Begrifflichkeit von Re- und Protentionalität wird dort zwar heranzitiert, aber nicht systematisch expliziert oder kritisiert. Husserl hatte jedenfalls in den Vorlesungen diese Begrifflichkeit verwendet, um am Beispiel des Hörens entlang einer Melodie begreiflich zu machen, dass unser gegenwärtiger Höreindruck umgeben ist von einer retentionalen, auf die vergangenen Töne zurückblickenden und einer protentionalen Phase, die sich erwartend auf die folgenden Töne richtet. Diese beiden Richtungen, das Zurückblicken und in Erinnerung Behalten und das Vorblicken und Erwarten, gewähren allererst die Möglichkeit, eine Melodie sukzessiv zu hören und sie als kontinuierlichen Verlauf wahrzunehmen. Wir richten uns gleichwohl nicht aktiv auf das unmittelbar Vergangene und Künftige, wir thematisieren
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oder vergegenständlichen es nicht eigens, sondern beide zeitlichen Horizonte gliedern sich implizit an unseren gegenwärtigen Höreindruck an. Derridas gewundene Überlegungen in dem erwähnten Kapitel nun laufen darauf hinaus, dass sich in Husserls Konzeption ebensowohl eine der ›Metaphysik der Präsenz‹ angehörende Schicht wie eine, die die Ressourcen zu ihrer Kritik bereitstellt, auffinden lassen.50 Demnach würden »die Vorlesungen über das innere Zeitbewußtsein die Dominanz der Gegenwart bekräftigen« (Derrida 2003f: 87), der »Komplexität ihrer Struktur zum Trotz« habe in der ersten Schicht »die Zeitlichkeit ein unversetzbares Zentrum, ein Auge oder einen lebendigen Kern, und das ist die Punktualität des aktuellen Jetzt.« (Ebd.: 85) Das Jetzt des gegenwärtigen Hörens – die von Husserl so genannte ›Urimpression‹ – werde in dem Sinne privilegiert, als Husserl glaube, es von seinen re- und protentionalen Bezügen gereinigt auffassen zu können. Obwohl er Husserl zustimmend zitiert, der von einer ›Extension‹, einem Ausgreifen der Gegenwart in die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft ausgeht, bleibe »diese Extension von der Selbstidentität des Jetzt als Punkt – ›Quellpunkt‹ – her gedacht und beschrieben. Die Idee einer originären Gegenwärtigkeit und allgemein eines ›Anfangs‹, der ›absolute Anfang‹, das principium verweist in der Phänomenologie stets auf diesen ›Quellpunkt‹ zurück.« (Ebd.) Was Derrida also, trotz seiner Zugeständnisse an Husserls feinsinnige Beschreibungen des Melodiehörens und der darin implizierten Zeitlichkeit, zur Kritik bewegt, ist diese Redeweise von einem Punkt. Die Gegenwart als Punkt,
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So wie ich oben schon im Zuge der Erörterung von Freud und der Schauplatz der Schrift auf Derridas komplexes Verhältnis zur Präsenzmetaphysik aufmerksam gemacht hatte, möchte ich hier nochmals unterstreichen, dass das ein genereller Aspekt in Derridas Auseinandersetzung mit Philosophien der Tradition ist. Derrida hat weder »geglaubt, daß es metaphysische Begriffe an sich gibt« (Derrida 2009a: 84), noch dass es »›die-metaphysischen-Texte‹ gibt.« (Derrida 1998: 81) Was es demnach gibt, sind unterschiedliche, metaphysische oder metaphysikkritische Schichten in Texten und Kontexte, in die eingeschrieben bestimmte Begriffe eine metaphysische Form annehmen können. Was dies dann im einzelnen besagen und worin genau ihre (präsenz-)metaphysische Gestalt bestehen mag, hat Derrida gleichwohl nicht pointiert erläutert. – Was aber dennoch für uns von Belang ist, ist die damit adressierte Inhomogenität von Texten, ihre heterogene Schichtung. Das meint, simpel gesprochen, nicht allein, dass ein Text immer auf plurale Weise interpretierbar ist, dass man ihn so oder auch anders lesen kann. Sondern das meint, spezifischer, dass die Dekonstruktion schon in ›metaphysischen‹ Texten der Tradition am Werk gewesen ist. Derrida sagt in einem Gespräch: »Nichts ist jemals homogen. Selbst unter Philosophen, die mit der kanonischen Tradition assoziiert werden, warten die Möglichkeiten des Bruchs immer darauf, sich zu zeigen. Es kann immer gezeigt werden (und ich habe versucht das zu tun, etwa am Beispiel des Begriffs chora in ›Timaeus‹), dass die radikalsten dekonstruktivistischen Motive ›im‹ platonischen, kartesianischen und Kantschen Text wirksam sind. Ein Text wird niemals ganz von ›metaphysischen Voraussetzungen‹ beherrscht.« (Derrida 2015: 25) Worin die Dekonstruktion dann genau besteht, werden wir später aufhellen müssen.
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als Atom, als geschlossenes Glied in einer Sukzession – das ist die präsenzmetaphysische Schicht bei Husserl, die Derrida in Ousia und Gramme auch bei Hegel – als Jetzt – und Aristoteles – als stigmé – aufweist (Derrida 1988b: 65ff., vor allem 68). Als ein auch von Husserl »geerbter metaphysischer Begriff« (Derrida 2003f: 84) würde ein derart punktualisiertes Verständnis der Gegenwart zur Konsequenz haben, dass die zeitliche Abfolge etwa einer Melodie aus Teilen zusammengesetzt ist, die selber nicht zeitlich sind, weil sie als in sich verkapselte und geschlossene keine Möglichkeit des Übergangs zu anderen solchen Teilen gestatten. Die Präsenz wäre in dieser dichotomen Optik originär, und der Bezug auf Nichtpräsentes wäre sekundär, er schlösse sich einer reinen und voll konstituierten Präsenz erst an. Es wäre eine Sequenz von Eindrücken, oder eben Tönen, »die aus einer sukzessiven Verkettung mit sich selbst identischer und mit sich selbst gleichzeitiger Gegenwarten besteht.« (Derrida 2004: 103) Nichtsdestotrotz – und darum hatte ich auf die beiden konfligierenden Schichten in Husserls Vorlesungen hingewiesen – findet Derrida dort auch Motive für eine andersartige Konzeption von Gegenwärtigkeit vor.51 Denn Husserl sagt selbst, dass »dieses ideale Jetzt nicht etwas toto coelo Verschiedenes ist vom Nicht-Jetzt, sondern kontinuierlich sich damit vermittelt.« (zit.n. Derrida 2003f: 89) Wenn es aber Kontinuitäten oder Extensionen zwischen Gegenwart und Nichtgegenwärtigem gibt, kann man die Gegenwart nicht derart punktualisieren, wie es sich vorher nahegelegt hatte. Dann polarisiert sie sich nach ihren Bezügen auf Vergangenes und Zukünftiges, die wesentlich Anteil daran haben, wie der gegenwärtige Höreindruck beschaffen sein mag. Derrida formuliert diese Husserls komplexem Gedankenzug in den Vorlesungen innewohnende Spannung so (Derrida 2003f: 87f.): Trotz dieses Motivs des punktuellen Jetzt als ›Urform*‹ (Ideen I) des Bewußtseins verbietet es der Inhalt der Deskription in den Vorlesungen und anderswo, von einer einfachen Selbstidentität der Gegenwart zu sprechen. Dadurch erfährt nicht nur das, was man die metaphysische Versicherung schlechthin nennen könnte, sondern, lokaler gesehen, auch das Argument vom ›im selben Augenblick*‹ in den Untersuchungen eine Erschütterung. Die gesamtem Vorlesungen beweisen gewiß und bestätigen in ihrer ebenso kritischen wie deskriptiven Arbeit die Irreduzibilität der Re-Präsentation* (Vergegenwärtigung*) auf die präsentative Wahrnehmung
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Auf diese Zwiespältigkeit bei Husserl kommt beispielsweise auch Manfred Sommer in Lebenswelt und Zeitbewusstsein (1990: 154f.) zu sprechen. Nachdem er kurz zustimmend auf Derridas husserlkritischen Vorwurf einer ›Restauration der Metaphysik der Präsenz‹ zu sprechen gekommen ist, schreibt er: »Noch während Husserl sich dieser Gleichzeitigkeit«, nämlich der Gleichzeitigkeit von Gegenstand und Wahrnehmung, »versichern will, ist er selbst schon dabei, die Sachverhalte zu beschreiben, die, schmerzlich genug, in einem dritten Schritt zur Anerkennung einer neuen Art von Aufschub und Verzögerung nötigen. […] im Bewußtsein selbst gibt es eine konstitutive Verspätung.«
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(Gegenwärtigen*, Präsentieren*), der sekundären und reproduzierenden Erinnerung auf die Retention, der Phantasie auf die Urimpression, des reproduzierten Jetzt auf das wahrgenommene oder retenierte aktuelle Jetzt usw. […] Man wird dann sehr schnell gewahr, daß die Gegenwärtigkeit der wahrgenommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie sie kontinuierlich mit einer Nicht-Gegenwärtigkeit und einer Nicht-Wahrnehmung, nämlich der primären Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention), Verbindungen eingeht. Diese Nicht-Wahrnehmungen schließen sich nicht an, begleiten nicht eventuell das aktuell wahrgenommene Jetzt, sondern haben unabdingbar und wesentlich ihren Anteil an seiner Möglichkeit. Husserls Analysen tasten also selbst schon die ihnen gleichwohl inhärente ›metaphysische Versicherung‹ und die ›Selbstidentität des Augenblicks‹ dadurch an, dass die retentionalen und protentionalen Verweisungen auf Nichtgegenwärtiges sich nicht an eine ungeteilte Gegenwart angliedern, sondern in diese hineinreichen. Die Gegenwart ist demnach kein unzeitliches Atom, kein nicht weiter auflösbares Element, sondern von Spuren auf Nichtgegenwärtiges behaust und somit komplex oder synthetisch – das hat die ›Temporalisierung‹ der Gegenwart zur Folge. Der »Bezug auf die Nicht-Gegenwärtigkeit überkommt nicht unvermutet, umschließt nicht und verhehlt nicht die Gegenwärtigkeit der Urimpression« und »zerstört radikal jede Möglichkeit einer Selbstidentität in der Einfachheit.« (Ebd.: 90) Adorno nun misst der Begrifflichkeit von Re- und Protentionalität und dem mit ihr verbundenen Gedanken, dass sich in unserer Erfahrung zeitliche Relationen entspinnen und Synthesen bilden, eine erhebliche Relevanz zu. Das ist nicht so deutlich, blickt man lediglich auf die frühen ausführlichen Auseinandersetzungen mit Husserl in der Metakritik der Erkenntnistheorie und deren Vorläufer von 1924, die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie, denn dort taucht sie noch nicht auf. Sie findet aber Eingang in zahlreiche seiner musikphilosophischen Texte – entweder wird, allerdings selten, explizit auf sie verwiesen, oder Adorno handelt implizit jedesmal dort von ihr, wenn er von Erinnerung und Erwartung, von Rück- und Vorblick spricht. Zieht man in Betracht, dass Husserl diese zeittheoretischen Überlegungen in seinen Vorlesungen über das ›Zeitbewusstsein‹ schon selbst wiederholt am Hören einer Melodie exemplifiziert hat und Adorno diese Vorlesungen bekannt gewesen sein dürften, liegt es nahe, dass sie seine Musikphilosophie zumindest mitinspiriert haben. Die musikphilosophischen Texte der Gesammelten Schriften Adornos nehmen zwar mit acht Bänden fast deren Hälfte ein, aber prima facie scheint es keinen Text zu geben, der seine musiktheoretischen Gedanken gebündelt und pointiert darlegt. Es haben zwar einzelne von ihnen wie Vers une musique informelle oder über den Spätstil Beethovens, das Fragment über Musik und Sprache sowie die Vorlesungen zur Einleitung in die Musiksoziologie immer wieder allgemeinere, über die engere mu-
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siktheoretische Diskussion hinausgehende Beachtung gefunden, und man hat der Philosophie der neuen Musik den Rang eines weiteren Hauptwerks zuerkannt. Aber so gehaltvoll und anregend diese Arbeiten für sich sein mögen, man sieht sich gezwungen zu fragen, ob es denn etwas geben mag, das sie untereinander verbindet und das man mithin zumindest als einen Baustein von Adornos Musiktheorie namhaft machen könnte. Ich möchte nicht suggerieren, dass es tatsächlich so etwas wie ein Set grundlegender Termini gibt, das den einzelnen, sehr heterogenen und mitunter recht kurzen dieser musikphilosophischen Beiträge als Fundament dienen könnte. Aber es gibt ein Begriffspaar, das verschiedentlich wiederkehrt, dem Adorno selber expressis verbis eine hohe Relevanz zuspricht und von dem ich überdies glaube, dass es zumindest ein husserlsches Ferment in sich trägt. Adorno unterscheidet, mit sprechender Begriffsprägung, ein atomistisches von einem strukturellen Hören, und dieses zeichnet er zumeist als vorzugswürdig gegenüber dem atomistischen als ›depravierter‹ Form des Hörens aus. Das strukturelle Hören ist die eigentliche »Art lebendiger Erfahrung des Musikalischen« (17/176), es ist gleichzusetzen mit »Musikverständnis, musikalische[r] Bildung« (ebd.: 297) und es ist das »Hören, das dem integralen Kompositionsideal gerecht würde« (15/245). Überdies ist es unter den ›Typen musikalischen Verhaltens‹ die »voll adäquate Verhaltensweise« (14/182), und der »Begriff von Analyse, wie er mir vorschwebt«, kommt überein »mit der Forderung strukturellen Hörens« (Adorno 2001: 88f.). Diese Form des Hörens ist also in ganz augenfälliger Weise evaluativ oder normativ ausgezeichnet, und angesichts der Verstreutheit dieser Belegstellen und ihrer Häufung kann man es nur als eine Merkwürdigkeit empfinden, dass der Begriff in der Rezeption von Adornos Werk weithin keine Aufmerksamkeit gefunden hat (vgl. etwa Klein/Kreuzer/Müller-Doohm 2011). Das ist besonders problematisch deshalb, weil – wie ich im Hinblick auf den Begriff des Geistes schon deutlich zu machen gesucht habe – sich Kunstwerke für Adorno generell als ein Sinn- oder Strukturzusammenhang darstellen. Sie komponieren sich aus einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren Elementen, aber zwischen diesen bestehen von ihren Rezipientinnen nachzuzeichnende Relationen und Zusammenhänge. Es lässt sich deswegen »ein Kunstwerk eigentlich nur dann verstehen, wenn Sie zwar alle seine sinnlichen Einzelheiten konkret und spezifisch wahrnehmen, aber doch so sehr in Relation zu den anderen sinnlichen Momenten und zu dem Ganzen, daß sie dadurch zu Trägern eines strukturellen Sinnes werden und aufhören eben in diesem Augenblick, bloße isolierte sensuelle Reize zu sein.« (ÄsthVL58: 181; Hervorhebung DJ) Dieser Hörtypus kann mithin als ein Gelenk, das zwischen den musiktheoretischen und den allgemeiner angelegten kunsttheoretischen Texten vermittelt, aufgefasst werden. Weil er zudem eine Dialektik von Geistigem und Sinnlichem ins Werk setzt, hilft er uns auch bei der Erörterung des Begriffs geistiger Erfahrung.
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Aber was ist mit strukturellem Hören und seinem Widerpart denn gemeint? Adorno hat es nirgendwo so deutlich wie auf den wenigen Seiten eines Texts namens Kleine Häresie (17/297f.) gesagt: Musikverständnis, musikalische Bildung in menschenwürdigerem Sinn als dem bloß informatorischen, kommt der Fähigkeit gleich, musikalische Zusammenhänge, im idealen Fall ausgesponnene und artikulierte Musik als sinnvolles Ganzes wahrzunehmen. Das meint der Begriff des strukturellen Hörens, dessen Forderung heute, kritisch gegen das im Momentanen Befangene, schlecht Naive, mit Nachdruck sich anmeldet. Vorkünstlerisch ist das atomistische Hören, das an den Reiz des Augenblicks, den angenehmen Einzelklang, die übersichtliche und behaltbare Melodie unkräftig, passiv sich verliert. Weil solchem Hören die subjektive Fähigkeit zur Synthesis abgeht, versagt es auch vor der objektiven Synthesis, die jede höher organisierte Musik vollzieht. […] Wer atomistisch hört, vermag es nicht, Musik – weil sie nun einmal des Begriffs enträt – sinnlich als Geistiges wahrzunehmen. […] Denn in der hochorganisierten Musik, der solche Einsicht gilt, und zwar desto mehr, je höher sie organisiert ward, ist das Ganze ein Werdendes, kein abstrakt Vorgedachtes, keine Schablone, die von den Teilen einzig auszufüllen wäre. […] Es artikuliert sich durch Vor- und Rückbeziehung, Erwartung und Erinnerung, Kontrast und Nähe; unartikuliert, ungeteilt zerflösse es in seiner bloßen sich selbst Gleichheit. Musik angemessen auffassen verlangt, das jetzt und hier Erscheinende im Verhältnis zu dem Vorher und, antezipierend, dem Nachher zu hören. Dabei behält der Augenblick der reinen Gegenwart, das Jetzt und Hier immer eine gewisse Unmittelbarkeit, ohne welche die Beziehung zum Ganzen, Vermittelten so wenig sich herstellte wie umgekehrt. Das atomistische Hören klebt also verstockt am Augenblick; die gehörte Musik flockt für es in voneinander isolierte Atome aus, die Gegenwart wird als beziehungsloser Punkt erlebt. Sein hauptsächliches Defizit liegt in einem Mangel an Gedächtnis: während das strukturelle Hören erinnert und erwartet, zurück- und vorblickt und so das sinnlich wahrgenommene einzelne Element im Licht seines strukturellen oder geistigen Sinns wahrzunehmen vermag, kann das atomistische Hören nur ›behaltbare‹ Melodien erinnern und bleibt im singulären Augenblick ›befangen‹. Für es hat Adorno daher auch – wer würde es entsprechend der Auszeichnung des strukturellen Hörens auch anders erwarten? – an vielen anderen Stellen nichts übrig. Es mischt sich in seine Äußerungen und diese Opposition der Hörtypen denn auch eine unüberhörbar kultur- oder gesellschaftskritische Note. Die Atomisierung gründet auf einer »Regression des Hörens« (14/34) und auf »Dekonzentration« (ebd.: 37); die »Tendenz zum atomistischen und kulinarischen Hören, eine in Wahrheit vorkünstlerische, krud stoffliche Neigung zum Abtasten und Abschmecken isolierter Reizmomente« werde »ebenso vom herrschenden Musikbetrieb wie von der gesellschaftlichen Rückbildung des Hörens gefördert« (15/246).
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Adorno diagnostiziert also einen Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentration, es komme nicht mehr zu einer aktiv geleisteten Synthesis, sondern der Musikhörer verliere sich passiv und ›unkräftig‹ an die jeweiligen Augenblicke. Dieser Befund trifft sich mit demjenigen, wonach heute Diskontinuität an Stelle der Kontinuität getreten sei und Erlebnisse, aber nicht mehr Erfahrungen gemacht würden.52 Das generelle Fundament dieser kritischen Feststellungen ist eine Schwächung oder gar ein Verfall des Gedächtnisses. Denn Gedächtnis, die Synthesis einzelner Elemente oder Augenblicke und die Vorstellung eines strukturellen, geistigen Zusammenhangs gehören für Adorno untrennbar zusammen. Das »Leben des Einzelnen« habe demnach »jede Einstimmigkeit, jede Kontinuität der bewußten Erinnerung und des unwillkürlichen Gedächtnisses – den Sinn verloren. Die Individuen reduzieren sich auf die bloße Abfolge punkthafter Gegenwarten« (3/243). »Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit«, und aus präzise diesem Grund ist »Halbbildung […] eine Schwäche zur Zeit, zur Erinnerung, durch welche allein jene Synthesis des Erfahrenen im Bewußtsein geriet, welche einmal Bildung meinte.« (8/115f.) Ich glaube nun nicht, dass, so bedeutsam sie für die Entstehung dieses Paars von antagonistischen Hörtypen gewesen sein mag, diese normative und kulturkritische Wendung für unseren Zusammenhang für sich genommen irgendwie interessant ist. Sie lenkt unseren Blick zwar auf die richtigen Aspekte und Begriffe, aber ich halte es für zweckmäßiger, sie einfach als Unterscheidung zwischen einer plausibleren und einer weniger plausibleren Konzeption des Hörens, also auch von Wahrnehmung und Erfahrung zu verstehen. Dass es eine umsichgreifende Regression und Dekonzentration und ein Parzellieren der Erfahrung in einzelne Erlebnisse geben mag, vielleicht heute umso mehr als zu Adornos Zeiten – kann schon sein, kann auch nicht sein. Innerhalb dieser Studie sind wir hoffentlich der Aufgabe überhoben, derlei große Fragen der Kulturkritik vom Lehnstuhl aus zu entscheiden. Stattdessen möchte ich das strukturelle Hören noch genauer charakterisieren. In ihm lässt Adorno mehrere Unterscheidungen zusammenspielen, so die bereits angedeutete von Struktur und Element, diejenige von Geistigem und Sinnlichem, aber auch die an Hegel angelehnte von Ganzem und Teil und Kants Unterscheidung von Denken und Anschauung. All diesen Unterscheidungen wird man an den betreffenden Stellen, die zur Erörterung dieses Hörens angetan sind, begegnen. Das strukturelle Hören macht uns zunächst darauf aufmerksam, dass der strukturelle Zusammenhang kein Ganzes meint, das geschieden wäre von seinen 52
Der locus classicus, der auch Adorno beeinflusst haben dürfte, ist Benjamins kleiner Text Erfahrung und Armut (Benjamin 1977).
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einzelnen Teilen. Es ist in dem Sinne, mit Derrida gesprochen, ›impräsentabel‹, als es selber nicht noch einmal eigens als Element oder Teil gegenwärtig werden kann. Es lässt sich nur durch die allseitige, totale Vermittlung aller Elemente untereinander wahrnehmen, ohne dass diese Wahrnehmung es irgendwie vergegenständlichen könnte. Wie Adorno in dem Zitat oben sagte, ist das Ganze keine am Anfang stehende Schablone, kein Schema, das lediglich seiner Ausfüllung in dem jeweiligen Musikstück bedürfte, sondern etwas ›Werdendes‹. Dadurch, dass das Ganze oder die Struktur nur das Verhältnis aller Elemente untereinander, ihre wechselseitige Bestimmung ist, prägt es sich erst nach und nach aus, nimmt prozessual Gestalt an. Es sei, so Adorno, das »Verhältnis von Ganzem und Teil nicht als das eines Umfassenden und eines Umfaßten zu verstehen, sondern in sich dynamisch, will sagen: als Prozeß.« (Adorno 2001: 86) Diese prozessuale Konstitution der umgreifenden Struktur durch die Elemente lässt sich in drei Richtungen näher ausdeuten: (i) Adorno war der Überzeugung, dass es schon am Anfang des Hörens eines Musikstücks oder der Erfahrung eines Kunstwerks im allgemeinen zu einem gewissen Vor- oder Ausgriff auf das Ganze kommen muss. Wenn die »Synthesis selbst aus dem Verhältnis der einzelnen Momente zueinander eigentlich resultiert, während aber auf der andern Seite diese einzelnen Momente selber von dem Ganzen her […] bestimmt sind«, impliziere das, dass »im Grunde etwa in einem guten Roman in dem ersten Satz, ich will nicht sagen jedes weitere Wort, aber jedenfalls doch die Tendenz, die Konstruktion des Ganzen mehr oder minder angelegt sein muß.« (VLÄsth58: 330) Der Beginn wird also nicht isoliert vom Ganzen wahrgenommen, sondern dieses kündigt sich in einem unerfüllten, vage bleibenden Vorblick an – es gibt einen protentionalen Ausgriff auf das weiter etwaig Geschehende: »[I]n einem gewissen Sinn des noch unerfüllten Vorblicks, der noch uneingelösten Erwartung, weiß man auch das oder richtet sich auf das, was kommen wird.« (VLKranich: 222) Diese Eigentümlichkeit der Kunsterfahrung korreliert mit dem Verlaufscharakter unserer Wahrnehmung, denn diese verläuft linear, die Gegenwart der Wahrnehmung ist zwischen Retention und Protention eingehängt, aber die Retention richtet sich auf unwiederbringlich Vergangenes, während die Protention sich auf Künftiges richtet, das noch keine Gestalt hat. Für Adorno war es (ii) gleichwohl so, dass unsere Erfahrung zugleich durch Nichtlinearität gekennzeichnet ist. Obwohl es faktisch so ist, dass die vergangenen Momente in einem physischen, materiellen Sinn nicht mehr wiederkehren können, ist es doch so, dass sie – denken wir an die zentrale Relevanz des Gedächtnisses und an Derridas Überlegungen über Nachträglichkeit – von zukünftigen Momenten her eine andere Färbung annehmen können. In den Kranichsteiner Vorlesungen (ebd.: 377f.) formuliert er diese strukturelle Eigentümlichkeit so:
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
Lassen Sie mich aber hier schließlich doch noch das eine hinzufügen, daß dieses Verhältnis der Entwicklung gar nicht einseitig etwa so zu verstehen ist, daß es nur nach vorn, also im Sinn der Protentionalität zu verstehen ist, […] sondern es ist ja vielmehr so, daß der ganze Reichtum der zeitlichen Beziehungen in das Komponieren tatsächlich eingeht, das heißt, die Retentionalität, also die Erinnerung an das, was schon da war, ist genauso ein Element der Entwicklung wie die Protentionalität, und es ist duchaus möglich, daß ganze Musikstücke überhaupt erst, wenn ich so sagen darf, von rückwärts her, von ihrem Ende her überhaupt als Entwicklungen ganz und gar [sich] präsentieren, und nicht so, daß man von Anfang her dann immer weiter in das Ende geht, so wie Georgiades in einer sehr geistreichen Arbeit über den letzten Satz der ›Jupiter-Symphonie‹ einmal geschrieben hat, daß eigentlich überhaupt erst vom letzten Takt her das Finale der ›Jupiter-Symphonie‹ ganz verständlich wäre. Das strukturelle Hören prä- und rekonstituiert mithin den Sinn der im einzelnen wahrgenommenen Töne. Adorno versteht die Husserlsche Begrifflichkeit nicht allein so, dass sie für die unmittelbar einen Ton umgebenden vorgängigen und nachfolgenden Töne gilt. Sondern je nachdem wie der strukturelle Gliederbau eines Musikstücks beschaffen und das Gedächtnis ausgeprägt sein mag, können sich die Synthesen und Relationen auch zwischen weiter voneinander entfernt liegenden Momenten ausbilden. Schauen wir einen Film, verfolgen wir ein Theaterstück oder hören ein Lied, kann es mithin vorkommen, dass eine frühere Szene, Handlung oder Tonfolge einen anderen Sinn gewinnt, dass wir sie anders oder auch jetzt erst, relativ auf den Zusammenhang, ›richtig‹ verstehen. Dazu ist es, als unterliegendes strukturelles Fundament, jedoch nötig, dass unser Gedächtnis es uns verstattet, sie durch die abgelaufene Zeit hindurch miteinander kommunizieren zu lassen. Auch wenn wir – wie in dieser Studie – theoretische Werke durchmessen, kann es sich zutragen, dass wir sehr weit voneinander abliegende Texte, Passagen oder Wendungen eines Gedankens so in eine Nähe zueinander bringen, dass das vorher Gelesene vom Nachfolgenden eine gänzlich andere oder auch nur minimal gewandelte Bedeutung bekommt – so wie sich Adorno, weil er manche Details nicht verstand, es sich »schon bei Kant zur Regel gemacht [hatte], immer gleichsam vorwärts und rückwärts zugleich zu lesen.« (Adorno 2003a: 253) Damit sind wir schon bei der (iii) letzten Möglichkeit, die ich sehe, um die prozessuale, dynamische Herausbildung einer Struktur auszudeuten. Die Struktur erhält hier nicht eine protentionale, vorgreifende Konturierung, und sie erfährt auch nicht nachträglich eine Modifizierung. Sondern – und darin ist Adorno Derridas präsenzkritischem Impetus sehr nahe – die strukturelle Vermittlung jeglichen Elements führt dazu, dass das Ganze sich im einzelnen Teil schürzt, die Struktur in einem Element zusammenschießt oder sich darin verdichtet. Einerseits ist es ja, wie wir gesehen haben, so, dass das strukturelle Hören als »die adäquate ästheti-
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sche Erfahrung immer eine ist, die die bloße Gegebenheit, die momentane, aus der sie sich komponiert, eben doch zugleich auch transzendiert.« (VLÄsth58: 185) Das Sinnliche ist geistig vermittelt – und darum gibt es keine puren, völlig vom Zusammenhang isolierten Elemente. Aufgrund dieser Vermitteltheit gibt es jedoch auch die Möglichkeit, dass das einzelne, sinnlich wahrnehmbare Element Träger eines geistigen Sinns wird, der auf die verschiedensten anderen Momente des Kunstwerks verweist. Diese Verdichtung des ganzen strukturellen Sinnzusammenhangs im konkreten Element wird von Adorno sogar mitunter als Ideal des strukturellen Hörens geführt. »Je vollkommener der musikalische Sinn in der Erscheinung gegenwärtig ist«, sagt er in der Theorie der musikalischen Reproduktion (MusikRepr: 270), »um so weniger ist die Erscheinung bloße Gegenwart – drastisch gesprochen, um so vollkommener polarisiert sie sich nach ihrem Zeithorizont, nach Protentionalität und Retentionalität, und um so weniger erschöpft sie sich im Augenblick ihres bloßen Daseins.« Fast genau so hat er es in seiner Ästhetikvorlesung von 1958 (VLÄsth58: 184f.) seinen Hörern erklärt: Nämlich je adäquater die sinnliche Erfahrung von Kunstwerken ist, je vollkommener Sie ein Kunstwerk sinnlich wahrnehmen, um so weiter entfernen Sie sich zugleich vom bloß sinnlichen Element des Kunstwerks. Damit will ich sagen: Wenn Sie etwa wirklich einen komplexen symphonischen Satz so hören, daß sie alle sinnlichen Momente, die es darin gibt, wirklich aufeinander beziehen, also in ihrer Einheit und in ihrer Vermitteltheit hören, sinnlich wahrnehmen, wenn Sie also das, was Sie hören, nicht nur als das hören, als was es Ihnen jetzt erscheint, sondern auch in seiner Relation zu dem, was schon vergangen ist in dem Werk, und zu dem, was in dem Werk Ihnen noch bevorsteht, und schließlich zu dem Ganzen, dann ist das sicher das höchste Maß an präziser sinnlicher Erfahrung, das überhaupt möglich ist. Das strukturelle Hören atomisiert nicht wie sein Antipode, sondern es durchdringt das »Atom als Kraftfeld« (5/122), und darin liegt die kritische Note dieser Verdichtung des Ganzen in einem Teil. Denn die Atomisierung eines Kunstwerks, und ganz generell: die theoretische Konzeptualisierung und die praktische Wahrnehmung von aus ihren Bezügen herausgelösten, zeitlich stillgestellten Objekten ist für Adorno nichts anderes als ›Verdinglichung‹. Die bekannte Wendung, wonach Verdinglichung ein ›Vergessen‹ sei, die ich oben bereits analysiert habe, zielt genau hierauf. Das »Beziehungslose […] erstarrt dem Hörer […]. Isoliert aus Zeitstrom und dynamischem Verlauf verhärtet es sich, ohne über sich hinaus aufs Kommende zu weisen und aufs Vergangene, und wird zum eindeutigen, dauernden, kalten Ding« (17/294). Das ist der »Mechanismus der Verdinglichung« (ebd.), und genau deswegen wird das strukturelle Hören so positiv ausgezeichnet und findet es sein Ideal in einer Form zeitlicher Verdichtung, in der das einzelne Objekt oder der ein-
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
zelne Ton geladen ist mit Verweisungen auf anderes und somit nicht mehr derart isoliert und auf seine reine Gegenwart reduziert werden kann. Wenn dies nun das strukturelle Hören in seiner höchsten Form vorstellen soll, dann mutet das vorderhand sicher wie eine eigenartige Auffassung von ›Präzision‹ an. Denn je weiter weg man sich vom einzelnen sinnlichen Moment bewegt und je mehr es zum Träger eines unanschaulichen, nicht sinnlich gegenwärtigen Sinns wird, desto undeutlicher müsste es uns doch vorkommen; es müsste sich wie verschwommen anschauen lassen. Das führt uns zum letzten Aspekt, den ich gerne im Hinblick auf das strukturelle Hören erörtern möchte, nämlich zur Unanschaulichkeit des Kunstwerks und der Weise, wie Denken und Anschauung, Aktivität und Passivität sich in diesem Zusammenhang zueinander verhalten. Wir hatten jetzt nachverfolgt, wie es sich in drei verschiedene Richtungen oder Dimensionen hinein präziser ausdeuten ließe, aber fraglich scheint bisher geblieben zu sein, was Adorno damit meint, der Hörer dürfe sich nicht völlig passiv verhalten, sondern das strukturelle Hören bestehe in einer gesteigerten Aktivität und Konzentration. Der Rezipient darf ja nicht dekonzentriert, unaufmerksam sein, sondern er muss das Kunstwerk in all seinen einzelnen Momenten mitvollziehen. Es bedarf der »erhöhten Aufmerksamkeit, der Konzentration« (15/203), »der allseitigen Aktualität, Spontaneität der Wahrnehmung« (ebd.: 245), die keines dieser Momente übersieht oder vergisst. Andererseits darf es ja gerade nicht dazu kommen, dass diese Konzentration darin besteht, sich, wie es oben hieß, an den einzelnen Augenblick zu ›verlieren‹. Denn dieser muss zugleich wahrgenommen, aber im selben Zug auf den übergreifenden Sinnzusammenhang transzendiert werden. Und ebenso kann die besonders eingeforderte Aktivität wohl nicht heißen, sich bewusst zu erinnern und bewusst zu erwarten, also in einer gesonderten reflektierenden Operation eigens die jeweiligen Elemente thematisch zu machen, um sie hernach miteinander in einen Zusammenhang zu setzen. Es wäre schließlich auch empirisch reichlich unplausibel, würde die geistige Synthesis, schaut man etwa gemeinsam einen Film, darin liegen, dass man sich mit der Bitte an eine Freundin richtet: ›Einen Moment, wir müssen kurz pausieren, denn ich muss mich auf die vergangenen Szenen besinnen und überlegen, was jetzt noch kommen könnte, um die gerade ablaufende Szene ins rechte Licht setzen zu können.‹ Es ist mithin so, dass uns Bestimmungen des strukturellen Hörens wie denkende Aktivität, aufmerksamer Mitvollzug und Konzentration Rätsel aufgeben, wie man sich dies denn genauer vorstellen könnte. Adorno erläutert es in seiner letzten Ästhetikvorlesung 1967 (VLÄsth68: 23) so, dass wir auf den richtigen Pfad gebracht werden: »Ein Kunstwerk verstehen heißt soviel wie: es mitvollziehen. Der lebendige Mitvollzug eines Kunstwerkes beinhaltet aber immer ein Moment von Reflexion, das über die bloße Gegenwart des je Wahrzunehmenden hinausgeht und enthält dadurch bereits eine reflektierende Leistung in sich. So ist beim Mitvollzug eines
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Musikstücks das Erinnern an ein früheres Auftauchen eines Themas bereits eine intellektuelle Leistung, von anderen intellektuellen Leistungen gar nichts prinzipiell Verschiedenes.« ›Reflexion‹ bedeutet für Adorno also nicht, was man, wie ich glaube, gemeinhin darunter versteht oder in einem ersten Zugang zu verstehen geneigt ist: eine durch und durch bewusste Besinnung auf den strukturellen Zusammenhang. Es bedeutet auch nicht, dass man das Kunstwerk erst erlebt und sich danach Gedanken darüber macht, so wie man es sich manchmal im Nachgang zu Adorno als eine Art von ›Arbeitsteilung‹ zwischen Kunst und Philosophie vorstellt. »Das reflektierende Verhalten zum Kunstwerk ist zunächst einmal gar nicht ein der Kunst fremdes, von außen hereinkommendes, also ein im eigentlichen Sinn philosophisches Verhalten. Nicht erst die Philosophie der Kunst bewirkt eine solche Reflexion, sondern der Mitvollzug des Kunstwerks selber.« (VLÄsth58: 202) Reflexion meint das, was wir vorstehend bereits kennengelernt haben: Erinnerung und Erwartung – die Synthesis nichtgegenwärtiger Momente, ihre zeitliche Vermittlung. Und diese verbleibt in der Immanenz des jeweiligen Werkes, selbst wenn ihre geistigen Vermittlungen über dieses latent hinausweisen mögen – sie ist nichts ›von außen hereinkommendes‹. Aber so bestimmt, bleibt es doch nach wie vor ein eigenartiger, nicht direkt zugänglicher Begriff von Reflexion, von denkender Aktivität in der Zuwendung zu einem Kunstwerk. Denn: bedarf es dazu einer eigenen Fähigkeit – denn etwas mitvollziehen tun wir ja doch so oder so –, und was heißt es hier, das zu ›tun‹, was Adorno als Reflexion anspricht? Er hat selber einige Mühe diesen komplizierten, aber eminent wichtigen Punkt präzise aufzuhellen. An der folgenden, für diesen Zusammenhang besonders verständnisfördernden Stelle (15/186f.) bestimmt er das strukturelle Hören und den reflektierenden Mitvollzug denn auch als zugleich aktiv und unwillkürlich – und diese Paradoxie gibt dem Verständnis zwar einen Wink, befriedigt es aber nicht völlig: In Musik, wie in jeglicher Kunst, ist, was die Sprache der Philosophie sinnliche und kategoriale Momente nennt, ineinander. Hat der hartnäckig naive Hörer daran recht, daß Kunst kein Geistiges duldet, das nicht sinnlich erscheint, so ist umgekehrt das Sinnliche bereits geistig bestimmt, ein erleuchtetes Fenster, und noch die sinnliche Schönheit dankt es dem Licht. Die Wahrnehmung des sinnlichen Jetzt und Hier ist Funktion der strukturellen, der Zuwendung zum Ganzen, und die ist mehr als nur Anschauung. Wo in der subjektiven Rezeption von Musik jeweils Geistiges und Sinnliches endet, wo das eine ins andere umschlägt, ist zufällig, psychologisch. Der Neophyt, oder der Dekonzentrierte, muß der Struktur zuliebe intellektiv auf bereits vergangene Partien sich besinnen, die ihm gar nicht mehr im Ohr liegen, damit ihm die Balance aufgeht, die durch den Wiedereintritt von Vergangenem sich herstellt. Der Erfahrene wird solche Synthesis nicht durch ›Rekognition im Begriff‹ sondern durch die zugleich aktive und un-
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
willkürliche Reproduktion in der Einbildungskraft leisten. Das geistige Moment im Kraftfeld des Kunstwerks wie im adäquaten Verhältnis zu ihm gehorcht keiner dem Sinnlichen äußerlichen Logik; es ist auch nichts, was man sich, wie schon Hegel spottete, dabei zu denken hätte. Vielmehr ist es das, womit das Sinnliche sich selbst und seine punktuelle Gegenwart übersteigt. Rezeption von Kunstwerken ist keine orientierende Besinnung. Sie läßt, mit der Arbeit selbstvergessener Aufgeschlossenheit, von solcher Transzendenz sich treiben, anstatt im bloßen Dasein des Augenblicks sich zu verstocken. Sie ist Denken wohl, doch kein begriffliches; ihre eigene Kraft verzehrt sich in der Absorption der in der Sache aufgespeicherten und erlischt virtuell in dieser. Hier haben wir nochmal alle bereits angesprochenen Elemente zumindest beisammen: es gibt eine Vermittlung von Anschaulichem und Nichtanschaulichem, Sinnlichem und Geistigem. Es gilt sich sowohl auf das einzelne Moment zu richten, als auch sich dem Zusammenhang zuzuwenden, so dass die Gegenwart in ihrer Punktualität überstiegen wird und keine reine mehr ist. Sie ist durch ihre Vermittlung ein ›erleuchtetes Fenster‹, und ihre eigentümliche Färbung und Konnotation erlangt sie aus dieser. Und das Geistige des Werks ist ein Synonym für seinen immanenten Strukturzusammenhang – es ist weder etwas ihm Äußerliches noch ein gedanklicher Inhalt oder eine besondere Aussage. Der Dekonzentrierte muss sich nun tatsächlich eigens auf vergangene Elemente und Passagen besinnen, er ist nicht durchgängig aufmerksam, und so misslingt ihm die Synthesis. Er muss, so will uns Adorno wohl zu verstehen geben, das Kunstwerk aus den wahrgenommenen Atomen rekonstituieren, erhält damit aber keine veritable Vermittlung und Synthesis, sondern ein bloßes Nebeneinander von einzeln erlebten Bausteinen. Man kann sich das wohl so vorstellen, wie ich es etwas süffisant am Beispiel des gemeinsamen Filmschauens dargestellt habe. Der ›Erfahrene‹ jedoch – Adorno lässt diesen als das ›strukturelle Hören‹ figurieren – verhält sich gleichermaßen aktiv wie passiv, willkürlich wie unwillkürlich. Er läßt sich ›treiben‹, ist ›selbstvergessen‹, er reproduziert ›unwillkürlich‹ etwas in der Einbildungskraft. Auf diese Paradoxie – man muss etwas tun und darin zugleich etwas lassen, man muss aufmerksam mitvollziehen und sich zugleich überlassen – und auf den Begriff der Einbildungskraft kommt Adorno hier, meine ich, nicht von ungefähr. Im nächsten Abschnitt zu Kants Begriff der Einbildungskraft werde ich das noch weiter ausführen. Denn ich glaube, dass dieser uns genau diese die Rezeption von Kunst, also das strukturelle Hören, kennzeichnende Paradoxie verständlich machen kann. Die von Adorno so genannten ›intellektiven‹, ›geistigen‹ oder ›reflektierenden‹ Leistungen, die die Synthesen und Relationen nichtgegenwärtiger Augenblicke erstellen, treten uns von Kants Einbildungskraft her als etwas Unbewusstes entgegen, als etwas, das zwar in uns abläuft und so von uns in gewissem Sinn her-
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vorgebracht wird, aber das wir nicht vollumfänglich kontrollieren können. Wenn Adorno also sagt, die »immanente Erkenntnis« eines Kunstwerks bedeute, »sich ganz und gar jenen Synthesen [zu, DJ] überlassen, passiv-aktiv jene Synthesen vollziehen, die durch die Relationen der einzelnen sinnlichen Momente des Kunstwerks gewissermaßen vorgezeichnet sind« (VLÄsth58: 301; Hervorhebung DJ), dann lenkt dies den Fokus auf ein Vermögen, das in genau diesem Sinne funktioniert und wirkt: es konstituiert jene Synthesen und Relationen in uns, und so wird erklärlich, dass geistige Leistungen gleichzeitig aktiv und passiv sind. Gerade der kantische Begriff der Einbildungskraft soll dafür herangezogen werden, weil Adorno selber mehrfach – etwa an der zitierten Stelle eben – auf ihn rekurriert und er Kant vor allem dafür gelobt hat, auf den Doppelcharakter von Aktivität und Passivität geistiger Leistungen – enger gefasst: des Denkens – aufmerksam gewesen zu sein. Dies sei jetzt zur Überleitung noch etwas ausgeführt. Kant habe das »Passivische an der Aktivität des Denkens so treu getroffen«, wie es Adorno in dem kleinen Text Anmerkungen zum philosophischen Denken schreibt, weil er »die Spontaneität, die ihm Denken ist, nicht einfach mit bewußter Tätigkeit gleichsetzte« (10/600f.). Zwar habe er verzeichnet, dass die hergebrachte Vorstellung des Denkens dieses mit Anstrengung, beharrlicher Aufmerksamkeit in Verbindung bringt und insoweit als Tun und Tätigsein versteht. Man müsse über etwas erst noch einmal ›nachdenken‹, sagt man beispielsweise gemeinhin und präsupponiert damit, es sei ein gesonderter Akt dafür vonnöten. Jedoch seien für Kant die »maßgeblichen, konstitutiven Leistungen des Denkens nicht dasselbe wie Denkakte innerhalb der bereits konstituierten Welt« und »[i]hr Vollzug dem Selbstbewußtsein kaum gegenwärtig.« (ebd.: 600) Adorno zielt mit dieser Rede von den konstitutiven Leistungen auf die begriffliche oder kategoriale Formung der sinnlichen, mannigfaltigen Materie. Diese wird – wie wir in den Ausführungen zum Zusammenhang zwischen der Gestalttheorie und Kants Philosophie schon sehen konnten und mit Adorno als ›simultane Apprehension in der Anschauung‹ bezeichnet haben – vorweg ohne unser Zutun so geformt, dass wir immer schon durch geistige Leistungen strukturierte Materie wahrnehmen. Die ›bereits konstituierte Welt‹ – das ist dann eben die derart vorgeformte Welt der Erscheinungen, die wir sodann auch aktiv zueinander in Bezug setzen, voneinander unterscheiden oder in Überlegungen auf sie referieren können. Dem voraus geht allerdings eben die passiv stattfindende Formung dieser Welt, so muss man Adorno verstehen. Kants besondere Treue zu den Phänomenen und zur Empirie ließ ihn also daran zweifeln, dass das Denken nur oder vor allem eine aktive Tätigkeit sei. Er mache auf das »Gefühl im Denken« aufmerksam, »daß die tiefsten sogenannten konstitutiven Leistungen, die ich vollbringe, gar nicht die sind, in denen ich selber denke, sondern daß ›es‹ da schon in mir denkt« (VLGesFrei: 298). Für Adorno war das – ich hatte das weiter oben ebenfalls bereits berührt – unter dem kantischen Begriff der Spontaneität auch relevant, um präziser zu verstehen, was es mit einem so-
3. Das Problem der geistigen Erfahrung
genannten freien, spontanen Handeln auf sich habe. Dieses sei nun nicht einfach aus Überlegungen, aus Gründen und Bedingungen ableitbar, sondern habe etwas Ruckhaftes, Impulshaftes, Unwillkürliches und insofern Passives an sich. Wäre es, etwa eine Entscheidung, in seinem vollen Umfang aus den bisherigen Gegebenheiten ableitbar und berechenbar, könnte man es schwerlich ›frei‹ im starken Sinne nennen. Der Begriff der Spontaneität ist aber nicht nur in dieser praktischen Sphäre beheimatet, sondern er erschließt auch die eigenartige Verknüpfung von Aktivität und Passivität im Wahrnehmen – und das bringt Adorno auf das Schematismuskapitel und die Einbildungskraft. An der Parallelstelle zu dem gerade angeführten Text über das philosophische Denken, in der Vorlesung zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (ebd.: 296f.) erklärt Adorno seinen Studierenden: Was er [Kant, DJ] sich unter Spontaneität vorstellt, das ist ja nun zwar eine Tätigkeit, aber zugleich – und das bezeugt eben unausdrücklich das dialektische Wesen, das ich Ihnen klarmachen möchte – auch ein Unwillkürliches: zugleich etwas, was geschieht, ohne daß ich mir selber darüber klar bin; was, wie es im Schematismus-Kapitel heißt, in den verborgenen Tiefen der Seele geschieht. Die eigentlichen kategorialen Leistungen, also die Leistungen, durch die mir die Welt zu der Welt wird, in der unsere Erfahrung sich bewegt, – diese Leistungen sind eigentlich gar nicht so sehr meine Leistungen als bewußte Tätigkeiten, sondern sie sind, man müßte fast sagen: objektive unwillkürliche Funktionen, die statthaben schon ehe irgendwelche besonderen Denkleistungen innerhalb der konstituierten Welt eigentlich stattfinden. Ich denke, dass wir nun – zum einen vom Begriff geistiger Erfahrung, zum anderen vom strukturellen Hören her – genug Motive in Adornos eigenen Texten aufgefunden haben, um diesen Verweisen nachzugehen und die Einbildungskraft in ihrer ursprünglichen, kantischen Gestalt in Augenschein zu nehmen.
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4. Zwei Bestimmungsstücke geistiger Erfahrung
4.1 Kant: Imaginativität und Dialektik Ästhetische Erfahrung ist imaginativ. Dieser Sachverhalt, verbunden mit einer falschen Vorstellung von der Natur der Imagination, hat den umfassenderen Sachverhalt verdunkelt, daß aller bewußten Erfahrung notwendig Grade imaginativer Qualität eignen. Denn während jede Erfahrung in der Interaktion eines Lebewesens mit seiner Umwelt wurzelt, wird Erfahrung erst bewußt und Perzeption, wenn Bedeutungen hinzutreten, die von früheren Erfahrungen herrühren. […] Interaktion eines Lebewesens mit einer Umwelt tritt im vegetativen und animalischen Leben auf. Menschlich und bewußt ist die vollzogene Erfahrung jedoch nur, wenn das hier und jetzt Gegebene durch Bedeutungen und Werte erweitert wird, die aus tatsächlich Abwesendem, nur imaginativ Vorhandenem abgezogen sind. – Dewey: Kunst als Erfahrung (Dewey 1980: 319) Im hiesigen und im folgenden Abschnitt möchte ich versuchen, mit Kant und Freud noch zwei Dimensionen geistiger Erfahrung aufzuhellen: (i) das, was uns bisher als Unwillkürlichkeit, Unbewusstheit oder Latenz entgegentreten ist, und (ii) die Möglichkeit der Verdichtung, der Charakter einer besonderen Assoziativität oder Konnotativität von gewissen Phänomenen. Hier werden wir zunächst nur die Einbildungskraft in der Form, die sie in der Kritik der reinen Vernunft gefunden hat, inspizieren. Ich bin geneigt zu glauben oder zu unterstellen, dass die Einbildungskraft für gewöhnlich eher aus der Rezeption der Kritik der Urteilskraft bekannt geworden ist. Das gilt jedenfalls für diejenigen Diskussionen, die sich um das Erhabene und das Undarstellbare bei Kant ranken und die etwa von der inzwischen zur Ruhe gekommenen Rezeption von Lyotards Werk in den Achtzigern und Neunzigern inspiriert waren. Ebenfalls ist es, blicken wir nochmal auf das erste Kapitel dieser Arbeit zurück, plausibel, Adornos Ästhetik als eine ›Ästhetik des Erhabenen‹ (Welsch 1989) zu apostrophieren. Das lässt sich an vielerlei Stellen belegen, und auch wir hatten ja gesehen, dass für Adorno die Kunst und die Philosophie insoweit vom selben Bestreben getragen sind, als sie sich auf etwas ihnen Unmögliches richten. Dies
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führt dann in die erwähnten aporetischen Lagen, etwas Undarstellbares dennoch darstellen zu müssen. Und Derrida wiederum konnte feststellen, sich »Lyotard in vieler Hinsicht verbunden, insbesondere bei Themen wie dem Undarstellbaren, dem Unvorstellbaren, dem Erhabenen« (Derrida 1987a: 73), zu wissen, da wir unsererseits ja bemerken konnten, dass die Gastfreundschaft, die Demokratie und die Gerechtigkeit in ihrer Reinheit unerreichbar und undarstellbar bleiben und sich nur unzureichend realisieren lassen.1 Insoweit führt ein Faden auch von den bei Derrida auffindbaren Figuren des Unmöglichen – also neben den genannten auch die Gabe, das Ereignis, das Andere usw. – zurück zu diesem kantischen Komplex aus der Kritik der Urteilskraft.2 Ich will hier aber lediglich auf drei Aspekte eingehen, die man in der Einbildungskraft speziell der Kritik der reinen Vernunft vorformuliert finden kann und von denen ich meine, dass sie gleichermaßen Adornos wie Derridas Interesse gefunden haben. Da ist (i) zum einen der Umstand, dass in Kants Überlegungen die Einbildungskraft – mitunter auch die Urteilskraft – ein Vermögen darstellt, das zwischen Verstand und Sinnlichkeit, Begriff und Anschauung, Spontaneität und Rezeptivität vermittelt. Innerhalb von dessen Philosophie war dies theoriesystematisch insoweit notwendig geworden, als das Erkenntnisvermögen in zwei Stämme oder ›Grundquellen‹ – eben Verstand und Sinnlichkeit – zerfällt, womit die Frage auf dem Tapet war, ob diese beiden Stämme denn auch eine Wurzel haben könnten und welche diese sei.3 Diese Frage nach dem Dualismus der beiden Stämme und 1 2
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Derrida hat sich seinerseits in Parergon, ich will darauf nur im Vorübergehen aufmerksam machen, mit Kants Begriff des Erhabenen auseinandergesetzt (Derrida 1992a, vor allem 149ff.). In dem Gespräch mit Florian Rötzer von 1987, aus dem ich eben zitiert habe, sagt Derrida im Hinblick auf Lyotard und auf die Frage, ob dies denn etwas spezifisch Modernes oder Postmodernes sei: »Es gab überall in der Philosophiegeschichte, nicht nur mit der Theorie des Erhabenen bei Kant, sondern auch schon bei Platon, eine Beziehung zur Nicht-Präsenz oder zum Undarstellbaren. Es hat sich in der Philosphie schon immer darum gehandelt, das Undarstellbare darzustellen. Diese Rekurrenz verhindert nicht, daß die Darstellung des Undarstellbaren historisch ganz unterschiedliche Formen angenommen hat, weil sie selbst historisch ist. Trotz seiner häufigen Bezugnahme auf Kant ist die Art und Weise, wie er diese Darstellung des Undarstellbaren beschreibt, praktiziert oder verkündet, nicht streng kantisch. Sie hat neue Züge, die sie mit den Fragestellungen von Levinas und Heidegger, mit der Kunst und der sogenannten postmodernen Architektur verquicken.« (Derrida 1987a: 75) Vermutlich denkt er dabei auch an die Vorläufer von Lévinasʼ Begriffen des Anderen und des Unendlichen, also an Descartesʼ ›Idee des Unendlichen‹ und Platons ›epekeina tes ousias‹, auf die er, nimmt man allein die Lévinas gewidmeten Texte, in Das Wort zum Empfang (Derrida 1999: 45, 68, 70, 130f.) und in Gewalt und Metaphysik (Derrida 1976a: 131, 151, 215, 234) zu sprechen kommt. Vgl. zu Platons komplizierter Idee eines Guten jenseits des Seins (›epekeina tes ousias‹) vor allem Derridas spätere Ausführungen in Schurken (Derrida 2006d: 185-189). Heidegger hat diese inneren Inkonsistenzen der Kritik der reinen Vernunft minutiös rekonstruiert. Er führt es zum einen auf (i) Verschiebungen zwischen den beiden Auflagen des Werks zurück. Demnach habe Kant verschiedene Vermögen mit verschiedenen Funktionen
4. Zwei Bestimmungsstücke geistiger Erfahrung
nach der Wurzel, die zwischen ihnen vermittelt oder aus der sie hervorgegangen sein mögen, beherrscht Heideggers Kantauslegung in Kant und das Problem der Metaphysik, weshalb das Schematismuskapitel, das genau dieses Problem adressiert, »diese elf Seiten der Kritik der reinen Vernunft das Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes ausmachen« (Heidegger 1973: 89). Wie wir noch sehen werden, wird dies bei Derrida, der häufig auf dieses Buch Bezug nimmt, in verwandelter Form aufgenommen. Als (ii) weiteren Aspekt möchte ich diejenige Funktion der Einbildungskraft namhaft machen, die darin liegt, in zeitlicher Hinsicht zwischen einzelnen Wahrnehmungen zu vermitteln. Ich hatte weiter oben bereits die von Adorno unterschiedene simultane und sukzessive Synthesis besprochen, und im weiteren Verlauf der Arbeit war ich immer wieder darauf zurückgekommen, dass für Adorno die Synthesis – als ›immanente Tradition‹ – ganz wesentlich auch diese zeitliche Dimension hat. Offenkundig war dies auch im Hinblick auf das strukturelle Hören. Für Kant war es so, dass, nimmt man etwa beim Gefrieren von Wasser »wahr, daß Erscheinungen auf einander folgen, d.i. daß ein Zustand der Dinge zu einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war«, man »eigentlich zwei Wahrnehmungen in der Zeit« verknüpft. »Nun ist Verknüpfung kein Werk des bloßen Sinnes und der Anschauung, sondern hier das Produkt eines synthetischen Vermögens der Einbildungskraft« (KrV B233). Die Einbildungskraft ist darum, wie Heidegger sagt, ganz generell »für Kant ein Vermögen des Vergleichens, Gestaltens, Kombinierens, Unterscheidens, überhaupt des Verbindens (Synthesis)« (Heidegger 1973: 129) – und das gilt eben auch in zeitlicher Hinsicht. Für den (iii) letzten Aspekt betraut, ohne dass dies zwischen den beiden Auflagen kohärent durchgehalten worden sei. Andererseits gibt es, unabhängig von den Inkonsistenzen der beiden Auflagen, bereits (ii) Widersprüche dadurch, dass Kant bald von zwei, bald von drei Vermögen ausgeht, die in ihrem Zusammenspiel unsere Erkenntnis ausmachen. Für Heidegger gibt es so auch einen Widerspruch zwischen der theoriesystematischen Anlage und Gliederung in transzendentale Ästhetik und Logik zum einen und dem Schematismuskapitel, das deren strikte Unterscheidbarkeit fraglich erscheinen lässt, zum anderen. »Gegen diese eindeutige, aus der inneren Problematik der Kritik der reinen Vernunft selbst herauswachsende Kennzeichnung der transzendentalen Einbildungskraft als eines dritten Grundvermögens neben der reinen Sinnlichkeit und dem reinen Verstand spricht nun die von Kant ausdrücklich zu Anfang und am Ende seines Werkes gegebene Erklärung: Es sind aber nur ›zwei Grundquellen des Gemüts, Sinnlichkeit und Verstand‹, es gibt nur diese ›zwei Stämme unserer Erkenntniskraft‹; ›außer diesen beiden Erkenntnisquellen‹ haben ›wir keine andere‹. Dieser These entspricht auch die Zweiteilung der ganzen transzendentalen Untersuchung in eine transzendentale Ästhetik und eine transzendentale Logik.« (Heidegger 1973: 135) Auch Adorno begreift das Schematismuskapitel als das »Vermittlungsstück zwischen Ästhetik und Logik«, obwohl »es nicht dort steht, wo es im Sinn der Systematk vielleicht hingehörte, nämlich eben wirklich zwischen der Ästhetik und der Logik, weil in diesem Stück sich eben zeigt, daß es eine Art Indifferenzpunkt zwischen Logik und Ästhetik gibt«, eben »das Schema, nach dem überhaupt Gegenstände der Anschauung gleichzeitig bestimmt sind als solche möglicher Intellektualität.« (VLKant: 338)
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kann mich nicht auf die Kantlektüre Adornos, Derridas und Heideggers berufen, sondern mir geht es um eine sehr eigenartige Bestimmung der Einbildungskraft in der Kritik der Urteilskraft, wo diese nicht allein mit der Synthesis von Vorstellungen und Eindrücken im Zeitverlauf betraut wird, sondern auch damit, Vergleiche vorzunehmen und dadurch einen Durchschnittswert, ein Mittel abzudestillieren. Kant merkt an, dass die Einbildungskraft »ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen, und, durch die Kongruenz der mehrern von derselben Art, ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient« (KU A56f./B57). Wie das näherhin geschieht, ist sehr merkwürdig, denn die Einbildungskraft verdichtet hier mehrere Eindrücke in einem, sie legt verschiedene Bilder wie Photographien aufeinander und hält fest, was sich als deren geteilte Züge abzeichnet. Das wird uns darum als Überleitung zum Abschnitt zu Freud und dessen Begriff der Verdichtung dienen. Um den Stellenwert der Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft nachzuzeichen, muss man zunächst zur Kenntnis nehmen, dass sie, anders als es ein geläufiges Verständnis annehmen mag, als Vermögen nicht auf den Bereich des Ästhetischen, der Phantasie, der Träumereien oder dergleichen beschränkt ist. Kant unterscheidet zwar mitunter – etwa in seinen Anthropologievorlesungen – zwischen Phantasie und Einbildungskraft, jedoch spielt diese Unterscheidung in Kants erster Kritik keine Rolle, und die Einbildungskraft ist dort ein konstitutives, also für den Akt des Erkennens notwendiges Vermögen. In einer Fußnote präzisiert Kant daher: »Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Reproduktion einschränkte, teils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch so gar zusammen, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel, außer der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird.« (KrV A120 Fn.) Wenn Kant von Einbildungskraft spricht, geht es mithin nicht so sehr um den willentlichen Akt des sich etwas Einbildens, sondern, wie hier ersichtlich, hat sie die Funktion, das Mannigfaltige, das Sinnesmaterial der Wahrnehmung zu formieren, zusammenzusetzen oder in ein ›Bild‹ zu bringen. Wie sie das macht, so Kant dezidiert, sei uns indes unbekannt; es geschieht subkutan in uns, und wir werden nur der vollendeten Resultate der Vorgänge der Einbildungskraft gewahr. Wenn die Einbildungskraft also synthetisiert – was sie synthetisiert und wozwischen dies stattfindet, werden wir noch aufklären –, geschieht dies unbewusst. »Die Synthesis überhaupt ist,« sagt Kant, »die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.« (KrV A78/B103) Die Einbildungskraft ist also unentbehrlich – sie ist ja, wie gesagt, kein regional begrenztes oder bereichsspezifisches Vermögen, sondern konstitu-
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tiver Bestandteil unseres Wahrnehmungs- oder Erkenntnisapparats (oder unserer ›Seele‹). Die Synthesis wird von ihr bewirkt, aber – von ihr, nicht von uns. Darum ist sie blind. Ob wir uns ihrer ›selten‹ oder gar nicht bewusst seien, macht Kant im gesamten Werk nicht deutlich; ich meine, dass vieles darauf hin deutet, dass wir uns ihrer prinzipiell nicht bewusst sind.4 Jedenfalls spreche ich in dieser Arbeit dezidiert von Imaginativität als unaufhebbarem Ingrediens der Erfahrung, nicht von Imagination, um das Missverständnis zu vermeiden, es gehe um das hergebrachte Verständnis imaginativer Vollzüge, also um ein bewusstes Sicheinbilden oder träumerisches Entwerfen von Szenerien usw. (i) Einbildungskraft als dialektische Vermittlung. Ich hatte gesagt, dass es bei Kant nicht immer klar ist, was von der Einbildungskraft synthetisiert wird und zwischen welchen Polen sie Synthesen stiftet. Wir können auf den höchst komplizierten und stark durch Fragen architektonischer Stimmigkeit geprägten Gliederbau von Kants Vermögenslehre hier nicht in extenso eingehen. Jedoch lassen sich recht leicht zwei Dimensionen dieser von ihr erwirkten Synthesis unterscheiden: (i) Da für Kant der Pol der Rezeptivität, Sinnlichkeit und Anschauung stets als ein chaotisches, ungeordnetes, mannigfaltiges Material anliefernd dargestellt wird, bedarf dieses einer gewissen Formung oder Strukturierung, um überhaupt eine individuierbare Wahrnehmung abgeben zu können. Ich hatte öfters schon angemerkt, dass sich bei Kant vielerlei Dualismen finden, und so spielt zumeist der in diesen Dualismen gegenüberliegende Pol der Spontaneität, des Verstandes und des Begriffs den Part, diese Strukturierung auszuüben.5 Manchmal jedoch – etwa in dem Zitat eben – ist es die Einbildungskraft selbst, die diese Funktion übernimmt. »Die Einbildungskraft soll […] das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen«, sie ist also das »tätige[] Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen« (KrV A120). (ii) Andererseits, und das bringt uns zu dem, was Adorno, Heidegger und Derrida besonders interessiert, ist es auch so, dass die Einbildungskraft von Kant häufiger als dasjenige bestimmt 4
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Heidegger zitiert diese Passage zweifach, und was er darüber sagt, finde ich für unseren Zusammenhang erhellend genug, um es nicht unzitiert zu lassen. An der einen der beiden Stellen schreibt Heidegger: »Diese Synthesis ist weder Sache der Anschauung noch des Denkens. Sie hat, gleichsam zwischen beiden ›vermittelnd‹, mit beiden Verwandtschaft. Daher muß sie überhaupt mit den Elementen deren Grundcharakter teilen, d.h. ein Vorstellen sein. ›Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber nur selten einmal bewußt sind.‹ Damit wird zunächst angedeutet, daß offenbar alles, was überhaupt an Synthesisstrukturen sich im Wesensbau der Erkenntnis zeigt, durch die Einbildungskraft erwirkt ist.« (1973: 62f.) So sagt Kant über die Kategorien, sie seien »nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d.i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet.« (KrV B145)
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wird, das in diesen Dualismen zwischen den beiden Polen vermittelt. Als rein und streng voneinander getrennt gedachte, könnten sie sich nicht erreichen; dann aber könnte es auch keine Strukturierung des Chaotischen, keine Formierung des Inhalts, keine Regelung der Wahrnehmung durch den Verstand geben.6 Kant nun kommt immer wieder auf diese dualisierende Konzeption der Anlagen unseres Erkenntnisapparats zurück – die aus ihr folgende Reinheit der Pole hat nämlich mit dem transzendentalphilosophischen Projekt zu tun –, aber präzise das Schematismuskapitel bringt diese Konzeption in der Mitte in der Kritik der reinen Vernunft wiederum durcheinander. Am Ende der Einleitung dieses Werks hält Kant zwar noch überzeugt fest, »daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.« (KrV A15/B29) Aber nicht viel später merkt Kant wiederum an, dass »[b]eide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, […] vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen« (KrV A124) müssen. Diese hängt demzufolge »vom Verstande der Einheit ihrer intellektuellen Synthesis, und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach« (KrV B164) ab. Die Einbildungskraft ist also ihrer vermittelnden Position wegen ein Zwischenvermögen, eines, das sowohl am Verstand oder am Denken als auch an der Sinnlichkeit oder an der Rezeptivität partizipiert. Das Schematismuskapitel hat nun genau die Funktion, diese Position eines ›Dritten‹7 zwischen den beiden Stämmen – oder eben als deren ›Wurzel‹ – genau6
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Der Verstand figuriert in der Kritik der reinen Vernunft überdies auch als »Vermögen der Regeln« (KrV A126). In der Folge ist es dann aber nicht die Einbildungskraft, die die Regeln auf einzelne Erscheinungen anwendet, sondern die Urteilskraft tritt hier als ein solches vermittelndes Vermögen auf. »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.« (KrV A133/B172) Diese Anwendung – denkt man jetzt einmal an Wittgensteins Diskussion des Regelfolgens – kann aber ihrerseits nicht vollständig geregelt werden, weil dann neuerlich das Problem auftreten würde, wie diese Regel dann wiederum in der Anwendung auszulegen sei. Darum sei die »Urteilskraft ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.« (Ebd.) Derrida nennt die Einbildungskraft in A Taste for the Secret (Derrida/Ferraris 2001: 5) so: »It [imagination, DJ] is the locus of fiction, but also of a certain synthesis, a place of mediation – especially in Kant where imagination is precisely the third term, the ›third‹. This third term can be taken as the mediator which permits synthesis, reconciliation, participation; in which case that which is neither this nor that permits the synthesis of this and that.« Vgl. auch die spätere Stelle ebd.: 75. Derrida hat, Adorno darin sehr ähnlich, die Einbildungskraft und ihre Funktion der Vermittlung zwischen dualistischen Polen in Der Schacht und die Pyramide (Derrida 1988a: 102f.) überdies als dasjenige Scharnier zwischen Kant und Hegel ausgemacht, das sie in eine besondere Nähe zueinander bringt: »Aber wenn dieses Motiv (die Einheit von Be-
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er zu erläutern. Für Kant ist in diesem Kapitel eingangs nun merkwürdigerweise sofort klar, »daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung«, also das (transzendentale) Schema, müsse »einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein.« (KrV A138/B177) Man kann an diesen Formulierungen Kants schon die ganze problemgenerierende Verwickeltheit ersehen, die im Schemabegriff beschlossen liegt. Denn dieser soll in seiner Mittlerfunktion sowohl das eine wie auch das andere sein, intellektuell und sinnlich. Adorno legt das Augenmerk genau auf diese Problematik und lässt seine Zuhörer in seiner Vorlesung über Kants erste Kritik wissen (VLKant: 197f.): Ich will statt dessen Sie befähigen, dieses besonders schwierige und dunkle Kapitel seiner Funktion nach zu verstehen; also zu verstehen, was das eigentlich soll, – was nämlich im allgemeinen in den üblichen Erläuterungen gar nicht recht klar wird. […] Und der Ausdruck dieser Gedanken, also: der Ausdruck des Problems, in welcher Weise nun eigentlich Material und Form zusammenkommen: das ist die Thematik des Kapitels über den Schematismus der reinen Vernunft. An dieser Stellen haben Sie das Schematismus-Problem also zu begreifen eben als die Frage, wie es möglich ist, daß unsere Erkenntnis nicht nur ein ihrem Material Äußerliches ist, sondern daß sie zugleich deshalb Wahrheit ist, weil sie eigentlich der Beschaffenheit dessen, was sie ordnet, der Beschaffenheit des unmittelbar Gegebenen, sich, wenn Sie so wollen, anpaßt. Also mit anderen Worten: es handelt sich dabei um die Frage der Verbindung zwischen den beiden Hauptstämmen der Erkenntnis, von denen ich Ihnen gesprochen habe, nämlich der Rezeptivität und der Spontaneität: wie ist es überhaupt möglich, daß die zusammenkommen? Daß ich also nicht einfach, wenn ich etwas Angeschautes denke, wenn ich es unter Begriffen zusammenfasse, es dann in einer diesem Angeschauten selber äußerlichen Weise ordne und unter Begriffe subsumiere, – sondern: wie kommt es, daß diese Begriffe der Sache selber entsprechen? »Durch die absolute Trennung von Spontaneität und Rezeptivität in der Architektur des Werkes ist dieses Moment einer Beziehung zwischen diesen beiden ›Stämgriff und Anschauung von Spontaneität und Rezeptivität und so weiter. [sic!]) das Hegelsche Motiv schlechthin ist, so enthält es dieses Mal keinerlei implizite Kritik an Kant. In der Tat geht es hier um die Einbildungskraft, also um die Instanz, in der alle von Hegel regelmäßig kritisierten Kantischen Oppositionen durcheinandergeraten oder sich annullieren. Wir sind hier in jener Zone, in der die Debatte mit Kant am meisten einer Auseinandersetzung und am wenigsten einem Bruch gleicht. Jedenfalls bleibt bestehen, daß der produktiven Einbildungskraft Grundbegriff [sic!] der Hegelschen Ästhetik – eine Stellung und ein Statut zukommen, die analog sind zu der Stellung und Statut der transzendentalen Einbildungskraft bei Kant.«
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men der Erkenntnis‹, wie Kant sie nennt, vollkommen unter den Tisch gefallen, – und Kant versucht das eben doch nachzuholen«, sagt Adorno kurz darauf (ebd.: 200) abschließend im Hinblick auf diese Frage nach der Funktion oder dem Stellenwert des Schematismuskapitels und der Rolle der Einbildungskraft. Was Kant in diesem berüchtigten Kapitel dann vorstellt, um diese Vermittlung deutlicher zu konturieren, sind die Begriffe des Schemas und des Bildes. Diese sind bei Kant selbst auf komplizierte, recht undurchsichtige Weise mit dessen transzendentalphilosophischer Problematik verflochten – näherhin mit der Vereinbarkeit von reinen Verstandesbegriffen und sinnlichen Anschauungen. Während Adorno sich auf die Schwierigkeit, wie Schema- und Bildbegriff sich zueinander und überdies zu den beiden Stämmen der Erkenntnis verhalten, nicht eigentlich einlässt und sie lediglich streift, hat Heidegger ihr eine weitaus größere Bedeutung beigemessen (vgl. Heidegger 1973: 92-101). Adorno verdeutlicht nur, dass der Begriff des Schemas »ein aporetischer Begriff« ist, also »Ausdruck einer Not, einer Schwierigkeit« (VLKant: 199). Es ist eben die erwähnte Schwierigkeit, wie sich Begriff und Anschauung, obwohl sie vorher voneinander gesondert und von ihrem Gegenpol gereinigt schienen, dennoch zusammenkommen sollen. Die Lösung dieses Problems, die Adorno aufscheinen lässt, liegt in dem, was wir in dieser Studie schon kennengelernt haben: es ist von einer grundsätzlichen Verflochtenheit von Begriff und Anschauung, Allgemeinem und Besonderem auszugehen, in der sich Begriffe nur ausgehend von einzelnen Anschauungen bilden und die jeweilige Anschauung unvermeidlich begrifflich strukturiert ist. Aufgrund des »unbewußte[n] Wirken[s] des intellektuellen Mechanismus, der die Wahrnehmung schon dem Verstand entsprechend strukturiert« (3/101), so reformuliert Adorno diese Problematik mit Bezug auf Kant in der Dialektik der Aufklärung, enthält jede »Wahrnehmung […] bewußtlos begriffliche, wie jedes Urteil unaufgehellt phänomenalistische Elemente.« (Ebd.: 218) Die Pole des bei Kant dualistisch auseinandergezogenen Paars sind demnach nicht rein, sondern von ihrem Gegenteil kontaminiert, und die Begriffe reichen in unsere Wahrnehmung derart hinein, dass diese immer schon schematisiert ist, ohne dass wir uns dieser Schematisierung bewusst wären. Was die Einbildungskraft also in ihrer vermittelnden Arbeit leistet, ist etwas Unbewusstes – »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« (KrV A141/B180f.) Um diese erste Dimension der Einbildungskraft mit einer Konsequenz, die man theoretisch zwar aus der dialektischen Vermittlung zwischen Begriff und Anschauung ziehen kann, die aber Adorno nicht bedacht hat und sich nur bei Heidegger so ausgeführt findet, abzuschließen: Es ist für Kant zwar so, dass dem »Begriffe von einem Triangel überhaupt […] gar kein Bild desselben jemals adäquat sein« würde und der »Begriff vom Hunde […] eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne
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auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, […] eingeschränkt zu sein« (KrV A141/B180), bedeutet. Begriffe lassen sich mithin niemals direkt anschauen; sie haben gerade ihre Funktion darin, einen allgemeinen Typus, der mit keiner seiner empirischen Realisationen zur Deckung kommt, vorzustellen. Dennoch ist es so, dass wir durch die Schematisierung der Anschauung darauf aufmerksam werden können, dass diese bestimmte, einzelne Anschauung in ihrer Konkretion zugleich eine exemplarische Instantiierung eines solchen Typus ist. Heidegger formuliert es so, dass »schon in der unmittelbaren Wahrnehmung eines Vorhandenen, z.B. dieses Hauses, notwendig der schematisierende Vorblick auf so etwas wie Haus überhaupt« (Heidegger 1973: 101) liegt. Zwar sehe »[d]ie Zahl selbst […] nie so aus wie die fünf Punkte, aber auch nicht etwa so wie die Zeichen 5 oder V« (ebd.: 99), aber wir können uns, ausgehend von der Problematik des Schematismus als Mittlerinstanz, dessen bewusst werden, dass die wahrgenommenen fünf Punkte oder die gelesenen Zeichen 5 oder V uns einen exemplarischen Anblick der Zahl darbieten, die als solche, in ihrer begrifflichen Idealität nie direkt sichtbar werden kann. (ii) Einbildungskraft und zeitliche Synthesis. Es geht in der Kritik der reinen Vernunft allerdings nicht nur um diese, in ihrer Komplexität mitunter verwirrende, Theorie verschiedener Vermögen und die Fragen, wie diese wohl untereinander zusammenhängen und welche Rolle die Einbildungskraft dabei spielt. Sondern auch um die Frage des inneren Zusammenhangs der je einzelnen Vorstellungen, Gedanken oder Anschauungen. Nach Kant »beruht Erfahrung«, als der Zusammenhang jeweils einzelner Wahrnehmungen, »auf der synthetischen Einheit der Erscheinungen, d.i. auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstande der Erscheinungen überhaupt, ohne welche sie nicht einmal Erkenntnis, sondern eine Rhapsodie von Wahrnehmungen sein würde« (KrV A156/B195). Die Wahrnehmungen müssen also, soll es zu einem mehr oder weniger einheitlichen Bewusstseinsverlauf kommen, nicht rhapsodisch bleiben, sondern sich auf irgendeine Weise zueinander affin verhalten können – sie müssen »assoziabel« (KrV A122) sein. Was diese Affinität oder Assoziabilität gewährleistet und einrichtet, ist nach Kant die Einbildungskraft. Er schreibt daher (KrV A121ff.): Es ist aber klar, daß selbst diese Apprehension des Mannigfaltigen allein noch kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke hervorbringen würde, wenn nicht ein subjektiver Grund da wäre, eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer anderen übergegangen, zu den nachfolgenden herüber zu rufen, und so ganze Reihen derselben darzustellen, d.i. ein reproduktives Vermögen der Einbildungskraft, welches denn auch nur empirisch ist. Weil aber, wenn Vorstellungen, so wie sie zusammengeraten, einander ohne Unterschied reproduzierten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang derselben, sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar kein Erkenntnis entspringen würde: so muß die
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Reproduktion derselben eine Regel haben, nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer anderen in der Einbildungskraft in Verbindung tritt. Diesen subjektiven und empirischen Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man die Assoziation der Vorstellungen. […] Die objektive Einheit alles (empirischen) Bewußtseins in einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) ist also die notwendige Bedingung so gar aller möglichen Wahrnehmung, und die Affinität aller Erscheinungen (nahe oder entfernte) ist eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist. Kant unterscheidet zwar in der Folge zwischen einer produktiven und einer reproduktiven Einbildungskraft, aber diese Unterscheidung hängt mit seinem transzendentalphilosophischen Ansatz und der durchgängigen Differenzierung in einen transzendentalen und einen empirischen Gebrauch von Vermögen, also auch der Einbildungskraft, zusammen und braucht uns hier nicht zu behelligen.8 Was die Einbildungskraft jedenfalls tut, ist im Übergang von Wahrnehmung zu Wahrnehmung eine oder mehrere jeweils vorherige ›herüberzurufen‹, also neuerlich zu aktualisieren. Und das geschieht nicht völlig willkürlich oder regellos, sondern es werden, wenn wir ein Objekt wahrnehmen, das dem Typus ›Hund‹ oder ›Baum‹ entspricht, nur diese Typen abgerufen oder aktiviert, um die Wahrnehmung entsprechend zu schematisieren. Die Wahrnehmungen eines Hundes werden also bevorzugt mit anderen Wahrnehmungen von Hunden durch die Einbildungskraft in Beziehung gebracht, sie treten ›vielmehr mit dieser, als einer anderen in der Einbildungskraft in Verbindung‹. Kant gibt nun für die Notwendigkeit solcher zeitlicher Synthesen einige relativ alltagsnahe Beispiele, die die vorstehenden, in Kants eigenartig possierlich-verklausulierte Diktion gekleideten Bestimmungen mit etwas mehr Farbe versehen. Er schreibt kurz zuvor (KrV A102): Nun ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die erste Teile der Linie, die vorhergehende Teile der Zeit, oder die nach einander vorgestellte Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze
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Eine Stelle, die die Unterscheidung zwischen der produktiven und der reproduktiven Einbildungskraft mit der transzendentalphilosophischen Programmatik in Verbindung bringt, lautet etwa: »Es kann aber nur die produktive Synthesis der Einbildungskraft a priori statt finden; denn die reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung. Also ist das Principium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperzeption der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis, besonders der Erfahrung.« (KrV A118)
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Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können. Eine Linie in einem leeren Raum im Kopf ziehen, verschiedene tagsüber angefallene Ereignisse in ihren Verhältnissen zueinander bedenken oder eine Rechnung vollziehen – das involviert geistige, intellektuelle Operationen, die zeitlich voneinander abgesetzt sind und darum verknüpft werden müssen. Und das nämliche gilt für Wahrnehmungen von Ereignissen, etwa beim Hören von Musik, beim Verfolgen eines Gesprächs usw. Es ist ersichtlich – und vielleicht etwas befremdend – dass die Einbildungskraft hier eigentlich die Funktion dessen übernimmt, was man für gewöhnlich schlicht Erinnerung oder Gedächtnis nennt.9 An dementen älteren Personen lässt sich schließlich wahrnehmen, dass hier der Ausfall des Gedächtnisses – nicht eigentlich der ›Einbildungskraft‹ – dafür verantwortlich zu machen ist, dass keine kohärente Verknüpfung von Alltagsgeschehnissen mehr zustande kommt und Gespräche nach kurzer Zeit wieder von neuem losgehen. Für Adorno ist die Einbildungskraft daher einfach die »Fähigkeit, Nichtgegenwärtiges als Gegenwärtiges zu denken« (VLKant: 152; vgl. genauso 4/139). Ich hatte bereits mehrfach die Unterscheidung berührt, die Adorno dann zwischen simultaner und sukzessiver Synthesis vornimmt, und auch vermerkt, dass es sich bei dieser Synthesis für ihn um eine sich latent entspinnende Synthesis handelt: eine »unbewußte Synthesis: also eine Synthesis, die wir nicht etwa denken, reflektieren, an diesem Chaotischen vollbringen« (VLKant: 155). Auch hatten wir bereits bemerkt, dass es zwar etwas merkwürdig anmutet, dass dieses Synthesis geistig, durch Denken vonstatten geht, Adorno nun gleichwohl nicht meint, dass dieses Denken oder diese geistige Operation völlig bewusst ist. Aber – so ist es terminologisch bei Adorno einfach.10 Er selber bringt die sukzessive, durch die Einbildungskraft veran9
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Bei Hegel wird die Einbildungskraft in der Enzyklopädie (Hegel 1986: 262-277) denn auch zwischen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ abgehandelt. Hegel versieht sie überdies mit der Rolle, Abstraktionen vorzunehmen, und verwendet dafür die nämliche Formulierung wie Kant: die Einbildungskraft lässt verschiedene Bilder aufeinander fallen, um, wenn man so will, einen Durchschnitt zu ›errechnen‹. Dafür müssen diese sich, wie Kant sagt, als ›assoziabel‹ oder, wie Hegel sagt, als durch eine ›Attraktionskraft‹ miteinander verbunden erweisen: »Die Abstraktion, welche in der vorstellenden Tätigkeit stattfindet, wodurch allgemeine Vorstellungen produziert werden […], wird häufig als ein Aufeinanderfallen vieler ähnlicher Bilder ausgedrückt und soll auf diese Weise begreiflich werden. Damit dies Aufeinanderfallen nicht ganz der Zufall, das Begriffslose sei, müßte eine Attraktionskraft der ähnlichen Bilder oder dergleichen angenommen werden, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche derselben aneinander abzureiben.« (Ebd.: 263f.) Vgl. weiterführend zu Hegels Aufnahme der kantischen Einbildungskraft etwa Düsing 1991. In den Stichworten zur Vorlesung über Philosophische Terminologie (VLPhilTerm: 715; Hervorhebung DJ) notiert Adorno: »Noch der reinste Gedanke enthält Erfahrungsmomente und ist, wie Kant im Schematismuskapitel hervorhob, selber Erfahrung weil er die Zeit durchläuft. […] Erfahrung gibt es nicht ohne Denken d.h. Bewußtsein eines nicht Gegenwärtigen; sonst punk-
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staltete Synthesis sodann in eine von fern an Husserl gemahnende Begrifflichkeit: »Was die sukzessive anlangt«, sagt er kurz darauf (ebd.), »so besteht sie einfach darin, daß wir die Phänomene miteinander vereinheitlichen, indem wir sie nicht einfach als ein Jetzt-und-hier wahrnehmen, sondern indem wir sie in Beziehung setzen zu dem, was wir gesehen haben oder gehört haben, und zu dem, was wir sehen werden oder was wir hören werden; das also, daß die Gegebenheit selber innerhalb des Horizonts der Zeit sich abspielt.« Es wundert denn auch nicht, dass er dies durch »Abschattung«, also eine Verdeckung gegenwärtig nicht wahrgenommener Elemente, und durch die Verknüpfung durch »Erinnerung und Erwartung mit Vergangenem und mit Zukünftigem« (ebd.: 156) erläutert. Es trifft sich nun – um auch die Erörterung dieser zweiten begrifflichen Dimension der Einbildungskraft zu beenden –, dass Heidegger in seinen Ausführungen zu den kantischen Begriffen Apprehension, Reproduktion und Rekognition schreibt, dass die »reine Anschauung […] das reine Nacheinander der Jetztfolge als solches nur dann bilden [kann, DJ], wenn sie in sich ab-, vor- und nachbildende Einbildungskraft ist.« (Heidegger 1973: 175) Denn es lasse sich »im bloßen Hinnehmen eines ›Gegenwärtigen‹ nicht einmal ein Jetzt anschauen, sofern dieses eine wesenhaft bruchlose Dehnung in sein Soeben und Sogleich hat. Das Hinnehmen der reinen Anschauung muß in sich den Anblick des Jetzt geben, so zwar, daß es vorblickt auf sein Sogleich und rückblickt auf sein Soeben.« (Ebd.: 174)11 Die jetzige Wahrnehmung findet sich für Heidegger also eingehängt in eine Folge von Wahrnehmungen, vorausgehende und nachfolgende, und es ist für ihre Beziehung auf die vergangenen und folgenden Ereignisse notwendig, dass es einen Vorgriff auf Künftiges gibt und ein Behalten des Vergangenen. Die von der Einbildungskraft vorgenommene »reproduzierende Synthesis« könne »nur dann einigen«, also synthetisieren oder verbinden, »wenn das Gemüt das in ihr Wiederbeizubringende nicht ›aus den Gedanken verliert‹«, wie Heidegger die obige Kantpassage zitierend schreibt. »In solcher Synthesis liegt daher notwendig das Nicht-verlieren, d.h. Behalten-können.« (Ebd.: 181) So in eine Husserl verwandte Fragestellung gebracht, erschließt sich auch für Heidegger, dass die »Einbildungskraft als das reine bildende Vermögen in sich die Zeit bildet, d.h. entspringen läßt« (ebd.: 187), also durch ihr Ab-, Nach- und Vorbilden allererst eine zeitlich erstreckte Folge von Wahrnehmungen ermöglicht. (iii) Einbildungskraft und Überblendung. An dieser Stelle können wir nun auch einmal auf Derridas bislang unberücksichtigt gebliebene Rezeption des Begriffs
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tuell, diskontinuierlich, also gerade nicht Erfahrung.« Das Denken bekommt hier also genau die Funktion zugesprochen, die ich unterschiedlich als ›Synthetisierung‹, ›Vermittlung‹ oder ›Relationierung‹ unterschiedlicher einzelner Wahrnehmungen adressiert habe. Derrida zitiert diese Stelle in extenso in den Fußnoten zu Ousia und gramme. Vgl. Derrida 1988b: 364 Fn. 21.
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der Einbildungskraft und des Schematismuskapitels zurückgreifen. Ich hatte verschiedentlich angedeutet, dass diese Rezeption inspiriert war oder jedenfalls vermittelt durch Heideggers Kantbuch ablief. Selbst wenn man nicht davon sprechen will, dass »Verweise auf Heideggers ›Kantbuch‹ […] Derridas Werk« (Gondek 1998: 199 Fn. 36) durchziehen, ist es doch so, dass dieses an einer Vielzahl an Stellen herbeizitiert wird. Oft geschehen Verweise auf die beiden genannten kantischen Topoi bei Derrida auch ohne eine Mediierung durch Heidegger. Wir brauchen dennoch diese verschiedenen Belegstellen nicht im einzelnen abzuklappern, denn zumeist wird bloß in beiläufiger Manier darauf Bezug genommen; die Begriffe und Themen Kants tauchen kurz auf, ohne von einem erläuternden und sie in den gesamten textuellen Zug einbettenden Kontext umgeben zu sein. Es gibt jedoch zwei Stellen – die eine im Mémoires, die andere in Aufzeichnungen eines Blinden –, die uns helfen, diese Referenzen mit Derridas eigenem Begriffsrepertoire zu vernähen, und uns zumindest der Antwort auf die Frage, weshalb sich Derrida an derlei Stellen auf Kant bezieht, näherbringen. Die Stelle aus Mémoires (Derrida 1988e: 90f.) lautet: Der Revenant, der nach dem Tode Lebende (le survivant), tritt vermittels der Figur oder der Fiktion in Erscheinung; aber sein Erscheinen ist nicht nichts, ist nicht nur Schein. Und die ›Synthesis als ein Phantom‹ erlaubt es, in der Figur des Phantoms das Werk der transzendentalen Einbildungskraft (so wie sie von Kant und von Heidegger ausgewiesen wird) zu erkennen, deren Schemata der Verzeitlichung und deren Vermögen der ›Synthese‹ eben die einer produktiven Einbildung und – dem Wort von Kant zufolge – einer ›verborgene(n) Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele‹ sind. Es gibt die Kunst des Gedächtnisses und es gibt das Gedächtnis der Kunst […] Das Thema der produktiven Einbildung und der Kunstfertigkeiten des ›produktiven Gedächtnisses‹ ist im übrigen, allen Differenzen zum Trotz, ein Kant und Hegel gemeinsames. Und die andere, aus Aufzeichnungen eines Blinden (Derrida 2003e: 52), liest sich wie folgt: Dieses Gedächtnis bricht mit der Gegenwart der visuellen Wahrnehmung nur, um die Zeichnung besser im Blick zu behalten. Ein kreatives Gedächtnis also, eine Schematisierung, Zeit und Schema der transzendentalen Einbildungskraft im Sinne Kants, mit ihrer ›Synthese‹ und ihren ›Phantomen‹. Auch vom ›Duell‹ spricht Baudelaire […], zwischen zwei Blinden, in dem es um die Aneignung des Überschusses geht: um das (Nicht-)Mehrsehen [plus-de-vue], das visionäre Sehen des Sehers, der über das sichtbare Gegenwärtige hinaussieht, um das Übersehen oder das Überleben des Sehens. Beide Passagen sind zudem eingehängt in eine lose Auseinandersetzung mit einem kleinen Text Baudelaires, L’art mnémonique, die Gedächtniskunst. Wie zu sehen, greift Derrida überdies an beiden Stellen auf den Gedanken des Gespensts oder des
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Phantoms zurück, also auf den allgemeinen Sachverhalt der Spektralität, der durch die Iterabilität ermöglichten Wiederkehr von etwas in etwas anderem. Die Figur des Phantoms ist für Derrida allerdings eng mit einem Begriffsfeld verbunden, das über das zeitgenössische Wort Phantasie auf den griechischen Sinn von phantasma als Erscheinung und als Bild zurückgeht. Das »Erscheinen des Phänomens, das phainesthai« sei »untrennbar vom Phantasma, das heißt sowohl vom Traum als auch vom gespenstischen Phantom, vom Wiedergängertum, was phantasma ebenfalls meint.« (Derrida 2007b: 106) Oder anders: »das Phänomen als Phantasma« zu verstehen, gründet sich auf die »semantische und etymologische Ähnlichkeit, die das Phantasma dem phainesthai, der Phänomenalität und dem Gespenstischen des Phänomens assoziiert. Phantasma, das bedeutet auch Phantom, Doppelgänger oder Wiedergänger.« (Derrida 2003d: 47) Es gibt noch weitere solcher Stellen, an denen diese semantische Ähnlichkeit ausgebeutet wird, aber diese bleiben ähnlich kursorisch wie die Verweise auf Kant. Ich möchte nun jedoch einen Vorschlag machen, ausgehend von dieser Legierung von Phantasie-Phantasma-Phantom-Wiederkehr die obigen beiden Passagen folgendermaßen zu deuten: Derrida spricht deswegen von einem produktiven oder kreativen Gedächtnis, weil die Einbildungskraft durch ihre zeitlichen Synthetisierungen verschiedener Wahrnehmungen zugleich dazu führen kann, dass es eine produktive Einbildung, ein Hineinbilden, wenn man so will, von Nichtgegenwärtigem in die Gegenwart gibt. Deshalb ist die Rede von einem plus de vue, von einem überschüssigen Mehr- oder Über-Sehen, das über die Gegenwart in ihrer Reinheit und Geschlossenheit hinausführt – der Gedanke ist uns ja schon vom generellen Sachverhalt der Pluralisierung bzw. Pluralität her geläufig. Insoweit die Wahrnehmung durch Iterabilität strukturiert ist, ist sie potentiell von einer Verweisung auf Vergangenes, das sich in ihrer reaktualisiert, behaust. Sie ist durch Spektralität oder Phantasmatizität gekennzeichnet. Diese bilden daher die Basis dafür, etwas in etwas anderem zu sehen, also etwa zu halluzinieren, was voraussetzt, dass sich die Wahrnehmung in ihrer Gegenwärtigkeit und ihrem Sichereignen hier-und-jetzt mit Verweisungen auf frühere Vorkomnisse auflädt. Von diesem bei Derrida nur sehr unsystematisch entfalteten theoretischen Setting aus muss man prinzipiell eine »wesentliche Möglichkeit eines ›als ob‹ in Rechnung […] stellen, die alle Sprache und alle Erfahrung mit möglicher Fiktionalität, Phantasmatizität und Gespensterhaftigkeit (spectralité) affiziert.« (Derrida 2006g: 273) Im Ausgang von diesen Überlegungen ließe sich all diesen verschiedenen Begriffen Derridas – dem kantischen ›als ob‹, seiner Diskussion von Freuds Erwägungen zur Halluzination und zum Phantasma, seiner Neubestimmung der Phänomenalität ausgehend von dieser etymologischen Verwurzelung im griechischen ›phainesthai‹ – zwar weiter nachspüren, aber das hier in diesem Abschnitt zu tun wäre unstatthaft, und ich will sie nun lieber auf die Einbildungskraft zurückbeziehen. Ich hatte bereits erwähnt, dass ich hier auch gerne eine Bestimmung der
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Einbildungskraft zurate ziehen möchte, die Kant in der Kritik der Urteilskraft vornimmt. Die Stelle, an die ich hierbei denke, weist die Einbildungskraft zunächst als dasjenige Vermögen aus, das im Verlauf der Zeit unterschiedliche intellektuelle oder kognitive Vorgänge, gedankliche Regungen oder Vorstellungen miteinander in Beziehung setzt. Sie stiftet die zeitliche Synthesis und die Konsistenz im Bewusstseinsprozess – das hatten wir eben schon ausführlich beleuchtet. Kant gibt dort allerdings eine, vom übergreifenden Kontext in seiner letzten Kritik her gesehen etwas sonderbare, aber meines Erachtens unübertroffen klare und anschauliche Erklärung davon, wie man sich die Erzeugung von Typisierungen im Bewusstsein näherhin vorzustellen hat. Demnach ruft die Einbildungskraft einzelne Wahrnehmungen, die sich als Erinnerungen abgelagert haben, erneut hervor und vermählt sie durch Überblendungen mit anderen Wahrnehmungen. Was sich durch diesen Vorgang, Wahrnehmung auf Wahrnehmung oder Bild auf Bild fallen zu lassen, als deren gemeinsame, geteilte Konturen stärker abhebt, ist so dasjenige, was überhaupt das eigentlich Typische ausmacht: etwas, das mit keiner einzelnen Instantiierung zusammenfällt und an keiner von ihnen im einzelnen abzugreifen ist, sondern eigentlich ›zwischen‹ sie fällt und in seiner Allgemeinheit als solches nie präsentabel ist. Lesen wir zunächst die kantische Passage12 (KU A57f./B58): Es ist anzumerken: daß, auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von langer Zeit her, zurückzurufen; sondern auch das Bild und die Gestalt eines Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Arten, oder auch einer und derselben Art, zu reproduzieren; ja auch, wenn das Gemüt es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuten nach wirklich, wenngleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen, und, durch die Kongruenz der mehrern von derselben Art, ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Normalgröße urteilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und, wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminiert ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte ebendasselbe
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Derrida beschäftigt sich in Parergon (Derrida 1992a: 137ff.) ausführlich mit diesen kantischen Ausführungen.
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mechanisch herausbekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addierte, und die Summe durch tausend dividierte. Allein die Einbildungskraft tut ebendieses durch einen dynamischen Effekt, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des innern Sinnes entspringt.) Wenn nun auf ähnliche Art für diesen mittlern Mann der mittlere Kopf, für diesen die mittlere Nase usw. gesucht wird, so liegt diese Gestalt der Normalidee des schönen Mannes, in dem Lande, wo diese Vergleichung angestellt wird, zum Grunde; daher ein Neger notwendig unter diesen empirischen Bedingungen eine andere Normalidee der Schönheit der Gestalt haben muß, als ein Weißer, der Chinese eine andere, als der Europäer. Kant sagt also: die Einbildungskraft ist ein Vermögen oder eine Kraft, die als Gedächtnis fungiert; sie ist in dieser Funktion nicht allein für den Übergang von re- und protentional aneinander anschließende Wahrnehmungen verantwortlich, sondern ihre synthetischen Leistungen erstrecken sich mitunter auf ganz entfernt voneinander gelegene Vorkommnisse. Was sie jedoch darüber hinaus tut – ohne dass es dem Gemüt ›hinreichend zum Bewußtsein‹ kommt –, ist, Vergleiche vorzunehmen und eine Kongruenz, einen Mittel- oder Durchschnittswert aus mehreren Wahrnehmungen herauszufiltrieren. Und das tut sie dynamisch, also anders gesagt: prozessual, in einem zeitlich erstreckten Verlauf; und sie tut es empirisch variabel, also je nach kulturellen und historischen Umständen in unterschiedlicher Weise. Für das Bemerkenswerteste daran halte ich, wie Kant auch selber vermerkt, die merkwürdige optische Begrifflichkeit, derer er sich bedient. Er nimmt so ein photographisches Verfahren vorweg, das uns gleich bei Freud wiederbegegnen wird, welches in der Überlagerung oder Mehrfachbelichtung von Bildern besteht. Bild fällt auf Bild fällt auf Bild, und immer so weiter – aber anders als Kant, der sich lediglich für die sich markant heraushebende Typik oder Durchschnittlichkeit interessiert, muss uns auffallen, dass es so dazu kommen kann, dass wir in einem Bild zugleich ein anderes Bild sehen. Bilder zitieren andere Bilder herbei, verweisen aufeinander, und ein Bild mag sich so in ein anderes hineinerstrecken, dass die Wahrnehmung des einen seltsam geladen mit Reminiszenzen an andere Bilder anmutet. Unsere typische Vorstellung eines schönen Mannes variiert daher nicht nur je nach unseren Erfahrungen, sondern die Schönheit, für sich genommen, als Typus, ist im Grunde der nie konkretisierbare Gedächtnisraum aller schönen Männer. Denn wenn die Typizität einer allgemeinen Vorstellung gerade darin liegt, dass sie »nichts Spezifisch-Charakteristisches enthalten« kann, ist die »Normalidee« des schönen Mannes »das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen, Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht zu haben scheint.« (KU A58/B58f.) Sie schwebt deswegen zwischen allen ihren Manifestationen, weil sie nie als solche
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offen gelegt, sondern allenfalls exemplarisch verdeutlicht werden kann.13 Wir können also nicht einfachhin sagen, was die Schönheit oder der schöne Mann ist. Wir können nur auf einzelne schöne Männer oder eine Reihe derselben hinweisen, um einem anderen das Schöne in seiner Typizität deutlich zu machen. Erinnern wir uns an den Abschnitt zu Adornos Diktionärsbeispiel zurück, so war es ja auch von dorther gesehen so, dass wir für den assoziativen, konnotativen Gehalt von Worten nur einzelne Proben oder behelfsmäßige, stützende Erläuterungen geben können, ohne dass wir im Letzten die Wahl eines Worts, die uns von unserem Sprachgefühl eingegeben wird, begründen könnten. So wie Adorno in Wörter aus der Fremde (11/225ff.) alle liebe Mühe und Not hatte, vor Augen zu führen, wieso er exakt dieses und nicht jenes Wort gewählt hatte, wieso präzise diese und nicht jene Wendung einen besonderen semantischen Gehalt in sich trägt – suspendiert, nicht das grobe ›außer Kraft gesetzt‹; Spontaneität, nicht einfach ›Unwillkürlichkeit‹; Authentizität, nicht bloß ›Echtheit‹; designiert, nicht das simplere ›bezeichnet‹ usw. –, so fällt es uns womöglich manchmal schwer zu sagen, weshalb wir einen Mann unter dem Typus des schönen Mannes rubrizieren. Wir können ja nicht sagen: es gibt hier ein als Kodex verstehbares Urbild, dessen Kriterien unzweideutig zu verstehen geben, wer nun ein schöner Mann ist und wer nicht. Sondern mit Kant können wir nur sagen: dieses ›Urbild‹ ist etwas, das sich nur in einer Reihe von Wahrnehmungen erlernen lässt und dennoch impräsentabel bleibt – es ›schwebt‹ zwischen allen einzelnen von ihnen. Analog dem diffusen, nicht gänzlich regelbaren Sprachgefühl, das den sprachlichen Ausdrucksbewegungen dennoch eine gewisse Kohärenz verleiht, müsste es ein Gefühl zur Beurteilung der Schönheit geben, das lediglich in den subkutanen Verweisungen, Assoziationen und Verdichtungen besteht, die die Einbildungskraft zwischen allen einzelnen Wahrnehmungen spinnt.
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Um dafür ein akademisches Beispiel zu bemühen: Agamben hat in seinen Aby Warburgs Begriff der Pathosformel gewidmeten Überlegungen bemerkt, dass beispielsweise die Pathosformel Nympha bzw. Nymphe in Warburgs Mnemosyne-Atlas zwar durch unterschiedliche Photographien dargestellt ist, aber in ihrer Stereotypizität oder Formelhaftigkeit nicht als solche zu exponieren ist. »Betrachten wir die Pathosformel Nympha, der die Tafel 46 des Mnemosyne-Atlas gewidmet ist«, schreibt Agamben. »Wo ist die Nymphe? Welche dieser sechsundzwanzig Erscheinungen ist ihre Verkörperung? Eine Lektüre, die unter ihnen so etwas wie einen Archetyp oder ein Original ausmachen wollte, von dem sich die anderen ableiten ließen, hätte den Atlas gänzlich missverstanden. Keines der Bilder ist das Original, keines ist einfach eine Kopie.« (Agamben 2005: 14f.) Da Agambens kleiner Text um Begriffe wie Phantasma, Gespenst, das Nachleben von Bildern und um gedächtnistheoretische Gedanken kreist, führt er weiter aus, die Pathosformeln, in ihrer Stereotypik genommen, bestünden selber »aus Zeit, sind Kristalle des historischen Gedächtnisses, ›Phantasmatas« (ebd.: 15), denn, angelehnt an Aristoteles, sei eine »Erinnerung ohne ein Bild (phantasma) nicht möglich« (ebd.: 11).
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4.2 Freud: Überdeterminierung und Kryptomnesie Da ist zunächst Irma: die Art, wie sie sich auf das Fenster gestützt hält, erinnert ihn an eine ihrer Freundinnen, die wie sie hysterisch ist; in Wirklichkeit hat er im Traum Irma durch ihre Freundin ersetzt. Sie erscheint ihm bleich wie seine Frau: hat er da nicht Irma seiner Frau untergeschoben? Irma jedoch verschmilzt auch mit seiner ältesten Tochter, da letztere die Symptome zeigt, die man im Traum bei Irma feststellt. […] So muß man hinter einem einzigen Namen mehrere Personen suchen, die sich übrigens alle wieder ineinander verwandeln können. Ebenso verhält es sich jedoch mit den meisten unserer Traumereignisse und gegenstände. – Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Halbwachs 1985: 76) In diesem Abschnitt müssen wir uns nun noch Freuds Werk zuwenden, aus mehrerlei Gründen. Es gibt zuvörderst den allgemeineren Grund, dass Adorno und Derrida sich vielfach auf ihn bezogen haben. Bei Adorno sind eher die impliziten Verweise auf Freud für uns interessant, bei Derrida – der sich extensiver Weise und in mehreren Texten der Psychoanalyse gewidmet hat – haben wir ja bereits gesehen, dass Freud auf eine tiefliegende Weise gewisse dekonstruktive Motive inspiriert hat, etwa durch Begriffe wie ›Nachträglichkeit‹ oder ›Latenzzeit‹ oder durch sein gedächtnistheoretisches Modell des ›Wunderblocks‹. Der zweite allgemeinere Grund ist, dass die komplexeste, umsichtigste und gründlichste Ausarbeitung der Vorstellung eines Unbewussten durch Freud erfolgt ist. Wenn man also erweisen möchte, dass es zur Aufhellung von Denk- und Erfahrungprozessen zweckmäßig ist, unbewusste Vorgänge in der Psyche anzunehmen, dann ist man gut beraten, zunächst Freud zu konsultieren – als Theoretiker oder ›Metapsychologe‹. Die zwei spezifischeren Gründe für diesen Rekurs führen zu den zwei für den Abschnitt titelgebenden Begriffe, nämlich Überdeterminierung und Kryptomnesie. Der erste Begriff ist ein tragender, systematisch entfalteter Begriff vor allem in der Traumdeutung, aber auch andernorts immer dann, wenn Freud auf die für die Traumarbeit charakteristischen Vorgänge zu sprechen kommt, zumal Verdichtung und Verschiebung. Der zweite ist ein Begriff, dem in Freuds Œuvre kein solcher systematischer Sinn zukommt und der in der Freud-Rezeption kaum Beachtung gefunden hat, aber verschiedentlich dann auftaucht, wenn er der möglichen Abkunft seiner eigenen theoretischen Einfälle nachspürt. Von (i) ›Überdeterminierung‹ möchte ich sprechen, weil wir entlang von Freuds Überlegungen nochmals und noch etwas genauer oder plastischer nachzuvollziehen vermögen, was es genauer bedeutet, dass eine Wahrnehmung durch ein Netzwerk von anderen Wahrnehmungen getragen ist, auf das sie verweist oder das sich in sie einschreibt. Wenn Adorno im Essay als Form sagt – wir hatten die Stelle ein-
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mal schon herangezogen –, »im Prozess geistiger Erfahrung« schreite »der Gedanke […] nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln.« (11/21) Dann scheint es mir geboten, dies ernst und genau zu nehmen, also die Frage zu klären, in welchem Sinne das Individuum ein ›Schauplatz‹ geistiger Erfahrung ist und wie man sich eine solche Verflechtung der Gedanken, eine »Kommunikation aller Gedanke miteinander« (VLEinfDia: 332) und ihre verdichtende Konzentration in einem einzelnen Gedanken nach Adorno vorzustellen hat. Und die Begrifflichkeit Freuds schätze ich als für ein solches Unterfangen unvergleichlich fruchtbar ein. Auf (ii) Freuds eigene ›Kryptomnesien‹ möchte eingehen, weil sie auf einen Vorgang zielen, der auf unterschiedliche in der vorliegenden Studie bereits erläuterte Begriffe zurückstrahlt. Eine Kryptomnesie ist eine verschlüsselte Erinnerung, die sich in ihrem neuerlichem Auftauchen als Einfall verkleidet. Damit erfüllt sie genau diejenige Anforderung, die Adorno an den Begriff der Intuition oder des Einfalls stellt: nicht ein jäh Einfallendes, sondern untergründig entstanden und durch seine unbewusste Genese mit einer besonderen Dichte oder einem vielsagenden Gepräge versehen zu sein. Und als Vergangenes in der Einkleidung eines aus der Zukunft Kommenden, als Altes im Gewande des Neuen gerät sie in die Rolle eines Phantoms, eines Wiederkünftigen, das uns an den generellen Sachverhalt der Spektralität erinnert. Zunächst möchte ich festhalten, dass ich Freuds Terminologie nicht psychoanalytisch verengen, sondern allgemeiner fassen will. Ich meine, dass sich dies von seinen Texten her schon nahelegt. Denn obwohl er sich anfangs von der Therapie von Hysterien und Neurosen her genötigt sah, ein Unbewusstes in Rechung zu stellen, erstreckte sich das Korpus theoretischer Annahmen und Begriffe auf immer weitere und allgemeinere Sachverhalte. Es waren nicht nur die psychischen Erkrankungen, sondern auch die Träume, der Witz und die Fehlleistungen – in den aufeinanderfolgenden größeren Texten Die Traumdeutung (1900), Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1904) und Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1905) –, die ihn glauben ließen, zu deren wissenschaftlicher Erhellung die Annahme eines Unbewussten machen zu müssen. In dem zentralen metapsychologischen Text Das Unbewusste von 1913 verwendet Freud einige Seiten auf »[d]ie Rechtfertigung des Unbewussten« (Freud 1946: 264-270) und meint, dass »die Annahme des Unbewußten notwendig und legitim ist« und wir für »die Existenz des Unbewußten mehrfache Beweise besitzen«. Denn das Bewusstsein selber sei lückenhaft, seine einzelnen Akte nicht vollauf durch andere bewusste Akte erklärlich. »Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Symptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken«, also die bis dahin von Freud ausführlich in den genannten Büchern analysierten Phäno-
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mene, sondern »unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns verborgen geblieben ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhangslos und unverständlich, wenn wir den Anspruch festhalten wollen, daß wir auch alles durchs Bewußtsein erfahren müssen, was an seelischen Akten in uns vorgeht, und ordnen sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein, wenn wir die erschlossenen unbewußten Akte interpolieren.« (Ebd.: 264f.) Das Unbewusste ist mithin nicht allein etwas, das sich uns – wie das kantische Ding an sich in seinen Erscheinungen14 – nie anders als nur in Symptomen, Fehlleistungen oder Träumen zur Darstellung bringt, sondern auch in Einfällen und ganz gewöhnlich anmutenden intellektuellen Vorgängen und Resultaten können wir das Werk unbewusster kognitiver Prozesse erkennen.15 (i) Überdetermination. Der Begriff der Überdeterminierung hat aber bei Freud zunächst einen engen traumtheoretischen Sinn. Grundlegend für ihn ist die Unterscheidung zwischen latenten, unbewussten Traumgedanken und dem manifesten Trauminhalt, in dem diese sich entstellt zu erkennen geben. Weil wir von Träumen nur deren offen zutageliegenden Inhalt behalten, sind wir für die Erschließung der Traumgedanken auf die Assoziationen des Träumenden angewiesen, auf dessen sich unmittelbar anheftende Einfälle und Erinnerungen. Was vom nächtlichen Träumen erinnert wird, ist mithin bloß ein »entstellter Ersatz« (Freud 1944a: 112), der uns dadurch auf die nicht unmittelbar zugänglichen, latenten Traumgedanken führt, dass wir den »Assoziationsketten« (ebd.: 115) folgen, die sich aus den 14
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In dem erwähnten Text Das Unbewusste setzt Freud die Unterscheidungen von Ding an sich/Erscheinung und Unbewusstes/Bewusstes in Analogie. Was ihm dabei wichtig ist, ist die in diese Unterscheidungen eingefaltete Anerkenntnis der Grenzen unseres Vermögens zur intellektuellen Durchdringung der Welt. Er schreibt: »Wie Kant uns gewarnt hat, die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung nicht zu übersehen und unsere Wahrnehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren Wahrgenommenen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseinswahrnehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vorganges zu setzen, welcher ihr Objekt ist. Wie das Physische, so braucht auch das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es uns erscheint.« (Freud 1946: 270) Auf die, soweit ich sehe, erst später erfolgende Differenzierung in UnbewusstesVorbewusstes-Bewusstes gehe ich hier nicht weiter ein, denn ich vermag selber nicht zu entscheiden, wie sich diese Differenzierung zu den Begriffen Überdetermination und Kryptomnesie genauer verhalten würde. Ich glaube nicht, dass wir es in diesem Zusammenhang bei der Binarität Unbewusstes-Bewusstes belassen können. Überhaupt sollte man den dynamischen Charakter dieser drei psychischen Regionen im Auge behalten, also den Transfer und den Austausch von Elementen zwischen diesen Provinzen oder Systemen der Psyche. Denn die »Scheidung zwischen den drei Klassen von Inhalten, welche diese Qualitäten tragen, ist weder eine absolute noch eine permanente. Das was vorbewusst ist, wird, wie wir sehen, ohne unser Zutun bewusst, das Unbewusste kann durch unsere Bemühung bewusst gemacht werden, wobei wir die Empfindung haben dürfen, dass wir oft sehr starke Widerstände überwinden.« (Freud 1941b: 82)
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Äußerungen des Träumenden ergeben. Dieses assoziative Material kann aus »Erinnerungen an den gestrigen Tag, den Traumtag, und an längst vergangene Zeiten, Überlegungen, Diskussionen mit einem Für und Wider, Bekenntnisse und Anfragen« (Freud 1944b: 11) bestehen. Entscheidend ist lediglich, dieses Material in seiner Gesamtheit, wie unwichtig, nebensächlich oder unsinnig es prima facie anmuten mag, ernstzunehmen und nicht als etwas abzutun, von dem man glaubt, es stehe mit dem Geträumten nicht in einer determinierten Beziehung. Denn die Freud leitende Annahme – bei der Deutung der Träume, aber auch der Fehlleistungen und Symptome – ist, dass Assoziationen und Einfälle sich nicht einfach völlig ungerichtet und willkürlich einstellen, sondern durch untergründige Bahnen determiniert sind und uns nur deshalb so chaotisch vorkommen, weil wir die Determinierungen noch nicht durchschaut haben. Freud war sich dessen bewusst, dass es eine »Ungewohntheit« ist, »mit der strengen und ausnahmslos geltenden Determinierung des seelischen Lebens zu rechnen« (Freud 1945: 56). Für den typischen Psychoanalytiker jedoch »gibt es in den psychischen Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches und Zufälliges; er erwartet überall dort eine ausreichende Motivierung, wo man gewöhnlich eine solche Forderung nicht erhebt« (ebd.: 38). Diese Präsupposition einer strikten Determinierung von intellektuellen Regungen war es schließlich allererst, die ihn zu der Auffassung gelangen ließ, die mitunter bedeutungslos anmutenden Fehlleistungen nicht auf Zerstreutheit, die verworrenen Träume nicht auf völlig sinnlose geistige Erscheinungen und die psychopathologischen Symptome nicht auf physiologische Vorgänge zu reduzieren, sondern all diese psychischen Phänomene zunächst in ihrem Eigenrecht zu nehmen und rein psychologisch zu erklären und zu deuten. Nur darum bildeten den psychoanalytischen »Beobachtungsstoff« jene »unscheinbaren Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt« (Freud 1944a: 19f.; Hervorhebung DJ), wie es in der berühmten, bei Adorno häufiger zitierten Wendung Freuds heißt. In dem obsessiven Bemühen zu deuten, die Träume nicht für chaotisch und die Fehlleistungen nicht für zufällig zu halten, ist die Psychoanalyse denn auch dem Aberglauben und der Paranoia wesensverwandt, die noch in geringsten und nebensächlichsten Details Anzeichen für Verborgenes zu sehen meinen. So ist für den Paranoiker »[a]lles, was er an den anderen bemerkt, […] bedeutungsvoll, alles ist deutbar« (Freud 1941: 284), jede Fehlhandlung, jedes Vergessen, Vergreifen oder Versprechen, möchte man sagen. Und im Falle des Abergläubischen entspricht »das Verborgene bei ihm […] dem Unbewußten bei mir«, es besteht also bloß der Unterschied zwischen äußeren und inneren verborgenen Zusammenhängen, aber »der
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Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam.« (Ebd.: 287)16 Wenn Freud also davon überzeugt war, dass sich die Erzählungen des Träumenden, seine Assoziationen und Erinnerungen in gewissen vorgezeichneten Richtungen bewegen, Tendenzen und Determinierungen erkennen und uns so zu den latenten, unbewussten Traumgedanken geraten lassen, was heisst es dann aber, der manifeste, erinnerte Inhalt eines Traums sei ›überdeterminiert‹? Was besagt das über-? Für Freud war es zunächst, etwa in seinen kulturtheoretischen Schriften, so, dass geschichtliche, kulturelle Sachverhalte der Möglichkeit nach von verschiedenen Ursachen oder Faktoren verursacht sind. Das über- hat hier einen (i) kausaltheoretischen, gegen die Annahme einer einzigen isolierbaren Ursache gerichteten Sinn; es macht einerseits auf die zunächst nicht absehbare Vielzahl von Ursachen, die in Reihen miteinander verkettet sein mögen, und andererseits auf das Sichverschlingen und Sichkreuzen von Faktoren in der Entstehung von Phänomenen aufmerksam.17 Der (ii) traumtheoretische Sinn von Überdeterminierung liegt darin, dass ein Element des manifesten Trauminhalts mehrere Elemente der latenten Traumgedanken vertreten kann und vice versa. Ist das erstere der Fall, spricht Freud von Verdichtung: ein Element beherbergt in sich eine Pluralität latenter Elemente. Er erläutert diesen verdichtenden Charakter der Traumarbeit in seinem Buch über den Witz (Freud 1940: 186) so: Das Material der Traumgedanken erfährt während der Traumarbeit eine ganz außerordentliche Zusammendrängung oder Verdichtung. Ausgangspunkte der16
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Derrida kommt in Meine Chancen auf genau diese Nähe von Psychoanalyse, als Wissenschaft, einerseits und Paranoia und Aberglauben andererseits zu sprechen. Sie verbinden sich, so Derrida, durch einen von Freud selber bemerkten »hermeneutische[n] Zwang« (Derrida 1994c: 34), und er fragt: »Welchen Unterschied gibt es beispielsweise zwischen Aberglaube und Paranoia einerseits und Wissenschaft andererseits, wenn sie alle eine zwanghafte Neigung markieren, die aleatorischen Zeichen zu deuten, um ihnen einen Sinn, eine Notwendigkeit, eine Bestimmung wiederzugeben?« (Ebd.: 31) In Der Mann Moses und die monotheistische Tradition schreibt Freud, unserem »gebieterischen Kausalbedürfnis genügt es, wenn jeder Vorgang eine nachweisbare Ursache hat. In der Wirklichkeit außerhalb uns ist das aber kaum so der Fall; vielmehr scheint jedes Ereignis überdeterminiert zu sein, stellt sich als die Wirkung mehrerer konvergierender Ursachen heraus.« (Freud 1950a: 214) Und in Totem und Tabu betont er, man brauche sich nicht zu sorgen, dass die »Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, […] versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten.« (Freud 1944: 122) So allgemein gehalten und auf generelle kausaltheoretische Überlegungen bezogen, scheint mir der Begriff allerdings, zumindest heutzutage, keine besonders neuartige Einsicht mehr zu sein. Denn dass sich ein geschichtliches Phänomen wie etwa die nationalsozialistische Ideologie oder ähnliches auf nur einen Ursprung zurückführen lasse, würde doch wohl keiner mehr ernstlich behaupten wollen.
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selben sind die Gemeinsamkeiten, die sich zufällig oder dem Inhalt gemäß innerhalb der Traumgedanken vorfinden; da dieselben für eine ausgiebige Verdichtung in der Regel nicht hinreichen, werden in der Traumarbeit neue, künstliche und flüchtige, Gemeinsamkeiten geschaffen […]. Die neugeschaffenen Verdichtungsgemeinsamen gehen wie Repräsentanten der Traumgedanken in den manifesten Trauminhalt ein, so daß ein Element des Traumes einem Knoten- oder Kreuzungspunkt für die Traumgedanken entspricht und mit Rücksicht auf die letzteren ganz allgemein ›überdeterminiert‹ genannt werden muß. Die Traumarbeit drängt mithin verschiedene Elemente der Traumgedanken so zusammen, dass es keine eins-zu-eins-Korrelation zwischen den Elementen des manifesten und des latenten Traums gibt; und diese Elemente müssen »einander in den Traumgedanken keineswegs nahe stehen«, sondern können »den verschiedensten Bezirken des Gedankengewebes angehören« (Freud 1942a: 666), weshalb die Traumarbeit auch in einem kreativen, schöpferischen Sinn vorgehen kann, indem sie vormals nicht bestehende Affinitäten und Gemeinsamkeiten durch ihre synthetischen Leistungen allererst stiftet. Dieser kreative Effekt wird plastisch vor allem daran, dass die Verdichtung auch in etwas resultiert, das Freud verschiedentlich als Mischgebilde oder Sammelpersonen bezeichnet. Er erläutert diesen Aspekt in Über den Traum (ebd.: 664) auf eine Weise, welche dessen Nähe zu einer Leistung der Phantasie, die in der Zusammenfügung heterogener Materialien besteht18 , besonders deutlich macht: Durch die Verdichtungsarbeit des Traumes erklären sich auch gewisse Bestandteile seines Inhaltes, die nur ihm eigentümlich sind und im wachen Vorstellen nicht gefunden werden. Es sind dies die Sammel- und Mischpersonen und die sonderbaren Mischgebilde, Schöpfungen, den Tierkompositionen orientalischer Völkerphantasien vergleichbar, die aber in unserem Denken bereits zu Einheiten erstarrt sind, während die Traumkompositionen in unerschöpflichem Reichtum immer neu gebildet werden. Jeder kennt solche Gebilde aus seinen eigenen Träumen; die Weisen ihrer Herstellung sind sehr mannigfaltig. Ich kann eine Person zusammensetzen, indem ich ihr Züge von der einen und von der anderen verleihe, oder indem ich ihr die Gestalt der einen gebe und dabei im Traum den Namen der anderen denke, oder ich kann die eine Person visuell vorstellen, sie 18
Das führt Freud in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Freud 1944a: 175) weiter aus; von der dortigen Formulierung nimmt sich die Verdichtung geradezu als das wesentliche Moment phantasierender Vorgänge aus: »Die Bildung der Mischpersonen des Traumes findet Gegenstücke in manchen Schöpfungen unserer Phantasie, die leicht Bestandteile, welche in der Erfahrung nicht zusammengehören, zu einer Einheit zusammensetzt, also z.B. in den Centauren und Fabeltieren der alten Mythologie oder der Böcklinschen Bilder. Die ›schöpferische‹ Phantasie kann ja überhaupts nicht erfinden, sondern nur einander fremde Bestandteile zusammensetzen.«
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aber in eine Situation versetzen, die sich mit der anderen ereignet hat. In all diesen Fällen ist die Zusammenziehung verschiedener Personen zu einem einzigen Vertreter im Trauminhalt sinnvoll, sie soll ein ›und‹, ›gleichwie‹, eine Gleichstellung der originalen Personen in einer gewissen Hinsicht bedeuten, die auch im Traum selbst erwähnt sein kann. Diese Art von Kompression hat Freud – und das ist das eigentliche Verbindungsglied zu Kants Ausführungen über die Einbildungskraft – durch ein photographisches Verfahren illustriert, das auf Francis Galton zurückgeht und im Übereinanderlegen mehrerer Photographien besteht. Für Galton ging es dabei um ein typologisches Verfahren, das durch das Hervortreten der gemeinsamen Gesichtszüge verschiedener auf den Photos abgebildeter Personen einen Typus herauszufiltern erlaubt. Das kann das typische Gesicht eines Verbrechers, eines Tuberkulosekranken oder einer Familie sein, deren Mitglieder zwar jeweils singuläre, unterschiedliche Gesichter haben, aber dennoch verwandte Züge aufweisen. Wittgenstein, von dem selbst eine solche Mischphotographie mit seinen drei Schwestern existiert, wird darin zumindest eine Inspiration zu seinem Begriff der ›Familienähnlichkeit‹, der auch bei Freud unter Rekurs auf Galton auftaucht, gefunden haben.19 Diese Weise der Ermittlung eines Durchschnitts ist für uns hier weniger interessant; das eigentlich Bedeutsame liegt vielmehr darin, dass in der Überlagerung von photographischen Bildern auch die jeweils individuellen, nicht geteilten Züge noch erhalten bleiben. Diese Überlagerung verdichtet also mehrere Bilder in einem, sie lädt ein Bild mit mehreren anderen Bildern auf und trägt ihm so einen besonderen Reichtum an Verweisungen ein. Solche Komplexgestaltungen – das Überlagern, Kontaminieren und Hybridisieren von mindestens zwei, bei Freud aber oft mehreren unterschiedlichen Elementen – finden sich aber nicht nur im Traum, sondern in der Entstehung von
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Galton kommt vor allem in der Traumdeutung öfters, auch mit dem Begriff der »Familienähnlichkeit«, zur Sprache (vgl. Freud 1942: 144, 299, 498f.). In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse definiert Freud den Vorgang der Verdichtung in Weise, die besonders stark an Kants Rede vom Überblenden von Bildern durch die Einbildungskraft erinnert: »Aus Ihren eigenen Träumen werden Sie sich mühelos an die Verdichtung verschiedener Personen zu eine einzigen erinnern. Eine solche Mischperson sieht etwa aus wie A, ist aber gekleidet wie B, tut eine Verrichtung, wie man sie von C erinnert, und dabei ist noch ein Wissen, daß es die Person D ist. Durch diese Mischbildung wird natürlich etwas den vier Personen Gemeinsames besonders hervorgehoben. Ebenso wie aus Personen kann man aus Gegenständen oder aus Örtlichkeiten eine Mischbildung herstellen, wenn die Bedingung erfüllt ist, daß die einzelnen Gegenstände und Örtlichkeiten etwas, was der latente Traum betont, miteinander gemein haben. Es ist das wie eine neue und flüchtige Begriffsbildung mit diesem Gemeinsamen als Kern. Durch das Übereinanderfallen der miteinander verdichteten Einzelnen entsteht in der Regel ein unscharfes, verschwommenes Bild, so ähnlich, wie wenn Sie mehrere Aufnahmen auf die nämliche Platte bringen.« (Freud 1944a: 175)
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Witzen20 und in der Bildung von Fehlhandlungen weist er ebenfalls solche Vorgänge nach. Wir brauchen uns darauf nicht im einzelnen einzulassen; ich weise darauf allein deswegen hin, weil sich von Freuds Schriften her schon die Möglichkeit, diese Terminologie zu generalisieren, andeutet. Wie ich bereits habe durchklingen lassen, könnte man sich mit Freud auch fragen, ob nicht viele bedeutsame Resultate der Phantasie als eine solche Synthesis oder verdichtende Zusammendrängung beschrieben werden könnten. Ich will abschließend ein Beispiel für eine solche Verdichtungsleistung der Phantasie geben, die sich, so wie sie von Freud beschrieben wird, schillernd zwischen ihrem Abdruck in einem Kunstwerk und der Wahrnehmung, in der sie gründet, verhält. Es geht mir hier um Leonardo da Vincis Gemälde Anna selbdritt, dem das ganze vierte Kapitel aus Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci gewidmet ist. Freud bemerkt dort, dass, anders als es die Generationenfolge der heiligen Anna und Maria erwarten lassen würde, die abgebildeten Frauen neben dem Jesuskind fast gleichen Alters sind. Er macht deshalb und wegen ihrer sonderbaren räumlichen Nähe auf dem Gemälde darauf aufmerksam, dass es sich wohl um die stellvertretende, verschobene Darstellung der beiden Mütter bzw. der drei weiblichen Bezugspersonen aus da Vincis Kindheit handeln könnte. »Leonardos Kindheit war geradeso merkwürdig gewesen wie dieses Bild«, schreibt er (Freud 1945a: 185). »Im Hause seines Vaters fand er nicht nur die gute Stiefmutter Donna Albiera, sondern auch die Großmutter, Mutter seines Vaters […]. Dieser Umstand mochte ihm die Darstellung der von Mutter und Großmutter behüteten Kindheit nahebringen. […] Er hatte zwei Mütter gehabt, die erste seine wahre Mutter, die Catarina, der er im Alter zwischen drei und fünf Jahren entrissen wurde, und eine junge und zärtliche Stiefmutter, die Frau seines Vaters, Donna Albiera. Indem er diese Tatsache seiner Kindheit mit der ersterwähnten, der Anwesenheit von Mutter und Großmutter, zusammenzog, sie zu einer Mischheinheit verdichtete, gestaltete sich ihm die Komposition der heiligen Anna selbdritt.« (Ebd.: 184f.) Weil so für da Vinci in der Erschaffung des Gemäldes unbewusst die »beiden Mütter seiner Kindheit […] zu einer Gestalt zusammenfließen«, fällt es dem Betrachter schwer, die dargestellten Frauen räumlich voneinander abzugrenzen. »Man möchte sagen, beide sind so ineinander verschmolzen wie schlecht verdichtete 20
Die Beschreibung der »Technik des Witzes« leitet Freud in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten daher auch mit dem Beispiel der von ihm als witzig empfundenen Wortbildung »famillionär« von Heinrich Heine ein. Die Technik, der sich der Witz dabei bedient, gilt ihm »als eine Verdichtung mit Ersatzbildung, und zwar besteht in unserem Beispiel die Ersatzbildung in der Herstellung eines Mischwortes.« (Freud 1940: 18) Kurz darauf verweist er die Leserin auch auf den internen Zusammenhang dieses Buchs mit der Traumdeutung, indem er bemerkt, »als ein Stück dieser Traumarbeit einen Verdichtungsvorgang« beschrieben zu haben, »der mit dem der Witztechnik die größte Ähnlichkeit zeigt, wie dieser zur Verkürzung führt und Ersatzbildungen von gleichem Charakter schafft.« (Ebd.: 28)
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Traumgestalten, so daß es an manchen Stellen schwer wird zu sagen, wo Anna aufhört und wo Maria anfängt.« (Ebd.: 186 Fn. 1; vgl. vor allem den sogenannten ›Londoner Karton‹) Wenn nun also auf dem Gemälde eine solche Mischbildung oder Verdichtung aufzuweisen ist und wenn das »seltsam-selige Lächeln des armen Bauernmädchens Catarina« (ebd.: 186), also der leiblichen Mutter da Vincis, als das bei da Vinci typisch gewordene Lächeln auf verschiedenen Gemälden und hineingefügt in verschiedene Gesichter wiederkehrt, dann glaube ich das als einen Hinweis Freuds nehmen zu können, dass sich phantasierend hergestellte, imaginative Überblendungen auch in der Wahrnehmung auffinden lassen. Da Vinci hätte also nicht nur in seinen Bildern Figuren einander überlagern lassen, sondern schon in der Wahrnehmung derjenigen Personen, die ihm Modell standen, waren latent solche die Überlagerung tragenden Reminiszenzen an seine Kindheit am Werk. (ii) Kryptomnesie. Ich hatte bereits, vor dem Abschnitt zur Überdetermination, vermerkt, dass auch subkutan erzeugte gedankliche Resultate und Einfälle, die einem wie Eingebungen aus fremder Hand erscheinen, für Freud die Annahme einer unbewussten seelischen Tätigkeit rechtfertigten. Es ist ja auch gewöhnlich so, wie der Volksmund sagt, dass man über manches erst noch eine Nacht schlafen müsse, bis eine Entscheidung gereift ist. Oder in Gesprächsrunden, im ›Zwischenreich des Dialogs‹ (Waldenfels 1971), wo ein Wort das andere ergibt, trägt es sich manchmal zu, dass man auf Ideen kommt, die etwas Unvertrautes an sich haben, aber sich wohl im eigenen Gedankenzug schon untergründig gebildet haben mögen und jetzt, geweckt vielleicht durch die Äußerung einer anderen Person, erst manifest werden. Auch Witze hatten für Freud »in ganz hervorragender Weise den Charakter eines ungewollten ›Einfalls‹. Man weiß nicht etwa einen Moment vorher, welchen Witz man machen wird, den man dann nur in Worte zu kleiden braucht. Man verspürt vielmehr etwas Undefinierbares, das ich am ehesten einer Absenz, einem plötzlichen Auslassen der intellektuellen Spannung vergleichen möchte, und dann ist der Witz mit einem Schlage da, meist gleichzeitig mit seiner Einkleidung.« (Freud 1940: 191) Sie stehen dem eigenen Gedächtnis also nicht einfach zur Verfügung und sind nicht vollauf gebildet immer schon da, um nur abgerufen zu werden, sondern stellen sich zumeist »ungewollt ein, und zwar an Stellen unseres Gedankenganges, wo wir ihre Einflechtung nicht verstehen.« (Ebd.: 192) So wie ich den Begriff geistiger Erfahrung bisher charakterisiert hatte, schienen manche Erfahrungen durch ein unbewusstes Netz von Assoziationen gekennzeichnet zu sein, das zwar in einer je singulären Gegenwart, in der wir etwas wahrnehmen oder Erfahrungen machen, aktualisiert wird, aber darüber auf eine Reihe vergangener, sedimentierter Wahrnehmungen zurückgreift. Ganz auf dieser Linie liegt es, wenn Adorno in dem bekannten Aphorismus Lücken aus der Minima Moralia vom »Denkprozeß« meint, es sei dieser kein Prozess »des diskursiven Fortschreitens von Stufe zu Stufe, wie umgekehrt dem Erkennenden seine Einsichten
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vom Himmel fallen. Erkannt wird vielmehr in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung.«21 (4/90) Einfälle, so kann man dieser Passage entnehmen, kommen nicht einfach urplötzlich herauf, sondern ruhen auf einem dem Individuum nicht voll transparenten Geflecht von Erfahrungen. Ihr Charakter, etwas Neues, Unvertrautes zu sein, gleichwie der Umstand, dass wir bei manchen Einfällen ihre Konsequenzen nicht sofort abzusehen imstande sind, kann man auf ihre unbewusste Genese zurückführen. Beim Schreiben einer Dissertation kann es vorkommen, dass sich Ideen für Formulierungen, Gliederungen oder die Art, wie Zitate zu konstellieren sind, einstellen – dass man aber nicht im selben Zuge weiss, was dies für das Vorangegangene oder später Folgende bedeuten mag. Im Hinblick auf Bergsons Begriff der ›Intuition‹, den ich jetzt einmal analog zu dem des ›Einfalls‹ verstehen will, schreibt Adorno deswegen in der Metakritik der Erkenntnistheorie an einer Stelle (5/53f.), wo auch Freud kurz auftaucht: Indem sie an der manipulativen Leistung der vom Ich gesteuerten Erkenntnis nicht teilhaben, sondern passiv-spontan dessen an der Sache sich erinnern, was dem Ordnungsdenken bloßes Ärgernis heißt, sind sie in der Tat ›ichfremd‹. Aber was immer in rationaler Erkenntnis am Werk ist, geht auch in sie, sedimentiert und wiedererinnert, ein, um für einen Augenblick gegen die Apparatur sich zu wenden, über deren Schatten Denken allein nicht zu springen vermag. Das Diskontinuierliche der Intuition tut der von der Organisation verfälschten Kontinuität Ehre an: einzig die aufblitzenden Erkenntnisse sind gesättigt mit Erinnerung und Vorblick, während die offiziell ›verbundenen‹, wie Bergson wohl gewahrte, als solche gerade erinnerungslos aus der Zeit herausfallen. Der Erkennende wird im Moment der Intuition überwältigt und aus dem Einerlei des bloßen Subsumierens herausgerissen von der aktuellen Gegenwart vergangener Urteile, Schlüsse, zumal Relationen, deren Vereinigung das am Gegenstand ins Licht rückt, was mehr ist als sein Stellenwert in der Systematik. In den Intuitionen besinnt sich die ratio auf das, was sie vergaß, und in diesem von ihm freilich kaum 21
Eine eigenartig ähnlich klingende Parallelformulierung benutzt Adorno in Wörter aus der Fremde dazu, den Entscheidungsprozess zu erläutern, der zur Wahl von bestimmten Wörtern führt. Ganz am Ende schreibt er als Begründung dafür, dass die Rechtfertigung des Griffs zu Fremdwörtern in diesem Text nur stichprobenartig vorgehen konnte und solche Entscheidungen nie bis ins Letzte zu begründen sind: »Was ich am Modell des Wortes ›Authentizität‹ zeigte, bei dem es mir nicht wohl zumute ist und auf das ich doch nicht verzichten kann, gilt wohl für den Gebrauch der Fremdwörter insgesamt: über ihn entscheidet keine sprachliche Weltanschauung, kein abstraktes Für oder Gegen, sondern ein Prozeß zahlloser ineinander verflochtener Regungen, Innervationen und Erwägungen.« (11/232) Dieser Prozess, so scheint mir, wird von Adorno auch hier so verstanden, dass er nicht völlig transparent und für andere Personen durchsichtig gemacht werden kann. Darum: Sprachgefühl.
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intendierten Sinn hat Freud recht, wenn er dem Unbewußten eine eigene Art von Rationalität zuschreibt. Der gedankliche Prozess hat auch hier nicht den Charakter, in einer aktiven, bewussten Verbindung von Erkenntnissen, Gedanken oder Erinnerungen zu bestehen, sondern er stellt sich vielmehr als ein Geflecht von Gedanken dar, die sich unbewusst miteinander assoziieren und von denen manche daher als mit Assoziationen zu anderen Gedanken geladen, wie Adorno sagt, ›gesättigt mit Erinnerung und Vorblick‹ erscheinen. Es gibt nun, wie angedeutet, einen Begriff in Freuds Werk, der nicht eigentlich in die Riege der termini technici gehört, aber diese Art der unbewussten Genese von Einfällen oder Intuitionen im Gedächtnis sehr plastisch beschreibt. ›Kryptomnesien‹ beschreiben an den wenigen Stellen, an denen sie in seinem Werk auftauchen, theoretische Neuerungen der psychoanalytischen Begrifflichkeit, von denen Freud einige Zeit, nachdem sie gebildet worden sind, bemerkt, dass sie auf frühere Lektüren und anverwandelte Einsichten zurückgehen mögen. Dafür lassen sich mehrere Beispiele geben: In (i) Die endliche und die unendliche Analyse ist es »die dualistische Theorie, die einen Todes-, Destruktions- oder Aggressionstrieb als gleichberechtigten Partner neben den in der Libido sich kundgebenden Eros hinstellen will«, deren Vorläufer Freud bereits bei Empedokles als Dual von Liebe und Streit (Philotes und Neikos), einer synthetisch-einigenden und einer analytischauflösenden Strebung wiedergefunden hat. Er opfert diesem Denker der griechischen Antike, wie er weiter schreibt, gerne »das Prestige der Originalität, zumal da ich bei dem Umfang meiner Lektüre in früheren Jahren doch nie sicher werden kann, ob meine angebliche Neuschöpfung nicht eine Leistung der Kryptomnesie war.« (Freud 1950: 90f.) In (ii) Zur Vorgeschichte der analytischen Technik ist es die psychoanalytische Methode der freien Assoziation, also das Auffordern des Patienten zur Produktion von assoziativen Einfällen und Erinnerungen, von der Freud nachträglich durch einen Hinweis Ferenczis den Eindruck gewann, sie könne zumindest inspiriert sein durch Ludwig Börne, einen Autor, dessen Schriften er als Jugendlicher ausgiebig gelesen hat. Er meint, von sich in der dritten Person sprechend, viele von diesen Texten »seien durch lange Jahre ohne ersichtlichen Grund immer wieder in seiner Erinnerung aufgetaucht«, und schlussfolgert, es sei »nicht ausgeschlossen, daß dieser Hinweis jenes Stück Kryptomnesie aufgedeckt hat, das in so vielen Fällen hinter einer anscheinenden Originalität vermutet werden darf.« (Freud 1947: 315) Die bedeutsamste, auch theoretisch gehaltvollste Stelle zum Begriff der Kryptomnesie nun findet sich (iii) in einem sehr kurzen Text namens Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes. Es geht dort um den Begriff der Traumzensur, dessen Pendant Freud eben bei Josef Popper-Lynkeus entdeckt hat, nachdem er selber diesen spezifischen psychoanalytischen Terminus schon geprägt hatte. Der Text be-
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ginnt aber mit einem genereller gehaltenen Räsonnement Freuds über die Entstehung von wissenschaftlichen Neuerungen, und obwohl der Begriff der Kryptomnesie nicht fällt, zielen diese Beschreibungen auf genau den nämlichen Sachverhalt (darum ist diese Stelle auch im Registereintrag zu ›Kryptomnesie‹ enthalten). Die Passage lautet (Freud 1940a: 357f.): Wenn in der Wissenschaft eine neue Idee auftaucht, die zunächst als Entdeckung gewertet und in der Regel als solche auch bekämpft wird, so weist die objektive Erforschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt gemacht und dann wieder vergessen worden, oft zu sehr weit voneinander entfernten Zeiten. Oder sie hat wenigstens Vorläufer gehabt, wurde undeutlich geahnt oder unvollkommen ausgesprochen. […] Ein wissenschaftlicher Arbeiter mag sich einmal die Frage stellen, woher die ihm eigentümlichen Ideen kommen, die er an sein Material herangebracht hat. Dann findet er von einem Teil derselben ohne viel Besinnen, auf welche Anregungen er zurückgeht, welche Angaben er von anderer Seite dabei aufgegriffen, modifiziert und in ihre Konsequenzen ausgeführt hat. Von einem anderen Teil seiner Ideen kann er nichts Ähnliches bekennen, er muß annehmen, diese Gedanken und Gesichtspunkte seien in seiner eigenen Denktätigkeit – er weiß nicht wie – entstanden, durch sie stützt er seinen Anspruch auf Originalität. […] Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen Anspruch dann noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf, aus denen die Anregung der anscheinend originellen Ideen erflossen ist, und setzt an Stelle der vermeintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff. Daran ist nichts zu bedauern; man hatte ja kein Recht zu erwarten, daß das ›Originelle‹ etwas Unableitbares, Indeterminiertes sein würde. Ich denke, dass man an der hiesigen Explikation des Begriffs recht deutlich seine Verknüpfbarkeit mit etwas erkennt, dem wir schon weiter vorne in dieser Studie – als es um Adornos Begriff der immanenten Tradition und die freudianische Inspiration dafür ging – begegnet sind, nämlich dem latenten Fortwirken von Eindrücken, der Archivierung von vergessenen Erinnerungsspuren im Gedächtnis, die nach einer gewissen Zeitdauer wieder ans Licht treten. Freud macht explizit, dass es nicht einfach um die nachträgliche Sondierung gewisser Vorläuferschaften einer theoretischen Innovation geht. Auch nicht um die bewusste, willentlich vorgenommene Kombination theoretischer Versatzstücke aus verschiedenen Quellen. Sondern in der Tat um eine in der Vergangenheit liegende Kenntnisnahme eines Gedankens, eine damalige Lektüre oder gesprächsweise Anregung, die vergessen worden sind und nun in der Einkleidung in einen Einfall wieder ins Bewusstsein treten – ›eine Wiederbelebung des Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff‹, um die Synthetisierung von Vergangenheit und Zukunft.
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Wie erwähnt, scheint mir das doch sehr nah an Adornos Beschreibung der Genese von Einfällen zu sein. Selbst wenn er Freud dabei nicht immer explizit anführt, so beruft er sich doch auf die Annahme unbewusster psychischer Vorgänge, etwa wenn er schreibt, »daß im allgemeinen, wenn einem, wie man so sagt, etwas einfällt, dabei irgendwelche Denkprozesse oft von sehr langer Hand, die unbewußt stattgefunden haben, plötzlich, wie etwa ein Gewässer gelegentlich das zu tun pflegt, an die Oberfläche treten und sichtbar werden.« (VLPhilElem: 157) Und ähnlich wie für Freud liegt in dem scheinbar Neuen, dem Indeterminierten, dem Diskontinuierlichen doch etwas Altes, Determinierendes, eine, wie Adorno sagt, nicht unmittelbar sichtbare, eine »unbewußte[] Kontinuität«: »Ohne dieses Moment des plötzlich und unbewußt Hervortretenden, das ja im allgemeinen das Neue eines Gedankens zu sein pflegt, gibt es so etwas wie produktives Denken überhaupt nicht, aber andererseits, wenn es nicht in dieser Kontinuität auch drinsteht, dann ist es ganz wertlos; nur will es mir eben scheinen, daß überall dort, wo diese sogenannten plötzlichen Einfälle wirklich von großem Gewicht sind, daß sie dann gewissermaßen die Kraft unbewußt weiterlaufender Denkprozesse in sich aufgespeichert haben.« (Ebd.: 158) Der Begriff der Kryptomnesie ist allerdings nicht nur für die Erhellung von Adornos Überlegungen im Hinblick auf den Intuitionsbegriff fruchtbar. Es wird hinsichtlich der Begriffe des Nichtidentischen und der Deutung gleich noch eine wichtige Frage werden, in welcher Weise die Operation der Deutung dem Charakter eines Objekts, nichtidentisch mit sich selbst zu sein, gerecht werden kann. Wenn diese Nichtidentität zeitlich verstanden wird, als Genese und Wandel des Objekts in einem zeitlichen Verlauf, dann muss die Deutung diesem temporalen Charakter; wenn sie als inhärente Kommunikation mit anderen Objekten, als Verweisung auf anderes zu verstehen ist, dann muss die Deutung dieser Assoziativität oder Konstellativität Rechnung tragen können. Wenn ein Objekt also ›mehr ist, als es ist‹, wenn es in sich über sich hinausweist – sei es zeitlich, sei es assoziativ –, dann muss die Deutung ein Wissen, das über das Objekt hinausweist, an es heranbringen; fast könnte man sagen: sie muss es ›überdeterminieren‹. Wie man sich diesen komplizierten Vorgang vorstellen können soll, klären wir im gleich folgenden Abschnitt.
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5.1 Das Nichtidentische deuten Was ist, ist mehr, als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. […] Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält. […] Solche immanente Allgemeinheit des Einzelnen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte. Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat. […] Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderem gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. – Adorno: Negative Dialektik (6/164f.) In diesem und dem folgenden Abschnitt werde ich versuchen, die vorstehend unternommenen Ausflüge zu Kants Einbildungskraft und zu gewissen Motiven Freuds in die Erschließung der Verästelungen des Begriffs geistiger Erfahrung mit anderen Gebieten im Werk Adornos zurückzubetten. Mit diesen beiden Exkursen – und auch mit dem längeren Abschnitt zum Begriff der Iterabilität – haben wir uns aus Adornos Werk hinausbewegt und sind den Fährten gefolgt, die Adorno etwa durch seine Rede von einer verborgenen Seelentätigkeit, als die sich uns die Einbildungskraft dargestellt hat, bereits gelegt hatte. Nun steht man aber vor der Frage, wie man diese begrifflichen Untersuchungen wieder in das Gewebe von Adornos Werk zurücktransplantieren kann. Eine für sich stehende Definition des Begriffs geistiger Erfahrung, so weitausgreifend sie sein mag, kann ja recht gut und schön sein und mag auch systematisch etwas zu Überlegungen zu einem allgemeineren Begriff von Erfahrung beitragen – aber: welche Rolle kommt nun eigentlich diesem Begriff in Adornos Werk zu? Welches sind die wesentlichen Gebiete, in denen eine solcherart verfasste, ›geistige‹ Erfahrung eine tragende Rolle spielen könnte?
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Ich hatte bereits früher innerhalb dieser Arbeit zwei hauptsächliche Desiderata in der Erforschung von Adornos Texten benannt, von denen ich glaube, dass sie sich unter der Perspektive dieses Begriffs in einer neuartigen Weise verstehen lassen. Das ist einmal (i) der Komplex, in dem Adorno alternierend Begriffe wie Nichtidentisches, Kraftfeld und Deutung verwendet; das andere (ii) textuelle Gebiet ist eine Konzeption von Kunstwerken, die besonders auf deren innere Strukturalität oder Konstellativität und deren Zeitlichkeit abhebt. Ich möchte also behaupten, der Begriff geistiger Erfahrung sei nicht allein als exegetisches Isolat interessant, sondern gerade in seinem Charakter, ein hermeneutischer Schlüssel für diese Motivkomplexe zu sein. Nicht vertreten möchte ich gleichwohl den Anspruch, damit eine irgendwie geartete, verstiegene ›Gesamtdeutung‹ von Adornos Werk vornehmen zu können. Denn es gibt selbstredend vielerlei Texte und größere Textzusammenhänge im Gesamtwerk, auf die vom Begriff geistiger Erfahrung kein solches gewandeltes Licht fällt – um nur exemplarisch ein paar klassische Themen zu nennen, würde ich etwa an zivilisations- oder kulturtheoretische Thesen aus der Dialektik der Aufklärung, an den Begriff der ›Kulturindustrie‹, gewisse kleinteiligere Fragestellungen aus den soziologischen Schriften oder an Adornos Position gegenüber Heidegger (Stichwort ›Jargon der Eigentlichkeit‹) denken. All diese Themen spielen im hiesigen Zusammenhang einfach keine Rolle, obwohl sie sonst vielfach und aus unterschiedlichen Gründen irgendjemandes Interesse gefunden haben. Zunächst möchte ich kurz auf drei anderslautende Bestimmungen des Nichtidentischen eingehen, die man bei Adorno auffinden kann: das Nichtidentische als (i) Natur, (ii) als der benjaminschen Aura verwandte Singularität und (iii) als Nachfahre des Dings an sich. Zuvörderst sollte man in der Zuwendung zu diesem Begriff im Blick behalten, dass er im Grunde allein in der Negativen Dialektik und den sie vorbereitenden Vorlesungen profiliert wird und in der Dialektik der Aufklärung, den Minima Moralia und anderen prominenten, als gewichtig geltenden Texten nicht oder nur en passant auftaucht. Dennoch gibt es genug Passagen, von denen ausgehend man diesen Begriff in eine gewisse Nähe zu anderen Motiven und Figuren rücken kann, die in Adornos Œuvre eine ihm wesensverwandte theoriesystematische Stellung innehaben; die Rezeption ist denn auch mitunter in dieser Weise vergröbernd verfahren, dass sie den Anschein erweckt hat, als sei eine derartige Annäherung des Begriffs des Nichtidentischen an diese anderen Begriffe – wie Natur, Materie, Dinge (in ihrer ›Dinglichkeit‹) oder theologische Figuren – auch von Adorno her gedeckt. Er selber nun rückt es tatsächlich in der Ästhetischen Theorie in Entgegensetzung zur Kultur in die Nähe des Naturschönen, und es wird, besonders in der Dialektik der Aufklärung, im Gegensatz zur naturbeherrschenden Tendenz der Aufklärung als Natur verstanden. In seiner Naturwüchsigkeit und seinem Charakter, durch menschliches Können nicht hervorzubringen, zu machen, zu kontrollieren und zu formen zu sein, wohnt ihm eine gewisse Widerständigkeit inne. »Das Naturschö-
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ne« sei daher »die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität.« (7/114) Die Kunst hat demnach den Auftrag, sich diesem Natürlichen in irgendeiner Weise anzumessen. Weil sie selber aber ein durch menschliche Praxis Geformtes und Gemachtes ist und insoweit teilhat an kultureller Naturbeherrschung, wird sie dadurch in diejenigen Aporien getrieben, die wir bereits ausführlich analysiert haben. Die Kunstwerke durchbrechen so nur durch »Vergeistigung allein, nicht durch verstockte Naturwüchsigkeit […] das Netz der Naturbeherrschung und bilden der Natur sich an; nur von innen kommt man heraus.« (Ebd.: 411) Die Kunst laboriert demnach an einer der Philosophie wesensverwandten Unmöglichkeit, durch und mit Naturbeherrschung diese selber zu revozieren. Diese Form der Herrschaft richtet sich nicht nur auf die außermenschliche, sondern auch auf die Natur, die wir selber sind, also den Körper, die kulturell nicht vollauf domestizierbaren Triebe und die animalische Konstitution des Menschen. Weil dem Begriff der Natur bei Adorno diese weite Bedeutung zukommt, erfährt sich das Subjekt, der Geist oder die Kultur in der Reflexion auf dieses Nichtidentische als auf die Kultur irreduzible Natur als »ein Stück Natur« (VLProbMoral: 153), als »mit sich entzweite[] Natur« (3/57). Das, diese Reflexion, ist das bekannte »Eingedenken der Natur im Subjekt« (ebd.: 58). Ebenfalls lässt sich eine gewisse Verwandtschaft zu Benjamins Begriff der Aura diagnostizieren. Diese Intution sieht sich gedeckt einerseits von Adornos verschiedentlichen Äußerungen zu diesem Begriff, andererseits durch ein von Adorno geteiltes Verständnis von Begriffen, das deren wiederholbaren, reproduzierbaren Charakter und ihre Nähe zur Tauschbarkeit des Gelds herausstreicht. Denn insofern das Nichtidentische zunächst den Bereich des Nichtbegrifflichen in seiner Gesamtheit deckt – also ganz unspezifisch als konkretes Objekt, als materieller Gegenstand oder singulärer, vergänglicher Augenblick verstanden wird – und es für Begriffe wesentlich ist, wiederholbar und reproduzierbar zu sein, tritt besonders der Zug des Nichtidentischen, singulär, unwiederholbar und irreproduzibel zu sein, in den Fokus. Damit lässt sich das Nichtidentische in eine Unterscheidung einrücken, die Adorno – und mutmaßlich auch Benjamin – von Alfred Sohn-Rethel her bekannt war. Dieser hatte, im Nachgang zu Marx, auf die Ähnlichkeit zwischen der allgemeinen Tauschbarkeit des Geldes und dem begrifflich, durch allgemeine Strukturen geprägten Denken abgehoben. Von dieser Inspiration ausgehend, lassen sich die beiden Unterscheidungen Nichtidentisches/Begriff und Gebrauchswert/Tauschwert in Analogie setzen. Wenn es nun plausibel ist, diesen Wesenszug des Begriffs – Reproduzierbarkeit – in den Vordergrund zu rücken und das Nichtidentische unspezifisch als Nichtbegriffliches zu verstehen, ergibt sich daraus eine intime Nähe zum Aurabegriff. Dieser ist insofern von schillerndem, von Adorno auch bemerkten Charakter, als er zwar von Benjamin dazu ausersehen ist, den Begriff des Kunstwerks zu erhellen, von ihm selber aber an Naturphänomenen erläutert wird und offenbar mitunter
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auch ein schlichtes generelles Hier-und-Jetzt bezeichnen soll. In einer bekannten Wendung bestimmt Benjamin ihn in einer unverkennbar aporetischen Definition »als die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« (Benjamin 1974: 479) Die Aura zeichnet sich mithin nicht durch Nähe, nicht durch Ferne, sondern durch die paradoxale Spannung einer Ferne, die nah, oder einer Nähe, die fern ist, aus.1 Entgegen der kunsttheoretischen Programmatik meint Benjamin, wie gesagt, jedoch den Begriff der Aura exemplifiziert an Naturphänomenen einführen zu müssen.2 So heiße, schreibt Benjamin, »[a]n einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, […] die Aura dieser Berge, dieser Zweige atmen.« (Ebd.) Bedeutsamer als dieses letztlich romantische Motiv einer auratischen Natur, auch im Hinblick auf die polare Gegenüberstellung von Aura einerseits und Techniken der Aufzeichnung und Reproduktion andererseits, ist jedoch der Aspekt der Aura, der das »das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmalies Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet« (ebd.: 475), priorisiert. Dann geht es nicht vordringlich um den Entzugscharakter der Aura oder ihre Naturgebundenheit, sondern um ihre Singularität, ihre Unablösbarkeit von hier-und-jetzt sich begebenden, singulären Augenblicken. Sie ist unweigerlich an ein »Hier und Jetzt gebunden« – die »Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt.« (Ebd.: 489) Wie erwähnt, scheint mir diese Bestimmung der Aura zu konvergieren mit dem Verständnis des Nichtidentischen als nicht begrifflich reproduzierbarem Singulären.
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Dieser aporetische Charakter wird nochmals daran deutlicher, dass Adorno den Begriff der Aura in der Minima Moralia, im Aphorismus Und höre nur, wie bös er war, sozial- oder intersubjektivitätstheoretisch wendet. Die Aura meint hier die Fremdheit und, aporetisch formuliert, die nur als Entzug gegebene Erscheinung des anderen Menschen. Eine mikrologische Moral unterwerfe, so Adorno (4/207), »das Intime dem kritischen Anspruch, weil Intimitäten entfremden, die unwägbar feine Aura des anderen antasten, die ihn zum Subjekt erst krönt. Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein. Der Anspruch ungeschmälerter, je schon erreichter Nähe jedoch, die Verleugnung der Fremdheit gerade, tut dem anderen das äußerste Unrecht an, negiert ihn virtuell als besonderen Menschen und damit das Menschliche in ihm, ›rechnet ihn dazu‹, verleibt ihn dem Inventar des Besitzes ein.« Diese Insistenz auf der Aporetik der Aura – eine fern bleibende Nähe, eine Nähe der Ferne – ist zusätzlich motivierbar durch Benjamins Präzisierung dieser Ferne als »Unnahbarkeit«: »Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ›Ferne so nah es sein mag‹. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt.« (Benjamin 1974: 480 Fn. 7) Diese Nähe zum Naturschönen der philosophischen Tradition vermerkt Adorno sowohl in der Ästhetikvorlesung von 1958 (VLÄsth58: 44f.) als auch in der Ästhetischen Theorie (7/408f.) in zwei bis in Formulierungen hinein identischen Passagen.
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Benjamins Überlegungen im Kunstwerkaufsatz sind auch deshalb für den Begriff des Nichtidentischen erhellend, weil seine Diagnose einer Veränderung der Erfahrung von auratischen Objekten oder Situationen über den Bereich der Kunst hinausweist und sich daran eine kritische Präzisierung anschließen lässt, zu der Adorno sich in der Folge genötigt gesehen hat. Darauf jetzt noch kurz einzugehen, erscheint mir sehr viel wesentlicher, als den alten, das erwähnte romantische Narrativ bedienenden Singsang eines »Verfalls der Aura« (ebd.) oder einer ›Zerstörung des Nichtidentischen‹ zu wiederholen. Benjamin meint: »Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.« (Ebd.: 477; Kursivierung gelöscht) Die unterschiedlichen Techniken, etwas aufzuzeichnen, zu reproduzieren, zu vervielfältigen und in zeitlich und räumlich voneinander differenzierte Kontexte einzubringen – Benjamin geht auf die Photographie, aber auch auf den Film, den Buchdruck, die Lithographie ein (ebd.: 474f.) –, deuten also die Möglichkeit an, den Begriff der Aura abstrakter zu fassen und als Singularität im generellen Sinn zu verstehen. Damit sind wir zurückverwiesen an die Lektüre der Begriffe der Vermittlung und der Iterabilität, die ich weiter oben vorgestellt habe und die, besonders von Derrida her gesehen, ein allgemeineres kulturtheoretisches Potential enthalten. Gleichzeitig mit dieser theoretischen Weiterung ist jedoch damit auch eine Präzisierungsmöglichkeit gegeben, die eine schärfere, genauere Fassung der Begriffe Aura und Nichtidentisches erlaubt. Denn wenn man auch nicht sagen mag, die Verfalls- oder Verkümmerungsdiagnose Benjamins ruhe darauf auf, so wird sie doch, wie Adorno argwöhnt, genährt von einer »einfache[n] Antithese zwischen dem auratischen und dem massenreproduzierten Werk, die, um ihrer Drastik willen, die Dialektik beider Typen vernachlässigt« (7/89). Diese simple Dichotomie zwischen Aura und Technik – und ebenso: zwischen dem Nichtidentischen und dem Begriff –, die die Pole in ihrer Reinheit voneinander zu sondern und darauf eine kultur- oder technikkritische Perspektive gründen zu können glaubt, hat daher in der Ästhetischen Theorie Adorno zu einer dialektischen Präzisierung geführt.3 Gemäß der grundlegenden dialekti3
In Über die musikalische Verwendung des Radios widmet Adorno zwei Seiten genau diesem Problem von Benjamins Unterscheidung zwischen Aura und Reproduzierbarkeit (15/372f.). »Benjamins groß einfacher und fruchtbarer Einsicht dürfte gerecht werden nur, wer sie weitertreibt«, heißt es wohlwollend. Denn »der Gegensatz als solcher ist nicht undialektisch zu denken. Das mechanisch reproduzierte Kunstwerk ist nicht einfach die Negation des auratischen als eines kultischen. Das Kunstwerk verneint, seit es autonom ward, den Kultwert, von dem es zehrt und den es säkularisiert. Protest des von fortschreitender ratio zugerichteten Naturwesens gegen dessen Unterdrückung, ist es doch nur vermöge seiner Teilhabe am ge-
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schen Einsicht in die Vermittlung der Pole einer solchen Dichotomie lautet Adornos Kritik wie folgt (ebd.: 56): Evident ist der qualitative Sprung zwischen der Hand, die ein Tier auf die Höhlenwand zeichnet, und der Kamera, die Abbilder an unzähligen Orten gleichzeitig erscheinen zu lassen gestattet. Aber die Objektivation der Höhlenzeichnung gegenüber dem unmittelbar Gesehenen enthält schon das Potential des technischen Verfahrens, das die Ablösung des Gesehenen vom subjektiven Akt des Sehens bewirkt. Jedes Werk, als ein vielen zubestimmtes, ist der Idee nach bereits seine Reproduktion. Daß Benjamin in der Dichotomie des auratischen und technologischen Kunstwerks dies Einheitsmoment zugunsten der Differenz unterdrückte, wäre wohl die dialektische Kritik an seiner Theorie. Hält man diese Kritik Adornos für berechtigt, kann man also die Aura eines Kunstwerks nicht seiner Reproduzierbarkeit gegenüberstellen. Denn potentialiter, der Möglichkeit oder ›der Idee nach‹, wie Adorno sagt, ist jedes einmalige Werk reproduzierbar, von seinem singulären Kontext ablösbar. Die nämliche Präzisierungsnotwendigkeit kann man darum, so meine ich, für einen in diesem Sinne – als schiere Singularität – verstandenen Begriff des Nichtidentischen in Anschlag bringen. Dieses kann darum nicht als polar oder dichotom dem Begriff, der wesentlich Reproduzierbarkeit impliziert, gegenüber gestellt werden. Eine dritte Deutungsoption sei hier noch genannt. Ich hatte bereits erwähnt, dass das Nichtidentische auch als theoriesystematisches Analogon zu Kants Ding an sich verstanden werden kann. Diese Lesart – vermutlich die philosophiegeschichtlich fruchtbarste – schließt sich, im Vergleich zu den beiden vorherigen, am engsten an Adornos eigene Ausführungen zu diesem Begriff an. Denn er hat – in seiner Vorlesung über Kants Kritik der reinen Vernunft (VLKant: 34, 117f., 353f.), in der Negativen Dialektik (6/286 Fn.) und in Zu Subjekt und Objekt (10/748f.) – diese Abstammung selber schon ausdrücklich diagnostiziert. Das Ding an sich wie das Nichtidentische deklarieren demzufolge gleichermaßen einen, mit der bekannten Formel gesprochen, »Vorrang des Objekts« (6/185) – seine Irreduzibilität auf den Begriff und die Vermögen des Subjekts, die Wirklichkeit außer ihm intellektuell zu durchdringen und praktisch zu beherrschen. Das Ding an sich figuriert bei Adorno in einer sprechenden Wendung häufig auch als »Block« und als »Grenzbegriff«
schichtlichen Gesamtprozeß der Rationalisierung solchen Protests mächtig.« Die Aura, das magische oder kultische Element steht der Technik, der Ratio oder der Reproduzierbarkeit nicht »abstrakt« gegenüber, sondern beide Pole der Unterscheidung kontaminieren einander wechselseitig – darin liegt die Dialektik. Die Aura ist nur durch die Technik – vermittelt – zugänglich; und die Ratio übersteigt sich selbst durch die immanente Bezogenheit auf die Aura als ihren Gegenpol. »Daher verschwindet das magische Element nicht einfach in der Phase der manifesten ästhetischen Rationalität, sondern wird als negiertes in dieser aufbewahrt.«
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(Adorno 1992: 68), was seine theorieinterne Funktion der Eingrenzung und Selbstbeschränkung der Vernunft und des Subjekts verdeutlicht. In ihm chiffriert sich das »Gefühl der Eingrenzung gegenüber dem Absolutheitsanspruch der Vernunft selber, insofern die Vernunft selber behaupten würde, daß alles was ist und ein jegliches Handeln nichts anderes sei als ihr eigenes Produkt« (VLProbMoral: 143f.). Bereits weiter oben hatte ich auszuführen versucht, dass es Adorno aufgrund ihrer quietistischen Tendenz nicht bei dieser negativen, eingrenzenden Funktion des Ding an sich belassen möchte, sondern es ebenso mit der Funktion betraut wird, das Subjekt aus der beschränkten Sphäre seiner Kenntnisse und Vermögen hinauszuführen. Weil es aber, unbeschadet der Versuche, sich ihm anzunähern oder seiner habhaft zu werden, als Unmögliches insistiert, kann diese Überschreitung der subjektiven Sphäre nie ein definitives Ziel erreichen, das Problem nie gelöst werden. Durch die Gleichzeitigkeit von Erkennen und Verkennen, von Gelingen und Verfehlen prozessualisiert sich die im Begriff des Nichtidentischen oder des Ding an sich formulierte Spannung, da zu sein, ohne da zu sein, weder etwas noch nichts zu sein. Diese drei Möglichkeiten, den Begriff des Nichtidentischen möglichst getreu Adornos Texten gegenüber zu verstehen, sind für sich genommen ohne Zweifel interessant und von unterschiedlicher Reichweite. Ich möchte nun eine andere Lesart dieses Begriffs vorschlagen, die mit dem bisher spezifisch elaborierten Begriff geistiger Erfahrung konkordiert. Die maßgebliche Stelle zur Profilierung dieses andersgearteten Verständnisses des Nichtidentischen sind Formulierungen aus den beiden aufeinander folgenden Abschnitten Auch Einzelnes kein Letztes und Konstellation aus der Negativen Dialektik. Diese Passage (6/163-166), wegen ihres zentralen Charakters hier im Ganzen wiedergegeben, lautet wie folgt: So wenig das einzelne Existierende mit seinem Oberbegiff, dem von Existenz, koinzidiert, so wenig ist es uninterpretierbar, auch seinerseits kein Letztes, woran Erkenntnis sich die Stirn einstieße. Nach dem dauerhaftesten Ergebnis der Hegelschen Logik ist es nicht schlechthin für sich sondern in sich sein Anderes und Anderem verbunden. Was ist, ist mehr, als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen. Das Innerste des Gegenstandes erweist sich als zugleich diesem auswendig, seine Verschlossenheit als Schein, Reflex des identifizierenden, fixierenden Verfahrens. Dahin geleitet denkende Insistenz vorm Einzelnen, als auf dessen Wesen, anstatt auf das Allgemeine, das es vertrete. Kommunikation mit Anderem kristallisiert sich im Einzelnen, das in seinem Dasein durch sie vermittelt ist. Tatsächlich haust das Allgemeine, wie Husserl erkannte, im Zentrum der individuellen Sache, konstituiert sich nicht erst im Vergleich eines Individuellen mit andern. Denn absolute Individualität – und dem zollte Husserl keine Aufmerk-
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samkeit – ist Produkt eben des Abstraktionsprozesses, der um der Allgemeinheit willen ausgelöst wird. Während das Individuelle nicht aus Denken sich deduzieren läßt, wäre der Kern des Individuellen vergleichbar jenen bis zum äußersten individuierten, allen Schemata absagenden Kunstwerken, deren Analyse im Extrem ihrer Individuation Momente von Allgemeinem, ihre sich selbst verborgene Teilhabe an der Typik wiederfindet. […] Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält. […] Das Objekt öffnet sich einer monadologischen Insistenz, die Bewußtsein der Konstellation ist, in der es steht: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren. Solche immanente Allgemeinheit des Einzelnen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte. Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat. Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. Der Chorismos von draußen und drinnen ist seinerseits historisch bedingt. Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderem gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Hier tritt uns das Nichtidentische in einer Gestalt vor Augen, die mit keiner der bisherigen interpretatorischen Optionen zur Deckung zu bringen ist. Es ist hier weniger etwas, das vor dem Begriff in seiner Allgemeinheit irgendwie zu ›behüten‹ wäre, sondern es ist eine dem einzelnen Objekt innewohnende Allgemeinheit, eine kommunikative Verweisung auf anderes. Charakteristisch und sprechend ist hier die Formulierung, das Objekt, als Nichtidentisches, sei ›mehr, als es ist‹. Es ist als Einzelnes nicht verschlossen, sondern in seiner Nichtidentität genommen übersteigt es seine geschlossene Einzelheit und Einheitlichkeit, seine, wenn man so will, ›Unität‹. Dieses Charakteristikum, mehr als bloß es selbst zu sein, ruht in dieser Passage auf einer Dialektik von Innen und Außen, von einzelnem Objekt und dem Zusammenhang, oder der Konstellation, in der es situiert ist. Ganz wie bei der Unterscheidung von Text und Kontext gibt es hier keine polare Entgegensetzung von Objekt und Konstellation, sondern diese reicht in jenes hinein und prägt es innerlich. Nichtidentisch ist ein Objekt darum, weil es in sich assoziativ, durch Verwandtschaft mit ihnen auf andere Objekte verweist. Überdies nimmt Adorno unter der Hand eine Spezifizierung dieses Begriffs der Konstellation und damit auch des Charakters des Mehr-als-seins vor. Denn während es auf den ersten Blick so aussieht, als sei mit derlei Formulierungen eine räumliche Lesart angedeutet, in der das Objekt von gleichzeitig gegebenen anderen Objekten, auf die es verweist, umgeben ist, will Adorno die immanente Allgemeinheit als ›sedimentierte Geschichte‹ und die Konstellation als im Objekt
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aufgespeicherten ›Prozess‹ verstanden wissen. Nichtidentisch – so ein dezidiert zeittheoretisches Verständnis dieser Bestimmungen – ist ein Objekt demgemäß, weil es nicht mit seiner punktuellen Gegenwart zusammenfällt, weil es geworden und auf sein fortlaufendes Werden zumindest geöffnet ist. Eine Erfahrung – oder ein ›Wissen‹ –, die diesem Umstand Rechnung zu tragen aufgerufen ist, muss daher ihrerseits derart prozessual sein; sie muss in sich selbst eine ›sedimentierte Geschichte‹ tragen, die sie, wie Adorno rätselhaft sagt, ›aktualisiert‹ und ›konzentriert‹. Ich denke, dass uns viele dieser Charakteristika des derart anders verstandenen Nichtidentischen aus dem Kapitel, das der Profilierung des Begriffs geistiger Erfahrung gedient hatte, bekannt vorkommen dürften. Denn dass ein Objekt mehr als es selber ist, also über sich hinaus auf anderes weist, stellt nichts anderes dar, als was ich durch Adornos Begriff der Vermittlung zu pointieren versucht hatte. Diesem von Adorno auf einer sehr allgemeinen, abstrakten Ebene in Anschlag gebrachten Begriff folgend, stellten sich ja die Töne in einer Melodie, die einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen und etwa auch die jeweils singulären Okurrenzen des Sprachgebrauchs als durch allgemeine Strukturen und Verweise auf anderes ›vermittelt‹ heraus. Deswegen kehrt diese Formulierung – ›mehr als es selbst‹ zu sein – bei Adorno auch in solcherlei Zusammenhängen wieder und erlangt so eine terminologische Qualität. Weil beispielsweise »kein Erlebnis ›singulär‹ ist, sondern, verflochten mit der Totalität des individuellen Bewußtseins, notwendig über sich hinausweist«, enthält »jeglicher Sinn, dessen Denken überhaupt inne wird, […] kraft des Gedankens ein Element von Allgemeinheit und ist mehr als bloß er selber.« (5/99f.) Ebenfalls ist, so Adorno in Vers une musique informelle, »jeder Ton, der ins musikalische Feld gerät, […] immer bereits mehr als bloß Ton […]. Dies Mehr ist zunächst das, wozu sie [die Töne, DJ] in den Relationen werden; in der Terminologie von Christian von Ehrenfels hieß das zu Beginn der Gestaltpsychologie: Gestaltqualität.« (16/520f.) Und genereller und einmütig mit Heidegger meint Adorno, es sei an der Philosophie, »daß sie sich nicht in der bloßen Faktizität erschöpft; und daß alles Einzelne, alles bloß Faktische dadurch, daß es das Moment eines über es hinausgreifenden Zusammenhanges ist, immer mehr ist als bloß es selber, – und an diesem Moment zu erinnern, ist ganz sicher die Sache der Philosophie, und darin hat Heidegger recht.« (VLOntDia: 150f.) Was Adorno hier also für Erlebnisse oder Wahrnehmungen, für Töne und für Einzelnes im generellen Sinne geltend macht, verdeutlicht noch einmal, worauf diese Wendung, etwas sei mehr als es selbst, hinaus will. Diese, jetzt anders formuliert, immanente Selbsttranszendenz des Einzelnen lässt sich – ich hatte das eben angedeutet – bei Adorno in zweierlei Weise verstehen, ohne dass er selber diese zwei Verständnisweisen unterschieden hätte. Zunächst (i) ist mit dieser Struktur lediglich gemeint, dass das Einzelne in einem hier noch räumlich zu verstehenden Zusammenhang, durch seine Vermittlung durch Allgemeines und den Verweis auf
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andere Objekte einen veränderten Sinn gewinnt, ohne dass hier sonderlich auf zeitliche Bezüge das Augenmerk gelegt wäre. Die bekannte Stelle der Negativen Dialektik spricht etwa lediglich von Deutung und einem ›systemischen‹ Zusammenhang, auf den zu achten geboten ist, wenn sich der Blick auf das einzelne Phänomen richtet: »Was einmal am System legitim das Einzelne überstieg, hat seine Stätte außerhalb des Systems. Der Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist, säkularisiert die Metaphysik.« (6/38f.) Und die Parallelstelle aus den Drei Studien zu Hegel, die die eben zitierte längere Passage aus der Negativen Dialektik in anderer Weise wiedergibt, spricht zwar davon, das Einzelne sei nicht atomisiert oder isoliert von seinen Bezügen auf anderes, das Ganze sei vielmehr im Einzelnen am Werk, und die Erkenntnis hätte ein unbewusstes, potentielles Wissen zu aktualisieren. Aber die zeittheoretische Wendung dieses Gedankens bleibt hier völlig aus. Adorno schreibt (5/319): Aber die Kraft, welche das bestimmte Einzelne der Erkenntnis aufschließt, ist immer die der Insuffizienz seiner bloßen Einzelheit. Was es ist, ist immer mehr als es selber. Insofern das Ganze im Mikrokosmos des Einzelnen am Werk ist, kann man mit Grund von einer Reprise Leibnizens bei Hegel reden, wie dezidiert er im übrigen auch gegen die Abstraktheit der Monade steht. Wer immer eine Sache nicht mit Kategorien überspinnen, sondern sie selber erkennen will, muß zwar ihr sich ohne Vorbehalt, ohne Deckung beim Vorgedachten überlassen; das glückt ihm aber nur dann, wenn in ihm selbst, als Theorie, bereits das Potential jenes Wissens wartet, das erst durch die Versenkung in den Gegenstand sich aktualisiert. Insofern beschreibt die Hegelsche Dialektik mit philosophischem Selbstbewußtsein die Bahn eines jeden produktiven, nicht bloß nachkonstruierenden oder wiederholenden Gedankens. Freilich ist sie jenem Gedanken selber verborgen; fast möchte man mit Hegel glauben, daß sie ihm verborgen sein muß, damit er produktiv sei. Die Deutung, das Aufschließen des Einzelnen geschieht hier durch die Aktualisierung eines bislang verborgenen Wissens. Sie versteht sich darauf, sichtbar zu machen, wie das Ganze, der Zusammenhang oder, um das Zitat davor hinzuzuziehen, das ›System‹ im Einzelnen ›am Werk‹ ist. Und sie tut dies, indem sie – darin ist sie ›produktiv‹ – nicht das Einzelne bloß wiederholt oder abspiegelt4 , sondern es durch seine Assoziationen mit anderem überblendet. Denn das Einzelne ist auch
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Adorno meint in der Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie (VLEinlErk: 190), es gelte »so zu denken, daß wir das begreifen, was ist, ohne daß wir uns erschöpfen in der bloßen Wiederholung des nun einmal Seienden.« Das scheint mir nur dann verständlich zu sein, wenn das, ›was ist‹, gerade nicht mit dem faktisch und gegenwärtig vorfindbaren Seienden zusammenfällt (sondern eben ›mehr als es selbst‹ ist). Das Ideal der Erkenntnis ist also keine schlichte ›adaequatio rei et intellectus‹.
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hier kein ›Letztes‹, es ist nicht unauflöslich oder selbstgenügsam, sondern übersteigt seine Geschlossenheit und Einzelheit durch den Verweis auf anderes – und die Erfahrung muss hier in der nämlichen Weise verfahren: sie muss gleichzeitig im Einzelnen und über es hinaus, ›Mikrologie‹ und ›Makrologie‹ zugleich sein, wie Adorno manchmal sagt.5 Aber (ii) diese Eigenart, mehr als es selbst zu sein, bedeutet auch, nicht so zu sein, wie das Einzelne zu sein scheint, lässt man seine innere Geschichtlichkeit außer acht und reduziert man es auf seine atomistisch verstandene Gegenwart. Die Bezüglichkeiten, in die das Objekt sich so hineingestellt sieht, sind zeitlicher Art; die Verweise können auf frühere Wahrnehmungen desselben, aber auch ihm ähnlicher Objekte gehen. Die von Adorno so genannte Mikrologie erhält hier darum zeitliche Bestimmungen. Es geht dann weniger darum, die makrologischen, übergreifenden Bezüge in der mikrologischen Versenkung zu verdichten. Vielmehr, so Adorno, sei es der »mikrologische Blick, der sich in das Einzelne versenkt, unter dem das Starre und scheinbar Eindeutige und scheinbar Bestimmte sich zu bewegen beginnt« (VLEinfDia: 150). Das der Dialektik wesentliche »Element des mikrologischen, also ein Moment des Sich-ins-Kleinste-Versenkens« bedeute, »daß man, indem man an das einzelne Gegebene sich verliert, indem man vor ihm so lange beharrt, bis es sich selber dem Blick ganz darstellt, daß es dadurch aufhört, eben ein solches Statisches, gegebenes Letztes zu sein, und daß es sich dadurch enthüllt selber als ein Dynamisches, als ein Prozeß, als ein Werden« (ebd.: 191). Und auch in diesem zeitlichen Verständnis mikrologischer Versenkung benötigt diese, will sie das Objekt 5
Die von der Deutung als Säkularisierung der Metaphysik handelnde Passage aus der Einleitung der Negativen Dialektik geht denn auch so weiter: »Versenkung ins Einzelne, die zum Extrem gesteigerte dialektische Immanenz, bedarf als ihres Moments auch der Freiheit, aus dem Gegenstand herauszutreten, die der Identitätsanspruch abschneidet. In der Erkenntnispraxis, der Auflösung des Unauflöslichen, kommt das Moment solcher Transzendenz des Gedankens daran zutage, daß sie als Mikrologie einzig über makrologische Mittel verfügt. Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen. Diese sind nicht bloß monadologischer Art. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ist ein Ensemble von Modellanalysen. Was in ihnen [den Phänomenen, DJ] selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen, mit der Perspektive, daß die von außen mobilisierten Kräfte, am Ende jede an die Phänomene herangebrachte Theorie in jenen zur Ruhe komme.« (6/39) Dass die Mikrologie, die Versenkung ins einzelne Objekt, makrologischer Mittel – also den Modellen als systemischen Zusammenhängen von Begriffen (versteht man ›Modell‹ als Text) oder Wahrnehmungen (versteht man ›Modell‹ als Bewusstseinszusammenhang) – bedarf, wiederholt die dialektische Kritik an der Unterscheidung, am »Chorismos von draußen und drinnen« (ebd.: 165). Der »mikrologische Blick« kehrt dann übrigens, wie ich bereits weiter oben einmal angeschnitten hatte, in den Meditationen zur Metaphysik wieder. An der durch die immer wieder auf sie zurückkommende Rezeption ziemlich abgegriffenen Stelle wird dieser Blick mit der Funktion betraut, die ich im Fließtext zu erläutern versuche: er »zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität« (6/400).
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als – jetzt aber: zeitlich – mit sich nicht identisch aufschließen, ein Wissen, das über dessen aktuelle Gegenwart, die momentane Verfasstheit des Objekts hinausweist. Die ihm immanenten Bezüge und Zusammenhänge zu zeitlich Entferntem verlangen demnach ein Wissen, das über die Gegenwart hinausreicht und solche zeitlichen Verwandtschaften in die jeweilige gegenwärtige ›mikrologische Versenkung‹ einzubringen vermag. Denn, so geht die eben zitierte Stelle weiter, »indem der Gegenstand selber sich unter dem Blick der Erkenntnis als ein bewegter, als ein funktionaler erweist, liegt eben darin, daß er nicht sich selbst gleich ist, sondern daß er immer zugleich noch ein anderer ist, schon bereits die Beziehung auf das andere; und damit ist er zwar von den anderen unterschieden, aber doch nicht absolut unterschieden.« (Ebd.: 192) Das Werk Adornos hält für diese Form einer dynamisierenden, prozessualisierenden Mikrologie, die einem zeittheoretisch verstandenen Nichtidentischen korreliert, einen einschlägigen Begriff bereit, nämlich den der Deutung. Diese hat man gerne im Ausgang von Passagen aus Adornos früher Antrittsvorlesung von 1931 Die Aktualität der Philosophie (1/334ff.) interpretiert; weniger kryptisch, gehaltvoller und aufschlussreicher sind allerdings Passagen aus den Vorlesungen Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (VLGesFrei: 187-194), der Einleitung in den ›Positivismusstreit‹ (8/315-320) und der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie (VLEinlSoz: 244250). Ersichtlich kommt die Operation der Deutung für Adorno vornehmlich in sozialen Zusammenhängen zum Tragen; als nichtidentisch erweisen sich demnach soziale Entitäten und Phänomene. Als »ein zentrales Moment der Soziologie« und »eines der wesentlichen Organe einer kritischen Theorie der Gesellschaft« meint sie, »daß in den Phänomenen, die scheinbar innehalten, die scheinbar ein Gegebenes, ein womöglich Momentanes sind, daß in ihnen Geschichte sich aufgespeichert hat. Das deutende Vermögen ist wesentlich das Vermögen, des Gewordenseins oder der stillgestellten Dynamik in den Phänomenen innezuwerden« (VLEinlSoz: 244f.). Die Soziologie – oder eben: die kritische Theorie – findet an dieser Stelle ihre kritische Stoßrichtung wesentlich darin, die Verdinglichung, Fetischisierung oder Naturalisierung von sozialen Phänomenen aufzudecken oder ihr entgegenzuwirken. Der Gegenbegriff zu einem zeitlich interpretierten Nichtidentischen ist demnach nicht nur die Auffassung, ein soziales Phänomen sei natürlicherweise so, wie es ist, sondern – und das liegt sehr eng an unserer Diskussion des strukturellen und des atomistischen Hörtypus – die Reduktion auf seine reine, atomare Gegenwärtigkeit. Adorno sagt (ebd.: 248f.): Der Begriff der Tatsache […] ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß er eigentlich als ein Zeitloses, als punktuelle Gegenwart dargestellt wird. Und wenn ich davon gesprochen habe, daß der herrschende Empirismus paradoxerweise die Erfahrung abschneidet, dann haben Sie hier […] die sehr exakte Begründung dafür, nämlich insofern, als diese Punktualität, dieses ›das ist der Fall‹,
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das von seiner eminenten Historizität, von seinen historischen Implikationen absieht, eben das in Wirklichkeit Gewordene als ein So-und-nicht-anders-Seiendes verabsolutiert. Das hat aber nun eine ungeheure Konsequenz, denn indem es verabsolutiert wird, indem seine Genese verschwindet, erscheint es zugleich als ein Natürliches und deshalb auch als […] ein prinzipiell gar nicht mehr Abänderliches. Insofern ist – und deshalb lege ich auf den Zusammenhang von Geschichte und Soziologie einen so entscheidenden Wert […] – die Eliminierung der geschichtlichen Dimension ein wesentliches Instrument dazu, das je Seiende und Vorfindliche zu sanktionieren, es zu rechtfertigen. Mit dem Gewordensein der Phänomene, von dem abgesehen werden soll, verschwindet ebenso auch die Perspektive auf das, was aus den Phänomenen werden kann. Ein soziales Phänomen ist also dann verdinglicht, wenn es als zeitloser Punkt, als erstarrtes, ungeschichtliches Ding konzeptualisiert – oder vielleicht ›erlebt‹, denn Adorno erklärt sich darüber nicht – wird. Diesem zeittheoretischen Begriff der Verdinglichung – als Antipode zu einem zeitlich und geschichtlich verstandenen Nichtidentischen – korreliert ein Verständnis des verdinglichten Bewußtseins, das auf dessen Mangel zur Entfaltung zeitlicher Bezüge, auf dessen Gedächtnisschwäche abhebt. Es sei eines, so Adorno weiter, das »den Gegenstand, indem es ihn momentanisiert, gleichzeitig zu einem Festen gerinnen läßt. Das, was gar nichts anderes ist als ›Jetzt und Hier‹, das verhärtet, verfestigt sich eben gerade durch diese Feststellung auf den Augenblick.« (Ebd.: 249) Es ist gekennzeichnet durch eine »subjektive Schwäche des Gedächtnisses« und ist dadurch, dass es »prinzipiell die Zeitdimension, die des Gewordenseins vernachlässigt, erfahrungslos« (ebd.: 250). Wie genau nun aber ein solcher deutender, das Phänomen verzeitlichender Akt beschaffen sein mag, darüber lässt Adorno seine Leserinnen an den erwähnten Stellen im Unklaren; es kehren immer wieder nur derlei zwar reiche, gehaltvolle, aber dennoch abstrakte, konturlose Bestimmungen wieder. Man ist zunächst versucht zu meinen, Adorno meine eine Form der Kritik, die heute, im Anschluss an Foucault und Nietzsche, zumeist als Genealogie geführt wird. Oder man versteht Adorno so, dass mit dem deutenden Vermögen und der mikrologischen Versenkung lediglich so etwas wie ein generalisiertes Kontingenzbewusstsein gemeint sei. Ich glaube allerdings, dass man den angeführten Stellen, und damit auch Adornos Intention, gerechter wird, wenn man sich eng an den Wortlaut hält und tatsächlich von einer Form oder einem Typ Erfahrung ausgeht, der sich mit der im hiesigen Zusammenhang erläuterten geistigen Erfahrung deckt. Denn wenn diese sich, wie ich plausibel zu machen versucht habe, wesentlich dadurch auszeichnet, dass sich in der Erfahrung latente, unbewusste zeitliche Synthesen entspinnen und mitunter zeitlich weit voneinander abliegende Assoziationen verdichten, dann scheint mir, dass ›Deutung‹ oder ›Mikrologie‹ lediglich andere von Adorno vorgeschlagene Figuren sind, die diese Art der Erfahrung erhellen sollen. Sie aktualisiert und
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konzentriert ein Wissen, das sich unbewusst gebildet hat und aus Assoziationen und Verweisen besteht, die dem Subjekt, das sich in dieser Weise wahrnehmend auf das jeweilige Objekt richtet, weder verfügbar noch gänzlich durchsichtig sind. Um es schließend mit programmatischem Anspruch zu formulieren: Im Lichte (i) des Kapitels zur kantisch verstandenen Einbildungskraft als wesentlichem Ingrediens geistiger Erfahrung können wir die temporale Dimension des Nichtidentischen gleichwie der seinem Anspruch nachkommenden Form der Erfahrung – oder: der deutenden Kritik – besser verstehen. Und im Lichte (ii) der freudschen Begriffe von Unbewusstem, Verdichtung und Kryptomnesie können wir besser verstehen, was Adorno damit meint, die ›Bahn‹ des produktiven Gedankens sei ihm ›verborgen‹ und es gehe bei der Deutung um die ›Konzentration eines bereits Gewußten‹. Wenn die geistige Erfahrung zeitliche Relationen in der Wahrnehmung eines Objekts ›zusammenschießen‹ lässt, wenn sie ›verdichtet‹ oder ›überdeterminiert‹, dann geschieht dies so, wie Adorno Einfälle oder Intuitionen beschreibt. So wie bei einem »Einfall« würde dies eine Wahrnehmung bezeichnen, »wo ein Gedanke […] als ein Einzelnes, das auf einen konkreten Gegenstand bezogen ist, zugleich über sich hinausweist und die Kraft entbindet, die nun die einzelnen Momente in ihrer subkutanen Struktur, eigentlich verborgenen Struktur miteinander zusammenhängen läßt.« (VLEinfDia: 244) Adorno meinte – daher rührt die bekannte Wendung »Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen« (ebd.: 242) –, dass sich passiv und ausgehend von der einzelnen, konkreten Wahrnehmung unterirdische, unbewusste Gänge eröffnen, die auf labyrinthische Art zusammenhängen und somit eine dem überkommenen Systembegriff6 ähnli-
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Man denke hier an die obige Formulierung Adornos, das ›System‹ sei darin legitim gewesen, als es das Einzelne ›überstieg‹ (vgl. 6/38f.). Dieser Begriff des Systems kehrt beispielsweise, unter stetem Rekurs auf Hegel, in der Vorlesung zur Einführung in die Dialektik vielfach wieder (vgl. VLEinfDia: 37, 41, 117f., 210ff., 247ff.). Adorno meint dort, »daß der Zusammenhang des Denkens, der Zusammenhang der Modellerkenntnisse, das eigentlich leistet, was man früher in alten Zeiten einmal von dem System verlangt hat, daß dieser Zusammenhang eher den Charakter eines Labyrinths habe als den eines Systems.« (Ebd.: 242) Das System ist demnach nicht ein abstraktes, als bereits konstituiertes an die Phänomene herangebrachtes »Ordnungsschema« (ebd.: 246) oder, wie Adorno häufig gegen Parsons einwendet, ein »frame of reference« (VLNegDia: 245), sondern schlicht – »Geist« (VLEinfDia: 245). Das System ist demnach (i) nicht subjektiv zum Zwecke der Klassifikation und Ordnung gesetzt und erzeugt und (ii) nicht selber anschaulich zu machen, denn es fungiert nur als latenter Zusammenhang der Phänomene. »[D]er Weg«, sagt Adorno (VLNegDia: 62), »der das System gewissermaßen säkularisiert in eine latente Kraft des Bindens der Einzeleinsichten aneinander (anstelle ihrer architektonischen Anordnung), der scheint mir tatsächlich der einzige Weg, der der Philosophie noch bleibt«. Und die Negative Dialektik sei von daher gesehen gar nichts anderes als das »kritische und selbstkritische Bewußtsein einer solchen Veränderung der Idee des philosophischen Systems« (ebd.). Ich sehe darum keinen Grund, weshalb man, Adorno tut es schließlich mitunter selbst, nicht von ›Geist‹ oder ›Sinnzusammenhang‹ anstatt
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che Funktion ausüben. Er stelle sich das so vor, »daß die Türen zu solchen unteriridschen Gängen sich in jeder einzelnen dieser Erkenntnisse so öffnen« und daß die einzelnen Wahrnehmungen und Gedanken »unterirdisch miteinander zusammenhängen, ohne daß dieser Zusammenhang nun von der Willkür des ordnenden Denkens ihnen aufgeprägt würde; sondern dieser Zusammenhang, der muß seinerseits aus der Komplexion der Sache selbst sich fügen, er ist etwas, worüber der Denkende eigentlich keine Macht hat« (ebd.: 241). Die wie ein Einfall strukturierte Wahrnehmung findet also in einem singulären Augenblick statt und ist bezogen auf ein singuläres Objekt, sie aktualisiert aber darin unbewusst einen Zusammenhang, der sich latent schon gebildet und, in Potenz verbleibend, darauf gewartet hatte, durch einen spezifischen Anlass unwillkürlich reaktiviert zu werden. »[D]as über die Fakten hinausweisende Wissen ist latent, unorganisiert schon da«, und was »Intuition« zu sein scheint, ist bloß das »Aufbrechen, Aktuellwerden des potentiellen Wissens«, so Adorno in den Stichworten der Dialektikvorlesung (ebd.: 325). Ich hatte mich bereits zu dem Monitum veranlasst gesehen, das seien nun alles keine wirklich empirisch irgendwie erhärtbaren oder illustrierbaren Überlegungen, die man hier bei Adorno vorfinden kann. Es mag ja zutreffen, wofür ich mich ausgesprochen habe: ein temporalisiertes Verständnis des Nichtidentischen und seiner korrelativen Erfahrungsform, ein bestimmt gearteter Begriff der Mikrologie und der Deutung usw. Aber wie hat man sich das denn näherhin vorzustellen? Sind dies nicht lediglich theorieintern oder exegetisch fruchtbare, sonst aber steril bleibende Überlegungen? Weil sich der vorstehende Gedankengang bei Adorno nicht eigentlich exemplarisch illustriert findet, seien hier kurz zwei Phänomene beispielhaft angeschnitten, die recht nah am Alltagsleben liegen. Das eine ist prosaischer, nicht sonderlich akademischer Natur, das andere hält sich eher im Bereich des bildungsbürgerlich Schöngeistigen. Beide sollen nur exemplarische Ausblicke auf ein empirienäheres Verständnis der abstrakten Überlegungen sein. Ich würde zunächst (i) denken, dass sich affektiv besetzte oder gar fetischistisch aufgeladene Objekte im Ausgang vom Vorangegangenen doch recht gut aufhellen
von ›System‹ sprechen sollte, wenn man die zwei genannten Charakteristika in den Gehalt des Geistbegriffs aufnimmt. Dass es in der Rezeption von Adornos Schriften vielfach die Tendenz gab, seine systemkritischen Impulse misszuverstehen, erklärt sich aus einer verfehlten Interpretation des Nichtidentischen. Diesem Verständnis gilt es als reine Singularität oder Materialität und das System als ein geschlossener, alles identifizierender Ordnungszusammenhang. Adornos Rettungsabsicht, seine Auffassung, in der Philosophie sei »etwas vom System zu retten: nämlich daß die Phänomene objektiv – und nicht erst in ihrer vom erkennenden Subjekt ihnen auferlegten Klassifikation – einen Zusammenhang bilden« (ebd.: 65), steht dann völlig quer zu dieser Interpretation. Vermutlich hat man solcherlei Stellen in anderen Texten Adornos häufig geflissentlich übergangen. Vgl. für eine besonders konzise Stelle die Stichworte der Dialektikvorlesung VLEinfDia: 333.
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lassen. Denn bei ihnen ist es ja für das Individuum unerklärlich, weshalb es gerade diese Dinge – also etwa Kleidungsstücke, Körperteile, aber auch für Kleinkinder wichtige Objekte wie das ›Schnuffeltuch‹ (vgl. Habermas 1999) o.ä. – sind, die einen derartigen affektiven oder erotischen Lustgewinn bieten können. Das Besondere an ihnen ist weiters, dass sie, in ihrer schieren Materialität, gegenüber dem subliminal und unbewusst an sie herangetragenen Gehalt fast vollständig zurückzutreten scheinen. Das Individuum überfrachtet sie mit unbewussten Erinnerungen, projiziert auf sie etwas, das aus ihrer materiellen Verfasstheit oder ihrer alltäglichen Funktion nicht hervorgeht und aus ihnen auch nicht erklärlich ist. So wie eine Rose7 heutigentags nicht einfach als Blume wahrgenommen wird, sondern durch bestimmte historische und kulturelle Zusammenhänge dahin gekommen ist, vielerlei anderes zu bedeuten, ganz so verhält sich nach meinem Dafürhalten auch im Falle solcher fetischisierter Objekte. Das andere, alltägliche und weit verbreitete Phänomen, an das ich als einen Sachverhalt denke, der im hiesigen Kontext eventuell erhellt werden kann, ist (ii) der für sich anbahnende Liebesbeziehungen typische Sachverhalt libidinöser Besetzung der anderen Person. Stendhal hat in Über die Liebe einen Begriff dafür geprägt, der uns in manchen der zitierten Formulierungen Adornos, dort gleichwohl in anderer Funktion, schon begegnet ist – nämlich der Begriff der Kristallisation. Stendhals auf die Kunst gemünzte Sentenz von der »promesse du bonheur« kehrt in Adornos Ästhetischer Theorie mehrfach wieder (vgl. 7/26, 128, 461), weshalb man zumindest mutmaßen kann, Adorno habe auch diesen Begriff gekannt. Aber wie immer es um diesen Begriffstransfer bestellt sein mag – Kristallisation bedeutet in Stendhals mitunter etwas diffusen Überlegungen einerseits die alltagsweltlich bekannte schwärmende Idealisierung auch kleinster Züge und Facetten der geliebten Person, andererseits eine schwieriger zu fassende imaginative Projektion von affektiven Valenzen auf sie. Gemeint sei ein »bestimmtes Fieber der Einbildungskraft […], das ein meistenteils durchschnittliches Geschöpf in etwas ganz anderes, in ein
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Dieses Beispiel zieht Adorno in seiner Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie (VLEinlErk: 241, 253) herbei, um seinen Zuhörerinnen den Charakter sinnlicher Wahrnehmungen, durch kulturelle Strukturen überformt zu sein, plastisch zu machen. »[W]as man eben wahrnimmt, wenn man die berühmte Rose wahrnimmt«, sagt er (ebd.: 253), »das ist ja nun wirklich niemals ganz allein diese Rose und auch niemals die Rose in der Vase oder die Rose in dem Gesichtsfeld oder was immer sie sonst sein mag, sondern in der Wahrnehmung dieser Rose steckt z.B. alles mit darin, was überhaupt durch die Überlieferung der Kultur, in der wir stehen, Blumen als Kunstprodukte der Natur, die gleichzeitig dem unmittelbaren Nutzen entzogen sind und die in einer besonderen Weise mit dem Geruch verbunden sind und mit der Lustquelle, die der Geruch darstellt, die eben mit all diesen Dingen verbunden sind.« Denn in die vermeintlich »reine Wahrnehmung, die unmittelbare Wahrnehmung des Objekts« würden demnach »bereits alle jene Vermittlungskategorien eingehen, die nach herkömmlicher Rede jedenfalls erst dem Verstand zuzuschreiben sind« (ebd.).
5. Die Areale der geistigen Erfahrung
Wesen anderer Art verwandelt.« (Stendhal 1975: 73 Fn. 1) Selbst wenn das nur eine andere, subtilere Art ist, den Prozess der Idealisierung auszudrücken, interessiert mich an diesem Begriff sein verwandelnder, die geliebte Person durch nicht vollauf bewusste Projektion in etwas anderes transformierender Effekt. Damit stimmt auch das Beispiel zusammen, an dem Stendhal die Kristallisation zentral illustriert: »In den Salzburger Salzgruben wirft man in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig; zwei oder drei Monate später zieht man ihn über und über mit funkelnden Kristallen bedeckt wieder heraus« – und im »Hirn eines Liebenden« gehe, so Stendhal (ebd.: 45), etwas ähnliches vor wie in diesen Salzgruben. Es heften sich an die Züge einer Person im Zustand der Verliebtheit, will ich mit Stendhal sagen, bestimmte imaginative Gehalte, die dem Individuum nicht völlig bewusst, wenn nicht sogar unbewusst sind und über deren Herkunft, werden sie ihm bewusst, es auch nichts auszumachen weiss.8 Mit diesen beiden Beispielen soll es im Hinblick auf den Begriff des Nichtidentischen nun sein Bewenden haben. Von der vorstehend erläuterten schwierigen Konzeption des Nichtidentischen zweigen innerhalb von Adornos Œuvre zwei Pfade ab, auf die wir uns nicht mehr begeben können. Sie seien wegen ihrer Fruchtbarkeit hier nur angeführt. Der eine Weg würde zu »Benjamins Einsicht, eine angeschaute Zelle Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen übrigen Welt auf« (11/318; 8
Falls man denn überhaupt offen dafür ist, den Begriff des Nichtidentischen in die Nähe solcher ›liebestheoretischer‹ Überlegungen und des Begriffs der Kristallisation zu rücken, wie ich es nahegelegt habe, kann man hier nochmals an Freuds Begrifflichkeit von Unbewusstem, Trauma und Latenz zurückdenken. Im Abschnitt Die Wiederkehr des Verdrängten in der Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion, aus der ich häufig zitiert habe, bringt Freud die Wiederkehr frühkindlicher, latent geblieber Erlebnisse und die »Liebeswahl, die so häufig nicht rationell zu begründen ist«, in einen Zusammenhang. Man kann an Freuds dortigen Formulierungen ersehen, dass sich das wiederkehrende Verdrängte nicht nur in pathologischen Symptom- oder alltäglichen Fehlhandlungen bekundet, sondern auch in den Abneigungen und Zuneigungen, die den Charakter eines Individuums ausmachen. Diese Überlegungen gehören mithin in den motivischen Komplex, der sich um das Problem der Charakterbildung dreht und der oft Freuds peripheres Interesse gefunden hat. Er schreibt, »daß die stärkste zwangsartige Beeinflussung von jenen Eindrücken herrührt, die das Kind zu einer Zeit treffen, da wir seinen psychischen Apparat für noch nicht vollkommen aufnahmefähig halten müssen. An der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, sie ist so befremdend, daß wir uns ihr Verständnis durch den Vergleich mit einer photographischen Aufnahme erleichtern dürfen, die nach einem beliebigen Aufschub entwickelt und in ein Bild verwandelt werden mag. Was die Kinder im Alter von zwei Jahren erlebt und nicht verstanden haben, brauchen sie außer in Träumen nie zu erinnern. Erst durch eine psychoanalytische Behandlung kann es ihnen bekannt werden, aber es bricht zu irgend einer späteren Zeit mit Zwangsimpulsen in ihr Leben ein, dirigiert ihre Handlungen, drängt ihnen Sympathien und Antipathien auf, entscheidet oft genug über ihre Liebeswahl, die so häufig rationell nicht zu begründen ist.« (Freud 1950a: 234f.) Agamben zitiert diese Stelle ausführlich in Signatura rerum (Agamben 2009: 124-127) im Kontext seiner Überlegungen zum Zusammenhang von Trauma und Erfahrung.
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vgl. genauso ebd.: 570), führen, die Adorno verschiedentlich aufgreift und die in diesen Rekursen in eine gewisse Nähe zu Benjamins Begriff der Phantasie als »Interpolation im Kleinsten« (ebd.: 570) und seiner Konzeption des dialektischen Bildes rückt. Darin kann man das Adornosche Verständnis von Mikrologie und Deutung insoweit vorgebildet finden, als das »mikrologische Verfahren«, wie es in der Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹ heißt, »durch Konzentration aufs Kleinste, darin die geschichtliche Bewegung innehält und zum Bilde sich sedimentiert« (ebd.: 577), bei Benjamin eine ganz ähnliche Verknüpfung von dem Anschein nach Zeitlosem und Zeitlichem, von Statischem und Geschichtlichem bewerkstelligt. Die Erfassung sozialer, geschichtlicher Phänomene als dialektisches Bild meint auch dort, so verstehe ich Adorno, den Aufweis, dass sich in ihnen zeitliche Bezüge konzentrieren. Es sind Konstellationen von Geschichtlichem, das in sie eingeht, nicht in sich verkapselte, statische Gebilde – »objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewegung« (10/248), »geschichtlich-objektive[] Archetypen« einer »antagonistischen Einheit von Stillstand und Bewegung« (ebd.: 637), wie Adorno sagt. Ein zweiter, sehr eng an den vorangehenden Bestimmungen liegender und vor allem in den sozialtheoretischen Texten Adornos rekurrenter Begriff ist derjenige der Physiognomie. In ihr kehren nicht vordringlich die zeittheoretischen Aspekte wieder, sondern im Vordergrund steht hier die dialektische Vermittlung von einzelnem Phänomen und übergreifendem sozialen Zusammenhang. Die Physiognomie bedeutet aber auch hier kein gesondertes Instrumentarium oder eine systematisch zu handhabende Methodik. Vielmehr ist eine Art der Erfahrung, der sinnlichen Zuwendung zu einzelnen sozial vermittelten Objekte oder Erscheinungen gemeint, weshalb Adorno zumeist von einem physiognomischen ›Blick‹ handelt. Für diesen gibt es keine rein und isoliert für sich bestehenden Fakten, sondern jegliches Faktum treibt über sich hinaus und erhält dadurch eine Bedeutung, die sich allein aus seinem Stellenwert in einem größeren Gefüge ergibt. »Daß ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine handfeste Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist, daß es jedoch nur soweit erkannt werden kann, wie es in Faktischem und Einzelnem ergriffen wird«, schreibt Adorno, »verleiht in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht. Sie ist die gesellschaftliche Physiognomik des Erscheinenden. Deuten heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden.« (8/315) Die Physiognomie trägt, indem sie das Einzelne auf das nie als solches gegebene ›Ganze‹ überschreitet9 , präzise deren dialektisches Verhältnis als wechselseitig aufeinander verwei9
Adorno spricht verschiedentlich von ›Übertreibung‹, die bei ihm, anders als man oft gemeint hat, keinen rhetorisch zu erzielenden Effekt (vgl. van den Brink 1997), sondern genau diese Überschreitung der Tatsachen oder einzelnen Phänomene auf ihren übergreifenden Sinn meint. Diese, freilich vom herkömmlichen Sprachgebrauch sehr stark abweichende Bedeutung von Übertreibung geht aus den Stellen, an denen diese Begrifflichkeit auftaucht, allerdings recht klar hervor. »Erkenntnis ist, und keineswegs per accidens, Übertreibung. Denn
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send aus: wie das Einzelne in seinem spezifischen Stellenwert nur durch das Ganze zu erschließen ist, so ist das Ganze nur durch die singulären Tatsachen hindurch zu greifen. Weil diese physiognomische Entzifferung des Einzelnen nur gelingt, wo ein durch Erfahrungen gebildetes Wissen über den umgreifenden Zusammenhang potentiell bereits vorhanden ist, kommt es in ihr zu einer dialektischen Verknüpfung von Theorie und Erfahrung. Als Physiognomen sind wir auch für Adorno in sozialen Zusammenhängen vornehmlich ›Lesende‹, die Verhaltensweisen, Objekte und Sprechweisen auf ihren sozialen Gehalt hin durchsichtig machen. Von hier ausgehend ließen sich leicht Gemeinsamkeiten mit Roland Barthesʼ Semiologie und Pierre Bourdieus relationaler Soziologie – man denke an die in den Feinen Unterschieden auftauchenden Objekte, Weisen zu sprechen usw., die sich uns immer durch einen milieuspezifischen Habitus vermittelt darstellen – sondieren.10
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so wenig irgendein Einzelnes ›wahr‹ ist, sondern vermöge seiner Vermitteltheit immer auch sein eigenes Anderes, so wenig wahr ist wiederum das Ganze. Wahrheit ist die Artikulation dieses Verhältnisses«, heißt es in der Einleitung zum ›Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹ (8/319). Im Aphorismus Drei Schritt vom Leibe aus der Minima Moralia, der häufig als Ausgangspunkt zur Erläuterung dieses Begriffs dient, heißt es, wiederum gegen den ›Positivismus‹ gerichtet (4/143f.): »Während der Gedanke auf Tatsachen sich bezieht und in der Kritik an ihnen sich bewegt, bewegt er sich nicht minder durch die festgehaltene Differenz. Er spricht eben genau das aus was ist, daß es nie ganz so ist, wie er es ausspricht. Ihm ist wesentlich ein Element der Übertreibung, des über die Sachen Hinausschießens, von der Schwere des Faktischen sich Loslösens. Fällt er aus dem Medium des Virtuellen heraus, eine Antizipation, die von keiner einzelnen Gegebenheit ganz zu erfüllen ist, kurz, sucht er anstelle von Deutung einfache Aussage zu werden, so wird alles, was er aussagt, in der Tat falsch.« Die Bedeutungszuschreibungen, die die Übertreibung implizit unternimmt, lassen sich nicht vollauf beweisen, sie bewahren ein spekulatives, antizipatorisches, virtuelles Moment in sich; deswegen ist die Übertreibung ›Deutung‹, nicht eine einfache, den vorfindlichen Fakt wiedergebende Aussage. Wegen dieser nicht direkt gegebenen Einlösbarkeit und Beweisbarkeit der Übertreibungen situiert Adorno diese folgerichtig auch in der Nähe des Wahns, nämlich in Meinung Wahn Gesellschaft (10/577): »Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt. In dieser Differenz zwischen Gedanke und Einlösung nistet aber wie das Potential der Wahrheit so auch das des Wahns. Darauf dann, daß überhaupt keinem Gedanken jemals die Garantie beigegeben sei, ob nicht die Erwartung enttäuscht werde, die er enthält, kann der Wahn erst recht sich berufen.« In diesem Sinne wird die Übertreibung bei Adorno auch häufig explizit dazu ausersehen, Tendenzen zu beschreiben, die sich durch die Beschreibung der Fakten nicht gänzlich beweisen lassen (vgl. etwa ebd.: 567f., wo das bekannte Diktum von der Übertreibung als ›Medium der Wahrheit‹ steht). »Wesentlich an sozialer Theorie ist, daß sie hinausgeht über bloß Seiendes, bloß Gegebenes«, heißt es in der Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (VLPhilElem: 37). »Der Versuch, über alles hinauszugehen, was der Fall ist, trotzdem aber die Schwere dessen, was ist, aufzunehmen, genau das bezeichnet den Begriff der Tendenz.« (Ebd.) Für diese spezifische Leseweise der Semiologie Roland Barthesʼ, mit einigen Bemerkungen zu Gemeinsamkeiten mit Bourdieu vgl. Jöckel 2018.
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5.2 Das Kunstwerk erfahren Zum Begriff des geistigen Gehalts von Kunst. Nicht: was der Autor an Ideen, Bedeutungen hineingesteckt hat. […] Sondern: der Gehalt des Kunstwerks, der ihm nicht abstrakt gegenübersteht sondern konstituiert wird durch die spezifische Konfiguration seines hic et nunc. Gebunden an die Erscheinung ohne in ihr sich zu erschöpfen. Sein Träger ist der Strukturzusammenhang, den man auch Sinnzusammenhang nennen kann, als der Inbegriff der Phänomene der mehr ist als diese, keine pure Unmittelbarkeit. Dieser Zusammenhang keine einfache Ganzheit, Gestalt, sondern in sich antagonistisch, gespalten, ein Kraftfeld. Der geistige Gehalt wäre als die Resultante dieses Prozesses ebenso wie als dessen eigene Totalität zu bestimmen. Ein Kunstwerk erfahren, mitvollziehen, ist identisch mit dem Innewerden dieses geistigen Gehalts. Dieser Prozeß, je insistenter er ist, führt aber zugleich notwendig zur Reflexion, ist philosophisch. – Adorno: Ästhetik (VLÄsth58: Stichworte: 367-369) Das zweite Gebiet in Adornos Werk, über das wir ausgehend vom Begriff geistiger Erfahrung näheren Aufschluß erhalten, sind die im engeren Sinne ästhetischen Schriften. Damit meine ich natürlich vor allem die Ästhetische Theorie, aber auch die beiden Vorlesungen von 1958/59 und 1967/68, von denen die eine unlängst publiziert worden, die andere bislang nur als Raubdruck zugänglich ist. Beide sind bis dato kaum rezipiert und darum auch nicht fruchtbar gemacht worden für das Verständnis von Adornos ästhetischen Überlegungen. Der maßgebliche Rechtsgrund, diesen Werkkomplex vor der Folie der geistigen Erfahrung zu erschließen, ist eine Äußerung Adornos, die ich bereits einmal herangezogen hatte (S. 66). Ihr folgend heiße, »[e]in Kunstwerk erfahren oder ein Kunstwerk mitvollziehen« nichts anderes, »als alle diese Momente des Kraftfelds, die das Kunstwerk darstellt, die es zugleich ist und übersteigt, an dem Kunstwerk mitvollziehen.« Darum sei »die ästhetische Erfahrung selber eigentlich eine geistige Erfahrung« (VLÄsth58: 226f.). Man muss auch hier fragen: ist diese Gleichsetzung von ästhetischer und geistiger Erfahrung abermals ein Beispiel für eine saloppere Redeweise Adornos? Oder verwendet Adorno den Begriff ›geistige Erfahrung‹ hier mit terminologischer Qualität – sind dann also die bisher erschlossenen Gehalte dieses Begriffs ebenso triftig für die ›ästhetische Erfahrung‹? Ich möchte meinen: ja. Und das will ich entlang von drei Stationen plausibilisieren. Zunächst sei dies (i) zum Einstieg an der Metapher des spekulativen Ohrs illustriert. Hier werden wir lediglich noch einmal der geistigen, strukturellen Vermittlung der sinnlichen Wahrnehmung begegnen, die uns durch den Begriff des strukturellen Hörens schon geläufig ist. Sodann (ii) möchte ich kurz auf die Begriffe Kraftfeld, Wahrheitsgehalt und Formgesetz eingehen. Diese führen uns zu einem Verständnis des Kunstwerks als spannungsvoller und prozessualer Konstellation von Elementen. Weil (iii) diese innere Spannung und Prozes-
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sualität von Kunstwerken sich aus Adornos Sicht nie gänzlich auflösen lässt, hören diese nicht auf, neue Deutungen und Interpretationen zu inspirieren. Dieser Zusammenhang von innerer Heterogenität und Zeitlichkeit der Kunstwerke und ihrer äußeren Zeitlichkeit wird uns als Basis zur Überleitung in das letzte Kapitel der Studie dienen, in der ich eine Auffassung von Dekonstruktion vorschlage, die sich mit dieser Verknüpfung innerer und äußerer Temporalität vereinbaren lässt. (i) Das spekulative Ohr. Es gibt eine Formulierung Adornos, die eng an der Metapher des spekulativen Ohrs liegt und die man wohl für so bedeutsam gehalten hat, dass sie als Titel eines der wichtigsten Sammelbände, die sich mit seiner Musikphilosophie befassen, hergehalten hat (Klein/Mahnkopf 1998). »Musikalisch sein«, heißt es in Die gewürdigte Musik (15/184; Hervorhebung DJ), »heißt nicht, das Vernommene unter seinem Oberbegriff zu subsumieren; nicht bloß anzugeben vermögen, welchen Ort Details in dem logisch übergeordneten Schema haben, sondern die Entfaltung des Erklingenden in ihrer Notwendigkeit mit den Ohren denken. Das Ideal von Struktur wie von strukturellem Hören ist das der notwendigen Entfaltung von Musik aus dem Einzelnen zum Ganzen, das seinerseits erst das Einzelne bestimmt.« Die Wendung, ›mit den Ohren zu denken‹, klingt zunächst natürlich tiefsinnig und charmant. Aber was soll sie bedeuten?, mag man sich fragen. Offenkundig verweist sie indirekt auf die Metapher des spekulativen Ohrs. Diese übernimmt Adorno von Kierkegaard, lässt sie jedoch wider Erwarten in seiner frühen Arbeit über ihn an keiner Stelle auftauchen. Lediglich als Motto über seinem musiktheoretisch zentralen Text Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik von 1957 zieht er eine Sentenz Kierkegaards aus Entweder/Oder I heran, in der sie vorkommt. »Wie das spekulative Auge zusammensieht, so hört das spekulative Ohr zusammen«, heißt es dort (16/145). Dass das spekulative Ohr zusammenhört und dass es dadurch zu einer Vermittlung des geistigen – darum ›spekulativen‹ – und des sinnlichen – darum das ›Auge‹ und das ›Ohr‹ – Pols kommt, verdichtet in dieser Metapher noch einmal diejenigen Züge, die auch für das strukturelle Hören und die geistige Erfahrung von zentraler Bedeutung waren. Das Ohr ›spekuliert‹ hier nicht über etwas – was wäre das auch für ein abstruses Verständnis der Metapher? –, sondern dasjenige, was Adorno alternierend ›Wissen‹, ›Geist‹, ›intellektive Vermittlung‹ oder eben ›Spekulativität‹ nennt, geht derart in die sinnliche Wahrnehmung ein, dass diese nicht mehr völlig sinnlich und an ihre konkrete Gegenwart gebunden ist. »Muß das spekulative Ohr gleichzeitige Ereignisse zusammen und auseinander hören in eins«, sagt Adorno in den Anweisungen zum Hören neuer Musik (15/220), »so hat es eine analoge Aufgabe auch sukzessiv, im Nacheinander, im zeitlichen Verlauf der Musik zu bewältigen. Es muß bereit sein, in sich scharf gegensätzliche Motive, die unterirdisch zusammenhängen, aber kaum manifest als unmittelbar erklingende, dennoch aufeinander zu beziehen«. Die strukturelle und zeitliche, prozessuale Vermittlung aller einzelnen Elemente des Kunstwerks, die schon das strukturelle Hören zu erfüllen hatte, kehren hier wieder. Ebenso wird
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das spekulative Ohr von Adorno mit der Forderung nach Konzentration und Aktivität in der Rezeption von Kunst verknüpft – dem sind wir schon nachgegangen (S. 167f.). Dies ist vor allem gegen zweierlei gerichtet: (i) die besondere Betonung des Gefühls in der Sphäre der Kunst, die Adorno häufig und nicht nur im Zusammenhang mit dem spekulativen Ohr kritisiert, und (ii) das Missverständnis, die angesprochene geistige, epistemische Dimension der sinnlichen Wahrnehmung sei durch Akkumulation äußerlichen Wissens abzudecken. Statt sich der Kunst passiv zu überlassen und sie als eine rein sinnliche, gefühlige Sphäre zu begreifen, zu der dann noch ein äußerliches, nicht in die Wahrnehmung des jeweiligen Werks eingehendes Wissen hinzutritt, wird das spekulative Ohr von Adorno stets mit der Forderung nach Aktivität, Konzentration, Gedächtnis und Phantasie bzw. Imaginativität in Zusammenhang gebracht. »Neue Musik […] gewährt nicht jenes passive Wohlgefühl, welches das Mißverständnis von traditioneller Musik sich erhofft«, schreibt er (15/189f.). »Die Forderung eines aktiven Verhaltens des Rezipierenden anstelle eines passiv kulinarischen begegnet sich mit einem ihrer wesentlichen Desiderate. Nur daß solche Aktivität nicht im emsigen Mitmachen, in dumpf fiedelnder Betriebsamkeit besteht. Vielmehr ist es eine schweigende, imaginative, schließlich hörende Aktivität, Leistung dessen, was Kierkegaard das spekulative Ohr nannte.« Und über die Schwierigkeiten in der Auffassung neuer Musik – so der Titel des Vortrags von 1966 – sagt Adorno (17/290): »Die Anstrengung, deren die Auffassung neuer Musik bedarf, ist keine des abstrakten Wissens, keine etwa der Kenntnis irgendwelcher Systeme, Theoreme, gar mathematischer Verfahrungsweisen. Sie ist wesentlich Phantasie, das, was Kierkegaard das spekulative Ohr nannte. Prototyp genuiner Erfahrung neuer Musik ist die Fähigkeit, Divergentes zusammenzuhören, in wahrhaft Mannigfaltigem mitvollziehend Einheit zu stiften.« Hierbei kehrt wieder die von Adorno nicht näher bedachte, schwierige Verschlingung von Aktivität und Passivität: denn einerseits ist aktive Konzentration etwa beim Hören eines Tons erfordert, zugleich aber ist der Verlauf des Werks passiv mitzuvollziehen. Dass er von einer ›imaginativen‹ Leistung, von Phantasie und Gedächtnis spricht, scheint mir einmal mehr dafür zu sprechen, dass es genau diese durch das Gedächtnis ins Werk gesetzte Leistung, die jeweilige konkrete Wahrnehmung mit Verweisen und Referenzen auf andere Elemente aufzuladen, ist, welche die eigenartige ›Aktivität‹ vorstellen soll. Das wird dann besonders deutlich, wenn er sich über die »Gefühlsideologie« auslässt, die man herkömmlicherweise mit der Kunst assoziiert: »In der Forderung nach Konzentration vergeht sich die neue Musik an einem ideologischen Hauptstück der herrschenden Musikkultur, der Irrationalität der Musik, die rein ans Gefühl appelliere. […] Was intellektuell genannt wird, ist meist nur das, was die Arbeit und Anstrengung des Gehörs, was Kraft der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses, was eigentlich Liebe verlangt, also Gefühl; und was so Gefühl heißt, ist meist nur Reflex einer passiven Verhaltensweise, die
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Musik als Reiz goutiert, ohne zu ihr, dem konkret Gehörten, überhaupt eine spezifische, wenn man will: naive Beziehung zu haben.« (17/289) Das besondere Problem der passiven, kulinarischen Rezeptionsform besteht darin, dass sie zu eben demjenigen, was strukturelles Hören und spekulatives Ohr leisten, nicht fähig ist: die Synthesis aller einzelnen Elemente. Sie dagegen atomisiert das Werk, verdinglicht seine einzelnen Momente zu beziehungslosen Isolaten. Die Beigabe zur Erfahrung eines Kunstwerks in Form eines Wissens über ihm äußerliche soziale, geschichtliche und politische Zusammenhänge oder biographische Details über die Künstlerin verhält sich komplementär zur Reduktion der Kunstrezeption auf eine Angelegenheit des Gefühls. Abstraktes Wissen und konkrete Erfahrung des Kunstwerks, die epistemische und die affektive Dimension werden als zwei einander äußerliche Sphären auseinandergerissen – darin, in dieser Dichotomisierung, besteht, neben der zeittheoretischen Schicht, eine andere Bedeutung von ›Verdinglichung‹. Weil, so die bei Adorno naturgemäß nicht fehlende kulturkritische Wendung dieser Überlegungen, das ›verdinglichte‹ Bewußtsein des Rezipienten nicht mehr in eine wahrhafte Beziehung zum Werk zu treten vermag, tritt an die Stelle der Erfahrung des konkreten Werks ein Wissen über das Kunstwerk. Diesen Vorgang hat Adorno – unter ausdrücklichem Rekurs auf den Begriff der Verdinglichung – in Die gewürdigte Musik als »Würdigung« kritisiert: »Würdigung«, sagt er, sei »Warendenken, das Komplement zur Verdinglichung der zur Betrachtung aufgebahrten Kulturgüter ebenso wie des verdinglichten Bewußtseins derer, denen sie offeriert werden. […] Kenntnis von Nebensachen, biographischen Details, geschichtlichen Ereignissen und äußerlichen Assoziationen wird mit dem Gegenstand und seinem Gehalt verwechselt. […] Die fehlende Beziehung wird surrogiert durch das, was zwischen den Betrachter und die Sache sich einschaltet; durch Gewäsch aus Information, Popularpsychologie, Sentiment, Respekt und Nichtachtung.« (15/164f.) Daran wird nochmals deutlich, dass »Gefühlsideologie«, Würdigung – der »Fetischismus von Namen und Werken, der sich vor ihre Qualität und ihren Gehalt schiebt« (ebd.: 166) – und atomistisches Hören für Adorno zusammengehören und sich in der Nähe dessen aufhalten, was unter dem Titel der »Halbbildung« Prominenz erlangt hat. So wie das atomistische Hören dadurch zur Verdinglichung führt, dass das einzelne Element eines Kunstwerks sich in ihm, »[i]soliert aus Zeitstrom und dynamischem Verlauf«, verhärtet, »ohne über sich hinaus aufs Kommende zu weisen und aufs Vergangene« (17/294), so verwandeln sich »Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, […] in böse Giftstoffe« (8/111f.). Es sind »[u]nassimilierte Bildungselemente« (ebd.: 112), und es ist die »punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit« (ebd.: 115), welche die Halbbildung ausmachen. Das Kunstwerk erscheint aus voneinander isolierten, beziehungslos wahrgenommenen Elementen zusammengesetzt, die als völlig identische mit sich zusammenfallen und gerade nicht ›mehr sind, als sie sind‹. Die Elemente sind demnach, isoliert aus dem
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konstellativen Zusammenhang, der ihnen einen je spezifischen Stellenwert aufprägte, eindeutig bestimmbar. Das eben macht sie zum »eindeutigen, dauernden, kalten Ding; eben dem, das sich besitzen läßt« (17/294). Präzise dieser »Mechanismus der Verdinglichung« (ebd.) bildet die Voraussetzung für die ›Konsumierbarkeit‹ der Kunstwerke, die ihre einzelnen Elemente nur noch als atomare, punktuelle Reize wahrnimmt. Die Momente des Werks lassen sich nämlich nur in ihrer isolierten, aus dem unmittelbaren Kontext herausgelösten und somit entzeitlichten Form als solche ›besitzen‹ – diese Art von Besitzverhältnis zur Kunst macht deren Konsumierbarkeit aus. Dann dreht es sich bei Adorno in kritischer Absicht etwa um »behaltbare[] Melodie[n]« (15/63, 17/297), um »schöne[] Stellen« (15/379, 7/280, 449), oder diagnostiziert wird der »[d]er Konsum der Oper« als »Wiedererkennen« (14/266) und die für das atomistische Hören kennzeichnende »fortschreitende Dekomposition«, wie es in Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens heißt: »Die Emanzipation der Teile von ihrem Zusammenhang und allen Momenten, die über ihre unmittelbare Gegenwart hinausgehen, inauguriert die Verschiebung des musikalischen Interesses auf den partikularen, sensuellen Reiz.« (ebd.: 37) All diese von Adorno mit kritischer Insistenz beschriebenen und unter verschiedene Titel – Fetischisierung, Für-anderes-Sein, Verdinglichung, Konsumierbarkeit etc. – gebrachten Phänomene beruhen auf der Atomisierung, Isolierung und damit der Entzeitlichung der einzelnen Elemente des Kunstwerks. Wenn diese ihren Sinn nur von ihrer Position und ihrer Funktion im übergreifenden Zusammenhang, nur konstellativ empfangen, lassen sie sich, aus ihm herausgelöst, eindeutig bestimmen und fixieren. Und weil sich uns, als Rezipienten, diese Konstellation von Momenten nur prozessual erschließt, gehen sie so gleichermaßen ihrer zeitlichen Bezüge verlustig. Sie sind – so können wir im Hinblick auf die eben vorgenommene Diskussion des Nichtidentischen sagen – völlig identisch mit sich, mit ihrer reinen Gegenwärtigkeit. Das fasst Adorno in der Theorie der musikalischen Reproduktion11 mit einer Bergsonschen Wendung als die »Verräumlichung eines Zeitlichen«: »Etwas früher stellen, verräumlichen heißt da sein: die absolute Gegenwart wäre zeitlos und nur was ganz da ist, läßt sich beherrschen. Verräumlichung ist ihrem Inhalt nach Beherrschbarkeit.« (MusikRepr: 228) Nur dasjenige, das zeitlos in dem Sinne ist, als es ›ganz da ist‹, als es gar nicht mehr auf Vorheriges und Kommendes hinausweist, lässt sich eindeutig bestimmen und beherrschen – und damit auch, als entzeitlicht Verdinglichtes, besitzen und konsumieren. (ii) Kraftfeld, Wahrheitsgehalt, Formgesetz. Ich denke, dass nun der Zusammenhang von geistiger Erfahrung mit der Metapher des spekulativen Ohrs und beider 11
Der bergsonsche Begriff der ›Verräumlichung‹ spielt auch andernorts in den musikphilosophischen Schriften eine herausgehobene Rolle, vgl. 12/71, 173ff., 180f.; 13/31, 342; 16/136, 222, 484f.
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mit den erwähnten kulturkritischen Einlassungen Adornos deutlich geworden ist. Das Verhältnis von Sinnlichem – der konkreten, augenblicksgebundenen Wahrnehmung, sei’s Hören oder Sehen – und Geistigem hat sich als all diese verschiedenartigen Figuren – geistige Erfahrung, strukturelles Hören, spekulatives Ohr – in ihrem begrifflichen Kern durchziehend herausgestellt. Im Übrigen war dieses Dual so wichtig, dass es für Adorno bei der Titelwahl zu einem gewiss nicht unwichtigen musiktheoretischen Band, den Klangfiguren von 1959, leitend gewesen ist. Im Hinblick darauf und seine konzertierte Titelfindung mit Peter Suhrkamp erzählt uns Adorno in Titel (11/329; Hervorhebung DJ): »Zu ›Klangfiguren‹ gelangte ich, nach Schönbergs Wort, durch entwickelnde Variation. Sollte ›Mit den Ohren gedacht‹ die sinnliche Wahrnehmung von Kunst als zugleich geistige bestimmen, so sind Klangfiguren Spuren, welche das Sinnliche, die Schwallwellen in einem anderen Medium, dem reflektierenden Bewußtsein, hinterlassen.« Da wir gesehen haben, dass Adorno die Tendenz zur Reduktion von Kunstwerken auf sinnlich Wahrnehmbares – die »Norm der Anschaulichkeit« (7/146) – vehement und an den verschiedensten Stellen kritisiert, könnte es nun so scheinen, als käme, im direkten Umkehrschluss, dem Geistigen als dem übergreifenden Gefüge der Primat zu. Aber er möchte damit das »Glück an künstlerisch Einzelnem gar nicht leugnen«, wenn die Betrachterin etwa »in ein schönes Detail eines Bildes sich verliebt, wie der sterbende Dichter in einem Proustschen Werk«, und sie den »geistige[n] Gehalt […] in diesem Augenblick sinnlich verdichtet erfährt« (VLÄsth68: 8). Denn der Strukturzusammenhang des Werks – seine ›Totalität‹ – lässt sich gar nicht anders als eben an oder durch ein solches einzelnes Element erfahren. Insoweit behält die Atomisierung des Kunstwerks also ihr Recht. Aber wiederum – und darin liegt die Dialektik zwischen Element und Zusammenhang, die keines der beiden Momente priorisiert – sei es »ein Unterschied ums Ganze, ob die Erfahrung des Augenblicks – und anders als in diesen Augenblicken lassen sich Kunstwerke, wenn sie nicht ganz abstrakt überblickt werden sollen, gar nicht erfahren – ob die in ihrer Relation zur Totalität, und gar in einer so emphatischen Relation zur Totalität erfahren werden […], oder ob sie isoliert als ein atomistisches und damit nun wirklich als ein bloßes sinnliches Reizmittel erfahren werden.« (Ebd.: 8) Adorno denkt dieses Verhältnis also immer dialektisch oder, wenn man lieber will, ›relational‹. Und: keines der beiden Momente bleibt von seinem relationalen Bezogensein auf den ihm entgegenliegenden Pol unbeeinträchtigt. Es gibt keine rein für sich bestehenden Elemente, die hernach in Zusammenhang zu bringen wären, noch gibt es das Ganze jemals anders als durch die Wahrnehmung der Elemente, an denen es sich entspinnt. Adorno ist also auch in diesem Gebiet seines Werks keineswegs einfach der undialektische Hüter des Besonderen, Einzelnen und Individuellen, als der er schon so lange firmiert. Die Synthesis, das Stiften eines Zusammenhangs zwischen den Elementen, die die ästhetische Erfahrung leistet, resultiert für Adorno jedoch nicht in einem in sich
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ruhenden, spannungslosen Ganzen. Das tastet auch, wie wir gleich sehen werden, seine Rede von einem den Kunstwerken eignenden ›geistigen Gehalt‹ oder ›Wahrheitsgehalt‹ an. Die innere Spannungsgeladenheit des Kunstwerks belegt Adorno rekurrent mit dem – in der Rezeption seines Werks nur selten auftauchenden und beispielsweise im Register der Ästhetischen Theorie nicht enthaltenen – Begriff des Kraftfelds. Dazu möchte ich zwei fast wortgleiche Passagen herausgreifen. An ihnen wird ersichtlich, dass wir auch die dem Kunstwerk immanente Prozessualität genauer verstehen müssen, denn sie meint nicht den empirischen Verlaufscharakter eines Werks – wie bei Filmen, Musikstücken oder Dramen etc. –, sondern die aus der Heterogenität der Elemente gespeiste, nicht stillstellbare Dynamik. In der Ästhetikvorlesung von 1958 sagt Adorno (VLÄsth58: 224f.): Wenn diese Einheit, die den Sinnzusammenhang ausmacht, nun nicht eine solche harmonische Einheit von seienden, nebeneinanderstehenden Momenten ist, sondern eine Einheit von einander widersprechenden oder von divergenten, unter Umständen von chaotischen, dann ist darin gelegen, daß die Frage nach der Einheit des Kunstwerks selbst eigentlich als eine dynamische Frage verstanden werden muß, als ein Werden, und nicht als ein statisches Verhältnis, nicht als eine Art Harmonie. […] Weil die Einheit des Kunstwerks selbst eine sich erzeugende ist, deshalb ist das Kunstwerk selber, auch wenn es da ist, auch wenn es noch so sehr in sich zu ruhen scheint, in Wirklichkeit ein Kraftfeld und ein Prozeß. Und ich würde sagen, es gehört zu den tiefsten Fragen der Ästhetik, daß das Kunstwerk eigentlich um so mehr seiner Idee treu bleibt, je mehr es diesen Prozeß, je mehr es diesen Charakter eines Spannungsfelds verwandelt in den Schein eines Seins. Und in der Ästhetischen Theorie (7/263f.) heißt es: Kunstwerke synthetisieren unvereinbare, unidentische, aneinander sich reibende Momente; sie wahrhaft suchen die Identität des Identischen und des Nichtidentischen prozessual, weil noch ihre Einheit Moment ist, und nicht die Zauberformel fürs Ganze. […] Diese Reziprozität macht ihre Dynamik aus; das Unschlichtbare der Antithetik, daß jene in keinem Sein sich stillt. Kunstwerke sind es nur in actu, weil ihre Spannung nicht in der Resultante reiner Identität mit diesem oder jenem Pol terminiert. Andererseits werden sie nur als fertige, geronnene Objekte zum Kraftfeld ihrer Antagonismen; sonst liefen die verkapselten Kräfte nebeneinander her, oder auseinander. Ihr paradoxes Wesen, der Einstand, negiert sich selber. Adorno sieht also auch hier wieder eine Dialektik am Werk: es sind nicht nur Element und Zusammenhang in sich auf ihren Widerpart bezogen, sondern auch zwischen dem Kunstwerk in seiner Einheit – seiner Harmonie, dem Gleichgewicht seiner Kräfte – und seiner Spannungsgeladenheit herrscht eine untilgbare, irre-
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duzible Differenz. Es ist eine Konfiguration und eine Synthesis, es herrscht also ein ›mit‹ und ein ›zusammen‹ zwischen den einzelnen Teilen oder Elementen vor. Aber diese Elemente besitzen ein sinnhaftes Eigengewicht, das sich nicht in dem Zusammenhang, den sie mitsammen anderer Elemente bilden, verflüchtigt. Und überdies bestimmen die Elemente einander ja wechselseitig, weil Adorno das Ganze oder den übergreifenden Sinnzusammenhang nicht als eine Art Blaupause oder auszufüllendes Schema dem Entstehungsprozess des Kunstwerks vorausgehen lässt. Darum sagt Adorno – denn das ist ja zweierlei und man sollte es umwillen der Klarheit unterscheiden –, das Kunstwerk sei nicht nur eine spannungsvolle, sondern überdies eine ›werdende‹, ›prozessuale‹ Konstellation. Ersichtlich ist damit ja nicht der unleugbare empirische Tatbestand gemeint, dass unsere Wahrnehmung eines Kunstwerks – selbst bei einem Gemälde – immer minimale zeitliche Differenzen, also eine gewisse Dauer involviert. Sondern weil dem Kunstwerk eine innere Heterogenität und Spannung eignet, soll es auch eine innere Prozessualität oder Zeitlichkeit aufweisen. Wie das genauer zu verstehen sei, werde ich gleich unter dem Begriff ›Wahrheitsgehalt‹ zu erläutern versuchen. Festzuhalten ist gleichwohl, dass es eine »Innenspannung« ist, durch die »das Werk noch im Stillstand seiner Objektivation sich als Kraftfeld« bestimmt. »Es ist ebenso der Inbegriff von Spannungsverhältnissen wie der Versuch, sie aufzulösen.« (7/434) Und weil es dies beides gleichermaßen ist, weil es zugleich geronnenes und werdendes, bestimmtes und unbestimmtes ist, ergeht vonseiten des Kunstwerks an die ästhetische Erfahrung die Forderung, so Adorno, diese Dialektik zu reaktivieren und die innere Spannungsgeladenheit wieder zu verlebendigen. Dass sich für ihn an den Begriff des Kraftfelds dieses Gebot als normative Konsequenz anschließt, hat sich im bisherigen Verlauf dieser Studie ja schon verschiedentlich gezeigt. Der Kunst gebührt nun jedenfalls in Adornos Werk die Rolle, als Paradigma für diesen Sachverhalt zu fungieren – oder es wird in den ihr gewidmeten Textzusammenhängen jedenfalls pointierter als sonst zum Ausdruck gebracht, was dies (das ›Lebendigwerden‹ oder ›Verlebendigen‹) genauer heißen mag. Adornos im Begriff ›Kraftfeld‹ verschlüsselter, sich darin nur chiffriert zu erkennen gebender Gedankengang erstreckt sich in viele Areale seines Werks hinein; und abermals wird daran deutlich, wie intim die Figuren in seinen Texten subkutan zusammenhängen. »Interpretieren heißt: Musik als Kraftfeld aufschließen«, so heißt es statuarisch in der Theorie der musikalischen Reproduktion (MusikRepr: 322). Als den »zentralen Sachverhalt von Analyse überhaupt« hält Adorno in Zum Problem der musikalischen Analyse definitorisch fest: »Analyse heißt soviel wie eines Werkes innewerden als eines Kraftfeldes, das um ein Problem geordnet ist.« (Adorno 2001: 84) Im Essay als Form meint er im Hinblick auf die anzustrebende Textgestalt des Essays: »Als Konfiguration […] kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick des Essays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandeln muß.« (11/21f.) Seiner Idee, die Kritik der reinen Vernunft als exem-
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plarisches ›geistiges Gebilde‹ oder gleich Kants gesamte Philosophie als ›Kraftfeld‹ zu begreifen, waren wir ja bereits begegnet. Und in Der wunderliche Realist (ebd.: 388f.) erfahren wir auch, dass dies auf die berüchtigte gemeinsame Lektüre mit Kracauer zurückgeht: »Ließ ich später, im Verhältnis zu den überlieferten philosophischen Texten, weniger von deren Einheit und systematischer Einstimmigkeit mir imponieren, als daß ich mich um das Spiel der unter der Oberfläche jeder geschlossenen Lehrmeinung aneinander sich abarbeitenden Kräfte bemühte, die kodifizierten Philosophien jeweils als Kraftfelder betrachtete, so hat dazu gewiß Kracauer mich angeregt.« Und ebenso ist es »Aufgabe der Dialektik«, »das, was als bloß dinghaft gegeben, seiend, daseiend erscheint, in ein Kraftfeld zu verwandeln« (VLEinfDia: 285). Für all diese Bereiche und Unternehmungen ist es also ein ganz wesentliches Definiens, etwas, das sich dem ersten Anschein nicht als solches zu erkennen gibt, in ein Kraftfeld zu ›verwandeln‹, es als solches ›aufzuschließen‹ oder zu ›betrachten‹. Die Interpretation von Musik, das Verstehen philosophischer Texte, die ästhetische Erfahrung generell, ja sogar die Dialektik insgesamt – und vermutlich, ohne dass er dies so definiert hat, auch: die ›kritische Theorie‹ – muss sich einem solchen Ansinnen unterstellen. Aber was könnte das nun bedeuten? Etwas – ein Gebilde, Phänomen oder Werk – in der Heterogenität seiner Elemente, als von Spannungen geladen und sogar als in sich dynamisch und prozessual zu erfahren? Denn als von solchem Profil hat uns Adorno den Begriff des Kraftfelds in seinen ästhetischen Schriften zu verstehen gegeben. Die nach meinem Dafürhalten im Hinblick auf dieses Problem zu ziehende Option ist, ein etwaiges Verständnis entlang des Begriffs des Gehalts ins Relief zu setzen. Adornos Redeweise changiert zwischen ›Wahrheitsgehalt‹, ›geistigem Gehalt‹ und, ohne nähere Spezifikation, ›Gehalt‹. Es ist noch erheblich schwieriger, diese Begrifflichkeit in ihren Differenzen untereinander, als diese Begriffe selber in ihrer theoriesystematischen Funktion zu verstehen, weshalb ich mich auf Passagen zu all diesen drei Begriffen stütze. Dem Begriff ›Wahrheitsgehalt‹ etwa misst Adorno mitunter die Rolle zu, das Verhältnis von Kunstwerk und Realität, etwa der gesellschaftlichen Umstände, zu erläutern; zudem spiegelt sich in ihm der alte Topos einer besonderen Nähe der Kunst zur Wahrheit, die mit den beiden anderen Begriffen von Adorno zumeist nicht assoziiert wird. »[D]er Wahrheitsgehalt ist nichts von den Werken bloß Bedeutetes, von ihnen Ablösbares, sondern unabtrennbar von ihrer eigenen inneren Zusammensetzung, ohne daß er doch in dieser Zusammensetzung ganz aufgeht«, schreibt er etwa in den Reflexionen über Musikkritik. »Er ist nicht unmittelbar zu greifen.« (19/579) Wir können den Gehalt eines Kunstwerks also nur dadurch erfahren, dass wir es in der Zusammensetzung seiner Einzelheiten, der ihm eigenen Konfiguration von Momenten, wahrnehmen. Aber was heisst es dann, diesen Gehalt zu erfahren, wenn er nicht ›unmittelbar zu greifen ist‹? »Der Wahrheitsgehalt der Kunstwer-
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ke ist kein unmittelbar zu Identifizierendes«, heißt es an anderer Stelle, in der Ästhetischen Theorie (7/195). »Wie er einzig vermittelt erkannt wird, ist er vermittelt in sich selbst. Was das Faktische am Kunstwerk transzendiert, sein geistiger Gehalt, ist nicht festzunageln auf die einzelne sinnliche Gegebenheit, konstituiert sich durch diese hindurch. […] Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Fakten, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches durch ihre Faktur«. Der Gehalt ist ›vermittelt in sich selbst‹: denn er meint nur die sich entspinnenden Relationen der Elemente untereinander. Aber so – wenn er nicht unmittelbar oder dingfest gemacht, nicht objektiviert werden kann – kann er eben nur ›vermittelt erkannt‹ werden. Die Form der Erfahrung muss auch hier der inneren Form des Kunstwerks adäquat sein; beide sind in sich selber vermittelt und nie reine Unmittelbarkeit oder Gegenwart. Das Kunstwerk ist somit nie direkt anschaulich zu machen, nie auf eine pure sinnliche Gegenwart zu reduzieren, noch ist die ihm korrespondierende Erfahrung rein sinnlich, sondern von Unsinnlichem durchsetzt. »Ihr je immanenter Logik gehorchendes Gefüge […] wird von purer Anschauung nicht erreicht, und was an ihnen sich anschauen läßt, ist durch das Gefüge vermittelt; diesem gegenüber ist ihr Anschauliches unwesentlich, und jede Erfahrung der Kunstwerke muß ihr Anschauliches überschreiten.« (7/152f.) Der Gehalt ist somit nichts anderes als das nie präsent zu machende, fortgesetzt ausstehende Gesamt all der Beziehungen, welche die ästhetische Erfahrung zwischen den jeweiligen Elementen des Werks herstellt: er ist »eigentlich nichts anderes als die Transzendenz seiner sämtlichen, zueinander in Beziehung stehenden sinnlichen Momente« (VLÄsth58: 222).12 Eine Passage aus Adornos Ästhetikvorlesung von 1958 (ebd.: 202) bringt all diese verschiedenen Aspekte – die Begriffe des Geistigen und des Gehalts, die Kritik der Anschaulichkeit und die normativ eingeforderte strukturelle oder formale Korrespondenz zwischen Werk und Erfahrung – besonders dicht zusammen: Nur indem Sie die verschiedenen Momente des Kunstwerks, dem Sie sich überlassen, dessen Disziplin Sie mitvollziehen […], indem Sie dessen Momente zugleich auch reflektieren, gegeneinandersetzen, an die vergangenen sich erin-
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Diese Transzendenz aller einzelnen Momente, ihr Hinausweisen über sich selbst auf eine Konfiguration, die sie integriert, formuliert Adorno nicht zufälligerweise auch mit der Formel, dass etwas ›mehr als es selbst‹ sei. So in Zum Problem der musikalischen Analyse (Adorno 2001: 80): »Analyse geht auf das Mehr an den Werken; auf das, was sich erst entfaltet durch die Analyse hindurch. Jede Analyse also, die etwas taugt, ist eine Quadratur des Zirkels. Sie ist die Leistung von Phantasie durch Treue; und für Phantasie gilt die Definition von Walter Benjamin, sie sei die Fähigkeit zur Interpolation im Kleinsten. Das oberste ›Mehr als das, was der Fall ist‹, ist der Wahrheitsgehalt; und den Wahrheitsgehalt treffen kann natürlich nur Kritik. Keine Analyse taugt etwas, die nicht in der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Werke terminiert, und der ist seinerseits vermittelt durch die technische Komplexion der Werke.«
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nern und die kommenden erwarten, nur insoweit kommen Sie zu einem wirklichen Verständnis des Gebildes […]. Das reflektierende Verhalten zum Kunstwerk, möchte ich sagen, ist zunächst einmal gar nicht ein der Kunst fremdes, von außen hereinkommendes, also ein im eigentlichen Sinn philosophisches Verhalten. Nicht erst die Philosophie der Kunst bewirkt eine solche Reflexion, sondern der Mitvollzug des Kunstwerks selber. Das heißt: Dieses im Kunstwerk Drinsein, dieses das Kunstwerk Mitvollziehen, erfordert bereits immer, daß Sie über seine bloße Unmittelbarkeit hinausgehen und der Momente des Kunstwerks sich bewußt werden, die Ihnen als sinnliche nicht unmittelbar gegenwärtig sind. Und Sie können daran bereits das erkennen, was ich von den verschiedenen Gesichtspunkten her immer wieder Ihnen klarzumachen suche: daß nämlich der herkömmliche Begriff des Kunstwerks als eines bloß Anschaulichen nicht ganz zureicht, sondern Sie Kunstwerke nur ganz erfahren können – wenn ich es einmal zugespitzt sagen soll –, indem Sie sie nicht nur anschauen, sondern wenn Sie sie immer zugleich auch mitdenken; eben deshalb, weil in dem spezifischen Gehalt des Kunstwerks dieses Moment des Gedachten, des Vermittelten, notwendig enthalten ist, was Sie im übrigen nach dem, was ich Ihnen bereits zu entwickeln versucht habe, um so weniger zu erstaunen und zu schockieren braucht, als wir ja einen Begriff vom Kunstwerk, so hoffe ich wenigestens, als eines wesentlich Geistigen uns erarbeitet haben. Der Gehalt eines Kunstwerks ist, so kann man diese Überlegungen bündeln, (i) in sich vermittelt, da er die Relationen der reziprok einander bestimmenden Elemente bezeichnet, (ii) in sich prozessual, da diese Relationen und reziproken Bestimmungen nicht von einem sie regierenden Schema vorgängig fixiert werden, und (iii) ist der Gehalt niemals definitiv und final bestimmbar, sondern er bleibt den wechselnden Kollektiven von Rezipientinnen entzogen – ›unanschaulich‹ und ›unsinnlich‹ – und entlässt so eine Pluralität von Deutungen aus sich. Dabei ist Gehalt des Kunstwerks als solcher zwar bestimmt, vom Rezipienten ebensowenig wie von der Künstlerin selber aber nicht bestimmbar. Die Elemente sind schließlich durchaus in eine materiell fixierte Anordnung gebracht, sind konfigurativ fixiert: ein Film oder ein Drama ist eine festgelegte Sequenz von Szenen oder Episoden, ein literarischer Text oder ein Gedicht eine fixe Konstellation von Wörter, Sätzen oder Kapiteln usw. Das Kunstwerk ist durch eine Eigengesetzlichkeit geprägt, durch eine innere Notwendigkeit, die Elemente so und nicht anders anzuordnen, die Adorno Formgesetz nennt. Diese immanente Gesetzlichkeit ist leitend beim Prozess der Entstehung des Werks; es ist der Faden, an dem entlang die Künstlerin die einzelnen Akte, die mitsammen die Erschaffung des Werks gebildet haben, vollzogen hat. Nur ist dieser Faden dem Künstler als Produzent ebensowenig wie als Rezipient des eigenen Werks durch und durch bewusst und reflexiv verfügbar; und das nämliche gilt für den Rezipienten im eigentlichen Sinne, den
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unbeteiligten Zuschauer. Die im Vergleich zu der Vielzahl sonstiger Belegstellen klarste, nachvollziehbarste und pointierteste Bestimmung dieses Begriffs findet sich abermals in Adornos Ästhetikvorlesung von 1958 (ebd.: 329f.): Und das, was man nun etwa die Bestimmtheit des Kunstwerks als eines Ganzen im Gegensatz zu der Bestimmtheit der einzelnen Momente nennen könnte […], das ist, daß diese einzelnen Momente in eine bestimmte Art von Synthesis ihrerseits treten, aber nun nicht eben in die Art von Synthesis, wie wir sie von den einfachen, kognitiven Erkenntnisakten her gewohnt sind – also in die Synthesis des Urteils mit Prädikat und Subjekt und Kopula –, sondern in eine Synthesis, die diese verschiedenen Schichten und diese verschiedenen Momente miteinander verbindet, in einen Zusammenhang setzt kraft des Formgesetzes, das dem Kunstwerk eigentümlich ist. Es gibt also ein »je eigene[s] Formgesetz« (ebd.: 208), eine charakteristische Geprägtheit eines jeden singulären Werks. Dabei ist das Formgesetz, wie erwähnt, verborgen, und der Künstler setzt das Kunstwerk nicht völlig spontan aus sich heraus, er orientiert seine einzelnen Schaffensvollzüge nicht an einem vorgängig entworfenen Plan, sondern er muss im »Produktionsprozeß selber immer bereits einer Objektivität nachkommen« und handelt »nach einem Gesetz, das als solches uns gar nicht gegenwärtig ist, das aber trotzdem jenen Charakter der Nötigung in höchstem Grade besitzt, den Kant zufolge das Gesetz eben überhaupt hat. Jeder seiner selbst bewußte Künstler weiß, wie sehr er gehorcht.« (Ebd.: 339) Der Künstler verhält sich ›seinem‹ Werk gegenüber »als dessen Vollzugsorgan, als einer, der dem gehorcht, was die Sache von ihm will.« (16/17) Und für die Rezipientinnen gilt dies im selben Maße. Für die Spezifikation der verborgenen Gesetzlichkeit, die im Kunstwerk nun vor den Augen des Rezipienten waltet, stützt sich Adorno ebenso rekurrent auf Kant (vgl. VLÄsth68: 81). »Näher dem gegenwärtigen Stand« der Kunst, heißt es in der Ästhetischen Theorie (7/511), sei »jene Kantische Theorie, welche trachtete, in der Ästhetik das Bewußtsein des Notwendigen und das von dessen Verstelltheit zu verbinden. Ihr Gang ist gleichsam blind. Sie tastet im Dunklen und wird dennoch geleitet von einem Zwang in dem, worauf sie sich richtet.« Worauf Adorno in solchen Formulierungen besonders abstellt, ist die präzise Beschreibung einerseits der Produktion und andererseits der Rezeption von Kunst als paradoxaler Gleichzeitigkeit von Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit. Die Künstlerin tut etwas, die Rezipientin verlegt sich aktiv darauf, zu verstehen, was vor sich geht – aber beide sind vielmehr einer Disziplin, einer Notwendigkeit unterworfen, die der einen Vollzüge der Erzeugung und der anderen Vollzüge der Deutung diktiert. Nicht von ungefähr spricht er darum häufig – das hatte ich bereits hie und da zitiert – vom ›Mitvollziehen‹ des Werks. »Ein Kunstwerk verstehen«, sagt er (VLÄsth58: 199), »das heißt eben nicht, verstehen, was sozusagen dahintersteckt, was das Kunstwerk bedeutet, sondern das Kunst-
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werk selbst verstehen, so wie es ist, also die Logik verstehen, die von einem Akkord zum anderen, von einer Farbe zur anderen, von einem Vers zum anderen führt«. Aber dieser Prozess resultiert wiederum nicht in einer definitiven Aussage oder einem abschließenden Urteil. Im jeweils singulären Rezeptionsprozess konstellieren sich die Momente auf verschiedenerlei Weise, und keine solche Konstellation trifft den Gehalt des Werks, keine ist Auflösung des ›Rätselcharakters‹: je mehr man sich der Kunst »im Vollzug überläßt, um so besser versteht man sie dann, vollzieht also ihren Sinnzusammenhang, und das heißt eben: dem Kunstwerk folgen, nicht aber erraten, was es meint.« (Ebd.) Diese Paradoxie einer willkürlichen Unwillkürlichkeit und eines Folgeleistens, das etwas folgt, welches es gar nicht zu beschreiben vermag, ist für also für die Produktion und Rezeption gleichermaßen kennzeichnend. Adorno hat sie nirgendwo sonst als in Kriterien der neuen Musik, einem weiteren wichtigen Text in Fragen der Kunstrezeption und -kritik, so pointiert formuliert.13 Abschließend sei darum diese Passage (16/173f.) zu Kant für die Erläuterung der Formgesetzlichkeit des Kunstwerks zitiert: Er lehrt, das Geschmacksurteil besitze den Charakter einer subjektiven Allgemeinheit, ja eine Art von ›Nötigung‹. Das ästhetische Urteil tritt auf, als folgte es einer Regel, als stünde das Denken dabei unter einem Gesetz. Aber das Gesetz, die Regel selbst, deren Idee das künstlerische Urteil mit sich führt, ist, dürfte man den Gedanken von Kant ein wenig paraphrasieren, nicht gegeben sondern unbekannt; geurteilt wird wie im Dunkeln und gleichwohl mit dem gegründeten Bewußtsein von Objektivität. Nicht viel anders als mit solcher Paradoxie: der einer Erfahrung von Notwendigkeit, die Zug um Zug sich aufdrängt und doch auf kein durchsichtig Allgemeines sich berufen kann, wäre nach dem musikalischen Kriterium heute zu suchen. Eigentlich verfehlt man es bereits, wenn man, wie
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Die Parallelstelle aus der Vorlesung gleichen Namens, wie sie Adorno 1957 in Kranichstein gehalten hat und die jetzt in den Kranichsteiner Vorlesungen enthalten ist, lautet so: »Diese Regel ist uns unbekannt, und wir urteilen immer gleichsam im Dunkeln mit diesem Bewußtsein einer Objektivität, mit diesem Zwang einer Objektivität, ohne daß diese Regel als solche uns eigentlich gegenwärtig wäre. Ich möchte dabei nun an dieser Stelle wirklich an nichts anderes appellieren als an Ihre eigene Erfahrung, die Ihnen sagen wird, daß der Schein der ästhetischen Relativität, also der Schein der Beliebigkeit dessen, was geschieht, zergeht, sobald man die Werke selber überhaupt hereintritt. Aber die Objektivität der ästhetischen Urteile, die darf man sich dabei nicht als etwas Fertiges vorstellen, sondern die ist eigentlich selber etwas Lebendiges, sie ist ein Prozeß, man könnte beinahe sagen, sie ist die Reflexion des Werkes als eines Kraftfeldes; und um sie zu erlangen, dazu bedarf es nun allerdings des Einsatzes der gesamten eigenen subjektiven Erfahrung und nicht etwa deren Eliminierung durch abstrakte Normen.« (VLKranich: 243-245) Adorno kommt dann später noch zweifach (ebd.: 269, 274) darauf zurück.
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es doch der Sprache unvermeidlich ist, jene in die konkreten Monaden der Werke eingeschlossene Erfahrung des Zwanges auf allgemeine Begriffe bringt, also dort doch etwas wie Regeln aufstellt, wo gar keine Regeln sein können, sondern eine unendlich zarte und zerbrechliche Logik, eben eine von Tendenzen, keine handfesten Normen für das, was zu tun und zu lassen sei. (iii) Die doppelte Zeitlichkeit des Kunstwerks. Das Kunstwerk ist ein Strukturzusammenhang voneinander verschiedener, aber gleichwohl synthetisch aufeinander bezogener Elemente, der auch in seiner finalen Anordnung von Spannungen zwischen den Elementen durchzogen bleibt. Diese Spannungen gründen in der wechselseitigen, konstellativen Bestimmung aller einzelnen Elemente untereinander und münden so in einer immanenten Prozessualität des Kunstwerks. Diese Bestimmungen und Aspekte werden von Adorno terminologisch in den Begriffen Wahrheitsgehalt, Kraftfeld und Formgesetz verdichtet, weshalb wir uns ihnen im Vorangegangenen zugewandt haben. Hier möchte ich nun nur noch zwei Aspekte herausgreifen und etwas näher erläutern: zunächst (i) will ich nochmals verdeutlichen, dass mit der Werken der Kunst immanenten Zeitlichkeit und Prozessualität nicht die empirische Verlaufszeit gemeint ist, sondern von Adorno auch für zunächst statisch anmutende Kunst wie die Malerei geltend gemacht wird. Und (ii) abschließend soll es um den von Adorno selber nicht dezidiert herausgestellten, aber implizit in seinen Ausführungen enthaltenen Konnex zwischen innerer und äußerer Zeitlichkeit der Kunst gehen. Bevor man, was Adorno mit dieser dem Werk innewohnenden Temporalität meint, auf Zeitkünste wie Musik, Drama, Tanz usw. verengt, sollte man nicht übersehen, dass Adornos eigene Ausführungen sich nicht spezifisch auf eine der vielen Künste, sondern, ganz generell, auf die Kunst richten. Ob der Primat auf Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit liegt, ob näher oder ferner liegende Relationen zwischen den Elementen dominant sind und in welchem Verhältnis das Gewicht des ganzen Zusammenhangs und das der einzelnen Momente zueinander liegen, ist gewiss von Kunst zu Kunst und von Werk zu Werk verschieden. Schon von ihrer Form her ist die Musik relativ auf die Malerei wie die literarische Prosa relativ auf die Lyrik auf eine andere zeitliche Entfaltung angewiesen; sie bedürfen der Wahrnehmung in der Zeit über den trivialen Umstand hinaus, dass auch das Anschauen der Malerei und die Lektüre eines Gedichts eine minimale Dauer benötigt. Von Adorno ist aber weder diese Verlaufszeit des Werks noch die menschlicher Wahrnehmung eigene Dauer gemeint. Es ist recht deutlich, dass diese interne Zeitlichkeit mit der Dialektik von Ganzem und Teil oder auch von Geistigem und Sinnlichem verknüpft ist. Adorno schreibt in der Ästhetischen Theorie (7/266): Prozeß ist das Kunstwerk wesentlich im Verhältnis von Ganzem und Teilen. Weder auf das eine noch auf das andere Moment abzuziehen, ist dies Verhältnis seinerseits ein Werden. Was irgend am Kunstwerk Totalität heißen darf, ist nicht
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das all seine Teile integrierende Gefüge. Es bleibt auch in seiner Objektivation ein vermöge der in ihm wirksamen Tendenzen erst sich Herstellendes. […] Wo, nach dem Verdikt der Geschichte, die Einheit von Prozeß und Resultat nicht mehr gerät, wo zumal die Einzelmomente sich weigern, der wie immer auch latent vorgedachten Totalität sich anzubilden, zerreißt die aufklaffende Divergenz den Sinn. Ist das Kunstwerk in sich kein Festes, Endgültiges, sondern ein Bewegtes, dann teilt seine immanente Zeitlichkeit den Teilen und dem Ganzen darin sich mit, daß ihre Relation in der Zeit sich entfaltet […]. Leben Kunstwerke, vermöge ihres eigenen Prozeßcharakters, in der Geschichte, so können sie in dieser vergehen. Hier kündigt sich schon die doppelte Zeitlichkeit des Werks an: das Kunstwerk ist in sich ein Werden, etwas sich dynamisch erst Entfaltendes, und es wird darum auch äußerlich zu etwas je anderem. Der innere Sinn jedes einzelnen Elements konstituiert sich konstellativ jeweils anders, und von ihm aus erhalten auch die jeweils anderen Elemente einen gewandelten Sinn; und diese innere Dynamik speist eine äußerliche Dynamik der Interpretation des Werks. Es ist zweckmäßig, sich der Generalität dieser Bestimmungen Adornos an einem Text zu versichern, der als einziger ganz dezidiert das Verhältnis von Malerei und Musik adressiert, nämlich Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei von 1965. Dessen erste Seiten sind ausdrücklich der unterschiedlichen Art, wie beide Künste Zeit involvieren, gewidmet. Adorno handelt deswegen hier von einer »implizite[n] Bildzeit« (16/633) und damit von etwas, das sich genau mit dem vorgeschlagenen Verständnis der immanenten Prozessualität des Kunstwerks deckt. Auch Bilder sind, weil spannungsgeladen, immanent zeitlich. Und auch für sie erhebt sich darum an die ästhetische Erfahrung die Forderung, diese immanente Temporalität zu reaktivieren. Das macht Adorno in zwei Passagen recht unmissverstänlich klar. Er schreibt (ebd.: 631f.): Im Bild ist alles gleichzeitig. Seine Synthesis besteht darin, daß es das im Raum nebeneinander Seiende zusammenbringt, das formale Prinzip der Gleichzeitigkeit in die Struktur der bestimmten Einheit der Bildmomente umsetzt. Dieser Prozeß aber, als Prozeß in der Sache selbst und keineswegs bloß im Modus ihrer Hervorbringung, ist wesentlich einer von Spannungsverhältnissen. Fehlen diese, wollen nicht die Bildmomente auseinander, widersprechen sie sich nicht gar, so gibt es bloß vorkünstlerisches Zusammen, keine Synthesis. Spannung jedoch ist ohne das Moment des Zeitlichen schlechterdings nicht zu denken. Darum ist Zeit, jenseits der bei seiner Herstellung aufgewandten, dem Bild immanent. Nicht minder sind Objektivation und Ausgleich der Spannung im Bild sedimentierte Zeit. Im Kontext des Schematismuskapitels macht Kant darauf aufmerksam, daß noch zum reinen Akt des Denkens das Durchlaufen der Zeitreihe als notwendige Bedingung seiner Möglichkeit hinzugehöre, nicht erst zum empirischen Vollzug
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jenes Aktes. Je emphatischer ein Bild einsteht, desto mehr Zeit ist darin aufgespeichert. Adorno macht also selber auf eine naheliegende Fehlauffassung aufmerksam: keineswegs sei die Zeit gemeint, die eine Künstlerin bei der Erschaffung des Werks benötigt, sondern das Bild sei, noch als objektiviert Stillstehendes, selber intern zeitlich. Es bringt also in anderer Weise als die Musik die Momente in ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit, denn wir können das materielle Ganze eines Gemäldes uno actu erfassen. Aber diese Gleichzeitigkeit verdeckt eine unterirdische Ungleichzeitigkeit, weil wir bei der Erfahrung des Werks die Elemente voneinander absetzen und aufeinander beziehen, sie in ihrem Eigengewicht und in ihrer konstellativen Funktion wahrnehmen müssen. Deswegen spricht Adorno auch hier von einer dialektischen Dopplung: das Kunstwerk ist Einstand der Zeit, aber in diesem Einstand ist die Zeit aufgespeichert; es ist Ausgleich der Spannungen und zugleich ihr Erhalt. Das wird an der zweiten Passage (ebd.: 633) kurz darauf nochmals deutlicher, in der er über das Bild sagt: Seine vermeintlich apriorische Räumlichkeit ist keine solche allein, sondern immer zugleich Resultat: der absolute Raum des Bildes ein Zeitdifferential, der Augenblick, in dem das zeitlich Disparate sich konzentriert. Keine Gleichzeitigkeit ohne Zeit. Nähert heute, wie der Terminus écriture es anzeigt, Malerei sich der Schrift, so besagt das nichts anderes, als daß, wie alles Subkutane in der gegenwärtigen Kunst, die latente Zeitlichkeit im Bild durchschlägt; vielleicht weil das Bild ihr nicht länger gewachsen ist. […] Davon weiß bereits die adäquate Betrachtung eines Bildes, weit über die Trivialität hinaus, daß auch, was als absolut Räumliches an der Wand hängt, nur in zeitlicher Kontinuität wahrgenommen werden kann. Die angemessene Betrachtung des Bildes, in der das Verweilen vor ihm terminiert, erweckt, idealiter, die implizite Bildzeit. Als Konzentration der disparaten Elemente, als Weise, sie in eine räumliche Gleichzeitigkeit zu bringen, verdecken die Bilder die ihnen innewohnende latente Zeitlichkeit. Diese stellt sich in der ästhetischen Erfahrung dadurch wieder her, dass diese den Spannungen und dem Prozess wechselseitiger Um- und Neubestimmung aller einzelnen Elemente nachfährt. Gemeint ist damit nicht bloß die ›Trivialität‹, dass die Wahrnehmung nur in zeitlicher Kontinuität vonstatten gehen kann, sondern eben dasjenige Spezifischere, das uns durch Begriffe wie Deutung, Mikrologie, Kraftfeld usw. schon vertrauter geworden ist: die ›Erweckung‹ oder ›Verlebendigung‹ des implizit Zeitlichen.14 14
Ganz zu Beginn seiner letzten Vorlesungen zur Ästhetik formuliert Adorno (VLÄsth68: 3) das so: »Versucht man sich im Ernst dessen zu versichern, was Verständnis von Kunstwerken sei, so dürfte dem am nächsten kommen eine bestimmte Art von Mitvollzug: daß man bei einem Kunstwerk in einer bestimmten Weise ›mitmacht‹, daß man, indem man es wahrnimmt, es
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Aus dieser internen Heterogenität und Prozessualität speist sich nun für Adorno die äußere, externe Zeitlichkeit einander ablösender und miteinander eventuell im Konflikt liegender Interpretationen und Deutungen. Wenn man so will und ganz roh gefasst: das Kunstwerk bleibt ›im Kommen‹. Das schließt sich als Konsequenz im Grunde schon an den Rätselcharakter und an die konstitutive, tiefliegende Unverständlichkeit von Kunstwerken an, die man in der Rezeption von Adornos Werk häufig betont hat.15 Wenn diese Rätselhaftigkeit schließlich unauflöslich bleibt, kann es eben nur verschiedene Interpretationen, keine finale und definitive, geben. Mit der Konzentration auf den Zusammenhang interner und externer Zeitlichkeit will ich nur vorschlagen, diese argumentative Folgerung unter einem speziellen Gesichtspunkt und näher an Adornos eigenem Wortlaut zu ziehen. Diesen spezifisch verstandenen Konnex eines inneren und äußeren Werdens macht Adorno an zwei Stellen der Ästhetischen Theorie besonders klar. Er schreibt (7/288f.): Ist jedes Werk Einstand, so vermag ein jedes abermals in Bewegung zu geraten. […] Die Entfaltung der Werke ist das Nachleben ihrer immanten Dynamik. […] Werden aber die fertigen Werke erst, was sie sind, weil ihr Sein ein Werden ist, so sind sie ihrerseits auf Formen verwiesen, in denen jener Prozeß sich kristallisiert: Interpretation, Kommentar, Kritik. Sie sind nicht bloß an die Werke von denen herangebracht, die mit ihnen sich beschäftigen, sondern der Schauplatz der geschichtlichen Bewegung der Werke an sich und darum Formen eigenen Rechts. Und nach der sehr ähnlich lautenden Passage in der früheren Fassung der Einleitung sind Kunstwerke »nicht zeitlos sich selbst gleich, sondern werden zu dem, was sie sind, weil ihr eigenes Sein ein Werden ist«, sie »zitieren […] Formen des Geistes herbei, durch welche jenes Werden sich vollzieht, wie Kommentar und Kritik. […] Der Wahrheitsgehalt eines Werkes bedarf der Philosophie. In ihm erst konvergiert
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noch einmal produziert. Mehr aber als das Mitvollziehen eines Zeitverlaufs meine ich das Aufspüren des dynamischen Verhältnisses, etwa einer Grafik. Eine Grafik verstehen, so könnte man sagen, heißt, die Linien zu ihrem Leben, ihrer Dynamik erwecken heißt [sic!], sie noch einmal zu vollziehen, die als ein Geronnenes vor uns liegen.« Man sieht hieran sehr gut den Zusammenhang zwischen dem Gebot des Mitvollziehens und der Verlebendigung des Geronnenen als Zielpunkt der ästhetischen Erfahrung. Diese Verbindung zwischen dem so zentralen Motiv des Rätselcharakters und der bleibenden Notwendigkeit, das Kunstwerk mittels Kritik und Interpretation zu enträtseln, hat Adorno selber einmal in der Ästhetikvorlesung von 1958 gezogen: »Aber wenn die Kunst wirklich diesen Rätselcharakter in sich selbst hat, von dem ich Ihnen dann ausführlich reden will, dann bedürfen allerdings – und diesem Gedanken möchte ich sehr nachdrücklich an den Anfang der Vorlesung stellen – die Kunstwerke selbst, um ihrer eigenen Entfaltung, um ihres eigenen Lebens willen, eben des Kommentars und der Kritik.« (VLÄsth58: 34f.)
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dieses mit der Kunst oder erlischt in ihr. Die Bahn dorthin ist die der reflektierten Immanenz der Werke, nicht die auswendige Applikation von Philosophemen.« (Ebd.: 507) Die Werke haben also ein, wie Adorno mit implizitem Verweis auf Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers sagt, ›Nach-‹ oder ›Fortleben‹.16 Dieses vermögen sie allerdings nicht aus sich selbst heraus zu bewerkstelligen oder zu steuern, sondern sie bedürfen dazu eines ihnen Äußeren, und das charakterisiert Adorno hier wie auch an einigen anderen Stellen immer in dieser Reihung als ›Interpretation, Kommentar, Kritik‹17 ; diese sind der ›Schauplatz der geschichtlichen Bewegung der Werke‹. Worauf ich aber besonders das Augenmerk legen will, ist die Formulierung, wonach Kunstwerke von einer ›immanenten Dynamik‹ gekennzeichnet seien und ihr ›Sein ein Werden‹ ist. Wenn Adorno andernorts sagt: »Kunstwerke selber sind ein Prozeß, und sie entfalten ihr Wesen in der Zeit. Es ist prozessual. Medien dieser Kunstentfaltung sind Kommentar und Kritik« (19/575) – dann möchte ich das in genau dem vorgeschlagenen Sinne verstehen: Kunstwerke sind nicht ihrer Hervorbringung oder ihrem Ablauf nach, auch nicht nach der empirisch für den Akt der Rezeption erforderlichen Dauer zeitlich. Sondern innerlich zeitlich sind sie wegen der ihnen innewohnenden Spannungen, die es mit sich bringen, dass die Werke sich nicht auf einen fixierbaren Inhalt und ihre einzelne Elemente nicht auf einen stillgestellten Stellenwert reduzieren lassen. Weil die ästhetische – oder: die geistige – Erfahrung dieser inneren Komplexität der Werke Rechnung zu tragen vermag, kann sie genau diese Prozessualität in sich nachbilden. Sie mündet dann aber ihrerseits auch nicht in einer definiten Aussage, einem umgrenzten Resultat. Wenn sie für die Dauer der Erfahrung des Werks lediglich antritt, um dessen immanente Spannungen und Prozesse auszutragen und hervorzukehren, dann ist sie Verstehen imgleichen wie Nichtverstehen des Werks – sie ist ein Zugang zum Kunstwerk, der seinem Rätselcharakter, seinem Sichentziehen und Im-Kommen-Bleiben eingedenk bleibt.
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Benjamin spricht dort, ohne terminologisch durchgehende Differenzierung, von Nach-, Überund Fortleben eines Kunstwerks. Ihm selber geht es aber, jedenfalls in diesem Text, nicht um das Fortleben durch Interpretation und Kritik des Werks, sondern um seine Wandlung durch und in Übersetzungen. Er schreibt (Benjamin 1972: 12f.): »[I]n seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte. Was zur Zeit eines Autors Tendenz seiner dichterischen Sprache gewesen sein mag kann später erledigt sein, immanente Tendenzen vermögen neu aus dem Geformten sich zu erheben.« Vgl. für diese immer charakteristisch ähnlich lautenden Stellen 7/448; VLÄsth58: 205, 220f.; Adorno 2001: 78.
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5.3 Am Ende: Dekonstruktion und geistige Erfahrung Vorhin haben wir von der Dekonstruktion gesprochen, aber für mich ist das Wort Dekonstruktion kein Herrscher-Wort (maîtremot). Ich habe mich seiner vor 20 Jahren in der Annahme bedient, daß das Wort von anderen Wörtern abgelöst und nicht zum Oberbegriff für alle anderen werden würde. Die Rezeption meiner Texte hat das bewirkt, aber ich habe das nicht beabsichtigt. Es gibt in meinen Texten viele andere Wörter und Begriffe, die in meinen Augen dieselbe Notwendigkeit besitzen. Wenn die Dekonstruktion in den Augen anderer eine Philosophie oder eine Methode wird, ist das nicht meine Schuld, sondern die Schuld der Leser. – Derrida: Gespräch mit Florian Rötzer (Derrida 1987a: 85) In diesem letzten Abschnitt der vorliegenden Studie möchte ich noch einmal auf ein Thema zu sprechen kommen, das uns wieder etwas weiter aus Adornos Werk und der Befassung mit der ›geistigen Erfahrung‹ hinausführt. Ich will ein mögliches Verständnis der ›Dekonstruktion‹ sondieren, das in einer gewissen Nähe zu dieser Erfahrungsform liegt. Damit soll nicht angestrebt sein, beides zur Deckung zu bringen; so als wäre die Form der geistigen Erfahrung dasjenige, was Derrida selbst eigentlich im Blick hatte, als er begann, von ›Dekonstruktion‹ zu sprechen. Vielmehr soll nur eine Lesart vorgestellt werden, die eine gewisse Nähe aufscheinen lässt. Im Zuge dessen werden wir vielleicht auch ein besseres Verständnis des Begriffs der Dekonstruktion erlangen. Nimmt man Derridas verschiedene Einlassungen zu diesem Begriff in den Blick, vor allem die in späteren Vorträgen und Gesprächen, so kann man darin schon eine gewisse Distanz, einen von Vorbehaltenen getragenen Duktus erkennen – ›Dekonstruktion‹ war ein Wort, das Derrida explizit »niemals gemocht« und dessen Schicksal ihn »unangenehm überrascht« hat (Derrida 1997b: 32). Das tangiert dann auch die Frage, ob es ratsam ist, Derridas ›Werk‹ nun gerade unter diesen Begriff als dessen Obertitel oder zusammenspannende Klammer zu stellen. Der Begriff selber wurde und wird außerhalb von Derridas Werk und innerhalb wie außerhalb akademischer Diskussionskontexte recht freimütig und unbekümmert um seine eventuelle theoretische Komplexität gebraucht. Man verwendet das Wort ›Dekonstruktion‹ einfach so und – freut sich an seinen komplizierten Obertönen und ein bisschen auch an sich selbst. Zumeist wird der Begriff verwendet ohne terminologische Präzisierung und auch ohne Rekurs auf Derridas eigene Ausführungen, und das mag erklären, dass er eine spezifische, enggeführt politische Aufladung gewinnen konnte. Zwar besitzt er auch in Derridas Texten bisweilen eine ›politische‹, ›gesellschaftskritische‹ Note, aber inzwischen erscheint er ganz wesentlich vor allem mit der ›Dekonstruktion‹ zweier gesellschaftlich konventionalisierter Unterscheidungen verknüpft zu sein, nämlich der von Kultur und Natur
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– oder Mensch und Tier – und der von Männlichkeit und Weiblichkeit, während er in den neunziger Jahren noch beispielweise das Sampeln, das Zerschneiden und Neuzusammensetzen im Bereich elektronischer Musik beschreiben konnte. Es ist nicht ganz klar, wie genau das Ereignis, der Vorgang oder die Operation der Dekonstruktion in diesen Zusammenhängen genau beschaffen sein soll; oft scheint sie einfach mit ›Kritik‹, ›Hinterfragen‹ oder ›Destabilisieren‹ ineins zu fallen.18 Aber wenn Derrida uns mit diesem seltsamen Wort lediglich habe mitteilen wollen, solche Unterscheidungen seien kulturell und in einem langen historischen Prozess etabliert worden und dadurch veränderlich, warum hat er so viele Texte geschrieben, die sich genau darum gar nicht drehen? Weshalb hat er nicht einfach ganz lax von ›Kritik‹ oder ähnlichem gesprochen? Und was soll es heißen, Derridas Werk sei die oder er sei der ›Gründer‹ der ›Dekonstruktion‹, wenn der Begriff in den meisten dieser Texte gar nicht auftaucht? Hat Derrida denn selber ›performativ‹ – mit dem Schreiben oder dem Veröffentlichen seiner Texte? – etwas ›dekonstruiert‹, oder hat er nur über die ›Dekonstruktion‹ geschrieben? Solche Fragen könnte man sich stellen, aber es wäre Zeichen akademischer Arroganz, die gewöhnliche Verwendung des Begriffs durch derlei sprachpolizeiliche Maßnahmen regeln zu wollen. Auch dieser Begriff untersteht schließlich dem »Gesetz[] der Wiederholbarkeit« (Derrida 2000d: 27) und kann seines ›ursprünglichen‹ Verwendungskontexts entrissen werden. Allein für die fachliche Diskussion kann es angeraten scheinen, sich solche Fragen einmal vorzulegen. Überdies sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Derridas eigene Verwendung und Definition des Begriffs unübersehbar schwankt; die Dekonstruktion kann auch in seinem Werk allerlei Verschiedenes bedeuten. Wogegen er sich allerdings durchgehend recht deutlich ausspricht, ist (i) gerade das am weitesten verbreitete Verständnis der Dekonstruktion als Methode. Früher, heute nicht mehr so sehr, hat man häufig gemeint, etwas zu dekonstruieren bedeute, gut intellektualistisch, etwas zu lesen – aber nicht einfach so ›lesen‹ wie Hinz und Kunz, sondern ein ›close reading‹ zu betreiben, Inkonsistenzen und Widersprüche zu detektieren, subkutane Bedeutungen zu dechiffrieren, ›Randinschriften‹ anzubringen und derlei mehr. Aber liest man verschiedene Texte Derridas, ist nicht immer sicher, ob er stets ein solches ›close reading‹ betreibt. Und man wird auch erwarten dürfen, dass präzises Lesen und die Aufmerksamkeit etwa für den disparaten Gebrauch von Begriffen in theoretischen Texten eine ganz gewöhnliche akademische Aufgabe ist und, weil sie seit Jahr und Tag auch mancherorts so betrieben wird, keines derart auftrumpfenden Begriffs bedarf. Überhaupt ist diese
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Das betrifft auch das von Luhmann in systemtheoretische ›Kreise‹ eingeführte Verständnis der Dekonstruktion als ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ (Luhmann 1995a). Das bedeutet letztlich ja nicht mehr, als dass die Beobachtung oder Unterscheidung erster Ordnung dadurch als kontingent reflektiert wird.
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Lesart unvereinbar mit den vor allem in den späteren Texten Derridas dominanter werdenden Motiven, die sich kritisch zu Themen und Begriffen wie Souveränität, Herrschaft, Können usw. verhalten. Auf nur einer Seite seines Briefs an einen japanischen Freund (Derrida 2013: 19) werden darum die Lesarten der Dekonstruktion als ›Analyse‹, ›Kritik‹, ›Methode‹ und als ›Akt‹ oder ›Operation‹ sämtlich von Derrida abgewiesen. Denn die Analyse suggeriert eine Zerlegung in isolierbare, rein selbstgenügsame Elemente, das krinein der Kritik eine Unterscheidung in homogene Entitäten oder Bereiche, der Akt oder die Operation eine herrschaftliche, überwältigende Aktivität.19 Reinheit, Homogenität und aktivische Beherrschung sind aber gerade Werte, die Derrida ›dekonstruktiv‹ untersucht hat. Und das nämliche gilt für die Dekonstruktion als ›Methode‹, ein Verständnis, das Derrida selber (ebd.) auf eine fehlgeleitete Rezeption in der Literaturwissenschaft der USA zurückführt: Die Dekonstruktion ist keine Methode und kann auch nicht in eine Methode verwandelt werden. Insbesondere dann nicht, wenn der Akzent auf der prozeduralen oder technischen Bedeutung dieses Wortes liegt. Es ist wahr, daß die technische und methodologische ›Metapher‹, die mit dem Wort ›Dekonstruktion‹ selbst notwendig verbunden zu sein scheint, in bestimmten – universitären oder kulturellen – Milieus (ich denke vor allem an die Vereinigten Staaten) verführerisch wirken oder in die Irre führen konnte. Das ist der Grund für die Debatte, die sich in ebendiesen Milieus entwickelte: Kann die Dekonstruktion zu einer Methodologie des Lesens und des Interpretierens werden? Wenn aber die Dekonstruktion keine Methode ist – was ist sie dann? Und wie war Derrida selber an dem, was sich als Dekonstruktion abgespielt haben mag, betei19
Die Distanzierung von Dekonstruktion und Kritik nimmt Derrida im Übrigen recht häufig vor. Vgl. Derrida 2006d: 203f. Fn. 39; Derrida 1997: 42f.; Derrida 2000: 35; Derrida 2001: 12f.; Derrida 2004: 222; Derrida 1998h: 38. Die pointierteste Stelle findet sich in einem späten Gespräch mit Antoine Spire von 2000, in dem Derrida sagt (Derrida 2006i: 342): »Ja, ich akzeptiere den Ausdruck Hyperanalyse. Aus zwei Gründen. Zunächst einmal muß die Analyse soweit wie möglich getrieben werden, unbegrenzt und unbedingt. Zum zweiten muß man aber auch über die Analyse selbst hinausgehen, die, wir ihr Name bereits andeutet, den Rückgang zu einem letzten Prinzip, einem einfachen und unteilbaren Element voraussetzt. Nun besteht aber eines der Gesetze, denen sich die Dekonstruktion unterwirft und mit dessen Kenntnisnahme sie beginnt, darin, daß es am Ursprung (einem Ursprung ohne Ursprung also) nichts Einfaches gibt, sondern eine Komposition, eine Kontamination, zumindest die Möglichkeit einer Aufpropfung und einer Wiederholung. All dies widersteht der Analyse, während es sie gleichzeitig in Bewegung setzt. Daher ist die Dekonstruktionsoperation nicht nur analytisch oder nur kritisch (kritisch heißt in der Lage zu sein, zwischen zwei einfachen Termini zu unterscheiden), sondern trans-analytisch, ultra-analytisch und mehr als kritisch. Die Kritik, die Notwendigkeit der Kritik, des krinein und der Krise (Krisis) hat eine Geschichte. Die Dekonstruktion dieser Geschichte […] kann nicht einfach ›kritisch‹ sein, weder im Kantischen noch im Marxschen Sinne des Wortes […].«
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ligt? Die Antwort, die Derrida zur Richtigstellung meistens gibt, haben wir bereits einmal kurz näher besehen: die Dekonstruktion ist (ii) ein Ereignis, ein inventives Ereignis, das etwas Anderes und Neues heraufführt nämlich. »Die Dekonstruktion hat Statt, sie ist ein Ereignis (événement), das nicht erst auf die Überlegung, das Bewußtsein oder die Organisation des Subjekts, nicht einmal der Moderne, wartet.« (Ebd.: 20) Sie ist »das, was geschieht.« (Derrida 2001: 73) Diese Interpretationsweise ist mit zwei für Derridas Werk wesentlichen argumentativen Bewegungen verbunden: dem Begriff der Iterabilität – Wiederholung und Methodisierung imgleichen wie Alteration und Singularisierung – zum einen und der Problematisierung des mit dem ›Subjekt‹ verbundenen Willens zur Beherrschung zum anderen. »Dekonstruktion ist nicht ›möglich‹, wenn ›möglich‹ heißt, so zu arbeiten wie ein technisches Instrument funktioniert oder einem Programm gehorcht«, sagt er im Gespräch Politik und Freundschaft (Derrida 1994e: 154). »Dekonstruktion ist nicht möglich in jemandes (oder einer Gruppe, eines Diskurses, einer Institution) Beherrschung einer Methodologie oder Technik, die angewandt wird, um etwas geschehen zu lassen.« Etwas zu dekonstruieren – das heißt, etwas Unmögliches tun, das weder reduzibel auf die Vermögen und Techniken eines Subjekts ist noch, als Singuläres, von anderen Subjekten als Technik wiederholbar. Deswegen – einmal angenommen, Derridas Texte seien Beispiele der ›Dekonstruktion‹ – sind die methodischen Leitfäden oder Regeln, die sich aus seinem Werk herausziehen lassen, zugleich iterabel und nicht iterabel, imitierbar und nicht imitierbar. »Ich denke«, sagt er im Gespräch mit Didier Cahen 1986, »es gibt in dem von mir Geschriebenen auch allgemeine Regeln und Verfahren, die man durch Analogie übertragen kann – und das versteht man unter Lehre, Wissen und Anwendungen –, diese Regeln sind aber in einen Text einbezogen, dessen Element immer singulär ist und sich darin nicht gänzlich methodisieren läßt. Tatsächlich ist diese Singularität nicht absolut rein, aber sie existiert.« (Derrida 1998c: 213) Oder, nochmal anders, im Gespräch mit Florian Rötzer 1987 (Derrida 1987a: 70f.): Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. […] Ich würde nicht sagen, daß sich die Dekonstruktion im allgemeinen lehren läßt, aber sie kann einen gewissen Unterricht erlauben und Regeln hervorbringen, die sich weitergeben lassen. Die Dekonstruktion ist also nicht einfach eine Methode der Lektüre von Texten im engen Sinne. Bei mir setzt die Dekonstruktion die Änderung der Begriffe Text und Schrift (écriture) voraus. Was ich Text nenne, ist nicht mehr einfach das Buch in einer Bibliothek. Ich habe aus strategischen Gründen, weil mir das in einer bestimmten Situaton notwendig erschien, den Begriff des Textes verallgemeinert
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und als Text ebenso eine Institution wie eine politische Situation, einen Körper, einen Tanz usw. bezeichnet, was offenbar zu vielen Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, denn man hat mich beschuldigt, alles zu textualisieren, die ganze Welt in ein Buch zu stecken, was offensichtlich absurd ist. Die Dekonstruktion als Erfindung oder Ereignis ist also verknüpft mit der aporetischen Bezogenheit von Singularität und Wiederholbarkeit und Unmöglichem und Möglichem aufeinander; in welche Komplikationen dies führen kann, haben wir ausführlich analysiert. Und sie betrifft, das können wir nun dieser längeren Passage entnehmen, nicht allein ›Texte‹ im herkömmlichen Sinne. Das Verständnis der Dekonstruktion als Lektürepraktik unterliegt also gleich zwei schweren, schon in den achtziger Jahren eigentlich unhaltbaren Missverständnissen, denn weder ist sie eine Methode noch geht es ihr bloß darum, Bücher anders – oder ›kritisch‹ – zu lesen. Aber nun gut: wenn die Dekonstruktion ein Ereignis ist – welche Ereignisse sind dann eigentlich dekonstruktiver Art? Sind denn all diejenigen Begebnisse, die Derrida mit seinem komplizierten und besondere Charakteristika involvierenden Begriff des Ereignisses belegt, Instantiierungen der Dekonstruktion? Befragt man Derridas Texte daraufhin genauer, so hat es den Anschein, als gebe es allerorten dekonstruktive Ereignisse. Denn ›die‹ Dekonstruktion hatte schon lange begonnen, bevor er sein ›philosophisches‹ Projekt aufnahm. Überhaupt: es gibt nicht ›die‹ Dekonstruktion, sondern nur vielfältige Dekonstruktionen. »Dekonstruktion geschieht [ça arrive]«, sagt er im langen Gespräch Politik und Freundschaft (Derrida 1994e: 155), »und sie geschah bereits im Diskurs Platons, in anderer Form, mit anderen Worten vielleicht, aber es gab bereits eine Inadäquation, eine gewisse Unfähigkeit, sich abzuschließen, sich zu formen, sich auf den Begriff zu bringen, die dekonstruktiver Natur war. Wenn sie also immer und überall am Werk gewesen ist – zumal in den großen philosophischen Diskursen –, warum sucht sie sich dann heute auf den Begriff zu bringen und zu thematisieren, sich gleichfalls zu benennen, ohne dies jedoch tun zu können?« Dekonstruktive Ereignisse sind also ›am Werk‹, beispielhaft in den philosophischen Diskursen, und Derrida fragt sich selber eigentlich, »was heute geschieht (se passe), in unserer Welt und in der ›Moderne‹, in dem Moment, da die Dekonstruktion mit ihrem Wort, ihren bevorzugten Themen, ihrer mobilen Strategie und so weiter, zu einem Motiv wird.« (Derrida 2013: 20) Man kann sagen – und das ist die dritte Interpretationsmöglichkeit –, dass (iii) die Dekonstruktion sich immer dort ereignet, wo destabilisierende, desedimentierende, man kann auch sagen: genealogische oder anamnestische Ereignisse vor sich gehen. Denn »bevor sie zu einem Diskurs, zu einer organisierten Praxis wird, die einer Philosophie, einer Theorie, einer Methode ähnelt, die sie nicht ist und die diese instabilen Stabilitäten oder diese Destabilisierung behandelt, die sie zu ihrem
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Hauptthema erklärt, ist die ›Dekonstruktion‹ zunächst diese Destabilisierung, die sozusagen ›in den Dingen selbst‹ stattfindet« (Derrida 2001b: 227) Was sich in diesen Ereignissen begibt, sind also Destabilisierungen sedimentierter begrifflicher Strukturen; dasjenige Ensemble von Begriffen, das Derrida in der Frühphase seines Werks als ›Metaphysik der Präsenz‹ angesprochen hat, war dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Die Dekonstruktion erhält hier also eine insbesondere geschichtliche Dimension. »Dekonstruktion ruft nach einer Einstellung, die in hohem Maße die eines Historikers ist (die ›Grammatologie‹ zum Beispiel ist ein Geschichtsbuch durch und durch)« (Derrida 2015: 26), die Philosophie beispielsweise zu »›dekonstruieren‹ bestünde demnach darin, die strukturierte Genealogie ihrer Begriffe« (Derrida 2009b: 27) zu erstellen. Die Dekonstruktion als desedimentierendes oder genealogisches Ereignis kann sich also, wie wir hier schon sehen, einerseits von sich selber aus zutragen, andererseits kann es dennoch die Form einer mehr oder weniger geregelten, methodisierten Praxis annehmen. Das ist eine Zweideutigkeit, die Derrida nicht ausräumt. Als eine solcherart verfahrende Praxis, die darin besteht, »Strukturen auseinanderzunehmen (défaire), zu zerlegen (décomposer) oder zu desedimentieren/in ihren Ablagerungen abzutragen (désédimenter)« (Derrida 2013: 18), taucht die Dekonstruktion schon in der Grammatologie (Derrida 1983: 23f.) und danach an verschiedenen Stellen auf (Derrida 1998j: 163; Derrida 1976d: 303; mit Vorbehalten Derrida 2006d: 203 Fn. 39). Sie ist in diesem frühen Stadium der Werkentwicklung verknüpft mit dem damaligen strukturalistischen Kontext, und als am Beginn stehende Inspiration, überhaupt auf das Wort ›Dekonstruktion‹ zurückzugreifen, nennt Derrida mehrfach Heideggers und Luthers Begriff der ›Destruktion‹. Wenn man über die Auffassung der Dekonstruktion als desedimentierendes Ereignis näheren Aufschluss erbittet, muss man wohl, einmal mehr, auf den Begriff der Iterabilität zurückgreifen. Denn diesem folgend sind etwa soziale Konventionen, sprachliche Strukturen und begriffliche Sedimentierungen nur insoweit gegeben und stabilisierbar, als sie auf einem Prozess der Wiederholung aufruhen, in dem sie sich ›ablagern‹. Da dieser aber zugleich eine immer mitlaufende minimale Alteration sowie überdies die Möglichkeit eines radikalen Wandels impliziert, sind Sedimentierung und Stabilisierung immer von ihnen gegenläufigen Prozessen bedroht. Und dies kann dann tatsächlich als von ›allein‹ geschehend konzeptualisiert werden; es bedarf hier keiner dekonstruierenden Autorin, Instanz oder Methode. Die ›Dekonstruktion‹ kann dann auch recht simpel konzipiert werden – etwa so, wie es Derrida in seinen Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus (Derrida 1999a: 185f.) einmal formuliert hat: Alles was man von einem dekonstruktivistischen Standpunkt versucht zu zeigen, ist, daß Konventionen, Institutionen und der Konsens Stabilisierungen sind (manchmal lang andauernde Stabilisierungen, manchmal Mikrostabilisierun-
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gen), das heißt, daß sie Stabilisierungen von etwas grundsätzlich Instabilem und Chaotischem sind. Folglich wird es genau aus dem Grund notwendig zu stabilisieren, weil die Stabilität nichts Natürliches ist; weil es eine Instabilität gibt wird die Stabilisierung notwendig; weil es da Chaos gibt, gibt es die Notwendigkeit der Stabilisierung. Nun sind dieses Chaos und diese Instabilität, die fundamental, grundlegend und irreduzibel sind, zugleich das Schlimmste, wogegen wir uns mit Gesetzen, Regeln, Konventionen, Politik und provisorischer Hegemonie wehren, ebenso aber auch eine Chance, eine Chance eines Wandels, eine Chance zu destabilisieren. Gäbe es eine kontinuierliche Stabilität, dann gäbe es keine Notwendigkeit für Politik, und insoweit die Stabilität nicht natürlich, essentiell oder substantiell ist, existiert Politik und wird Ethik möglich. Chaos ist zugleich Risiko und Chance, und an dieser Stelle überschneiden sich Mögliches und Unmögliches wechselseitig. Die Dekonstruktion gerät dann zwar in die Gefahr, ein bloßes, etwas hochtrabend geratenes Synonym für ›Wandel‹ zu werden, aber sie so zu beschreiben, scheint mir eine zwingende Konsequenz aus der Annahme zu sein, sie gehe als Ereignis schon ›in den Dingen selbst‹ vor sich. Gleichwohl hat sie, als Set theoretischer Annahmen, es auch dann noch für sich, diesem faktischen Wandel und dieser grundlegenden Wandelbarkeit mittels des Begriffs der Iterabilität besonders minutiös Rechnung tragen zu können. Allerdings schließt sich (iv) nun noch eine weitere Lesart der Dekonstruktion an ihre genealogische und anamnestische Bestimmung an, und es ist dieses Verständnis, das ich enger auf das diesem Abschnitt Vorangegangene beziehen möchte. Innerhalb dieser Deutungsoption hebt Derrida nicht so sehr auf ihren Charakter, unmöglich, die ›Erfahrung des Unmöglichen‹ oder ein Ereignis zu sein, ab. Und obwohl hier der erwähnte gedächtnisbezogene, anamnestische Aspekt im Vordergrund steht, erhält die Dekonstruktion ebensowenig die Rolle, bestehende, historisch verfestigte Strukturen abzutragen oder zu destabilisieren. Vielmehr ist sie – in diesen Passagen – ein Aufbrechen eines homogen anmutenden Ensembles, ist sie dessen innere Teilung, das sich Manifestieren seiner immanenten Heterogenität. Derrida spezifiziert zumeist nicht, worum es sich dabei handelt, welche Art von Ensemble also gemeint ist. Er legt allerdings nahe, und das scheint mir auch der plausibelste Ausgangspunkt zu sein, dabei an Philosophien, also an eine abgegrenzbare, individuierbare Menge von Texten zu denken. Ein philosophisches Korpus würde sich also in sich selber teilen, und die Dekonstruktion wäre demgemäß nichts weiter als die Exposition, die Manifestation dieser Teilung, die sich bereits von sich aus in diesem Korpus zuträgt.
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Die einschlägige Stelle für dieses nun sehr spezifische Verständnis der Dekonstruktion findet sich folgerichtigerweise in Mémoires als einem der gedächtnistheoretisch relevantesten Texte Derridas.20 Dort (Derrida 1988e: 102f.) heißt es: Wir haben soeben eine Verifizierung erbracht dafür, daß sogar die Bedingung einer Dekonstruktion ›am Werk‹, ›im Werk‹ sein kann […] im zu dekonstruierenden System, daß sie darin bereits vorgefunden werden kann und bereits an der Arbeit ist, nicht in dem Zentrum, sondern in einem exzentrischen Zentrum […]. […] Wenn die auseinander-setzende Kraft der Dekonstruktion sich immer schon in der Architektur des Werkes verortet findet, so käme es angesichts dieses immer schon insgesamt gesehen nur noch darauf an, das Gedächtnis ins Werk zu setzen, um dekonstruieren zu können. Diese Bestimmung – die Dekonstruktion als »Explikation einer Selbstbeziehung des Werkes« (ebd.: 168) – ist für Derrida aber wiederum für sich genommen zu abstrakt, lediglich der Ausgangspunkt präzisierender Fragen. Wenn man sagt, die Dekonstruktion sei ›am Werk‹ »in der Geschichte, in der Kultur, in der Literatur, in der Philosophie, kurz gesagt: im abendländischen Gedächtnis« – was hat es dann »mit diesem ›immer schon‹ auf sich« (Derrida 1988e: 168f.)? Und was heißt es genauer, die »Texte dekonstruieren sich (selbst) aus sich selbst heraus« (ebd.: 167)? Was bedeutet die »Selbstdekonstruktion« (ebd.; Derrida 2006c: 128; Derrida 2013b: 114; Derrida 2002: 156) oder die »Auto-Hetero-Dekonstruktion« (Derrida 1991: 68f.; Derrida/Roudinesco 2006: 294; Derrida 1988e: 183, 190)? Er selber lässt uns gleichwohl mit solcherlei Fragen alleine. Die Insistenz auf Präzisierung regeneriert lediglich die Unbestimmtheit im Hinblick auf die ›Dekonstruktion‹. »Dieses ›se (sich)‹ des ›se déconstruire‹, das nicht die Reflexivität eines Ich oder eines Bewußtseins darstellt, trägt das ganze Rätsel«, sagt er in seinem für diese Fragen so gehaltvollen Brief an einen japanischen Freund (Derrida 2013: 20) und – führt es nicht weiter aus. Wir können hier zunächst zurückdenken an den Begriff der Autoimmunität, den ich weiter oben einmal herangezogen hatte, um die innere Pluralisierung des mit dem Namen ›Europa‹ belegten Erbes zu erläutern. Das 20
Derrida hat sich allerdings nachträglich in gewissem Maß von dieser enger auf Paul de Mans Verständnis der Dekonstruktion bezogenen Definition distanziert. Im Gespräch mit Elisabeth Weber sagt er (Derrida 1994d: 77): »Im ersten Abschnitt, den Sie zitiert haben, in der Aussage, die Dekonstruktion hätte lediglich das Gedächtnis ins Werk zu setzen, sprach ich nicht direkt in meinem Namen. Ich beschrieb eine Interpretation der Dekonstruktion, insbesondere die Paul de Mans, die in bestimmten Passagen behauptet (was ich nur zur Hälfte glaube), daß im Grunde die Dekonstruktion in der Literatur schon am Werke ist, bei Rousseau beispielsweise. Wir hätten also nichts hinzuzufügen, es ist schon vollendet. […] Wenn dem nämlich so ist, dann gibt es nichts mehr zu tun; wie aber dann die Tatsache interpretieren, daß jetzt trotz allem die Dekonstruktion ein Thema darstellt, daß sie bestimmte Ereignisse prägt und daß etwas geschieht?«
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meinte dort ebenfalls eine innere Spaltung oder Teilung, die sich durch Prozesse der Wiederholung, also des Austauschs, der Migration, der Kontamination von kulturellen Elementen Bahn bricht. Diese Art der Selbstdifferenz eines Erbes bringt uns nun auf den richtigen Weg, Derridas Überlegungen genauer zu verstehen. Denn er selber hat in Marxʼ Gespenster und am Beispiel des Erbes von ›Marx‹ diesen Vorgang der immanenten Teilung noch viel präziser beschrieben. Entlang des für ihn im ersten Abschnitt Marxʼ Verfügungen leitenden Texts Maurice Blanchots Les trois paroles de Marx bekräftigt Derrida, man müsse immer wieder, »anläßlich dieses Textes wie jedes anderen« auf eine »irreduzible Heterogenität, […] eine innere Unübersetzbarkeit« (Derrida 2004: 54) zurückkommen. Er schreibt (ebd.: 32f.): Ziehen wir zunächst die radikale und notwendige Heterogenität eines Erbes in Erwägung, die Differenz ohne Opposition, von der es gezeichnet sein muß, ein ›Disparates‹ und eine Quasi-Juxtaposition ohne Dialektik (der Plural dessen, was wir später die Geister von Marx nennen werden). Ein Erbe versammelt sich niemals, es ist niemals eins mit sich selbst. Seine vorgebliche Einheit, wenn es sie gibt, kann nur in der Verfügung bestehen, zu reaffirmieren, indem man wählt. Man muß, das heißt: man muß filtern, sieben, kritisieren, man muß aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen. Die ihr auf widersprüchliche Weise innewohnen, um ein Geheimnis herum. […] Die Verfügung selbst […] kann nur eins sein, indem sie sich teilt, sich zerreißt, sich in sich selbst differenziert und aufschiebt (se différant elle-méme), indem sie gleichzeitig mehrfach spricht – und mit mehreren Stimmen. Ein Erbe teilt, differenziert, zerstreut sich in sich – es pluralisiert sich, wie wir auch sagen können. Deswegen gibt es eine Mehrheit von Aneignungen des marxschen oder europäischen Erbes. Man kann diesen Begriff des sich in sich selber spaltenden Erbes sicher noch weiter generalisieren, diese Art der ›Selbstdekonstruktion‹ also für Sprachen, Kulturen21 , theoretische Schulen und Paradigmen, literarische 21
Hier kann man, ganz generell, an die postkolonialen Weiterführungen von Derridas Überlegungen bei Homi Bhaba oder Edward Said denken. Spezifischer ließe sich an Judith Butlers und Gayatri Spivaks Thematisierung der Anverwandlung der US-amerikanischen Nationalhymne durch spanischsprachige Einwanderer als ein Beispiel für die Inhomogenität einer Kultur oder einer Nation denken (Butler/Spivak 2007). Obwohl es naheläge, dies unter dem Fokus performativer Neuinszenierung und damit auch appropriierender, subvertiender Wiederholung, also unter Rekurs auf den Begriff der Iterabilität zu analysieren, stellt Butler selber ebenfalls heraus, dass dieses Ereignis – das Singen – auch schlicht als Exposition einer bereits bestehenden Inhomogenität der USA und einer Gespaltenheit des ›Wir‹ gelten kann. »At one level, singing in Spanish simply asserts that Spanish-speaking people are part of the United States, are already its citizens or its workers […]. Singing the anthem in Spanish was also a way to call attention to the cultural presence of the Spanish language; indeed, the state of California would be unthinkable without the public presence of the Spanish language. This is not a prediction, but something that is already true. To sing in Spanish is to assert the
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oder philosophische Texte usw. in Anschlag zu bringen versuchen. Derridas diesbezügliche Ausführungen bleiben zumeist auf die beiden erwähnten emblematischen Figuren und thematischen Gebiete, ›Marx‹ und ›Europa‹, beschränkt. Aber wie immer man die Reichweite dessen, was man als in Dekonstruktion befindliches Ensemble adressiert, bemisst – wir können nun doch sehr viel genauer verstehen, was es mit der ›Dekonstruktion‹, mit ›Autoimmunität‹ und mit derjenigen Unentschiedenheit Derridas, auf die ich am Beginn dieser Studie einmal zu sprechen gekommen bin, auf sich haben mag. »There is an ›I‹ that is structured by the alterity within it, an ›I‹ that is itself in a state of self-deconstruction«, so hatte ich Derrida zitiert. Wenn eine Entität oder ein Ensemble also schon durch eine immanente Heterogenität oder Andersheit heimgesucht ist, besteht die Dekonstruktion eben lediglich in der Exposition dieser Selbstdifferenz. Darin liegt ihr reaktivierender oder rekonstruktiver Charakter – sie zerstört nichts von außen, sondern ist nur die Anamnese dessen, was in den Entitäten oder Ensembles vor sich geht: »Eher als zu zerstören (détruire) galt es auch zu verstehen, wie ein ›Ensemble‹ sich gebildet hatte (s’était construit), und es zu diesem Zweck zu rekonstruieren.« (Derrida 2013: 18) Da beispielsweise, wie ich eben zitiert hatte, die Dekonstruktion bereits ›im Diskurs Platons‹ als dessen ›Inadäquation‹ mit sich am Werk war, zielte Derridas Befassung mit Platon auf genau diesen Umstand, wie er uns am Ende von Chōra (Derrida 2000b: 157f.) wissen lässt. Denn im Werk Platons gab es – unter der durch die Rezeption privilegierten Schicht von ›Thesen‹, die den ›Platonismus‹ inaugurierte – heterogene ›Denkmotive‹, ›Falten‹ und ›Überdeterminierungen‹, die sich einer hegemonial gewordenen Lesart widersetzen.22 Platonismus hieße – unter diesen Bedingungen – die These oder das Thema, welches man durch Kunstgriff, Mißverständnis und Abstraktion aus dem Text herausgezogen, welches man der von ›Platon‹ geschriebenen Fiktion entrissen haben wird. Hat man diese Abstraktion erst einmal überbesetzt und entfaltet, so wird man sie über all die Falten des Textes, seine Listen, Überdeterminierungen
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multi-lingual reality of the public sphere, and to refuse those laws that require English in the public sphere.« (Butler 2012: 23) Derrida hat auch die Dekonstruktion – als Entwurf, als ›jetty‹ – von jeglicher Form einer systematisierenden, thetischen Darstellung abgesetzt. Worauf er dabei das Augenmerk lenkt, ist das ›Stillstellende‹ oder ›Festsetzende‹, das im ursprünglichen Sinn von These oder thesis noch gegenwärtig ist. Er schreibt: »Die Kohärenz oder Konsistenz des dekonstruktiven Entwurfs ist kein theoretisches Set und auch kein System, insofern ein System, im strengen Sinn des Wortes, eine sehr determinierte Form der Versammlung, des Zusammenbestehens (être-ensemble) eines Sets von theoretischen Propositionen ist. Er ist auch kein System, weil der dekonstruktive Entwurf in sich so wenig propositional wie positional ist; er dekonstruiert ja gerade die thesis, und zwar sowohl als philosophische These (und die Dekonstruktion ist ebensowenig philosophisch wie wissenschaftlich) wie auch als Thema.« (Derrida 1997: 47)
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und Vorbehalte erstrecken, die damit der Verdeckung und Verbergung anheimfallen. Man wird das Platonismus oder Philosophie Platons heißen, was weder willkürlich noch illegitim ist, da man sich dabei auf eine gewisse thetische Abstraktionskraft berufen kann, wie sie in Platons heterogenem Text am Werk ist. Sie arbeitet und sie stellt sich dar genau unter dem Namen Philosophie. Wenn es nun nicht illegitim und willkürlich ist, sie so zu nennen, wie sie sich nennt, so besteht ihre willkürliche Gewalt, ihre Abstraktion eben darin, bis zu einem bestimmten Punkt und über eine bestimmte Zeit hinweg das Gesetz zu bilden und in einer Art, die just die gesamte Philosophie ist, über andere Denkmotive zu herrschen, die auch im Text am Werk sind: zum Beispiel die, die uns hier privilegiert und aus einer anderen Situation heraus interessieren […]. Der ›Platonismus‹ ist also gewiß eine der Wirkungen des von Platon signierten Textes und über eine lange Zeit hinweg ist er die vorherrschende Wirkung und das zwangsläufiger Gründe wegen, aber diese Wirkung stellt sich immer als eine gegen den Text gekehrte heraus. […] Die in dieser Weise gehemmten Kräfte werden auch weiterhin eine gewisse Unordnung aufrechterhalten, mit potentieller Inkohärenz und mit Heterogenität in der Organisation der Thesen fortfahren. […] Der ›Platonismus‹ ist nicht nur ein Beispiel für diese Bewegung – das erste ›in‹ der gesamten Geschichte der Philosophie. Wenn dies nun tatsächlich ein plausibles Verständnis der Dekonstruktion vorstellt, wenn ich Derridas Äußerungen mithin in ein stimmiges Verhältnis zueinander gebracht habe, dann kann vielleicht auch die vorliegende Studie als ein Fall einer solchen Dekonstruktion begriffen werden. Auch mir war es ein vordringliches Anliegen, unterbelichtete Passagen, unterschätzte Begriffe und aus dem Blick geratene, ins Marginale abgedrängte Texte für eine Neudeutung von Adornos Werk ans Licht zu heben. Das war gegen einerseits eine dominante oder gegen gewisse verschiedene vorherrschende Lesarten gerichtet, die sich auf eine begrenzte Zahl von Begriffen, Texten und Motiven kaprizieren. Da ich für die Profilierung des Begriffs geistiger Erfahrung besonderes Gewicht auf im Werk Adornos auffindbare Bezüge zu anderen Autoren und Texten gelegt habe, war die damit hier vorgelegte ›Dekonstruktion‹ andererseits insbesondere auch gegen ein Verständnis von dessen Werk gerichtet, das die Bedeutung und den Stellenwert von Begriffen wie ›Pro-‹ und ›Retentionalität‹, ›Einbildungskraft‹, ›Vermittlung‹ und des Motivs des Unbewussten nur immanent erläutern zu können glaubt. Die ›dekonstruktive Lektüre‹ bestand daher ebenso im Aufweis der intertextuellen Verwobenheit des Werks Adornos mit demjenigen von Husserl, Kant, Hegel und Freud, wie sie von der Vermutung getragen war, dass Adorno die sich im Verlauf der Entwicklung seines Werks ausbildenden begrifflichen Zusammenhänge und Verschiebungen in ihrem jeweiligen Stellenwert nicht absehen konnte – auch er verstand, um nochmal das bekannte Aperçu zu bemühen, seine ›eigenen Gedanken‹ nicht selber. In der Lage zu sein,
5. Die Areale der geistigen Erfahrung
»sich und all das, was er gemacht, gesagt, geschrieben hat, zu verantworten […], was man getan, gesagt oder geschrieben hat […] in einer kohärenten Synthese zu versammeln«, ein »vollständiges und intaktes Gedächtnis« davon zu haben und seine »Prämissen und Folgen« im Blick behalten zu können (Derrida 2000: 35) – das ist etwas, dem Derrida, und ebenso Adorno, stets nur große Vorbehalte entgegenbringen konnten. Insofern ließe sich, in der reißerischen Diktion englischsprachiger Sammelbände, wohl auch über das, was ich mit dieser Arbeit beabsichtigt hatte, sagen: ›Deconstructing Adorno‹. Oder: ›Adorno in Deconstruction‹. Ob man das jedoch wirklich so ausdrücken muss, steht naturgemäß dahin.
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[J]e gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an eine Gränze, wo sie unsinnlich werden[.] – Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (Nietzsche 1988: §217) Wenn das Kind herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen, wenn es sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen, so kann es eines Tages in eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des Humors. – Freud: Der Dichter und das Phantasieren (Freud 1941a: 214f.)
Nun am Ende dieser Arbeit angekommen, will ich die im Vorstehenden in einem weitläufigen Parcours unternommenen Überlegungen nochmals pointiert zu bündeln versuchen. Was zunächst (i) folgt ist eine abschließende Charakteristik des Begriffs der geistigen Erfahrung und seiner Situierung im Werk Adornos. Daran schließen (ii) sich einige kurze Bemerkungen zur Zukunft von ›Dekonstruktion‹ und ›Kritischer Theorie‹ an. Am Ende, ganz am Ende, möchte ich (iii) nur noch einen ebenfalls kurz gehaltenen Ausblick auf ein Forschungsgebiet geben, das zwar in einem gewissen Zusammenhang mit den Texten Derridas und Adornos steht, aber weit über diese hinausreicht. Diese Forschungen lassen sich unter das Stichwort ›Schrift und Theorie‹ bringen.
6.1 Geistige Erfahrung: Was und Warum Noch bevor es an die Charakterisierung der ›geistigen Erfahrung‹ ging, hatte ich zunächst damit eingesetzt, die Rede von Aporien, Paradoxien und Widersprüchen
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als ein geeignetes Scharnier zu verstehen, durch das sich Adornos und Derridas Überlegungen in einen fruchtbaren Kontakt bringen lassen. Es konnte sich zeigen, dass aporetische Problemlagen an zentralen Figuren und Punkten in den Texten Derridas wie der kommenden Demokratie, der Gastlichkeit oder dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit auftauchen und mit anderen Themen wie der Problematisierung der Form des Subjekts, einer anderen Verhältnisbestimmung von Möglichem und Unmöglichem oder von Innen und Außen intim verknüpft sind. Ebenfalls zu zeigen versucht habe ich, dass Adorno die Dialektik als aus den bei Kant auftretenden Antinomien hervorgehend versteht und auf Aporien immer dort zu sprechen kommt, wo das Denken, die Philosophie oder das Subjekt sich einem Problem verschreibt, das zu lösen es durch seine eigene Aktivität hindert. Als die beiden Theorien gemeinsame Fassung einer aporetischen Konstellation hatte ich daher diese Art der ›Selbstsubversion‹ herauszustellen versucht. So wie die Gerechtigkeit sich nur im Recht realisieren kann, sich ineins damit aber verfehlt, so kann das Nichtidentische oder das Nichtbegriffliche nur durch den Begriff oder das Denken dargestellt werden, die es aber zugleich verfehlen oder verstellen. Die Gerechtigkeit nicht auf das Recht, das Fremde nicht auf das Eigene und das Nichtbegriffliche nicht auf den Begriff zu reduzieren, sie aber mit jeder Operation des Rechts, des Eigenen und des Subjekts auf diese zu reduzieren – diese Aporien gilt es für Derrida und Adorno nicht ›aufzulösen‹, sondern diese entlassen aus sich die Forderung, sie nicht nur zu reflektieren, sondern vielmehr praktisch auszutragen: Das Eigene muss in sich auf das Andere bezogen, der Begriff muss mehr als er selber sein, das Mögliche auf das Unmögliche hin überschritten werden. Die von Christoph Menke in verschiedenen Publikationen vorangetriebene Lektüre Adornos und Derridas, die dieses gemeinsame Problem besonders luzide isoliert und thematisiert, war dann der Anlass, zwei Themengebiete zu benennen, die bei beiden Autoren eine mehr oder weniger offen zutage liegende und zentrale Stellung innehaben, nämlich Zeitlichkeit und Unbewusstheit. Diese beiden Dimensionen haben sich sodann als elementar für Adornos Begriff von Erfahrung im allgemeinen und im Ausgang von einer besonders dichten Stelle in der Vorlesung über Negative Dialektik auch für den Begriff geistiger Erfahrung herausgestellt. Das Sinnliche ist demnach unbewusst durch übergreifende, generellere Strukturen vermittelt; darum ist jedes Hören, Sehen, aber auch Schmecken oder Riechen ›geistig‹ strukturiert. Das ist die ›Dialektik‹ von Allgemeinem und Besonderem, von Geistigem und Sinnlichem, die der Begriff der Vermittlung besonders konzise artikuliert. Weil diese Strukturen nur zwischen und im Verlauf einer zeitlich erstreckten Sequenz von Wahrnehmungen entspinnen und jede einzelne dieser Wahrnehmungen damit in sich den Verweis auf andere Wahrnehmungen trägt, ist der Erfahrung ihre Temporalität wesentlich. Eine sich schon in Adornos Werk andeutende Weise, beide Dimensionen der Erfahrung sich überkreuzen zu lassen, war, auf die Beteiligung des Gedächtnisses in der Wahrnehmung und auch im Sprachgebrauch abzuheben.
6. Schluss
Den Begriff der geistigen Erfahrung so auseinandergesetzt und entfaltet, konnte der Begriff der Iterabilität diese Zusammenhänge nochmals anders und mit besonderem Augenmerk auf die Zeitlichkeit des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem beleuchten. Jede sinnliche Wahrnehmung ist demnach, wie Derrida stets sehr viel deutlicher als Adorno herausgestellt hat, in sich nicht nur durch anderes vermittelt und verweist auf anderes, sondern diese Art der Heimsuchung oder Kontamination spreizt auch ihr gegenwärtiges Stattfinden auf, ihre Gegenwärtigkeit hic et nunc. Die allgemeinen kategorialen oder begrifflichen Strukturen bilden sich nicht allein prozessual ausgehend von, sondern reichen derart auch in die jeweiligen einzelnen Wahrnehmungen hinein, dass diese nicht als selbstgenügsame Punkte in einer Zeitreihe konzipiert werden können. Wie wir entlang von Adornos und Derridas Husserl-Lektüren sehen konnten, betrifft diese Problematisierung der ›Punktualität‹ der Erfahrung nicht allein die Relation von Allgemeinem und Besonderem, sondern auch die des jeweiligen einzelnen Elements und des aktuellen Kontexts, der es umgibt. Hier trat vor allem das antagonistische Paar atomistisches und strukturelles Hören in den Vordergrund, das ich aufgegriffen habe, um plausibel zu machen, dass sich Adornos Husserlrezeption auch nutzen lässt, um die Ausführungen zur Temporalität von Erfahrung auf seine musiktheoretischen Texte zu beziehen. Diese die eigentliche Substanz der Studie bildenden Ausführungen bildeten sodann die Basis, sich Kant und Freud zuzuwenden. Das einesteils deswegen, weil sich so – ›exegetisch‹ – zeigen ließ, dass Adorno und Derrida sich nicht nur über die Problematik der Aporien und Antinomien auf Kant zurückbeziehen, sondern dass – und theoriesystematisch: wieso – auch die Einbildungskraft für beide interessant war. Meine Antwort war: Weil sie eine dialektische Mittlerin zwischen Allgemeinem und Besonderem ist, weil sie zeitliche Synthesen im Bewusstseinsverlauf vornimmt und weil sie von Kant öfters als in irgendeinem Sinn ›unbewusst‹ wirksam konzipiert worden ist – darum: ›Imaginativität‹ der Erfahrung. Anderenteils war es ein systematisches Anliegen, das hinter insbesondere der Aufnahme freudscher Motive in diese Studie stand. Denn nach meinem Dafürhalten bilden dessen Überlegungen immer noch die überzeugendsten Argumente und die präzisesten Vorschläge, wie man sich das ›Unbewusste‹ und dessen manifeste Effekte im wachen, vollbewussten Bewusstseinsleben vorstellen kann. Und ich meine, dass gerade der Begriff der Überdeterminierung – als Verdichtung und Verschiebung – sowie, mehr noch, das Phänomen der Kryptomnesien einiges Erklärungspotential bereithalten. Denn ganz unabhängig davon – um dies direkt anzusprechen –, wie es um die immanenten Kompliziertheiten von Adornos Œuvre bestellt sein mag, ist das damit angezielte Phänomen von ganz allgemeinem Interesse. Es ist ein alltägliches, im Grunde banales Phänomen, und man könnte fast sagen, der ganze Gedankenzug dieser Studie diente allein seiner theoretischen Aufhellung. Ich meine nämlich
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die von Adorno in Zum Studium der Philosophie, in Lücken und an einer Stelle seiner Vorlesung zur Einleitung in die Soziologe aufgeworfene Frage, wie es kommt, dass man sich lange mit etwas Schwierigem befasst und es einem mit einem Mal leicht fällt, es zu durchdringen. Oder wie es vonstatten geht, dass sich irgendwann eine Problemstellung, eine Gliederung und ein Vorgehen für eine Dissertation herauskristallisiert haben, ohne dass man die einzelnen Schritte dahin bewusst durchdacht und die Hürden selber genommen hat. Also, vielleicht kann man es so sagen: Was heißt Denken? Und wie stehen Denken und Erfahrung in Zusammenhang? Denn zumindest im »akademischen Studium« vollzieht sich »nicht alles so schrittweise und vermittelt, lückenlos […], sondern in gewissen Sprüngen«, meinte Adorno – der Umstand, »daß einem, wie man so sagt, plötzlich ein Licht aufgeht« und »dann einfach durch die Dauer der Beschäftigung mit der Materie […] so etwas wie ein qualitativer Sprung erfolgt« (VLEinlSoz: 16f.). Das Ergebnis dieser »langwierigen und oftmals gar nicht so bewußten Übung« (20/320), als die sich ein Studium oder der Vorlauf zu einer Dissertation darstellt, sind dann häufig Gedanken, denen »wie ein Mal die Unmöglichkeit der vollen Legitimation einbeschrieben« bleibt, weil sie sich in einem nicht vollauf durchsichtigen Prozess herangebildet haben, in einer »keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung« (4/90f.) – einer zeitlich und imaginativ strukturierten Erfahrung. Nach diesen ausladenden Bestimmungsversuchen dessen, was Adorno sich unter geistiger Erfahrung vorgestellt haben mag, ging es mir noch um den Aufweis, dass sich in ihrem Lichte auch die zentralen Begriffe des Nichtidentischen und des Kunstwerks bzw. der ästhetischen Erfahrung anders darstellen als bislang. Das Nichtidentische ist so nicht das Objekt in seiner Singularität, sondern in seiner zeitlichen Nichtidentität, in seiner inneren Historizität und Vermitteltheit. Deswegen muss die Erfahrung ›deutend‹ vorgehen, sie muss selber zeitlich so verfasst sein, dass sie das Objekt in seiner Zeitlichkeit zu erfahren imstande ist. Und das Kunstwerk zeichnet sich nicht einfach durch einen abstrakt bleibenden ›Rätselcharakter‹ aus, sondern es ist, Adornos Wortlaut genauer besehen, ein von Spannungen durchzogenes Kraftfeld, das eine immanente Heterogenität und Zeitlichkeit aufweist, die sich ebenfalls in der Form der ästhetischen Erfahrung spiegeln muss. Neben diesen großen, gewichtigen Topoi in Adornos Werk haben sich auf diesem Wege andere, in der Forschung zu Adorno häufig marginalisierte Begriffe wie ›Kraftfeld‹, ›Wahrheits-‹ oder ›geistiger Gehalt‹, das ›spekulative Ohr‹, die ›Übertreibung‹, das ›strukturelle Hören‹, der ›physiognomische Blick‹ usw. nicht bloß in den Vordergrund gespielt, sie sind nicht einfach noch im Begriffsensemble mit aufgetreten, sondern es konnte sich zeigen, dass sie auf subkutane Weise zusammenhängen und von dieser Konstellation aus einen spezifischen Stellenwert empfangen. In der labyrinthischen Form von Adornos Werk, das der Leserin weder ein Hauptportal noch einen zutageliegenden roten Faden anbietet, sich aber auf
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verschiedenen Wegen und entlang unterschiedlicher Begriffszusammenhänge erschließen lässt, kamen wir so nicht nur an Versatzstücken und konzeptuellen Verstrebungen mit Kants und Freuds Texten vorbei und konnten uns nicht nur Derridas Begrifflichkeit zur Orientierung zu Hilfe nehmen. Sondern schlussendlich tauchte auch noch die Frage auf, ob nicht die in Adornos Begriff des Kraftfelds kondensierte Rede von immanenter ›Spannung‹, ›Heterogenität‹ und ›Zeitlichkeit‹ auch zu näherem Aufschluss darüber führt, was Derrida mit ›Dekonstruktion‹ – oder anders: ›Autoimmunität‹ oder ›Selbstdekonstruktion‹ – eigentlich gemeint haben mag. Denn bis zuletzt hat man zurecht gerätselt, was es mit diesem Begriff, den man oft für das Zentrum von Derridas Schaffen gehalten hat – offenbar ein weiterer Irrtum, besieht man Derridas eigene Äußerungen dazu –, auf sich hat: ist es »Philosophie? Programm? Verfahren?« (Gehring 2004) Vielleicht wird es aber immer offen bleiben müssen.
6.2 Adorno und Derrida: closing remarks Nachdem man sich, als Geistesarbeiter in der Ausarbeitung, als Leserin in der Lektüre einer solchen Studie wie der vorliegenden, so lange mit Adorno und Derrida, mit ›Kritischer Theorie‹ oder ›Negativer Dialektik‹ und ›Dekonstruktion‹ befasst hat, möchte man immer gerne wissen, wie es in Zukunft eigentlich damit weitergehen mag. Leider weiss ich selber nicht, ob das weitergehen und, ebenso ungewiss, wie sich das in Zukunft genauer abspielen wird. Die Namen ›Adorno‹ und ›Derrida‹ sind immer noch derart prominent, dass man sich eigentlich keine Sorge darum machen muss, dass man sie auch in Zukunft noch eine ganze Weile kennen wird; man kann sie zuordnen, man weiss etwas über ihre Lebensschicksale, man kennt das ›Nichtidentische‹ und die ›différance‹ sowie all die anderen Schlagworte, ihre anderen Themen und Bücher sind auch leidlich bekannt. Und ohnedies – ich hatte das in der Einleitung schon einmal angeschnitten: die Zeit der »debates between Germany and France, Habermas or the succesion of the Frankfurt School and then ›the French‹« sind vorbei. Sie waren, wie Derrida, denke ich, zurecht sagte, allzu schnell von einer »›sloganization‹« geprägt, was in eine »journalistic degradation of debates that ought to be more serious, sharper, more refined in their consciousness and historical memory« (Derrida/Ferraris 2001: 54) gemündet ist. Ähnlich wie Derrida1 , glaube ich jedoch nicht, dass sich die 1
Derrida sagte 2001 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises im Rückblick auf seine Debatten mit Gadamer und Habermas, die Missverständnisse zwischen ihnen kreisten »stets um die Interpretation und Möglichkeit des Mißverständnisses selber […], um den Begriff des Mißverständnisses, auch des Dissensus, des Anderen und der Singularität des Ereignisses, und folglich um das Wesen des Idioms, das Wesen der Sprache, jenseits ihres unleugbaren und notwendigen Funktionierens, jenseits ihrer kommunikativen Verständlich-
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damals aufgekommenen Missverständnisse, Klischees und Zerrbilder aufgelöst haben. Manche haben sich gehalten, manche sind verschwunden, dafür aber andere hinzugekommen (wie ich in dem Abschnitt zur ›Dekonstruktion‹ gezeigt habe). Ich denke, was man sich heute, blickt auf man auf diese Debatten auch nur so flüchtig, wie es hier möglich ist, zurück, vor Augen halten sollte, ist zum einen das damals andere, vor allem anders studentische Rezeptionsmilieu von Derrida oder des ›Poststrukturalismus‹, und zum anderen scheint es kaum einen Zweifel zu dulden, dass mitunter eher eigenartig starke Affekte als Argumente diese Debatten strukturierten, und man sich so fragen sollte, wieso es eigentlich mitunter derart wenig nüchtern und intellektuell niveauvoll zuging. Zum einen wird man wohl für die achtziger und neunziger Jahre generationelle, näherhin generationsspezifisch habituelle Differenzen zwischen einer jüngeren studentischen Generation, die sich den französischen postmodernen und poststrukturalistischen Autoren gegenüber offen gezeigt hat, und dem älteren, reserviert bis feindlich reagierenden Milieu ansetzen müssen. Dass diese neuen Theorieströmungen sich dann in den Folgejahren – vielleicht kann man sagen: etwa ab Mitte der neunziger Jahre – als ganz normale Ansätze neben anderen etablieren konnten, hat dann wohl eher mit dem schrittweisen Abtreten der älteren Generationen zu tun als mit irgendeiner Art von argumentativen Durchsetzung. Die starken Affekte werden wohl aber nicht allein dadurch gespeist worden sein, dass man die damals modischen Theorien als Angriff auf eigene Pfründe empfand – auf die Autoren und Theorien, in die man selber sein akademisches Kapital investiert hatte –, sondern vor allem durch die akademisch unübliche Nähe zu künstlerischen, subkulturellen und politischen Diskussionszusammenhängen und Milieus. Dass es das deleuzianisch inspirierte Label Mille Plateaux für anspruchsvolle elektronische Musik, mit der Spex oder den Texten zur Kunst subkulturell anmutende Zeitschriften mit einer gewissen Nähe zum Poststrukturalismus und mit Merve, Brinkmann + Bose und Passagen Verlage gab, die auch ein prononciert ästhetisches Konzept verfolgten und immer eine gewisse Nähe zur Kunst aufwiesen, muss dem altehrwürdigen akademischen Milieu seinerzeit etwas spanisch vorgekommen sein. Zwar gibt es schon seit Jahrzehnten kein bildungsbürgerliches Milieu im klassischen Sinne mehr, aber nach wie vor gefällt man sich in universitären Kontexten häufig in einer bildungsbürgerlichen Pose, was mitunter eine entsprechend gravitätische Haltung impliziert, die die bis heute kurrenten Vorwürfe, Derridas Texte seien blanker ›Unsinn‹ oder der Poststrukturalismus stehe für ›Beliebigkeit‹, erklärlich werden lassen. Dass der Passagen-Verlag sein Programm Mitte der achtziger Jahre ausgerechnet mit Recht
keit. Die Mißverständnisse darüber sind ihrerseits vergangen […]. Wenn diese Mißverständnisse sich heute zwar nicht völlig in Luft aufgelöst, aber doch in einer Atmosphäre freundschaftlicher Versöhnung an Schärfe verloren haben, dann ist dies nicht allein der Art […], häufig der jüngeren Philosophen dieses Landes, zu danken.« (Derrida 2003b: 35f.)
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auf Einsicht (Derrida 1985), das einen Text Derridas zu darin ebenfalls abgebildeten Aktfotografien enthält, eröffnete, dürfte – gerade neben Texten wie Glas oder Die Postkarte – nicht gerade gut angekommen sein und den Eindruck, es handle sich nicht wirklich um einen ›seriösen‹ Philosophen, gestärkt haben. Zwar spielen insgesamt gewiss wegen der anscheinend ›unbefangeneren‹ Rezeption Nietzsches und Heideggers auch politische Vorbehalte mit in diese Abwehraffekte hinein, aber der Verdacht, es handle sich gar nicht um ernstzunehmende Philosophie oder Wissenschaft, sondern um Literatur oder Kunst, scheint bis heute das eigentlich Ausschlaggebende zu sein, weshalb die Rezeption Derridas immer auf ein eng umgrenztes Milieu beschränkt geblieben ist und sich sonst starke Affekte dagegen erhalten haben. Etwas mit wissenschaftlichem Anspruch Auftretendes als Kunst zu deklarieren hat zwar schon Freud als wirksame, aber durchsichtige Geste des Ausschlusses dechiffriert, und so gesehen gibt es hier gar nichts Spezifisches.2 Aber darüberhinaus könnten auch in diesem Fall tieferliegende milieubezogene habituelle Differenzen die Ressentiments und Affekte erklären, die in ganz ähnlicher Weise auch Adornos Werk betreffen. Denn es gibt eine Riege von – wie soll man sagen? – ›Werten‹, die für die klassische Philosophie, vielleicht auch nur einige ihrer Segmente, kennzeichnend waren und die heute beispielhaft in Teilen der ›analytischen‹ Philosophie eine geradezu obsessive Auszeichnung erhalten zu haben scheinen. Ich meine weniger die von Adorno häufig problematisierten cartesianischen Werte der Klarheit und Deutlichkeit (clara et distincta perceptio), sondern das Beschwören von ›Rationalität‹ oder rationalem Vorgehen, das Beharren auf irgendeiner spezifischen philosophischen ›Methode‹ (›methodische Standards‹), die ›Diszipliniertheit‹ und ›Sauberkeit‹, die Orientierung an ›Arbeitsamkeit‹ und zu liefernden ›Resultaten‹ und vor allem der ›Ernst‹ und das ›Seriöse‹. Auch die gesuchte Nähe zu naturwissenschaftlichen ›Verfahren‹ und die stark technizistische Prägung – mit dem Brimborium von logischen Ableitungen oder kompliziert und ›wissenschaftlich‹ anmutenden Diagrammen in Texten – liegen ganz auf der Linie dieses Bündels an Werten. Man muss nun keine Soziologie der Lebensstile, Milieus und Mentalitäten betreiben, um zu erkennen, dass ein solches Wertesyndrom eine besondere Nähe zu einem Segment des Mittelstands- oder des kleinbürgerlichen Milieus aufweist und darüberhinaus maskulin ›überformt‹ oder ›zweitcodiert‹ ist. Damit
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In Zur Vorgeschichte der analytischen Technik zitiert er anfangs Havelock Ellis mit der Bemerkung, »dass das Werk des Schöpfers der Analyse nicht als ein Stück wissenschaftlicher Arbeit, sondern als eine künstlerische Leistung gewertet werden sollte.« Und er meint dazu: »Es liegt uns nahe, in dieser Auffassung eine neue Wendung des Widerstandes und eine Ablehnung der Analyse zu sehen, wenngleich sie in liebenswürdiger […] Weise verkleidet ist.« (Freud 1947: 309)
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meine ich, dass – wie vor allem Pierre Bourdieu öfters herausgestellt hat3 – die Kulturgeschichte global durchziehende oppositionelle Paare wie aktiv/passiv, groß/klein, hart/weich, erwachsen/kindlich, intellektuell/sinnlich, Wissenschaft/Kunst, öffentlich/privat, ›hard/soft sciences‹ usw., aber auch entschiedenresolut/unentschieden-zögerlich, die Sache und das Ornament, das Sachhaltige und das Schmückende oder Schöne geschlechtlich überdeterminiert sind und somit der eine Pol eher als männlich, der andere eher als weiblich gilt. Dass Derrida soviel auf Unentscheidbarkeiten abhob und aporetische Konstellationen ihm nicht als zur einen Seite entscheidbar galten, dass seine Texte eine betont ›ästhetische‹ oder ›rhetorische‹ Dimension aufweisen, sich häufig ›literarischen‹ Texten widmen und oftmals als ›verspielt‹ – das Weibliche ist kulturgeschichtlich immer dem kindlichen näher als dem erwachsenen Pol – wahrgenommen wurden – all diese Charakteristika waren in der Präjudizierung seines Werkes als nicht ›philosophisch‹ oder ›wissenschaftlich‹ wohl sehr viel wichtiger als irgendwelcher Mangel an Argumenten. Denn nicht philosophisch oder nicht wissenschaftlich, das hieß wegen dieser untergründigen semantischen oder symbolischen Beziehungen immer zugleich auch: also Kunst oder Literatur, also eher der weiblichen als der männlichen Sphäre zugehörig, also auch eher unsachlich-verspielt denn ernst-seriös-nüchtern. Angesichts der mutmaßlich zunehmenden Dominanz solcher philosophischen Strömungen, weil die Rezeption der Dekonstruktion selber schon von vielen Missverständnissen geprägt war, die sich nicht haben ausräumen lassen, und auch schlicht, weil sich das bestimmte, oben erwähnte deutsche Rezeptionsmilieu des ›Poststrukturalismus‹ zerstreut hat, kann man, scheint mir, nicht allzu zuversichtlich sein, dass es, wie Derrida im letzten Gespräch vor seinem Tod 2004 meinte 3
So dezidiert und mit derselben Terminologie – ›überdeterminiert‹ – sagt er es etwa in Sozialer Sinn (Bourdieu 1987: 133): »Männliches Streben nach oben gegen weibliche Bewegung nach unten, Geradheit gegen Biegsamkeit, Wille zum Obenaufsein gegen Unterwerfung, diese grundlegenden Gegensätze der Gesellschaftsordnung zwischen Herrschenden und Beherrschten […] sind stets geschlechtlich überdeterminiert, als hätte die Körpersprache von geschlechtlicher Herrschaft und Unterwerfung die Grundlage für die körperliche und verbale Sprache von gesellschaftlicher Herrschaft und Unterordnung abgegeben.« Oder, um den locus classicus dazu zu zitieren, in Die männliche Herrschaft (Bourdieu 2012: 180f.) heißt es: »Die Eingliederung in die verschiedenen Felder, welche nach Gegensätzen (stark/schwach, groß/klein, schwer/leicht, dick/dünn, angespannt/locker, hard/soft usf.) organisiert sind, die stets zu der basalen Unterscheidung von männlich und weiblich und den sekundären Alternativen (herrschend/beherrscht, oben/unten, aktiv-penetrieren/passiv-penetriert werden), in denen diese sich ausdrückt, in einer Homologiebeziehung stehen, geht so mit der Einprägung einer Reihe von vergeschlechtlichten Gegensätzen […] in die Körper einher.« Ähnlich lautende Stellen, mit wiederkehrenden oder stellenweise verschiedenen Gegensatzpaaren, finden sich in allen größeren Texten Bourdieus (vgl. ebd.: 17ff.; 2001: 218; 1976: 195ff.; Bourdieu/Wacquant: 2006: 208f.).
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(Derrida 2005: 41f.), allzu viele »Erben« und »sehr gute Leser« geben wird. Er hat dort auch weitsichtig schon antezipiert, wie die gegenwärtige »Technokultur« die »Archivierungsweisen« und die »Dauer des Erbes« verändern wird und dass diese Wandlungen (›Digitalisierung‹!) dem Nachleben eines solchen Erbes in historisch bisher gewohnten Dimensionen nicht gerade besonders zuträglich sein werden. Gesetzt nun, ich gehe nicht völlig fehl in der Deutung der affektiven Blockaden gegenüber Derridas Schriften und des aktuellen Zustands des akademischen Zeitgeists und seiner sich abzeichnenden künftigen Entwicklungen, dann scheinen mir die ernüchternden Worte, die Derrida 1990 über das Schicksal der ›Dekonstruktion‹ geäußert hat (Derrida 2017b: 39f.), immer noch die genaueste Prognose darüber zu sein: Doch ist es notwendig, zwischen dem Schicksal das Wortes ›Dekonstruktion‹ oder der dekonstruktionistischen Theorie oder einer so genannten Schule – die es niemals gab – und anderen Dingen zu unterscheiden, die ohne den Namen oder den Bezug auf die Theorie fähig sind, sich als Dekonstruktion zu entwickeln. Für mich begrenzt sich die Dekonstruktion nicht auf einen Diskurs über das Thema der Dekonstruktion; für mich ist die Dekonstruktion vorfindlich am Werk [il y a la déconstruction à l’oeuvre]. Sie ist am Werk bei Platon, sie ist am Werk innerhalb der amerikanischen und sowjetischen Generalstäbe [les état-majors], sie ist am Werk in der ökonomischen Krise. Folglich hat die Dekonstruktion die Dekonstruktion nicht nötig, sie braucht nicht eine Theorie oder ein Wort. […] Wir sind Wechsel von Moden und Schule und Theorien und Hegemonien gewohnt. Man wird das Wort nicht endlos weiter verwenden. Eines Tages werden wir zurückdenken, dass es in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren so ein Ding [truc] gab, genannt ›Dekonstruktion‹, und repräsentiert durch… […] Wir wissen, dass wir im Allgemeinen sechzig bis siebzig Jahre lang leben und dann sterben. In diesem Sinne wird ›Dekonstruktion‹ als Wort oder Thema verschwinden. Was vor seinem Verschwinden oder was danach geschehen wird, weiß ich nicht. […] Es ist unausbleiblich, dass irgendwann die Spur, die mit dem Namen ›Dekonstruktion‹ zu identifizieren ist, verloren gehen wird, das ist selbstverständlich. Das Wort wird sich abnutzen. Jenseits des Wortes ›Dekonstruktion‹ oder anderer damit assoziierter Wörter wird dieser Prozess etwas anders verlaufen, dies könnte mehr Zeit in Anspruch nehmen. Es wird noch kleine Organismen mit ihren unabhängigen Leben geben, deren Verlaufsbahnen wir vielleicht direkt verfolgen können, aber dies gilt auch für alles, was in einer Kultur geschieht. Wie verfolgt man die Spur der Philosophie durch die Geschichte hindurch? Ich weiß es nicht. Wenn es allein das ›Wort‹ ist, das ohne seinen theoretischen, terminologischen Stellenwert überlebt, und wenn ansonsten Derridas Begriffe und Themen weiterhin ohne viel Federlesens unter ›Poststrukturalismus‹ oder ähnliche Etiketten subsumiert werden, weiss ich nicht, ob das nicht zu allzu vielen weiteren Missverständ-
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nissen Anlass gibt. Denn wenn Derrida heute in Diskussionen auftaucht, dann ist es zwar auch wegen seinen alteritätstheoretischen Überlegungen oder seinem von Judith Butler immer wieder aufgegriffenen Begriff der Iterabilität, aber vornehmlich gilt er heute als Vertreter eines immer noch missverstandenen poststrukturalistischen – wie soll man es eigentlich benennen? – ›Diskursidealismus‹ oder banalisierten Konstruktivismus. Damit wiederholt man allerdings alte, schon in den neunziger Jahren gelaufene Diskussionen.4 Um eine neue Theoriemode auszurufen, muss man diejenigen Autoren, Texte und Theorien, von denen man sich der Proklamation nach kritisch absetzt, offenbar nicht einmal mehr oberflächlich kennen. Und Adorno? Für Adorno trifft der eben erwähnte Verdacht der durch habituelle Milieudifferenzen gespeisten Ressentiments und Vorurteile im selben Maße zu wie für Derrida. Ihn umstandslos für die Kärrnerarbeit an höchst wichtigen und ernsten philosophischen Problemen bestimmter Bereiche der zeitgenössischen ›seriösen‹ Philosophie herbeizuziteren, muss sich so erfolgsversprechend ausnehmen, als würde man Violine spielend in den Baumarkt einlaufen. Die Wahrnehmung Adornos – von ›dem Adorno‹ – war aber nicht nur durch seine besondere, noch engere Nähe zur Kunst und den eigentümlich sperrigen, anspruchsvollen Stil seiner Texte in der Weise vorgeprägt, dass auch seine handfest philosophischen Texte es nie vermocht haben, ihn als auch wirklich beinharten, seriösen Philosophen 4
In Judith Butlers Körper von Gewicht (Butler 1997: 53) – Bodies that Matter – als einem sehr ausführlich gehaltenen ›poststrukturalistischen‹ Text, der sogar schon dem Titel nach explizit vom Problem der Materie oder Materialität zu handeln scheint, kann man in einem leicht süffisanten, ironischen Ton genau dieselben Vorwürfe genannt finden, die heute in den Diskussionen umlaufen: »In einigen Lagern der feministischen Theorie wurden in den letzten Jahren Rufe laut, den Körper von dem zurückzugewinnen, was häufig als linguistischer Idealismus des Poststrukturalismus bezeichnet wird. In noch einem anderen Lager hat der Philosoph Gianni Vattimo die Auffassung vertreten, der Poststrukturalismus, verstanden als textuelles Spiel, markiere die Auflösung der Materie als eine zeitgenössische Kategorie. Die Begriffe, in denen diese Debatte geführt wird, sind schwierig und ungenau, denn es ist schwierig, in jedem Einzelfall zu wissen, wer oder was mit dem Begriff ›Poststrukturalismus‹ bezeichnet ist, und vielleicht ist es noch viel schwieriger zu wissen, was unter dem Zeichen ›der Körper‹ zurückgewonnen werden soll. Man hört Warnungen wie diese: Wenn alles Diskurs ist, was passiert dann mit dem Körper? Wenn alles Text ist, was ist dann mit Gewalt und Körperverletzung? Gibt es im und für den Poststrukturalismus irgendeine Materie, die Gewicht hat?« Butler – hier einmal stellvertretend für den Poststrukturalismus genommen – sagte später über dieses Buch: »My view in Bodies That Matter was that there is an insistent materiality of the body, but that it never makes itself known or legible outside of the cultural articulation in which it appears. This does not mean that culture produces the materiality of the body. It only means that body is always given to us in some way.« (Butler 2005: 14) Wenn das alles ist, versteht man nicht, was daran besonders abstrus oder in irgendeinem Sinn ›idealistisch‹ oder ›radikal konstruktivistisch‹ sein soll und den Anlass zur Proklamation eines neuen ›turn‹ geben sollte.
6. Schluss
zu etablieren (der ›Positivismus-Streit‹ tat natürlich sein Übriges). Denn, darüber hinaus, weil Adorno immer als zentraler Kopf der Kritischen Theorie galt, konnte die Negative Dialektik – die Metakritik der Erkenntnistheorie, die Drei Studien zu Hegel, die frühen Arbeiten zu Kierkegaard oder Husserl und kleinere Texte oder Passagen zu Autoren der philosophischen Tradition wie Platon, Aristoteles, Descartes oder Bergson wurden ohnedies meistens marginalisiert – nie von frei von solchen ›kritischen‹ Vorzeichen wahrgenommen werden. Es soll damit natürlich gar nicht in Abrede gestellt werden, dass es auch und immer wieder solche Versuche gegeben hat. Die Rezeption ist naturgemäß vielgestaltig, die sich mit Adornos Werk befassenden Texte sind Legion. Aber es hat sich schnell ein interessantes, schon von Habermas registriertes »Klischee einer vermittelnden Stellung zwischen Benjamin und Horkheimer« (Habermas 1995: 129) herausgebildet, das man, meine ich, auf diese zwei prädominanten Stränge der Rezeption – das Künstlerische und das Kritische – zurückführen kann. Adorno – das war nie nur ein hin und wieder theologischmystisch versponnen vom Weg abkommender und sich in kleinsten Textformaten verzettelnder Mikrologe und Sammler mit Faible für die französische Literatur, aber auch kein ›Unternehmer in Sachen Kritische Theorie‹ (Rolf Wiggershaus), nicht der alte Typ Nestor eines großformatig angelegten Wissenschaftsprojekts, sondern jemand, der durchaus auch heute noch Pate stehen kann für das Ansinnen einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft – aber immer noch: mit der Kuvertüre des Genialischen. Unerbittliche, radikale Kritik an den herrschenden Zuständen: ja; aber zugleich auch: geadelt durch das heute verblichene intellektuelle Pantheon, von Mahler und Berg über Kafka und Beckett bis zu Klee, Picasso, Celan und wen nicht noch alles. Adornos Werk verfiel auch deswegen sehr schnell in eine Reihe von Bonmots – wie den anheimelnden Sentenzen oder ›sezierenden‹ Beobachtungen der spätkapitalistisch depravierten Alltagswelt der Minima Moralia – und textuellen ›membra disiecta‹, weil sie für sich genommen schon entweder vor statuarisch schwerer Schönheit brillierten oder finster tiefsinnig nach eiskalt schroffer Gesellschaftskritik klangen (Marke ›Das Ganze ist das Unwahre‹).5 In den heutigen Zeiten der ›gro5
Ich hatte auf Adornos Position zum Systembegriff schon einmal hingewiesen, möchte es aber nochmals betonen, denn man kann der vorliegenden Studie – gerade wenn ich das hergebrachte Verständnis Adornos richtig deute – leicht zum Vorwurf machen, sie infiltriere Adornos Philosophie eine allzu eng gedachte, zu rigide Systematik. Adorno habe aber wegen seiner Neigung zum Besonderen, Kleinen, Marginalen, Ephemeren bewusst die aphoristische oder die essayistische oder eben die Form des›Modells‹ gewählt. Viele Leser Adornos glauben daher auch heute noch, wenn »sie so diese Dinge lesen, die von mir unter die Leute kommen […], daß mir das so der Tag zutriebe und daß das nun nicht etwa sozusagen systematisch sei.« (VLÄsth58: 289) Dementgegen haben »diese Dinge, auch wenn sie auf scheinbar außerordentlich voneinander abliegende und unmittelbar gar nicht miteinander vermittelte Themenbereiche sich erstrecken, innerhalb der Gesamtphilosophie […] einen sehr genauen
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ßen Gereiztheit‹ (Bernhard Pörksen), wo die scholastische Ruhe mit ihrem Staub der Gelehrsamkeit dahin ist und man auch von Jahrhunderte alten, bisher treuselig kanonisierten Theorien öfters einen Gesinnungsnachweis auf den Höhen des Zeitgeists erbittet, ist ›Adorno‹ – der Name, sein konnotativer, stereotypisierter Gehalt – immer noch gefragt wie kaum ein anderer. Man selbst ist ›kritisch‹, er war ›kritisch‹ – also kann man sich mit ihm sehen lassen. Aber Adorno war eben nie nur bestechend scharfer Kritiker des ›herrschenden Unwahren‹ – also exakt jemand, den wir in Zeiten all der Übel (Klimawandel, Kapitalismus usw.) und Unholde (Trump!), die uns heute und in dunkler Zukunft ihre Aufwartung machen, dringend brauchen –, sondern seine »Beliebtheit hat sich losgerissen von Kennerschaft«, er »strahlt etwas vom alten Ernst und von der alten Würde hoher Kunst aus«, wie Adorno in seinen musiksoziologischen Vorlesungen (14/267f.) zwar nicht über sich selber, aber über die fetischistische Beziehung zur Oper als bürgerlicher Kunstform sagt, die »unentwegt konsumiert wird, obwohl sie nicht bloß ihre geistige Aktualität verlor, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr adäquat verstanden werden kann.« Gewiss, klar: Adorno ist keine Oper; was er darüber sagt, kann man nicht eins zu eins auf die Rezeption seines Werks übertragen. Aber, mit Adorno gesprochen, ›quand même‹: das, was er als ›Fetischisierung‹ oder, wie oben angeschnitten, ›Würdigung‹ aufs Korn nimmt – das »Gewäsch aus Information, Popularpsychologie, Sentiment, Respekt« (15/165) –, hat sich doch im Hinblick auf ihn genau so abgespielt: »Das Werk wird geschluckt wie ein Markenartikel.« (Ebd.) Man konsumiert »in Wirklichkeit nur das diesem Werk zugewachsene Prestige«, »den akkumulierten Tauschwert, den dieses Werk hat«, denn es »hat eine große Autorität, gilt als ein anerkanntes Meisterwerk« (VLÄsth58: 290), ohne dass es besonders wichtig wäre, nachzuhaken, was darin denn genau enthalten und ob und in welcher Hinsicht es heute noch relevant ist. Schaut man durch die ›Realität der Massenmedien‹ hindurch auf sie und gewahrt sie halbwegs richtig, hat es die Welt offenbar bitter nötig, dass man für das Gute und das Gerechte einsteht und kämpft. Adorno wird darum auch weiterhin aktuell bleiben. Denn wenn sonst nichts, dann kann Adorno immerhin doch immer wieder zeigen, dass kritisch zu sein, an das Gute zu glauben und für das Gerechte zu kämpfen möglich und wichtig ist, wenngleich er selber im Hinblick auf das Gute und Gerechte von umständlicher Zögerlichkeit – oder: Nachdenklichkeit – war. Man kann jedoch niemandem verargen, ihn sich als Gewährsmann für dies und das
Stellenwert« (ebd.). In seiner Philosophie, so bekundet er gegenüber Peter Suhrkamp, »muß die Kraft des Ganzen jedem Bruchstück sich mitteilen, und soweit es ein Ganzes gibt, muß es sich aus der Konfiguration der Bruchstücke zusammenschließen […]. […] Sie duldet keine ungebrochene Einheit in der Kontinuität, sondern nur eine gebrochene und darum um so nachdrücklichere in gegeneinander gesetzten Momenten.« (Schopf 2003: 263)
6. Schluss
zu nehmen. Die vorstehenden Bemerkungen wollten in diesem Sinne niemandes Ansinnen und die Verve, mit der es verfolgt wird, verhageln. Und bei allem galligen Mangel an Zuversicht im Hinblick auf die Konstellation Poststrukturalismus-Kritische Theorie, der sich im Vorangegangenen bemerkbar gemacht hat, kann man ja doch auch erkennen, welche theoretischen Wege von der vorliegenden Arbeit aus genommen werden könnten. Ich denke hier zunächst (i) – um ein Beispiel für den Pfad von Adorno zum ›Poststrukturalismus‹ zu nennen – an die in Deutschland wenig bekannte Arbeit Judith Butlers über Hegels kritische Transformation des kantischen Dualismus von Form und Inhalt. Diese macht sie, vor der Folie des Iterabilitätsbegriffs, fruchtbar für eine prozessuale, dynamische Konzeption des Universalen – »a temporalized conception of universality« (Butler 2000: 24) –, das nie rein, als solches zu haben ist, sondern sich nur exemplarisch durch partikulare Expositionen zeigen lässt. Die Einsicht, die sie von Hegel übernimmt, dass »formalism is itself a product of abstraction, and this abstraction requires its separation from the concrete, one that leaves the trace or remainder of this separation in the very working of abstraction itself« (ebd.: 19), scheint mir konvergent mit der hier vorgelegten, betont dialektischen und temporalisierten Konzeption des Allgemeinen oder des Abstrakten. Auch ihre Kritik an der Rede von Hegel als einem »philosopher of ›mastery‹« und ihre Emphase auf seinen subjektkritischen »persistent references to ›losing oneself‹ and ›giving oneself over‹« (ebd.) lassen an Adornos Hegellektüre (oder an diejenige Jean-Luc Nancys, auf den sie selber verweist) denken. Und der andere Pfad würde (ii) zur Vorgeschichte von Adornos Begriff der Erfahrung – oder eben: geistiger Erfahrung – zurückführen. Einer der theoretisch und konzeptionell gehaltvollsten Briefe in seiner Korrespondenz mit Walter Benjamin – der vom 29. Februar 1940 – ist nämlich mit Über einige Motive bei Baudelaire einer Arbeit gewidmet, in der Benjamin auf wenigen Seiten eine etwas desultorische, nicht ganz durchsichtige Vereinigung von Prousts ›mémoire involontaire‹, Freuds Idee unbewusster Gedächtnisspuren und Bergsons Intuition eines Zusammenhangs von Denken, Erfahrung und Gedächtnis vornimmt (Benjamin 1974a: 607-615). Die »Hereinnahme der Freudschen Theorie des Gedächtnisses als Reizschutz und ihre Anwendung auf Proust und Baudelaire scheint« Adorno zwar »nicht vollkommen luzid«, aber sie brachte ihn direkt auf eine »dialektische Theorie des Vergessens« und auf seine »Theorie der Verdinglichung« – denn »alle Verdinglichung ist ein Vergessen: Objekte werden dinghaft im Augenblick, wo sie festgehalten sind, ohne in allen ihren Stücken aktuell gegenwärtig zu sein: wo etwas von ihnen vergessen ist.« (Adorno/Benjamin 1994: 417) Nicht nur diese spezifische, zeitlich gewandte und gedächtnistheoretisch gemodelte Konzeption von ›Verdinglichung‹ scheint mir durch Benjamin inspiriert zu sein, sondern auch Benjamins Bemerkungen über Bergsons Matière et Mémoire und die Beteiligung unbe-
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wusst ablaufender gedanklicher Prozesse an der ›mémoire involontaire‹ ließen sich leicht mit dem elaborierten Verständnis geistiger Erfahrung in Einklang bringen.6
6.3 Schrift und Theorie Ganz zum Schluss sei hier noch auf eine Verbindung der beiden genannten theoretischen Großformationen aufmerksam gemacht, die zwar in noch größerer Entfernung dessen verortet ist, was man gemeinhin begrifflich und thematisch mit ›Kritischer Theorie‹ und ›Poststrukturalismus‹ verbindet, aber viel enger an – auch aktuell virulenten – Fragestellungen liegt, die Derrida und Adorno vielleicht ebenfalls interessiert hätten. Der frühe Derrida, und auch die anfängliche Rezeption, waren mit der ›Schrift‹ einem Thema zugewandt, das in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts offenbar eine Vielzahl von Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen interessiert hat (vgl. Havelock 2007: 13ff.). Derrida hat sich auf diese ethnologischen, altphilologischen und vor allem medientheoretischen Forschungen nie explizit bezogen; bekannt sind nur zwei passagere Referenzen auf Marshall McLuhan (Derrida 2001b: 44; Derrida/Brennan 1983). Diese mit Namen wie Eric Havelock, Harold Innis, McLuhan, Jack Goody und Walter J. Ong verbundenen Forschungen richteten ihr Augenmerk auf die Auswirkungen, welche das Auftauchen und die Verbreitung der Schrift für gesellschaftliche, kulturelle, sprachliche und mentale Zusammenhänge hatte. Wie, in welcher Hinsicht unterscheiden sich rein orale, illiterale von literalen Gesellschaften, solchen mit Schrift? Was bedeutet die Handhabung von Schrift für die kollektiven Gedächtnishorizonte? Oder für die normative Akkordierung verschiedener Handlungen und sozialer Bereiche? Wie verändert sich die Sprache und das Wissen, wenn sie nicht nur gesprochen und durch Gesang und Rezitation weitergegeben, sondern verschriftlicht werden? Und: Welche 6
Er sagt über Bergsons Werk: »Sein Titel zeigt an, daß es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für die philosophische der Erfahrung ansieht. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen.« (Benjamin 1974a: 608; Hervorhebung DJ) Und über einen eventuellen Zusammenhang zwischen Freuds Jenseits des Lustprinzips und Prousts Gedanken über Erinnerung und Vergessen bemerkt er gleich darauf: »Im Jahre 1921 erschien der Essai ›Jenseits des Lustprinzips‹, der eine Korrelation zwischen dem Gedächtnis (im Sinne der mémoire involontaire) und dem Bewußtsein aufstellte. Sie hat die Gestalt einer Hypothese. Die Grundformel dieser Hypothese ist, ›daß Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind‹. Erinnerungsreste sind vielmehr ›oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist‹. Übertragen in Prousts Redeweise: Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist.« (Ebd.: 612f.)
6. Schluss
intellektuellen, kognitiven Effekte hat der Gebrauch von Schrift? Das sind Fragen, die sich an die damals schon aufgekommene Einsicht, dass unterschiedliche Kommunikationstechnologien Kultur und Gesellschaft auf differentielle Weise prägen, angliederten. Ganz unabhängig von der niemals entschiedenen oder zu entscheidenden Kontroverse, ob die Gesellschaft nun aus Handlungen oder Kommunikationen besteht, ist die Schriftbasiertheit von Kommunikation nach wie vor allein schon deshalb ein Forschungsgegenstand ersten Ranges, weil alles, was wir von in der Welt ablaufenden Geschehnissen wissen, uns – von aufgezeichneter oraler Sprache und bewegten und unbewegten Bildern abgesehen – in Form von Texten erreicht, so kurz oder lang sie sein mögen. Darum sind derlei Forschungen an wichtigen Gelenkstellen in Luhmanns Sozial- und Gesellschaftstheorie und in Jan und Aleida Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses eingegangen. Die Arbeiten Eric Havelocks haben aber auch die Aufmerksamkeit von Pierre Bourdieu gefunden, der sich unter der genetischen Perspektive, was sozial und historisch zur Formierung eines genuinen theoretischen Bewusstseins führte, dafür interessiert hat (vgl. bes. Bourdieu 1987: 136, 228 Fn. 3). Das Wissen oraler Kulturen musste zur Speicherung stetig wiederholt werden, die Redundanz dominierte die Variation; es konnte nur schwer mit anderem Wissen verglichen und damit kontingent gesetzt werden, zumal orale Kulturen zu einer ›Homöostase‹ des Wissens neigen, weil deviantes Wissen ohnehin schnell vergessen wird; die Befassung mit in Schriftform niedergelegten Gedanken fördert eine analytische, zergliedernde und distanzierende Haltung zum Gelesenen, weil anders als im unmittelbaren Wortwechsel zudem keine sofortige Reaktion vonnöten ist; das Wissen in Schriftform vermag sich in eklatant anderer Weise von dem Ort zu lösen, an dem es erstmals entdeckt oder formuliert worden ist, als das oral tradierte Wissen usw. (vgl. Ong 1987) Das beispielsweise sind Effekte der Literalität, die sich in je verschiedener Weise auch auf das ›Denken‹ oder, tiefer gehängt, kognitive Vorgänge auswirken. Interessant sind diese Einsichten deshalb, weil das zögerlich, in Frageform auftretende Gefühl eines ›Endes der Theorie‹ (Philipp Felsch 2015: 237ff.; vgl. auch Radtke 2015) und ein folgenreicher medientechnologischer Wandel heute zusammentreffen. Denn, wie angedeutet: der Umgang mit Schrift und Text begünstigt habitualisierte kognitive Haltungen wie Distanz, Abstraktion, Unpersönlichkeit, Kritik, und sie setzt eine Isolierung des lesenden und schreibenden Subjekts voraus, die der Entstehung abweichender und sozial nicht schon präformierter Gedanken Vorschub leistet. Die Theorie oder das Theoretische – und darauf hat Bourdieu ausgehend von Havelock das Augenmerk gelegt – impliziert jedoch oder besteht in einer solchen Haltung, der »›Erkenntnistheorie des Zuschauers‹« (Bourdieu 2001: 66f.) – die Theorie ist »das Produkt eines theoretischen Blicks […], eines ›kontemplativen Auges‹ (theorein), das dazu neigt, eher die Welt wie ein Schauspiel wahrzuneh-
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men, wie eine (theatralische oder geistige) Darbietung, wie eine Gesamtheit von Bedeutungen, die nach einer Interpretation verlangt, denn als eine Gesamtheit von konkreten Problemen, die nach praktischen Lösungen ruft.« (Bourdieu 1993: 370) Dadurch, »daß Schrift Worte vergegenständlicht und sie und ihre Bedeutung längerer und gründlicherer Prüfung zugänglich macht als gesprochene Worte, fördert sie privates oder individuelles Denken« (Goody/Watt 1986: 114). Und »daß wir in Gedanken in unserer Praxis innehalten, daß wir uns zu ihr zurückwenden, um sie zu betrachten, zu beschreiben, zu analysieren, macht, daß wir in gewisser Weise aus ihr ausscheiden und den agierenden Akteur tendenziell durch das reflektierende ›Subjekt‹ ersetzen«, wie Bourdieu (2001: 67) schreibt. Der erwähnte medien- und kommunikationstechnologische Wandel besteht allerdings gerade darin, dass zwar nicht unbedingt weniger gelesen und geschrieben, aber dies parzellierter, impulsiver, in kleineren Abständen getan wird. Das Lesen und Schreiben nimmt so in Teilen und Phasen eher wieder die Form des Gesprächs, des ›chats‹, an. Zudem, mehr noch als im alten Buch mit seinen verstreuten Abbildungen, haben sich heute die Gewichte zwischen photographischen und videographischen Bildern und Texten verschoben. Wenn aber ungewiss ist, ob bewegte und unbewegte Bilder nicht eher zu Emotionalisierung anstelle von Analyse, zu Einfühlung und Unmittelbarkeit anstelle von Distanz, zur direkten Überzeugung statt zur zweifelnden Skepsis führen, könnte man sich fragen, ob das ›Ende der Theorie‹ nicht auch daher rührt. Und dies über den Umstand hinaus, dass auch die textuellen Voraussetzungen sich in rapidem Wandel befinden, also die Form des Buchs und seine Verbreitung und sein Stellenwert in Frage stehen. Zumal wenn die Texte, die zur Proliferation eines theoretischen Blicks angetan sind, selber schon durch ihre Kürze und durch die Notwendigkeit, sich hervorzutun und die Aufmerksamkeit einzufangen, einen eher appellativeren, thetischeren Duktus anzunehmen scheinen. Da die in Rede stehenden Veränderungen aber zugleich durch die direkte Vergleichbarkeit von Perspektiven, von Information und Wissen Distanz und Kritik fördern – da man also leichter seiner ›filter bubble‹ entkommen und andere in sich geschlossene Milieus besichtigen kann –, kann man hier gewiss keine unilinearen Veränderungsprozesse in Richtung auf ein ›Ende der Theorie‹ unterstellen. Es geht am Ende dieser Arbeit schließlich nicht um eine aus der Hüfte geschossene Kulturkritik im Klageton, sondern nur um den aufweisbaren Zusammenhang von Kommunikationstechnologien – paradigmatisch: das Derrida-Thema Schrift – und kognitiven oder intellektuellen Habitus. Auf der Seite Adornos und, wenn man so möchte, der Kritischen Theorie kann man dazu keine direkte Parallele finden. Aber es gibt noch den ganz weit in der Peripherie dieses Theorieunternehmens beheimateten Alfred Sohn-Rethel, der nach eigener Auskunft geradezu monomanisch dieselbe Fragestellung wieder und wieder in verschiedenen Exposés traktiert hat. Demnach habe sein »intellektuelles
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Lebenswerk […] der Klärung oder Enträtselung einer halbintuitiven Einsicht gegolten, die mir 1921 in meinem Heidelberger Universitätsstudium zuteil geworden ist: der Entdeckung des Transzendentalsubjekts in der Warenform, eines Leitsatzes des Geschichtsmaterialismus.« (Sohn-Rethel 1989: V) Das immer noch interessante programmatische Ansinnen ist so, die Genese begrifflicher, geistiger, intellektueller Formen aus konkreten gesellschaftlichen und historischen Konstellationen herzuleiten; und neben der Scheidung von körperlicher und geistiger Arbeit ist es eine strukturelle Isomorphie, die Sohn-Rethel detektiert, die immer noch brisant ist. Denn sowohl das Geld, der Tausch oder die Warenform als auch der Begriff oder das Denken sind abstrahierende Medien, die das Konkrete in seinem Gebrauchswert immer nur unter Absehung derjenigen Merkmale in den Blick nehmen, die es als jeweils Einzigartiges von allem anderen unterscheiden. Abstraktion – das Absehen von aller konkreten Materialität – und Wiederholbarkeit – die Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit aller Operationen – sind es, die »Warenform und Denkform« (ebd.: 1-71) isomorph sein lassen. Und ganz ähnlich wie für Eric Havelock wurden wesentliche Weichenstellungen für die Entwicklung abstrakter geistiger Kategorien in der griechischen Antike vollzogen; bei Sohn-Rethel: durch das Aufkommen münzgeldvermittelter Ökonomie. »Prinzipien der Welt, Urstoffe, wie das Wasser (Thales), die Luft (Anaximenes), das Unendliche (Anaximander), das Sein schlechthin (die Eleaten)«, so greift Adorno die Sohn-Rethelschen Intuitionen auf, »solche Prinzipien sind gar nicht zu denken, wenn die Methode, sie zu konzipieren, nicht vorgezeichnet wäre durch die Geldwirtschaft, die alles Verschiedene auf eines bezieht, auf das Geld. Das Ungleichnamige wird gleichgemacht, erst in der Wirtschaft, dann im Geist.« (Adorno 1992: 57) Steckt man ihren Einzugsbereich nur weit genug ab, so hat also auch die ›Kritische Theorie‹ mit Alfred Sohn-Rethel einen Autor und mit seinen Texten begriffliche und konzeptuelle Mittel parat, um die ›Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie‹, wie Habermas es einmal an Marx anschließend nannte, en detail anzugehen. Mit dem Zusammenhang von Schrift, Geld und Denken wären dann genuine Themen Derridas7 und Adornos in einer Konstellation zusammenge7
Derrida hat selber verschiedentlich, beginnend in der Grammatologie, den Zusammenhang zwischen Geld und Zeichen bedacht. Dort schreibt er: »Diese analytische Abstraktionsbewegung in der Zirkulation der arbiträren Zeichen korrespondiert mit jener anderen Bewegung, in der das Geld sich konstituiert. Das Geld ersetzt die Dinge durch ihre Zeichen, und zwar nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern von einer Kultur zur anderen oder von einer ökonomischen Organisation zur anderen. Die kritische Beschreibung des Geldes liefert die getreue Reflexion des Diskurses über die Schrift. In beiden Fällen wird ein anonymes Supplement dem Ding substituiert. Ebenso wie der Begriff nur den Vergleichsmaßstab für die verschiedenartigsten Dinge zurückbehält, ebenso wie das Geld nur das ›gemeinsame Maß‹ für inkommensurable Gegenstände liefert, um sie zu Waren zu machen.« (Derrida 1983: 515f.) In Betracht zu ziehen sind zudem der weithin unbekannt gebliebene Vortrag Über das ›Preislose‹
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führt, die man zwar vielleicht ebensogut, und schlichter, ›Wissenssoziologie‹ nennen könnte und die sich womöglich auf einem von Althistorikern schon längst bestellten Feld umtun möchte. Aber es schadet manchmal nicht, dasselbe nochmal anders zu sagen – Iterabilität! Wahrscheinlich geht es mit Derrida und Adorno gleichwohl ohnedies ganz anders weiter. Oder gar nicht. Was soll’s. Lebt wohl, Wörter. Ich mochte euch nie, der ich Dinge und Orte mag und Leute am liebsten mit geschlossenem Mund. […] – Michael Hamburger: Envoi
oder The Price is Right in der Transaktion (Derrida 1999b) sowie seine Ausführungen zur Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert in Marxʼ Gespenster (Derrida 2004: 211ff., vor allem 218f.).
7. Literatur
Die Nachgelassenen Schriften, die Vorlesungen zur philosophischen Terminologie sowie die Raubdrucke werden nach folgenden Siglen zitiert: VLEinfDia: Einführung in die Dialektik. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 2. Hg. v. Christoph Ziermann. Berlin: Suhrkamp 2010. VLÄsth58: Ästhetik (1958/59). Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 3. Hg. v. Eberhard Ortland. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. VLKant: Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 4. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. VLPhiSoz: Philosophie und Soziologie. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 6. Hg. v. Dirk Braunstein. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. VLOntDia: Ontologie und Dialektik. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 7. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. VLPhilTerm: Philosophie Terminologie I und II. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 9. Hg. v. Henri Lonitz. Berlin: Suhrkamp 2016. VLProbMoral: Probleme der Moralphilosophie. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 10. Hg. v. Thomas Schröder. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. VLPhilElem: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 12. Hg. v. Tobias ten Brink/Marc Philip Nogueira. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. VLGesFrei: Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 13. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 2001. VLMeta: Metaphysik. Begriff und Probleme. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 14. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. VLEinlSoz: Einleitung in die Soziologie. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 15. Hg. v. Christoph Gödde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. VLNegDia: Vorlesung über Negative Dialektik. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 16. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
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VLKranich: Kranichsteiner Vorlesungen. Ästhetik. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 17. Hg. v. Klaus Reichert und Michael Schwarz. Berlin: Suhrkamp. 2014 VLÄsth68: Vorlesungen zur Ästhetik 1967-68. Zürich: H. Mayer Nachfolger 1973. [Raubdruck] VLEinlErk: Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie. Frankfurt: JuniusDrucke. [Raubdruck] VLPhilTerm1: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Bd. 1. Hg. v. Rudolf zur Lippe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. VLPhilTerm2: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Bd. 2. Hg. v. Rudolf zur Lippe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Beethov: Beethoven. Philosophie der Musik. Nachgelassene Schriften. Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. MusikRepr: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Nachgelassene Schriften. Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 2. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.
Sonstige Siglen KrV: Kant, Immanuel (1991): Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Bd. II/III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. KpV: Ders. (1991a): Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe Bd. VII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. KU: Ders. (1991b): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Weitere benutzte Literatur Adorno, Theodor W. (1970ff.): Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [im Text mit Bandnummer/Seitenzahl zitiert] Ders. (1992): Der Begriff der Philosophie. Vorlesung Wintersemester 1951/52. Mitschrift von Kraft Bretschneider. In: Theodor W. Adorno-Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter II. München: edition text + kritik, S. 9-91. Ders. (1998): Das Problem des Idealismus. Stichworte zur Vorlesung vom Wintersemester 1953/54 und Fragmente einer Nachschrift. In: Theodor W. Adorno-Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter V. München: edition text + kritik, S. 105-142.
7. Literatur
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Geistige Erfahrung
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7. Literatur
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Geistige Erfahrung
Tengelyi, Laszlo (2012): Negative Dialektik als geistige Erfahrung? Zu Adornos Auseinandersetzung mit Phänomenologie und Ontologie. In: Phänomenologische Forschungen, S. 47-65. Tiedemann, Rolf (2003): Nachbemerkung des Herausgebers. In: Theodor W. Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 335-346. van den Brink, Bert (1997): Gesellschaftstheorie und Übertreibungskunst. Für eine alternative Lesart der ›Dialektik der Aufklärung‹. In: Neue Rundschau 108 (1), S. 37-59. Waldenfels, Bernhard (1971): Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluss an Edmund Husserl. Den Haag: Nijhoff. Ders. (1995): Deutsch-französische Gedankengänge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Walser, Robert (1985ff.): Aus dem Bleistiftgebiet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wellmer, Albrecht (1986): Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. In: Axel Honneth/Ders. (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Berlin/New York: de Gruyter, S. 25-34. Welsch, Wolfgang (1989): Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH Acta Humaniora, S. 185-213.
8. Danksagung
Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Thomas Bedorf und Prof. Dr. Hartmut Rosa für die Betreuung dieser Arbeit. All den anderen spreche ich meinen schüchternen Dank aus, den Toten wie den Lebenden. Euch allen ist diese Arbeit gewidmet. Schön, dass Ihr da wart – oder seid.
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